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German Pages XIII, 370 [370] Year 2020
Matthias Huber
Emotionen im Bildungsverlauf Entstehung, Wirkung und Interpretation
Emotionen im Bildungsverlauf
Matthias Huber
Emotionen im Bildungsverlauf Entstehung, Wirkung und Interpretation
Matthias Huber Institut für Bildungswissenschaft & Zentrum für Lehrer*innenbildung Universität Wien Wien, Österreich
ISBN 978-3-658-28829-7 ISBN 978-3-658-28830-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Genau dasselbe Leben nocheinmal, nur anders. Fernando Pessoa
Danksagung
An erster Stelle sei allen an der Studie beteiligten Schülerinnen und Schülern gedankt. Ohne ihr großes Engagement und ihr bemerkenswertes Commitment wäre das vorliegende Buch nicht realisierbar gewesen. Ebenso möchte ich mich bei allen beteiligten Schulleitungen für die reibungslose Zusammenarbeit bedanken; von Anfang an haben sie das Forschungsprojekt bedingungslos unterstützt und an die Idee und Bedeutung dieses Zugangs geglaubt. Dafür sei ihnen besonders gedankt. Dank gebührt des Weiteren allen am Projekt beteiligten Studentinnen und Studenten für ihren bedingungslosen Einsatz im Kontext der gemeinsamen und manchmal auch mühevollen Forschungsarbeit. Ganz besonders möchte ich mich bei meinen Projektmitarbeiterinnen Claude Muller, Veronika Maricic und Alexandra Wolf bedanken, die mich während der gesamten Laufzeit des Projekts begleitet und selbst in der vorlesungsfreien Zeit immer tatkräftig unterstützt haben. Ebenso sei ganz besonders Anna Walchshofer gedankt, die mir fortwährend mit kritischen Anregungen und konstruktiven Verbesserungsvorschlägen zur Seite stand. Bei Lisa Zehner und Monika Jurina bedanke ich mich für ihre hilfreichen Ratschläge und innovativen Ideen im Kontext der Workshopgestaltung. Stellvertretend für die Bildungsdirektion Wien, die das Projekt von Beginn an befürwortet und unterstützt hat, bedanke ich mich bei Sabine Sommer. Für den technischen Support und die Adaptionen der Analysesoftware möchte ich mich bei David Woods und dem Team von Transana bedanken. Dem Springer Verlag danke ich erneut für die gute Zusammenarbeit und die Unterstützung im Rahmen der vorliegenden Publikation. Ein ganz großes Dankeschön gilt Univ.-Prof. Dr. Wilfried Datler für die umsichtige und kritische Begleitung des Forschungsprojekts und für die
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Danksagung
langjährige und bereichernde Zusammenarbeit am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Ebenso möchte ich Univ.-Prof.in Dr.in Judith Schoonenboom, die mich während der letzten Jahre immer unterstützt hat und das Projekt sowie die vorliegende Arbeit in methodischen und inhaltlichen Fragen intensiv betreut hat, ein großes Dankeschön aussprechen. Und bei Univ.-Prof.in Dr.in Sabine Krause bedanke ich mich für die moralische Unterstützung während des Forschungsprozesses, für ihre Offenheit in beruflichen und privaten Problemlagen und für die langjährige Freundschaft. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Bildungswissenschaft und am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien möchte ich für die gemeinsame Zeit und für den so notwendigen Rückhalt im akademischen Alltag danken. Den vielen Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland, die mich auf meinem wissenschaftlichen Weg begleitet und gefördert haben, sei an dieser Stelle ebenso herzlichst gedankt. Abschließend möchte ich mich bei meiner Familie und bei meinen Freunden bedanken. Ganz besonders und nicht oft genug danke ich meinen Eltern. Ihnen widme ich diese Arbeit. Wien im Frühjahr 2020
Matthias Huber
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Hintergrund und Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Forschungsdesiderate und Erkenntnisinteresse. . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Forschungsfrage und Subfragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.4 Wissenschaftliche Arbeitsziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil I Theorie 2
Bildung und Emotion – Eine problemgeschichtliche Annäherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1 Zum Konnex von Bildung und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2 Historische Ursprünge des Diskurses um Bildung und Emotion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik . . . . . . . 15 2.3.1 Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3.2 Johann Heinrich Pestalozzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3.3 Wilhelm von Humboldt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.3.4 Johann Friedrich Herbart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.3.5 Friedrich Schiller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.3.6 Wilhelm Dilthey. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3.7 Maria Montessori. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3.8 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.4 Bildung und Emotion von der Aufklärung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.5 Bildung und Emotion im Kontext der Psychoanalytischen Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 IX
X
Inhaltsverzeichnis
2.6
2.7
2.8
Das problematische Verhältnis von Bildung und Emotion . . . . . . 27 2.6.1 Der vernunftbegabte Mensch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.6.2 Psychologie und Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.6.3 Die Bestimmung des Emotionalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Emotionen in der Bildungsforschung heute – Ein Überblick . . . . 34 2.7.1 Bildungstheoretische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.7.2 Aktuelle inter- und subdisziplinäre Diskurse über Emotionen in der Bildungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 39 2.7.3 Lerntheoretische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Zusammenfassung der zentralen Annahmen zum problemgeschichtlichen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3
Emotion und Gefühl – Eine systematische Kontextualisierung. . . . . 61 3.1 Zum allgemeinen Verständnis von Emotion und Gefühl. . . . . . . . 61 3.2 Die Entstehung von Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3 Die Funktion von Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.4 Die Formen von Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.5 Die Wirkung von Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.6 Die Wahrnehmung und der Ausdruck von Emotionen. . . . . . . . . . 76 3.7 Emotionale Markierungen als Integrationsmodell emotionstheoretischer Positionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4
Bildungsverläufe und Bildungsübergänge – Eine Skizze der aktuellen Forschungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.1 Übergänge und Entscheidungen im Bildungssystem. . . . . . . . . . . 88 4.2 Bildungslaufbahnentscheidungen und ihre sozialen Folgen. . . . . 91 4.3 Zur Kritik an den Studien über Herkunftseffekte in der Übergangsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.4 Der Übergang in den tertiären Bildungssektor in Österreich. . . . . 97 4.5 Zwei Perspektiven innerhalb der Übergangsforschung. . . . . . . . . 101 4.6 Grundlagen der Entscheidungsfindung am Übergang von Schule zu Hochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.6.1 Klassische Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidung und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.6.2 Subjektorientierte Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidungen und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Inhaltsverzeichnis
XI
4.6.3
4.7 4.8 4.9
Emotionstheoretische Grundannahmen der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.6.4 Emotionstheoretische Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Motive und Einflussfaktoren der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang. . . . . . . . . . . . . . . . 120 Das Jugendalter und seine Entwicklungsaufgaben im Spiegel der Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Zusammenfassung der zentralen Annahmen im Kontext des Erkenntnisinteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Teil II Methoden und Methodologie 5
Methodologische Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.1 Das Forschungsprojekt EMOTISION. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.2 Die Pilotstudie und die Erprobung von Setting und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
6
Samplingstrategien und Stichprobendesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.1 Das Multilevel Mixed-Methods-Sampling als komplexes Stichprobendesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.2 Der Rekrutierungsprozess von Schulorganisation, Schulleitung und Schüler*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6.3 Stammdaten und Bildungsbiografie der Schüler*innen. . . . . . . . . 167 6.4 Zur Frage der Repräsentativität des Stichprobendesigns und Samplings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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Methoden der Datenerhebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 7.1 Beobachtungssetting und Videoerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 7.2 Inhaltliche Gestaltung der Workshops. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7.3 Forschungstagebücher entlang der Workshopphasen . . . . . . . . . . 188
8
Methoden der Datenauswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.1 Zum Stellenwert der Qualitativen Inhaltsanalyse in EMOTISION. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 8.2 Die Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
XII
Inhaltsverzeichnis
8.3 8.4
Die standardisierte quantitative Videoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . 203 Die Fokusgruppen und Forschungstagebücher entlang der Fokusgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Teil III Ergebnisdarstellung 9
Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA) . . . . 213 9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen . . . . . . . . . . . . . . 216 9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen . . . . . . . . . . . . 246 9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen. . . . . . . . . . . . 262 9.5 Zentrale Zusammenhänge zwischen den Hauptkategorien. . . . . . 272
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . 289 12 Diskussion der Metainterferenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 12.1 Die Formen emotionaler Markierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 12.2 Die Einflussfaktoren emotionaler Markierungen. . . . . . . . . . . . . . 302 12.3 Die Qualitäten emotionaler Markierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 12.4 Die Funktionen emotionaler Markierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Teil IV Diskussion und Fazit 13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 13.1 Die frühen Bildungsübergänge und Bildungslaufbahnentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 13.2 Die Struktur der Bildungslaufbahnentscheidung. . . . . . . . . . . . . . 315 13.3 Zum Stellenwert von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 13.4 Zu den Motivlagen der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 14 Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung der Forschungsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 14.1 Über Formen, Einflussfaktoren, Qualitäten und Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 14.2 Emotionale Markierungen am Übergang – ein Fazit. . . . . . . . . . . 333
Inhaltsverzeichnis
XIII
15 Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 337 15.1 Implikationen für die Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 15.2 Implikationen für die Praxisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 15.3 Zukünftige Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
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Einleitung
1.1 Hintergrund und Problemstellung Emotionen sind ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Existenz. Sie sind nicht nur ein ständiger Begleiter in der Lebenswirklichkeit des Menschen, sondern gelten als Garant des eigenen Daseins, als zuverlässige Absicherung lebendig zu sein: „Wer lebt, fühlt. Wer nicht fühlt, ist tot.“ (Böhme 1996, S. 525) Der Mensch ist also ein emotionales Wesen. Emotionen charakterisieren den Menschen – seine Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Bedürfnisse – und formen somit entscheidend seine Persönlichkeit. In ihrer Allgegenwärtigkeit gelten Emotionen als anthropologische Konstante; sie sind wie die Geburtlichkeit und die Sterblichkeit Teil der conditio humana. Diese Omnipräsenz von Emotionen verweist auf ihre zentrale Bedeutung für die Auseinandersetzung mit Selbstund Weltverhältnissen und somit auf ihren zentralen Stellenwert für Bildungsprozesse. In Schule und Unterricht, in Erziehung und Sozialisation, in der kritisch reflexiven Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, in der Vermittlung generationaler und sozialer Differenzen, in der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft sowie in allen pädagogischen Verhältnissen, Bezugnahmen und Institutionen sind Emotionen präsent und wirkmächtig. In den letzten Jahren wird der Bedeutung von Emotionen innerhalb der Bildungswissenschaft, der Schul- und Unterrichtsforschung sowie der pädagogischen Praxis vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. Dabei wird sowohl der Perspektive der Bildung von Emotionen, verstanden als Unterstützung und Begleitung in der Entwicklung des Emotionalen und dessen Regulation, als auch der Bildung durch Emotionen, verstanden als der Einfluss von Emotionen auf Bildungs-, Erziehungs- und Lehr-Lern-Prozesse, in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten Rechnung getragen. Mit Blick auf die Forschungs© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_1
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1 Einleitung
landschaft zum Konnex von Bildung und Emotion lässt sich übereinstimmend konstatieren, dass (1) Emotionen als Erkenntnisquelle die Entwicklung der Vernunft zentral bestimmen (vgl. bspw. Hastedt 2009; Breinbauer 2018) und konstitutiv für das moralische Denken und somit eine notwendige Bedingung der Vermittlung von Moral sind (vgl. bspw. Reichenbach und Maxwell 2007; von Scheve 2013); dass (2) Emotionen eine Voraussetzung von Lernprozessen (vgl. bspw. Schutz und Pekrun 2007; Hascher und Brandenberger 2018) und grundlegend für das Wohlbefinden in Schule und Unterricht sind (vgl. bspw. Hascher 2004; Hagenauer 2011); dass (3) Emotionen die pädagogische Vermittlung, das Lehren und Unterrichten zentral beeinflussen (vgl. bspw. Frenzel 2014; Porsch 2018) und die Analyse des emotionalen Erlebens eine Optimierung pädagogischer Interaktionen im institutionellen Kontext ermöglicht (vgl. bspw. Dörr und Göppel 2003a; Datler 2012); dass (4) Emotionen nicht nur eine Voraussetzung basaler Wahrnehmungsprozesse sind, sondern überdies Voraussetzungen von Gedächtnis (vgl. bspw. Kuhbander und Pekrun 2013; Immordino-Yang und Christodoulou 2014) und Sprache (vgl. bspw. Lüdtke 2006; Engelen 2012) sind; und dass (5) Emotionen als anthropologisches Grundprinzip in der Entwicklung und Bildung des Menschen verstanden werden müssen (vgl. bspw. Wulf 2014; Wimmer 2018) und somit eine besondere Bedeutung für Bildungsverläufe und das lebensbegleitende Lernen einnehmen (vgl. bspw. Arnold und Pachner 2013; Gieseke 2016; Gieseke und Stimm 2018). Im Verlauf der Bildung des Menschen sind Emotionen also entscheidende Stellgrößen. Die empirische Bildungsforschung beschäftigt sich in den letzten Jahren vermehrt mit Bildungsverläufen und mit der Frage nach der Bedeutung von Übergängen innerhalb dieser sowie mit den Möglichkeiten der Gestaltung derselben (vgl. bspw. Baumert et al. 2009; Lin-Klitzig et al. 2010; Bornkessel und Asdonk 2011; Bellenberg et al. 2011; Lavarick und Jalongo 2011; Bellenberg und Forell 2013; Fasching et al. 2017). Dabei lässt sich übereinstimmend festhalten, dass (1) innerhalb von Bildungsverläufen tiefgreifende Entscheidungen darüber getroffen werden, welche weiterführende Schule oder Ausbildung besucht wird (vgl. Kramer und Helsper 2013) und dass diese Entscheidungsprozesse langfristig die Lebensgestaltung und somit den sozialen und beruflichen Werdegang von Schüler*innen bestimmen (vgl. Wiederhorn 2011); dass (2) verschiedene externe Faktoren, wie bspw. die Arbeitsmarktsituation, der sozioökonomische Status der Familie, die Herkunft oder der Wohnort etc., in unterschiedlicher Weise Einfluss auf diese Bildungslaufbahnentscheidungen nehmen (vgl. Trautwein 2013); und dass (3) am Ende der Sekundarstufe II die individuellen Entscheidungen der Absolvent*innen weitaus größeren Einfluss auf die Bildungslaufbahn haben, als bei den Übergängen zuvor (vgl. Heublein et al. 2017). Dementsprechend
1.1 Hintergrund und Problemstellung
3
finden sich zahlreiche empirische Untersuchungen zu elterlichen Bildungsentscheidungen am Übergang von der Grundschule in das Mittelschulwesen (vgl. bspw. Bellenberg 2012; Kleine 2014) und von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II (vgl. bspw. Maaz und Nagy 2010; Brahm 2013) sowie Studien zur Entstehung von sozialer Ungleichheit und zur Bedeutung von Herkunftseffekten am Übergang zur Hochschule (vgl. bspw. Merkel 2015; Bornkessel 2015). Das subjektive Entscheidungsverhalten und das damit verbundene emotionale Erleben von Schüler*innen am Ende ihrer Schulzeit bzw. am Übergang in den tertiären Bildungsbereich wurden hingegen bislang nicht empirisch untersucht. Diese Schüler*innen stehen insofern vor einer anderen Entscheidung, als dass der Übertritt in das junge Erwachsenenalter mit anderen Lebensumständen, Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben einhergeht und weniger mittelfristige Alternativen bietet (vgl. Zimmermann et al. 2018). Zudem müssen sie erstmals im Bildungsverlauf eine Entscheidung eigenverantwortlich treffen, die bestimmt, welchen beruflichen Werdegang sie einschlagen wollen und die somit den eigenen Lebensentwurf zentral beeinflusst (vgl. Hachmeister et al. 2007). Verschärft wird diese Problematik, im Besonderen mit Blick auf das österreichische Bildungssystem dadurch, dass die Anzahl an Studienabbrüchen und Studienwechsel in den letzten Jahren konstant ansteigt und sich dabei gleichzeitig die Zahl der Studienanfänger*innen drastisch erhöht hat (vgl. BMBWF 2018). Die adaptive Entscheidungsfindung für ein Studium, eine Fachhochschule, ein College oder eine Berufsausbildung, ist dabei, wie in unterschiedlichen Studien im Bereich der Erwachsenenbildung und Bildungs- und Berufsberatung gezeigt werden konnte (vgl. bspw. Hellberg 2009; Zimmermann 2013; Gieseke 2016; Gieseke und Stimm 2018), über weite Strecken abhängig von den emotionalen Bewertungen im Kontext der individuellen Entwicklung. Diese emotionalen Markierungen, verstanden als die bewusste und nicht-bewusste emotionale Bewertung von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte, nehmen nicht nur einen zentralen Einfluss auf den Entscheidungsprozess selbst, sondern sind generell von zentraler Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie. Insgesamt scheinen Emotionen den Bildungsverlauf und die Bildungslaufbahnentscheidungen weitaus stärker zu beeinflussen, als dies bisher angenommen wurde. Aus diesem Grund betont auch Wiltrud Gieseke (2016) in ihrer breit angelegten Analyse zur Wirkung von Emotionen auf Bildungsprozesse die Notwendigkeit von zukünftigen Studien zum Einfluss von Emotionen auf Bildungsentscheidungen unter Berücksichtigung bildungsbiografischer Entwicklungen (vgl. Gieseke 2016, S. 236).
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1 Einleitung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Kontext der Pädagogisierung von Übergängen die Bedeutung von Entscheidungsfindungsprozessen aus subjektiver Perspektive (Schüler*innensicht) im Allgemeinen und die Bedeutung und Tragweite von Emotionen für eben jene Bildungslaufbahnentscheidungen und Bildungsverläufe im Speziellen kaum Berücksichtigung findet. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesem Aspekt, der Bedeutung und Tragweite von Emotionen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen unter besonderer Berücksichtigung des Konzepts der emotionalen Markierungen.
1.2 Forschungsdesiderate und Erkenntnisinteresse Zur Verdeutlichung des Forschungsvorhabens werden im Folgenden die Desiderate der vorliegenden Arbeit dargestellt, wie sie im Laufe des Theorieteils entwickelt werden. Mit Blick auf den aktuellen Stand der Forschung unter Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen zum Verhältnis von Bildung und Emotion sowie der empirischen Befundlage zur Übergangsforschung und Schulund Hochschulforschung lassen sich die folgenden Forschungslücken im Kontext des empirischen Erkenntnisinteresses identifizieren: (A) die Bedeutung von Entscheidungsfindungsprozessen aus subjektiver Perspektive, d. h. aus Sicht derjenigen Schüler*innen, die sich gerade am bzw. im Übergang(sprozess) befinden; (B) der Stellenwert von emotionalen Markierungen für Bildungslaufbahnentscheidungen und Bildungsverläufe, d. h. die Relevanz spezifischer emotionaler Markierungen für die subjektive Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Ausbildungs- oder Berufsweg; (C) die Dynamik und Konstitution dieser emotionalen Markierungen, d. h. die Frage nach den subjektiv erlebten Ursachen und Einflussfaktoren, die jene emotionalen Bewertungen auslösen, mitbestimmen und prägen; (D) der Einfluss der zentralen emotionalen Qualität, d. h. die Frage nach den wirkmächtigen Emotionen im Kontext der eigenen Lebens- und Lerngeschichte; sowie (E) die Wirkung und Funktion von Emotionen und emotionalen Markierungen, d. h. die Frage nach den subjektiv erlebten Folgen, die mit spezifischen emotionalen Bewertungen einhergehen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit lässt sich entlang des konzeptuellen Aufbaus in einen theoretischen und einen empirischen Teil
1.3 Forschungsfrage und Subfragestellungen
5
differenzieren. Die theoretische Aufarbeitung dient dabei nicht nur als Grundlage für die empirische Analyse im Hinblick auf die eben vorgestellten Forschungsdesiderate, sondern versteht sich selbst als erkenntnisgenerierende Kontextualisierung. Denn um dem empirischen Erkenntnisinteresse gerecht werden zu können, muss zuvor in einem ersten Schritt geklärt werden, wie es um das Verhältnis von Bildung und Emotion, insbesondere im Kontext von Bildungsverläufen, bestellt ist, welche Bedeutung Emotionen in der Bildungswissenschaft einnehmen und welche anthropologischen Vorstellungen damit einhergehen. In einem zweiten Schritt gilt es auf Grundlage dessen zu präzisieren, was Emotionen charakterisiert und auszeichnet und welches Emotionsverständnis dieser Arbeit und hierbei im Besonderen der empirischen Analyse zugrunde liegt. Daran anschließend wird in einem dritten theoretischen Bezug, der für das empirische Erkenntnisinteresse zentrale Forschungsstand aufgearbeitet und unter Berücksichtigung aktueller Studien verdeutlicht, welchen Stellenwert Bildungsübergänge innerhalb von Bildungsverläufen einnehmen, mit welchen subjektiven und sozialen Folgen Bildungslaufbahnentscheidungen einhergehen, wie sich Entscheidungsfindungsprozesse am Übergang von Schule zur Hochschule aus theoretischer Perspektive beschreiben und modellieren lassen, was die zentralen Motive bei Bildungslaufbahnentscheidungen am Ende der Sekundarstufe II sind und welche Bedeutung Emotionen im Allgemeinen in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen beigemessen werden kann.
1.3 Forschungsfrage und Subfragestellungen Um dem leitenden Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit gerecht zu werden und einen Beitrag im Hinblick auf die zentralen Forschungsdesiderate zu leisten, lässt sich die primäre Forschungsfrage, die dieser Untersuchung zugrunde liegt, wie folgt konstatieren: • Welche Bedeutung haben emotionale Markierungen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen aus der Sicht von Schüler*innen am Übergang von der Sekundarstufe II in die tertiäre Bildung und welche Einflussfaktoren und Vorstellungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte konstituieren diese emotionalen Markierungen? Um diese Frage im Kontext der empirischen Analyse angemessen problematisieren zu können, werden vier Subforschungsfragen differenziert, die das leitende Erkenntnisinteresse strukturieren:
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1 Einleitung
(1) Welche emotionalen Markierungen werden von den Schüler*innen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie berichtet bzw. welche subjektiv als bedeutsam erlebten emotionalen Markierungen lassen sich im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen identifizieren? (2) Was sind die entscheidenden Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen im Bildungskontext? (3) Welche Emotionen und emotionalen Qualitäten sind für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext bzw. für die Entstehung emotionaler Markierungen aus subjektiver Perspektive von Bedeutung? (4) Welche Funktionen haben emotionale Markierungen für und innerhalb der eigenen Bildungsbiografie respektive welche Effekte und Folgen zeitigen die emotionalen Markierungen im Leben der Schüler*innen und wie beeinflussen sie ihre Bildungsbiografie? Als indikative Vergleichsreferenz im Rahmen des methodischen Vorgehens werden diese vier Subforschungsfragen durch zwei weitere, sekundäre Fragehorizonte ergänzt: (5) Welche Erfahrungen und Erlebnisse werden von den Schüler*innen besonders stark bzw. intensiv emotional erzählt und an welchen Stellen in den Erzählungen der Schüler*innen sind die emotionalen Markierungen am stärksten? (6) Wie authentisch sind die Erzählungen der Schüler*innen im Hinblick auf ihr emotionales Erleben, welchen Stellenwert haben Emotionen tatsächlich in ihrem alltäglichen Leben und wie valide sind dementsprechend die Ergebnisse aus den einzelnen Interpreationsschritten?
1.4 Wissenschaftliche Arbeitsziele Entlang des Erkenntnisinteresses und der sich daran anschließenden Forschungsfragen lässt sich eine Reihe von Arbeitszielen definieren, die wie folgt zusammengefasst werden können: • die fundierte theoretische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von emotionalen Markierungen aus bildungswissenschaftlicher Perspektive als ein allgemeiner Beitrag zum Verständnis und zum Stellenwert von Emotionen im Bildungsverlauf;
1.5 Aufbau der Arbeit
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• die empirische Erhebung der Bedeutung, Genese und Funktionsweise von emotionalen Markierungen bei Schüler*innen am Übergang ins junge Erwachsenenalter als ein Beitrag zu einem bisher wenig erforschten Themenfeld der Bildungsforschung; • die methodische Weiterentwicklung im Kontext des multi-methodischen und partizipativen Forschungsdesigns als ein spezifischer Beitrag zum methodischen Problem der Erforschung von Emotionen unter besonderer Berücksichtigung subjektorientierter Perspektiven; • die anthropologische Erweiterung im Hinblick auf den Diskurs um Bildung und Emotion als ein Beitrag zur Frage der Möglichkeit eines integrativ holistischen Verständnisses für pädagogisch anthropologische Überlegungen; • der Nutzen für die Forschungspartner*innen im Hinblick auf die Sensibilisierung und Reflexion der eigenen emotionalen Markierungen als Beitrag zur konstruktiven Lebensgestaltung der Schüler*innen; • der Nutzen für zukünftige bildungspolitische Maßnahmen und die Möglichkeit der Implementierung grundlagenorientierter Forschung als Beitrag zur Praxisgestaltung am Übergang von Schule zur Hochschule.
1.5 Aufbau der Arbeit Die gesamte Arbeit gliedert sich konzeptuell in vier Teilbereiche: Theorie, Methode, Ergebnisse und Diskussion. Zu Beginn wird im Theorieteil der problemgeschichtliche Hintergrund der vorliegenden Arbeit diskutiert (Kap. 2), um nachvollziehen zu können wie sich das, für diese Arbeit konstitutive Verhältnis von Bildung und Emotion gestaltet, warum der Konnex von Bildung und Emotion für das pädagogische Denken so zentral ist und an welche Theoriebestände die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der vorliegenden Untersuchung anschließen. Darauf folgt eine emotionstheoretische Kontextualisierung (Kap. 3), um das, dieser Arbeit zugrunde liegende, Verständnis von Emotion offen zu legen und zu verdeutlichen, in welcher Weise der Emotionsbegriff hier Verwendung findet. Im letzten Abschnitt des Theorieteils wird der spezifische Forschungsstand im Kontext von Bildungsverläufen und Bildungslaufbahnentscheidungen skizziert (Kap. 4), um einerseits auf die Notwendigkeit der Untersuchung zu verweisen bzw. die bereits skizzierten Forschungsdesiderate zu untermauern sowie andererseits zentrale Annahmen und Thesen entlang des aktuellen Stands der Forschung herauszuarbeiten.
8
1 Einleitung
Der daran anschließende Methodenteil beginnt mit einer methodologischen Einbettung der Untersuchung und einer Vorstellung des Forschungsprojekts (Kap. 5), mit dem Ziel der Begründung des methodischen Vorgehens bzw. der Auswahl und Konzeption des methodischen Designs und seines explorativen Anspruchs. Im Anschluss werden die Samplingstrategien vorgestellt (Kap. 6), um die Auswahl der Teilnehmer*innen der Studie bzw. die Kriterien des Samplings zu legitimieren sowie die Schüler*innen und beteiligten Schulen vorzustellen. Um das multi-methodische Forschungsdesign adäquat abzubilden und das methodische Vorgehen nachvollziehbar zu gestalten, werden abschließend die Methoden der Datenerhebung (Kap. 7) und die Methoden der Datenauswertung (Kap. 8) im Detail beschrieben. Im vierten Teil, der Ergebnisdarstellung, werden zuerst die Resultate aus den einzelnen methodischen Zugängen beleuchtet. Zu Beginn werden hierfür die Ergebnisse aus der videobasierten Qualitativen Inhaltsanalyse abgebildet und zentrale Zusammenhänge erläutert (Kap. 9). Daran anschließend werden die Ergebnisse aus der standardisierten Videoanalyse dargestellt (Kap. 10) und ein Überblick zu den Ergebnissen aus den Fokusgruppen gegeben (Kap. 11). Abschließend werden die Ergebnisse aus der qualitativen und quantitativen Videoanalyse gegenübergestellt und Metainterferenzen diskutiert (Kap. 12). Am Ende der Arbeit werden in der Diskussion zuerst die allgemeinen Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes vorgestellt (Kap. 13). Daran anschließend wird der Versuch unternommen, die zentralen Forschungsfragen zu beantworten (Kap. 14). Schlussendlich werden die Limitationen der Arbeit diskutiert, die Implikationen für die Theoriebildung und Praxisgestaltung erläutert und zukünftige Forschungsperspektiven skizziert (Kap. 15).
Teil I Theorie
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Bildung und Emotion – Eine problemgeschichtliche Annäherung
Im ersten Teil der theoretischen Analyse wird das, für die vorliegende Arbeit grundlegende Verhältnis von Bildung und Emotion kritisch in den Blick genommen. Dies ist notwendig, um zu klären, wie es um die Beziehung von Bildung und Emotion bestellt ist, welche Bedeutung Emotionen im bildungswissenschaftlichen Denken zugeschrieben wird, welche Rolle Emotionen in Bildungsprozessen spielen, welcher Stellenwert Emotionen dabei Bildungsverläufen beigemessen wird und welche anthropologischen Vorstellungen damit einhergehen bzw. welche Menschenbilder diesem Verhältnis zugrunde liegen. Hierzu sei angemerkt, dass man in der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Bildung und Emotion auf eine Reihe von zeitgenössischen Autor*innen stößt, die eine Rückschau vornehmen und rezente Debatten mit historischen Entwicklungslinien in Beziehung setzen, um zu veranschaulichen, wie aktuelle Studien – wie die vorliegende Arbeit – vor dem Hintergrund einer langen Denktradition gedeutet werden können. Im den nachfolgenden Kapiteln soll dementsprechend dargestellt werden, wie die Vergangenheit im aktuellen Diskurs verhandelt wird und auf welche Weise gewisse Themen und Aspekte, die heute mit dem Begriff der Bildung in Verbindung gebracht werden oder aber der Dimension des Emotionalen zuzuordnen sind, in vergangenen Epochen bereits differenziert diskutiert wurden.
2.1 Zum Konnex von Bildung und Emotion Das Verhältnis von Bildung und Emotion ist historisch betrachtet mehr als nur eine „problematische Liaison“ (vgl. Klika 2004) und entstand lange vor der Entstehungsphase der Pädagogik als eigenständige, wissenschaftliche Disziplin
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_2
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2 Bildung und Emotion …
(vgl. Huber 2013, S. 49 ff.). Seitdem Menschen über Erziehung und Bildung sprechen, sind Emotionen und Gefühle ein wesentlicher Bestandteil der Frage nach den Bedingungen von Menschsein. Denn jedem Sprechen über Bildung, Erziehung oder Unterricht liegt eine Vorstellung des Menschen zugrunde (vgl. Wulf und Zirfas 2014a, S. 9), die impliziert, wie dieser Mensch sein soll, der erzogen und unterrichtet wird respektive sich in der Auseinandersetzung mit Welt bilden soll. Diese Vorstellung beinhaltet nicht nur ein idealtypisches Bild des Menschen, sondern auch einen bestimmten Wertmaßstab für jene Tugenden, Eigenschaften, Merkmale oder Kompetenzen, die es anzustreben oder zu vermitteln gilt. Und Emotionen und Gefühle sind nicht nur ein Merkmal, sondern eine zentrale Wesenseigenschaft des Menschen. Der Mensch ist und war immer schon, in seiner biologischen oder materiellen Natur, in seiner sozialen oder soziokulturellen Angewiesenheit und in seiner psychologischen oder mentalen Existenz, ein emotionales Wesen. Demnach war der Stellenwert von Emotionen nicht nur expliziter Bestandteil der Auseinandersetzung im Sprechen über jene Maßstäbe für Bildung, Erziehung und Unterricht, sondern gleichzeitig beeinflusst die eigene Emotionalität und die Wahrnehmung derselben auch diese Auseinandersetzung respektive den Sprechakt selbst. Diese doppelte Historizität (und Kulturalität) von Emotionen ist anthropologischen Verhältnisbestimmungen und der Verschränkung von Mensch und Welt inhärent. Sie verweist auf die Geschichtlichkeit der Emotion selbst und gleichzeitig auf die Geschichtlichkeit der Auseinandersetzung mit Emotionen (vgl. Wulf 2014, S. 116).
2.2 Historische Ursprünge des Diskurses um Bildung und Emotion Auch wenn es nahezu unmöglich scheint den Ursprung von Bildung als Idee, Ideal oder Theorie historisch festzumachen (vgl. hierzu Hentig 2004; Rucker 2012), ist es gewiss, dass Unterweisung und Ausbildung als Voraussetzung der Weitergabe kultureller Leistungen und als notwendige Folge von Bildsamkeit – als Bedürftigkeit von und eben nicht nur als Fähigkeit zur Bildung – seit jeher den Menschen (auch) zu einem genuin pädagogischen Wesen machen. Demnach verwundert es auch nicht, dass bereits in den Anfängen der Philosophie dem Verhältnis von Bildung und Emotion bzw. dem Menschen als erziehendes und fühlendes Wesen Rechnung getragen wurde. So verdeutlicht bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik, die in pädagogischen Verhältnisbestimmungen immer wieder als historischer Bezugspunkt für den Konnex von Bildung und Emotion herangezogen wird (vgl. bspw. Rittelmeyer 2010; Reichenbach 2018;
2.2 Historische Ursprünge des Diskurses um Bildung und Emotion
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Huber und Krause 2018), dass erst durch Emotionen – genau genommen durch den Maßstab der Glückseligkeit – die Frage beantwortet werden kann, wie ein guter Mensch und ein gelungenes Leben beschaffen sein soll (vgl. Aristoteles 2006, S. 22). Wie Roland Reichenbach (2018) ausführt, bestimmen bereits bei Aristoteles Emotionen das moralische Denken, Handeln und Urteilen – eine These, die sowohl im erziehungswissenschaftlichen als auch im emotionstheoretischen Diskurs über die Vermittlung von Moral (vgl. bspw. Oser 2008 oder Huber 2019a) unumgänglich scheint. Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.) unterteilt (in „Über die Seele“) Emotionen entlang zweier Dimensionen seiner Seelenlehre, die der Tugenden und die der Passionen, wobei Emotionen entweder als aktuelle Gefühlszustände (Passionen) oder als Persönlichkeitseigenschaften (Tugenden) verstanden werden (vgl. Ulich und Mayring 1992, S. 14). Allerdings enthalten Emotionen für Aristoteles, der den Menschen als Vernunftwesen betrachtet, immer auch ein bestimmtes Werturteil: Die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten als das Streben nach Glück und somit als höchster Sinn des Lebens (präziser, des tugendhaften Bürgerlebens des zoon politicon) wird bei ihm durch Emotionen mitbestimmt, indem sie als notwendige Begleiterscheinungen des Handelns über Lust und Unlust darüber Auskunft geben, wie das Leben (als Streben nach Glück) beschaffen sein muss (vgl. Huber 2013, S. 45). Emotionen sind für Aristoteles kognitive Fähigkeiten und somit ein Bestandteil des guten Lebens und damit auch Voraussetzung von Bildung respektive in seiner Begrifflichkeit von Unterweisung. Durch angeleitete Übung, so Aristoteles, würden sich emotionale Reaktionen bei Kindern trainieren lassen und somit ließe sich moralisch richtiges Handeln durch die Bildung der Emotionen anerziehen (vgl. Wassmann 2002, S. 17). Während Aristoteles Emotionen als das Resultat des Zusammenspiels mentaler Fähigkeiten interpretiert (vgl. Merten 2003, S. 23) und ihnen somit in Erziehung und Bildung eine zentrale Rolle zuspricht, versteht Platon (427 v. Chr.-347 v. Chr.), als zweiter zentraler, historischer Bezugspunkt im Kontext von Bildung und Emotion, Emotionen (in „Phaidon“ und „Politea“), ausgehend von der für ihn notwendigen Trennung von Körper und Geist, als ein Resultat oder Produkt des Kampfes zwischen Verstand und Leidenschaft (vgl. Szlezak 2008, S. 23 ff.). Emotionen (bzw. Affekte) sind für Platon im Gegensatz zu Aristoteles per se negativ konnotiert; sie seien irrational, zerstörerisch und korrumpieren das Denken. Auch wenn Platon ebenso das Streben nach Glück als höchstes Ziel des erfüllten Lebens (eudemonia) konstatiert, so kann Glück bei ihm nur über die Vernunft, als das Erkennen des Wahrhaften, hergestellt werden. Emotionen hingegen sind Störfaktoren, die den Verstand daran hindern, den wahren Charakter von Dingen und Sachverhalten zu erkennen (vgl.
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2 Bildung und Emotion …
Erler 2012, S. 23). Demnach gilt es im Kontext von Bildung dafür Sorge zu tragen, dass Kinder lernen über den Geist (bzw. über die Vernunft) den Körper (bzw. die Begierden und Leidenschaften) zu kontrollieren. Moralisches Denken und Handeln zeichnen sich somit einzig durch den logischen Vernunftgebrauch aus, den es durch Mathematik, Dialektik und Körpererziehung auszubilden respektive anzuerziehen gilt. In Platons „Phaidros“ findet sich hierzu die Vorstellung der menschlichen Vernunft als Streitwagenlenker, der seine Pferde bzw. Leidenschaften – das edle Ross Thymoeides (das Mutartige) und das ungestüme Ross Epithymetikon (das Begehrende) – zügeln und bändigen muss (vgl. Platon 1964, S. 96 ff.). Dieses Sinnbild für den ewigen Kampf um die Vorherrschaft der menschlichen Psyche ist der Ausgangspunkt einer bis in die Neuzeit bestehenden, klaren Trennung zwischen mentalen und seelischen Prozessen auf der einen Seite und körperlichen oder somatischen Phänomenen auf der anderen Seite respektive zwischen Körper und Geist, Emotion und Kognition, Leidenschaft und Vernunft sowie dem materiell Fassbaren und dem immateriell Beschreibbaren. Von zentraler Bedeutung ist an dieser Stelle allerdings weniger die Betonung einer frühen Gegenüberstellung dualer Perspektiven im Kontext der Philosophie des Geistes – man könnte bei Platon auch von der Geburtsstunde des Leib-Seele-Dualismus sprechen (vgl. hierzu Beckermann 1999) – sondern vielmehr die historische Verortung eines der längsten, Disziplin übergreifenden Diskurse der Wissenschaftsgeschichte. Denn Platon und sein Schüler Aristoteles und ihr jeweiliges Verständnis des Emotionalen stehen stellvertretend für zwei Denktraditionen, die sich über die Philosophie und Psychologie hinaus bis in die Gegenwart der Emotionstheorie nachverfolgen lassen (vgl. hierzu bspw. die Entwicklungslinien bei Power und Dagleisch 1999; Wassmann 2002; Merten 2003; Marneros 2007): Während Platons Körper-Geist-Dualismus grundlegend für die philosophischen Arbeiten von Rene Descartes, David Hume, John Locke, Immanuel Kant oder für die Psychologie von William James war, gilt Aristoteles und sein Verständnis des Zusammenspiels (höherer) mentaler Fähigkeiten wiederum als Wegbereiter der Stoiker, wie Seneca oder Chrysippos von Soloi, für Thomas von Aquin, Baruch de Spinoza oder für die Psychologie von Magda Arnold (vgl. hierzu auch Merten 2003, S. 22). Wie in einem der nachfolgen Kapitel noch gezeigt wird (siehe Abschn. 3.2), lässt sich beinahe jeder emotionstheoretische Zugang, unabhängig der disziplinären Verortung, der epistemologischen Einbettung oder des methodischen Zugangs, einer dieser beiden Traditionen bzw. einem dieser beiden anthropologischen Grundverständnissen zuordnen, auch wenn es innerhalb der Philosophie des Geistes (vgl. hierzu bspw. Natterer 2011) oder der modernen Emotionspsychologie (vgl. hierzu bspw. Schönpflug 2000) weitaus differenziertere Modelle historischer Entwicklungslinien gibt.
2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik
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2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik Die historischen Entwicklungslinien der Bedeutungszuschreibung von Emotionen innerhalb der Pädagogik oder Bildungswissenschaft sind hingegen weitaus interpretationsbedürftiger und lassen sich aus mehrerlei Gründen nicht einfach nachzeichnen. Dies liegt unter anderem an der späten Entstehungsgeschichte der Pädagogik als eigenständige Disziplin sowie an der damit einhergehenden, disziplinär und epistemologisch problematischen Zuordnung der sogenannten Klassiker der Pädagogik, also von Lyrikern, Philosophen oder Theologen, die sich mit Bildung, Erziehung und Unterricht im weitesten Sinne beschäftigten. So finden sich explizite Bezüge zum Konnex von Bildung und Emotion, die von unterschiedlichen zeitgenössischen Autor*innen aus historischer Perspektive als genuin pädagogische Bezugspunkte konstatiert werden, im Besonderen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bzw. ab der späten Aufklärung (vgl. hierzu die entsprechenden Darstellungen von Buddrus 1992a; Gläser-Zikuda 2001; Klika 2003; Hascher 2009; Huber 2013; Gieseke 2016; Klika 2018; Huber und Krause 2018). Dies ist insofern wenig verwunderlich, da mit der Aufklärung der gesellschaftliche Stellenwert von und das kollektive Interesse an Bildung, Erziehung und Unterricht einen bis dahin nicht da gewesenen Aufschwung erlebte und sich dadurch gleichzeitig die Pädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin (in Europa) zu etablieren begann (vgl. Vogel 2016, S. 455). Zu nennen sind an dieser Stelle in chronologischer Reihenfolge die Arbeiten von Rousseau, Pestalozzi, Humboldt, Herbart, Schiller, Dilthey und Montessori, die im Folgenden, unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung von Emotionen für Bildungsprozesse und dem damit einhergehenden anthropologischen Verständnis, entlang rezenter Darstellungen innerhalb der Bildungswissenschaft grob umrissen werden:
2.3.1 Jean-Jacques Rousseau Für Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) sind, unter Berücksichtigung der Analyse von Dorle Klika (2018), Gefühle und Empfindungen für den Bildungsprozess seines Zöglings Émile sinnvoll und wünschenswert, da sie dem erzieherischen Einfluss unterliegen und somit die Entwicklung der Vernunft und die Möglichkeit, frei und unabhängig zu werden – als Rousseaus zentrale Ziele von Erziehung – unterstützen (vgl. Klika 2018, S. 78). Gleichzeitig
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2 Bildung und Emotion …
gilt es allerdings den Zögling vor den entfremdenden und ihn in Abhängigkeit bringenden Leidenschaften (so lange wie möglich) zu bewahren (vgl. Huber 2013, S. 50). Rousseaus negative bzw. natur- und entwicklungsgemäße Erziehungslehre stellt zwar nicht die Vernunft und die Ausbildung derselben ins Zentrum pädagogischer Bemühungen, geht jedoch aufgrund der Annahme der natürlichen und angeborenen Anlage von Selbstliebe und Mitleid, denen die Vernunft und die moralische Reflexion erst nachfolgen, davon aus, dass Denken und Fühlen zwei widerstreitende Prozesse sind. Die Vorstellung, dass erst der freie Wille, der der Vernunft übergeordnet ist, dem Menschen ermöglicht seine Natur als Triebwesen zu überwinden, verweist auf eine klassisch dualistische Sichtweise von Körper und Geist und ein dementsprechendes pädagogisch anthropologisches Verständnis. Dennoch ist sich auch Rousseau über die zentrale Bedeutung von Emotion als erzieherisches Mittel und als Voraussetzung moralischen Denkens bewusst; Gefühle und Empfindungen sind zum einen erziehungsfähig und somit auch erziehungsbedürftig, um den Menschen in weiterer Folge ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Zum anderen sind Gefühle und Empfindungen aber auch für die naturgemäße Entwicklung und Kultivierung des Menschen notwendige anthropologische Grundprinzipien (vgl. Gyer 2007, S. 231 ff.).
2.3.2 Johann Heinrich Pestalozzi Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) berücksichtigt die Bedeutung von Emotionen in seiner Erziehungslehre, mit Bezug auf die Arbeiten von Sabine Seichter (2012) und Tina Hascher (2009), in zweifacher Hinsicht. Einerseits findet sich in seinem pädagogischen Credo zum ganzheitlichen Lehren (mit Kopf, Herz und Hand) die explizite Aufforderung Gefühle ernst zu nehmen (vgl. Hascher 2009, S. 82) und sie als konstitutiven Teil des Lerngeschehens zu betrachten (vgl. Pestalozzi 1946, S. 197). Das damit einhergehende (pädagogische) Menschenbild Pestalozzis berücksichtigt als Erkenntnisquellen sowohl körperliche Empfindungen, konkrete Erfahrungen als auch die sich daran anschließende Reflexion. Emotion (bzw. das Herz) ist somit, neben der praktischen Erfahrung und der nachgeordneten Reflexion, eine gleichberechtigte Voraussetzung von Bildung. Andererseits gilt Pestalozzi als Erfinder des Terminus der „pädagogischen Liebe“ (vgl. Klika 2004, S. 24). Diese „Liebe des Erziehers zum Zögling“ ist die Voraussetzung für das gegenseitige Vertrauen im pädagogischen Prozess und somit das Fundament für die sittliche Erziehung,
2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik
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die wiederum die Grundlage sozialen Handelns und moralischer Urteilskraft darstellt (vgl. Seichter 2012, S. 59). Pestalozzis ganzheitliches Erziehungs- und Lernverständnis versucht die Gegenüberstellung von Körper und Geist insofern zu überwinden, als dass er Gefühle sowohl als Erkenntnisquelle als auch als Voraussetzung für die Ermöglichung pädagogischer Prozesse benennt. Bildung vollzieht sich nur im Zusammenspiel von leiblicher Empfindung (Herz), konkreter Erfahrung (Hand) und nachfolgender Reflexion (Kopf). Pestalozzi hat somit, im Gegensatz zu Rousseau, den Versuch unternommen, den Körper-GeistDualismus durch eine holistische Perspektive auf Bildung und Lernen zu überwinden.
2.3.3 Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt (1767–1835) prägte nachhaltig die Vorstellung eines Allgemeinen Bildungsideals, verstanden als die Bildung von Charakter und Gesinnung bzw. von Geisteshaltung und Moral. Tina Hascher (2009) weißt diesbezüglich darauf hin, dass Humboldt besonders die individuelle Seite menschlicher Bildung respektive die Entfaltung persönlicher Fähigkeiten und Talente betont, die sich aber erst im Zusammenspiel von „Kraft und Gemüht“ voll entwickeln können (vgl. Hascher 2009, S. 82). Durch den, einer allgemeinen (Aus-)Bildung oder Schulbildung geschuldeten, Vernunftgebrauch wird es, so Humboldt, dem Menschen in weiterer Folge möglich selbstbestimmt und mündig zu handeln und somit einen wertvollen und notwendigen Beitrag zur gesellschaftlichen Ordnung (als Weltbürger) zu leisten (vgl. Humboldt 1969 [1792], S. 64 f.). Die Allgemeinbildung des Einzelnen trägt somit zu einer Bildung der Gesellschaft bei. Im Humboldt’schen Bildungsideal werden Emotionen bzw. die Bildung derselben insofern berücksichtigt, als sich das geistige Schaffen des Menschen sowie sein Handeln als Bürger nicht unabhängig von seiner sinnlichen Natur vollziehen können. Die sogenannte „Bildung des Gemüts“ meint bei Humboldt eine Bildung der Gefühle (vgl. Frevert und Wulf 2012, S. 2), die gleichberechtigt neben der Bildung des Verstandes Teil seines humanistischen Bildungsverständnisses ist. Dennoch scheint Humboldt, im Besonderen unter Berücksichtigung seiner Ausführungen zur Geschlechtsdifferenz, einer dualistischen Vorstellung von Körper und Geist bzw. Körper und Seele zu folgen (vgl. hierzu Humboldt 1980, S. 258). Unabhängig davon sind Emotionen für ihn dennoch eine notwendige Voraussetzung von Bildung und die intendierte Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl Teil seines allgemeinen Bildungskanons.
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2 Bildung und Emotion …
2.3.4 Johann Friedrich Herbart Johann Friedrich Herbart (1776–1827) gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Pädagogen des Neuhumanismus (vgl. Stumpf 2007, S. 70) und als Begründer der (deutschsprachigen) Pädagogik als Wissenschaft, indem er ihr, gegenüber der Philosophie und Theologie, ein eigenes, systematisch ausgearbeitetes Theoriegebäude und ihr zugehöriges Forschungsfeld bereitstellte (vgl. Benner 1993). Wie Dorle Klika (2004, 2018) herausarbeitet, bezieht sich Herbart in seiner Allgemeinen Pädagogik explizit auf den Zusammenhang zwischen Bildung und sittlicher Erziehung im Zusammenspiel von Liebe und Autorität. Moralität, als Ziel jeglicher Erziehung und Voraussetzung von Selbstbestimmung und Individualität, lässt sich nur über Emotion vermitteln. Gefühle gelten für ihn als empirische Erkenntnisquelle, die dem Menschen ermöglichen zwischen Erkennen (Erkenntniskraft) und Wollen (Begehren) zu vermitteln und sind somit Voraussetzung, die Charakterstärke (der Sittlichkeit beim Zögling) zu entwickeln (vgl. Klika 2004, S. 25 sowie Klika 2018, S. 80). Besonders hervorzuheben ist aus emotionstheoretischer Perspektive Herbarts Konzeption des pädagogischen Takts, des Mittlers zwischen pädagogischer Theorie und Erziehungspraxis. Denn dieser Takt meint mehr als bloßes Einfühlungsvermögen oder Bauchgefühl; er beschreibt eine der zentralen Funktionen von Emotionen, nämlich die Transferleistung von Wissen bei adaptiven Entscheidungen und/ oder Situationen. Daher ist Herbarts Emotionsverständnis und Menschenbild im Kontext aktueller Emotionstheorien aus bildungswissenschaftlicher Perspektive von zentraler Bedeutung (vgl. Huber 2013, S. 50). Seine Charakterlehre verweist zudem auf einen monistischen Ansatz im Kontext der Körper-Geist-Beziehung (vgl. Plessner 1981).
2.3.5 Friedrich Schiller Friedrich Schiller (1759–1805) wird zwar selten zu den Klassikern der Pädagogik gezählt (vgl. hierzu bspw. Tenorth 2010 sowie Dollinger 2011), sein Beitrag zum Konnex von Bildung und Emotion ist allerdings aus historischer Perspektive unverzichtbar. Denn seine Theorie der ästhetischen Bildung geht, unter Berücksichtigung der Arbeiten von Denise Friedauer (2015, 2018), nicht nur von der Notwendigkeit des Zusammenspiels von Vernunft und Sinnlichkeit bzw. Verstand und Gefühl aus, sondern betont auch die wechselseitige Bezogenheit und Gleichwertigkeit der beiden vermeintlich gegensätzlichen Pole im Kontext von Bildung und Erziehung: „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und
2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik
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zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnwelt wiedergegeben.“ (Schiller 1962 [1795], S. 624) Auch wenn in Schillers Theoriegebäude die Trennung von Form und Materie – als eine Trennung von Vernunft und Denktätigkeit als Form sowie sinnlicher Wahrnehmung, Sensorik und Empfindung als Materie oder Stoff – ein duales, anthropologisches Grundverständnis nahe legt, so ist Gefühl und Empfindung auch bei ihm eine unabdingbare Voraussetzung von Bildung. Zum einen lässt sich ästhetische Bildung bei Schiller als reflexive Bewusstwerdung eines Gefühls und die Überführung desselben in den ästhetischen Modus der Empfindung charakterisieren. Über diesen reflexiven Prozess kommt es gleichzeitig zu einer Annäherung von Sinnlichkeit und Vernunft mit dem Ziel, beide in Einklang zu bringen. Zum anderen ist nicht nur die Erweiterung der Rationalität Ziel von Bildung, sondern gleichzeitig die Erweiterung der menschlichen Emotionalität, die im Gefühl der Heautonomie – als absolute Selbstgesetzgebung bzw. als ästhetische Freiheit – ihren Höhepunkt erfährt (vgl. Friedauer 2018, S. 72). Schillers bildungstheoretische Akzentuierung der Sinnlichkeit, des Gefühls, der Empfindung und des Schönen, hatte nicht nur einen starken Einfluss auf die Weimarer Klassik und die Vertreter*innen der Romantik, sondern im Besonderen auf die pädagogische Reformbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts.
2.3.6 Wilhelm Dilthey Wilhelm Dilthey (1833–1911) gilt als Mitbegründer der hermeneutischen Philosophie und als Wegbereiter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. In Abgrenzung zum naturwissenschaftlichen Modus des Erklärens kausaler Zusammenhänge sieht er die Aufgabe der Geisteswissenschaften darin, über die Hermeneutik den Zusammenhang zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen zu klären. Dilthey versteht, ausgehend von der hermeneutischen Geisteswissenschaft, Pädagogik als praktische Wissenschaft und Erziehung als eine planvolle Tätigkeit, mit dem Ziel das Seelenleben des Heranwachsenden zu bilden. Die Funktion der zielgerichteten Erziehung (respektive Bildung des Seelenlebens) besteht, ähnlich wie bei Humboldt, zum einen in der Persönlichkeitsbildung des Individuums und zum anderen darin, durch diese Bildung, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben zu leisten (vgl. Stumpf 2007, S. 90). Zentral ist bei Dilthey, wie die anthropologischen Überlegungen von Andrzej Przylebski (2012) verdeutlichen, die Forderung einer zunehmenden Differenzierung der widerstreitenden psychischen Prozesse menschlichen Fühlens, Wollens und Denkens; interessanterweise sind es dabei die Emotionen und das emotionale
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2 Bildung und Emotion …
Erleben, die in Diltheys Anthropologie und Lebensphilosophie, trotz des Fundaments der Logik geisteswissenschaftlicher Forschung, als zentrales Moment von Menschsein konstatiert werden (vgl. Przylebski 2012, S. 214). Denn die, durch den Kontakt mit Wirklichkeit entstandenen, Gefühle verdeutlichen das Gute (Moral), die Stellung in der Welt (Existenz), das Begehren und die Wünsche (Wollen) sowie die Ziele unserer Handlungen (Telos). Und auch in Diltheys geisteswissenschaftlichem Zugang des Verstehens sind Emotionen eine gewinnbringende Erkenntnisquelle. Sinnzusammenhänge werden im hermetischen Verstehen durch das Nacherleben fremder Gefühle deutlich und Geschichte bzw. Vergangenes lässt sich durch das Hineinversetzen und Nachbilden der Gefühle fremder Erfahrungen rekonstruieren (vgl. Brauer und Lücke 2013a, S. 13 f.). Somit lässt sich festhalten, dass für Dilthey, trotz der für ihn konstitutiven Differenzierung zwischen Sinneswahrnehmung des äußeren Körpers und dem inneren Gewahrwerden der Seele oder des Geistes, auf der wiederum seine Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften aufbaut, Emotionen sowohl aus anthropologischer als auch aus erkenntnistheoretischer Perspektive zentrale Stellgrößen darstellen.
2.3.7 Maria Montessori Abschließend sei noch Maria Montessori (1870–1952) und ihr reformpädagogisches Programm einer „Pädagogik vom Kinde aus“ (vgl. Montessori 2001 [1909]) als historischer Bezugspunkt für den Konnex von Bildung und Emotion angeführt. Grund hierfür ist zum einen die zentrale Stellung von Emotion und Gefühl innerhalb der Montessoripädagogik und zum anderen die Etablierung und Verbreitung dieses Konzepts als (schul-)pädagogisches Programm in Europa und den USA ab der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie Winfried Böhm (2004) konstatiert, betont ihr pädagogischer Grundgedanke, der sich in erster Linie an biologisch-physiologischen Modellen und sozialpädagogischen Motiven der Jahrhundertwende orientiert, die naturgegebene Individualität des Kindes und die freie Entwicklung der Bedürfnisse, Talente, Wünsche und Begabungen desselben, die sich nur im Kontext der Selbsterziehung realisieren lassen (vgl. Böhm 2004, S. 26). Grundsätzlich bilden bei Montessori Körper bzw. Leib und Geist eine integrative, sich wechselseitig ergänzende Einheit, wobei das erzieherische (und pädagogische) Interesse vorrangig dem Geist zukommt. Die Ontogenese wird dabei weder als ein rein biologischer Vorgang noch als ein Prozess der Prägung durch Umwelteinflüsse verstanden, sondern als ein aktiver Prozess der Selbstgestaltung des Individuums
2.3 Bildung und Emotion bei den Klassikern der Pädagogik
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(vgl. Klein-Landeck 2009, S. 10 f.). Daher waren für Montessori die emotionalen Entwicklungsbedürfnisse, die sich ähnlich der pädagogischen Liebe durch Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrauen auszeichnen, eine zentrale Voraussetzung für Bildung und Erziehung im Allgemeinen. Dies zeigt sich nicht nur an ihrer Forderung nach einer intensiven, emotionalen Beziehung zum Kind, sondern im Besonderen in Montessoris didaktischen Ratschlägen: Hierzu zählen bspw. die sogenannte „vorbereitete Umgebung“, die in allen Teilbereichen auf eine emotional anregende Gestaltung der Umwelt fokussiert und im Kontext von Schulentwicklung und Unterrichtsgestaltung höchst aktuell scheint (vgl. Heitkämper 2005, S. 81 f.), die sogenannte „Polarisation der Aufmerksamkeit“, ein dem flow-Zustand ähnliches Konzept des völligen Versunkenseins in eine Tätigkeit (vgl. Hascher 2009, S. 83), oder das sogenannte „Zeit- und Taktgefühl“, als die pädagogische Kompetenz die „sensiblen Phasen der Entwicklung“ zu erkennen und Kindern dabei das bereitzustellen, was sie in diesen Phasen benötigen (vgl. Hellwig 2009, S. 100). Somit sind Emotionen bei Montessori sowohl konstitutiver Teil ihres anthropologischen Grundverständnisses als auch fester Bestandteil ihres pädagogischen Reformprogramms.
2.3.8 Zwischenfazit Möglicherweise ließen sich hier weitere Autorinnen und Autoren als vermeintliche Wegbereiter oder auch Klassiker der Pädagogik anführen, denen aus historischer Perspektive im Kontext der Verschränkung von Bildung und Emotion vereinzelt Rechnung getragen werden könnte. Zu nennen wäre bspw. Thomas von Aquins (1225–1274) systematische Darstellung grundlegender Emotionen und ihrer Wirkzusammenhänge (vgl. Wassmann 2002, S. 24), Johann Amos Comenius‘ (1552–1670) christlich geprägtes Verständnis der Erziehung zur Menschlichkeit (vgl. Schaller 1995, S. 55), Immanuel Kants (1724–1804) ablehnende Haltung gegenüber allem Emotionalen und der Gefühlswelt des Menschen per se (vgl. Huber 2013, S. 47), Johann Gottlieb Fichtes (1762– 1814) Betonung des Zusammenhangs zwischen Eigentätigkeit und Gefühl (vgl. Gläser-Zikuda 2001, S. 59) oder Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Seelenlebens (vgl. Hascher 2009, S. 83.). Von Interesse wäre auch Vincenz Eduard Mildes (1777–1853) „Lehrbuch der allgemeinen Erziehungskunde“, in dem er, als erster österreichischer Professor für Erziehungswissenschaft (damals Erziehungskunde) an der Universität Wien, ein Kapitel der Bildung der Gefühlsanalgen widmet (vgl. Milde 1965 [1811]). Der Unterschied zu den zuvor genannten Vertreter*innen ist
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2 Bildung und Emotion …
allerdings, dass erstere Emotionen explizit einen zentralen Stellenwert im Kontext ihrer bildungs- und/oder erziehungstheoretischen Überlegungen beimessen, d. h. Emotionen zum einen als anthropologische Konstante festmachen und deren Berücksichtigung zum anderen als pädagogische Maxime konstatieren. Dies ist auch der Grund, warum ihre Arbeiten, im Unterschied zu jenen von John Locke, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher oder John Dewey, als weitere unverzichtbare Klassiker der Pädagogik, in rezenten Darstellungen immer wieder als Bezugs- oder Anhaltspunkte für den Konnex von Bildung und Emotion herangezogen werden. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Arbeiten von Rousseau, Pestalozzi, Humboldt, Herbart, Schiller, Dilthey und Montessori mit Blick auf den aktuellen Stand der Forschung eine besondere Stellung innerhalb des Diskurses um die Verschränkung von Bildung und Emotion einnehmen, ohne aber gleichzeitig ihre pädagogischen Entwürfe einem wie auch immer gearteten Werturteil unterziehen zu wollen.
2.4 Bildung und Emotion von der Aufklärung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Um die Entwicklungslinien des Konnex von Bildung und Emotion innerhalb der Pädagogik bis zur Gegenwart nachzuzeichnen, soll an dieser Stelle kurz auf die Arbeit von Volker Buddrus (1992a) Bezug genommen werden, der sich intensiv mit den „verborgenen Gefühlen in der Pädagogik“ beschäftigte und auf dessen Werk in emotionstheoretischen Beiträgen der Bildungswissenschaft immer wieder rekurriert wird (vgl. hierzu bspw. Gläser-Zikuda 2001; Arnold und Holzapfel 2008; Huber 2013; Gieseke 2016). Auch Buddrus (1992a) beginnt in seiner historischen Nachzeichnung des pädagogischen Umgangs mit Gefühlen, nach einem kurzen Exkurs zur griechischen Philosophie und der pädagogischen Herrschaftsfrage, mit der Position der Aufklärung (vgl. Buddrus 1992a, S. 19–23). Unter Bezug auf Erich Webers „Emotionalität und Erziehung“ (1975) macht Buddrus deutlich, dass in der Phase der Aufklärung die Bildung des Herzens als eine Aufklärung des Verstandes interpretiert wurde. Durch die Förderung des Verstandes, so die gängige Auffassung, werde auch die Bildung der Gefühle vorangetrieben (vgl. Buddrus 1992a, S. 24). Das erzieherische Handeln und bildungstheoretische Denken waren somit in der Ära der Aufklärung rational geprägt (vgl. Gläser-Zikuda 2001, S. 59). In der darauf folgenden Epoche der Romantik ging es darum, das Lebensgefühl, die Lebenskraft und die Leidenschaften zu wecken. Mit Bezug auf Bollnows Arbeit „Die Pädagogik der deutschen Romantik“ (1952) hebt Buddrus die zentralen Anknüpfungspunkte
2.4 Bildung und Emotion von der Aufklärung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
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der Romantik für eine Grundposition der humanistischen Pädagogik hervor, welche die Bedeutung von Emotion und Gefühl in dieser Periode unterstreichen: die Wechselwirkung von Innen und Außen, die inneren Quellen der Gestaltung der menschlichen Welt sowie die Widerspiegelung des Ganzen in seinen Teilen (vgl. Buddrus 1992a, S. 26 f.). Damit wurden in der Romantik das Gefühl und die Leidenschaften gegenüber der abstrakten Rationalität in den Vordergrund pädagogischer Überlegungen gerückt. Buddrus macht allerdings, wiederum unter Bezugnahme auf Erich Weber, darauf aufmerksam, dass ab Mitte des 19. Jahrhunderts, durch Positivismus und Materialismus ausgelöst, der Fortschrittsglaube und die Technologieaffinität dazu führten, dass Bildung zuallererst als eine Anhäufung von Wissen und als eine Schulung des Intellekts verstanden wurde (vgl. Buddrus 1992a, S. 30). Somit wurde die, in der Romantik so zentrale Bildung der Gefühle erneut von einem rationalen Bildungsverständnis verdrängt. Die sich daran anschließende Reformbewegung in der Pädagogik gegen Ende des 19. Jahrhundert betonte erneut die Emotionalität und die Berücksichtigung von Gefühlen und Stimmungen, Herz und Gemüt. Besonders in der Erlebnispädagogik und Kunsterziehungsbewegung ging es vorrangig um Empfindung, Imagination, Phantasie und Selbstgefühl (vgl. Buddrus 1992a, S. 31 f.). In der darauf folgenden Zeit des Nationalsozialismus wurden Emotionen für Herrschaftszwecke, zur Unterwerfung und Ideologiegläubigkeit instrumentalisiert. Neben der Schulpädagogik des Nationalsozialismus, die auf die Vermittlung biologischer Rassenkunde und nationalsozialistischer Weltanschauung abzielte, waren es besonders die außerschulischen Erziehungskonzepte in der Reichs- bzw. Hitlerjugend sowie im Bund Deutscher Mädel, die über stark emotionalisierte, erlebnispädagogisch orientierte Konzepte Millionen von Kindern und Jugendlichen äußerst wirksam ideologisch prägten und paramilitärisch zusammenschlossen (vgl. Buddrus 1992a, S. 33). Der kritische Blick auf die Pädagogik und Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten verdeutlicht die Macht der Emotionen im Kontext von Bildung, Erziehung und Unterricht. In der darauf folgenden „Rekonstruktionsphase der Pädagogik“ wurde versucht an die bisherigen Theorien und Konzepte vorhergehender Traditionen anzuknüpfen (vgl. Buddrus 1992a, S. 34), wobei bis in die Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts der Bereich der Emotionalität in der Erziehungswissenschaft ausgeklammert wurde (vgl. Huber 2013, S. 51). Michaela Gläser-Zikuda (2001) verweist im Anschluss an Buddrus (1992a) auf drei Publikationen, die sich nach der Rekonstruktionsphase mit dem Konnex von Bildung und Emotion beschäftigen: Erich Webers (1975) Konzept zur Förderung der emotionalen Grundlagen der Erziehung, Hildegard Machas (1984) Stufenmodell der Emotionalen Erziehung sowie Leo Montadas (1989) Appell zur Bildung der Gefühle. Gleichzeitig macht
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2 Bildung und Emotion …
sie aber darauf aufmerksam, dass diese singulären Aufforderungen, Emotionen in Erziehung und Unterricht in theoretischen Ansätzen aufzugreifen und in der Praxisgestaltung umzusetzen, weitgehend ignoriert oder vernachlässigt wurden (vgl. Gläser-Zikuda 2001, S. 62).
2.5 Bildung und Emotion im Kontext der Psychoanalytischen Pädagogik Mit Blick auf die Übersichtsarbeiten von Buddrus (1992a) und Weber (1975) sowie auf die historischen Kontextualisierungen bei Gläser-Zikuda (2001), Klika (2004, 2018) und Frevert und Wulf (2012) fällt auf, dass jene Autor*innen der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik im Hinblick auf die Entwicklungslinien des Konnex von Bildung und Emotion keine große Aufmerksamkeit schenken. Allerdings ist der Beitrag Sigmund Freuds (1956– 1939) und der psychoanalytischen Theorie zum Verständnis der menschlichen Emotionalität aus bildungswissenschaftlicher Perspektive in keiner Weise vernachlässigbar. Denn wie Otto Kruse (2000) hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert der Psychoanalyse im emotionstheoretischen Diskurs treffend festhält, war es Sigmund Freud und der psychoanalytische Ansatz, der als Erster das Sprechen über Gefühle als eine wissenschaftlich fundierte Methode sozialer Hilfe professionalisiert hat (vgl. Kruse 2000, S. 64). Damit wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer, wissenschaftlicher Zugang zur Subjektivität und zum innerpsychischen Erleben geschaffen, dessen anthropologisches Grundverständnis bis heute sozial- und gesundheitspolitische Veränderung bewirkt. Gemeint ist hier nicht nur die große, psychologische Kränkung der Souveränität des menschlichen Seelenlebens (vgl. Freud 1917, S. 3), nämlich, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist, sondern dass durch die Psychoanalyse und ihr Theoriegebäude ein kollektives Bewusstsein für den unmittelbaren Zusammenhang von Körper und Geist bzw. Soma und Psyche geschaffen wurde. Man denke hierbei an die somatische Fixierung bzw. Somatisierung der westlichen Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts und die, durch die Psychoanalyse angestoßene, Entwicklung der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie in Europa und den USA. Darüber hinaus sind die Axiome der Psychoanalyse, insbesondere die Theorie des Unbewussten, die Abwehrmechanismen, das topographische Modell und das Strukturmodell, sowie die Beiträge der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, wie bspw. die Mentalisierungstheorie (vgl. Fonagy et al. 2002), das Stufenmodell der
2.5 Bildung und Emotion im Kontext der Psychoanalytischen Pädagogik
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p sychosozialen Entwicklung (vgl. Erikson 1973) oder aber auch die Arbeiten zur Bindungstheorie (vgl. Bowlby 2018), innerhalb aktueller, emotionstheoretischer Überlegungen nicht wegzudenken. Da allerdings die klassische Triebtheorie, welche Affekte als Entladungsvorgänge von Triebregungen versteht, selbst innerhalb der Psychoanalyse als unzureichend wahrgenommen wurde, kam es insbesondere gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu zahlreichen Revisionsversuchen der psychoanalytischen Emotions- bzw. Affekttheorie (vgl. hierzu die Arbeiten von Lichtenberg 1989; Kernberg 1996 und Dornes 1997). Warum es innerhalb der Psychoanalyse erst so spät zu einer vertieften Auseinandersetzung mit einer eigenständigen Theorie der Emotionen kam, kann darauf zurückgeführt werden, dass Freud selbst zu Lebzeiten immer wieder bestrebt war seine Triebtheorie – in der Emotion und Gefühl immer nur eine Folge des Triebes waren – zu erweitern und zu modifizieren (vgl. Datler und Wininger 2018, S. 314). Auch wenn Emotion und Gefühl nach wie vor im Fokus psychoanalytischer Theorieentwicklung stehen (vgl. Chodorow 2001, S. 121 ff. sowie Benecke 2017, S. 113–117), machen bereits die klassische Triebtheorie und ihre Adaptions- bzw. Revisionsversuche dennoch deutlich, dass Emotionen an der Schwelle von Körper und Geist zu verorten sind und sich erst im Zusammenspiel somatischer Prozesse und mentaler Phänomene konstituieren. Damit schließt sie auch aus anthropologischer Perspektive an aktuelle, emotionstheoretische Überlegungen an. Rolf Göppel (2003) kritisiert in seinem Überblicksartikel zur Möglichkeit einer „Bildung der Gefühle“ ebenso die Tendenz vieler Bildungswissenschaftler*innen, den Beitrag der Psychoanalyse und Psychoanalytischen Pädagogik zum Verständnis der Emotionalität schlichtweg zu ignorieren. Denn bereits Freud habe in seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ auf die Notwendigkeit der systematischen Berücksichtigung von Emotionen (bzw. von Affekt und Sexualität) im Erziehungsprozess hingewiesen (vgl. Göppel 2003, S. 31). Des Weiteren wurde in der ersten Abhandlung über das Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik von Sándor Ferenczi aus dem Jahr 1908, die Aufklärung über das Trieb- und Affektgeschehen als die zentrale Aufgabe der Pädagogik postuliert (vgl. Ferenczi 1970 [1908], S. 6 sowie Göppel 2003, S. 31). Auch wenn die disziplinäre Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik durch den aufkommenden Faschismus ein baldiges Ende fand (vgl. Wininger 2011, S. 262) und es nach 1945 schwer war an die Pionierarbeiten der Schüler Freuds anzuschließen (vgl. Datler 2005, S. 65 f.), war die Psychoanalytische Pädagogik dennoch immer darum bemüht, die subjektive Lebenswirklichkeit und das innerpsychische Erleben von Kindern und Jugendlichen im H inblick
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auf deren Entwicklungspotential zu verstehen. Viele der zentralen Vertreter bzw. Wegbereiter der Psychoanalytischen Pädagogik widmeten sich zudem der Bedeutung von Emotion und Gefühl im Kontext von Bildung, Erziehung und Unterricht. Zu nennen sind hier exemplarisch die Arbeiten von August Aichhorn (1878–1949), der in seiner pädagogischen Herangehensweise gezielt höchst emotionale (Übertragungs-)Erfahrungen evozierte und dieses Vorgehen auch im Kontext von Erziehungsstrategien befürwortete (vgl. Aichhorn 2005 [1925]); die Arbeiten von Hans Zulliger (1893–1965), der deutlich machte, dass (unbewusste) Emotionen insbesondere im kindlichen Spiel in Erscheinung treten und dementsprechend die Berücksichtigung des magisch-animistischen Denkens von Kindern betonte (vgl. Zulliger 1967 [1952]); sowie die Arbeiten von Bruno Bettelheim (1903–1990), der davon ausging, dass emotionale Zuwendung und Nähe eine überlebenssichernde Funktion haben und daher eine konsequente Annäherung von Gefühl und Verstand in allen Bildungsprozessen einforderte (vgl. Bettelheim 1980 [1960]). Die Frage, warum es innerhalb der Verhältnisbestimmung von Bildung und Emotion oft zur Vernachlässigung psychoanalytisch-pädagogischer Arbeiten kommt, lässt sich auf drei Kernprobleme zurückführen: (A) Zum einen konnte Freuds Metapsychologie begrifflich das Emotionale nicht adäquat abbilden. Besonders die Formulierungen der klassischen Trieb- und Affekttheorie dürften eine diesbezügliche Abwehrhaltung begünstigen. (B) Zum anderen ist das Menschenbild, das der klassischen Triebtheorie innewohnt, nur schwer mit bildungstheoretischen Überlegungen vereinbar. Freuds Betonung der Sexualität, der Libido, des Triebhaften und sein physikalisches Grundverständnis natürlicher Antriebe unterstreichen diese Problematik. (C) Der zentrale Grund für die ablehnende Haltung dürfte allerdings in der, der klassischen Psychoanalyse innewohnenden, theoretischen Akzentuierung von und praktischen Fokussierung auf pathologische Phänomene und deren mögliche Ausheilung liegen. Über lange Zeit war es nahezu unmöglich einen konstruktiven Dialog mit der Psychoanalyse zu führen, da jegliche Kritik bereits als Widerstand gegen die Analyse selbst gedeutet wurde. Auch die Vertreter*innen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie bspw. Daniel Stern, John Bowlby oder Martin Dornes, kritisieren diese rigide Haltung und die damit einhergehenden Pathologisierungstendenzen der klassischen Psychoanalyse. Dementsprechend betonen moderne psychoanalytisch-pädagogische und psychoanalytisch-entwicklungstheoretische Konzepte das Entwicklungspotential von Emotionen und die Notwendigkeit einer Bildung der Gefühle als zentrale Aufgabe der Pädagogik.
2.6 Das problematische Verhältnis von Bildung und Emotion
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2.6 Das problematische Verhältnis von Bildung und Emotion Rückblickend lässt sich konstatieren, dass Emotionen zentrale Kategorien innerhalb bildungswissenschaftlicher und pädagogischer Überlegungen am Beginn der Entstehungsphase der Erziehungswissenschaft als eigenständige Disziplin waren. Im 18. und 19. Jahrhundert lässt sich das Gefühl selbst als pädagogischer Grundbegriff festschreiben, da jener als grundlegende Voraussetzung im Nachdenken über Erziehung, Bildung und Unterricht gilt – laut Herbart ein Kennzeichen „einheimischer Begriffe“. Dies zeigt sich nicht nur in den pädagogischen Beiträgen des Neuhumanismus oder der Romantik, sondern mehr noch in den oben skizzierten anthropologischen Grundverständnissen der Wegbereiter und Klassiker der Pädagogik. Auch wenn der pädagogische Diskurs um Bildung und Emotion innerhalb Europas keineswegs als homogen oder in sich geschlossen bezeichnet werden kann, kommt es am Beginn des 20. Jahrhunderts dennoch zu einer sukzessiven Bedeutungsverschiebung im erziehungswissenschaftlichen Denken im Hinblick auf die Akzentuierung und den Stellenwert der menschlichen Emotionalität. Systematisch aufgearbeitet hat dieses Phänomen Dorle Klika (2003, 2018), indem sie den Diskurs um Bildung und Emotion nicht nur im Kontext der Klassikerpflege analysierte, sondern über pädagogische Handbücher und Lexika des 20. Jahrhunderts eine Rekonstruktion dieser Bedeutungsverschiebung von Emotion und Gefühl im Kontext des europäischen Bildungsdenken herausarbeitete. In ihrer Analyse zeigt sich, dass sich zum Stichwort „Gefühl“ in unterschiedlichen enzyklopädischen Handbüchern und Lexika der Pädagogik um 1900 noch eine Bandbreite an philosophischen und psychologischen Theoriemodellen findet (vgl. Klika 2004, S. 29). In den darauf folgenden Jahren wird diese Gewichtung immer weniger und der Rekurs auf anthropologische und erziehungswissenschaftliche Bezüge nimmt dabei zugunsten des Verweises auf Nachbardisziplinen ab. Ab den 1930er Jahren verschwindet der Begriff des Gefühls langsam aus den pädagogischen Handbüchern, Lexika und Enzyklopädien und scheint in der sogenannten Rekonstruktionsphase der Erziehungswissenschaft gänzlich verloren gegangen zu sein: „Im ‚Handbuch Pädagogische Grundbegriffe‘ (1970) etwa, in dem von Werner Niklis herausgegebenen ‚Handwörterbuch der Schulpädagogik‘ (1973), im ‚Handlexikon zur Erziehungswissenschaft‘ (1976) oder in Kohlhammers ‚Handlexikon der Schulpädagogik‘ (1979) ist im Schlagwortverzeichnis kein Hinweis auf ‚Gefühl‘ oder ‚Emotion‘ zu finden.“ (Klika 2018, S. 77) Diese Entwicklung des systematischen und gezielten Ausblendens von Emotion und Gefühl setzt sich bis in die 1990er Jahre fort und
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kennzeichnet die Entwicklung des Diskurses um Bildung und Emotion in der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen (vgl. Klika 2018, S. 77 f.). Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind die Gründe für diese disziplinäre Abwehrhaltung vielfältig und die Argumentationsstrukturen gegen die pädagogische Bezugnahme auf Emotion und Gefühl variieren dementsprechend.
2.6.1 Der vernunftbegabte Mensch Der wohl zentrale Grund für die ablehnende Haltung gegenüber Emotion und Gefühl in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen und besonders in der Wissenschaft scheint die seit Beginn der westlichen Philosophie vorherrschende Betonung und unbestrittene Vormachtstellung der menschlichen Rationalität zu sein. Der auf Platon zurückgehende kategorische Dualismus von Leib und Seele, die klare Unterordnung des Leiblichen gegenüber dem Seelischen und seine Akzentuierung der Vernunft als höchste Instanz und einziger Weg zur Erkenntnis prägen das Bild des vernunftbegabten Menschen bis in die Gegenwart. Für die endgültige und unwiederbringliche Zweiheit von Körper und Geist sorgte allerdings Rene Descartes (1596–1650). Seinem weit über die Philosophie hinaus bekannten Postulat des „cogito ergo sum“ und der damit einhergehenden, radikalen Trennung von res cogitans und res extensa, einer denkenden Substanz und einem nichtdenkend seienden Körper, verdanken wir die kollektive Auffassung, dass das Denken und das Bewusstsein vom Denken die eigentlichen Substrate des Seins sind (vgl. Huber 2013, S. 89). In seinem Aufsatz „Les passions de l’ame“ („Die Leidenschaften der Seele“) trennt Descartes Emotionen, verstanden als grundlegende Leidenschaften, die den Gefühlen vorausgehen und als bewusste, rein körperliche Wahrnehmung in Erscheinung treten, strikt von jeglichen kognitiven Prozessen (vgl. Descartes’ 1984 [1649], S. 27 ff.). Descartes’ Trennung von Körper und Geist und der sich daran anschließende Dualismus von Verstand und Leidenschaft respektive Kognition und Emotion sowie sein Verständnis von Emotion (Leidenschaft) und Gefühl als rein somatische Prozesse beherrschten den Emotionsdiskurs als Leitidee disziplinübergreifend bis zum Beginn des Behaviorismus (vgl. Ulich und Mayring 1992, S. 18; Schönpflug 2000, S. 22 f.; Merten 2003, S. 23; Ursua 2009, S. 56 f.). Mit diesem anthropologischen Grundverständnis einhergehend wurde Bildung als rationales Geschehen aufgefasst: Der gebildete Mensch zeichnet sich in erster Linie durch den Gebrauch seiner Vernunft aus und weiß seine Emotionen zu beherrschen. Wie Wiltrud Gieseke (2016) treffend formuliert, diente Bildung in diesem Verständnis von Menschsein der Vernunft, „der Bändigung von Trieben, der Sublimierung und Kalmierung von
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Gefühlen. Bildung wirkte in diesen theoretischen Vorstellungen als intellektueller Entwicklungsprozess, der sich an Inhalten orientiert […] und garantierte geradezu die Nicht-Anwesenheit von Emotionalität, die – und darin liegt die folgenschwere Deutung von Emotionen – mit Irrationalität gleichgesetzt wurde“ (Gieseke 2016, S. 20). Diese Idee des vernünftigen Menschen und die Auffassung von Emotionalität als Irrationalität führten dazu, dass Emotionen als Indikatoren für Normalität in der pädagogischen Praxis herangezogen wurden. D. h. Emotionen wurden in Schule und Unterricht lediglich dann thematisiert, wenn sie auffällig wurden oder gänzlich ausblieben. Diese Auffassung war bis in die späten 1990er Jahre innerhalb der Bildungswissenschaft (als auch in der Emotionsforschung) weit verbreitet und findet sich nach wie vor in aktuellen bildungstheoretischen, pädagogisch anthropologischen und schulpädagogischen Überlegungen wieder; auch in Schule und Unterricht werden Emotionen noch bedenklich oft als Maßstaab für Normalität betrachtet. Es verwundert daher auch nicht, dass der lerntheoretische Diskurs innerhalb der Erziehungswissenschaft Emotionen und Gefühlen bis in die 1990er Jahre wenig Aufmerksamkeit schenkte (vgl. Göhlich und Zirfas 2007, S. 94 ff.), wohingegen die Vertreter*innen der psychologischen Lerntheorien nach der kognitiven Wende Emotionen wieder aufgriffen und stärker thematisierten. Ein Blick auf das Verhältnis von Psychologie und Pädagogik eröffnet dementsprechend eine weitere, gewinnbringende Perspektive auf die Hintergründe des problematischen Beziehungsgefüges von Bildung und Emotion.
2.6.2 Psychologie und Pädagogik Die Entwicklungen innerhalb der Psychologie sind ein weiterer Anhaltspunkt für die skeptische Haltung gegenüber Emotion und Gefühl im bildungswissenschaftlichen Denken. Als Bezugs- oder Nachbardisziplin nimmt die Psychologie im Kontext erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung einen besonderen Stellenwert ein, wobei das Verhältnis zwischen Pädagogik und Psychologie (seit jeher) als durchaus problematisch gilt (vgl. Lassahn 2000, S. 152). Die Etablierung der Psychologie als eigenständige akademische Disziplin ab Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt durch die Akzentuierung ihres experimentellen Vorgehens. Besonders Wilhelm Wundt (1832–1910), der neben William James (1842–1910), als Begründer der modernen Psychologie gilt, sowie Wundts Schüler Ernst Meumann (1862–1915) – Begründer der sogenannten Experimentellen Pädagogik – prägten das Bild einer experimentell ausgerichteten, psychologischen Wissenschaft (vgl. Fuchs und Milar 2003, S. 4). Bereits bei Wundt lässt sich ein Teilgebiet der Experimentellen Psychologie ausmachen, das darum bemüht war,
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Fragen nach Erziehung und Unterricht durch experimentelle Methoden zu beantworten – die sogenannte Pädagogische Psychologie. Allerdings war das damalige Verhältnis von Pädagogik und Pädagogischer Psychologie keineswegs dialogisch, sondern gekennzeichnet durch die unkritische Anwendung experimenteller Methoden auf pädagogische Problemfelder und Fragehorizonte (vgl. Herzog 1994, S. 432). Unvereinbar wurde die Beziehung zwischen Pädagogik und Psychologie, wie Walter Herzog (1994, 2005) herausgearbeitet hat, aber erst am Beginn des 20. Jahrhunderts: Während sich die Erziehungswissenschaft zwischen 1900 und 1930 immer stärker als geisteswissenschaftliche Disziplin verstand und entsprechend institutionell verortete (vgl. Herzog 2005, S. 169), begann sich die (Experimentelle) Psychologie inhaltlich und institutionell auszudifferenzieren: Es etablierten sich zu dieser Zeit die ersten Subdisziplinen (wie bspw. die Entwicklungspsychologie, die Differenzielle Psychologie oder die Sozialpsychologie) und gleichzeitig kam es zu grundlegenden, paradigmatischen Auseinandersetzungen zwischen den Vertreter*innen des Strukturalismus, Konstruktivismus, Behaviorismus, der Gestaltpsychologie und Psychoanalyse (vgl. Herzog 1994, S. 433 f.). Dementsprechend heterogen waren die Vorstellungen über Emotionen in der Beschreibung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Die Entstehungsphase der Psychologie vor 1900 gilt daher als „das goldene Zeitalter der psychologischen Emotionsforschung“ (vgl. Gendron und Barrett 2009, S. 319): Zwischen 1850 und 1900 etablierten sich die noch heute vorherrschenden, grundlegenden emotionspsychologischen Strömungen. Im Besonderen waren es die Arbeiten von Charles Darwin (1872), William James (1884), Carl Lang (1885) und Wilhelm Wundt (1896), die Emotionen als grundlegende und unverzichtbare Gegenstandsbereiche der Psychologie festschrieben (vgl. hierzu auch Schmidt-Atzert et al. 2014, S. 11–18 sowie die Übersicht von Gendron und Barret 2009, S. 320). Interessanterweise war das Verhältnis zwischen Psychologie und Pädagogik – wie auch das Verhältnis zwischen Bildung und Emotion – vor 1900 ein durchaus konstruktives und wertschätzendes. Bis in die 1930er Jahre blieben Emotionen zwar noch Gegenstand der Psychologie, wurden allerdings immer mehr zugunsten kausal-deterministischer und neuronal-physiologischer Erklärungsversuche der menschlichen Psyche in den Hintergrund gedrängt. Der Behaviorismus richtete dann die Aufmerksamkeit gänzlich weg von subjektiven Phänomenen des Erlebens hin zu beobachtbaren Reizen und Reaktionen. Wie Maria Gendron und Lisa Barret (2009) in ihrem historischen Abriss verdeutlichen, verdrängten die Vorstellungen von Pawlow, Thorndike, Watson und Skinner die Emotion für rund 40 Jahre aus der Psychologie und degradierten den Menschen im „finsteren
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Mittelalter der Emotionsforschung“ (Gendron und Barret 2009, S. 328) zum passiven Stimulus-Response-Modell. Die kognitive Wende in den 1960er und 1970er Jahren richtete die Aufmerksamkeit zwar nicht mehr auf Belohnung, Verstärkung und Wiederholung, sondern betonte eben kognitive Phänomene, wie Denken, Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmen und Urteilen, konnte aber gleichzeitig nicht mehr an die vielfältigen Positionen der Emotionsforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts anschließen (vgl. Huber 2013, S. 49): Emotionen wurden als kognitive Prozesse oder deren Resultat definiert und der Mensch wurde unter dem Banner des Funktionalismus als rationales Wesen und Informationsverarbeitungssystem zum Gegenstand psychologischer Forschung (vgl. LeDoux 2006, S. 31). Die, dieser Zeit entstammenden, kognitivistischen und teils kybernetischen Lerntheorien wurden in der Pädagogik, wie schon zuvor die behavioristischen Vorstellungen der Beherrschbarkeit der Erziehungspraxis, breit rezipiert (vgl. hierzu die drei Phasen der lernpsychologischen Theorieimporte, Becker 2006, S. 71–80). Trotz vielfältiger Kritik dauerte es bis zum Beginn der 1990er Jahre, bis die Erziehungswissenschaft letztendlich zu dem Schluss kam, die psychologisch-experimentellen Lerntheorien würden der Komplexität pädagogischer Situationen forschungsmethodisch und theorieimmanent nicht gerecht werden (vgl. Terhart 2000, S. 53). Im Hinblick auf die skeptische Haltung gegenüber Emotion und Gefühl in der Bildungswissenschaft lässt sich an dieser Stelle zusammenfassend festhalten, dass das jeweilig vorherrschende Menschenbild der Psychologie durchaus Einfluss auf die Vorstellung vom Menschsein in der Pädagogik nahm. Insbesondere waren es die behavioristischen und kognitionstheoretischen Modelle, die im Kontext von Erziehung und Unterricht stark rezipiert wurden und entsprechend in die bildungswissenschaftliche Forschung und Lehre mit einflossen. Des Weiteren kümmerten sich diese lernpsychologischen Theorien und Modelle nur wenig um die emotionalen Aspekte von Menschsein. Und schlussendlich erzeugte die Einsicht der Unbrauchbarkeit der lernpsychologischen Theorieimporte eine kollektive Abwehrhaltung gegenüber psychologischen Theoriebeständen und disziplinfremden Gegenstandsbereichen im Allgemeinen, zu denen Emotion in der Bildungswissenschaft und Pädagogik bis in die 1990er Jahre fälschlicherweise immer wieder gezählt wurden (vgl. Krappmann 2004, S. 77 ff.). Es verwundert daher auch nicht, dass die „Renaissance der psychologischen Emotionsforschung“ (Gendron und Barret 2009, S. 335) zwischen 1960 und 1990 von der bildungswissenschaftlichen Forschungslandschaft kaum noch wahrgenommen wurde, die zeitgleich damit beschäftigt war, sich von den lernpsychologischen Theorieimporten kritisch zu emanzipieren.
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2.6.3 Die Bestimmung des Emotionalen Ein weiterer Aspekt, der im Kontext der pädagogischen Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl eine zentrale Rolle einnimmt und als berechtigtes Motiv für die Abwehrhaltung gegenüber denselben immer wieder diskutiert wird, betrifft die durchaus problematische Bestimmung von Emotionen im Kontext bildungswissenschaftlicher Überlegungen. Dabei lassen sich wiederum drei Argumentationsstrukturen voneinander unterscheiden: (A) Zum einen scheint es ganz allgemein unmöglich zu sein, sich darüber zu verständigen, was Emotionen per Definition sind und wie man dem Phänomen der Emotion begrifflich gerecht wird. William James hat dieses Problem bereits 1884 in seinem viel zitierten Aufsatz „What is an emotion?“ thematisiert und dabei eine bis heute andauernde Debatte losgetreten (vgl. hierzu auch Scherer 2005, S. 696). Ungeachtet disziplinärer Verortungen findet sich zu Emotion eine unüberschaubare Vielzahl an Definitionsversuchen und Begriffsklärungen (vgl. hierzu die Übersichtsarbeiten von Kleinginna und Kleinginna 1981 sowie Parkinson 1995), sodass selbst die führenden Vertreter*innen der Emotionsforschung eingestehen müssen, lediglich darin übereinzustimmen, keinen Konsens bezüglich einer einheitlichen Fassung des Emotionsbegriffs zu finden (vgl. bspw. Frijda et al. 2005; Barrett 2006; Izard 2010; Mulligan und Scherer 2012). (B) Zum anderen wird die Beschaffenheit und Komplexität von Emotionen immer wieder als problematisch charakterisiert. Emotionen sind in ihrer Erscheinung und Gestalt vielfältig und komplex; in ihrem Auftreten sind sie oft unvorhersehbar und spontan; sie können überwältigend sein und somit unbeherrschbar werden; ihre Wahrnehmung ist dennoch unumgänglich, weil sie stetig präsent sind; in ihrer Präsenz verändern sie sich fortlaufend und fließen ineinander über; sie sind per se subjektiv und dementsprechend interindividuell unterschiedlich; subjektiv haben sie auch immer Berechtigung und Relevanz; im Ausdruck scheinen sie oft ähnlich und sind doch gänzlich verschieden; sie stehen zwar immer in Beziehung zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und doch ändern sich ihre Abhängigkeitsverhältnisse stetig. Diese Komplexität emotionalen Erlebens, ihre Wahrnehmung und ihr Ausdruck stellen sowohl in theoretischer Hinsicht als auch im Kontext praxisleitender Überlegungen für Bildung, Erziehung und Unterricht ein zentrales Problem dar (vgl. Buddrus 1992b, S. 83). Gleichzeitig – und darin ist man sich mittlerweile einig – verdeutlicht diese „Komplexität der Emotionalität“ die Notwendigkeit einer stärkeren Fokussierung auf Emotion
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und Gefühl innerhalb der Bildungswissenschaft und mehr noch, einer stärkeren Akzentuierung dieser Phänomene in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte (vgl. bspw. Datler 2003; Behrens 2004; Holzapfel 2008; Stenger 2012; Reicher und Matischek-Jauk 2018; Porsch 2018). (C) Ein dritter Aspekt, der immer wieder gegen die pädagogische Bezugnahme auf und Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl vorgebracht wird, betrifft ein zentrales Charakteristikum von Emotionen: ihre Subjektivität respektive ihre Verortung im persönlichen Raum des Individuums. Emotionen und Gefühle sind in diesem Verständnis privat und persönlich und damit intim und vertraulich. Das Gefühl zum Gegenstand pädagogischer Bezugnahme zu machen, wäre demnach ein unerlaubter Eingriff in die innere und verletzliche Welt des Menschen. Marian Heitger (1994) bspw. verweist auf die Gefahr des Missbrauchs von Gefühlen in pädagogischen Kontexten und hält am Ende seiner kritischen Ausführungen zur „Schule der Gefühle“ resümierend fest: „Wer Gefühle als Mittel für Zwecke einsetzt, missbraucht jene und leugnet die ‚Würde‘ des Menschen.“ (Heitger 1994, S. 31) Die Kritik an dem Konnex von Bildung und Emotion bezieht sich zum einen auf die vermeintliche „Ökonomisierung der Gefühle“ (Körber 2008, S. 67), verstanden als eine Nutzbarmachung der letzten Freiheit des zu erziehenden Menschen. Zum anderen wird betont, dass eine Bildung der Gefühle wie auch eine Bildung durch Gefühle immer Gefahr läuft manipulativ zu sein. Reformpädagogische Ansätze und die Erziehung im Nationalsozialismus werden dabei als Beispiele ins Feld geführt. Die Gefühlserziehung und die Bildung durch Gefühle laufe demnach immer Gefahr, zu einer manipulativen Strategie der Unterwerfung und Fremdbestimmung zu werden (vgl. Müller 2004, S. 105). Und gerade diesen (letzten) persönlichen und intimen Raum des Menschen müsse man vor Manipulationen schützen. Viele der Kritiker*innen sind sich allerdings der paradoxen Struktur ihrer eigenen Argumentation bewusst: Erziehung ist immer einer Erziehung der Gefühle und Bildung immer auch eine Bildung und Kultivierung der Emotionen. Zudem verdeutlichen die pädagogischen Antinomien, insbesondere die Unauflösbarkeit von Freiheit und Zwang, Nähe und Distanz sowie Ideal und Brauchbarkeit (vgl. hierzu Helsper 1998), dass sich Pädagogik in ihrem Vermittlungsauftrag immer als Balanceakt verstehen bzw. eine „differenzierte Stellung“ (Heitger 1994, S. 31) einnehmen muss; dies betrifft die pädagogische Liebe, den pädagogischen Takt, die Bildung des Gemüts, die Vermittlung von Moral, das eigene Wünschen und Wollen, die Überwindung sozialer und kultureller Differenzen, die Gestaltung des eigenen Lebens etc. Wer also im Hin-
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blick auf den Konnex von Bildung und Emotion von Ökonomisierung, Manipulation, Indoktrination oder aber von einem Eingriff in den persönlichen Raum des Individuums und der Bedrohung der Würde des Menschen spricht, geht davon aus, dass Denken und Fühlen bzw. Kognition und Emotion zwei gänzlich unabhängige Phänomene sind und es möglich wäre, sich dem einen anzunehmen, ohne das andere berücksichtigen zu müssen.
2.7 Emotionen in der Bildungsforschung heute – Ein Überblick Die Bedeutung von Emotionen im Kontext bildungstheoretischer und pädagogischer Überlegungen erfährt am Übergang ins 21. Jahrhundert abermals eine gänzlich neue Akzentuierung. Der sogenannte emotional turn bzw. affective turn – die emotionale Wende in den Geistes-, Sozial-, Kultur- und Humanwissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts (vgl. Clough und Halley 2007; Clough 2008; Gasser 2008; Bachmann-Medic 2009; Huber 2013; Gilmore und Anderson 2014; Lemmings und Brooks 2014; Huber und Krause 2018) – führte in vielen Wissenschaftsbereichen zu dem Versuch eines integrativen Verständnisses von Vernunft und Leidenschaft, Kognition und Emotion bzw. zur erneuten Annäherung von Denken und Fühlen als gleichberechtigte Substrate des Seins. Initiiert wurde dieser globale Umdenkprozess paradoxerweise durch streng naturwissenschaftlich orientierte und evidenzbasierte Forschungsbemühungen in Biologie und Medizin in den 1990er Jahren sowie durch die, sich daran anschließende, performative und medial inszenierte Zurschaustellung ihrer Ergebnisse. Im Besondern waren es die Neuro- und Kognitionswissenschaften, die aufgrund der methodischen Weiterentwicklung ihrer bildgebenden Verfahren plötzlich beanspruchten, dass bisherige Hypothesen und Annahmen über menschliches Wahrnehmen, Erleben und Verhalten nun endlich empirische Gewissheit erfahren würden (vgl. Huber 2013, S. 24 f.). Die Idee die letzte wissenschaftliche Grenze zu überwinden, nämlich die biologische Basis des Bewusstseins und all seiner geistigen Vorgänge zu verstehen (vgl. hierzu Kandel et al.1996, S. 6), erfreute sich nicht nur großer Beliebtheit und Verbreitung weit über die Grenzen der Biowissenschaften hinaus (vgl. bspw. Pauen und Roth 2001, S. 8), sondern rückte gleichzeitig die Emotionen als Voraussetzung des Bewusstseins und seiner mentalen Organisation wieder ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Das Jahrzehnt des menschlichen Gehirns bzw. die Dekade der Neurowissenschaften und die damit einhergehende Fokussierung auf „Körper, Gehirn und Technik“ in den 1990er Jahren führte also dazu, dass sich in den Wissenschaften
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(erneut) ein disziplinübergreifendes Interesse an Emotionen und emotionalen Phänomenen entwickeln konnte. Als historischer Bezugspunkt respektive Startschuss für den emotional turn wird dabei immer wieder der, im Jahre 1995 erschienene und in 40 Sprachen übersetzte, populärwissenschaftliche Bestseller „Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ“ von Daniel Goleman angeführt. Goleman (1995) greift darin das von Peter Salovey und John D. Mayer (1990) entwickelte Theoriemodell der emotionalen Intelligenz auf und führt es in ein praxisnahes Konzept über, von dessen Verständnis und Anwendung, so das Versprechen des Autors, die Leserschaft sowohl in privaten Beziehungen als auch im beruflichen Alltag enorm profitieren werde. Im Besonderen war es das Versprechen der Wirkmächtigkeit und der Vermittelbarkeit emotionaler Kompetenzen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen, wie bspw. Politik, Wirtschaft oder eben Bildung, das dem Konzept der emotional intelligence in kürzester Zeit weltweiten Ruhm einbrachte. Auch in der Bildungswissenschaft wird Goleman immer wieder als Bezugspunkt für die Wiederentdeckung des Emotionalen am Übergang ins 21. Jahrhundert genannt (vgl. hierzu bspw. Dörr und Göppel 2003b, S. 7; Klika und Schubert 2004, S. 9; Sieke 2007, S. 18 etc.). Emotionen – und das vermeintlich neue, evidenzbasierte Wissen um Emotionen – waren plötzlich sinnvoll und die Auseinandersetzung mit ihnen notwendig, weil sie beruflichen und privaten Erfolg versprachen und gleichzeitig psychisches und physisches Wohlbefinden sicherstellen würden. Die generelle Akzentuierung emotionaler Fähigkeiten und Kompetenzen, gegenüber der bisherigen, kognitivistischen Bewertung des intellektuellen Leistungsvermögens, ermöglichte in weiterer Folge den Siegeszug der modernen Emotionstheorien und den bis heute andauernden Diskurs um die zentrale Bedeutung von Emotion als Voraussetzung von Bewusstsein und Selbst. Die damit einhergehende Idee einer holistisch anthropologischen Perspektive auf Menschsein und der Versuch der Versöhnung der widerstreitenden Perspektiven auf Rationalität und Emotionalität prägten sowohl die erziehungswissenschaftliche Forschungslandschaft als auch die pädagogische Praxis der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre. Um den aktuellen Stand der Forschung zum Konnex von Bildung und Emotion innerhalb der Bildungswissenschaft grob zu skizzieren, soll im Folgenden exemplarisch zwischen lerntheoretischen und bildungstheoretischen Perspektiven unterschieden werden, auch wenn, wie sich nachfolgend noch zeigen wird, diese funktionale Differenzierung keineswegs trennscharf ist. Gleichzeitig muss an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die nachfolgende Bestandsaufnahme weder den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, noch als systematische Literaturanalyse zu verstehen ist. Vielmehr geht es darum anhand eines ersten, bislang in der Literatur noch ausstehenden,
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Überblicks zum Verhältnis von Bildungswissenschaft und Emotion nach dem emotional turn bzw. im 21. Jahrhundert aktuelle Forschungsinteressen, mögliche Forschungslücken und den Prozess der Bedeutungsverschiebung von Emotion und Gefühl innerhalb der eigenen Disziplin herauszuarbeiten.
2.7.1 Bildungstheoretische Perspektiven Volker Kraft (2010) kommt in seiner kritischen Analyse zum Nutzen neurobiologischer Provokationen für bildungswissenschaftliche Überlegungen ebenso zu dem Schluss, dass, bei aller Skepsis gegenüber den Heilsversprechungen der modernen Hirnforschung, die Neurowissenschaften zumindest einen zentralen Beitrag für die pädagogische Theoriebildung geleistet haben: und zwar das Sichtbarmachen von Affekt und Emotion als blinde Flecken im disziplinären Selbstverständnis der Pädagogik (vgl. Kraft 2010, S. 54). Kraft kritisiert im Besonderen, dass in aktuellen, genuin pädagogischen Theorien die emotionalen Dimensionen von Erziehung, Bildung und Unterricht weder systematisch behandelt, noch als der eigenen Disziplin zugehörige Begrifflichkeiten bzw. einheimische Begriffe diskutiert werden. Vielmehr habe es den Anschein, „als würde sich die pädagogische Theorieproduktion einem sonderbaren, selbst auferlegten Verbot unterwerfen, Affekt und Emotion zum Thema zu machen“ (Kraft 2010, S. 64). Dies ist deshalb problematisch, da auch für Kraft Bildungsprozesse in erster Line „leiblich-affektiv fundierte und sozial-emotional kontextualisierte Phänomene“ (Kraft 2010, S. 62) darstellen und dementsprechend Emotionen aus normativer Perspektive im Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit von Bildung theoretisch bereits angemessen berücksichtigt sein sollten. Er bezieht sich in seiner Kritik besonders auf bildungstheoretische Grundlagenwerke und Beiträge aus der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, die den Anspruch erheben, dem Leser eine Einführung in die Grundlagen der eigenen Disziplin bereitzustellen. Besonders hebt er Dietrich Benners (2001) „Allgemeine Pädagogik“, Jürgen Oelkers‘ (2001) „Einführung in die Theorie der Erziehung“, Wolfgang Sünkels (1996) „Phänomenologie des Unterrichts“ und die „Operative Pädagogik“ von Klaus Prange (2005) hervor (vgl. Kraft 2010, S. 64). Hier ließen sich noch weitere Beispiele ins Feld führen, wie Christoph Kollers (2012) Idee der „Transformatorischen Bildungsprozesse“ oder Alfred Schäfers (2012) „Einführung in die Erziehungsphilosophie“. Kraft attestiert der Bildungstheorie dabei unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit Emotionen. Neben der „Vermeidung der Auseinandersetzung“ mit Emotion durch die spezifischen Gegenstandskonstitutionen sowie die methodisch motivierte „Affektbereinigung“ muss
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besonders „die Diffusion durch Abstraktion“ hervorgehoben werden: Emotion und Gefühl, als konstitutiver Bestandteil jedes pädagogischen Bezugs, haben, so Volker Kraft, „durch philosophische Abstraktion einen Verdünnungsgrad erreicht, der die Sache selbst kaum noch erkennen lässt“ (Kraft 2010, S. 64). Ines Maria Breinbauer (2018) stellt sich ebenso etwas selbstironisch die Frage, ob denn die Bildungsphilosophie und –theorie den emotional turn verschlafen habe bzw. warum sich gerade die Bildungsphilosophie in der aktuellen Diskussion um Emotion sehr zurückhaltend zeigt, während die Publikationslandschaft zur Bedeutung von Emotionen für Bildungsprozesse, die keineswegs als genuin pädagogisch bezeichnet werden kann, in den letzten Jahren immer stärker anwächst (vgl. Breinbauer 2018, S. 44 f.). Dabei macht sie deutlich, dass es zwar zutrifft, dass die Bildungstheorie, die sich schon rein begrifflich recht schwer mit der Wiederentdeckung des Gefühls tut, Emotion und Gefühl weder systematisch aufarbeitet, noch als Voraussetzung pädagogischer Bezugnahmen diskutiert. Gleichzeitig weist sie allerdings darauf hin, dass „eine generalisierende Analyse ‚der Emotionen‘ aus bildungsphilosophischer Sicht wegen der Vielschichtigkeit der Gefühle gar nicht angezeigt“ sei (Breinbauer 2018, S. 43). Dementsprechend verweist sie auf lohnenswerte Beiträge, die sich einem bestimmten Aspekt der Bildung der Gefühle widmen, wie bspw. Käte Meyer-Drawes (2004) Beitrag zum Wert von „Ekel“, Sabine Seichters (2007) Analyse zu den Deutungsmustern der „Pädagogischen Liebe“ oder aber Alfred Schäfers und Christiane Thompsons (2009) Sammelwerk zur „Scham“ (vgl. Breinbauer 2018, S. 43). Mit Blick auf aktuelle Publikationen innerhalb der Bildungswissenschaft lassen sich gegenüber den Ausführungen von Kraft (2010) und Breinbauer (2018) sehr wohl spezifische Themenfelder im Bildungsdiskurs identifizieren, die in den letzten Jahren den Stellenwert von Emotion und Gefühl für Bildungsprozesse explizit thematisieren: (1) So finden sich Beiträge zum Thema der Ästhetischen Bildung, in denen das Gefühl (und die Empfindung) als Voraussetzung von Bildungsprozessen konstatiert wird (vgl. hierzu bspw. Müller 2004; Rittelmeyer 2005; Prange 2008; Dietrich et al. 2012). Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Denise Friedauer (2015, 2018), die Schillers Theorie der ästhetischen Bildung neu akzentuiert und dabei verdeutlicht, dass für Schiller Gefühle nicht nur Voraussetzung von Bildung sind, sondern das Gefühl der Heautonomie selbst als das höchste Bildungsziel des Menschen verstanden werden muss. (2) Des Weiteren wird der Zusammenhang von Emotion und Moral(erziehung) bzw. die Bedeutung von Emotionen im Hinblick auf die Möglichkeit der Vermittlung von Normen, Werten und Konventionen aus
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bildungswissenschaftlicher Perspektive immer wieder thematisiert (vgl. hierzu bspw. Keller 2007; Oser 2008; Pichl 2012; von Scheve 2011, 2013; Reichenbach 2018; Huber 2019a). In diesem Themenfeld sind die Arbeiten von Roland Reichenbach und Bruce Maxwell (2007) besonders hervorzuheben. In Anlehnung an die Klassiker der Pädagogik lautet ihre zentrale These, dass Erziehung immer Moralerziehung und Moralerziehung immer eine Erziehung der Gefühle sei (vgl. Reichenbach und Maxwell 2007, S. 11) und somit jedwede pädagogische Bezugnahme immer auch auf die Bildung der Gefühle abziele, was insofern von zentraler Bedeutung ist, als dass sich Moralität intentional nicht vermitteln lässt. (3) Eine weitere gewinnbringende Perspektive auf Emotion im Kontext bildungstheoretischer Einsätze findet sich in den historisch-systematischen Analysen zum Verhältnis von Bildung und Emotion (vgl. hierzu bspw. Gestrich 2012; Caruso und Frevert 2012; Frevert und Hoffmann 2012; Brauer und Lücke 2013b; Jarzebowski 2018). Wie schon weiter oben mehrmals angemerkt, sind dabei besonders die Arbeiten von Dorle Klika (2004, 2018) im Anschluss an Volker Buddrus (1992) hervorzuheben, da sie darin klar herausarbeitet, dass der pädagogische Umgang mit und die erziehungswissenschaftliche Diskussion über Emotion und Gefühl als Spiegelbild des bildungswissenschaftlichen Selbstverständnisses gedeutet werden kann. (4) Einen entscheidenden Beitrag zum Konnex von Bildung und Emotion aus bildungstheoretischer Perspektive leisteten in den vergangenen Jahren die Beiträge aus der Pädagogischen Anthropologie (vgl. hierzu bspw. Holzapfel 2002; Engelen 2007; Fellmann 2009; Zirfas 2011; Böhner und Zirfas 2012; Wimmer 2018; Magyar-Haas 2018; Hirschenhauser 2018) sowie (meines Erachtens zugehörig und daher hier subsumiert) die Arbeiten im Kontext der (erziehungswissenschaftlichen) Philosophie des Geistes (vgl. hierzu bspw. Kunert 2004; Hastedt 2009). Insbesondere sollen an dieser Stelle die Publikationen und das Engagement von Christoph Wulf hervorgehoben werden. So widmet er den Emotionen im „Handbuch Pädagogische Anthropologie“ (vgl. Wulf und Zirfas 2014b) ein eigenes Kapitel und macht dabei deutlich, wie unumgänglich die Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl aus anthropologischer Perspektive ist: „Emotionen sind konstitutiv für die Menschen aller Kulturen und aller Zeiten.“ (Wulf 2014, S. 113) In einem solchen Verständnis von Menschsein wird die Auseinandersetzung mit dem Konnex von Bildung und Emotion zur Voraussetzung jedweder bildungswissenschaftlicher Überlegung: Geht man nämlich von der Angewiesenheit des Menschen auf Bildung aus und berücksichtigt dabei die Angewiesenheit des Menschen auf Emotionen gleichermaßen wie die Ange-
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wiesenheit von Bildungsprozessen auf Emotionen, muss die Emotionsforschung ein zentraler Bestandteil der Pädagogischen Anthropologie und somit auch der Bildungswissenschaft sein (vgl. Wulf 2018, S. 128). Wulf kritisiert ebenso das systematische Ausblenden von Emotion und Gefühl im Kontext bildungswissenschaftlicher Forschungsbemühungen (vgl. Wulf 2014, S. 116 sowie Wulf und Prenzel 2011, S. 205), verweist auf emotionstheoretische Forschungslücken innerhalb der Pädagogischen Anthropologie (vgl. Wulf 2014, S. 120–122) und plädiert ebenso, wie viele andere Bildungswissenschaftler*innen, für einen stärkeren Praxisbezug bzw. „eine stärkere Berücksichtigung der Emotionen und ihrer Bildung in den Institutionen der Erziehung und Bildung [selbst]“ (Wulf 2018, S. 128).
2.7.2 Aktuelle inter- und subdisziplinäre Diskurse über Emotionen in der Bildungswissenschaft Wie bereits oben angedeutet ist die hier getroffene Unterscheidung zwischen und Gegenüberstellung von bildungs- und lerntheoretischen Perspektiven keineswegs trennscharf oder eindeutig. Vielmehr soll sie dabei helfen den aktuellen Stand der Forschung im Kontext von Bildung und Emotion nach dem emotional turn beispielhaft und auszugsweise zu skizzieren. Neben jenen Beiträgen, die (1) eher Erziehungs- und Bildungsprozesse im weitesten Sinne thematisieren sowie die damit eng verbundenen Vorstellungen von Menschsein in den Blick nehmen und jenen Beiträgen, die (2) eher auf die Analyse von Lehr-Lern-Prozessen, den darin beteiligten Protagonist*innen sowie auf die bestmögliche Gestaltung von Schule und Unterricht abzielen, lässt sich eine weitere Perspektive differenzieren, die Emotionen eher (3) in spezifischen Teilbereichen oder Gegenstandsfeldern der Bildungswissenschaft untersucht und dabei inter- und transdisziplinäre Einsätze betont. Um dieser dritten Perspektive gerecht zu werden, sollen im Folgenden jene Themenfelder angeführt und anhand eines Beispiels vorgestellt werden, die in den vergangenen Jahren den Konnex von Bildung und Emotion aus unterschiedlichen, subdisziplinären Perspektiven aufgegriffen haben und sich somit in einem thematischen Zwischenraum verorten: (1) In der Sonder- und Heilpädagogik bzw. im Kontext Inklusiver Bildung werden Emotionen im Besonderen dann thematisiert, wenn es um die gesellschaftliche Wahrnehmung und Stigmatisierung von Behinderung geht. Gertraud Kremsner und Michelle Proyer (2018) verdeutlichen beispiels-
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weise, dass die Konstruktion von Behinderung in erster Line auf emotionaler Ebene anzusiedeln ist und dass die Mechanismen des gesellschaftlichen Ausschlusses auf emotionale Bewertungen und Zuschreibungen zurückzuführen sind und dementsprechend pädagogisch in den Blick genommen werden müssen (vgl. Kremsner und Proyer 2018, S. 443 f.). (2) In der Medienpädagogik werden Emotionen in den letzten Jahren ebenso vermehrt diskutiert. Zum einen steht dabei die Frage nach dem Erwerb und der Vermittlung emotionaler und sozialer Kompetenzen in virtuellen Räumen im Mittelpunkt. Zum anderen greifen die Konzepte des Serious Gaming und der Gamification emotionstheoretische Überlegungen auf, um durch die Implementierung positiver emotionaler Qualitäten (wie bspw. Neugier oder Freude) subjektive Lernstrategien zu verbessern. Benjamin Jörissen (2012) geht beispielsweise davon aus, dass durch die Nutzung von Avatartechnologien emotionale Lernprozesse (und transformatorische Bildungsprozesse) angestoßen werden und virtuelle Welten somit auch einen entscheidenden und oft wenig diskutierten Beitrag zur Bildung der Gefühle leisten (vgl. Jörissen 2012, S. 147 ff.). (3) In der Sozialpädagogik wird den Emotionen in erster Linie im Kontext der praktischen Tätigkeit von Pädagog*innen Rechnung getragen. Dabei geht es zum einen um Emotionen als Gegenstand des beruflichen Handelns in der Sozialen Arbeit und zum anderen um die emotionalen Dimensionen im Spannungsfeld von Individuum, Institution und Gesellschaft. Hannelore Reicher (2018) thematisiert beispielsweise die enormen emotionalen Anforderungen und Belastungen, mit denen sich Sozialpädagog*innen tagtäglich konfrontiert sehen und plädiert im Hinblick auf deren emotionales Erleben für eine stärkere Implementierung präventiver Strategien und Maßnahmen sowie für eine generelle Restrukturierung der Arbeitsverhältnisse im sozialpädagogischen Praxisfeld (vgl. Reicher 2018, S. 163 f.). (4) Die Psychoanalytische Pädagogik widmet sich den Emotionen, wie bereits im Abschn. 2.5 ausgeführt, in mehrfacher Hinsicht. Neben dem stetigen Bestreben die subjektive Lebenswirklichkeit und das innerpsychische Erleben von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf deren Entwicklungspotential zu verstehen, richtet sie ihre Aufmerksamkeit im Besonderen auf die Analyse und Optimierung pädagogischer Interaktionen im Kontext institutioneller Bildung. Margit Datler (2012) verdeutlicht beispielsweise, wie durch die Zuhilfenahme psychoanalytischer Modelle und Theorien problematische Situationen in Schule und Unterricht nicht nur besser verstanden werden können, sondern die Professionalität der pädagogisch Handelnden selbst gesteigert werden kann. Sie plädiert dementsprechend im
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Hinblick auf „die Macht der Emotionen im Unterricht“ für die Forcierung der psychoanalytischen Aus- und Weiterbildung von Lehrer*innen (vgl. Datler 2012, S. 210 ff.). (5) In der Theater- und Musikpädagogik werden Emotionen in unterschiedlichen Konzepten im Kontext der Notwendigkeit ihres performativen Ausdrucks thematisiert. Dabei geht es vorrangig um differenzierte Möglichkeiten der Emotionsregulation durch die bewusste Inszenierung und Imagination emotionalen Erlebens im Unterricht. Egon und Martina Turecek (2017) verdeutlichen beispielsweise, dass durch das bewusste Arrangieren körperbezogener Übungen im Unterricht im Besonderen ein theatrales Lernen der Gefühlswelt bzw. der eigenen emotionalen Befindlichkeit der Lernenden stattfindet. Gleichzeitig wird dadurch das Training der Sprachund Kommunikationskompetenzen von Schüler*innen positiv emotional konnotiert. Daher plädieren sie auch für den vermehrten Einsatz theaterpädagogischer Ansätze in Schule und Unterricht (vgl. Turecek und Turecek 2017, S. 157 f.). (6) In der Berufs- und Erwachsenenbildung scheinen Emotionen einen besonderen Stellenwert einzunehmen: Zum einen wird die Bedeutung von Emotionen für das lebenslange (bzw. lebensbegleitende) Lernen aus theoretischer Perspektive breit diskutiert und zum anderen findet sich eine Reihe an Studien, die sich mit den emotionalen Aspekten des Lernens in der Berufs- und Bildungspraxis Erwachsener auseinandersetzen. Rolf Arnold und Anita Pachner (2013) machen beispielsweise deutlich, dass emotionale Kompetenzen eine Voraussetzung für die Entwicklung weiterer Kompetenzfacetten in der Erwachsenenbildung darstellen und dass eine emotional aufgeklärte Erwachsenenbildung sowie ein emotionsberücksichtigendes, professionelles, pädagogisches Handeln nur im Kontext der Reflexion der emotionalen Dimensionen des lebenslangen Lernens realisierbar sind (vgl. Arnold und Pachner 2013, S. 27). (7) In der Hör- und Sprachpädagogik (sowie in der Logopädie) wurde der Bedeutung von Emotionen in den vergangenen Jahren ebenso vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, als dies noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war. Zum einen wird der Stellenwert von Emotionen im Kontext der frühkindlichen Sprachentwicklung und der Interaktion mit den primären Bezugspersonen in den ersten drei Lebensjahren als unumgänglich thematisiert und zum anderen greifen immer mehr aktuelle Konzepte der Sprachförderung die Bedeutung des emotionalen Lernens und der emotionalen Involviertheit unter besonderer Berücksichtigung der Inter-
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subjektivität auf. Ulrike Lüdtke (2006) geht beispielsweise wie viele ihrer Kolleg*innen davon aus, dass Emotionen eine notwendige Voraussetzung für die „Sprachentwicklung als Bedeutungsentwicklung“ darstellen, da Bedeutungszuschreibungen nur auf emotionaler Ebene stattfinden können (vgl. Lüdtke 2006, S. 23). Zudem ist die angeborene Suche nach Bedeutung eine dem N eugier- und Spielverhalten geschuldete Fähigkeit unterschiedlicher emotionaler Teilsysteme. (8) Abschließend sei noch die sogenannte Ethnopädagogik angeführt. Auch wenn hier die Grenzen zur Pädagogischen Anthropologie fließend sind und sich dieser Bereich eher der Kultur- und Sozialanthropologie zuordnen lässt, soll dieser kulturvergleichende Blick dennoch als eigene Perspektive im Kontext von Bildung und Emotion thematisiert werden. Grund hierfür ist der durchaus gewinnbringende Versuch eines qualitativ-orientierten Vergleichs kultureller Differenzen im pädagogischen Umgang mit Emotionen. Leberecht Funk et al. (2012) verdeutlichen beispielsweise, durch eine Gegenüberstellung der höchst emotionalen Sanktionierungsstrategien in den Erziehungspraktiken der Bara in Madagaskar und der Tao in Lanyu, wie eng Kultur und Emotionsentwicklung respektive der Emotionsausdruck zusammenhängen. Sie plädieren ebenso für eine holistische anthropologische Perspektive, um ein tieferes Verständnis kulturspezifischer Emotionsrepertoires und emotionaler Kompetenzmodelle zu gewährleisten (vgl. Funk et al. 2012, S. 235). Rückblickend sei an dieser Stelle nochmals auf den oben skizzierten, paradox anmutenden Auslöser der emotionalen Wende in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hingewiesen. Denn innerhalb der soeben beispielhaft angeführten, subdisziplinären Einsätze der bildungswissenschaftlichen Emotionsforschung der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre lässt sich die Nähe zu und der Stellenwert von naturwissenschaftlich orientierten Forschungsbemühungen kaum leugnen. Die meisten Vertreter*innen der Sonder-, Sprach-, Sozial- und Medienpädagogik sowie auch die Kolleg*innen der Erwachsenenbildung und Psychoanalytischen Pädagogik rekurrieren in ihren Beiträgen zur Bedeutung von Emotionen immer wieder auf neuro- und kognitionswissenschaftliche Forschungsarbeiten und beziehen sich explizit auf naturwissenschaftliche Studien. Insgesamt ist die subdisziplinäre Forschungslandschaft zum Konnex von Bildung und Emotion weitaus interdisziplinärer orientiert und somit auch theoretisch und praktisch anschlussfähiger, als die genuin bildungs- und erziehungstheoretischen Perspektiven. Dies zeigt sich auch in der Nähe zu und Kooperation mit unterschiedlichen Nachbardisziplinen, wie bspw. der Medizin, der Psychologie, der Soziologie oder eben der Kultur- und Sozialanthropologie.
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2.7.3 Lerntheoretische Perspektiven Den wohl größten Beitrag zur Bedeutung von Emotionen in der Bildungswissenschaft leisten die lerntheoretischen Arbeiten und Studien, die sich mit dem Einfluss von Emotionen auf Lernprozesse und den Wissenserwerb im Allgemeinen sowie mit der Bedeutung von Emotionen im Kontext der pädagogischen Vermittlung, der Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion und der institutionalisierten Bildung im Speziellen beschäftigen. Aus historischer Perspektive waren es auch die lerntheoretischen Einsätze, die sich nach der kognitiven Wende als erste in der Bildungswissenschaft wieder explizit der Emotionen annahmen. Ähnlich der subdisziplinären Beiträge sind die lerntheoretischen Perspektiven epistemologisch durchaus heterogen und stark interdisziplinär orientiert. Dies liegt einerseits an der, dem Gegenstand geschuldeten, Nähe zur Pädagogischen Psychologie und Bildungspsychologie sowie an der zuvor skizzierten pädagogischen Rezeption psychologischer Lerntheorien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Andererseits waren Lernen, Wissenserwerb und Gedächtnisleistung bereits vor dem emotional turn zentrale Gegenstandsbereiche ganz unterschiedlicher Disziplinen, wie bspw. der Neurobiologie oder der Verhaltensforschung. Dementsprechend rekurrieren die lerntheoretischen Perspektiven auch auf unterschiedliche Lernbegriffe und Emotionsmodelle. An dieser Stelle ist nicht der geeignete Ort, um auf die generelle Problematik des Lernbegriffs im Detail einzugehen oder aber die Frage seiner disziplinären Passung zu diskutieren. Dennoch soll hier festgehalten werden, dass Lernen als lebenslanger und lebensnotwendiger Prozess, der es Menschen ermöglicht, ihr Wissen und Können, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen sowie ihr Verhalten und ihre Einstellungen zu erweitern, zu verfeinern und zu modifizieren (vgl. Huber 2017a, S. 455 f.), als pädagogischer Grundbegriff gefasst werden muss: Der Mensch ist sowohl ein fühlendes als auch ein lernendes Wesen. Gleichzeitig ist er, ganz im Sinne der Idee von Bildsamkeit, nicht nur lernfähig, sondern auch lernbedürftig. D. h. Lernen für sich ist ebenso wie Emotion Teil der conditio humana. Und ähnlich wie der Mensch nicht nicht fühlen kann, lernt er auch unaufhörlich bzw. lebenslang. Somit ist es naheliegend davon auszugehen, dass sich Lernen (und Lehren) nicht unabhängig von Emotionen vollziehen, sondern immer schon in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen. All jene Perspektiven, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen und dieses Verhältnis von Lernen und Emotion zur Disposition stellen oder aber die Wirkung von Emotionen auf Lernund/oder Lehrprozesse untersuchen, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
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Die Auswahl der Referenzen und die Gruppierung der Themenfelder spiegeln den aktuellen Stand der Forschung wider, auch wenn es sich bei den referierten Autor*innen wiederum lediglich um eine exemplarische Auswahl handelt, die keinesfalls Vollständigkeit beansprucht: (1) Emotionen und Lernleistung Eine zentrale Frage im Kontext lerntheoretischer Überlegungen betrifft den Zusammenhang von Emotion und Lernleistung. So wurden Emotionen in der Lernforschung über lange Zeit lediglich im Hinblick auf ihre Valenz – als positive und negative Emotionen – unterschieden und wissenschaftlich bearbeitet, ohne aber ihr Aktivierungspotential für den Lernprozess selbst in den Blick zu nehmen. Besonders Angst bzw. Prüfungsangst wurde dabei über viele Jahre im Kontext von Schule und Unterricht in diesem eindimensionalen Emotionsverständnis als die zentrale, emotionale Qualität thematisiert und gilt nach wie vor als die wohl am gründlichsten untersuchte Emotion im Kontext lerntheoretischer Perspektiven (vgl. Zeidner 2007, 2014 sowie Schutz und Pekrun 2007). Reinhard Pekrun (2006, 2018) nimmt diese einseitige Fokussierung auf die emotionale Valenz zum Ausgangspunkt seiner emotionstheoretischen Überlegungen und verdeutlicht in seiner „Kontroll-Werte-Theorie der Leistungsemotionen“ die Notwendigkeit eines zweidimensionalen Wirkungsprinzips von Emotion, das neben der Valenz (bzw. der emotionalen Wertigkeit) auch das Arousal (bzw. die emotionale Aktivierung) berücksichtigt (vgl. hierzu Pekrun 2006, S. 320). Demnach lassen sich Emotionen im Lernkontext anhand von vier Kategorien differenzieren: positiv-aktivierende Emotionen (z. B. Freude, Hoffnung und Stolz), positiv-deaktivierende Emotionen (z. B. Erleichterung, Entspannung und Zufriedenheit), negativ-aktivierende Emotionen (z. B. Ärger, Angst und Scham), und negativ-deaktivierende Emotionen (z. B. Langeweile, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit) (vgl. Pekrun 2018, S. 216). Sowohl positiv-aktivierende als auch negativ-aktivierende Emotionen verbessern, sofern spezifische individuelle und kontextuelle Bedingungen erfüllt sind, die Aufmerksamkeit, die Lernmotivation, die Gedächtnisprozesse sowie die Lernstrategien der betroffenen Schüler*innen. In weiterer Folge konnte in unterschiedlichen Studien gezeigt werden, welche spezifischen Effekte mit ausgewählten Leistungsemotionen einhergehen: Beispielsweise steigert Lernfreude das Flow-Erleben (vgl. Pekrun et al. 2002), Stolz die intrinsische Lernmotivation (vgl. Pekrun et al. 2010), Hoffnung die abrufinduzierte Gedächtnisleistung (vgl. Kuhbander und Pekrun 2013), und Angst die Effektivität detail-orientierter Lernstrategien (vgl. Pekrun et al. 2007). Wichtig ist es im Kontext von Pekruns Kontroll-Werte-Theorie nachzuvollziehen, dass Emotion und Leistung in Wechselwirkung stehen und somit Lernen und
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Leistung auch die nachfolgende Emotionsentwicklung und -regulation zentral beeinflussen bzw., dass Leistungsresultate ebenso auf die Entwicklung von Emotionen und ihrer Regulation rückwirken, wie auch Emotionen signifikant auf den Lernprozess und die Lernleistung Einfluss nehmen (vgl. hierzu Pekrun 2006, S. 322 sowie weiterführend: Pekrun et al. 2010 und Pekrun und Perry 2014). (2) Wohlbefinden und Lernfreude Sehr eng mit der eben skizzierten Perspektive in Zusammenhang steht die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wohlbefinden und Lernfreude in Schule und Unterricht. Tina Hascher (2004, 2009, 2010) und Gerda Hagenauer (2010) haben sich in den vergangenen Jahren mit diesem Themenfeld und der zuvor angesprochenen Wechselwirkung von Emotion und Lernen intensiv beschäftigt (vgl. hierzu bspw. auch Hagenauer und Hascher 2014, 2018). Emotionen sind in diesem Zusammenhang Voraussetzungen des Lernens, indem sie den Zugang zum Lernen wesentlich mitgestalten; sie sind Einflussfaktoren des Lernens, indem sie je nach Aktivierungspotential, Intensität und Valenz das Lernen und den Wissenserwerb selbst steuern; und sie sind Resultate des Lernens, weil Lernen die Entwicklung, Modulation und Regulation von Emotionen wesentlich mitbestimmt (vgl. Hascher und Brandenberger 2018, S. 293–296). Auch wenn Lernen als Prozess durchaus mit negativen Emotionen einhergeht und oft als mühevoll, langwierig, schmerzhaft oder beängstigend erlebt wird, muss es nach Tina Hascher dennoch ein wesentliches Ziel pädagogischer Arbeit sein, Lernumgebungen von aversiven und negativen Emotionen zu befreien (vgl. Hascher 2009, S. 92). Insbesondere im Hinblick auf die interdependente Trias von Voraussetzung, Einflussfaktor und Resultat gilt es positive Emotionen im Unterricht zu fördern und negative Emotionen – so weit als möglich – zu reduzieren. Die Gründe hierfür sind vielfältig; beispielsweise konnte wiederholt gezeigt werden, dass die Lernfreude von Kindern bereits in den ersten Schuljahren abnimmt und somit die positive Konnotation von Schule und Unterricht insbesondere nach dem Übergang in die Sekundarstufe sukzessive verloren geht, wobei der Höhepunkt dieser „affektiv-distanzierten Haltung“, so Hagenauer, in der 7. Schulstufe verortet werden kann (vgl. Hagenauer 2011, S. 272 ff.). Positive Emotionen sind zudem eine generelle Ressource im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn: „Schüler*innen, die sich in der Schule wohlfühlen, die Anlass zur Freude und Stolz haben, gehen gerne in die Schule und erachten schulisches Lernen als sinnvoll und wichtig.“ (Hascher 2009, S. 90) Darüber hinaus gehen positive Emotionen mit spezifischen Effekten für den Lernprozess einher: Sie führen zu einem flexiblen Denkstil und verbessern die subjektiven Emotionsregulationsstrategien (vgl. Edlinger und Hascher 2008 sowie Isen 2008), sie
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erhöhen die eigene Problemlösekompetenz durch ein subjektiv als positiv erlebtes Selbstbild (vgl. Gendolla 2003 sowie Hagenauer 2011), sie steigern die generelle Lebenszufriedenheit (vgl. Gläser-Zikuda 2001) sowie das psychische und physische Wohlbefinden der Schüler*innen (vgl. Skinner et al. 2007 sowie Hofmann et al. 2018) und sie erhöhen die eigene Motivation im Sinne der spezifischen Anstrengungsbereitschaft (vgl. Isen 2008). Um Missverständnissen vorzubeugen sei an dieser Stelle erwähnt, dass auch Pekrun (2018) im Kontext schulpädagogischer Implikationen zu dem Schluss kommt, positiv-aktivierende Emotionen zu fördern und negative Emotionen möglichst zu reduzieren bzw. einen adäquaten Umgang mit ihnen zu finden, sobald sie im Lernkontext in Erscheinung treten; gleichzeitig weist er darauf hin, dass dies in erster Linie durch gezielte Kompetenzförderung und das Vermitteln von Erfolgserlebnissen ermöglicht wird (vgl. Pekrun 2018, S. 228). Tina Hascher und Claudia Brandenberger (2018) kommen im Anschluss an die umfangreiche Studie von Gerda Hagenauer (2011) zur Bedeutung von Lernfreude in Schule und Unterricht zu einem ähnlichen Resümee: Die zentralen Gründe für den Rückgang der Lernfreude sind (a) ein mangelndes Kompetenzerleben, (b) die Verschlechterung der sozialen Eingebundenheit und (c) ein geringes Autonomieerleben der betroffenen Schüler*innen (vgl. Hascher/Brandenberger 2018, S. 297). Hascher und Brandenberger (2018) plädieren mit Bezug auf eine aktuelle Interventionsstudie zur Emotionsförderung im Mathematikunterricht daher für die gezielte Förderung dieser drei Kernelemente schulischen Wohlbefindens. (3) Lehrer*innenemotionen Ein weiteres Themenfeld im Kontext lerntheoretischer Perspektiven betrifft die, in den letzten zehn Jahren vermehrt diskutierten, Emotionen von Lehrer*innen, Lehramtsstudierenden und Hochschullehrenden. Bisherige Studien verweisen dabei auf den zentralen Einfluss von Lehrer*innenEmotionen auf die Unterrichtsgestaltung, das pädagogische Handeln, die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung sowie auf das Wohlbefinden und die Lernergebnisse der Schüler*innen (vgl. hierzu bspw. Hascher und Krapp 2014; Becker et al. 2014; Schutz et al. 2007; Frenzel 2014). Im Hinblick auf Lehramtsstudierende macht Raphaela Porsch (2018) auf die wenig thematisierte „Mathematikangst“ im Besonderen von Primarstufenlehrkräften und fachfremd tätigen Mathematiklehrkräften in der Sekundarstufe I aufmerksam und plädiert nicht nur für eine generelle Vermittlung von emotionstheoretischem Grundlagenwissen im Lehramtsstudium, sondern ebenso, wie viele psychoanalytisch-pädagogische Beiträge auch, für eine verstärkte Reflexion der eigenen Emotionalität und die sich daran anschließenden Möglichkeiten der
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motionsregulation von Lehrpersonen (vgl. Porsch 2018, S. 283). Weitere E Arbeiten über spezifische emotionale Qualitäten verweisen auf die Bedeutung der bewussten (Selbst-)Regulation von Freude durch Lehrpersonen im Unterricht (vgl. Keller und Becker 2018), auf den Stellenwert von und den individuellen Umgang mit Frustration und Ärger bei Lehrer*innen (vgl. Sutton 2007) sowie auf die zentrale Bedeutung von lerngegenstandsbezogenem Humor der Lehrkräfte für die Motivation und das emotionale Erleben der Schüler*innen (vgl. Bieg und Dresel 2018). Ebenso liegen erste Befunde zur Emotionsregulation von Hochschullehrenden vor (vgl. bspw. Hagenauer und Volet 2014 oder Mendzheritskaya et al. 2018). Für alle drei Zielgruppen im Lehrkontext kann zusammenfassend festgehalten werden, dass eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität und eine professionell angeleitete Reflexion des emotionalen Wechselspiels in der Lehrer*innen-Schüler*innen- bzw. LehrendenStudierenden-Interaktion ebenso angezeigt wäre, wie die Implementierung emotionstheoretischen Grundlagenwissens in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften im Allgemeinen. (4) Sozial-emotionales Lernen Ein Programm, das sich in den letzten zwanzig Jahren eines ähnlichen Vermittlungsauftrags angenommen hat und als eine weitere zentrale, lerntheoretische Perspektive angeführt werden kann, ist das Konzept des „Sozial-emotionalen Lernens“ (SEL). Dieses Konzept wurde von der Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning (CASEL) entwickelt und findet aktuell weltweite Verbreitung und Anwendung in nahezu allen Schulstufen. Nach Elias et al. (1997) kann SEL als der Erwerb von spezifischen Kernkompetenzen verstanden werden, die es Schüler*innen ermöglichen Emotionen zu erkennen und zu regulieren, sich persönliche Ziele zu setzen und diese unter Berücksichtigung der Perspektive anderer zu erreichen, positive soziale Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen sowie soziale Interaktionen adäquat zu gestalten (vgl. Elias et al. 1997, S. 2 f.). Dieser Prozess des sozial-emotionalen Lernens kann sowohl intentional durch die Implementierung curricular verankerter SEL-Programme geschehen als auch inzidentell über implizite Lernprozesse in Schule und Unterricht von statten gehen. Hannelore Reicher und Marlies Matischek-Jauk (2018) verdeutlichen in ihrem Übersichtsartikel, dass SEL daher eine personen- und kontextorientierte Perspektive erfordert; d. h. es braucht sowohl eine förderliche Lernumweltgestaltung im Sinne der Ermöglichung eines positiven Entwicklungs- und Lernraumes als auch die gezielte Förderung sozial-emotionalen Lernens und entsprechender Lebenskompetenzen durch curriculare Programme (vgl. Reicher
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und Matischek-Jauk 2018, S. 250 f.). Das globale Ziel von SEL-Programmen und die Grundidee des Konzepts sozial-emotionalen Lernens ist es, die Entwicklung von fünf miteinander verwobenen Kernbereichen kognitiver, emotionaler und sozialer Kompetenzen zu fördern: die Selbstwahrnehmung, die Selbstregulation, die Fremdwahrnehmung, die Beziehungsfertigkeiten und die verantwortungsvolle Entscheidungskompetenz (vgl. hierzu Durlak et al. 2011, S. 406). Die Wirksamkeit des sozial-emotionalen Lernens wurde in den letzten Jahren vermehrt in den Blick genommen. In einer groß angelegten Metaanalyse von 213 schulbasierten SEL-Programmen zeigte sich beispielsweise, dass zumindest die folgenden sechs Kompetenzbereiche von Schüler*innen durch die Implementierung signifikant verbessert wurden: die fünf zentralen SEL-Kompetenzen, die persönliche Haltung, das positive Sozialverhalten, generelle Verhaltensprobleme, die emotionale Belastungen und die schulische Leistung (vgl. Durlak 2011, S. 413). An dieser Stelle sei auf viele artverwandte, nationale und internationale Programme zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen verwiesen, die eine ähnliche Zielsetzung verfolgen, aber nicht unter der Bezeichnung SEL subsumiert werden, wie bspw. die bemerkenswerte Arbeit der World Without Anger (WWA) im Kontext des Emotional Literacy Trainings in Nepal und Teilen Südasiens. Zusammenfassend kann mit Hannelore Reicher und Malies Matischek-Jauk (2018) festgehalten werden, dass die Potentiale und Effekte des SEL wie auch die Wirksamkeit spezifischer SEL-Programme klar deutlich machen, dass es sich beim Sozial-emotionalen Lernen nicht um eine weitere „Zusatzaufgabe für Schulen oder Lehrpersonen“ handelt, sondern dass diese Form des Lernens als Teil der pädagogischen Qualitätssicherung und –entwicklung verstanden werden muss (vgl. Reicher und Matischek-Jauk 2018, S. 264). Es verwundert daher auch nicht, dass sich die Autorinnen für mehr Ressourcen zur Implementierung des SEL in Schulen und der Lehrer*innenbildung aussprechen. (5) Neurowissenschaftliche Lernforschung Ein weiteres, gewinnbringendes Themenfeld im Kontext lerntheoretischer Perspektiven betrifft die neurophysiologischen, neurobiologischen und neurodidaktischen Beiträge, die sich dem Zusammenhang von Lernen und Emotion widmen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Zusammenhang von Lernen und Gedächtnis sowie auf den Einfluss (und die biologische Funktion) spezifischer Emotionen auf das Lernverhalten gelegt (vgl. hierzu auch Immordino-Yang und Christodoulou 2014). Norbert Sachser (2009) verdeut licht dabei aus verhaltensbiologischer und evolutionstheoretischer Perspektive den Stellenwert von Neugier- und Spielverhalten für das intrinsisch motivierte Lernen und plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der pädagogischen
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Lernumgebung als „entspanntes Feld“, welches durch ein adäquates Maß an Sicherheit und Anregung gekennzeichnet ist (vgl. Sachser 2009, S. 21). Demgegenüber verweist Katharina Hirschenhauser (2016, 2018) unter Bezugnahme auf die neurophysiologischen Wirkmechanismen von Cortisol auf die generelle Bedeutung von Stress für Lernprozesse und die Lehrer*innen-Schüler*innenInteraktion (vgl. Hirschenhauser et al. 2016). Sie plädiert dafür, die Ursachen und Wirkungen von Stress als eine biologische Voraussetzung von Lernen als wertvolle Querschnittthemen sowohl in der Lehrer*innenbildung als auch in Schulen stärker zu berücksichtigen, im Besonderen da es sich auch hierbei um eine Wechselwirkung von Lernen und Emotion im Zusammenspiel von Lehrenden und Lernenden handelt (vgl. Hirschenhauser 2018, S. 204). Im Hinblick auf den Stellenwert von Emotionen für Gedächtnisprozesse lassen sich mit Blick auf eine Reihe experimenteller Studien drei zentrale Bezugspunkte herausarbeiten: Emotionen können als Voraussetzung von Enkodierungsprozessen bzw. dem Wissenserwerb verstanden werden, indem sie neue Information im Hinblick auf die emotionale Bewertung früherer Erfahrung kategorisieren und ordnen; zudem sind sie eine Voraussetzung von Konsolidierungsprozessen bzw. der vertieften Einspeicherung, indem sie das Verfestigen von Information je nach subjektiv emotionaler Bedeutung steuern und verdichten, und sie sind eine Voraussetzung von Dekodierungsprozessen bzw. dem Wissensabruf, indem sie den Informationsabruf relational zur emotionalen Verfasstheit im Rahmen des Wissenserwerbs in Beziehung setzen (vgl. hierzu Huber 2017, S. 253 f.). Auch wenn innerhalb der bildungswissenschaftlichen Theorieentwicklung die neurowissenschaftlichen Einsätze meist aus kritischer Distanz betrachtet werden, sind es gerade die biologischen Grundlagen, die eine interdisziplinärere Perspektive auf Emotion und Bildungsprozesse vervollständigen (vgl. Immordino-Yang und Damasio 2007). Sofern man nicht der Versuchung erliegt, kausale Handlungsanleitungen aus den neurobiologischen Grundlagen abzuleiten, sind diese Wissensbestände also durchaus hilfreich im Nachdenken über die Gestaltung der Rahmenbedingungen von Lehren und Lernen in Schule und Unterricht. (6) Forschungsmethodische Einsätze Ein Themenfeld, das innerhalb aller lerntheoretischen Perspektiven von Bedeutung ist und in den letzten Jahren aufgrund der Komplexität des interdependenten Verhältnisses von Emotion und Bildung vermehrt diskutiert wurde, betrifft die methodischen Herausforderungen der bildungswissenschaftlichen Beschäftigung mit Emotionen unter besonderer Berücksichtigung der Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion. Mit Michaela Gläser-Zikuda et al. (2018) lassen sich dabei drei forschungsmethodische Zugänge zur Erfassung
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von Emotionen im Lern- und Bildungskontext differenzieren: (1) physiologische Messverfahren, die über die Erfassung somatischer Parameter (wie bspw. Hautleitfähigkeit, Blutdruck, Herzfrequenz oder Cortisolgehalt) emotionale Reaktionen messen; (2) Zugänge auf expressiver Ebene, die durch unterschiedliche Beobachtungsverfahren den Emotionsausdruck (bspw. in Mimik, Gestik, Körperhaltung oder Stimme) erfassen; sowie (3) forschungsmethodische Zugänge auf phänomenologischer Ebene, die das subjektive Erleben von Emotionen entweder qualitativ (bspw. unter Zuhilfenahme von verbal self reports) oder quantitativ (bspw. auf Basis von Fragebogenskalen) in den Blick nehmen (vgl. Gläser-Zikuda et al. 2018, S. 382–385). Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die durchaus heterogenen Beobachtungsverfahren, die zum Teil kontrovers diskutierten physiologischen Messverfahren oder aber auf die Vielzahl quantifizierender, standardisierter Fragebögen und Skalen eingegangen werden; was sich allerdings in den letzten Jahren auch in der Bildungswissenschaft im Hinblick auf die Erfassung und Analyse von Emotionen abzeichnet, ist die Notwendigkeit multi-methodischer Forschungsdesigns und die forcierte Auseinandersetzung mit Mixed-Methods-Ansätzen der Emotionsforschung: „Für die Forschungspraxis bedeutet dies, dass aussagekräftige Studien mehrere Komponenten von Lern- und Leistungsemotionen beleuchten und hierfür auf diverse methodische Zugänge (in Kombination) zurückgreifen müssen.“ (Gläser-Zikuda et al. 2018, S. 393) Dennoch überwiegen aktuell nach wie vor quantitativ orientierte, typisierende Fragebogen- und Beobachtungsstudien (vgl. bspw. den Überblick bei Hagenauer und Hascher 2018, S. 12 f. oder Turner und Trucado 2014). (7) Fachdidaktische und emotionsspezifische Lernforschung Der Vollständigkeit halber seien als letztes Themenfeld im Kontext der lerntheoretischen Perspektiven noch die fachdidaktischen Kontextualisierungen sowie jene Beiträge genannt, die sich mit spezifischen emotionalen Qualitäten im Kontext von Lernen und Lehren auseinandersetzen, auch wenn hier die Trennschärfe zu den zuvor genannten Themenfeldern wohl am geringsten ist: (A) Bei den fachdidaktischen Zugängen scheint (nach wie vor) der Mathematikunterricht eine hohe Relevanz im Kontext emotionstheoretischer Analysen einzunehmen (vgl. bspw. Hannula et al. 2004; Zan et al. 2006; Tulis 2010; Brandenberger und Moser 2018). Grund hierfür ist zum einen, dass das motivationale und emotionale Erleben von Schüler*innen stark vom jeweiligen Schulfach abhängig ist (vgl. Götz et al. 2006) und dass zum anderen Mathematik noch immer einen sehr hohen gesellschaftlichen
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Stellenwert einnimmt – z. B. innerhalb internationaler Vergleichsstudien wie TIMSS oder PISA gerne als das entscheidende Distinktionsmerkmal herangezogen wird – und das Fach somit bildungspolitisch besondere Aufmerksamkeit und dementsprechende finanzielle Zuwendung erfährt. Auch wenn die Studien zum Teil unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, so lässt sich doch gesamtheitlich festhalten – insbesondere mit Blick auf die betreffenden Lehrer*innenemotionen und die zentrale Bedeutung der Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion in Mathematik – dass neben dem bewussten Evozieren eines positiven, emotionalen Erlebens gegenüber dem Fach auch die Förderung des Umgangs mit und die Regulation von negativen Emotionen, sowohl durch den Lernenden selbst als auch im Zusammenspiel mit der Lehrperson, die entscheidenden Bezugspunkte dieser lerntheoretischen Perspektive darstellen. (B) Die Beiträge, die sich mit spezifischen Emotionen und emotionalen Qualitäten im Kontext von Lernen und Lehren beschäftigen, sind vielfältig. Neben Angst (bzw. Prüfungsangst) und Freude (bzw. Lernfreude) sind in den letzten Jahren besonders die sogenannten moralischen Gefühle bzw. moral emotions (wie Scham, Schuld, Empathie, Stolz oder Verachtung) im Kontext von Schule und Unterricht diskutiert worden. Besonders das Erleben von Scham und die sie begleitenden Schamdynamiken – ein Thema, das über lange Zeit in der Analyse des Zusammenspiels von Lernen und Emotion ausgeklammert wurde – werden aktuell theoretisch erörtert und empirisch untersucht (vgl. bspw. Turner und Waugh 2007; Oades-Sese et al. 2014; Blumenthal 2018). Zudem wird Stolz und die Bedeutung von Stolz für Lernen, Motivation und Selbstregulation zunehmend im Kontext der lerntheoretischen Perspektiven diskutiert (vgl. bspw. Fränken und Wosnitza 2018). Die Bedeutung spezifischer emotionaler Qualitäten, wie bspw. Stolz und Scham, wird im Kontext bildungswissenschaftlicher Überlegungen zukünftig noch stärker zu berücksichtigen sein, insbesondere im Hinblick auf deren pädagogisches Potential und unter stärkerer Berücksichtigung mehrdimensionaler Emotionsmodelle und multi-methodischer Forschungsdesigns. Es ließen sich noch weitere Differenzierungen im Kontext der lerntheoretischen Perspektiven aufzeigen, im Besonderen wenn man unterschiedliche Studiendesigns und deren Zielsetzung (bspw. Explorations- versus Interventions- sowie Längsschnitt- versus Querschnittstudien) oder aber die Auswahl der jeweiligen Kohorten und Studienteilnehmer*innen (bspw. Primar- versus Sekundarstufe sowie randomisierte versus verpflichtende Teilnahme) stärker berücksichtigen
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würde. Besonders interessant wäre auch eine Gruppierung der Themenfelder nach den ihnen jeweils zugrunde liegenden Emotionsmodellen und Arbeitsdefinitionen von Emotion oder aber nach forschungsmethodischem Zugang. Dennoch sind die hier angeführten sieben Themenfelder insofern repräsentativ, als dass sich die meisten Beiträge der letzten zwanzig Jahre, die sich aus lerntheoretischer Perspektive dem Konnex von Bildung und Emotion widmen, in dieser Systematik zu- bzw. einordnen lassen, womit jene wiederum dem aktuellen Stand der Forschung nach dem emotional turn im Kontext von Lernen und Emotion gerecht wird.
2.8 Zusammenfassung der zentralen Annahmen zum problemgeschichtlichen Hintergrund Bevor auf den spezifischen Forschungsstand eingegangen wird, sollen die zentralen Erkenntnisse der historischen Annäherung und des problemgeschichtlichen Hintergrunds in Form von Annahmen, die als theoretisches Grundgerüst der vorliegenden Arbeit dienen, zusammenfassend dargestellt werden. Zuerst werden das Verhältnis von Bildung und Emotion sowie der Stellenwert von Emotionen innerhalb des bildungswissenschaftlichen Denkens anhand eines punktuellen, historischen Überblicks erneut nachgezeichnet. In einem zweiten Schritt wird die Frage beantwortet, welche Bedeutung Emotionen innerhalb von Bildungsprozessen und Bildungsverläufen im Allgemeinen zugeschrieben wird und wie es aktuell um das Verhältnis von Bildung und Emotion in der Bildungswissenschaft bestellt ist. Emotionen sind und waren immer schon Bestandteil der bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Menschsein, da Emotion und Gefühl nicht nur expliziter Bestandteil des Sprechens über die Maßstäbe von Bildung, Erziehung und Unterricht sind, sondern gleichzeitig die eigene Emotionalität den Sprechakt selbst immer schon beeinflusst. Diese doppelte Historizität von Emotion ist anthropologischen Verhältnisbestimmungen ebenso inhärent wie der bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen (vgl. Wulf 2014): • Schon in den Anfängen der Philosophie wurde dem Verhältnis von Bildung und Emotion und dem Menschen als erziehendes und fühlendes Wesen Rechnung getragen (vgl. Reichenbach 2018). Während bei Aristoteles (2006) die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten als das Streben nach Glück und somit der höchste Sinn des Lebens durch Emotionen bestimmt wird, spricht Platon (1964) der Emotionalität eine irrationale, zerstörerische und korrumpierende
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Funktion zu und betont die Vormachtstellung der Vernunft in seinem dualistischen Verständnis von Körper und Geist. • Die Denktraditionen von Platon und Aristoteles und ihre anthropologischen Grundverständnisse lassen sich disziplinübergreifend bis in die Gegenwart nachzeichnen und sind dementsprechend auch repräsentativ für den Konnex von Bildung und Emotion (vgl. hierzu bspw. Wassmann 2002; Merten 2003; Marneros 2007). • Die (genuin) bildungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Emotionen beginnt ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bzw. wird diese Zeitspanne als erster pädagogischer Bezugspunkt für die Verhältnisbestimmung von Bildung und Emotion konstatiert (vgl. hierzu die entsprechenden Darstellungen von Buddrus 1992a; Gläser-Zikuda 2001; Klika 2003; Hascher 2009; Huber 2013; Gieseke 2016; Klika 2018; Huber und Krause 2018). • Auch wenn sich bei den Klassikern der Pädagogik respektive bei den Wegbereitern der Erziehungswissenschaft gänzlich unterschiedliche anthropologische Vorstellungen wiederfinden, die einerseits den vorherrschenden Strömungen der Philosophie des Geistes und andererseits der aristotelischen und platonischen Vorstellung von Gefühl und Affekt geschuldet sind, wurden Emotionen bei ihnen dennoch als unumgänglich für die Bildung des Menschen erachtet. • In der Phase der Aufklärung wurden Emotionen im pädagogischen Denken sowohl als konstitutiver Teil anthropologischer Überlegungen als auch als grundlegender Bestandteil pädagogischer Leitideen thematisiert. Gefühle galten in diesem Zusammenhang als Voraussetzung von Bildsamkeit, und zwar im doppelten Sinn ihrer Bedeutung, als Bildungsfähigkeit und Bildungsbedürftigkeit; die Bildung des Herzens und die Aufklärung des Verstandes, so die Vorstellung, bedingen sich gegenseitig (vgl. Gläser-Zikuda 2001). • In der Romantik ging es darum, sich (wieder) auf das Lebensgefühl, die Lebenskraft und die Leidenschaften zu besinnen, wobei – im Gegensatz zur Aufklärung – die Leidenschaften gegenüber der abstrakten Rationalität in den Vordergrund pädagogischer Überlegungen gerückt wurden und die qualitativen Dimensionen menschlicher Erfahrung als primäre Erkenntnisquelle dienten. • Mitte des 19. Jahrhunderts führten der Fortschrittsglaube und die Technologieaffinität zurück zu einem rationalen Bildungsverständnis, in dem Bildung als die Kumulation von Wissen und als Schulung des Intellekts verstanden wurde (vgl. Weber 1975). • Die sich daran anschließende Reformbewegung in der Pädagogik gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. am Übergang ins 20. Jahrhundert betonte erneut die
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Emotionalität und die Berücksichtigung von Gefühlen und Stimmungen, Herz und Gemüt, insbesondere im Kontext pädagogischer Praxis (vgl. Buddrus 1992). • Um 1900 findet sich daher in der Pädagogik zum Begriff des Gefühls noch eine Bandbreite an philosophischen und psychologischen Theoriemodellen. Jedoch verschwindet in den 1930er Jahren das Emotionale aus den erziehungswissenschaftlichen Grundlagen(werken) (vgl. Klika 2004, 2018). • Die Psychoanalyse hat am Übergang ins 20. Jahrhundert als Erste das Sprechen über Gefühle als eine wissenschaftlich fundierte Methode sozialer Hilfe professionalisiert und damit einen wissenschaftlichen Zugang zur Subjektivität und zum innerpsychischen Erleben geschaffen, welcher die anthropologischen Vorstellungen in Medizin, Psychologie und Pädagogik nachhaltig prägten (vgl. Kruse 2000). • Die Psychoanalytische Pädagogik widmet sich seit jeher der Bedeutung von Emotion und Gefühl im Kontext von Bildung, Erziehung und Unterricht und betont das Entwicklungspotential von Emotionen und die Notwendigkeit einer Bildung der Gefühle als zentrale Aufgabe der Pädagogik. Allerdings konzentrierte sie sich bis in die 1970er Jahre in erster Linie auf pathologische Phänomene (vgl. Dornes 1997). • Im Nationalsozialismus wurden Emotionen instrumentalisiert bzw. Gefühle zur Formung eines ideologisch bestimmten, kollektiven Bewusstseins einer ganzen Generation missbraucht. Der kritische Blick auf die Pädagogik der Nationalsozialisten verdeutlicht allerdings die Macht der Emotionen im Kontext von Bildung, Erziehung und Unterricht. • In der Rekonstruktionsphase der Pädagogik wurde zwar versucht an die reichhaltigen Konzepte vorhergehender Traditionen anzuknüpfen, allerdings wurden die singulären Aufforderungen der 1970er und 1980er Jahre, Emotionen in der erziehungswissenschaftlichen Theorie und pädagogischen Praxis stärker zu berücksichtigen, weitgehend ignoriert oder vernachlässigt (vgl. Gläser-Zikuda 2001). • Dabei lassen sich drei zentrale Gründe für die Abwehrhaltung der Pädagogik und ihrer Vertreter*innen gegenüber der Beschäftigung mit Emotion und Gefühl im 20. Jahrhundert festmachen: die unangefochtene Vormachtstellung der menschlichen Rationalität, das problematische Verhältnis zwischen Psychologie und Pädagogik sowie die unmögliche Bestimmung der menschlichen Emotionalität. • Der emotional turn und das damit einhergehende, integrative Verständnis von Kognition und Emotion am Übergang ins 21. Jahrhundert führten zur erneuten Annäherung von Denken und Fühlen als gleichberechtigte
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Substrate des Seins und markieren den Beginn der Renaissance des Gefühls in der Pädagogik. • Das disziplinübergreifende Interesse an Emotionen ermöglichte in der Bildungswissenschaft ein erneutes Besinnen auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung emotionaler Phänomene und die Vermittlung emotionaler Fähigkeiten und Kompetenzen. Die damit einhergehende Idee einer holistisch anthropologischen Perspektive auf Menschsein und der Versuch der Versöhnung der widerstreitenden Perspektiven auf Rationalität und Emotionalität prägten sowohl die erziehungswissenschaftliche Forschungslandschaft als auch die pädagogische Praxis. • Dementsprechend lässt sich mit Blick auf die letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre innerhalb der Bildungswissenschaft eine Reihe an bildungstheoretischen, subdisziplinären und insbesondere lerntheoretischen Einsätzen beobachten, die sich dem Konnex von Bildung und Emotion widmen. Auch wenn der Stellenwert des Emotionalen im bildungswissenschaftlichen Denken, je nach Zeitgeist und anthropologischem Grundverständnis, stark variiert, lassen sich dennoch zentrale Annahmen über die Bedeutung von Emotionen in Bildungsprozessen herausarbeiten, die Auskunft darüber geben, wie es um die Beziehung von Bildung und Emotion bestellt ist. Die für die vorliegende Arbeit zentralen Annahmen können in Form normativer Thesen entlang der Klassiker der Pädagogik wie folgt zusammengefasst werden: • Gefühle und Empfindungen unterstützen die Entwicklung der Vernunft und eröffnen die Möglichkeit frei und unabhängig entscheiden und handeln zu können. Emotionen sind demnach ein anthropologisches Grundprinzip und eine unabdingbare Voraussetzung moralischen Denkens (Rousseau). • Emotionen bzw. Gefühle sind als Erkenntnisquelle, neben der praktischen Erfahrung und der ihr nachgeordneten Reflexion, eine gleichberechtigte Voraussetzung von Bildung, da sich Bildung nur im Zusammenspiel von Empfindung, Erfahrung und Reflexion vollzieht (Pestalozzi). • Die Bildung des Gemüts bzw. die Charakterbildung ist gleichzusetzen mit einer Bildung der Gefühle. Somit ist die intendierte Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl ein notwendiger Bestandteil allgemeiner Bildung (Humboldt). • Moralität, als Ziel jeglicher Erziehung und Voraussetzung von Selbstbestimmung und Individualität, lässt sich nur über Emotion vermitteln. Gefühle gelten deshalb als empirische Erkenntnisquelle, da sie dem Menschen ermöglichen zwischen Erkennen und Wollen zu entscheiden. Somit gewähr-
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leisten Emotionen die notwendige Transferleistung von Wissen im Spannungsfeld von Theorie und Praxis (Herbart). • Bildung ist die reflexive Bewusstwerdung eines Gefühls und die Überführung desselben in den ästhetischen Modus der Empfindung. Das Ziel von Bildung ist die Erweiterung der menschlichen Emotionalität, die im Gefühl der absoluten Selbstgesetzgebung und ästhetischen Freiheit ihren Höhepunkt erfährt (Schiller). • Gefühle verdeutlichen das Gute (Moral), die Stellung in der Welt (Existenz), das Begehren und die Wünsche (Wollen) sowie die Ziele unserer Handlungen (Telos). Sinnzusammenhänge werden durch das Nacherleben fremder Gefühle deutlich bzw. vollzieht sich Verstehen durch die Rekonstruktion der Gefühle fremder Erfahrungen (Dilthey). • Körper und Geist bilden eine integrative, sich wechselseitig ergänzende Einheit, die sich als aktiver Prozess der Selbstgestaltung des Individuums sukkzessive entwickelt. Voraussetzung für Bildung und Erziehung sind dabei die emotionalen Entwicklungsbedürfnisse des Menschen, die sich in erster Linie durch Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrauen in einer intensiven, emotionalen Beziehung auszeichnen und widerspiegeln (Montessori). Erweitert man die Perspektive und berücksichtigt man aktuelle Einsätze der bildungswissenschaftlichen Forschungslandschaft, lassen sich weitere Annahmen zum Konnex von Bildung und Emotion in normativer und generalisierter Konturierung systematisieren: • Emotionen und Gefühle verlieren sich in der philosophischen Abstraktion und Gegenstandskonstruktion des Metaphysischen und müssen im erziehungswissenschaftlichen Denken als leiblich-affektiv fundierte und sozial-emotional kontextualisierte Phänomene verstanden werden, um ihr Potential in Theorie und Praxis angemessen berücksichtigen zu können (vgl. Kraft 2010). • Gefühl und Empfindung müssen als notwendige Voraussetzung von Bildungsprozessen konstatiert werden, weil das Gefühl selbst als das höchste Bildungsziel verstanden werden kann (vgl. Friedauer 2018). • Erziehung ist immer Moralerziehung und Moralerziehung ist immer eine Erziehung der Gefühle. Jedwede pädagogische Bezugnahme, ob intendiert oder nicht, zielt daher auf die Bildung der Gefühle ab (vgl. Reichenbach und Maxwell 2007). • Emotionen fungieren innerhalb von Bildungsprozessen auch als Ausschlussund Ausgrenzungsmechanismen (vgl. Kremsner und Proyer 2018). Eine Bildung der Gefühle bedeutet demnach auch, sich von seinen emotionalen
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Bewertungen distanzieren zu können und die eigenen Emotionen reflektieren und regulieren zu lernen. • Eine Bildung der Gefühle vollzieht sich nicht nur in der sozialen Interaktion, sondern auch in der imaginativen Auseinandersetzung mit sich, der Welt und dem anderen. Somit ermöglichen es Emotionen, unabhängig der realen Erfahrung und der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt, Bildungsprozesse anzustoßen (vgl. Jörissen 2012). • Das emotionale Erleben und Wahrnehmen kann in pädagogischen Interaktionen zu enormen Anforderungen und psychischen Belastungen führen (vgl. Reicher 2018). Dementsprechend sind neben adäquaten Emotionsregulationsmechanismen auch präventive Strategien des Umgangs mit überfordernden Situationen für die pädagogische Bezugnahme auf das Gefühl notwendig. • Die planvolle Beschäftigung mit und systematische Analyse des emotionalen Erlebens ermöglicht eine Optimierung pädagogischer Interaktionen im Kontext institutioneller Bildung (Datler 2012). • Die bewusste Inszenierung und Imagination emotionalen Erlebens im Unterricht eröffnet differenzierte Möglichkeiten der Emotionsregulation (vgl. Turecek und Turecek 2017). • Die Bedeutung von Emotionen für Bildungsprozesse und Bildungsverläufe wird besonders im Kontext des lebenslangen Lernens deutlich; emotionale Kompetenzen sind eine Voraussetzung für die Entwicklung weiterer Kompetenzfacetten und somit wird die Relevanz des Zusammenhangs von Bildung und Emotion besonders im Erwachsenenalter deutlich (vgl. Arnold und Pachner 2013). • Emotionen sind eine Voraussetzung in der frühkindlichen Sprachentwicklung und ermöglichen die reziproke Interaktion mit den primären Bezugspersonen in den ersten Lebensjahren (vgl. Lüdtke 2006). Die zentrale Bedeutung des emotionalen Lernens für die Sprachförderung und -entwicklung sowie für das Sprachlernen im Allgemeinen bleibt ein Leben lang konstant. • Der Vergleich kultureller Differenzen im pädagogischen Umgang mit Emotionen verdeutlicht wie eng Kultur und Emotionsentwicklung bzw. Kultur und Emotionsausdruck zusammenhängen und ermöglicht dadurch ein tieferes Verständnis emotionaler Kompetenzmodelle (vgl. Funk et al. 2012). • Lernen und Lehren vollziehen sich nicht unabhängig von Emotionen, sondern beide stehen immer schon in einem interdependenten Verhältnis zueinander, da der Mensch nicht nur ein fühlendes, sondern auch ein lernendes (bzw. lernfähiges und lernbedürftiges) Wesen ist; Emotionen und Lernen sind also Teil der conditio humana (vgl. Wulf 2014).
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• Emotionen steuern das Lernen und die Lernleistung, indem sie, je nach subjektivem Wert (Valenz) und Aktivierungspotential (Arousal), die Aufmerksamkeit und die Lernmotivation steigern sowie Gedächtnisprozesse, Lernstrategien und die Selbstregulation des Lernens verbessern (vgl. Pekrun 2018). • Emotionen sind Voraussetzungen, Einflussfaktoren und Resultate des Lernens. Dementsprechend gilt es positive Emotionen im Unterricht zu fördern, da positive Emotionen eine generelle Ressource im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn sind und Schüler*innen dadurch eine positive Einstellung gegenüber sich selbst, dem schulischen Lernen und der eigenen Bildungsaspiration entwickeln (vgl. Hascher 2004, 2009). • Positive Emotionen und Lernfreude gehen mit einer Reihe an prospektiven Effekten, wie bspw. einem flexiblen Denkstil, einer erhöhten Problemlösekompetenz, einem positiven Selbstbild und einer größeren Lebenszufriedenheit etc., einher. Die Förderung von Lernfreude durch die Förderung von Kompetenzerleben, sozialer Eingebundenheit und Autonomie muss daher in Schule und Unterricht (bzw. im Kontext von Bildung) vorrangig sein (vgl. Hascher und Brandenberger 2018). • Emotionen sind Voraussetzung für die pädagogische Beziehung. Die Emotionen pädagogischer Fachkräfte beeinflussen nicht nur die Unterrichtsgestaltung und das pädagogische Handeln, sondern ebenso das Wohlbefinden und die Lernergebnisse der Schüler*innen (vgl. Hascher und Krapp 2014; Schutz et al. 2007; Frenzel 2014). • Sozial-emotionales Lernen muss als Teil des pädagogischen Selbstverständnisses verstanden werden. Denn es ermöglicht Emotionen zu erkennen und zu regulieren, sich persönliche Ziele zu setzten und diese unter Berücksichtigung der Perspektive anderer zu erreichen, positive soziale Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen sowie soziale Interaktionen adäquat zu gestalten (vgl. Reicher und Matischek-Jauk 2018). • Neugier- und Spielverhalten sind Voraussetzung für das intrinsisch motivierte Lernen. Eine optimale Lernumgebung muss aus emotionstheoretischer Perspektive durch ein adäquates Maß an Sicherheit und Anregung gekennzeichnet sein (vgl. Sachser 2009). • Emotionen sind Voraussetzung zentraler Gedächtnisprozesse. Sie steuern und regulieren den Wissenserwerb, die vertiefte Einspeicherung und das Abrufen von Wissensbeständen (vgl. Huber 2017a).
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• Neben Angst (bzw. Prüfungsangst) und Freude (bzw. Lernfreude) scheinen besonders die moralischen Gefühle (wie Scham, Schuld, Empathie, Stolz oder Verachtung) im Kontext pädagogischer und bildungswissenschaftlicher Überlegungen an Bedeutung zu gewinnen. Zudem werden das Erleben von Scham und die sie begleitenden Schamdynamiken (vgl. Blumenthal 2018) sowie die Bedeutung von Stolz für Lernen, Motivation und Selbstregulation vermehrt diskutiert (vgl. Fränken und Wosnitza 2018). • Um der Vielschichtigkeit und Komplexität des Emotionalen im Kontext bildungswissenschaftlicher Theoriebildung gerecht zu werden, müssen zukünftige Forschungsbemühungen mehrere Komponenten von Emotion berücksichtigen und dabei auf multiple, methodische Zugänge in Kombination zurückgreifen (vgl. Gläser-Zikuda et al. 2018).
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Emotion und Gefühl – Eine systematische Kontextualisierung
Auf den vorhergehenden Seiten wurde der Versuch unternommen den allgemeinen Stand der Forschung im Kontext von Bildung und Emotion grob zu skizzieren, um zu veranschaulichen, welche Bedeutung den Emotionen im bildungswissenschaftlichen Denken zugeschrieben wird, welche Rolle Emotionen in Bildungsprozessen und Bildungsverläufen spielen und welche anthropologischen Vorstellungen damit einhergehen. Bevor der spezifische Forschungsstand für die vorliegende Arbeit erörtert wird, gilt es zuvor die Frage zu klären, was Emotionen und Gefühle charakterisiert und welches Emotionsverständnis dieser Arbeit und hierbei im Besonderen der empirischen Analyse zugrunde liegt. Auf den nachfolgenden Seiten wird daher eine integrative Perspektive auf Emotion und Gefühl vorgestellt, die sich durch die Suche von Gemeinsamkeiten innerhalb emotionstheoretischer Überlegungen auszeichnet und dadurch eine Reihe an axiomatischen Thesen bereitstellt, die in weiterer Folge als Grundlage für die Problematisierung der zentralen Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit Geltung beanspruchen.
3.1 Zum allgemeinen Verständnis von Emotion und Gefühl Emotionen bestimmen den Menschen in allen Kulturen zu allen Zeiten an jedem Ort. Sie sind, wie bereits ausgeführt, dem Leben inhärent. Sie sorgen für Realitätsbewusstsein, ermöglichen Wirklichkeitsbezüge und spiegeln sich in allen Objektivationen des menschlichen Geistes wider. Jeder gesunde Mensch ist also, wenn auch in unterschiedlichem Maße, dazu fähig Emotionen wahrzunehmen, sie auszudrücken und sie gegebenenfalls zu regulieren. Etwas problematischer
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_3
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wird es, wenn es darum geht, Emotionen bzw. das eigene emotionale Erleben zu beschreiben. So sind sich die meisten Menschen darüber bewusst, dass sie tagtäglich eine Vielzahl an unterschiedlichen Emotionen durchleben; bittet man sie aber bspw. diese Emotionen, die unsere alltäglichen Routinen begleiten und die wir als eine Selbstverständlichkeit begreifen, konkret zu benennen, fällt es den meisten schwer, passende Bezeichnungen für die Vielfalt des subjektiv emotionalen Erlebens zu finden. Und sind die Bezeichnungen dann gefunden, ist man sich unsicher, ob es sich dabei tatsächlich um Emotionswörter handelt bzw. was eine Emotion als solche auszeichnet. Die Schwierigkeit Emotionen begrifflich näher zu bestimmen oder sie in ihrem Wesen zu beschreiben ist aber nicht nur ein alltägliches Phänomen, sondern auch ein generelles Kennzeichen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen. Seitdem sich die Wissenschaft mit Emotionen beschäftigt, werden unter einer Vielzahl von Begrifflichkeiten unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen subsumiert. So finden sich Begriffe wie Stimmungen, Affekte, Gefühle, Leidenschaften, Empfindungen, Sinnlichkeiten, Gefühlstugenden, Erregungen, Passionen, Temperamente oder Gemütsbewegungen, die zum Teil als Synonyme verwendet oder aber als (Sub-) Kategorien (für die Bestimmung) von Emotionen herangezogen werden. Diese semantischen Mehr- und Uneindeutigkeiten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Emotionen werden allerdings von der Definitionspluralität in der Emotionsforschung noch übertroffen. Bereits 1981 haben Paul und Anne Kleinginna in einem viel zitierten Aufsatz den Versuch unternommen, die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Emotionsdefinitionen zu klassifizieren, indem sie 92 unterschiedliche Emotionsdefinitionen analysierten und anhand von zehn Kategorien (wie bspw. affektiv, physiologisch, kognitiv etc.) nach ihrer Häufigkeit unterteilten (vgl. Kleinginna und Kleinginna 1981, S. 354). Am Ende stellen sie selbst eine Definition vor, die ihres Erachtens alle bis dahin als signifikant geltenden Aspekte von Emotion beinhaltet, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass die Kriterien, die Emotionen ausreichend beschreiben würden bislang noch nicht gefunden wurden: “Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural-hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goaldirected, and adaptive.” (Kleinginna und Kleinginna 1981, S. 355).
3.1 Zum allgemeinen Verständnis von Emotion und Gefühl
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Kleinginna und Kleinginna (1981) schließen ihre Ausführungen mit dem Hinweis auf die Hoffnung, dass ihre Arbeit der Ausgangspunkt für einen baldigen Konsens über die Definition von Emotion in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die über die Grenzen der Psychologie hinausreiche, sei. Im Jahre 2010, also rund 30 Jahre später, unternimmt ein führender Vertreter der Emotionsforschung erneut einen Versuch dem Definitionsproblem gerecht zu werden. Carroll Izard (2010) befragte hierzu 34 ausgewiesene Expert*innen mittels eines mehrstufigen Fragebogens, welche Arbeitsdefinition von Emotion sie bevorzugen würden und welche notwendigen Kriterien sie hierfür bestimmen würden. Dabei konnte Izard erneut elf verschiedene Definitionsmerkmale herausarbeiten. Der größte Unterschied zu dem Ergebnis von Kleinginna und Kleinginna (1981) besteht darin, dass während 1981 lediglich 35 % der Definitionen mehrere Komponenten oder Aspekte von Emotionen thematisierten, 2010 alle Definitionen multi-perspektivisch orientiert waren (vgl. Izard 2010, S. 267). Izard kommt, wie viele seiner Kolleg*innen, zu dem Schluss, dass ein echter wissenschaftlicher Konsens über die Definition von Emotion nicht hergestellt werden kann, da es (bisher) keine allgemein anerkannten Kriterien gibt, die Emotionen hinreichend beschreiben würden respektive von anderen mentalen Prozessen ausreichend distinguieren könnten. Demgegenüber gibt es allerdings durchaus konsensuelle Vorstellungen über die Wirkung, Struktur und Funktion von Emotionen. Daher plädiert Izard zumindest für die Wahrung einer einzigen Maxime im Kontext emotionsbasierter Forschungsbemühungen: Alle Wissenschaftler*innen, die den Emotionsbegriff verwenden, müssen zumindest eine eigene Arbeitsdefinition im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit offenlegen oder aber explizit spezifizieren, was genau sie unter dem Begriff verstehen (vgl. Izard 2010, S. 369). Es ließen sich hier noch weitere prominente Autor*innen anführen, die sich dem Problem der Bestimmung von Emotionen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gewidmet haben und dabei ließe sich auch herausarbeiten, welcher emotionstheoretischen Strömung diese Autor*innen zugeordnet werden können. Auch die Schlussfolgerungen von Carroll Izard (2009, 2010) zu diesem Thema lassen bei genauerem Hinsehen seine Nähe zu den diskreten Emotionstheorien erahnen. Ähnlich verhält es sich bei den Einführungen zur Emotionsforschung und/oder Emotionspsychologie, die zumindest die Präferenzen der Herausgeber*innen bei den definitorischen Merkmalen erkennen lassen. Fest steht also lediglich, dass die Zugänge in der Beschreibung und Erforschung von Emotionen sehr unterschiedlich sind und dass unter derselben Bezeichnung meist gänzlich unterschiedliche Phänomene in den Blick genommen werden. Es ist daher auch nachvollziehbar, dass viele Befunde aus der Emotionsforschung widersprüchlich sind, missverständlich interpretiert werden oder schlichtweg nicht
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replizierbar sind. Das größte Problem in der Erforschung von Emotionen – und gleichzeitig ein zentrales Kennzeichen von Wissenschaft – ist somit, dass etwas als gegeben vorausgesetzt wird, das empirisch noch gar nicht gesichert ist. Emotionstheoretisches Wissen ist also wie wissenschaftliches Wissen relativ und dynamisch: die vorläufige Annahme der Abhängigkeit bestimmter Eigenschaften, Größen und Begriffe von anderen Eigenschaften, Größen und Begriffen entwickelt sich fortlaufend weiter und gilt, so lange sie Geltung beansprucht. Daraus lässt sich schließen – und so kann auch Izard (2010) interpretiert werden – die Abhängigkeitsverhältnisse formal offen legen zu müssen und das Abstraktionsniveau dabei so gering wie möglich zu halten. Daher soll an dieser Stelle auch wieder zum Beginn des Nachdenkens über den Konnex von Bildung und Emotion zurückgegangen werden und die Gretchenfrage der Emotionsforschung erneut aufgegriffen werden. Denn die grundlegendste und strittigste Frage in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Emotionalität des Menschen betrifft die Entstehung und somit das Wesen von Emotionen.
3.2 Die Entstehung von Emotionen Mit Blick auf eine Reihe an Übersichtsarbeiten zur Emotionsforschung stehen, wie bereits deutlich wurde, aus historischer Perspektive die anthropologischen Vorstellungen von Aristoteles und Platon stellvertretend für zwei Denktraditionen, die sich über die Philosophie und Psychologie hinaus bis in die Gegenwart der Emotionstheorie nachverfolgen lassen (vgl. hierzu bspw. Power und Dagleisch 1999; Wassmann 2002; Merten 2003; Marneros 2007). Wie in Abschn. 2.2 ausgeführt, war Platons Leib-Seele-Dualismus grundlegend für die philosophischen Arbeiten von Rene Descartes, David Hume, John Locke, Immanuel Kant und in weiterer Folge für die Psychologie von William James. Demgegenüber gilt Aristoteles und sein Verständnis des Zusammenspiels höherer, mentaler Fähigkeiten wiederum als Wegbereiter der Stoiker, für Thomas von Aquin, Baruch de Spinoza und die Psychologie von Magda Arnold (vgl. hierzu auch Merten 2003, S. 22). Während also Aristoteles die Entstehung von Emotionen (als Tugenden und Passionen) im Zusammenspiel mentaler Fähigkeiten verortete, verstand Platon, ausgehend von seiner strikten Trennung von Körper und Geist, Emotionen (bzw. Leidenschaften) als Folge körperlicher bzw. somatischer Prozesse, die es von der Vernunft zu kontrollieren gilt. Aktuell besteht ein disziplinübergreifender Konsens darüber, dass Emotionen die Folge eines irgendwie gearteten, äußerlichen oder innerlichen (Reiz-)Ereignisses sind, auch wenn die Beziehung zwischen Ereignis und Emotion keinesfalls
3.2 Die Entstehung von Emotionen
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als kausal gilt. Weniger konsensfähig hingegen ist die Frage, wann und wo dieses Ereignis wahrgenommen und verarbeitet wird bzw. welche Wege der Verarbeitung des Ereignisses zu welchem Zeitpunkt durchlaufen werden. Grundsätzlich lassen sich im Anschluss an die historischen Entwicklungslinien von Platon und Aristoteles im Kontext aktueller, emotionstheoretischer Überlegungen ebenso (zumindest) zwei widerstreitende Positionen im Hinblick auf die Frage nach der Entstehung und dem Ursprung von Emotionen ausmachen: (A) Zum einen werden Emotionen als die Wahrnehmung von Körperzustandsveränderungen bzw. als die Folge einer somatischen Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis verstanden (vgl. bspw. Tomkins 1962, 1963; Ekman 1973; Izard 1993; Panksepp 1998; Davidson et al. 2000; Gray und McNaughton 2000; LeDoux 2006). Hierzu zählen unter anderem die physiologischen, neurobiologischen und evolutionstheoretischen Erklärungsansätze, wie bspw. die klassische James-Lange-Theorie. William James (1884) hat etwa zeitgleich mit dem dänischen Physiologen Carl Lange (1885) die These aufgestellt, dass der Emotionszustand Veränderungen auf der Ebene der peripheren Physiologie widerspiegelt und somit Intensität und Qualität der Emotion durch die körperliche Reaktion bestimmt wird (vgl. hierzu Schmidt-Atzert et al. 2014, S. 147; sowie James 1884 bzw. Lange 1885). Eine ähnliche Perspektive verfolgen auch die diskreten Emotionstheorien, wie die Circuit-Theorien und die Theorie der Basisemotionen. Erstere gehen davon aus, dass bestimmte, sich im Laufe der Evolution entwickelnde, neuronale Schaltkreise (sogenannte Circuits) spezifischen Emotionen zugeordnet werden können, wie dies bspw. Jaak Panksepp (1998) im Kontext der Affektiven Neurowissenschaft mit Bezug auf vier, primäre Schaltsysteme (Seeking, Panic, Fear, Rage) postuliert (vgl. Panksepp 1998, S. 44). Die Vertreter*innen der Basisemotionen gehen hingegen davon aus, dass es eine begrenzte Anzahl von Emotionen gibt, die spezifischen Auslösebedingungen und Reaktionsmustern zugeordnet werden können. Paul Ekman (1973, 2003), als zentraler Vertreter dieser emotionstheoretischen Strömung, spricht sogar von einer, dem Reproduktionsvorteil geschuldeten Kulturuniversalität der Basisemotionen (vgl. Ekman 2003, S. 216). Mit Carroll Izard (1993, 1999) lassen sich auch noch die sogenannten Facial-Feedback-Theorien dieser Position zuordnen, die davon ausgehen, dass nicht die somatische Veränderung, sondern der Emotionsausdruck die Ursache der Emotion ist, wobei Izard (1990) die Rückmeldung (von Gesichtsmuskulatur zum Gehirn) selbst als „physiologisch-somatischen Prozess“ bezeichnet (vgl. Izard 1990, S. 494).
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Die Trennschärfe zwischen Ausdruck (Mimik und Gestik) und körperlicher Veränderung ist somit nicht eindeutig, in beiden Fällen sind wir – überspitzt formuliert – traurig, weil wir weinen und nicht umgekehrt. (B) Zum anderen werden Emotionen als Folge kognitiver Prozesse aufgefasst bzw. als das Resultat einer kognitiven Bewertung eines spezifischen Ereignisses verstanden (vgl. bspw. Arnold 1960a, b; Smith und Ellsworth 1985; Frijda 1986; Lazarus 1991; Scherer 1984a, 2009). Hierzu zählen in erster Linie die sogenannten Bewertungstheorien (cognitive appraisal theories oder appraisal approaches), die davon ausgehen, dass eine Emotion durch die subjektive Bewertung als kognitive Einschätzung ausgelöst wird. Dabei ist der Grundgedanke leitend, dass nicht der externe Reiz automatisch zu einer Reaktion führt, sondern dessen subjektive Bedeutung und Interpretation entscheidend für die Entstehung der jeweiligen Emotion ist. D. h. die emotionale Reaktion hängt davon ab, wie der emotionsauslösende Reiz subjektiv bewertet und interpretiert wird. Auch wenn Magda Arnold (1960a, b) als Wegbereiterin dieses emotionstheoretischen Zugangs verstanden werden kann, gilt Richard Lazarus (1991) als zentraler Vertreter der kognitiven Ansätze und Bewertungshypothesen der Emotionsforschung. Lazarus geht davon aus, dass Emotionen Reaktionen auf bewertende Urteile sind, wobei er zwischen einem primären und einem sekundären Bewertungsprozess unterscheidet; während sich die primäre Bewertung unmittelbar auf die Ereignisse in der Umwelt bzw. auf die Bedeutung des Ereignisses für das Individuum bezieht, findet die sekundäre Bewertung später statt und bezieht sich auf die eigenen Möglichkeiten in der Bewältigung der emotionsauslösenden Situation (vgl. Lazarus 1991, S. 76 ff.). Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Bewertung soll allerdings weder eine Priorisierung noch eine Chronologie der jeweiligen Prozesse implizieren. Dies ist für die aktuellen, bewertungstheoretischen Ansätze durchaus relevant, insbesondere wenn es um die jeweiligen Kriterien der Bewertung geht, wie an späterer Stelle noch verdeutlicht wird. Ebenso den kognitiven Ansätzen zuzuordnen sind die Theorien der willentlichen Emotionsregulation (vgl. bspw. Gross 1998), kulturtheoretische bzw. soziologische (vgl. bspw. Vester 1991 sowie Flam 2002), sozial-konstruktivistische (vgl. bspw. Averill 1980, 1985) sowie linguistische bzw. semantisch orientierte Erklärungsansätze (vgl. bspw. Shaver et al. 1987) der Emotionsforschung.
3.2 Die Entstehung von Emotionen
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Obwohl die soeben getroffene Unterscheidung zwischen körperlichen und kognitiven Erklärungsansätzen für die Entstehung von Emotionen durchaus als simplifizierend bezeichnet werden kann, verdeutlicht sie die zwei grundlegenden Zugänge der Emotionsforschung. Als Anhaltspunkt hierfür kann die zweite klassische Emotionstheorie von Stanley Schachter und Gerome Singer (1962) angeführt werden. Als Kritik an der James-Lange-Theorie, nämlich dass das emotionale Erleben in seiner qualitativen Vielfalt einzig auf die körperliche Veränderung zurückzuführen sei, postulierten Schachter und Singer, unter Bezugnahme auf eine selbst entwickelte Studie, in der sie mittels Adrenalininjektion eine physiologische Erregung bei Versuchspersonen induzierten, dass die körperlichen Veränderungen lediglich für die Intensität der Emotion verantwortlich seien; welche emotionale Qualität hingegen entsteht, ergibt sich aus der Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung der jeweiligen Situation (vgl. Schachter und Singer 1962, S. 380 f.). Emotionen entstehen also in der, am zweithäufigsten zitierten, Emotionstheorie von Schachter und Singer aus dem Jahre 1962 durch die kognitive Interpretation einer generellen, physiologischen Erregung. Spannenderweise wird dieses (Zweistufen-)Modell in der Literatur entweder für die kognitiven Bewertungstheorien herangezogen, indem der interpretative Aspekt hervorgehoben wird (vgl. hierzu bspw. Myers 1998 oder Niedenthal et al. 2006), oder aber das Modell wird als Weiterentwicklung der James’schen Sichtweise im Kontext physiologischer, evolutionstheoretischer oder neurobiologischer Perspektiven verstanden (vgl. hierzu bspw. Cornelius 1996 oder Mandler 2003). Diese unterschiedlichen Lesarten verdeutlichen, dass im Hinblick auf die Frage nach der Entstehung von Emotionen beide der soeben skizzierten Sichtweisen auf je unterschiedliche Weise Geltung beanspruchen und dass es daher Sinn macht, diese vermeintlich widerstreitenden Perspektiven zusammenzuführen. Wie bereits im Kontext anthropologischer Überlegungen zur Verschränkung von Körper und Geist, braucht es auch innerhalb emotionstheoretischer Überlegungen eine holistisch integrative Perspektive auf das interdependente Verhältnis von körperlichen und kognitiven Prozessen. Diese Verschränkung soll im Folgenden durch die systematische Suche nach Gemeinsamkeiten innerhalb beider Erklärungsansätze zur Entstehung von Emotionen ermöglicht werden, um so wiederum eine neue und gewinnbringende Perspektive auf Bildung von und durch Emotion zu ermöglichen, die einerseits dem aktuellen, emotionstheoretischen Forschungs- und Wissensstand gerecht wird und andererseits wesentliche Impulse für die Gestaltung zukünftiger, bildungswissenschaftlicher Forschungsbemühungen eröffnet. Besonders deutlich wird das interdependente und dynamische Verhältnis von körperlichen Veränderungen und kognitiven Bewertungen unter Berücksichtigung der basalen Funktion von Emotion, der grundlegenden Emotionstypen sowie der Wirkung, der Wahrnehmung und des Ausdrucks von Emotionen.
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3.3 Die Funktion von Emotionen In den Ausführungen zur Genese des Verhältnisses von Bildung und Emotion wurde deutlich, dass bereits in der Antike Vorstellungen darüber existierten, dass Emotionen durchaus bestimmte Funktionen für die Entwicklung des Menschen erfüllen und nicht nur als Begleiterscheinungen des Denkens und/oder Handelns verstanden werden können. Im Anschluss an die Biologie des Geistes (vgl. Maturana und Valera 1987) und unter Rückgriff auf systemtheoretische und verhaltensbiologische Grundannahmen entwickelte sich im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen die Vorstellung des Körpers als ein ganzheitliches, natürliches System, das permanent mit seiner Umwelt interagiert und nach bestimmten Funktionsprinzipien organisiert ist. Emotionen werden in diesem Zusammenhang als ein natürlicher und konstitutiver Bestandteil des Körpers als ganzheitlicher Organismus verstanden. Im Besonderen wird dabei die Bedeutung der Selbstregulation und Selbsterhaltung des Organismus hervorgehoben, die vielen Emotionstheorien (vgl. bspw. Lazarus 1991; Pankseep 1998; Scherer 2001; Damasio 2001, 2007a, 2010; Thagard 2010; Barrett 2015) ebenso inhärent ist, wie das sich daran anschließende Prinzip der Homöostase. Im Kontext neurobiologischer Erklärungsansätze wird unter anderem auf das Konzept der Allostase rekurriert (vgl. Barrett 2017, S. 3), da es im Gegensatz zur Homöostase dem Gehirn und nicht dem gesamten Körper die Regulationshoheit zuspricht. In beiden Fällen aber sind Emotionen ein wesentlicher Bestandteil des sich-selbst-erhaltenden, inneren Gleichgewichtszustands des Organismus. Auch wenn die selbstregulativen Prozesse aus evolutionstheoretischer Perspektive anfangs noch relativ unspezifisch waren, so etablierte sich im Laufe der Phylogenese ein differenziertes und mehrstufiges Organisationsprinzip der homöostatischen Lebenserhaltung, auf das bereits Charles Darwin (2000 [1859]) in „Über die Entstehung der Arten“ hingewiesen hat. Im Laufe der Evolution konnten sich also spezifische Mechanismen entwickeln, mit deren Hilfe der Organismus ein Ungleichgewicht nicht nur regulieren, sondern auch voraussehen kann. Gleichzeitig ermöglichen diese Mechanismen die Exploration von Umwelt und Umgebung, die in weiterer Folge eine Lösung für artspezifische Probleme bieten und somit das eigene Überleben sichern. Zwischen den unterschiedlichen, emotionstheoretischen Positionen als auch innerhalb der somatischen und kognitiven Erklärungsansätze gibt es durchaus unterschiedliche Zugangsweisen in der Beschreibung der Mechanismen der Selbsterhaltung und -regulation, die, wie bereits in der Antike, wiederum stark von den ihnen zugrunde liegenden,
3.3 Die Funktion von Emotionen
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anthropologischen Vorstellungen geprägt sind. Gleichzeitig wird aber übereinstimmend davon ausgegangen, dass Emotionen die hierarchisch höchste und wichtigste Stufe der Aufrechterhaltung und Steuerung des Organismus darstellen. Antonio Damasio (2007b) hat hierfür die sehr einfache, aber durchaus treffende, Metapher eines Laubbaumes gewählt, der das Zusammenspiel der sich selbst erhaltenden Regulationsprinzipien vom Einfachen zum Komplexen verdeutlichen soll: Auf der niedrigsten Stufe, der Ebene des Baumstamms, finden sich Stoffwechselprozesse, die für den Energiehaushalt und die Regulation von Herzfrequenz und Blutdruck zuständig sind, Grundreflexe, wie bspw. Schreckreaktionen oder Thermoregulationsprinzipien, sowie das Immunsystem, das die innere und äußere Unversehrtheit des Organismus gewährleistet. Auf der mittleren Ebene der großen Zweige finden sich, mit der vorherigen Ebene in engem Zusammenhang stehende, Reaktionen, die mit Schmerz- und Lustverhalten einhergehen, wie das angeborene Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten. Auf der nächsthöheren Ebene, in der die Zweige bereits viele kleine Verästelungen zeigen, finden sich die natürlichen Triebe und Motivationen, wie bspw. Hunger, Durst oder Sexualität. Und erst in der Baumkrone, auf der Ebene des Blätterdickichts finden sich die Emotionen und Gefühle, als die höchste und gleichzeitig wichtigste Ebene der Selbstregulation des Organismus (vgl. Damasio 2007b, S. 41–48). Auch wenn man berechtigterweise die biologistische Sichtweise dieser Metapher kritisieren kann, so verdeutlicht sie doch zweierlei: Zum einen wächst ein Baum stets weiter und verändert sich je nach Wind- und Wettereinfluss oder geographischer Lage jeweils anders, auch wenn seine genetische Disposition vorbestimmt ist. Ähnlich wie zuvor bei Schachter und Singer, kann auch hier davon ausgegangen werden, dass es einerseits einen generellen, physiologischen Entwurf respektive ein biologisches Programm gibt, dass sich aber die Wahrnehmung und Interpretation respektive die Ausdifferenzierung und Entwicklung im Laufe des Lebens durch Erfahrung ändern. Dieses Sinnbild betrifft also sowohl die Entstehung einer Emotion als Folge eines irgendwie gearteten Reizes als auch die Entwicklung von Emotionen und Emotionsregulationsmechanismen im Laufe der Ontogenese. Zum anderen verdeutlicht die Metapher des aufsteigenden Baumes, dass zwar alle Mechanismen der Aufrechterhaltung und Steuerung des Organismus dienen, die einfachen Reaktionen allerdings Teilelemente der komplexeren Reaktionen sind. Auch wenn im Sinne systemtheoretischer Überlegungen hier kein lineares, hierarchisches Verhältnis angenommen werden kann und auch nicht die Vorstellung eines kausalen, unveränderlichen respektive vorprogrammierten Reaktionsprinzips impliziert werden soll, stehen die Ebenen dennoch in Wechselwirkung zueinander. Somit steuern und regulieren Emotionen in Reziprozität mit den anderen Mechanismen
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die Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichtszustandes und geben zudem darüber Auskunft, ob und wo gerade ein Ungleichgewicht vorherrschend ist oder eben nicht bzw. wo und wann eines erwartet werden könnte und wie damit umzugehen wäre. Die im Folgenden näher beschriebenen zwei grundlegenden Formen von Emotionen werden diese basale Funktion der Lebenserhaltung und -regulation von Emotionen nochmals verdeutlichen und sollen gleichzeitig die Notwendigkeit der Verschränkung kognitiver Bewertungen und körperlicher Veränderungen im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen unterstreichen.
3.4 Die Formen von Emotionen Innerhalb der somatischen und kognitiven Erklärungsansätze zur Entstehung von Emotion lassen sich zwei grundlegende Emotionstypen voneinander unterscheiden, die auf die Bedeutung einer integrativen Perspektive auf Emotion unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Entwicklung aufmerksam machen und somit aus pädagogischer Perspektive besonders relevant erscheinen: (A) Primäre bzw. universelle Emotionen, auch Basisemotionen (basic emotions) oder Grundemotionen (universal emotions) genannt, werden als präorganisierte und somit angeborene und kulturunabhängige Phänomene verstanden (vgl. Ekman und Cordaro 2011, S. 368 f.). Je nach Autor*in werden hier meist zwischen sechs und neun diskrete Emotionen unterschieden (vgl. hierzu die Übersicht von Tracy und Randels 2011). Am häufigsten werden dabei die folgenden sieben (bzw. acht) emotionalen Qualitäten angeführt: Furcht bzw. Angst, Wut bzw. Ärger, Glück bzw. Freude, Interesse bzw. Neugierde, Trauer, Ekel, Überraschung sowie, je nach Bezugsautor*in aber seltener, Verachtung bzw. Hass. Auch wenn die Universalisierungshypothese derVertreter*innen der Basisemotionstheorie – nämlich, dass sich primäre Emotionen in allen Kulturen gleichermaßen wiederfinden – kritisch diskutiert wird und im Hinblick auf den mimischen Emotionsausdruck (facial expression) als sehr unwahrscheinlich gilt (vgl. bspw. Jack et al. 2012), so lässt sich doch übereinstimmend konstatieren, dass es ein Set von präorganisierten, basalen somatischen Reaktionen, sogenannte „core affects“ (Barret 2015, S. 64), gibt, die mit spezifischen emotionalen Qualitäten einhergehen. Dies gilt auch dann, wenn man konzeptuell davon ausgeht, dass sich Emotionen aus unterschiedlichen Komponenten oder Dimensionen zusammensetzen. Wichtig ist es hin-
3.4 Die Formen von Emotionen
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gegen zu betonen, dass primäre Emotionen ontogenetisch eine zentrale Voraussetzung für gelingende Entwicklungsprozesse darstellen, da sie dem Organismus von Geburt an ermöglichen adäquat auf Veränderungen in der Umwelt zu reagieren (vgl. bspw. McDougall 1923; Izard 2009; Ekman und Cordaro 2011). Die Kulturunabhängigkeit, bspw. von Angst, äußert sich somit nicht im universalen Emotionsausdruck, sondern vielmehr in der emotionalen Wahrnehmung einer als subjektiv äußerst bedrohlich erlebten Situation. Von den primären Emotionen gilt es nun jene zu unterscheiden, die sich im Laufe der individuellen Entwicklung, abhängig von äußeren Sozialisationsbedingungen und idiosynkratischen Voraussetzungen, ausdifferenzieren. (B) Sekundäre bzw. soziale Emotionen sind durch Erziehung und Sozialisation erlernt und entwickeln sich auf Grundlage der systematischen Verknüpfung zwischen Kategorien von Objekten, Erfahrungen oder Situation und den primären Emotionen (vgl. Huber 2013, S. 60). D. h. sie treten erst schrittweise im Laufe der individuellen Entwicklung und in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt in Erscheinung. In der Literatur werden sie mitunter auch als self-conscious emotions bezeichnet (vgl. hierzu Tracy et al. 2007), da sie die Fähigkeit eines rudimentären Selbstkonzepts und, darauf aufbauend, die Unterscheidung von Selbst- und Objektrepräsentation voraussetzen. Manche sozialen Emotionen sind sogar auf die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, auf ein objektives Selbstbewusstsein und auf ein Bewusstsein für Regeln und Normen angewiesen. Dementsprechend gehen sie mit somatischen Veränderungen und kognitiven Bewertungen unter besonderer Berücksichtigung eigener und fremder Ziele, selbstregulativer Maßstäbe und sozialer Gegebenheiten einher (vgl. Thagard 2010, S. 99), was sie von den primären Emotionen unterscheidet. Sekundäre Emotionen sind in ihrer Erscheinung somit auch weitaus komplexer und vielfältiger als primäre Emotionen und verweisen auf ein Verständnis des eigenen Selbst und sozialer Beziehungen. Zu ihnen zählen unter anderem Mitgefühl bzw. Empathie, Verlegenheit, Scham, Stolz, Eifersucht, Schuld, Liebe, Neid, Dankbarkeit oder Bewunderung etc. All diesen Emotionen ist gemeinsam, dass sie zumindest einen sozialen Kontext respektive ein soziales Gegenüber oder die Imagination desselben voraussetzen. Mark Solms und Jaak Panksepp (2012) haben mit Bezugnahme auf Freuds Strukturmodell darauf hingewiesen, dass sowohl die primären als auch die sekundären Emotionen in erster Linie der Aufrechterhaltung, Steuerung und dem Schutz des Organismus respektive des Selbst dienen und dabei einem egozentrischen Maßstab
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unterliegen, der sich dahin gehend orientiert, Lust, Befriedigung und Wohlbefinden zu suchen sowie Schmerz, Gefahr und Ungleichgewicht zu meiden (vgl. Solms und Paankseep 2012). Auch Antonio Damasio (2007b), Lisa Barrett (2015) oder Klaus Scherer (2009) weisen auf dieses elementare LustUnlust-Prinzip hin. Auch wenn das Konzept der primären Emotionen für die körperbezogenen bzw. somatischen Perspektiven der Emotionsforschung aufgrund ihrer biologischen Determiniertheit weitaus relevanter erscheint und auch dieser Strömung konzeptuell zugeordnet werden kann, so findet sich die ursprüngliche Idee der Grundemotionen ebenso im Kontext der kognitiven Bewertungstheorien. Umgekehrt scheinen sich die bewertungstheoretischen Ansätze in den letzten Jahren wiederum stärker der sozialen Emotionen anzunehmen, wobei auch hier die Perspektive der Interpretation des sozialen Kontexts eher dieser emotionstheoretischen Strömung zugerechnet werden kann. Dennoch wird die Bedeutung der sozialen bzw. sekundären Emotionen auch im Kontext der körperbezogenen Erklärungsansätze breit diskutiert. Zudem hat Paul Ekman (1973, 2003) als zentraler Vertreter der Theorie der Basisemotionen drei Grundannahmen im Kontext der primären Emotionen formuliert, die mit den Axiomen der Bewertungstheorien ebenso übereinstimmen, wie mit der konzeptuellen Idee der sekundären Emotionen: (1) Emotionen sind diskret und somit eindeutig voneinander trennbar; (2) Emotionen haben sich durch Adaption an die Umgebung und Umwelt etabliert; (3) die Wahrnehmung, Repräsentation und Regulation von Emotionen resultiert aus Erfahrung und ist somit ein Produkt sozialen Lernens (vgl. Ekman und Cordaro 2011, S. 364). Die Beschreibung primärer und sekundärer Emotionen verdeutlicht neben der Relevanz ontogenetischer Entwicklungsprozesse die zentrale Stellung der sozialen Umwelt, sei es im Kontext der Wahrnehmung und Regulation von primären Emotionen oder aber in der Entwicklung und Ausdifferenzierung sekundärer Emotionen. Denn nicht nur die meisten Emotionsregulationsmechanismen, sondern auch die meisten emotionalen Qualitäten entwickeln sich erst im Laufe des Lebens durch die Auseinandersetzung und Beziehung mit Personen und Objekten der eigenen Lebens- und Lerngeschichte. Eine weitere gewinnbringende Perspektive auf die Konstitution von Emotion und das Zusammenspiel körperlicher Veränderungen und kognitiver Bewertungen in Abhängigkeit von der sozialen Umwelt ermöglicht der Blick auf die Wirkungsweise von Emotionen.
3.5 Die Wirkung von Emotionen
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3.5 Die Wirkung von Emotionen Charles Darwin (1872) widmete sich, nachdem er seine Grundgedanken über die Entstehung der Arten (2000 [1859]) abgeschlossen hatte, ebenso dem Emotionsausdruck bei Menschen und Tieren und postulierte erstmals die Annahme, dass sich Emotionen aus mehreren Komponenten zusammensetzten. In seiner Studie, in der er unter anderem den Emotionsausdruck von Kindern, Tieren und Menschen mit Behinderung einander gegenüberstellt und analysiert, unterscheidet er (1) die Mimik und Gestik, (2) die körperliche Veränderung und (3) die jeweils typischen Verhaltensweisen von Emotionen (vgl. Darwin 1872, S. 318 f.). Mit der kognitiven Wende und der epistemologischen Neuausrichtung der Psychologie gewann dieser Ansatz ab den 1970er Jahren wieder an Bedeutung. Im Besonderen die Vorstellung und das Versprechen der Operationalisierbarkeit von Emotionen machten jene Modelle für empirische Forschungsbemühungen besonders attraktiv. In der Beschreibung der Wirkungsweise von Emotionen rekurrieren daher viele Forscher*innen auf sogenannte Mehrkomponentenmodelle von Emotion. In Anlehnung an Carroll Izard (1999), Klaus Scherer (1984b, 2005), Paula Niedenthal et al. (2006), Johnny Fontaine et al. (2007) sowie Paul Thagard und Brandon Aubie (2008) lassen sich dabei (zumindest) die folgenden sechs Komponenten von Emotionen unterscheiden: (1) die physiologischen Veränderungen, (2) der motorische und expressive Ausdruck, (3) Aktions- und Motivationstendenzen, (4) kognitive Bewertungen und Vorstellungsbilder, (5) die subjektive Empfindung sowie (6) Emotionsregulationsmechanismen. Die physiologische Veränderung beinhaltet körperinterne Prozesse wie bspw. Herzfrequenz, Hormonhaushalt oder Drüsensekretion; der motorische und expressive Ausdruck bezieht sich auf Gestik und Mimik, die mit der Emotion einhergeht; die Aktions- und Motivationstendenzen spiegeln das Fight-Flight-Freeze-Prinzip wider bzw. signalisieren welches Verhalten situationsspezifisch am zweckdienlichsten wäre; die kognitiven Bewertungen und Vorstellungsbilder meinen die Interpretation und Bewertung der emotionsauslösenden Situation mit all ihren mentalen Repräsentationen; die subjektive Empfindung meint das eigentliche Gefühl bzw. das individuelle Erleben der Emotionen; und die Emotionsregulationsmechanismen beziehen sich auf die Art und Weise, wie mit der jeweiligen Emotion umgegangen wird (bspw. Abwehr, Modulation oder Neubewertung). Auch wenn die Beschreibung der einzelnen Komponenten für sich durchaus nachvollziehbar ist und sie die Möglichkeit bieten, die Wirkungsweise von
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Emotionen multiperspektivisch zu beschreiben, so ist die Trennschärfe zwischen ihnen durchaus problematisch. Beispielsweise ist die retrospektive Unterscheidung zwischen Aktionstendenz und kognitiver Bewertung ebenso fraglich, wie die Differenz zwischen physikalischer und psychologischer Bedeutung eines Reizes. Es verwundert daher auch nicht, dass es bisher keine empirischen Studien gibt, die alle sechs Komponenten von Emotionen berücksichtigen konnten, da eine klare Differenzierung empirisch schlichtweg unmöglich ist (vgl. Fontaine et al. 2007, S. 1050). Daher wird in den bewertungstheoretischen Zugängen auch versucht, die Wirkung von Emotionen durch die Bestimmung von Kriterien respektive spezifischen Dimensionen zu beschreiben, die dem emotionskonstituierenden Prozess zugrunde liegen. Klaus Scherer (1984a, 2009), als ein zentraler Vertreter der cognitve appraisal theories, geht in seinem „Komponenten-Prozess-Model der Emotion“ davon aus, dass Ereignisse oder Situationen nach verschiedenen Kriterien, sogenannten stimulus evaluation checks (SECs), sequenziell bewertet werden: (1) Relevanz, (2) Auswirkung/ Implikation, (3) Bewältigungspotential und (4) normative Bedeutung (vgl. Scherer 2009, S. 1309). Scherer, der Emotionen ebenso als psychobiologisch-kulturelle Adaptionsmechanismen versteht, verdeutlicht durch diese Bewertungskriterien, dass das subjektive Erleben einer Emotion keinesfalls mit den objektiven Charakteristika des Ereignisses zusammenhängen muss. Zudem verweist er darauf, dass die Bewertung oft automatisch und somit nicht-bewusst abläuft, keine einmalige Reaktion ist, sondern sich wiederholt und – noch wichtiger – sich verändern kann und dass die jeweiligen Bewertungskriterien voneinander wie auch von anderen psychischen Prozessen und habituellen Merkmalen abhängig sind. Das Gefühl der Emotion – eine wesentliche Unterscheidung im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen werden wird – entsteht laut Klaus Scherer durch die kombinierte Wahrnehmung und Verarbeitung der Informationen über die subjektive Bewertung, die körperlichen Reaktionen, das Ausdrucksverhalten und die Verhaltenstendenzen. Diese Gefühle wiederum beeinflussen den Bewertungsprozess bzw. wirken auf ihn ein und verändern sich somit ständig (vgl. Scherer 2009, S. 1318–1321). Ähnlich wie Klaus Scherer die Kritik an der Zweidimensionalität von Emotion in den Bewertungsansätzen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, schlagen auch Fontaine et al. (2007) unter Berücksichtigung der sechs Komponenten vor, Emotionen anhand von vier Wahrnehmungsdimensionen zu operationalisieren: (1) Bewertung angenehm/unangenehm (evaluation-pleasantness), (2) Fähigkeit zur Kontrolle (potency-control), (3) Aktivierung der Erregung (activation-arousal) und (4) Vorhersehbarkeit/
3.5 Die Wirkung von Emotionen
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Unvorhersehbarkeit (unpredictability) (vgl. Fontaine et al. 2007, S. 1054). Am Ende ihrer Studie kommen sie zwar zu dem Schluss, dass zukünftig (zumindest) diese vier Wahrnehmungsdimensionen in der Erforschung von Emotionen zu berücksichtigen seien, führen aber nicht näher aus, welchen Vorteil die einzelnen Dimensionen, bspw. die Vorhersagbarkeitsdimension gegenüber der Dimension der normativen Bedeutung bei Scherer (2009), haben und warum sich jene besonders zur Abbildung des emotionskonstituierenden Prozesses eignen. Zudem macht Lisa Barrett (2012) darauf aufmerksam, dass diese Dimensionen dem Charakter der Wirkungsweise von Emotionen kaum gerecht werden, sondern suggerieren, dass Emotionen als konkret fassbare Entitäten in Erscheinung treten und somit „ontologisch objektiv“ bestimmbar wären (vgl. Barrett 2012, S. 416 f.). Des Weiteren wird die Komplexität solcher Modellvorstellungen, wie jenen von Scherer (2009) und Fontaine et al. (2007), kritisiert, da sie als Ganzes aufgrund ihrer Vielschichtigkeit empirisch nicht überprüft werden können (vgl. Schmidt-Atzert et al. 2014, S. 143). Einen weiteren Einwand gegen die Komponenten-Dimensionen-Operationalisierungsidee haben Robinson und Clore (2002) vorgebracht. Sie postulieren, dass man im Allgemeinen zwischen einer aktuellen Emotion bzw. emotionalen Episode (current emotion) und emotionalen Überzeugungen (beliefs about emotions), ähnlich der state-trait-Differenz, unterscheiden müsse: Während emotionale Überzeugungen semantisch, konzeptuell und kontextunabhängig sind, treten aktuelle Emotionen episodisch, erfahrungsabhängig und kontextgebunden in Erscheinung (vgl. Robinson und Clore 2002, S. 956 f.). Diese Differenz wird zwar weder in den Wahrnehmungsdimensionen noch den stimulus evaluation checks berücksichtigt, gleichzeitig muss Robinson und Clore (2002) aber auch entgegengehalten werden, dass sie aus empirischer Perspektive kaum aufrechtzuerhalten ist. Ein weiterer Kritikpunkt an den konzeptuellen Überlegungen der bewertungstheoretischen Zugänge ist, dass sie die Variabilität (die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Emotionen), die Interdependenz (die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von Emotionen) sowie die Kontingenz (die Veränderbarkeit einer emotionalen Qualität über die Zeit) des subjektiv emotionalen Erlebens nicht ausreichend berücksichtigen (vgl. Huber 2018, S. 97). Gleichzeitig muss all diesen kritischen Einwänden entschieden entgegengebracht werden, dass die einzelnen Dimensionen und Kriterien hervorragend für spezifische Fragestellungen adaptiert und je nach Erkenntnisinteresse modifiziert werden können; sie ermöglichen es also sehr wohl, je nach Erkenntnisinteresse einen spezifischen Ausschnitt der emotionalen Wirklichkeiten zu erfassen. Auch Klaus Scherer (2005) verweist diesbezüglich auf die Notwendigkeit der Passung von Methode und Gegenstand respektive auf die Adaption komplexer
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3 Emotion und Gefühl – Eine systematische …
Modelle für spezifische Forschungsvorhaben im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen (vgl. Scherer 2005, S. 719). Dementsprechend sind die Mehrkomponentenmodelle, die sich auch bei den körperbezogenen Erklärungsansätzen durchgesetzt haben, eine weitere gewinnbringende Perspektive im Versuch der Konzeption einer holistisch integrativen Perspektive auf Emotion. Zum einen ermöglichen sie theoretisch eine detaillierte Beschreibung der unterschiedlichen Wirkungsweisen von Emotionen und zum anderen eignen sich die einzelnen Dimensionen und Kriterien, je nach Erkenntnisinteresse, besonders für die Implementierung in spezifische Forschungsdesigns. Des Weiteren verdeutlichen die bewertungstheoretischen Ansätze, dass jedes Wahrnehmungsmuster, jeder Reiz, jede Situation und jede Erfahrung immer schon emotional bewertet wurde, um überhaupt Teil der bewussten Aufmerksamkeit zu sein. In diesem Sinne sind Emotionen und emotionale Bewertungen Voraussetzungen der Komplexitätsreduktion von Wirklichkeit: Sie ermöglichen es, trotz der Fülle an internen und externen Reizen, fortlaufend inhaltliche Priorisierungen zu treffen, die wiederum Voraussetzung für Konzentration und Aufmerksamkeit sind. Im Folgenden soll anhand der begrifflichen Unterscheidung von Emotion und Gefühl, die sich bereits in der Beschreibung der einzelnen Komponenten von Emotion wiederfindet, der konstitutive Zusammenhang von Wahrnehmung und Ausdruck im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen als eine weitere Gemeinsamkeit der kognitiven und körperbezogenen Ansätze thematisiert werden.
3.6 Die Wahrnehmung und der Ausdruck von Emotionen Unabhängig der jeweiligen Positionierung und des anthropologischen Hintergrunds aktueller emotionstheoretischer Vorstellungen findet sich innerhalb der meisten Emotionskonzepte die sprachliche und konzeptuelle Differenz von Emotion und Gefühl. Das Gefühl (feeling) bzw. das Gefühl einer Emotion (the feeling of the emotion) wird dabei als die bewusste Wahrnehmung von Körperzustandsveränderungen gemeinsam mit den sie begleitenden Vorstellungsbildern, subjektiven Bewertungen und mentalen Repräsentationen verstanden (vgl. bspw. Damasio 2001, 2007; Goldie 2002; Kochinka 2004; Barrett 2005, 2012; Scherer 2009; Thagard 2010). Die Bezeichnung Gefühl verweist somit auf das subjektive Erleben und die bewusste Wahrnehmung von Emotionen, die dem Individuum vorbehalten bleibt. D. h. während die Emotion (Ausdruck) als expressiv-affektive Reaktion des Gegenübers erkannt und interpretiert werden kann, entziehen
3.6 Die Wahrnehmung und der Ausdruck von Emotionen
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sich das subjektiv erlebte Gefühl (Wahrnehmung) bzw. der intentionale Gehalt der Emotion sowie die spezifischen Vorstellungsbilder, Repräsentationen und Bewertungen, die mit der Emotion einhergehen, der Beobachterperspektive (vgl. Huber 2013, S. 58 f.): Wenn z. B. eine junge Referentin im Rahmen einer Tagung plötzlich aufgefordert wird ihre Präsentation vorzuziehen, da eine Kollegin krankheitsbedingt absagen musste, ist es durchaus vorstellbar, dass sie in den ersten Minuten mit brüchiger Stimme spricht, leicht zittert, vielleicht zu oft lächelt, beim ersten hörbaren Versprecher rot anläuft und ihr nach dem dritten Fehler bereits Tränen in den Augen stehen. Vielleicht bricht sie die Präsentation ab oder vielleicht hält sie kurz inne, um durchzuatmen und etwas zu trinken. Den meisten sind solche Situationen bekannt und viele würden dieses Verhalten als eine klassische Stressreaktion interpretieren, vermutlich ausgelöst durch die berechtigte Angst, unerwartet vor einer großen Menge an Personen zu sprechen. Und einige der Anwesenden würden vermutlich, bestärkt durch ähnliche Erfahrungen und motiviert durch die eigene emotionale Betroffenheit, aufmunternde Worte finden oder mit tröstend verständnisvollen Gesten versuchen der jungen Kollegin beizustehen. Allerdings wäre es durchaus möglich, dass nicht die unerwartete Aufforderung, die Situation des Vortragens oder aber der Sprechakt selbst die emotionsauslösende Situation bedingt, sondern dass der Hinweis auf die erkrankte Kollegin die Vortragende an ihre kürzlich verstorbene Mutter erinnert und dass ihre eigene Betroffenheit und innerliche Verletzlichkeit das, in der Situation zu beobachtende, Verhalten auslösen. Dieses Beispiel, das sich nahezu auf jeden pädagogischen Kontext übertragen lässt, verdeutlicht, dass die Differenz von (Emotion als) Ausdruck und (Gefühl als) Wahrnehmung eine notwendige Voraussetzung im wissenschaftlichen Nachdenken über und in der methodischen Herangehensweise an Emotion darstellt und dass Emotionen (und ihre Auslöser) sowie Gefühle (und ihr intentionaler Gehalt) immer von der eigenen Lebenswirklichkeit abhängig sind. Besonders im Kontext der emotionalen Valenz muss dies immer berücksichtigt werden. Auch wenn aus evolutionstheoretischer und phylogenetischer Perspektive Emotionen als Mechanismen der Lebenserhaltung immer Berechtigung haben, ist das subjektive Erleben der jeweiligen Situation durchaus von positiven und negativen Konnotationen geprägt. Gleichzeitig kann ein in der Vergangenheit als emotional negativ konnotiertes Ereignis aus subjektiver Perspektive sehr wohl positive Folgen zeitigen und somit in der gegenwärtigen Beschreibung als emotional positiv konnotierte Erfahrung reflektiert werden. Diese Subjektivität der Emotionalität zeigt sich auch in den sozialen Dimensionen von Emotion. Wie Christian von Scheve (2013) herausgearbeitet hat, können bspw. starke, negative
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3 Emotion und Gefühl – Eine systematische …
Emotionen für die Konstitution sozialer Gruppen maßgeblich verantwortlich sein und gleichzeitig können positive Emotionen die Solidarität innerhalb von und die Integration zwischen sozialen Gruppen hemmen oder sogar verhindern (vgl. von Scheve 2013, S. 75 ff.). D. h. selbst in sozialen Gruppen respektive im Kontext kollektiver Emotionen wird die Subjektivität der Emotionalität deutlich. Ob und inwiefern bspw. negative Emotionen positive Folgen zeitigen ist wiederum abhängig von unterschiedlichen Bedingungen. Reinhard Pekrun (2006, 2018) hat in der, bereits im Abschn. 2.7.3 beschriebenen, Kontroll-Werte-Theorie der Leistungsemotionen darauf hingewiesen, dass das Aktivierungspotential bzw. das jeweilige Arousal sowohl von subjektiven Voraussetzungen und persönlichen Erwartungen als auch von äußeren Faktoren und kontextuellen Rahmenbedingungen abhängig ist (vgl. Pekrun 2006, S. 328). Wie bereits zuvor bei Klaus Scherer (2009) angedeutet, lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass das subjektive Erleben keinesfalls mit den (vermeintlich) objektiven Bedingungen erklärt werden kann, sondern dass die objektiven Bedingungen lediglich eine von mehreren Voraussetzungen für unterschiedliche, potentielle Erlebnisqualitäten der jeweiligen Erfahrung oder Situation darstellen. Um diesem Subjektivitätsanspruch gerecht zu werden schlägt Lisa Barrett (2006) vor, Emotionen von ihrer Wahrnehmung konzeptuell zu trennen: „The feeling associated with the emotion is conscious, by definition, and is available to be experienced (…) The experience of emotion is presumed to emerge when the feeling state is attended to, whether by deliberate introspection, or because the feeling state has rapid onset or intensity.“ (Barrett 2006, S. 22) Die angesprochene Bewusstseinsqualität verweist darauf, dass eine Emotion zwar grundsätzlich bewusstseinsfähig ist, jedoch nicht zwangsläufig Teil der bewussten Aufmerksamkeit sein muss, wohingegen Gefühle immer Teil der bewussten Wahrnehmung sind. Wie Piotr Winkielman und Kent Berridge (2004) in einer Studie zeigen konnten, nehmen nicht-bewusste Emotionen in nicht geringem Ausmaß Einfluss auf Bewertungsprozesse und in weiterer Folge auf spezifische Verhaltenstendenzen, ohne aber Teil eines bewussten Gefühls sein zu müssen (vgl. Winkielman und Berridge 2004, S. 121 f.). Im Kontext der notwendigen Komplexitätsreduktion von Wirklichkeit macht Beatrice de Gelder (2005) überdies darauf aufmerksam, dass sich die Bewertung spezifischer emotionsauslösender Situationen keineswegs bewusst vollzieht. Um die Komplexität der visuellen (und auditiven) Wahrnehmung des emotionalen Ausdrucks in Mimik und Gestik zu minimieren, sind wir auf die nicht-bewusste Verarbeitung emotionaler Prozesse angewiesen (vgl. de Gelder 2005, S. 140). Selbst für das Erkennen von und Reagieren auf Emotionen braucht es keine bewusste Reflexion bzw. den bewussten Abgleich mit bisherigen Erfahrungen (vgl. Lundquist
3.6 Die Wahrnehmung und der Ausdruck von Emotionen
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und Öhman 2005). Wichtig scheint im Kontext der Bewusstseinsqualität von Emotion allerdings die Betonung auf „nicht-bewusste“ Emotionen. Unbewusste Phänomene im Sinne der tiefenpsychologischen Terminologie sind dem Bewusstsein nicht zugänglich und äußern sich lediglich in maskierter Gestalt, bspw. in Form von Fehlleistungen oder Symptomen. Nicht-bewusste Emotionen wie auch nicht-bewusste emotionale Reaktionen sind der bewussten Wahrnehmung durch Fokussierung und Reflexion allerdings sehr wohl zugänglich; und auch dies gilt wiederum unabhängig von der Annahme ihrer Entstehung. Für pädagogische Überlegungen ist dies eine entscheidende Differenz, weil sie die Idee der Unveränderlichkeit und finalen Prägung emotionaler Prozesse und somit eine deterministische Perspektive auf Menschsein klar ablehnt und gleichzeitig auf die Notwendigkeit der Bildung von (und durch) Emotionen als lebensbegleitenden Prozess verweist. Die Differenz von Emotion und Gefühl verdeutlicht des Weiteren die komplementäre Gleichzeitigkeit und interdependente Verwobenheit von Emotion und Kognition. Denn das bewusste Gefühl beinhaltet neben den von außen beobachtbaren Ausdrucks- und Verhaltensweisen sowie den internalen, körperlichen Veränderungen, die der Beobachterperspektive nur zum Teil zugänglich sind, auch die Interpretationen und Bewertungen der emotionsauslösenden Situation sowie die Vorstellungsbilder und Repräsentationen bisheriger Erfahrungen, die mit der jeweiligen Emotion einhergehen. Und dies betrifft nicht nur reale, sondern besonders imaginative Emotionen. Imaginative Emotionen, die weitaus häufiger sind als reale, aktuelle emotionale Reaktionen, scheinen nämlich noch stärker auf kognitive Prozesse angewiesen zu sein: Im Kontext sogenannter Als-Ob-Mechanismen (bzw. Als-Ob-Schleifen) wird anstelle der realen Körperzustandsveränderungen eine symbolische (Als-Ob-)Verarbeitung simuliert, um schneller und effizienter auf notwendige Adaptions- und Regulationsmechanismen zugreifen zu können (vgl. Damasio 2001, S. 252). Die Wahrnehmung imaginativer Emotionen im Kontext der Als-Ob-Mechanismen wurde in weiterer Folge als eine Voraussetzung von Empathie (vgl. Rizzolatti und Sinigaglia 2008) und Intuition (vgl. Schröder et al. 2014) beschrieben. Erst die körperliche und kognitive Repräsentation der aus der Erinnerung abgerufenen Emotionen und die sie begleitenden Vorstellungsbilder und Bewertungen ermöglichen es zum einen, mit einer Person mitzufühlen, als ob man diese Person wäre, sowie zum anderen, sich ein zukünftiges Ereignis so vorzustellen, als ob es tatsächlich passieren würde. Lisa Barrett (2017) geht in ihrer theory of constructed emotions sogar davon aus, dass Emotionen per se Abstraktionen darstellen und in einer objektiven Wirklichkeit nicht existieren (vgl. Barrett 2006, 2012, 2017): „Emotions are
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constructions of the world, not reactions to it.“ (Barrett 2017, S. 16) Damit bringt sie zum Ausdruck, dass sich die Wahrnehmung und Bestimmung von Emotion als Entität nur auf einer subjektiven Ebene vollzieht. Tatsächlich sind Emotionen laut Barrett (2006, 2017) Konstruktionen der Erfahrung, die sich als Narrative im subjektiven Erleben festschreiben. Dabei bezieht sie sich immer wieder auf das sogenannte „Emotionsparadoxon“, das entsteht, da Emotionen im Allgemeinen zwar als beobachtbare, voneinander differenzierbare und somit beschreibbare Phänomene thematisiert werden, gleichzeitig aber die Wissenschaft bisher nicht annähernd in der Lage war, klare und konsistente Kriterien für die Beschreibung, Differenzierung und Beobachtung von Emotionen bereitzustellen. Die meisten emotionstheoretischen Studien seien zudem in sich widersprüchlich und weisen untereinander kaum Korrelationen auf (vgl. Barrett 2006, S. 23). Dies betrifft die bereits angesprochenen und z. T. widerlegten Arbeiten zum Emotionsausdruck (vgl. hierzu das Review von Mauss und Robinson 2009), die Studien zum subjektiven Erleben von Emotionen (vgl. Kuppens et al. 2013) sowie die Forschungen zur neuronalen Basis von Emotionen. Letzteres haben Kirsten Lindquist et al. (2012) in einer viel beachteten Metaanalyse herausgearbeitet, in der deutlich wird, dass es mit Blick auf die neurowissenschaftlichen Studien der letzten zwanzig Jahre kaum bzw. nur mit geringer Evidenz möglich ist, spezifische emotionale Qualitäten bestimmten Hirnregionen eindeutig zuzuordnen. Vielmehr scheint auch das Gehirn in seiner Organisation nicht zwischen kognitiven, emotionalen oder perzeptuellen Operationen zu unterscheiden (vgl. Lindquist et al. 2012, S. 139). Sowohl die Inkonsistenz innerhalb der einzelnen emotionstheoretisch-methodischen Zugänge (Ausdruck, Wahrnehmung, Gehirn) als auch das Emotionsparadoxon verdeutlichen somit das dynamische und interdependente Verhältnis von Emotion und Kognition. Abschließend sei noch auf einen letzten Aspekt im Kontext der Differenz von Ausdruck (Emotion) und Wahrnehmung (Gefühl) hingewiesen, der für die pädagogische Praxis wie auch für die bildungswissenschaftliche Forschungslandschaft und besonders für die Konzeption zukünftiger Forschungsvorhaben von zentraler Bedeutung ist. Die Interpretation des Emotionsausdrucks mit all seinen beobachtbaren Komponenten ist, wie im zuvor geschilderten Beispiel der jungen Referentin, selbst bei geschulten Personen äußerst fehleranfällig. Dies liegt bspw. nicht nur an der nicht-bewussten Komplexitätsreduktion von Wahrnehmung, an der stark kultur- und milieuspezifischen und somit individuellen Interpretation des Ausdrucks oder aber an den unbekannten (respektive imaginierten) emotionsauslösenden Ereignissen und Situationen etc., sondern auch an den eigenen, den Beobachtungs- und Interpretationsakt begleitenden, Emotionen und emotionalen Reaktionen. Daher lässt sich das Gegenüber bzw. seine Emotionen und Gefühle
3.7 Emotionale Markierungen als Integrationsmodell …
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nur dann verstehen, wenn sich beide solange darüber austauschen, bis ein Konsens bezüglich des emotionalen Ausdrucks und Erlebens gefunden wird. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Kommunikation von und über Emotionen als eine Voraussetzung des Verstehens eigenen und fremden Verhaltens. Denn erst in der sozialen Interaktion wird die Möglichkeit eröffnet, sich über die emotionsauslösenden Situationen zu verständigen, das Ausdrucksverhalten richtig zu deuten, den intentionalen Gehalt der Emotion nachzuvollziehen, die Bedeutung von Vorstellungsbildern, Bewertungen und Interpretationen zu erkennen, richtig zuzuordnen und somit Verhalten und Erleben gleichermaßen zu verstehen. Diese vier anthropologischen Implikationen – die Subjektivität, die Bewusstseinsqualität, die Interdependenz sowie die Kommunikationsbedürftigkeit – verdeutlichen den konstitutiven Charakter der konzeptuellen (aber nicht kategorischen) Trennung von Emotion (Ausdruck) und Gefühl (Wahrnehmung). Besonders für bildungswissenschaftliche Überlegungen scheint es sinnvoll diese vier Implikationen in der Konzeption zukünftiger Forschungsvorhaben stärker zu berücksichtigen. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden unter besonderer Berücksichtigung der bisherigen Überlegungen aus den körperbezogenen und kognitiven Erklärungsansätzen der Emotionsforschung eine Arbeitsdefinition von Emotion vorzulegen, die eine gewinnbringende Perspektive auf Bildung von und durch Emotion ermöglicht und sich in weiterer Folge für die pädagogische Forschungspraxis eignet.
3.7 Emotionale Markierungen als Integrationsmodell emotionstheoretischer Positionen Mit Blick auf die Gemeinsamkeiten der körperbezogenen und kognitiven Erklärungsansätze zur Entstehung und zum Wesen von Emotionen und unter Berücksichtigung der basalen Funktion, der zentralen Formen, der einzelnen Wirkungskomponenten sowie des Ausdrucks und der Wahrnehmung von Emotionen wird besonders die soziale Dimension bzw. die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Sozialität und sozialen Interaktionen deutlich. Emotionen sind weder einzig und allein auf die Wahrnehmung somatischer Veränderungen reduzierbar, noch dürfen sie lediglich als das Resultat kognitiver Phänomene verstanden werden: Vielmehr sind Emotionen in einem sozio-kulturellen Kontext geformte idiosynkratische Konstruktionen der Bewertung von Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte, die sich in ihrer Wirkung sowohl körperlich, kognitiv und sozial manifestieren als auch in ihrer Entstehung durch körperliche, kognitive und soziale Bedingungen konstituieren.
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Somit wird es dem Organismus respektive dem Selbst im Laufe der individuellen Entwicklung erst im Zusammenspiel der idiosynkratischen Konstruktionen von Bewertungen, der sozialen Interaktionen und der körperlichen Prozesse möglich, neben der Regulation und Adaption auch jene Antizipationsleistungen zu vollziehen, die eine Voraussetzung für höhere kognitive Fähigkeiten respektive Metakompetenzen darstellen. Im Anschluss an die theoretischen Arbeiten von Lisa Barrett (2015, 2017), Paul Thagard (2006, 2010), Klaus Scherer (2009), Antoine Bechara (2004), Antonio Damasio (2007a, 2010) und Wiltrud Gieseke (2016) und mit Bezug auf zwei theoretische Vorarbeiten des, in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Forschungsprojekts (vgl. Huber 2018 sowie Huber 2019b), soll der Interdependenz zwischen Konstruktion, Bewertung, Interaktion und Körperlichkeit durch das Konzept der emotionalen Markierungen Ausdruck verliehen werden. Dabei ist die These leitend, dass Emotionen im Zusammenspiel von körperlichen Prozessen, sozialen Interaktionen und kognitiven Bewertungen ihre Regulations-, Adaptions-, Evaluations- und insbesondere ihre Antizipationsfunktion in Form emotionaler Markierungen voll entfalten können. Die folgenden Ausführungen gliedern sich nach einer kurzen Definition in Thesen und verstehen sich als Synthese der zuvor beschriebenen Gemeinsamkeiten emotionstheoretischer Positionen (vgl. hierzu die Aufzählung a-m in: Huber 2018, S. 101–103, die als konzeptuelle Vorarbeit für die Weiterentwicklung der nachfolgenden Thesen herangezogen wird): Emotionale Markierungen werden verstanden als die bewusste und nichtbewusste emotionale Bewertung von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte. (1) Emotionale Markierungen evaluieren und antizipieren zukünftige Ereignisse aufgrund der Bewertung vorhergehender Erfahrungen. Dies wiederum ermöglicht ihnen grundlegende Transfer- und Vermittlungsleistungen für die Bewältigung unbekannter Situationen und Herausforderungen zu erbringen. (2) Emotionale Markierungen konstituieren und manifestieren sich in Ausdruck und Wahrnehmung somatischer Prozesse und kognitiver Repräsentationen in Abhängigkeit des soziokulturellen Kontextes und der jeweiligen sozialen Interaktionen. Demnach konstituieren sie sich fortlaufend als Reaktion auf ein reales oder imaginatives, äußerliches oder innerliches Ereignis sowohl als spezifische Körperzustandsveränderung als auch als Reaktion der kognitiven Bewertung des Ereignisses in Abhängigkeit von der sozialen Umwelt. Diese Trias in der Entstehung und Wirkung von emotionalen Markierungen ermöglicht die kontinuierliche Kategorisierung von Wahrnehmung und Erfahrung im simultanen Zusammenwirken von Introspektion und Extrospektion.
3.7 Emotionale Markierungen als Integrationsmodell …
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(3) Die Regulations-, Adaptions-, Evaluations- und Antizipationsfunktion emotionaler Markierungen vollzieht sich unter Berücksichtigung der dreigliedrigen Entstehung und Wirkung auf körperlicher, kognitiver und sozialer Ebene. Dieser funktionale Aspekt setzt allerdings, trotz der konzeptuellen Trennung von somatischen, kognitiven und sozialen Prozessen, ein interdependentes und monistisches Verständnis von Körper, Geist und Sozialität voraus. (4) Die Unterscheidung respektive der Grundgedanke von realen und imaginativen Emotionen hat, unter Berücksichtigung der Subjektivität von Emotionalität bzw. der Wirkung von Emotionen im Kontext der subjektiven Lebenswirklichkeit, keinerlei Einfluss darauf, ob in weiterer Folge emotionale Markierungen ihre Regulations-, Adaptions-, Evaluations- und Antizipationsleistung erbringen. Unabhängig davon, ob es sich um eine reale oder imaginative emotionale Markierung handelt, manifestieren sich der intentionale Gehalt und die subjektive Erlebnisqualität gleichermaßen. (5) Damit eng in Zusammenhang stehend, jedoch auf einem höheren Abstraktionsniveau angesiedelt, ist die Vorstellung von Emotionen als idiosynkratische Konstruktionen (der Bewertung). Das Konzept der emotionalen Markierungen soll der Vorstellung von Emotionen als narrative Konstruktionen der Wirklichkeit zwar gerecht werden, gleichzeitig aber wird damit kein Werturteil im Sinne einer Bedeutungsverschiebung emotionaler Prozesse impliziert; d. h. auch wenn emotionale Markierungen lediglich ein Spiegel der Konstruktion subjektiver Bedeutung sein mögen, sind sie gleichzeitig Voraussetzung jeglicher Bedeutungs- und Sinnzuschreibung. (6) Auch die emotionale Valenz und die Frage der Zuschreibung von emotionalen Markierungen als positiv oder negativ bzw. angenehm oder unangenehm muss mit Blick auf die Unterscheidung von Ausdruck und Wahrnehmung differenziert betrachtet werden. Damit soll nicht impliziert werden, dass emotionale Markierungen nicht als positiv oder negativ konnotiert erlebt bzw. subjektiv wahrgenommen werden, sondern dass es aus anthropologischer Perspektive und im Hinblick auf die Funktion der jeweiligen Markierung keinerlei Unterschied macht, ob sie für das Individuum als angenehm oder unangenehm in Erscheinung tritt. So können bspw. als belastend erlebte, emotionale Episoden durchaus mit positiven Effekten in Wahrnehmung und Wirkung einhergehen bzw. von positiv konnotierten emotionalen Markierungen begleitet werden, insbesondere unter Berücksichtigung eines dynamischen (und eben nicht kausalen) Verständnisses emotionaler Prozesse. Gleichzeitig können als positiv
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konnotierte emotionale Markierungen auch negative Folgen im Kontext der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit und Sozialität zeitigen. (7) Im Hinblick auf die Bewusstseinsqualität von Emotionen und die damit einhergehende Frage der pädagogischen Bezugnahme kann festgehalten werden, dass emotionale Markierungen per Definition bewusstseinsfähig respektive präflexiv sind. Dennoch erfüllen sie unabhängig davon, ob sie bewusst in Erscheinung treten oder auf einer nicht-bewussten Ebene angesiedelt sind, ihre Evaluations- und Antizipationsfunktion. Allerdings ermöglicht es ihr präflexiver Charakter sie zum Gegenstand des bewussten Nachdenkens eigenen und fremden Verhaltens sowie zum Gegenstand der Reflexion von Sinnzuschreibungen und Wirklichkeitsbezügen zu machen. Damit sind emotionale Markierungen selbst fortlaufend Regulations- und Adaptionsprozessen unterworfen. (8) Die Ubiquität, Sozialität und Dynamik emotionaler Markierungen verweisen auf die Notwendigkeit der Interaktion und Kommunikation von und durch Emotionen. D. h. emotionale Markierungen bedürfen einerseits der expliziten Kommunikation als Voraussetzung des Verstehens eigenen und fremden Verhaltens und andererseits haben sie selbst, als die bewusste und nicht-bewusste emotionale Bewertung von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte, eine Kommunikationsfunktion, indem sie es ermöglichen soziales Verhalten einzuschätzen, vorauszusehen und situationsangemessen darauf zu reagieren. (9) Die Voraussetzungen für die Möglichkeit der Modulation und Neubewertung emotionaler Markierungen ist zum einen die soeben angesprochene Kommunikation über und das Mitteilen von jenen idiosynkratischen Konstruktionen der Bewertung von Wirklichkeit. Die Nachhaltigkeit der adaptiven Passung ist allerdings von der systematischen und reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- und Lerngeschichte abhängig, in der vergangene, gegenwärtige und zukünftige Vorstellungen von Erfahrungen – hier könnte man ebenso von Konstruktionen der Erfahrung sprechen – gleichermaßen berücksichtigt werden. (10) Emotionale Markierungen entstehen im Laufe der Ontogenese und sind daher individuell sehr unterschiedlich. Sie zeichnen sich entwicklungsbedingt durch ihre qualitativen Dimensionen der Variabilität (als die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher emotionaler Qualitäten), der Interdependenz (als die gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit emotionaler Qualitäten), und der Kontingenz (als die Möglichkeit der Veränderbarkeit der emotionalen Qualität über die Zeit) aus.
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(11) Die Entwicklungsperspektive und die qualitativen Dimensionen emotionaler Markierungen verdeutlichen, dass sie ihrem Wesen nach in erster Linie ein Produkt sozialen Lernens im Sinne ihrer bio-psycho-sozialen Konstitution sind und dass sie sich im Besonderen in der subjektiven Wahrnehmung des Individuums meist auf einer präflexiven Ebene manifestieren und somit eine Beobachterperspektive, als Interpretation des affektiv-expressiven Geschehens, nicht ausreicht, um ihnen analytisch adäquat zu begegnen. Vielmehr verlangt ihre Examination die Kombination von Beobachtungsverfahren und textanalytischen Interpretationsverfahren im Kontext der systematischen und reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensund Lerngeschichte. (12) Der Begriff der Markierung versteht sich als Weiterführung der konzeptuellen Überlegungen zur Entstehung, Form, Funktion, Wirkung, Wahrnehmung und des Ausdrucks von Emotionen und verweist auf die körperlichen, kognitiven und sozialen Dimensionen von Emotionen gleichermaßen. Im Gegensatz zu Begriffen wie Evaluation, Bewertung, Beurteilung, Prüfung oder Einschätzung (respektive evaluation, appraisal, judgment, assessment, rating etc.) verdeutlicht der Markierungsbegriff, dass es sich nicht um einen reflexiven und aktiven Prozess des Be-Wertens handelt, sondern dass emotionale Markierungen und ihre b io-psycho-sozialen Funktionen als notwendige Anpassungsleistung an die jeweilige Umwelt zu verstehen sind. Zudem soll mit der Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden, dass es für eine spezifische emotionale Markierung keinen objektiven Maßstab im Sinne eines evaluativen Werturteils von richtig oder falsch gibt, sondern dass emotionale Markierungen als zentraler Bestandteil von Selbst- und Persönlichkeitsmerkmalen per se prospektiv zu verstehen sind. Der Markierungsbegriff impliziert im Vergleich zum Bewertungsbegriff zudem, dass eine Markierung keine kausale und/oder finale Operation im Sinne eines linearen Reiz-Reaktions-Schemas ist, sondern ein rekursiver und dynamischer Prozess der individuellen Erfahrung. Dies macht nochmals deutlich, dass emotionale Markierungen über die Zeit hinweg durchaus veränderbar sind, auch wenn sie als Komponenten von Persönlichkeitsmerkmalen konstitutiv für das eigene Selbstbild und im Hinblick auf ihre Regulations-, Adaptions-, Evaluationsund Antizipationsfunktion grundsätzlich stabil sind. Darüber hinaus verweist der Begriff der Markierung etymologisch – vom mittelfranzösischen marquer (Zeichen, Kennzeichen) und dem mittelhochdeutschen Mark (Grenze) – einerseits auf die Konstruktion von Narration und Bedeutung und andererseits auf die Distinguiertheit und Spezifität von Qualität, Intensität und Subjektivität der Emotionalität. Als Ergänzung sei erwähnt, dass sich der Begriff der
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emotionalen Markierung zwar immer wieder in der Literatur findet (bspw. bei Antonio Damasio, Witrud Gieseke, Janet Baker oder Paul Thagard), aber bisher nicht systematisch ausgearbeitet wurde, mit Ausnahme der Vorarbeiten der hier vorliegenden Arbeit. Im Sinne der Forderung eine eigene Arbeitsdefinition im Rahmen seiner Forschungstätigkeit offenzulegen und explizit zu spezifizieren, was unter Emotionen verstanden werden darf, wird in der hier vorliegenden Arbeit das Konzept der emotionalen Markierungen, mit all seinen Implikationen, als theoretischer Bezugspunkt für das Nachdenken und Sprechen über die Bedeutung von Emotionen herangezogen. Der synonyme Gebrauch der Begriffe Markierung und Bewertung soll im Folgenden den Lesefluss erleichtern und das Verständnis der Arbeit verbessern.
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Bildungsverläufe und Bildungsübergänge – Eine Skizze der aktuellen Forschungslandschaft
Nachdem präzisiert wurde, welches Emotionsverständnis der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, werden im Folgenden jene Theoriebezüge problematisiert, die dem spezifischen Forschungsstand im Kontext des leitenden Erkenntnisinteresses gerecht werden sollen. Dabei gilt es zu klären, welchen Stellenwert Bildungsübergängen im Bildungsverlauf beigemessen werden kann, mit welchen subjektiven und sozialen Folgen Bildungslaufbahnentscheidungen einhergehen, wie sich Entscheidungsfindungsprozesse am Übergang von Schule zur Hochschule aus theoretischer Perspektive beschreiben und modellieren lassen, was die Motive bei Bildungslaufbahnentscheidungen am Ende der Sekundarstufe II sind und welche Bedeutung Emotionen in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen im Allgemeinen einnehmen. Zu Beginn wird dabei die generelle Bedeutung von Übergängen und Bildungslaufbahnentscheidungen thematisiert, um in weiterer Folge die Spezifität des Übergangs in den tertiären Bildungssektor in den Blick nehmen zu können. Daran anschließend werden die Grundlagen der Entscheidungsfindung skizziert sowie die Motive von Schüler*innen und Studienanfänger*innen bei Bildungslaufbahnentscheidungen aus aktuellen Studien vorgestellt, bevor im letzten Abschnitt das Jugendalter und seine Entwicklungsaufgaben unter besonderer Berücksichtigung des emotionalen Erlebens thematisiert wird. Den Abschluss des Kapitels bilden wiederum die zentralen Annahmen im Kontext des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_4
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4.1 Übergänge und Entscheidungen im Bildungssystem Im Laufe der eigenen Lebens- und Lerngeschichte durchlaufen Menschen eine Reihe von Übergängen, die durch unterschiedliche Aufgaben und Herausforderungen gekennzeichnet sind. Diese Übergänge werden dabei im Kontext der eigenen Biografie als besonders bedeutsam erlebt, da sie im weitesten Sinne den Beginn eines neuen Lebensabschnitts markieren oder einleiten. Gleichzeitig kommt es zur Veränderung oder gar Auflösung bisheriger Strukturen, Routinen und Sicherheiten. Dies betrifft vielfältige Ereignisse und Situationen in lebenspraktischen Zusammenhängen wie bspw. eine Erkrankung, einen Umzug, Verlust und Tod, Geburt und Familiengründung, unterschiedliche Lebensalter, Arbeitswechsel, Schulwechsel, den Berufseinstieg, die Pensionierung oder aber die Entstehung und den Abbruch konstitutiver, sozialer Beziehungen wie Partnerschaften, enger Freundschaften oder familiärer Beziehungen etc. Übergänge sind also Teil der individuellen Entwicklung und die Bewältigung von Übergängen eine zentrale Aufgabe im Leben eines jeden Menschen. Wenn allerdings aus pädagogischer oder bildungswissenschaftlicher Perspektive von Übergängen gesprochen wird, werden dabei oft Transitionen im Bildungssystem impliziert, die mit nachhaltigen Umstrukturierungen und einem institutionellen Wechsel einhergehen. Diese Bildungsübergänge, wie bspw. der Schuleintritt, der Einstieg in weiterführende Schulen, der Beginn der Berufsausbildung oder der Übergang in das tertiäre Bildungssystem, wurden in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Gegenstand der Bildungsforschung, sodass sich der Begriff des Übergangs in weiterer Folge zu einer zentralen Kategorie innerhalb der Bildungswissenschaft etablieren konnte. Aktuell ist die sogenannte Übergangsforschung besonders darum bemüht, eine Vielzahl an empirischen, meist quantitativ orientierten Daten aus Studien zur Verfügung zu stellen, die einerseits die unterschiedlichen institutionellen Wechsel zwischen verschiedenen Schultypen beleuchten und andererseits den Einstieg ins Bildungssystem (Kindertagesstätte/Krippe, Kindergarten oder Grundschule) sowie den Schulaustritt (Berufsausbildung, Berufseinstieg, Hochschule oder College) untersuchen. Die empirische Befundlage der Übergangs- respektive Bildungsverlaufsforschung ist dementsprechend dicht (vgl. bspw. die Sammelwerke von Baumert et al. 2009; Lin-Klitzing et al. 2010; Ecclestone et al. 2010; Kucharz et al. 2011; Bellenberg et al. 2011; Lavarick und Jalongo 2011; Bornkessel und Asdonk 2011; Bellenberg und Forell 2013; Schröer et al. 2013; Fasching et al. 2017). Grund hierfür ist einerseits, dass regionale und nationale Unterschiede im Bildungssystem die
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Vergleichbarkeit von Ergebnissen erschweren und dass die einzelnen Übergänge aufgrund der Altersnormierung gänzlich unterschiedliche Zugänge und Betrachtungsweisen abverlangen. Andererseits hat das Thema der Übergänge und Transitionen aufgrund seiner bildungs- und sozialpolitischen Tragweite in den letzten Jahren ganz allgemein an Bedeutung gewonnen, was sich in weiterer Folge in der Vergabe von Fördergeldern und Drittmitteln widerspiegelt. Ganz unabhängig von Ort und Zeit des Bildungsübergangs wird in der bildungswissenschaftlichen Diskussion über die Bedeutung von Transitionen und die Notwendigkeit, diese bestmöglich zu gestalten, die Bildungsentscheidung respektive die Bildungslaufbahnentscheidung als zweite zentrale Kategorie – neben der des Übergangs – thematisiert. Die Bildungslaufbahnentscheidung gilt als Schnittstelle und Maßstab für die Bewältigung und Nachhaltigkeit von Übergängen im Lebenslauf. Bildungsentscheidungen werden dabei als Ergebnisse von Interaktionsprozessen zwischen den unterschiedlichen Protagonist*innen des Bildungssystems aufgefasst, die sich als prozesshaftes Geschehen über einen längeren Zeitraum erstrecken und von unterschiedlichen kontextuellen Faktoren beeinflusst werden (vgl. Bornkessel und Asdonk 2011). Wiederum abhängig von der Spezifität des Übergangs sind sowohl der Interaktionsprozess und die jeweiligen Partner*innen als auch die Einflussfaktoren auf die tatsächliche Entscheidungsfindung selbst. Bildungsübergänge und Bildungs(laufbahn)entscheidungen stehen somit in einem interdependenten Verhältnis zueinander. Meist wird dieses Verhältnis als problematisch, krisenhaft und einschneidend thematisiert und nur selten werden Bildungsübergänge und damit einhergehende Entscheidungen als Chance mit unterschiedlichen Potentialen für die individuelle Entwicklung wahrgenommen. Klaus-Jürgen Tillmann (2013) macht in diesem Zusammenhang auf eine paradoxe Struktur im Kontext der Bewältigung von Übergängen aufmerksam, die diese negative Konnotation erklären könnte: Zum einen lässt sich eine Entstandardisierung der Lebensläufe in Familie und Beruf seit dem zweiten Weltkrieg beobachten, die mit einer Pluralisierung und Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, Geschlechterrollen, Familienbildern und gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen einhergeht (vgl. Tillmann 2013, S. 18 f.). Demgegenüber steht eine, in den letzten Jahrzehnten immer stärker zunehmende Standardisierung der Lebensläufe im Bildungssystem, in der die unterschiedlichen Stufen des Kompetenzerwerbs, enger als zuvor, an Altersnormen und Zeitperioden gekoppelt werden. Dies betrifft nicht nur einzelne bildungspolitische Maßnahmen,
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wie bspw. das verpflichtende Kindergartenjahr, die Vorverlagerung des Einschulungsalters, die Einführung der Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr oder die klare Strukturierung von Bachelor- und M aster-Studiengängen; auch die Zeitspanne, wie lange Schüler*innen im Bildungssystem verbleiben hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Während Mitte der 1950er Jahre 75 % der 14- bis 15-jährigen Schüler*innen das allgemeinbildende Schulsystem bereits verließen, befinden sich aktuell fast 100 % der 16-Jährigen und 90 % der 17- bis 19-Jährigen im Schulsystem (vgl. Tillmann 2013, S. 20). Neben der hohen Standardisierung und der engen Altersnormierung wird im Kontext von Bildungsübergängen und Bildungslaufbahnentscheidungen zudem die enge Verknüpfung mit Leistung und Auslese deutlich. Leistungsanforderungen, wie bspw. positive Schulnoten und adäquates (soziales) Verhalten, gehen immer mit dem Risiko einher, ihnen nicht gerecht zu werden und in weiterer Folge zu scheitern, was immerhin 38 % aller Schüler*innen im Laufe ihrer Bildungskarriere im Kontext von „Sitzenbleiben, Sonderschule oder Abschulung“ betrifft (vgl. Tillmann 2013, S. 21). Aufgrund dieses selektiven Charakters von Übergängen versteht Tillmann im Anschluss an die anthropologischen Überlegungen von Matthias Rath (2011) Übergänge „als Signaturen der menschlichen Biographie“ (Rath 2011, S. 10 zit. nach. Tillmann 2013, S. 23). Diese Signaturen werden laut Rath (2011) als signifikante Ereignisse besonders gut und lange erinnert und sind subjektiv immer mit Erfolg oder Misserfolg des Leistungsanspruchs bzw. mit der Bewältigung von oder dem Scheitern an Herausforderungen verknüpft. Aufgrund der subjektiven Bedeutungszuschreibung und Verarbeitung von Bildungsübergängen sowie deren prägendem Charakter plädiert Tillmann auch für die Verwendung des Begriffs der Biografie, da jener, im Gegensatz zu dem, auf objektive Verlaufsstrukturen verweisenden Begriff des Lebenslaufs, die subjektiv bedeutsame Lebensgeschichte meint (vgl. Tillmann 2013, S. 17 und 23). Auch wenn in der vorliegenden Arbeit die Begriffe der Bildungsbiografie und des Bildungsverlaufs synonym verwendet werden, geht es hier natürlich in erster Linie um die subjektive Lebenswirklichkeit von Schüler*innen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, obwohl die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung von Übergängen im Bildungssystem sehr unterschiedlich sein mag, Bildungsübergänge aufgrund ihrer Altersnormierung, Standardisierung, Leistungsorientierung und ihrer Auslese- und Selektionsfunktion zentrale Schnittstellen für die Strukturierung des eigenen Lebens und maßgeblich mit der Herausbildung von Identität und Selbst verknüpft sind.
4.2 Bildungslaufbahnentscheidungen und ihre sozialen Folgen
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4.2 Bildungslaufbahnentscheidungen und ihre sozialen Folgen Die Übergangsforschung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit Bildungslaufbahnentscheidungen und ihren Folgen für Gesellschaft und Individuum auseinandergesetzt. Es existieren zahlreiche empirische Forschungsarbeiten zum Übergang in die Grundschule (vgl. bspw. Hauser 2011; Gunter 2013; Kratzmann 2013), zu elterlichen Bildungsentscheidungen am Übergang von der Grundschule in das Mittelschulwesen (vgl. bspw. Gresch 2011; Bellenberg 2012; Kleine et al. 2013; Kleine 2014; Geppert 2017a), zu Bildungsentscheidungen am Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II (vgl. bspw. Maaz und Nagy 2010; Furchs 2013; Brahm 2013) bzw. in die Berufs(aus)bildung (vgl. bspw. Kohlmeyer 2013; Münk 2013; Glauser 2014) sowie Studien zum Übergang von Schule zu Hochschule (vgl. bspw. Spengler 2013; Merkel 2015; Bornkessel 2015). Gemeinsam ist diesen Zugängen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die analytische Fokussierung auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die strukturellen Bedingungen des Bildungssystems. So besteht in der Übergangsforschung – wie vermutlich in der gesamten Bildungswissenschaft auch – ein klarer Konsens darüber, dass ein entscheidender Faktor für die Entstehung von Bildungsungleichheit die Gelenkstellen von Bildungsverläufen sind. Im Vergleich zu anderen Faktoren, die soziale Disparitäten im Kontext von Bildung erklären wollen, wie bspw. Habitus, Sprache oder Geschlecht etc., besteht gegenüber den Bildungsübergängen keinerlei Zweifel bezüglich deren zentraler Bedeutung für die Genese sozialer Ungleichheit im Bildungssystem (vgl. Maaz et al. 2010, S. 13). Auch wenn an dieser Stelle nicht im Detail auf die Problematisierung der zentralen Begrifflichkeiten des, oft sehr ideologisch geführten, Diskurses über die Reproduktion sozialer Ungleichheit eingegangen werden kann, muss hier festgehalten werden, dass Begriffe wie Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgleichheit und Bildungschancen sowie ihre Antonyme auch innerhalb der Bildungswissenschaft oft inflationär gebraucht werden. Dies betrifft die begriffsanalytische Ebene ebenso wie die handlungstheoretische Perspektive und ihre normativen Einschreibungen. Bspw. verweist der häufig anzutreffende Begriff der „Chancengleichheit“ (vgl. bspw. Wenzel 2011; Dietrich et al. 2013; Schuppener et al. 2014 etc.) auf das Paradoxon, dass alle gleichermaßen die prinzipielle Möglichkeit (=Gleichheit) auf eine begrenzte Anzahl an günstigen Gelegenheiten (=Chancen) haben sollen. Handlungstheoretisch wird zudem die Chance des Scheiterns und des negativen Wissens, die wiederum für andere erst Voraussetzungen sind, die persönliche Chance zu wahren, ebenso nivelliert, wie die, der Bildsamkeit als
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Fähigkeit und Bedürftigkeit geschuldeten, Eigenständigkeit des Subjekts, eine Chance wahrzunehmen oder eben nicht wahrzunehmen. Dennoch wird die Forderung nach „Chancengleichheit im Bildungssystem“ nach wie vor einhellig betont, ohne aber auf die problematischen Implikationen, die damit einhergehen, hinzuweisen. Viele der oben angeführten Autor*innen rekurrieren im Kontext der Bildungsentscheidung auf die, vor über dreißig Jahren von Raymond Boudon (1974) eingeführte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten für die Erklärung der Wirkung der sozialen Herkunft auf die Bildungsbeteiligung von Schüler*innen. Primäre Herkunftseffekte entstehen dadurch, dass Schüler*innen aus niedrigeren sozialen Schichten aufgrund klassenspezifischer Sozialisationsprozesse, unterschiedlicher Unterstützungspotentiale, kultureller, sozialer und finanzieller Ressourcen sowie prädispositioneller Faktoren herkunftsbedingte Leistungs- und Kompetenzunterschiede aufweisen (vgl. Relikovski et al. 2010, S. 144). Diese sozialschichtabhängigen Leistungsniveaus führen zu einer von Beginn an vorherrschenden (=primären) Benachteiligung für die Erfolgswahrscheinlichkeit im Bildungssystem. Demgegenüber entstehen sekundäre Herkunftseffekte ganz unabhängig vom Leistungsniveau und der Kompetenzentwicklung der Schüler*innen in erster Linie aus der sozialschichtspezifischen Bildungsaspiration und dem daraus resultierenden Entscheidungsverhalten. Abhängig vom jeweiligen Bildungsniveau und der sozialen Schichtzugehörigkeit bewerten Familien die Schulbildung und die Notwendigkeit von Bildungsabschlüssen unterschiedlich (vgl. Geppert 2017b, S. 31). Der Statuserhalt ist dabei eine zentrale Stellgröße; so sind Familien mit höherem sozialem Hintergrund darum bemüht, ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen, um einen intergenerationalen Statusverlust zu vermeiden, wohingegen Familien aus bildungsfernen Schichten die Absolvierung der Pflichtschule zum Statuserhalt genügt. Davon kaum zu trennen und ebenso bedeutsam ist die Selbsteinschätzung und verinnerlichte Schichtzughörigkeit der Familien. So sind Eltern aus Arbeiterfamilien weitaus skeptischer, dass ihre Kinder einen höheren Abschluss schaffen und streben für sie, selbst bei vergleichbarem Leistungsniveau, niedrigere Schulformen an (vgl. Relikovski et al. 2010, S. 145). Somit können soziale Disparitäten der Bildungsbeteiligung als das Resultat des Zusammenspiels von primären und sekundären Herkunftseffekten betrachtet werden, sofern man wie Boudon (1974) von einer rationalen Entscheidungsfindungstheorie mit operationalisierbaren Kriterien (wie Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeiten) ausgeht (vgl. für einen Überblick zu Boudons primären und sekundären Effekten sowie seiner Entscheidungstheorie: Merkel 2015, S. 66–74).
4.2 Bildungslaufbahnentscheidungen und ihre sozialen Folgen
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Mit Blick auf die empirische Befundlage lässt sich festhalten, dass die Herkunftseffekte insbesondere in den frühen Übergängen von zentraler Bedeutung sind. An keiner anderen Stelle im Bildungssystem wird die soziale Selektion dabei so deutlich wie am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I (vgl. Trautwein 2013, S. 291). Hier lassen sich sowohl primäre als auch sekundäre Herkunftseffekte für die Vergabe von Schullaufbahnempfehlungen, das Übergangsverhalten, die Benotung und die objektive Leistung identifizieren: Während bei der Leistungsbewertung die primären Effekte am größten sind und bei der Bildungsempfehlung beide Effekte gleich groß, überwiegen beim Übergangsverhalten und der Entscheidungsfindung die sekundären Effekte (vgl. Maaz und Nagy 2010, S. 178). Kai Maaz und Gabriele Nagy (2010) machen in ihrer Studie zur Bedeutung von Herkunftseffekten am Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen darauf aufmerksam, dass die sekundären Herkunftseffekte nicht nur prozentuell überwiegen (59 % der gesamten Herkunftseffekte), sondern dass dies insofern besonders problematisch ist, da sie im Vergleich zu den primären Effekten gegen das Leistungsprinzip verstoßen und somit weitaus kritischer zu betrachten sind. So konnte Hartmut Ditton (2005) diesbezüglich zeigen, dass bei vergleichbarer Leistung der Kinder die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern mit Matura bzw. Abitur für ihre Kinder das Gymnasium anstelle einer anderen Schulform wünschen, fast 9-mal so groß ist wie bei Eltern mit einem Hauptschulabschluss (vgl. Ditton 2005, S. 128). Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium ausgesprochen wird, bei Kindern, deren Väter selbst die Matura bzw. das Abitur haben, fast 5-mal so groß wie bei Kindern, deren Väter keinen Schulabschluss vorweisen können (vgl. Ditton 2010, S. 262). Diese sekundären Effekte sind noch gewichtiger, wenn man bedenkt, dass dieser Übergang in erster Line von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten entschieden wird. Die Analysen zu den Anteilen der Entscheidungsträger*innen zeigen nämlich, dass diese Bildungsentscheidung innerfamiliär getroffen wird und den Müttern dabei (von allen Beteiligten) die Entscheidungshoheit zugesprochen wird, auch wenn die betroffenen Kinder als Nebenentscheidungsträger in Erscheinung treten; die Grundschullehrer*innen und Väter spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle in der Entscheidungsfindung (vgl. Trautwein 2013, S. 304). Auch wenn der Übergang in die Sekundarstufe I die zentrale Schlüsselstelle für die Genese sozialer Disparitäten in der Bildungslaufbahn von Schüler*innen markiert, lassen sich sekundäre Herkunftseffekte auch am Übergang in die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe II beobachten. Hier scheinen besonders das kulturelle Kapital (Bildung, Bücher, Zugang zu Kultur etc.) und der Bildungsabschluss der Eltern signifikante Prädikatoren zu sein (vgl. Maaz et al. 2010,
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S. 20 f. sowie Brahm 2013, S. 204). So ist die Verbleibchance von Kindern im Gymnasium, deren Väter selbst die Matura bzw. ein Abitur haben, fast 6-mal größer, als bei Kindern, deren Väter keinen Schulabschluss vorweisen können (vgl. Ditton 2010, S. 263). Die Übertrittswahrscheinlichkeit für Schüler*innen von einer gymnasialen Unterstufe (Sekundarstufe I) in eine gymnasiale Oberstufe (Sekundarstufe II) aufzusteigen, liegt bei Kindern deren Eltern lediglich über einen Pflichtschulabschluss verfügen bei rund 63 %, wohingegen Kinder aus einem Akademikerhaushalt zu 93 % weiterhin ein Gymnasium besuchen (vgl. Schlögl und Lachmayr 2004, S. 5). Jedoch wird dieser Übergang auch stark von den Leistungen der Schüler*innen in der Sekundarstufe I, vom bisherigen Schultyp und von den Interessen der beteiligten Schüler*innen beeinflusst (vgl. Glauser 2015, S. 37). Zudem zeigen sich hier erstmals leistungsunabhängige, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bildungsentscheidung (vgl. Glauser 2015, S. 50), im Besonderen die Wahl des Schultyps betreffend. Noch geringer werden die sekundären Herkunftseffekte am Übergang zwischen Schule und Hochschule (vgl. bspw. Trautwein 2013, S. 270 sowie Bieri Buschor et al. 2008, S. 3). So konnten Schnabel et al. (2002) und Maaz (2006) zeigen, dass es im Hinblick auf die Studienintention und die Studienaufnahme schwache sekundäre Herkunftseffekte unabhängig von Schulnoten und Leistungsbeurteilung gibt. Bornkessel und Kuhnen (2011) zeigen in ihrer Studie, dass die familiäre Herkunft und die Abiturnote wenig Einfluss auf die Übergangsintention nehmen, demgegenüber der Stellenwert des Berufsprestiges als Hinweis für das Vorhandensein sekundärer Disparitäten am Übergang zur Hochschule gedeutet werden kann (vgl. Bornkessel und Kuhnen 2011, S. 99). Weitaus bedeutsamer für diesen Übergangsprozess und die Entscheidung ein Studium zu beginnen scheinen allerdings subjektive Faktoren, wie bspw. die Schüler*innenmotivation im Hinblick auf die bevorstehende Ausbildung, zu sein (vgl. Maaz et al. 2010, S. 22). Die allgemeine, empirische Befundlage zum Übergang zwischen Schule und Hochschule unter besonderer Berücksichtigung der subjektiven Perspektive soll an späterer Stelle mit Bezug auf die Situation in Österreich genauer in den Blick genommen werden. Im Hinblick auf die Frage nach der Genese sozialer Disparitäten durch die strukturellen Bedingungen des Bildungssystems lässt sich abschließend festhalten, dass die soeben geschilderten Effekte für die drei Übergänge in Deutschland (vgl. Maaz et al. 2010), der Schweiz (vgl. Meyer 2008) und Österreich (vgl. Schlögl und Lachmayr 2004) durchaus vergleichbar sind. Viele der eben zitierten Autor*innen gehen zudem davon aus, dass es kein Bildungssystem gibt (oder geben kann), in dem Bildungsübergänge und Bildungslaufbahnentscheidungen nicht auch von sozialen Disparitäten mitbestimmt werden.
4.3 Zur Kritik an den Studien über Herkunftseffekte in der Übergangsforschung
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4.3 Zur Kritik an den Studien über Herkunftseffekte in der Übergangsforschung Bevor der Übergang in den tertiären Bildungssektor genauer betrachtet wird, muss noch eine kritische Anmerkung zu den soeben angeführten Befunden aus der empirischen Übergangsforschung im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen ins Feld geführt werden. Dies ist auch deshalb notwendig, da die soeben referierten Ergebnisse bildungspolitisch und medial gerne performativ in Szene gesetzt werden: Und zwar handelt es sich bei den soeben skizzierten Herkunftseffekten, die diesen Diskurs über weite Strecken inhaltlich dominieren, um eine mitunter problematische, methodologisch-epistemologische Konstellation. Zum einen rekurrieren die meisten Autor*innen auf Boudons Konzept der primären und sekundären Herkunftseffekte, dem allerdings eine klassische, rationale Entscheidungsfindungstheorie zugrunde liegt, die heute außerhalb der Wirtschaftswissenschaften, der Volkswirtschaftslehre und den Betriebswissenschaften als obsolet gilt, da sie davon ausgeht, dass Entscheidungen aufgrund kostenminimierender und nutzenmaximierender Kriterien getroffen werden und somit einer kausalen Analyse direkt zugänglich wären. In Boudons Verständnis stellen Arbeiterfamilien, Akademikerfamilien und alleinerziehende Eltern jeweils eine hoch-komplexe und äußerst differenzierte Kosten-Nutzen-Bewertung auf, um alle potenziellen und tatsächlichen Prädikatoren systematisch abzuwiegen und so zu ihrer Bildungslaufbahnentscheidung zu kommen. Gleichzeitig ist der gesamte Diskurs, und im Besonderen die Interpretation der statistischen Ergebnisse und ihrer Wahrscheinlichkeiten, stark von kultursoziologischen und poststrukturalistischen Konzepten geprägt, die zum Teil die Reproduktion sozialer Ungleichheit bereits als Ausgangsthese der Analyse festschreiben. Es verwundert daher auch nicht weiter, wenn Studien mit einer Bourdieu’schen Brille auf Übergänge blicken und zu dem Schluss kommen, dass durch die ungleiche Verteilung von Kapital Bildungsungleichheiten entstehen und reproduziert werden. Aus pädagogischer Perspektive gilt es zudem kritisch zu hinterfragen, ob einzig und allein statistische Sekundäranalysen ausreichen, die multifaktoriellen Bedingungen von Bildungslaufbahnentscheidungen so zu beschreiben, dass sie für den Einzelfall, also bspw. für den betroffenen Schüler und sein soziales Umfeld, noch großen Erklärungswert aufweisen. Blickt man nämlich auf die Empfehlungen und Schlussfolgerungen der empirischen Übergangsforschung und ihrer strukturellen Perspektive, wie sie hier vorgestellt wurde, so finden sich selten konkrete Praxisimplikationen respektive klare Empfehlungen, wie bildungspolitisch, sozialpädagogisch oder aber schulpädagogisch mit dem
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Problem der reziproken Wirkung von Herkunft und Ungleichheit umgegangen werden könnte. Corinna Geppert (2017a) hat sich ebenso kritisch mit den Voraussetzungen des Diskurses um Ungleichheit im Kontext von Bildungsübergängen beschäftigt und unter anderem auf die grundsätzliche Problematik der Messbarkeit von primären und sekundären Herkunftseffekten aufmerksam gemacht. So werden einerseits Indikatoren und Maßstäbe nur in Relation zu bestimmten sozialen Gruppen angesetzt, die durchaus fehlerbehaftet sind und in keiner Weise die Gesamtheit repräsentieren, und andererseits werden spezifische Faktoren, wie bspw. Übergangsbestimmungen oder der institutionelle Kontext, die ebenso einen zentralen Einfluss auf die Bildungsaspiration haben, gar nicht erst berücksichtigt (vgl. Geppert 2017a, S. 25). Des Weiteren kritisiert sie, dass viele der betreffenden Studien Problemlagen perspektivisch sehr einseitig in den Blick nehmen, indem sie Erklärungen für soziale Disparitäten vorlegen, die relativ unabhängig von der Lebenswirklichkeit der Betroffenen zu sein scheinen (vgl. Geppert 2017a, S. 26). So werden bspw. vor dem Hintergrund des kulturtheoretischen Ansatzes von Bourdieu soziale Mechanismen untersucht, die außerhalb dessen liegen, was innerhalb der Schule passiert (vgl. Geppert 2017a, S. 29 f.). All diese kritischen Anmerkungen sollen keinesfalls die Notwendigkeit der Bezugnahme auf die Genese sozialer Ungleichheit an den Schnittstellen des Bildungssystems schmälern. Im Gegenteil: Das Sichtbarmachen der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem ist eine unumgängliche Notwendigkeit dieser in irgendeiner Art und Weise zukünftig entgegenwirken zu können. Jedoch verdeutlichen die Einwände auch, dass es hinsichtlich der Analyse, Interpretation und Gestaltung von Bildungsübergängen theoretische Modelle und forschungspraktische Konzepte braucht, die es ermöglichen, 1) die subjektive Perspektive und Wahrnehmung der betroffenen Bildungsrezipient*innen, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ängste sowie die ihres sozialen Umfelds sichtbar zu machen, 2) die Faktoren und Kriterien zu identifizieren, die vor, während und nach den spezifischen Übergängen eine fördernde oder hemmende Wirkung auf die Bewältigung und Nachhaltigkeit des Übergangs haben, um 3) klare Empfehlungen aussprechen zu können, wie zukünftig aus pädagogischer Perspektive konkrete Maßnahmen entwickelt werden können, um Bildungsübergänge tatsächlich als Entwicklungschance für den Einzelnen begreifen zu können.
4.4 Der Übergang in den tertiären Bildungssektor in Österreich
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4.4 Der Übergang in den tertiären Bildungssektor in Österreich Im Folgenden soll der Übergang von der Schule in die Hochschule unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Bildungslandschaft in den Blick genommen werden. Die Fokussierung auf Österreich ist deshalb sinnvoll und notwendig, da sich der Hochschulzugang und die allgemeine Studienberechtigung von anderen europäischen Ländern unterscheiden. Im österreichischen Bildungswesen bildet die Sekundarstufe II die Brücke zwischen Schule und Hochschule. Mit der Matura, die vergleichbar mit dem deutschen Abitur (oder der schweizer Maturitätsprüfung) ist, erwerben Schüler*innen in Österreich die Hochschulreife, die ihnen formal die Zugangsberechtigung zu Universitäten oder anderen Hochschulen, wie Fachhochschulen, pädagogischen Hochschulen oder privaten Hochschulen, ermöglicht. Der Vollständigkeit halber soll hier erwähnt werden, dass die Hochschulreife in Österreich auch durch eine Studienzulassungsprüfung als außerordentliche Berechtigung ein spezifisches Fach zu studieren, erworben werden kann. Im Vergleich zu Deutschland gibt es in Österreich keine Zulassungsgrenzen (numerus clausus), die sich an der schulischen Leistungsquote (in Deutschland in der Regel die Abiturdurchschnittsnote) orientieren. Allerdings wurde im Anschluss an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2005 in Österreich eine Quotenregelung für das Medizinstudium eingeführt, die besagt, dass 75 % der Studienplätze Studienanfänger*innen mit österreichischen Maturazeugnis vorbehalten sind, 20 % Studierenden mit EU-Reifeprüfungszeugnis und 5 % der Studienplätze für nicht EU-Bürger*innen zur Verfügung gestellt werden müssen. Gleiches wurde für das Zahnmedizinstudium eingeführt, allerdings zeitlich begrenzt bis zum Studienjahr 2019/2020. Grund hierfür ist ein attestierter Mediziner*innenmangel auf nationaler Ebene (vgl. APA 2017). In der Praxis ist der Zugang zu manchen Studienfächern und Hochschulen in Österreich allerdings durch spezifische Aufnahmeverfahren und -prüfungen reglementiert, die sich je nach Studientyp und Hochschule inhaltlich und formal stark unterscheiden. An der Universität Wien gibt es bspw. mit Stand 2019 Aufnahmeverfahren für 19 verschiedene Studiengänge (Masterstudiengänge nicht mitgerechnet) (vgl. Universität Wien 2019). Besonders betroffen von den Zugangsbeschränkungen ist das Medizinstudium. So gab es in Österreich im Jahr 2018 1680 Studienplätze für 12.579 Studienbewerber*innen im Rahmen des Medizinstudiums (vgl. APA 2018). Neben Medizin sind in Österreich besonders die Studiengänge Veterinärmedizin (Plätze/Bewerber = 1:8)
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und Psychologie (1:5) stark reglementiert. An österreichischen Fachhochschulen gibt es in der Regel immer eine Beschränkung der vorhandenen Studienplätze sowie spezifische Aufnahmeverfahren, die allerdings im Vergleich zu den Universitäten weniger leistungsorientiert sind und eher auf persönlicher Ebene durch Aufnahmegespräche Eignung und Motivation der Studierenden prüfen. Besonders betroffen ist dabei in Österreich der Fachhochschulstudiengang Physiotherapie (bspw. 1:10 an der FH Campus Wien). Gibt es allerdings weniger Bewerber*innen als Studienplätze, wird bei Fachhochschulen im Vergleich zu Universitäten auf das Aufnahmeverfahren verzichtet. Bei der Zulassung zu berufsbegleitenden Studiengängen wird zusätzlich zu den Bewerbungsgesprächen an Fachhochschulen in der Regel die Berufserfahrung und Passung der eigenen Berufspraxis als Auswahlkriterium herangezogen. Der Übergang von der Schule zur Hochschule stellt für das österreichische Bildungssystem im Allgemeinen eine besondere Herausforderung dar: Zum einen hat die Anzahl der Studienanfänger*innen in den letzten Jahren drastisch zugenommen, wobei es gleichzeitig in bestimmten Bereichen an einer ausreichenden Zahl an Studienabsolvent*innen fehlt und die Anzahl an Studienwechseln und Studienabbrüchen verhältnismäßig immer weiter ansteigt. Zum anderen gibt es im Vergleich zu Deutschland kaum empirische Befunde, die sich mit dem Übergang (und den Voraussetzungen, Einflussfaktoren und Folgen) in den tertiären Bildungssektor beschäftigen und dementsprechend wenig Empfehlungen darüber, wie dieser Übergang auf nationaler Ebene zukünftig bestmöglich zu gestalten wäre. Während im Jahr 1970 in Österreich lediglich 16.000 Schüler*innen die Reifeprüfung absolvierten, maturierten 2017 bereits mehr als 42.700 Schüler*innen an österreichischen höheren Schulen (vgl. Statistik Austria 2018a, S. 1). Im Vergleich dazu schließen in Österreich rund 87.000 Schüler*innen pro Jahr die Sekundarstufe I ab (vgl. Statistik Austria 2015, S. 6). Der mit Abstand größte Teil der Maturant*innen, rund 42 % jährlich, kommt dabei von Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) bzw. von Gymnasien. Waren 1970 noch zwei Drittel der Absolvent*innen von Allgemeinbildenden Höheren Schulen Männer, so sind aktuell 60 % der Maturant*innen der AHS weiblich. Die aktuellen Hochschulprognosen gehen zudem davon aus, dass die Anzahl an Maturant*innen in den nächsten 20 Jahren um 15 % ansteigen wird (vgl. Statistik Austria 2017, S. 17). Während die Übertrittswahrscheinlichkeit von Schüler*innen aus Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) je nach Schultyp zwischen 49 und 59 % liegt, beginnen über 85 % aller Absolvent*innen von Allgemeinbildenden Höheren Schulen im Laufe der ersten drei Jahre nach der Matura ein Hochschulstudium (vgl. Statistik Austria 2017, S. 19). Von den rund 383.000 Studierenden
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in Österreich (vgl. Staistik Austria 2018b, S. 1) sind mehr als 66.000 Studienanfänger*innen (vgl. Statistik Austria 2017, S. 63). Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass sich der oft medial kolportierte Wert von 74.000 Studienanfänger*innen für Österreich auf alle Studienfälle, jedoch nicht auf die tatsächliche Anzahl an studierenden Personen bezieht. 73 % der Studienanfänger*innen immatrikulieren an öffentlichen Universitäten, 16 % an Fachhochschulen und die restlichen Studierenden teilen sich auf die pädagogischen Hochschulen und Privatuniversitäten auf (vgl. Statistik Austria 2017, S. 62–65). Von allen Studienanfänger*innen kommen wiederum knapp ein Drittel aus österreichischen Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Die beliebtesten Studienrichtungen bei Studienanfänger*innen in Österreich waren im Wintersemester 2016 (nach Zahl der Erstsemestrigen): Rechtswissenschaften (4465), Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (4138), Wirtschaftsrecht (3045), Pädagogik (2648), Psychologie (1975), Biologie (1936), Informatik (1751), Humanmedizin (1648), Architektur (1620) und Soziologie (1503) (vgl. VOL 2018). Zukünftig ist auch ein leichter Anstieg der österreichischen Studienanfänger*innen in Abhängigkeit der Maturant*innenzahlen zu erwarten, wobei der Anteil an ausländischen Studierenden relativ konstant bleiben wird (vgl. Statistik Austria 2017, S. 23). Die Hochschulprognosen für Studienanfänger*innen aus Österreich sowie die auffallend hohen Zahlen zur Übertrittswahrscheinlichkeit aus den Allgemeinbildenden Höheren Schulen verdeutlichen die besondere Stellung des Schultyps AHS sowie die enorme Tragweite des Übergangs von Gymnasien in die tertiäre Bildung. Verschärft wird die Problematik des Übergangs zwischen Allgemeinbildender Höherer Schulen und der Hochschule mit Blick auf die Anzahl an Studienabbrüchen und Studienwechsel. Hinzukommt, dass dieser Übergang für einige Schüler*innen kein genuiner Bildungsübergang (mehr) ist, sondern schrittweise oder auch abrupt den Wechsel vom Bildungssystem in die Erwerbstätigkeit markiert. Während sich mit dem 15. Lebensjahr mehr als 92 % der Jugendlichen in Österreich (hauptberuflich) in Ausbildung befinden, sind es mit dem 30. Lebensjahr nur noch rund 2 % (vgl. Statistik Austria 2015, S. 1). Dies betrifft jedoch nicht nur den direkten Berufseinstieg nach der Pflichtschulzeit oder nach der Sekundarstufe II, sondern ebenso die Erwerbstätigkeit während des Studiums, die in den letzten Jahren nicht nur verhältnismäßig zugenommen hat, sondern immer öfter zur Vollerwerbstätigkeit führt und somit die Wahrscheinlichkeit für Studienabbrüche und/oder Studienwechsel erhöht. Aufgrund des fließenden Übergangs zwischen Studium und Erwerbstätigkeit lässt sich methodisch auch nicht klar herausarbeiten, ob eine Person studiert und lediglich nebenerwerbstätig ist, oder aber ob eine erwerbstätige Person nebenbei studiert bzw. lediglich für ein Studienfach inskribiert ist. Des Weiteren
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inskribieren Studienanfänger*innen zu Beginn oft mehrere Studienrichtungen gleichzeitig (die sogenannten Studienfälle) und/oder verfolgen nicht jedes Studium mit gleicher Aufmerksamkeit, wodurch Hochschulabbrüche statistisch besonders schwer zu erfassen sind und Ausbildungswechsel im Hochschulbereich oft nicht berücksichtigt werden können. Dennoch lässt sich mit Blick auf die letzten zehn Jahre und unter besonderer Berücksichtigung des Bolognaprozesses, der aufgrund der Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen in Österreich seit 2007 zu einem enormen Anstieg an Studienabschlüssen geführt hat (vgl. Statistik Austria 2015, S. 9 f.), festhalten, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Studienabbruch in Österreich relativ hoch ist: Die geringste Abbruchquote und gleichzeitig die höchste Abschlusswahrscheinlichkeit haben Fachhochschulen; Frauen schließen diese mit einer Wahrscheinlichkeit von 81 % und Männer mit 73 % ab. Bei privaten Universitäten und pädagogischen Hochschulen liegt die Studienerfolgsquote bei rund 73 %, wobei auch hier Frauen geringfügig bessere Erfolgsquoten haben. An öffentlichen Universitäten in Österreich hingegen wird fast jedes zweite Studium unabhängig des Geschlechts vorzeitig beendet: Rund 48 % aller Studierenden an öffentlichen Universitäten hören mit ihrem Studium vorzeitig auf (vgl. Statistik Austria 2017, S. 142). Die große Differenz in den Erfolgsquoten zwischen Universitäten und Fachhochschulen dürfte einerseits auf die Struktur und Organisation der Hochschulen zurückzuführen sein. So führte bspw. die Einführung der Bachelor-Master-Studiengänge (bei gleichzeitig auslaufenden Diplomstudien) bis zum Studienjahr 2013, bedingt durch die größere Anzahl an Studienabschlüssen, zu einem kurzfristigen Anstieg der Erfolgswahrscheinlichkeit an öffentlichen Universitäten um rund 5 % (vgl. BMBWF 2018, S. 195 f.). Andererseits sind Universitäten weitaus durchlässiger und ermöglichen die Inskription mehrerer Studiengänge, einen schnellen Studienwechsel sowie Studienunterbrechungen ohne weitreichende Folgen. Allerdings gänzlich unabhängig des Hochschultyps beenden in Österreich rund 20 % der Studienanfänger*innen ihre Hochschulkarriere im Laufe der ersten zwei Studienjahre (vgl. Statistik Austria 2017, S. 144). Wie bereits erwähnt gibt es für den Studienwechsel keine absoluten Zahlenwerte; mit Blick auf die aktuellen Werte der Hochschulprognosen, die durchschnittliche Studiendauer und die Anzahl an Studienfällen kann aber davon ausgegangen werden, dass mehr als 50 % aller Studierenden innerhalb der durchschnittlichen Studierdauer (ca. 5,5 Jahre bis zum ersten Studienabschluss) an öffentlichen Universitäten in Österreich mindestens einmal ihr Studium wechseln. Zu bedenken gilt es dabei zudem, dass ein Studienwechsel nicht als solcher gezählt wird, wenn entweder die Vorstudienzeit in der neuen Studienrichtung angerechnet wird, wenn persönliche Gründe (bspw. die Gesundheit) den Wechsel
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zwingend notwendig machen, wenn lediglich der Studienort, das Curriculum und/ oder die Qualifizierungsstufe, nicht aber die Studienrichtung gewechselt wird, oder aber wenn der Studienwechsel durch ein unabwendbares Ereignis ohne Verschulden des Studierenden herbeigeführt wird. Dementsprechend kann der Wert für die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit für einen Studienwechsel in Österreich sogar noch etwas höher angenommen werden. Die Zahlen zu den Studienanfänger*innen, den Übertrittswahrscheinlichkeiten, der Studienwahl und dem Studienwechsel sowie den Abschlusswahrscheinlichkeiten und Hochschulprognosen für Österreich verdeutlichen die zentrale Bedeutung des Übergangs und der Bildungslaufbahnentscheidung in den tertiären Bildungssektor. Bevor die Grundlagen dieses Entscheidungsfindungsprozesses im Kontext des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit skizziert werden, sollen noch die zwei zentralen Perspektiven der Übergangsforschung unter besonderer Berücksichtigung des Übergangs in den tertiären Bildungssektor vorgestellt werden, um zu verdeutlichen wo sich die vorliegende Arbeit im diesem Diskurs positionieren möchte.
4.5 Zwei Perspektiven innerhalb der Übergangsforschung Die Erforschung von Bildungsübergängen, die Diskussion um deren Potentiale und Ausgrenzungsmechanismen sowie deren mögliche Gestaltung ist aus historischer Perspektive kein neues Phänomen, auch wenn dies im Anschluss an bzw. als Reaktion auf die Ergebnisse von PISA und TIMSS gerne so dargestellt wird (vgl. Baumert et al. 2010, S. 7). Bereits zur Zeit der neuhumanistischen Bildungsreform wurden die Zugangsvoraussetzungen für Bildung an den Gelenkstellen des Bildungssystems kontrovers diskutiert. Dabei ging es einerseits um den Nutzen und die Zweckgebundenheit der Bildung des Bürgers für Staat und Gesellschaft sowie andererseits um Freiheit, Mündigkeit und Selbstverwirklichung sowie die damit einhergehende Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs des Einzelnen. Auch wenn die Reformbemühungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts primär den Zugang zur gymnasialen Oberstufe, zu höheren Schulen und zu den Universitäten durch die Absicherung der staatlichen Finanzierung für die Mittel- und Oberschicht erleichterten, verdeutlichen sie dennoch, dass Übergänge im Bildungssystem bereits lange Zeit kritisch diskutiert werden. Und selbst die Diskussion um die Gestaltung des Übergangs zwischen Schule und Hochschule blickt auf eine lange Tradition zurück: Johannes Wildt (2013) macht in diesem Kontext zum einen auf Schillers Unterscheidung
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zwischen „Brotstudenten“ und „gelehrten Köpfen“ aufmerksam, die eine heftige öffentliche Debatte darüber auslöste, wer denn an Universitäten gehöre, und wer nicht; zum anderen verweist er auf Schleiermachers eindringliche Empfehlung für einen offenen Hochschulzugang und seine Begründung, dass die Befähigung zum Studium sich erst während des Studiums und nicht davor entwickle (vgl. Wildt 2013, S. 276). Sowohl mit Blick auf die Geschichte des Bildungssystems, die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die Bildungsreformen, das mehrgliedrige Schulsystem, die Hochschulreformen, die Idee der Gemeinschafts- und Gesamtschule etc. als auch mit Blick auf die aktuelle Übergangsforschung, ihre empirische Befundlage und die Betonung der Reproduktion sozialer Ungleichheit an den Schnittstellen des Bildungssystems wird deutlich, dass sich je nach Blickwinkel unterschiedliche Positionen im Diskurs um die Gestaltung des Zugangs zu Bildung unterscheiden lassen. Diese Positionen verfolgen innerhalb der Bildungsforschung unterschiedliche Interessen und haben unterschiedliche Zielsetzungen. Wenn es um die Frage nach der Gestaltung von Bildungsübergängen geht, lassen sich prinzipiell zwei Perspektiven unterscheiden, die in weiterer Folge einen zentralen Einfluss auf die Art und Weise der Erforschung von Übergängen im Bildungssystem haben und den jeweiligen Forscher*innen eine bildungspolitische und möglicherweise auch forschungsethische Positionierung abverlangen: (A) Die erste Perspektive betrifft die subjektive bzw. individuelle Ebene und blickt aus Sicht der betroffenen Schüler*innen (oder aber auch der Lehrer*innen, Erziehungsberechtigten und Familien) auf spezifische Übergänge. Diese subjektive Perspektive orientiert sich qualitativ an den Bedürfnissen und Interessen der Schüler*innen. (B) Die zweite Perspektive betrifft die institutionelle bzw. strukturelle Ebene und betrachtet Übergänge aus Sicht der Institution oder Organisation, ihrer Mitarbeiter*innen und der ihnen übergeordneten Entscheidungsträger*innen in Form ministerieller und politischer Organe oder aber in Form privater Organisationsstrukturen. Diese strukturelle Perspektive orientiert sich quantitativ an den Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Kriterien der jeweiligen Bildungsinstitution. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich auch bei Andrä Wolter (2013), der die individuelle Perspektive der Bildungs- und Lebensverläufe von der institutionellen Perspektive des Bildungssystems unterscheidet (vgl. Wolter 2013, S. 45). Der Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen liegt darin, dass subjekt-orientierte Forschungsansätze übergangsbedingte Herausforderungen der Anpassung, Entscheidungsfindung und Bewältigung wie auch Potentiale und Ressourcen am Übergang der Betroffenen in den Blick nehmen, wohingegen strukturelle Ansätze die Problemlagen, Interessen und Ressourcen der jeweiligen Institution untersuchen und damit verbundene Normierungs- und Steuerungs-
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mechanismen optimieren wollen (vgl. Kutscha 1991, S. 117). Diese Differenz soll keineswegs eine irgendwie geartete Wertigkeit der Ansätze implizieren; im Gegenteil, beide Forschungsperspektiven haben durchaus Berechtigung, weil sie unterschiedliche Phänomene in den Blick nehmen und somit unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern. Im Kontext der vorliegenden Arbeit und unter Berücksichtigung des Übergangs von Schule zu Hochschule ist diese Differenz deshalb besonders relevant, da je nach Blickwinkel die entsprechenden Kriterien und Rahmenbedingungen sowie Motive und Einflussfaktoren gänzlich andere sind. Aus institutioneller oder struktureller Ebene wären bspw. Problemlagen, Herausforderungen und Ressourcen der Hochschulen, der Hochschulleitung, des Hochschulpersonals sowie der Hochschulpolitik und -organisation gewinnbringende Ansätze, wohingegen die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste der Schüler*innen wenig Potential für die Normierungs- und Steuerungsmechanismen im Kontext des Ressourcenmanagements und/oder der Qualitätssicherung bereitstellen könnten. Gleiches gilt für die Möglichkeit der Gestaltung spezifischer Maßnahmen zur Unterstützung des Übergangs sowie für die Motive und Bedürfnisse der Entscheidungsträger*innen. So sind auf institutioneller Ebene bspw. Studierendenwerbung oder Studienvorbereitung sinnvolle Maßnahmen zur Gestaltung des Übergangs, um Studiennachfrage und Studienangebot im Sinne von Ressourcen, Qualität und Marktorientierung bestmöglich auszubalancieren. Andererseits sollten bspw. die Verfügbarkeit von Studienabsolvent*innen und ihr gesellschaftlicher Nutzen kein leitendes Kriterium für die Anbahnung subjektiver Bildungslaufbahnentscheidungen von Schüler*innen in den tertiären Bildungssektor sein. Auch wenn die Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten unterschiedlich sein mögen, können sich die institutionelle und individuelle Perspektive durchaus ergänzen: Dass eine strukturelle Perspektive aus Sicht der Hochschulen und ihrer Vertreter*innen als Bindeglied zwischen politischen Interessen und subjektiven Lebenswirklichkeiten sinnvoll und notwendig ist, verdeutlichen bspw. Cornelia Driesen und Angela Ittel (2019), indem sie die Gestaltung dieses Übergangs (auch) als eine zentrale Aufgabe von Hochschulen begreifen und differenzierte Perspektiven auf diesen Übergang sowie unterschiedliche Maßnahmen zur Verbesserung und Unterstützung aus Hochschulsicht in Aussicht stellen (vgl. Driesen und Ittel 2019). Ebenso machen strukturelle Perspektiven, wie zuvor im Kontext der sozialen Folgen von Bildungslaufbahnentscheidungen deutlich wurde, die Problematik der sozialen Ungleichheit an den Bildungsübergängen sichtbar. In der vorliegenden Arbeit geht es allerdings um die Perspektive der Schüler*innen, die sich am Übergang befinden, um ihre Lebenswirklichkeiten mit allen Herausforderungen und Problemen sowie Möglichkeiten und Potentialen, und ganz
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besonders um ihr emotionales Erleben bzw. subjektives Empfinden, das bislang in der Übergangsforschung ein zentrales Forschungsdesiderat darstellt. Dementsprechend steht die individuelle Perspektive der betroffenen Schüler*innen sowie ihre Emotionen und emotionalen Markierungen im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Daher wird im Folgenden auf institutionelle, strukturelle und politische Dimensionen in der Darstellung der Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang in den tertiären Bildungssektor verzichtet.
4.6 Grundlagen der Entscheidungsfindung am Übergang von Schule zu Hochschule Im Anschluss an die Betrachtung der sozialen Folgen von Bildungslaufbahnentscheidungen, dem statistischen Überblick zum Übergang in den tertiären Bildungssektor in Österreich sowie der Verortung dieser Arbeit im Kontext subjektorientierter Zugänge der Übergangsforschung werden in diesem Kapitel die theoretischen Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidung und Entscheidungsfindung diskutiert. Dies soll eine präzise Darstellung der Ergebnisse von Studien zu den Motiven und Einflussfaktoren für Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang von Schule zu Hochschule im nachfolgenden Kapitel ermöglichen (siehe Abschn. 4.7).
4.6.1 Klassische Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidung und Entscheidungsfindung Der Übergang von der Schule zur Hochschule wird in erster Linie anhand des bereits erwähnten Modells von Boudon (1974) sowie der damit einhergehenden primären und sekundären Herkunftseffekte untersucht (vgl. bspw. Bornkessel und Asdonk 2011 oder Merkel 2015). Diesem Modell liegt, wie bereits erwähnt, eine rationale Entscheidungsfindungstheorie zugrunde, die davon ausgeht, dass Entscheidungsprozesse grundsätzlich im Sinne einer Nutzenmaximierung operationalisierbar sind. Diese sogenannten klassischen Entscheidungstheorien bzw. Rational-Choice-Theories sind durch den Glauben an Rationalität und Kausalität im Sinne eines, jedem Problem zugrunde liegenden, Ursache-Wirkungs-Gefüges geprägt. Das den Rational-Choice-Theories immanente Prinzip des homo oeconomicus versteht den Menschen, in Anlehnung an John Stuart Mill, als ein egoistisch handelndes, den eigenen Nutzen
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maximierendes und gerade dadurch dem allgemeinen Wohl dienendes Wirtschaftssubjekt (vgl. Pfister et al. 2017, S. 4). Entscheidungen werden in dieser Denklogik als Prozesse definiert, in denen alle notwendigen Informationen über die Entscheidungssituation (Problemformulierung, Einflussfaktoren, Zielvorstellungen etc.) zugrunde liegen, in denen eine bestimmte Anzahl an alternativen Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung steht und die daher rational bzw. im Sinne einer kausalen Logik getroffen werden können (vgl. Laux 2014, S. 12). Dieses in den Wirtschaftswissenschaften, der Volkswirtschaftslehre oder der Betriebswirtschaftslehre vorherrschende Modell definiert also den Menschen und seine Entscheidungen als das Ergebnis einer, an ökonomischen Zwängen orientierten, Rationalität. Das ökonomische Prinzip folgt dabei der Gewinnmaximierung, nämlich mit minimalem Einsatz einen maximalen Nutzen zu erzielen. Helmut Laux (2014), zentraler Vertreter der klassischen Entscheidungstheorie, geht davon aus, dass jede entscheidungstheoretische Untersuchung die Absicht verfolgt, entweder beschreibende oder vorschreibende Aussagen über die Entscheidungssituation und die beteiligten Personen zu treffen (vgl. Laux et al. 2014, S. 3). Demnach lassen sich in der klassischen Entscheidungstheorie im Allgemeinen deskriptive von präskriptiven Modellen unterscheiden (vgl. bspw. Hellberg 2009; Laux et al. 2014; Göbel 2018). Präskriptive Entscheidungstheorien beschäftigen sich mit der Frage, wie Entscheidungen im Idealfall von rationalen Akteuren getroffen werden können und stellen Regeln für eine optimale Entscheidungsfindung auf (vgl. Göbel 2018, S. 31). Die präskriptive oder normative Entscheidungsforschung hat also zum Ziel, die optimale Entscheidungsalternative auf Basis mathematischer Modelle zu berechnen (vgl. Laux et al. 2014, S. 18 f.). Deskriptive Entscheidungstheorien hingegen beschäftigen sich empirisch mit der Beschreibung von tatsächlich stattgefundenen Entscheidungsfindungsprozessen, um zukünftige Entscheidungen bestmöglich unterstützen zu können (vgl. Göbel 2018, S. 178 f.). Das Ziel der deskriptiven Entscheidungstheorie ist es, Hypothesen über das Verhalten von Personen oder Personengruppen im Entscheidungsprozess zu formulieren bzw. zu beschreiben, warum eine Entscheidung auf eine bestimmte Art und Weise getroffen wurde (vgl. Laux et al. 2014, S. 17). Beiden klassischen Sichtweisen der Entscheidungstheorie ist gemeinsam, dass sie von einem, um Nutzenmaximierung bemühten, Entscheider ausgehen und dass sie durch ihre Analysen eine Optimierung entscheidungsunterstützender Verfahren, bspw. Entscheidungshilfeverfahren oder Entscheidungsunterstützungssysteme, anstreben (vgl. Hellberg 2009, S. 37).
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Obwohl selbst in den Wirtschaftswissenschaften, die sich disziplinär mitunter als spezielle oder angewandte Entscheidungstheorien verstehen (vgl. Laux et al. 2014, S. 4), die klassischen entscheidungstheoretischen Ansätze und die darin enthaltene anthropologische Vorstellung des Menschen als Informationsverarbeitungssystem mittlerweile durchaus kritisch diskutiert werden (vgl. bspw. Lakomski und Evers 2010; Gigerenzer und Gaissmaier 2011; Okoli und Watt 2018; Göbel 2018), liegen den strukturellen Perspektiven der Übergangsforschung jene klassischen Entscheidungstheorien implizit zugrunde. Neben dem Modell der Herkunftseffekte von Raymond Boundon (1974) betrifft dies des Weiteren die Werterwartungstheorie der Bildungsentscheidung von Hartmut Esser (1999), das Modell der Bildungswahl von Richard Breen und John Goldthorpe (1997) oder aber das Modell der Bildungsentscheidung von Robert Erikson und Jan Johnson (1996). Die Gründe, warum Bildungslaufbahnentscheidungen im Allgemeinen nicht nach dem Prinzip der Rational-Choice-Modelle getroffen werden können, sind vielfältig: (A) Zum einen handelt es sich bei Bildungsentscheidungen, und insbesondere bei der Entscheidung am Übergang zwischen Schule und Hochschule, um „persönliche Entscheidungen“, die sich im Gegensatz zu institutionellen Entscheidungen dadurch auszeichnen, dass man die Folgen der getroffenen Entscheidung in erster Linie selbst tragen muss, dass man die Entscheidung prinzipiell nicht vor anderen rechtfertigen muss und dass die Konsequenzen der Entscheidung zumeist privater und nicht monetärer Natur sind (vgl. Hellberg 2009, S. 30 f.). (B) Ebenso handelt es sich bei Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang zur Hochschule um „adaptive Entscheidungen“. Im Gegensatz zu wahrheitsgetreuen Entscheidungen gibt es also keine vorab festgelegten richtigen oder falschen Antworten, sondern lediglich unterschiedliche, potentielle Entscheidungsalternativen, die von den Interessen, Bedürfnissen, Wünschen und Intentionen der jeweiligen Personen abhängen (vgl. Arnoldt 2009, S. 188). Adaptive Entscheidungen, wie bspw. die Berufs- oder Studienwahl oder die Entscheidung für eine Familiengründung, gehen nicht mit expliziten Wissensbeständen über alle möglichen Konsequenzen und Folgen der Entscheidung einher, sondern vielmehr mit inhärenten Mehrdeutigkeiten und mit, für die adaptive Situation konstitutiven, Unsicherheiten: Wären alle Möglichkeiten und Konsequenzen antizipierbar, wäre die Entscheidung nicht adaptiv. (C) Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass Menschen prinzipiell nie alle relevanten Informationen einer Entscheidungssituation zur Verfügung stehen (vgl. Okoli und Watt 2018, S. 1122). Im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen betrifft dies sowohl die Verfügbarkeit von objektiven,
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b ildungslaufbahn-relevanten Informationen wie bspw. alle existierenden Studienfächer und -kombinationen und/oder alle potentiellen Ausbildungsmöglichkeiten im In- und Ausland, als auch die subjektiven, personenbezogenen Informationen, wie bspw. persönliche Vorlieben, Interessen, Kompetenzen etc., die einen weitaus größeren Einfluss auf die adaptive Entscheidungsfindung im Kontext der eigenen Bildungsbiografie haben. (D) Selbst wenn man davon ausginge, dass dem Menschen all diese Informationen in realiter zur Verfügung stehen würden, wären Menschen nicht in der Lage, diese große Menge an Informationen in adäquater Weise und angemessenem Zeitaufwand zu verarbeiten (vgl. Damasio 2001, S. 236 f. sowie Gigerenzer und Gaissmaier 2011, S. 452). Dies betrifft sowohl die Repräsentation der Information (Gedächtnis) als auch die Analyse aller relevanten Kriterien (Reflexion). (E) Darüber hinaus scheint es unmöglich zu sein, alle zukünftigen Folgen und Konsequenzen aller alternativen Entscheidungsmöglichkeiten im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen zu antizipieren. Dies betrifft bspw. die bereits angesprochenen Kriterien für einen zulässigen Studienwechsel, wie bspw. eine plötzlich auftretende Unverträglichkeit oder berufsbedingte Krankheit, oder aber Prognosen bezüglich des zukünftigen Marktwerts von Studiengängen. Hier wäre die mögliche Streuung mit Sicherheit zu groß. (F) Bei der Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II (sowie bei Bildungslaufbahnentscheidungen im Erwachsenenalter) handelt es sich zudem weniger um eine finale und endgültige Entscheidung als vielmehr um die Anbahnung eines komplexen Entscheidungsfindungsprozesses (vgl. Gieseke 2016, S. 222). D. h. die Entscheidung darüber, welchen zukünftigen beruflichen Lebensweg man einschlagen und vielleicht auch gehen möchte, ist zeitlich nicht auf die zwei bis drei Monate zwischen Maturafeier (bzw. Abiparty) und Studieneingangsphase begrenzt, sondern kann als lebensbegleitender Prozess der Ausdifferenzierung eines (professionellen) Selbstkonzepts verstanden werden. Man denke hier bspw. an die Möglichkeit der Gestaltung eines individuellen Masterstudiums, an die jährlich wachsende Zahl an internationalen Master- und PhDStudiengängen, an interdisziplinäre Berufsperspektiven oder aber generell an die Vielzahl von Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten im tertiären Bildungssektor. Zusammenfassend kann jedenfalls festgehalten werden, dass die Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang von Schule zu Hochschule eine adaptive und persönliche Entscheidung ist, die von den individuellen Interessen, Bedürfnissen und Wünschen der jeweiligen Person abhängig ist und sich vielmehr durch Konflikte, Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten und ihre Prozesshaftigkeit charakterisiert als durch eine, an ökonomischen Zwängen orientierte, Rationalität.
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4.6.2 Subjektorientierte Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidungen und Entscheidungsfindung Im Folgenden sollen fünf theoretische Modelle vorgestellt werden, die sich der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang zwischen Schule und Hochschule widmen und stärker auf die subjektorientierten und individuellen Perspektiven des Übergangs fokussieren. Die Trennschärfe zwischen den theoretischen Positionen der subjektorientierten Ansätze ist, wie auch die Differenz zwischen den deskriptiven und präskriptiven Entscheidungstheorien (vgl. hierzu Pfister et al. 2017, S. 6 f.) oder die Differenz zwischen strukturellen und individuellen Perspektiven (vgl. Kutscha 1991, S. 117 f.), oft nicht ganz eindeutig. Dennoch verdeutlichen die Modelle die perspektivische Fokussierung auf die subjektive Lebenswirklichkeit von Schüler*innen. I. Als Übergangsmodell zwischen einer strukturellen und individuellen Perspektive kann die „Sozial-kognitive Theorie der Laufbahnentwicklung“ (social cognitive career theory, SCCT) von Robert W. Lent et al. (1994) verstanden werden. Die Berufs- und Studienwahl wird im individuumzentrierten Modell von Lent et al. (1994) als ein dynamischer Prozess mit mehreren Entscheidungspunkten aufgefasst. Die, dem Modell zugrunde liegende, zentrale Annahme ist, dass im Zusammenspiel von Selbstwirksamkeitserwartungen, Ergebniserwartungen und den persönlichen Zielen selbstregulierte und eigenständige Bildungslaufbahnentscheidungen getroffen werden. Ausgehend von Albert Banduras (1986) sozial-kognitiver Lerntheorie berücksichtigt es eine Vielzahl an Variablen. Dementsprechend betrachtet das Modell Laufbahnprozesse als abhängig von spezifischen Kontextmerkmalen, wie bspw. Vorbilder, bildungsbezogene Unterstützung, Geschlecht, soziale Herkunft etc., sowie spezifischen Personenmerkmalen, wie bspw. Lernerfahrungen, Ergebniserwartungen, Interessen, Motive etc. (vgl. Lent et al. 1994, S. 104–107). Die Autor*innen gehen dabei von einer dynamischen Wechselwirkung aus; während Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartungen direkt auf die persönlichen Ziele und das Entscheidungsverhalten einwirken, wirken Erfolge und Misserfolge, die mit dem Entscheidungsverhalten verbunden sind, auf die Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartungen ein und modifizieren diese. Die zentrale Grundaussage des Modells ist, dass Selbstwirksamkeit in erster Linie für die jeweilige Berufsvorstellung und die sich daran anschließende Berufs- oder Studienwahl verantwortlich ist. Selbst-
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wirksamkeit, verstanden als das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen zur Erreichung bestimmter Ziele, wirkt dabei auf alle weiteren im Entscheidungsprozess relevanten Variablen, wie Interessen, Ziele, Handlungen, Leistung und Erfolg ein. Da das Modell Kontextvariablen (wie bspw. spezifische Unterstützungsmöglichkeiten), Personenvariablen (wie bspw. die eigene Lernerfahrung) und das soziale Umfeld bzw. andere wichtige Personen theoretisch berücksichtigt, bezeichnen es die Autor*innen selbst als ein holistisches bzw. einheitsstiftendes Konzept der Berufswahlentscheidung (vgl. Lent et al. 1994, S. 118). Auch wenn die empirische Umsetzung aufgrund der Komplexität des Modells teilweise problematisch erscheint (vgl. hierzu bspw. Lent et al. 2008 sowie Lent et al. 2010), ist es theoretisch besonders attraktiv, da es Selbstwirksamkeit, Ergebniserwartung, Ziele und Interessen gleichermaßen berücksichtigt. Im Anschluss an die sozialkognitive Theorie der Laufbahnentwicklung wurde eine „konstruktivistische Theorie der Berufsberatung“ erarbeitet, in der fünf berufliche Entwicklungsphasen zeitlich getrennt mit jeweils spezifischen Entwicklungsaufgaben unterschieden werden (vgl. Steinmann und Maier 2018, S. 232 f.). Da es sich dabei allerdings um ein Modell der Karriereentwicklung mit Fokus auf Berufsinteressen (und -einstieg) handelt und die Studienwahl nur zum Teil berücksichtigt wird, wird an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen. Die Theorie der Berufsberatung scheint allerdings für den Übergang zwischen Sekundarstufe I und Sekundarstufe II durchaus gewinnbringende, entwicklungstheoretische Implikationen bereitzustellen. II. Ein weiteres Modell der Studien- und Berufswahl, das im Gegensatz zur Theorie der Laufbahnentwicklung strukturelle Bedingungen weitgehend ausblendet, ist das motivationstheoretische „Erwartungs-Wert-Modell“ von Jacquelynne S. Eccles (1983, 2005). Dieses ursprünglich aus den klassischen Entscheidungstheorien abgeleitete Modell der Pädagogischen Psychologie geht davon aus, dass leistungsbezogene Entscheidungen vorrangig aufgrund von subjektiven Wertkomponenten bzw. der subjektiven Bedeutsamkeit von Aufgaben (subjective task values) und der eigenen Erfolgserwartung getroffen werden. Bildungs- und Berufsentscheidungen werden laut Eccles im Sinne motivationstheoretischer Überlegungen dabei von vier zentralen Wertkomponenten bestimmt, die wiederum zentralen Einfluss auf die eigene Erfolgserwartung haben: Erstens von der subjektiven Relevanz und persönlichen Identifikation mit dem Thema oder der Aufgabe, verstanden als individuelle Passung mit dem eigenen Selbstkonzept (attainment value); zweitens von der intrinsischen Motivation und dem persönlichen Interesse, verstanden als Freude, Spaß und Neugierde am
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Thema bzw. Gegenstand (intrinsic value); drittens von den zu erreichenden kurzfristigen und/oder langfristigen Zielen (utility value); und viertens von den zu erwartenden Investitionskosten (perceived cost) (vgl. Eccles 2005, S. 109–113). Der Nützlichkeits- oder Zielwert (utility value) kann dabei als extrinsische Motivation verstanden werden; bei den Investitionskosten hingegen nennt Eccles als Beispiele die antizipierte Bildungsangst, die Furcht vor dem Scheitern sowie die Furcht vor den sozialen Folgen des Erfolgs (vgl. Eccles 2005, S. 112). Insgesamt sind alle vier Komponenten vor allem durch die subjektiv emotionalen Bewertungen unterschiedlicher Faktoren charakterisiert, was dieses Modell im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen auch besonders auszeichnet. Das tatsächliche Entscheidungsverhalten in Eccles’ Modell setzt sich einerseits aus den Erfolgserwartungen in Abhängigkeit des eigenen Fähigkeitskonzepts und andererseits aus der subjektiven Bedeutsamkeit bzw. dem persönlichen Wert von Aufgaben, Themen und Gegenständen zusammen, wobei sich die Erfolgserwartung ebenso an den subjektiven Wertkomponenten und ihren emotionalen Bewertungen orientiert. Somit sind die Schlüsselfaktoren für Bildungslaufbahnentscheidungen im E rwartungs-Wert-Modell zum einen der relative Wert aus subjektiver Relevanz, persönlichem Interesse, extrinsischer Motivation und Investitionskosten und zum anderen die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg im Hinblick auf die unterschiedlichen Berufs- oder Studienmöglichkeiten (vgl. Eccles und Wingfield 2002, S. 118). III. Ein weiteres theoretisches Konzept für die Berufs- und Studienwahl ist das, von Lars Tutt (1997) konzipierte „Modell des Studienentscheidungsprozesses“. Im Mittelpunkt steht dabei die Prozesshaftigkeit der Entscheidungsfindung, die laut Tutt in fünf Phasen gegliedert werden kann. Theoretisch nimmt das Modell Anleihe aus Erkenntnissen des Marketings und adaptiert ein, eher den klassischen Entscheidungstheorien zuzuordnendes, ökonomisches Prinzip, das allerdings nicht zwangsläufig einer rationalen Kausalitätslogik folgt, für eine subjektzentrierte Sichtweise. Für die unterschiedlichen Phasen der Entscheidungsfindung wiederum postuliert Tutt spezifische Einflussfaktoren: 1) In der Prozessanregungsphase geht es um die generelle Entscheidung für oder gegen ein Studium, welche in erster Line durch Eltern, Lehrpersonen, Bekannte, Medien und die Grundeinstellung der Schüler*innen beeinflusst wird; daran schließt sich 2) die Such- und Vorauswahlphase der Informationssammlung an, die abhängig ist von Wohnort, Bekannten, Arbeitsagenturen, Studienberatungen, Lehrer und Medien; diese Informationen werden dann in 3) der Bewertungsphase abgewogen, wobei Gespräche mit Studierenden, der Besuch von Uni-
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versitäten, Vorlesungsbesuche und (erneut) Wohnort und Medien diese Phase beeinflussen; in der 4) Entscheidungsphase, die von denselben Einflussfaktoren wie die Bewertungsphase bestimmt wird, kommt es zur Festlegung von Studienort und Studienfach; die letzte Phase, 5) die sogenannte Bestätigungsphase fällt mit dem Studienbeginn zusammen, wobei die getroffene Entscheidung durch Orientierungswochen bzw. die Studieneingangsphase und studienrelevante Informationen überprüft wird (vgl. Tutt 1997, S. 5–8). Auch wenn das Modell die Einflussfaktoren auf Bildungslaufbahnentscheidungen nur unzureichend berücksichtigt und zudem zu stark auf den Zusammenhang von Studienort und Studienwahl fokussiert, was aufgrund der in Deutschland geltenden Studienzulassungsbeschränkungen durchaus verständlich ist, verdeutlicht es einerseits, dass die Informationsquellen im Entscheidungsprozess immer spezifischer werden und dass andererseits die Entscheidungsfindung von Studien- und Berufswahl als sukzessiv deduktiver Prozess verstanden werden kann. IV. Das „Modell des Studienentscheidungsprozesses“ von Tutt (1997) wurde von Cort-Denis Hachmeister et al. (2007) aufgegriffen und im Hinblick auf Motivlagen und Informationsverhalten von Schüler*innen erweitert. Dieses „allgemeine Modell des Studienwahlprozesses“ besteht nur noch aus vier Phasen, 1) der Prozessanregung, 2) der Such- und Vorauswahl, 3) der Bewertung und 4) der Entscheidung (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 23). Die jeweiligen Phasen erstrecken sich je nach Entscheidungstyp über die letzten Schulstufen vor dem Übertritt zur Hochschule bis zum Studienbeginn (bzw. Berufseinstieg oder einer anderen Alternative). Dabei gehen die Autor*innen davon aus, dass der Phasenprozess interindividuell sehr unterschiedlich sein kann und sich bspw. über zwei Jahre oder aber nur über sechs Monate erstrecken kann (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 26 f.). Zentral im Modell von Hachmeister et al. (2007) sind die unterschiedlichen Arten von Einflussfaktoren, die jeweils auf die einzelnen Phasen einwirken und den Studienwahlprozess zentral bestimmen. Zum einen werden Faktoren unterschieden, die sich eher auf den Verlauf des Entscheidungsprozesses auswirken wie bspw. die soziale Herkunft, spezifische Milieus oder Persönlichkeitsvariablen. Demgegenüber stehen Faktoren, die sich direkt bzw. inhaltlich auf die Studienwahl auswirken, wie bspw. Interessen, Fähigkeiten oder Berufsberatungsangebote. Diese prozessbeeinflussenden und wahlbeeinflussenden Faktoren lassen sich nicht exakt voneinander trennen, sollen aber empirisch dazu genutzt werden unterschiedliche Entscheidungstypen zu distinguieren (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 23). Gleichsam werden im Modell extrinsische und intrinsische Einflussfaktoren unterschieden;
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intrinsisch wirken bspw. das Selbstkonzept, die Persönlichkeit und die eigenen Erfahrungen und extrinsisch wirken bspw. Personen, Medien oder Informationen auf den Entscheidungsfindungsprozess. V. Abschließend sei noch ein weiteres theoretisches Modell vorgestellt, das nicht so sehr von einem bewussten Entscheidungsprozess am Übergang in die Hochschule ausgeht und stärker die subjektiven Probleme der Studienwahl als entscheidungsrelevant hervorhebt. Helmut Guggenberger (1991) beschreibt die „Studienwahl als multifaktoriellen Prozess der individuellen Entscheidung“. Auf subjektiver Ebene wirken dabei Persönlichkeitsvariablen wie Herkunft, Fähigkeiten und Interessen, auf objektiver Ebene bildungspolitische Maßnahmen sowie rechtlich-formale Bedingungen des Hochschulzugangs (vgl. Guggenberger 1991, S. 33–42). Als zentrale Einflussfaktoren für die Studienwahl nennt er dementsprechend sozio-demographische Merkmale, institutionelle Determinanten und im Besonderen die Motivatoren von Studienanfänger*innen. Weitere sekundäre Parameter des Entscheidungsprozesses können weltanschauliche Strömungen, der Diskurs in der medialen und politischen Öffentlichkeit sowie Beratung und Information sein (vgl. Guggenberger 1991, S. 67 f.). Allerdings geht Guggenberger in seinem subjektorientierten Modell von vier zentralen Thesen aus, die den Prozess der Studienwahl im Kontext universitärer Bildung kritisch in den Blick nehmen und die Vorstellung einer bewussten Entscheidungsfindung konterkarieren: 1) Die „Aufbewahrungsthese“ besagt, dass Universitäten seit jeher einen gesellschaftlichen Ort darstellen, an dem erwerbslose und sozial verunsicherte Studienberechtigte einen sicheren Rückzugsort auffinden, um sich dort präventiv zu bilden. Hier kann laut Guggenberger nicht von einer aktiven und bewussten Bildungsentscheidung die Rede sein (vgl. Guggenberger 1991, S. 116). 2) Die These des „Neuen Klientel“ besagt, dass Universitäten permanent darum bemüht sind neue Bevölkerungsgruppen und -schichten für sich nutzbar zu machen und dadurch im Wandel zur Massenuniversität Exklusivität und Qualität einbüßen. Die Studienwahl des neuen Klientels ist extrinsisch motiviert und steht im Widerspruch zu einer Idee von (Selbst-)Bildung (Guggenberger 1991, S. 118 f.). 3) Die „SegmentierungsThese“ geht davon aus, dass sowohl die Universitäten als auch die Studentenschaft zerfallen sei und sich immer weiter voneinander entfernen. Grund hierfür ist, dass sich die Zwecke und Mittel zu studieren wandeln. Die Idee einer studentischen Identität verschwindet zugunsten von Modestudien, Berufsstudien oder schnellen Hochschulabschlüssen zur Steigerung des Marktwerts. Die Studienfachwahl wird dabei zur Nebensache (vgl. Guggenberger 1991, S. 125–128). 4) Die zentrale These von Guggenberger
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im Kontext der Bildungslaufbahnentscheidung ist allerdings die „AnomieThese“: Studienentscheidungen werden in keiner Weise gezielt, langfristig oder bewusst getroffen, sondern gehen vielmehr mit vagen Vorstellungen, Erwartungen und Absichten einher, die zu kurzfristigen bzw. spontanen Entscheidungen führen (vgl. Guggenberger 1991, S. 122). In Guggenbergers Modell ist die Zeit der Studienwahl geprägt von Orientierungs- und Entscheidungsschwierigkeiten und die Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang zur Hochschule zeichnet sich in erster Linie durch, von sozial verursachten Orientierungsproblemen bedingten, Unsicherheiten aus. Die Stärke seines Modells ist, dass, trotz der Abwägung unterschiedlicher Einflussfaktoren und der Berücksichtigung gesellschaftlicher und individueller Ebenen in der Bildungsentscheidung am Übergang zur Hochschule, die Studien(fach)wahlentscheidung als tatsächlicher und bewusster Entscheidungsprozess aus subjektiver Perspektive infrage gestellt wird. Eine emotionstheoretische Perspektive auf Entscheidungsfindungsprozesse könnte hier eine entsprechende Lösung oder zumindest Differenzierung von Guggenbergers skeptischer Conclusio ermöglichen.
4.6.3 Emotionstheoretische Grundannahmen der Entscheidungsfindung Die Bedeutung von Emotion für Entscheidungsfindungsprozesse wurde in den letzten zwanzig Jahren zu einem zentralen Topos unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen und ist im Kontext subjektorientierter Perspektiven eine unverzichtbare Stellgröße. Besonders in den Neuro- und Kognitionswissenschaften gilt der Stellenwert von Emotionen für Entscheidungsfindungsprozesse als evident (vgl. bspw. Bechara et al. 1997; Brand 2008; Chiu et al. 2008; Rolls 2013): Adaptive Entscheidungen werden unabhängig von ihrer Tragweite und Komplexität über weite Strecken aufgrund von emotionalen Bewertungen getroffen. Diese Annahme wurde in den vergangenen Jahren durch zahlreiche experimentelle Studien gestützt. Grundlegend hierfür waren die Arbeiten von Antoine Bechara (1997) und dem Forschungsteam rund um Antonio Damasio (2001), die gemeinsam im Iowa Gambling Task (IGB) die These bestätigen konnten, dass Emotionen sowohl die Vorauswahl von Entscheidungsmöglichkeiten im Sinne der intuitiven Selektion steuern als auch die bewusste Entscheidungsfindung zentral beeinflussen (vgl. Bechara et al. 1997, S. 1294; Bechara 2004, S. 37 f.). Die Thesen von Bechara und Damasio wurden in einer Reihe von Folgestudien
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a ufgegriffen und unter anderem von Matthias Brand (2008) und Edmund T. Rolls (2013) bestätigt. Daraus entwickelte sich ein interdisziplinärer Diskurs, in dem Emotionen als eine notwendige Voraussetzung von (adaptiven) Entscheidungsfindungsprozessen verstanden werden. Jennifer Lerner et al. (2015) verdeutlichen in ihrem ganzheitlich orientierten „Modell der affektiven Entscheidungsfindung“ (the emotion-imbued choice model), dass nicht nur das bewusste und nicht-bewusste Abwägen von Entscheidungsmöglichkeiten zentral von Emotionen beeinflusst wird, sondern auch die Erfolgserwartung und die antizipierten Folgen der Entscheidung von emotionalen Prozessen gesteuert werden (vgl. Lerner et al. 2015, S. 815). Der Einfluss von Emotionen auf Entscheidungsfindungsprozesse wird im Modell von Lerner et al. (2015) multifaktoriell dargestellt und lässt sich in Form von neun Thesen wie folgt beschreiben: 1) Emotionen sind starke und durchdringende Antriebe der Entscheidungsfindung und nehmen direkten Einfluss auf Werturteile und Normen (wie dies bereits im Erwartungs-Wert-Modell von Eccles deutlich wurde); 2) der Einfluss von Emotionen auf Entscheidungen und Urteile kann wesentlich oder nebensächlich sowie bewusst oder nicht-bewusst sein, jedoch nie zufällig; 3) die Valenz ist nur ein Faktor neben mehreren, der den Einfluss von Emotionen auf Entscheidungsprozesse charakterisiert; 4) Emotionen beeinflussen Entscheidungen auch dadurch, indem sie den Inhalt der eigenen Gedanken, die Tiefe der eigenen Gedanken sowie die persönlichen Ziele und Erwartungen verändern und deren Aktivierung steuern; 5) ob Emotionen eine Entscheidung(smöglichkeit) fördern oder hemmen, hängt davon ab, in welcher Weise sie spezifische kognitive und motivationale Prozesse auslösen oder hemmen; 6) Emotionen sind keine heuristische Entscheidungshilfe, sondern Voraussetzungen von Handlungen und Verhalten; 7) der Einfluss von Emotionen auf Entscheidungsfindungsprozesse lässt sich nicht verhindern oder gänzlich reduzieren, sondern lediglich durch Emotionsregulationsmechanismen adaptieren; 8) trotz der Signifikanz des Einflusses von Emotionen auf Entscheidungsfindungsprozesse ist dieser Zusammenhang systematisch noch relativ unerforscht; 9) dennoch oder gerade deshalb ist es an der Zeit, so die Autor*innen, für ein allgemeines Modell der affektiven Entscheidungsfindung (vgl. Lerner et al. 2015, S. 816 f.). Eine gewinnbringende Perspektive für die emotionstheoretischen Grundlagen der Entscheidungsfindung, wie sie im Modell von Lerner et al. (2015) beschrieben wurden, findet sich bei Norbert Schwarz (2000). Er macht darauf aufmerksam, dass Emotionen nicht nur den Entscheidungsprozess zentral beeinflussen, sondern dass die Entscheidungsfindung wiederum Emotionen hervorruft und reguliert und somit ein kontinuierliches Zusammenspiel von Entscheidung
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(bzw. Urteil) und Emotion mentale Prozesse konstituiert (vgl. Schwarz 2000, S. 438). Dieser Zusammenhang scheint besonders im Kontext von spezifischen Berufsvorstellungen zentral zu sein (vgl. Wells und Iyengar 2005). Schwarz (2000) macht ebenso wie Antonio Damasio (2001) des Weiteren auf die Bedeutung des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses für Entscheidungsfindungsprozesse aufmerksam; mit Bezug auf die Stimmungsforschung kann davon ausgegangen werden, dass nicht nur – wie lange Zeit angenommen – aktuelle (bzw. gegenwärtige) emotionale Episoden die Entscheidungsfindung beeinflussen, sondern im Besonderen internalisierte, emotionale Überzeugungen sowie die Vorstellung zukünftiger Emotionen und antizipierter emotionaler Bewertungen (vgl. George und Dane 2016, S. 54). Die emotionale Bewertung von Erfahrung erstreckt sich somit, wie bereits im Kontext der emotionalen Markierungen und ihrer qualitativen Dimensionen deutlich wurde, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und untermauert die These von Emotionen und emotionalen Markierungen als relativ stabile Persönlichkeitsvariablen. In weiterer Folge wurden Emotionen auch unterschiedliche Funktionen für Entscheidungsfindungsprozesse zugesprochen. Hierzu zählen die Informationsfunktion (Emotionen signalisieren bspw. was gut oder schlecht ist), die Geschwindigkeitsfunktion (Emotionen ermöglichen bspw. eine zeitlich angemessene Entscheidungsfindung), die Relevanzfunktion (Emotionen kategorisieren bspw. was in einer bestimmten Situation von subjektiver Bedeutung ist) sowie die soziale Funktion (Emotionen ermöglichen bspw. sozial angepasste Entscheidungen und soziales Commitment) (vgl. Pfister et al. 2017, S. 309–316). Zusammenfassend kann hinsichtlich des Zusammenhangs von Entscheidungsfindungsprozessen und Emotionen festgehalten werden, dass es ohne Emotionen keine persönlich-adaptive Entscheidung gibt. Dementsprechend wurde das Wissen um den Einfluss von Emotionen auf adaptive Entscheidungen in vielen wissenschaftlichen Teilbereichen, wie bspw. im Marketing (vgl. O’Shaughnessy und O’Shaughnessy 2003), im Produktmanagement (vgl. Demirbilek und Sener 2003), im Kontext von Managementstrategien (Bachkirov 2013), in der Führungskräfteentwicklung (vgl. Ericson 2010) oder im Kontext von (politischen) Framingstrategien (vgl. Wehling 2016) bereits erkannt und entsprechend in Forschung und Praxis implementiert. Auch im Rahmen bildungswissenschaftlicher Überlegungen wurde der zentrale Stellenwert von Emotionen für Entscheidungsfindungsprozesse immer wieder diskutiert (vgl. bspw. Immordino-Yang und Damasio 2007; Lakomski und Evers 2010; Huber 2013; Gieseke 2016). Der Konnex von Emotion und Entscheidung bzw. von emotionalen Bewertungen und adaptiven Entscheidungsfindungsprozessen ist aus bildungswissenschaftlicher Perspektive deshalb von zentraler Bedeutung, da
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jene Prozesse so grundlegend sind, dass sie als Basis subjektbezogener Problemlösekompetenz verstanden werden können (vgl. Hannula 2015). In weiterer Folge steuern sie den Transfer und die Anwendung von Wissen und Fertigkeiten, das adaptive soziale Verhalten sowie den subjektiven Bildungsverlauf und die Nachhaltigkeit diesbezüglicher Entscheidungen (vgl. Huber 2018, S. 105). Dementsprechend verwundert es doch ein wenig, dass die Bedeutung von Emotionen im Allgemeinen und der Stellenwert von emotionalen Bewertungen und Markierungen für Bildungslaufbahnentscheidungen im Speziellen in der Übergangs- und Bildungsforschung bislang so wenig Aufmerksamkeit erfährt. Im Folgenden sollen zwei theoretische Modelle vorgestellt werden, die sich der Bedeutung von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen widmen.
4.6.4 Emotionstheoretische Grundannahmen der Bildungslaufbahnentscheidung Ein subjektorientiertes Modell der Berufs- und Studienwahl, das Emotionen in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, ist das „Prozessmodell der Emotionen und Kognitionen“ von Bernt-Michael Hellberg (2009). Die Grundidee des Modells ist eine Analyse von möglichen und tatsächlichen Einflussfaktoren im Entscheidungsprozess unter Berücksichtigung handlungstheoretischer Konzeptualisierungen und sprachanalytischer Überlegungen. Das Ziel von Hellberg ist es, eine Theorie über das kognitiv-emotionale Prozessgeschehen bei Entscheidungsfindungskonflikten der Berufswahl zu entwickeln (vgl. Hellberg 2009, S. 84). Dafür unterscheidet er in seinem Prozessmodell der Entscheidungsfindung kognitive Aktivitäten und Operationen von emotionalen Prozessen und Verbalisierungen. Die Entscheidungsfindung findet dabei im Kontext kognitiver Operationen statt, die sich wie folgt beschreiben lassen: Ausgangspunkt ist einerseits der kontinuierliche Vergleich zwischen Imagination (I), verstanden als die Charakteristika eines realen Berufes, und Vorstellung (V), verstanden als die Charakteristika eines in der Vorstellung existierenden Idealberufes, sowie andererseits der kontinuierliche Vergleich zwischen der Reflexion der Vorstellung (R1) und der Reflexion der Imagination (R2) (vgl. Hellberg 2009, S. 150–156). Durch den Vergleich zwischen Imagination und Vorstellung entstehen unterschiedliche Antizipationen (A), die mit emotionalen Prozessen und dem Erleben derselben (E) einhergehen. Dieses emotionale Erleben wiederum beeinflusst den Vergleich zwischen Vorstellung und Imagination und verändert die Passung zwischen Reflexion, Imagination und Vorstellung (vgl. Hellberg 2009, S. 223). Die Reflexionsformen (R1 und R2), die
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Imagination (I), die Vorstellung (V) und die Antizipation (A) stehen dabei in einem interdependenten Verhältnis. Die emotionalen Prozesse und Verbalisierungen lassen sich wiederum zeitlich, objektbezogen und nach ihrer Valenz differenzieren; zeitlich werden 1) Gegenwartsgefühle und 2) Gefühlsantizipationen, objektbezogen 3) Gefühle gegenüber dem Beruf bzw. dem Berufsleben sowie 4) gegenüber Personen bzw. Personengruppen differenziert und betreffend der Valenz werden 5) positive von 6) negativen Emotionen unterschieden (vgl. Hellberg 2009, S. 178). Durchaus problematisch und voraussichtlich auch der Grund, warum das Modell in weiterer Folge empirisch kaum aufgegriffen wurde, sind das theoretische Abstraktionsniveau der einzelnen Komponenten, die Annahme der ungerichteten Gleichzeitigkeit der kognitiven Operationen im Prozess, die Ähnlichkeit der Modellierung mit den klassischen Ansätzen der Entscheidungstheorie sowie die klare Trennung zwischen kognitiven Aktivitäten als Formen mentaler Repräsentationen und emotionalen Prozessen als Verbalisierungsformen emotionalen Erlebens. Unverständlich bleibt zudem die Genese des emotionalen Erlebens einzig und allein als Folge von Antizipationstendenzen und die damit implizierte Vernachlässigung emotionaler Überzeugungen und vergangener emotionaler Bewertungen. Die Stärke des Modells ist es, dass es theoretisch verdeutlicht, dass Emotionen in Form gegenwärtiger und antizipierter Gefühle sowohl einen signifikanten Einfluss auf das Abwägen von Entscheidungsmöglichkeiten (im Vergleich zwischen Vorstellung und Imagination) als auch auf die tatsächliche Entscheidungsfindung selbst (Reflexion) im Kontext von Berufs- und Studienwahl nehmen. Dem Prozessmodell von Hellberg (2009) soll ein zweites theoretisches Konzept gegenübergestellt werden, das aus der Erwachsenenbildung stammt und einen weitaus praxisnäheren Zugang zur Bedeutung von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen ermöglicht: Wiltrud Gieseke (2016) widmet sich in systematischer Weise der Wirkung von Emotionen auf Bildungsprozesse aus beziehungstheoretischer Perspektive und verdeutlicht die Notwendigkeit einer pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen „Konzeption des lebenslangen Lernens“, in der Emotion und Kognition gleichwertig nebeneinander stehen (vgl. Gieseke 2016, S. 15). Ausgehend von Konzepten und Praxisbezügen der Weiterbildungsberatung und biografischen Beratung entwickelt Gieseke ein Modell, in dem Bildungsentscheidungen als individuelle, selbst zu verantwortende Lebensentscheidungen verstanden werden, und richtet sich damit explizit gegen die Vorstellung einer rationalen, an Nützlichkeit und ökonomischen Prinzipien orientierten Entscheidungsfindung im Bildungsbereich. Neben beziehungs- und bildungstheoretischen Überlegungen bezieht sich Gieseke besonders auf neurobiologische Grundannahmen für die Analyse emotionaler und kognitiver Prozesse
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im Entscheidungsverhalten (vgl. Gieseke 2016, S. 74 ff.). Unter Berücksichtigung der Arbeiten von Antonio Damasio (2001) und Joseph LeDoux (2006) werden Emotionen als entscheidungsherbeiführend und handlungssteuernd verstanden, wobei Emotionen (und Emotionsmuster) als Bewertungen der eigenen Erfahrung die Entscheidungsfindung bedingen. Bildungsentscheidungen sind somit immer als Bewertungen im Prozess zu verstehen, deren Wirkungen und Konsequenzen nicht im Voraus erkennbar sind (vgl. Gieseke 2016, S. 222). Demgegenüber versteht auch Wiltrud Gieseke den Rationalisierungsanspruch respektive das Gebot der Rationalität bei Entscheidungen – und dies erklärt auch die Priorisierung von Rational-Choice-Modellen bspw. in den Wirtschaftswissenschaften – als eine subjektive Strategie der Absicherung und Rechtfertigung gegenüber kollektiven Normierungsvorstellungen. Dem Modell von Gieseke liegen drei, aus der Bildungsberatung und Weiterbildungsforschung abgeleitete, zentrale Thesen zugrunde, die wie folgt zusammengefasst werden können: 1) Es gibt unterschiedliche Reichweiten in der Begründungstiefe von Bildungsentscheidungen, die nebeneinander stehen und für sich jeweils Gültigkeit beanspruchen (bspw. die Differenz von Motiv und Erwartung); 2) es lassen sich drei Schichten der Entscheidungsfindung unterscheiden, die nicht unabhängig der tatsächlichen oder antizipierten Entscheidungsmöglichkeiten sowie der Ausgangsbedingungen der Entscheidungsfindung sind; 3) die Entscheidungsschichten sind 3a) die situative Passgenauigkeit, 3b) die Qualifizierungsentscheidung sowie 3c) die Emotionsmuster als immanent wirkende Entscheidungen (vgl. Gieseke 2016, S. 223 f.). (A) Die situative Passgenauigkeit bzw. die pragmatische Entscheidungsebene betrifft den eigentlichen Verwertungskontext sowie die sachbezogene Abwägung der Entscheidungsmöglichkeiten und kann als extrinsische Motivation (Zeit, Ort, Geld, Image etc.) verstanden werden (vgl. Gieseke 2016, S. 224). (B) Die Qualifizierungsentscheidung bzw. die unbegründete Entscheidungsebene betrifft die Problematik der rationalen oder biografischen Begründung größerer Veränderungen, d.h. anstelle persönlicher Motive und Antriebe wird eine allgemeine Unsicherheit in Form von subjektiven Begründungslöchern deutlich (vgl. Gieseke 2016, S. 230 f.). Die unbegründete Entscheidungsebene verdeutlicht, im Anschluss an die Anomie-These von Guggenberger (1991), erneut die Bedeutung von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit als konstitutives Moment und Charakteristikum von persönlich-adaptiven Entscheidungen (wie der Bildungslaufbahnentscheidung). (C) Die Entscheidungsschicht der „Emotionsmuster als immanent wirkende Entscheidungen“ ist eine besonders bedeutsame und kontinuierlich fortwirkende, die anderen Schichten durchdringende, Dimension der Entscheidungsfindung. Im Zentrum stehen dabei Beziehungsprozesse, durch
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die Wichtigkeitsbesetzungen und Priorisierungen konstituiert werden, die die Entscheidungsfindung in Form von Emotionsmustern zentral bestimmen. An dieser Stelle spricht Gieseke von „emotionalen Markierungen vergangener Beziehungsprozesse als fördernde und fordernde Impulsgeber“ (Gieseke 2016, S. 232), die nicht zwangsläufig bewusst sein müssen, sondern besonders auf nicht-bewusster Ebene als emotionale Muster die Entscheidungsfindung beeinflussen, weil die Begründungsebene nicht über ein explizites Wissen verfügt. Beziehungsprozesse bzw. Beziehungserfahrungen (mit Eltern, Lehrpersonen, Freunden etc.) und ihre emotionalen Markierungen führen also zu Emotionsmustern, die in jeder Phase der Entscheidungsfindung und Lebensplanung auf nicht-bewusster und bewusster Ebene Priorisierungen, Selektion und Auswahl ermöglichen. Diese Emotionsmuster und emotionalen Markierungen sind auch bei Gieseke, wie bereits an früherer Stelle ausgeführt, als Persönlichkeitsvariablen konstitutiv für das eigene Selbstbild (vgl. Gieseke 2016, S. 234). Gieseke führt allerdings weiter aus, dass bestimmte Emotionsmuster, in Form komplexer und widersprüchlicher Dynamiken, auch für jene Entscheidungen verantwortlich sind, die als subjektive Fehlentscheidungen wahrgenommen werden und oft zu einer zynischen Form der Selbststeuerung und Lebensplanung führen (vgl. Gieseke 2016, S. 235). Dementsprechend sind Emotionsmuster als Folge des emotionalen Sozialisationsprozesses und als immanent wirkende Entscheidungen die Schlüsselfaktoren des lebenslangen Lernens, der Selbstbildung und der eigenen Bildungsbiografie. Und hier liegt die besondere Stärke von Wiltrud Giesekes emotionstheoretischem Verständnis; in der Verbindung und Überschneidung respektive gleichberechtigten Beziehung von Emotion und Kognition wird Bildung möglich: „Erst dieses Zusammenspiel macht das Niveau der erworbenen Bildung und das erlangte Handlungspotential aus. (…) In der Ausdifferenzierung des individuellen Emotionshaushalts und der entwickelten intellektuellen sowie ethischen Potentiale liegt die Wirksamkeit der Lernprozesse von Individuen.“ (Gieseke 2016, S. 252) Eine weitere Stärke von Giesekes Modell der Bildungsentscheidung liegt, neben der zentralen Bedeutung von Emotion als entscheidungsherbeiführend und handlungssteuernd, im Besonderen in der expliziten Hervorhebung der Beziehungsprozesse für die Konstitution von Emotionsmustern und emotionalen Markierungen der Entscheidungsfindung, die sich im Kontext subjektorientierter Perspektiven in dieser Deutlichkeit selten findet. Hier wird besonders die soziale Dimension (für die Genese, Konstitution und Manifestation) von Emotionen deutlich. Des Weiteren ist die Vorstellung des kontinuierlichen, bewussten und nicht-bewussten Einflusses von Emotionen auf die Entscheidungsfindung und die Wirkung auf die unbegründete und pragmatische Entscheidungsebene eine
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gewinnbringende Perspektive. Wiltrud Gieseke hat ihr theoretisches Modell in weiterer Folge für die Bildungsberatung adaptiert und gemeinsam mit Maria Stimm unterschiedliche Praxiskonzepte der Weiterbildungsberatung in der Erwachsenenbildung ausgearbeitet (vgl. hierzu Gieseke und Stimm 2016 sowie Gieseke und Stimm 2018). Nachdem die klassischen, subjektorientierten und emotionstheoretischen Grundannahmen von Theorien über Bildungslaufbahnentscheidung unter besonderer Berücksichtigung des Übergangs zwischen Schule und Hochschule problematisiert wurden, wird sich das nachfolgende Kapitel anhand der Ergebnisse ausgewählter Studien im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang zur Hochschule der Frage annehmen, warum sich Schüler*innen für einen bestimmten Bildungsweg entscheiden.
4.7 Motive und Einflussfaktoren der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang Im Folgenden werden die Motive bei der Berufs- und Studienwahl aus neun aktuellen und repräsentativen Studien (I–IX), die zwischen 2003 und 2019 durchgeführt wurden, unter besonderer Berücksichtigung des Übergangs von Schule zur Hochschule zusammenfassend vorgestellt. Aufgrund der Fülle an Befunden wird nicht weiter auf das methodische Design der einzelnen Studien eingegangen, allerdings sind alle der im Folgenden dargestellten Ergebnisse bezüglich des Referenzrahmens, der Untersuchungsgruppe und des Erkenntnisinteresses durchaus vergleichbar und ergänzen sich im Hinblick auf die grundlegende Frage, was denn Schüler*innen im Entscheidungsfindungsprozess beeinflusst. Gleichzeitig liegt der Fokus der Ergebnisdarstellung, wie bereits im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen, auf der Suche und Synthese von Gemeinsamkeiten und Verbindendem, wodurch eine Priorisierung in der Ergebnisdarstellung unumgänglich wird. Der Vollständigkeit halber sei hier auch erwähnt, dass auf die Darstellung von Ergebnissen zur allgemeinen Studierfähigkeit und Hochschulreife, zur Kompetenz- und Leistungsentwicklung sowie zum Leistungserhalt (wie bspw. in TOSCA oder TIMSS+, vgl. hierzu Köller et al. 2004 sowie Ramseier 2004) aufgrund der thematischen Fokussierung der vorliegenden Arbeit verzichtet wird. Ebenso werden die oft rezipierten Ergebnisse der Shell-Jugendstudie nicht weiter berücksichtigt, da die generalisierte Alterspanne der Befragten (15.– 25. Lj.) und das globale Erkenntnisinteresse der Studie (Werte, Einstellungen, Gewohnheiten, Meinungen etc.) kaum Rückschlüsse auf die Motivationslage der Schüler*innen bei Bildungslaufbahnentscheidungen zulässt.
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I. Den Anfang macht eine Studie von Christoph Heine und Julia Willich (2006), in der allerdings die Beweggründe von Schüler*innen erfasst wurden, die bewusst auf ein Studium verzichten. Auch wenn dies nicht der Stoßrichtung der vorliegenden Arbeit entspricht, ist es dennoch eine spannende Perspektive und ein guter Einstieg für die nachfolgende Übersicht: Die drei zentralen Gründe für einen möglichen Studienverzicht sind, nach Häufigkeiten gereiht, (1) der Wunsch möglichst bald eigenes Geld zu verdienen (67 %), (2) der Wunsch nach einer praktischen Tätigkeit (39 %) und (3) die lang eingeschätzte Dauer eines Studiums (33 %) (vgl. Heine und Willich 2006, S. 40 f.). Weitere aber seltener genannte Gründe waren Berufsziele, die keinen akademischen Abschluss erforderlich machen, schlechte Berufsaussichten im Fall eines Studiums und die Annahme, nicht für ein Studium geeignet zu sein. II. Phillip Notter und Claudia Arnold (2003) untersuchen in ihrer Studie nicht nur die Gründe für die Studienfachwahl, sondern fragen auch danach, warum sich Gymnasiast*innen für eine bestimmte Hochschule entscheiden. Dabei sind drei Motive (wiederum in Reihenfolge ihrer Häufigkeit) besonders deutlich: a) die Sprache (97 %), b) die Struktur der Hochschule (80 %) und c) der Ruf der Hochschule (24 %) (vgl. Notter und Arnold 2003, S. 66). Weitere Gründe sind Infrastruktur und räumliche Nähe. Die Autor*innen verweisen allerdings darauf, dass die Gründe der Hochschulwahl sowohl national als auch regional bzw. im Stadt-Land-Vergleich sehr unterschiedlich ausfallen können, bspw. wenn es um sehr renommierte Universitäten geht oder aber das Elternhaus nahe einer potentiellen Hochschule liegt. Lars Tutt (1997) nimmt diesbezüglich übrigens an, dass die Wahl des Studienfaches prinzipiell relevanter sei, als die Wahl des Studienorts. Bei der eigentlichen Wahl des Studienfaches lassen sich wiederum vier zentrale Motive in Reihenfolge ihrer Häufigkeit bestimmen: 1) das Interesse am Fach (60 %), 2) die persönlichen Wertvorstellungen (35 %), 3) die eigene Begabung (30 %) und 4) die Berufsaussichten (22 %) (vgl. Notter und Arnold 2003, S. 69). Notter und Arnold machen allerdings darauf aufmerksam, dass die Wahl des Studienfachs in erster Linie intrinsisch motiviert sei, da das Interesse am Fach und die persönlichen Wertvorstellungen von fast allen untersuchten Personen als wichtig oder sehr wichtig genannt wurden. III. Zu einem ähnlichen Ergebnis im Hinblick auf die Studienfachwahl kommt die umfangreiche Studie zu Studienanfänger*innen und deren Motivlagen von Christoph Heine et al. (2005). Dabei werden intrinsische und extrinsische Studienwahlmotive differenziert und im Hinblick auf die Entscheidung für ein bestimmtes Studium erfasst. Auch hier ist die zentrale
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Aussage, dass sich Studierende bei der Wahl ihres Faches in erster Line durch intrinsische Motive leiten lassen. Nach Häufigkeit gereiht sind die Motive a) Interesse am Fach (96 %), b) persönliche Neigungen und vorhandene fachliche Begabungen (92 %), c) das Streben nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (75 %) sowie d) das wissenschaftliche Interesse (40 %) (vgl. Heine et al. 2005, S. 130). Weniger bedeutsam sind dagegen die extrinsischen Motive, verstanden als die auf die spätere Berufstätigkeit gerichteten Intentionen der Studierenden. Hier scheinen die folgenden Motivatoren relevant: 1) viele Berufsmöglichkeiten zu haben (67 %), 2) selbstständig arbeiten zu können (64 %), sichere Berufsposition (64 %), gute Verdienstmöglichkeiten (64 %), Status und Ansehen des Berufs (50 %) sowie Chancen am Arbeitsmarkt (43 %) (vgl. Heine et al. 2005, S. 131). Die Autor*innen weisen zudem darauf hin, dass im Hinblick auf die Bedeutung der extrinsischen Motivationslage ein Abwärtstrend zu beobachten sei und dass bei der Mehrheit der Studierenden unterschiedliche Motive in einem fest ausgeprägten Berufswunsch zusammenlaufen. Zu ergänzen ist, dass Heine et al. (2005) darauf aufmerksam machen, dass der familiäre Einfluss und der Einfluss des Freundeskreises (mit 7 %) nur sehr gering sei und auch das soziale Engagement nur bei einem Drittel der Studienanfänger*innen die Studienwahl beeinflusst. Die Studienwahlmotive haben zudem bei den Studienanfänger*innen der Universitäten, wie auch bei jenen an den Fachhochschulen, der Reihenfolge nach betrachtet den gleichen Stellenwert (vgl. Heine et al. 2005, S. 133). Unabhängig der Studienfachwahl untersuchen die Autor*innen des Weiteren die Berufs- und Lebensziele der Studienanfänger*innen. Dabei sind ein guter Verdienst (80 %), sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen (77 %) und viel Umgang mit Menschen (76 %) die Hauptziele der Studienanfänger*innen. Ebenfalls wichtig sind karriere- und erfolgsorientierte Berufsziele wie ein anerkannter Experte zu sein (72 %), gute Aufstiegsmöglichkeiten zu haben (71 %) und eine leitende Funktion einnehmen zu können (70 %); Freizeit, Flexibilität und Selbstständigkeit rangieren dagegen am unteren Ende der Skala (vgl. Heine et al. 2005, S. 262). IV. Die Studie von Cort-Denis Hachmeister et al. (2007) über Einflussfaktoren der Studienwahlentscheidung von Maturant*innen, deren „allgemeines Modell des Studienwahlprozesses“ bereits vorgestellt wurde, verweist am Beginn der Ergebnisdarstellung auf den Zeitpunkt der Beschäftigung von Schüler*innen mit dem Thema der Studienwahl. Dabei wird deutlich, dass ein großer Teil der Schüler*innen erst in der Abschlussklasse (41 %) oder nach Abschluss der Schule (37 %) die Studienwahlentscheidung trifft, auch
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wenn die Beschäftigung mit der Frage für die meisten Schüler*innen bereits ein Jahr vor dem Abschluss relevant wird. Mit Bezug auf frühere Studien lässt sich jedenfalls festhalten, dass der Zeitpunkt der Studienfachwahl eher am Ende der Schulzeit bzw. erst am Übergang in die Hochschule angesiedelt werden kann (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 7 und 55). An dieser Stelle sei allerdings nochmals auf die Prozesshaftigkeit dieser Bildungsentscheidung hingewiesen und auf die Tatsache, dass der Entscheidungsfindungsprozess nicht bis zum Beginn eines Studiums abgeschlossen ist. Wichtig hingegen ist es zu beachten, dass sich Schüler*innen generell erst sehr spät mit der Frage der Studienwahl auseinandersetzen und die Entscheidung für ein bestimmtes Studium in der Regel erst am Ende oder nach der Schule treffen. Des Weiteren wurde in der Studie die bereits erwähnte These bestätigt, dass die Studienfachwahl prinzipiell relevanter ist als die Wahl der Hochschule, des Hochschulorts oder des Hochschultyps (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 58). Bei den Motiven für die Studienfachwahl zeigt sich wiederum eine starke Priorisierung intrinsischer Motivlagen. Nach Häufigkeiten gereiht sind die zentralen Einflussfaktoren 1) entsprechende Neigungen und Begabungen (64,6 %), 2) persönliche Entfaltung (14,3 %), 3) günstige Chancen am Arbeitsmarkt (10,7 %), gute Verdienstmöglichkeiten (7 %), soziales Engagement (3,2 %) und was Eltern, der Freundeskreis oder Bekannte tun (0,1 %) (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 59). Beim Einfluss unterschiedlicher Personengruppen auf die Studienwahl zeigt sich, dass Eltern bei 70 % der Schüler*innen eher oder sehr einflussreich sind, der Freundeskreis und Mitschüler*innen bei 50 % der Befragten eine zentrale Rolle spielen und auch Verwandte und Bekannte (bei 40 % der Befragten) einen gewissen Einfluss auf die Studienwahl haben. Der Einfluss der Lehrperson ist hingegen bei lediglich 25 % der Schüler*innen signifikant (vgl. Hachmeister et al. 2007, S. 80 f.). V. Die Studie von Christine Bieri Buschor et al. (2008) zur Studienwahl von Matruant*innen macht neben Studienwahlmotiven auf einen aktuellen Trend aufmerksam, der sich seit mehreren Jahren (im Besonderen in Europa) beobachten lässt. Und zwar verweisen die Autor*innen, unter Bezugnahme auf frühere Studien (wie bspw. die zuvor erwähnte Analyse von Notter und Arnold 2003), auf einen sukzessiven Anstieg an Schüler*innen, die nach dem Schulabschluss eine Auszeit planen: Rund 70 % der befragten Maturant*innen planen ein Zwischenjahr als Zwischenlösung am Übergang von Gymnasium zur Hochschule (vgl. Bieri Buschor et al. 2008, S. 15). Von den rund 72 % der männlichen Maturanten, die eine solches gap year einplanen, absolvieren 70 % den Militär- oder Zivildienst. Bei Frauen hin-
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gegen sind es tatsächlich mehr als 63 % die nach Abschluss der Schulzeit ein solches Zwischenjahr einplanen. Besonders attraktiv und mit steigender Tendenz zu beobachten ist dabei ein Auslandsjahr oder -semester (oft in Kombination mit Temporärarbeit und/oder Sprachkompetenztraining). Dementsprechend sind die häufigst genannten Gründe für ein (freiwilliges) Zwischenjahr Selbstständigkeit und Exploration bzw. ein selbstständiges Leben weg von Zuhause (vgl. Bieri Buschor et al. 2008, S. 16). Ein weiteres zentrales Ergebnis der Studie, in der für unterschiedliche Studienfachbereiche spezifische Lebensziele (wie bspw. materielle Sicherheit) als auch Studienwahlmotive (wie bspw. Arbeitsmarktorientierung) und Berufswahlmotive (wie bspw. soziale Orientierung) erfasst wurden, ist die generelle Bedeutung der Selbsteinschätzung eigener Kompetenzen sowie das eigene Selbstbild. Die grundsätzliche, meist subjektiv überhöhte Selbsteinschätzung ist unabhängig von der sozialen Herkunft und dem Profil des Gymnasiums ein zentraler Einflussfaktor auf die eigene Lebens- und Lerngeschichte (vgl. Bieri Buschor et al. 2008, S. 38 f.). VI. Ähnlich wie bei Bieri Buschor et al. (2008) die Ausdifferenzierung des idiosynkratischen Selbstbilds repräsentativ für den Übergang zwischen Schule und Hochschule ist, konstatieren Hans-Georg Pütz et al. (2011) identitätsstiftende Dimensionen und Persönlichkeitsmerkmale als zentrale Einflussgrößen für die eigene Bildungslaufbahn am Ende der Sekundarstufe II. Besonders heben die Autor*innen dabei das Selbstwertgefühl, als emotionale Einstellung gegenüber der eigenen Person, und die Selbstwirksamkeit, als Überzeugung das eigene Leben unter Kontrolle zu haben und positiv beeinflussen zu können, hervor (vgl. Pütz et al. 2011, S. 173). Beide sind für Schule von zentraler Bedeutung, da schulische Erfolge und Misserfolge in Wechselwirkung mit den eigenen Ansprüchen, Zielen und Erwartungen zu einem Selbstbild synthetisiert werden, das uns in weiterer Folge als Person charakterisiert bzw. auszeichnet und unsere Entscheidungen zentral beeinflusst (vgl. Pütz et al. 2011, S. 183). Die Autor*innen weisen zudem darauf hin, dass das Selbstwertgefühl und die eigene Selbstwirksamkeit weniger von den Struktur- und Prozessmerkmalen der sozialen Herkunft abhängen, als vielmehr von Schulklimafaktoren und der eigenen Selbsteinschätzung. Dies wiederum kann als empirischer Beleg für die entwicklungstheoretische Annahme der Notwendigkeit der Ablösung vom Elternhaus und dem damit einhergehenden Umbau sozialer Beziehungen zu den Peers, die grundlegend für die Bewältigung schulischer und gesellschaftlicher Anforderungen in dieser Entwicklungsphase sind, interpretiert werden (vgl. Pütz et al. 2011, S. 186).
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VII. Verena Mauk (2016) beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit Einflussfaktoren auf die Studienwahl unter besonderer Berücksichtigung von MINT-Fächern bei Studienanfänger*innen und kommt dabei zu dem Schluss, dass das intrinsische Interesse am Fach, welches sich in seiner Genese oft bis in die Kindheit zurückverfolgen lässt, ein zentrales Kriterium bei der Studienwahl ist (vgl. Mauk 2016, S. 286 f.). Das gesellschaftliche Umfeld hingegen scheint lediglich als Informations- und Beratungsquelle zu fungieren, hat allerdings wenig Einfluss auf die tatsächliche Studienentscheidung; am ehesten sind es gute Lehrer*innen, die als Bezugspersonen den eigenen Bildungsweg beeinflussen können (vgl. Mauk 2016, S. 301). Die Rolle der Eltern wird bei Mauk (2016) hingegen nicht weiter thematisiert. Während soziologische Einflüsse, außerschulische Erfahrungen und die eigene Erfolgserwartung nur einen geringen Einfluss auf die Studienwahl zu haben scheinen, sind schulische Erfahrungen (bspw. positive Rückmeldungen, die mit Stolz einhergehen) und die individuelle Einschätzung (bspw. Freude und Spaß am Thema oder die antizipierte Nützlichkeit des Studiums für die Zukunft) in der Analyse von Mauk signifikant (vgl. Mauk 2016, S. 302 ff.). Auch wenn die Differenzierung der Einflussfaktoren in der Ergebnisdarstellung etwas problematisch erscheint, wird dabei dennoch deutlich, wie zentral die emotionalen Bewertungen der Studienanfänger*innen bei den, von der Autorin als signifikant angeführten, Kategorien in Erscheinung treten. Spätestens an dieser Stelle muss kurz darauf hingewiesen werden, dass in dieser entwicklungstheoretisch äußerst bedeutsamen Zeit des Übergangs ins junge Erwachsenenalter Emotionen eine zentrale Rolle einnehmen und viele der hier zitierten Autor*innen dies auch in den theoretischen Überlegungen ihrer Studien berücksichtigen oder zumindest beiläufig erwähnen. Es finden sich in den Ergebnisdarstellungen und Diskussionen auch immer wieder an prominenter Stelle Emotionswörter (wie bspw. Freude, Interesse, Stolz oder Angst etc.) oder aber der Verweis auf die Bedeutung des emotionalen Erlebens, im Besonderen wenn es darum geht, auf die subjektive Perspektive der Maturant*innen oder Studienanfänger*innen mit Nachdruck zu verweisen. Dennoch werden Emotionen und die emotionalen Dimensionen des Erlebens und Wahrnehmens in den meisten der hier zitierten Studien nicht berücksichtigt. VIII. In der umfangreichen Studie von Ulrich Heublein et al. (2017), in der die Ursachen des Studienabbruchs im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen, werden für die Studienfachwahl unterschiedliche Motivlagen herausgearbeitet. Dabei unterscheiden die Autor*innen 1) intrinsische
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Motive (wie bspw. die persönliche Begabung, der Wunsch nach persönlicher Entfaltung oder das wissenschaftliche Interesse), 2) extrinsische Motive (wie bspw. gute Arbeitsmarktchancen und Aussicht auf ein hohes Einkommen), 3) soziale Motive (wie bspw. anderen Menschen zu helfen) sowie 4) den Rat von anderen (bspw. von Eltern oder dem Freudeskreis). Unabhängig ob Studienabbruch oder Studienerfolg sind die zentralen Einflussfaktoren nach Häufigkeit gereiht intrinsischer Natur, und zwar a) Fachinteresse (85 %) gefolgt von persönlichem Bezug (70 %) und dem Wunsch nach persönlicher Entfaltung (61 %) (vgl. Heublein et al. 2017, S. 106). Insgesamt trafen 80 % der Studienabsolvent*innen und 70 % der Studienabbrecher*innen ihre Studienwahl intrinsisch motiviert. Im Gegensatz dazu spielten extrinsische Motive bei der Studienfachentscheidung der Studienabbrecher*innen eine deutlich gewichtigere Rolle als bei den Studienabsolvent*innen. Im Vergleich zu den 36 % der Absolvent*innen gaben 50 % der Abbrecher*innen an, die Studienfachwahl extrinsisch motiviert zu begründen. Die zentralen Motive der Abbrecher*innen sind a) gute Arbeitsmarktchancen (64 %), b) Aussicht auf ein hohes Einkommen, sowie c) das Streben nach einem angesehenen Beruf (48 %). Während die sozialen Motive eher bei Absolvent*innen eine entscheidungsunterstützende Funktion haben, sind es bei den Studienabbrecher*innen die Ratschläge anderer Personen. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist dementsprechend, dass unabhängig von Studienfach und Hochschule Studienabbrecher*innen in der Regel ihren Studiengang häufig aufgrund von extrinsischen Motiven wählen und bei ihrer Entscheidung eher dem Rat anderer folgen, während Studienabsolvent*innen ihre Bildungslaufbahnentscheidung häufiger intrinsisch motiviert treffen und sich eher von sozialen Motiven beeinflussen lassen (vgl. Heublein et al. 2017, S. 108). Für die vorliegende Arbeit ist ein weiterer Zusammenhang von Interesse: Und zwar konnten die Autor*innen zeigen, dass die Motivationslage respektive die Reihung der Häufigkeiten der einzelnen Einflussfaktoren auf die Bildungslaufbahnentscheidung und Studienfachwahl beider Gruppen unter Berücksichtigung ihrer Bildungsherkunft konstant bleibt. D. h. unabhängig davon, ob die Person aus einem Akademikerhaushalt oder aus einer Familie ohne Hochschulabschluss stammt, bleiben die zentralen Motive – und dabei besonders der Einfluss intrinsischer Faktoren – gleich (vgl. Heublein et al. 2017, S. 110). IX. Abschließend sollen die Ergebnisse einer Studie zu den Studien- und Berufsinteressen von Abiturient*innen von Jutta Margraf-Stiksrud und Gerhard Stemmler (2018) vorgestellt werden. In der Studie werden unter Bezugnahme auf aktuelle Ergebnisse bisheriger Studien drei zentrale
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Einflussfaktoren – intrinsische Motive, extrinsische Motive und externe Einflüsse – auf die Studienfachwahl von Schüler*innen untersucht. Ausgangspunkt ist die Frage, was Schüler*innen generell dazu veranlasst, sich für einen Beruf oder ein Studium zu entscheiden. Dabei scheint für die meisten Abiturient*innen klar zu sein, dass Freude und Spaß am Studium sowie Freude und Spaß an der beruflichen Tätigkeit die zentralen (intrinsischen) Attraktoren für die Berufs- und Studienwahl sind (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018, S. 209). Bei den Einflussfaktoren wird also erneut die, bereits des Öfteren skizzierte, Bedeutung intrinsischer Motive hervorgehoben: Extrinsisch motivieren in Reihenfolge der Häufigkeit 1) ein angenehmes Betriebsklima, 2) ein sicherer Arbeitsplatz sowie 3) eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wohingegen a) die Freude an Themen und Tätigkeiten, b) das fachliche Interesse und c) der Wunsch nach Identifikation mit der Berufstätigkeit die zentralen intrinsischen Motive ausmachen (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018, S. 210 ff.). Während die intrinsischen Motive als subjektiv wichtig eingeschätzt werden und somit für die Bildungslaufbahnentscheidung signifikant sind, weisen die extrinsischen Beweggründe größere Schwankungen in ihrer individuellen Bedeutsamkeit auf und haben generell einen geringeren Einfluss auf die Entscheidungsfindung. Bei den externen Einflussfaktoren spielen die Eltern die wichtigste Rolle, wenn es um die Bildungsentscheidung am Ende der Sekundarstufe II geht; 60 % der Schüler*innen gaben an, von den Eltern offen unterstützt zu werden, auch wenn 30 % behaupten, die Entscheidung gänzlich selbstbestimmt und eigenständig zu treffen. Dem Freundeskreis kommt hingegen eine eher geringere Bedeutung zu, auch wenn sich Schüler*innen über ihre Studienwahl austauschen und dabei Tipps und Ratschläge von Freuden berücksichtigen. Gemeinsam mit anderen wichtigen Personen (wie bspw. Verwandte, Partner*innen oder Lehrer*innen) hat der Freundeskreis einen ähnlich starken Einfluss wie die Eltern. Als weiterer externer Einflussfaktor wurde die Schule in den Blick genommen. Dabei sind es nicht so sehr die Schulerfahrungen (3. Rang) oder die guten Noten (2. Rang), die die Bildungslaufbahnentscheidung beeinflussen, sondern (relativ eindeutig) die sozialen Kontakte zwischen den Schüler*innen in der Schule (1. Rang) (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018, S. 215). 30 % der Schüler*innen gaben sogar an, dass ihre Leistungen in der Schule für die eigene Studien- und Berufswahl nicht relevant seien. Generell wurde die Schule für die Studien- und Berufswahl als kaum hilfreich eingeschätzt (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018, S. 217). Dies verdeutlicht aber-
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mals den Wert sozialer Beziehungen im Kontext dieses äußerst bedeutsamen Bildungsübergangs. Zusammenfassend halten die Autor*innen fest, dass 1) ein großer Teil der Abiturient*innen (rund 40 %) noch nicht weiß, für welchen Studien- und Berufszweig sie sich entscheiden; dass es 2) die zentrale Erwartung von Schüler*innen ist, Freude und Spaß am Studieren und am Beruf zu haben und sich mit der eigenen Tätigkeit zu identifizieren; und dass 3) die Bedeutung der Familie und der Schule für Bildungslaufbahnentscheidungen eindeutig zu sein scheint: Dies betrifft zum einen den signifikanten Einfluss der Eltern und zum anderen die Wahrnehmung von Schule als vernachlässigbare Einflussgröße bei der Unterstützung im Nachdenken über die eigene Bildungslaufbahn und diesbezügliche Entscheidungen (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018, S. 220 ff.). Bevor die zentralen Annahmen im Kontext des Erkenntnisinteresses für den spezifischen Forschungsstand der vorliegenden Arbeit zusammenfassend dargestellt werden, soll am Ende der theoretischen Auseinandersetzung die (subjektorientierte) Perspektive wieder etwas erweitert werden und die Problematisierung des Jugendalters und seiner Entwicklungsaufgaben unter Berücksichtigung der Bedeutung von Emotion den Theorieteil abrunden.
4.8 Das Jugendalter und seine Entwicklungsaufgaben im Spiegel der Emotionen Im diesem letzten Teil der theoretischen Ausführungen soll ein abschließender Blick auf das Jugendalter die bereits in den letzten Kapiteln deutlich gewordene Notwendigkeit der Berücksichtigung entwicklungstheoretischer Grundannahmen im Kontext subjektorientierter Perspektiven ermöglichen. Im Besonderen soll dabei die Bedeutung von Emotionen in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen und im Hinblick auf deren Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben unter Berücksichtigung des Übergangs ins junge Erwachsenenalter skizziert werden, um auf die Relevanz des Erkenntnisinteresses und das innovative Potential der vorliegenden Arbeit im Kontext entwicklungstheoretischer Dimensionen aufmerksam zu machen. Im Laufe der Ontogenese verändert sich die Art und Weise, wie Emotionen in die alltägliche Handlungsregulation eingebunden sind. Durch Erziehung und Sozialisation lernen Menschen ihre Emotionen zu unterscheiden, zu deuten, zu regulieren und auszudrücken. In weiterer Folge ermöglichen Emotionen in der psychosozialen Entwicklung des Menschen eine differenzierte Auseinander-
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setzung mit der eigenen Wirklichkeit und sind als Persönlichkeitsmerkmale identitätsstiftend und somit konstitutiv für das autobiografische Selbstbild. Die Regulation von Emotionen sowie das differenzierte Erleben von und das selbstreflexive Berichten über Emotionen müssen jedoch im Laufe der Kindheit und Jugend erst erlernt werden (vgl. Engelen 2012, S. 46 ff.). Dieser lebenslange Lernprozess beginnt bereits durch Spiegelungsprozesse in den basalen frühkindlichen Interaktionen mit der primären Bezugsperson und bleibt bis ins späte Lebensalter als notwendiges Adaptions- und Regulationsprinzip erhalten. Im Jugendalter, welches als Zeit des Umbruchs und der Veränderung erlebt wird, muss den Emotionen eine besondere Bedeutung zugeschrieben werden, da die Adoleszenz und ihre Herausforderungen für jeden einzelnen eine emotional tiefgreifende Entwicklungsphase darstellt (vgl. Zimmermann et al. 2018, S. 76): (A) Die Pubertät geht für alle Geschlechter aller Kulturen mit entscheidenden äußerlichen und innerlichen Veränderungsprozessen einher (vgl. Konrad und König 2018, S. 3). In dieser Phase erleben Jugendliche einen ganzheitlichen, wenn auch nicht synchron verlaufenden, Entwicklungsprozess, in dem umfassende körperliche und psychische Veränderungen erstmals bewusst wahrgenommen werden. Diese psychischen und physischen Veränderungen, wie bspw. plötzlich auftretende Wachstumsschübe, eine verstärkte sexuelle Entwicklung, der Stimmbruch, die Geschlechtsreifung, Akne und Hautveränderungen, die erste Regelblutung, die verstärkte Tendenz zu normwidrigen Verhalten oder eine erhöhte Risikobereitschaft etc., führen dazu, dass sich nicht nur das äußere Erscheinungsbild, sondern auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers und das eigene Selbstbild drastisch ändern. All diese Veränderungen werden von starken Emotionen, intensiven Gefühlen und einer Kaskade emotionaler Bewertungen begleitet (vgl. Zimmermann et al. 2018, S. 78). So wird bspw. eine unreine Haut oder fehlender Bartwuchs ebenso als schambehaftet, peinlich und äußerst belastend erlebt wie die Einschränkung der Motorik durch plötzliche Wachstumsschübe oder eine verstärkte sexuelle Erregung (vgl. Oerter und Montada 2008, S. 283 ff.). (B) Begleitet werden diese massiven Umstrukturierungsprozesse von den, in der Adoleszenz vermehrt auftretenden, subjektiv empfundenen Stimmungsschwankungen, die sich zum einen auf den veränderten Hormonhaushalt und zum anderen auf die situative Anpassung an vorgegebene Strukturen (in Familie, Schule, Arbeit etc.) zurückführen lassen (vgl. Konrad und König 2018, S. 4 ff.). Zudem verändern sich in dieser Entwicklungsphase die subjektiv bedeutsamen Auslöser von Emotionen; einerseits kommt es
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zur Veränderung persönlicher Wert- und Zielvorstellungen und andererseits verändert sich die subjektive Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit (vgl. Zimmermann 1999, S. 228 f.). Dadurch wiederum sind Jugendliche besonders gefordert die individuelle (selbstständige) Emotionsregulation wie auch die interpsychische bzw. interaktive Emotionsregulation im Kontext von Beziehungen fortlaufend zu adaptieren und ständig weiterzuentwickeln. Im Jugendalter müssen also die eigenen Emotionen, die Wahrnehmung und der Ausdruck derselben sowie im Besonderen die Emotionsregulationsmechanismen durch neue Herausforderungen kontinuierlich erprobt und weiterentwickelt werden. (C) Überdies entsteht in der Adoleszenz ein, in der Bildungswissenschaft kaum thematisiertes, Ungleichgewicht in der Reifung zentraler neuronaler Teilsysteme menschlicher Verhaltenssteuerung. So kommt es einerseits zu relativ plötzlich auftretenden, starken Reifungsprozessen im sozio-emotionalen Teilsystem des Gehirns, das für Lustempfinden und Belohnungserleben verantwortlich ist und die emotionalen Bewertungen und motivationalen Grundhaltungen steuert. Andererseits verlaufen die adoleszenten Reifungsprozesse des kognitiven Kontrollsystems im präfrontalen Kortex, welches für Impulskontrolle, kognitive Flexibilität, Voraussicht, Koordination, Planungsfähigkeit und Emotionsregulation verantwortlich ist, weitaus langsamer (vgl. Steinberg 2008, S. 92). Dies erklärt den erhöhten Grad von Aufmerksamkeit auf potentiell lustvolle Stimuli, um subjektiv wieder ein adäquates Belohnungserleben zu verspüren und führt in weiterer Folge zu einer erhöhten emotionalen Erregbarkeit und einem intensiveren emotionalen Erleben (vgl. Göppel 2014, S. 75 f.). Laurence Steinberg (2008) betont allerdings, dass dieses Ungleichgewicht in der Reifung neuronaler Systeme eine evolutionäre und entwicklungstheoretische Funktion erfülle, da die Ablösung von den Eltern und die Gestaltung stabiler sozialer Beziehungen außerhalb der Kernfamilie wie auch die Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben grundsätzlich ein Wagnis darstellen und den Jugendlichen entsprechenden Mut zum Risiko abverlangen (vgl. Steinberg 2008, S. 99). (D) Des Weiteren sehen sich Jugendliche aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen und Anforderungen mit gänzlich neuen Aufgaben und zu bewältigenden Entwicklungsschritten konfrontiert, die wiederum mit intensiven und teils überwältigenden Emotionen einhergehen. Zu den klassischen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz zählen nach Robert J. Havighurst (1972 [1984]) 1) der Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen, 2) das Akzeptieren des eigenen körperlichen Erscheinungs-
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bildes, 3) die An- bzw. Übernahme geschlechterspezifischer Rollen, 4) die emotionale und ökonomische Ablösung von den Eltern, 5) die Vorbereitung auf die Berufswelt,6) die Vorbereitung auf Partnerschaft und Familie, 7) die Aneignung eines Wertesystems und ethischen Bewusstseins sowie 8) die Entwicklung eines sozial verantwortungsvollen Verhaltens (vgl. Havighurst 1972 [1948], S. 111–158). Zu bedenken gilt es dabei, dass viele der Havighurst’schen Entwicklungsaufgaben, mit Blick auf die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen, die sich abzeichnenden, gesellschaftlichen Veränderungen und die damit einhergehende Transformation der klassischen Lebensalter, im frühen Erwachsenenalter anzusiedeln sind (vgl. Eschenbeck und Knauf 2018, S. 31). Dennoch müssen Jugendliche in der Bewältigung vieler dieser Herausforderungen einschneidende und oft als bedrohlich erlebte Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen erfahren. Daher beschreibt Erik H. Erikson (1950) das Durchleben dieser Entwicklungsphasen als Krisen, deren Überwindung und Bewältigung konstitutiv für die eigene Identitätsentwicklung ist (vgl. Erikson 1950, S. 247). Für Erikson stehen sich dabei im Jugendalter die beiden Spannungspole der Identitätsfindung und Rollendiffusion gegenüber (vgl. Erikson 1950, S. 261 f.). Somit sind Jugendliche fortwährend auf der Suche nach identitätsstiftenden Konzepten für die eigene Lebensgestaltung und ihre moralischen Überzeugungen als Grundlage für zukünftige Entscheidungen und Handlungen. Im Zentrum steht dabei die Hoffnung bzw. der Wunsch nach einem sicheren Gefühl einer stabilen, inneren Kontinuität und Gleichheit mit sich selbst (vgl. Eschenbeck und Knauf 2018, S. 31). (E) Besonders emotional werden im Jugendalter Übergänge bzw. Transitionen wahrgenommen, da sie aus subjektiver Perspektive immer mit neuen und unbekannten Herausforderungen einhergehen und somit als Bedrohung erlebt werden. Dies betrifft im Grunde auch die klassischen Entwicklungsaufgaben, die ebenso als krisenhafte Übergänge in Erscheinung treten. Eine besondere Stellung in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen nimmt allerdings die Bildungslaufbahn ein, da hier besonders folgenreiche Übergänge erlebt werden (vgl. Steinmann und Maier 2018, S. 224), die sich in weiterer Folge auf die meisten der klassischen Entwicklungsaufgaben auswirken. Wie bereits weiter oben ausgeführt, sind schulische Übergänge eng an Altersnormen gebunden, erfüllen meist eine Selektionsfunktion und haben einen verpflichtenden Charakter. D. h. es handelt sich bei Bildungsübergängen um kollektive bzw. normative Anforderungssituationen, die im Vergleich zu kritischen Lebensereignissen, wie bspw. die Scheidung der Eltern, die ebenso als krisenhafte Übergänge verstanden werden müssen,
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alle Jugendlichen gleichermaßen betreffen. Es verwundert daher auch nicht, dass Bildungsübergänge mit starken Emotionen und emotionalen Ambivalenzen einhergehen und von den meisten Menschen und ihrem sozialen Umfeld, trotz der Normierung, als Signaturen der eigenen Biografie besonderes einschneidend erlebt und auch erinnert werden (vgl. Tillmann 2013, S. 23 f.). Mit Blick auf die klassischen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, wie bspw. die Ablösung vom Elternhaus, ökonomische Unabhängigkeit, der Entwurf eines eigenen Lebenskonzepts, die Vorbereitung auf die Berufswelt respektive die Berufswahl selbst etc., muss dem Übergang von Schule zu Hochschule aus entwicklungstheoretischer Perspektive besondere Bedeutung beigemessen werden. Denn im Gegensatz zu den vorherigen Bildungsübergängen sehen sich Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe II mit einem neuen Lebensabschnitt konfrontiert, den sie weitaus freier und unabhängiger gestalten und planen können. Plötzlich müssen sie sich für einen individuellen Bildungsweg entscheiden, welchen sie aus subjektiver Perspektive für ihr eigenes Lebenskonzept und Selbstbild als geeignet und sinnvoll erachten. Gleichzeitig sind sie darum bemüht, ein Selbstbild und Identitätskonzept zu entwickeln und zu verfestigen. Hinzu kommt, dass die Entscheidung in dem Wissen getroffen werden muss, dass es zwar keine präzise Vorhersage über den Nutzen, die Sicherheit und Passgenauigkeit bestimmter Bildungswege gibt, die Entscheidung für sich allerdings mit weitreichenden kulturellen, sozialen und ökonomischen Folgen einhergeht. Somit ist die Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang von der Schule in die Hochschule, die den weiteren Lebenslauf von Schüler*innen zentral mitbestimmt, durch Unsicherheit und Risiko charakterisiert, welche gleichzeitig konstitutiv für diese Entwicklungsphase und die Suche nach der eigenen Identität sind. Im Sinne Eriksons stellt der Bildungsübergang am Ende der Sekundarstufe II also eine Form von Krise dar, welche in doppelter Hinsicht als potentielle Chance der Identitätsfindung verstanden werden muss. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Jugendalter und der Übergang ins junge Erwachsenenalter mit einer Reihe an sozialen, psychischen und physischen Veränderungen einhergehen und dass Emotionen dabei einen besonderen Stellenwert einnehmen. Zum einen kommt es zu umfassenden emotionalen Entwicklungsprozessen – im Sinne der Bildung von Emotionen – und zum anderen nehmen Emotionen einen zentralen Einfluss auf die eigene Identitätsentwicklung – im Sinne einer Bildung durch Emotionen. Dabei werden nicht nur die entwicklungsspezifischen Herausforderungen und Aufgaben
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sowie die sie begleitenden krisenhaften Übergänge besonders emotional erlebt, sondern generell ist die Jugendphase durch eine erhöhte emotionale Erregbarkeit und ein intensiveres emotionales Erleben unabhängig von äußeren Einflüssen, Erwartungen und Anforderungen gekennzeichnet. Spätestens an dieser Stelle sollte es keinen Zweifel mehr daran geben, dass Emotionen in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen eine zentrale Rolle einnehmen. Dies betrifft die Identitätskonstitution, die reflexive Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltverhältnissen, die Ablösung von vertrauten und sicherheitsstiftenden Strukturen, die Vorbereitung auf einen neuen Lebensabschnitt, auf Familie, Partnerschaft und Beruf sowie das Treffen adaptiver Lebensentscheidungen.
4.9 Zusammenfassung der zentralen Annahmen im Kontext des Erkenntnisinteresses Im Folgenden werden die, für den spezifischen Forschungsstand der vorliegenden Arbeit konstitutiven, zentralen Annahmen in Form von Thesen vorgestellt. Dabei soll geklärt werden, welche Bedeutung Übergänge und Bildungsentscheidungen im Allgemeinen für Schüler*innen haben, wie sich Bildungslaufbahnentscheidungsprozesse am Übergang von der Schule zur Hochschule strukturell konstituieren und welche Bedeutung dabei Emotionen aus theoretischer Perspektive zugeschrieben werden kann, was die zentralen Motive bei Bildungslaufbahnentscheidungen am Ende der Sekundarstufe II sind und welcher Stellenwert Emotionen im Jugendalter generell einnehmen. Für die Frage nach der allgemeinen Bedeutung von Übergängen und Bildungsentscheidungen für Schüler*innen lassen sich mit Blick auf die aktuelle Forschungslandschaft die folgenden normativen Setzungen festmachen: • Bildungsübergänge werden im Kontext der eigenen Biografie als besonders bedeutsam erlebt, da sie im weitesten Sinne den Beginn eines neuen Lebensabschnitts markieren oder einleiten und sich gleichzeitig bisherige Strukturen, Routinen und Sicherheiten verändern oder gar auflösen (vgl. Tillmann 2013). • Bildungsentscheidungen werden als Ergebnisse von Interaktionsprozessen zwischen unterschiedlichen Protagonist*innen des Bildungssystems aufgefasst, die sich als prozesshaftes Geschehen über einen längeren Zeitraum erstrecken und von unterschiedlichen subjektiven und kontextuellen Faktoren beeinflusst werden (vgl. Bornkessel und Asdonk 2011). • Bildungsübergänge und Bildungslaufbahnentscheidungen stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, das meist als problematisch, krisen-
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haft und einschneidend thematisiert und nur selten als Chance mit unterschiedlichen Potentialen für die individuelle Entwicklung wahrgenommen wird (vgl. Tillmann 2013). • Aufgrund des selektiven Charakters müssen Übergänge als Signaturen der menschlichen Biografie verstanden werden (vgl. Rath 2011). Diese Signaturen werden als signifikante Ereignisse besonders gut und lange erinnert und sind subjektiv immer mit Erfolg oder Misserfolg des Leistungsanspruchs bzw. mit der Bewältigung von oder dem Scheitern an Herausforderungen verknüpft. • Bildungsübergänge sind aufgrund ihrer Altersnormierung, Standardisierung, Leistungsorientierung und ihrer Auslese- und Selektionsfunktion zentrale Schnittstellen für die Strukturierung des eigenen Lebens und maßgeblich mit der Herausbildung von Identität und Selbst verknüpft. • Es besteht ein klarer Konsens darüber, dass ein entscheidender Faktor für die Entstehung von Bildungsungleichheit die Gelenkstellen von Bildungsverläufen sind. Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I gilt dabei als zentrale Schlüsselstelle für die Genese sozialer Disparitäten in der Bildungslaufbahn von Schüler*innen (vgl. Trautwein 2013). • Auch wenn sich sekundäre Herkunftseffekte am Übergang in die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe II sowie in noch geringerem Maße am Übergang zwischen Schule und Hochschule beobachten lassen (vgl. Schnabel et al. 2002; Maaz 2006; Maaz et al. 2010; Bornkessel und Kuhnen 2011), nehmen die primären und sekundären Herkunftseffekte im Verlauf der Bildungsbiografie sukzessive ab (vgl. Bieri Buschor et al. 2008). • Der Übergang von der Schule zur Hochschule stellt in Österreich eine besondere Herausforderung dar, da die Anzahl an Maturant*innen und Studienanfänger*innen in den letzten Jahren drastisch zugenommen hat und gleichzeitig die Anzahl an Studienwechseln und Studienabbrüchen verhältnismäßig immer weiter ansteigt. • Die Allgemeinbildenden Höheren Schulen bzw. Gymnasien nehmen im Kontext der Bildungslaufbahnentscheidung eine besondere Stellung ein, da sie den mit Abstand größten Anteil an Maturant*innen (42 %) hervorbringen und diese wiederum mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit als Maturant*innen aus Berufsbildenden Höheren Schulen ein Hochschulstudium beginnen und/ oder abbrechen. Mit Blick auf die Grundlagen der Entscheidungsfindungstheorien lassen sich für die allgemeine Struktur von Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II die folgenden Thesen zusammenfassen:
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• Den klassischen Sichtweisen der Entscheidungstheorie, die vielen Modellen und Studien zur Bildungslaufbahnentscheidung zugrunde liegen, ist gemeinsam, dass sie den Menschen und seine Entscheidungen als das Ergebnis einer, an ökonomischen Zwängen orientierten, Rationalität verstehen. • Bildungslaufbahnentscheidungen können im Allgemeinen nicht nach dem Prinzip der Rational-Choice-Theories getroffen werden, weil es sich bei Bildungsentscheidungen sowohl um a) persönliche Entscheidungen (vgl. Hellberg 2009) als auch b) adaptive Entscheidungen handelt (vgl. Arnoldt 2009), weil c) nie alle relevanten Informationen einer Entscheidungssituation zur Verfügung stehen werden (vgl. Okoli und Watt 2018), weil d) Menschen prinzipiell nicht in der Lage sind, eine unendlich große Menge an Informationen in adäquater Weise und unter angemessenem Zeitaufwand zu verarbeiten (vgl. Damasio 2001; Gigerenzer und Gaissmaier 2011), weil e) nie alle zukünftigen Folgen und Konsequenzen aller alternativen Entscheidungsmöglichkeiten antizipiert werden können, und weil f) Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang ins Erwachsenenalter ein prozesshaftes Geschehen und kein endgültiges Urteil darstellen (vgl. Gieseke 2016). • Bildungslaufbahnentscheidungen werden im Besonderen von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen beeinflusst. Selbstwirksamkeit ist sowohl für die jeweilige Berufsvorstellung als auch für die sich daran anschließende Berufsoder Studienwahl verantwortlich und wirkt dabei auf alle weiteren im Entscheidungsprozess relevanten Variablen, wie Interessen, Ziele, Handlungen, Leistung und Erfolg ein (vgl. Lent et al. 1994). • Bildungslaufbahnentscheidungen setzen sich aus den Erfolgserwartungen in Abhängigkeit des eigenen Fähigkeitskonzepts und aus der subjektiven Bedeutsamkeit von Aufgaben, Themen und Gegenständen zusammen, wobei sich die Erfolgserwartung an den eigenen emotionalen Bewertungen orientiert. Zwei Schlüsselfaktoren für Bildungslaufbahnentscheidungen sind somit der relative Wert aus subjektiver Relevanz, persönlichem Interesse, extrinsischer Motivation und Investitionskosten und die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg im Hinblick auf die unterschiedlichen Berufs- oder Studienmöglichkeiten (vgl. Eccles und Wingfield 2002). • Bildungslaufbahnentscheidungen durchlaufen unterschiedliche Phasen, wobei die Informationsquellen im Entscheidungsprozess immer spezifischer werden und die Entscheidungsfindung von Studien- und Berufswahl als sukzessiv deduktiver Prozess verstanden werden kann (vgl. Tutt 1997). Es lassen sich zumindest die Phasen 1) der Prozessanregung, 2) der Such- und Vorauswahl, 3) der Bewertung und 4) der Entscheidung selbst differenzieren (vgl.
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Hachmeister et al. 2007 sowie Tutt 1997). Der Zeitpunkt der Studienfachwahl kann am Ende der Schulzeit oder erst am Übergang in die Hochschule angesiedelt werden (vgl. Hachmeister et al. 2007). • Bildungslaufbahnentscheidungen werden in keiner Weise gezielt, langfristig oder bewusst getroffen, sondern gehen vielmehr mit vagen Vorstellungen, Erwartungen und Absichten einher, die zu kurzfristigen bzw. spontanen Entscheidungen führen (vgl. Guggenberger 1991). Dementsprechend zeichnet sich der Übergang zur Hochschule in erster Linie durch Unsicherheiten aus. • Bildungsentscheidungen müssen als individuelle, selbst zu verantwortende Lebensentscheidungen sowie als Bewertungen im Prozess verstanden werden, deren Wirkungen und Konsequenzen nicht im Voraus erkennbar sind (vgl. Gieseke 2016). Zusammenfassend kann mit Blick auf die ersten zwei Themenblöcke aus theoretischer Perspektive festgehalten werden, dass Bildungsübergänge und Bildungslaufbahnentscheidungen am Ende der Schulzeit als krisenhaft und problematisch verstanden werden, dass sie sich scheinbar an ökonomischen Zwängen orientieren und in Aushandlungsprozessen stattfinden und dass sie als normiert, standardisiert und leistungsorientiert kategorisiert werden. Diese Annahmen gilt es im Anschluss an die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zu prüfen bzw. kritisch zu diskutieren. Bislang nicht thematisiert wurde in diesem Zusammenhang allerdings, wie dieser Bildungsübergang und die Bildungslaufbahnentscheidung aus subjektiver Perspektive erlebt werden (Forschungsdesiderat A: die subjektive Perspektive am Übergang): Wie erleben Schüler*innen am Übergang diesen Entscheidungsprozess, sind es persönlich-adaptive Entscheidungen oder orientieren sie sich an rationalen Zwängen? Werden dabei unterschiedliche Phasen durchlaufen oder handelt es sich um einen spontanen Entschluss? Etc. Zur Bedeutung von Emotionen bei Bildungslaufbahnentscheidungen unter Berücksichtigung des Übergangs von Schule zur Hochschule können für die vorliegende Arbeit aus theoretischer Perspektive die zentralen Annahmen in Form normativer Thesen wie folgt zusammengefasst werden: • Bildungslaufbahnentscheidungen werden als adaptive Entscheidungen unabhängig ihrer Tragweite und Komplexität über weite Strecken aufgrund von emotionalen Bewertungen getroffen; nicht nur das bewusste und nicht-bewusste Abwägen von Entscheidungsmöglichkeiten wird von Emotionen beeinflusst, sondern auch die Erfolgserwartung und die antizipierten Folgen der Entscheidung werden von emotionalen Prozessen gesteuert (vgl. Lerner et al. 2015).
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• Emotionen sind starke, zielgerichtete und multifaktorielle Antriebe der Entscheidungsfindung, die direkten Einfluss auf Werturteile und Normen nehmen und Entscheidungen auch dadurch beeinflussen, indem sie den Inhalt und die Tiefe der eigenen Gedanken sowie die persönlichen Ziele und Erwartungen verändern und deren Aktivierung steuern. Emotionen sind somit keine heuristische Entscheidungshilfe, sondern Voraussetzungen von Handlungen und Verhalten (vgl. Lerner et al. 2015). • Emotionen werden auch von Entscheidungsfindungsprozessen hervorgerufen und reguliert und somit konstituiert das kontinuierliche Zusammenspiel von Entscheidung und Emotion mentale Prozesse (vgl. Schwarz 2000). • Bildungslaufbahnentscheidungen werden besonders von internalisierten, emotionalen Überzeugungen sowie von der Vorstellung zukünftiger Emotionen und antizipierter emotionaler Bewertungen beeinflusst (vgl. George und Dane 2016). • Emotionen haben in Entscheidungsfindungsprozessen eine Informationsfunktion, indem sie signalisieren, was gut oder schlecht ist, eine Geschwindigkeitsfunktion, indem sie eine zeitlich angemessene Entscheidungsfindung ermöglichen, eine Relevanzfunktion, indem sie kategorisieren was in einer bestimmten Situation von subjektiver Bedeutung ist, sowie eine soziale Funktion, im Sinne sozial angepasster Entscheidungen und sozialem Commitment (vgl. Pfister et al. 2017). • Der Konnex von Emotion und Entscheidung ist aus pädagogischer Perspektive von zentraler Bedeutung, da jene Prozesse so grundlegend sind, dass sie als Basis subjektbezogener Problemlösekompetenz verstanden werden können und in weiterer Folge den Transfer und die Anwendung von Wissen und Fertigkeiten, das adaptive soziale Verhalten sowie den subjektiven Bildungsverlauf und die Nachhaltigkeit diesbezüglicher Entscheidungen steuern (vgl. Hannula 2015; Huber 2018). • Im Rahmen von Bildungslaufbahnentscheidungen entstehen durch den Vergleich zwischen der Imagination eines realen Berufes und der Vorstellung eines Idealberufes unterschiedliche Antizipationen, die mit emotionalen Prozessen und dem Erleben derselben einhergehen. Dieses emotionale Erleben wiederum beeinflusst den Vergleich zwischen der Vorstellung des realen Berufes und der Imagination des Idealberufes und verändert die Passung zwischen Reflexion, Imagination und Vorstellung (vgl. Hellberg 2009). • Beziehungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen führen zu Emotionsmustern, die in jeder Phase der Entscheidungsfindung und Lebensplanung auf nicht-bewusster und bewusster Ebene Priorisierungen, Selektion und Auswahl ermöglichen. Diese Emotionsmuster und emotionalen Markierungen
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sind als Persönlichkeitsvariablen konstitutiv für das eigene Selbstbild. Dementsprechend sind Emotionsmuster als Folge des emotionalen Sozialisationsprozesses die Schlüsselfaktoren des lebenslangen Lernens, der Selbstbildung und eigenen Bildungsbiografie (vgl. Gieseke 2016). Mit Blick auf die aktuellen Studien und Forschungsarbeiten über die Motive bei Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang zur Hochschule bzw. zum tertiären Bildungssektor können aus den Ergebnissen zusammenfassend die folgenden Annahmen synthetisiert werden: • Die zentralen Motive von Maturant*innen für die Wahl einer bestimmten Hochschule sind a) die Sprache, b) die Struktur der Hochschule und c) der Ruf der Hochschule (vgl. Notter und Arnold 2003). Dennoch ist im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen die Studienfachwahl weitaus relevanter als die Wahl der Hochschule, des Hochschulorts oder des Hochschultyps (vgl. Hachmeister et al. 2007). • Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang von der Schule zur Hochschule in erster Linie intrinsisch motiviert getroffen werden und dass die intrinsischen Motive subjektiv wichtiger erlebt werden als die extrinsischen Motivlagen (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Heublein et al. 2014; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Unabhängig des sozioökonomischen Hintergrunds und der Bildungsnähe der Familie bleiben die zentralen Motive von Schüler*innen und dabei besonders die intrinsischen Einflussfaktoren gleich (vgl. Heublein et al. 2017). • Es besteht ebenso ein allgemeiner Konsens darüber, dass der zentrale Beweggrund und das leitende, intrinsische Motiv der Bildungslaufbahnentscheidung von Maturant*innen und Studienanfänger*innen im Allgemeinen 1) das Interesse am Fach ist (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Hachmeister et al. 2007; Heublein et al. 2017; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Ebenso von Bedeutung sind 2) die persönliche Entfaltung (vgl. Heine et al. 2005; Hachmeister et al. 2007; Heublein et al. 2017) bzw. die eigenen Wertvorstellungen (vgl. Notter und Arnold 2003; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018) und 3) die eigene Begabung (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Hachmeister et al. 2007). • Bei den extrinsischen Motiven, die eine weitaus geringere Bedeutung für die Bildungslaufbahnentscheidung haben, ist der Forschungsstand uneindeutig. Von Bedeutung scheinen 1) viele Berufsmöglichkeiten und günstige Chancen am Arbeitsmarkt (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Heublein
4.9 Zusammenfassung der zentralen Annahmen im Kontext ...
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et al. 2017; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018), 2) ein sicherer Arbeitsplatz (vgl. Heine et al. 2005; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018), 3) gute Verdienstmöglichkeiten (vgl. Heine et al. 2005; Hachmeister et al. 2007; Heublein et al. 2017) sowie 4) ein angenehmes und ausgeglichenes Betriebsklima (vgl. Heine et al. 2005; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). • Bei den externen bzw. personenbezogenen Einflussfaktoren ist der Einfluss der Eltern auf die Bildungslaufbahnentscheidung der Maturant*innen bzw. Studienanfänger*innen am deutlichsten (vgl. Hachmeister et al. 2007; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Nicht mehr so signifikant aber noch von Bedeutung ist der Einfluss des Freundeskreises und von Mitschüler*innen (vgl. Hachmeister et al. 2007; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018), gefolgt von Bekannten und Verwandten. Am geringsten scheint der Einfluss der Lehrperson zu sein (vgl. Hachmeister et al. 2007). • Bei den Persönlichkeitsmerkmalen sind die zentralen Einflussfaktoren der Maturant*innen und Studienanfänger*innen 1) die generelle Bedeutung der Selbsteinschätzung eigener Kompetenzen und die eigene Selbstwirksamkeit (vgl. Bieri Buschor et al. 2008; Pütz et al. 2011; Mauk 2016), 2) das eigene Selbstbild und das Selbstwertgefühl (vgl. Bieri Buschor et al. 2008; Pütz et al. 2011) sowie 3) Freude und Spaß am Studium sowie Freude und Spaß an der beruflichen Tätigkeit zu haben (vgl. Mauk 2016; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). • Generell wird die Bedeutung der Schule für die Bildungslaufbahnentscheidung als kaum hilfreich eingeschätzt (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Ein Großteil der Maturant*innen plant ein Zwischenjahr als Zwischenlösung am Übergang von Gymnasium zur Hochschule (vgl. Bieri Buschor et al. 2008). Zusammenfassend kann mit Blick auf den dritten und vierten Themenblock aus theoretischer Perspektive festgehalten werden, dass Emotionen die Entscheidungsfindung zentral beeinflussen, dabei die Erfolgserwartung und die antizipierten Folgen der Entscheidung ebenso wie die Priorisierung, Selektion und Auswahl steuern, die Gedanken und persönlichen Ziele im Entscheidungsprozess verändern und dass sie selbst durch den Entscheidungsfindungsprozess hervorgerufen werden und sich dadurch ein kontinuierliches Zusammenspiel zwischen Emotion und Entscheidung konstituiert. Diese Annahmen gilt es im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen zu prüfen. Des Weiteren gilt es zu klären, ob Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang in den tertiären Bildungssektor aus Sicht der betroffenen Schüler*innen tatsächlich von intrinsischen Motiven, die mit unterschiedlichen Wünschen und Hoffnungen verbunden sind, geleitet
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4 Bildungsverläufe und Bildungsübergänge …
werden und inwiefern die Entscheidungen tatsächlich von personenbezogenen Faktoren und Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst werden. Innerhalb beider Forschungszugänge wurde jedoch bislang nicht untersucht, welche spezifischen emotionalen Bewertungen für die subjektive Entscheidung und den eigenen Bildungsverlauf bedeutsam sind (Forschungsdesiderat B: Relevanz spezifischer emotionaler Markierungen). Ebenso unbeantwortet ist die Frage nach den zentralen Einflussfaktoren, die jene emotionalen Markierungen mitbestimmen (Forschungsdesiderat C: Konstitution von emotionalen Markierungen) und wie sich jene Einflussfaktoren der Entstehung emotionaler Markierungen zu den intrinsischen und extrinsischen Motivlagen der Studienfachwahl verhalten. Abschließend soll auch noch die Frage nach der allgemeinen Bedeutung von Emotionen im Jugendalter in Form von Thesen zusammenfassend beantwortet werden: • In keiner Phase der menschlichen Entwicklung sind Emotionen so zentral wie im Jugendalter, welches als Zeit des Umbruchs und der Veränderung erlebt wird (vgl. Zimmermann et al. 2018). • Die bewusste Wahrnehmung umfassender körperlicher und psychischer Entwicklungsprozesse wird von starken Emotionen, intensiven Gefühlen und einer Kaskade emotionaler Bewertungen begleitet (vgl. Zimmermann et al. 2018). • Zudem treten vermehrt subjektiv empfundene Stimmungsschwankungen auf, die sich auf den veränderten Hormonhaushalt und die situative Anpassung an vorgegebene Strukturen zurückführen lassen (vgl. Konrad und König 2018). • Gleichzeitig führt die, der biologischen und neuronalen Reifung geschuldete, erhöhte Aufmerksamkeit für potenziell lustvolle Stimuli zu einer gesteigerten emotionalen Erregbarkeit und einem intensiveren emotionalen Erleben (vgl. Göppel 2014). • Überdies sehen sich Jugendliche mit gänzlich neuen Aufgaben und zu bewältigenden Entwicklungsschritten, wie Bildungslaufbahnentscheidungen, konfrontiert, die wiederum mit intensiven und teils überwältigenden Emotionen einhergehen (vgl. Havighurst 1972 [1948]). • (Bildungs-)Übergänge werden im Jugendalter besonders emotional wahrgenommen, da sie aus subjektiver Perspektive mit neuen und unbekannten Herausforderungen einhergehen und somit als Bedrohung und Krise erlebt werden, welche gleichzeitig konstitutiv für diese Entwicklungsphase und die Suche nach der eigenen Identität sind (vgl. Erikson 1950).
4.9 Zusammenfassung der zentralen Annahmen im Kontext ...
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Abschließend kann mit Blick auf den letzten Themenblock und unter Berücksichtigung der zentralen Bedeutung von Emotionen im Jugendalter aus theoretischer Perspektive festgehalten werden, dass Emotionen in der Adoleszenz und am Übergang ins junge Erwachsenenalter besonders intensiv erlebt werden, dass die Zeit des Übergangs von starken Emotionen, einer erhöhten emotionalen Erregbarkeit und einer Reihe an emotionalen Bewertungen begleitet wird und dass neue und unbekannte Herausforderungen, wie Bildungsentscheidungen, und die sie begleitenden intensiven Emotionen in dieser Phase des Lebens konstitutiv für die Suche nach der eigenen Identität sind. Diese Annahmen gilt es wiederum im Anschluss an die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit kritisch zu diskutieren. Bislang nicht geklärt ist in diesem Kontext allerdings, welche Emotionen und emotionalen Qualitäten im Bildungsverlauf und in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen am Übergang am bedeutendsten sind (Forschungsdesiderat D: die zentralen emotionalen Qualitäten) und welche Funktionen und Folgen die emotionalen Markierungen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie und am Übergang ins junge Erwachsenenalter zeitigen (Forschungsdesiderat E: Funktion und Wirkung).
Teil II Methoden und Methodologie
5
Methodologische Überlegungen
Um dem leitenden Erkenntnisinteresse, der epistemologischen Ausrichtung, den zentralen Forschungszielen und den unterschiedlichen Fragehorizonten gerecht zu werden wurde für die empirische Untersuchung ein multi-methodischer Forschungszugang gewählt, in dem unterschiedliche Datenquellen entlang qualitativer und quantitativer Forschungszugänge analysiert werden. Im Folgenden wird das methodische Design der Studie skizziert, wobei zu Anfang im Rahmen methodologischer Überlegungen die Konzeption und der Aufbau des Forschungsprojekts im Mittelpunkt stehen. Daran anschließend werden die Samplingstrategien, die Auswahl der teilnehmenden Schulen sowie die im Projekt beteiligten Schüler*innen vorgestellt. Im dritten Teil stehen die Methoden der Datenerhebung im Zentrum, wobei besonderes Augenmerk auf die inhaltliche Gestaltung der Workshops mit den Schüler*innen gelegt wird. Am Ende werden die zentralen Methoden der Datenauswertung vorgestellt, um zu veranschaulichen, wie die unterschiedlichen Datenstränge innerhalb des Forschungsprojekts ausgewertet wurden. Der Methodenteil der vorliegenden Arbeit versteht sich, wie auf den nachfolgenden Seiten deutlich wird, ebenso wie das forschungsmethodische Design als konstitutiver Bestandteil des Erkenntnisprozesses im Sinne eines zyklischen, sowohl deduktiv als auch induktiv gerahmten Forschungsverlaufs im Spannungsfeld von Theorie und Empirie. Bevor die Samplingstrategien sowie die Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung im Detail vorgestellt werden, sollen die Grundidee des Forschungsprojekts, die methodischen und inhaltlichen Überlegungen aus der Pilotstudie, die der Untersuchung vorausging, sowie die Einbettung des Forschungsdesigns im Kontext der Mixed-Methods-Forschung beschrieben werden, um zum einen den methodologischen Überbau der vorliegenden Arbeit nachvollziehen zu können und zum anderen das innovative Potential des forschungsmethodischen Zugangs zu verdeutlichen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_5
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5 Methodologische Überlegungen
5.1 Das Forschungsprojekt EMOTISION Grundlegend für die vorliegende Arbeit ist die Frage nach der Bedeutung von Emotionen für Bildungsverläufe im Allgemeinen sowie die Frage nach der Bedeutung von emotionalen Markierungen für Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang im Speziellen. Da die subjektive Perspektive der Schüler*innen und ihr emotionales Erleben und Wahrnehmen konstitutiv für die Beantwortung dieser Fragen sind, wurde bereits am Beginn der Konzeptualisierung und theoretischen Eingrenzung der Entschluss gefasst ein Forschungsprojekt zu initiieren, das einen solchen Zugang zur zentralen Lebenswirklichkeit von Schüler*innen in mehrfacher Weise ermöglicht. Hierzu wurde im Jahr 2016 das Forschungsprojekt EMOTISION am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien mit einer Laufzeit von vier Jahren ins Leben gerufen. Begrifflich setzt sich EMOTISION [iˈmoutiʒən] aus den englischen Wörtern emotion (Emotion) und decision (Entscheidung) zusammen und soll auf das Forschungsdesiderat des interdependenten Zusammenhangs von emotionalen Markierungen und Entscheidungsfindungsprozessen aufmerksam machen. Zu Beginn des Projekts war zwar bereits geklärt, was der zentrale Gegenstand der Untersuchung sein soll und welche Zielgruppe im Fokus der empirischen Arbeit stehen muss, jedoch gab es einige offene, methodische und konzeptuelle Fragen, die einen direkten Einstieg in die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen erschwerten. Von besonderem Interesse waren dabei die folgenden Überlegungen: Wie lässt sich ein adäquater Zugang zum emotionalen Erleben von Schüler*innen herstellen? Welches Setting eignet sich, um über Emotionen sprechen und emotionale Markierungen verbalisieren zu können? Welche Möglichkeiten gibt es, um Emotionen bei Schüler*innen gezielt zu evozieren bzw. Schüler*innen für die Wahrnehmung und den Ausdruck der eigenen, emotionalen Bewertungen zu sensibilisieren? Wie lässt sich ein reflexiver Zugang zur eigenen Emotionalität herstellen? Wie lassen sich Emotionen und emotionale Markierungen beobachten und dokumentieren? Wie sollen Schüler*innen für das Projekt ausgewählt werden? In welcher Form sollen die Schüler*innen im Projekt beteiligt sein? Welche forschungsethischen Gesichtspunkte gilt es zu bedenken und/oder vorab zu klären? Welche persönlichen Grenzen sollten nicht überschritten werden und wie lässt sich dabei das Potential der Schüler*innen bestmöglich nutzen? Inwiefern lässt sich die subjektive Perspektive der Schüler*innen operationalisieren und welche Forschungskriterien müssen dabei berücksichtigt werden?
5.2 Die Pilotstudie und die Erprobung von Setting und Methode
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Grund für diese Fülle an offenen Fragen ist die Tatsache, dass es bislang keine Studien gibt, die ein ähnliches Erkenntnisinteresse bzw. eine ähnliche Zielsetzung verfolgen. Somit musste das methodische Design von EMOTISION erst sukzessive entlang des zentralen Erkenntnisinteresses entwickelt werden. Hierfür wurde zu Beginn des Projekts eine Pilotstudie durchgeführt, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll.
5.2 Die Pilotstudie und die Erprobung von Setting und Methode Zu Beginn des Forschungsprojekts EMOTISION stand lediglich fest, dass die beteiligten Schüler*innen kurz vor dem Abschluss der Sekundarstufe II stehen und über einen längeren Zeitraum am Projekt teilnehmen sollten. Ebenso wurde mit Blick auf die Emotionsforschung und unter Berücksichtigung der empirischen Auseinandersetzung mit Emotion und Gefühl in der Bildungswissenschaft relativ bald deutlich, dass für das vorliegende Projekt zum einen ein spezifischer, methodischer Zugang notwendig sein wird und dass zum anderen innerhalb dessen eine Kombination aus unterschiedlichen Erhebungsund Auswertungsmethoden erforderlich sein wird. Denn wie bereits im Kontext der Wirkung von Emotionen deutlich wurde, ist die Bestimmung des Emotionalen durchaus problematisch: Einerseits lassen sich theoretisch eine Reihe unterschiedlicher Komponenten von Emotionen beschreiben, deren klare Differenzierung sich empirisch allerdings als unmöglich erweist (vgl. Fontaine et al. 2007, S. 1050). Andererseits verdeutlicht das Emotionsparadoxon, dass Menschen zwar davon ausgehen, dass Emotionen als konkret bestimmbare Entitäten in Erscheinung treten, die Emotionsforschung diesbezüglich allerdings eher Gegenteiliges hervorgebracht hat und im Hinblick auf den Ausdruck, die Wahrnehmung und die Wirkung von Emotion in sich widersprüchlich ist (vgl. Barrett 2006, S. 22 f.). Damit sind zwei Problemlagen klar skizziert: Zum einen gibt es keine objektive Messung von Emotionen und zum anderen lassen sich (der Ausdruck, die Wahrnehmung und die Wirkung von) Emotionen nicht auf einen einzigen, perspektivischen Zugang reduzieren. Methodologisch wird daher im Kontext der Emotionsforschung in den letzten Jahren vermehrt die Bedeutung subjektiver Erfahrungsberichte in Kombination mit unterschiedlichen Beobachtungsverfahren empfohlen, um die Mehrdimensionalität von Emotionen und ihre Subjektivität gleichermaßen berücksichtigen zu können (vgl. bspw. Barrett 2006; Mauss und Robinson 2009; Augustine und Larson 2012; Schmidt-Atzert et al. 2014; Quigley et al. 2014).
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5 Methodologische Überlegungen
Ähnliches gilt für die Analyse von Gruppeninteraktionen und -prozessen (vgl. Huber und Froehlich 2020). Besonders die Kombination von Sprache, als Mittler von Wahrnehmung und Reflexion (Gefühl, subjektives Empfinden, Bewertungen und Vorstellungsbilder, Emotionsregulationsmechanismen), und beobachtbarem Verhalten, als Mittler somatischer Prozesse und von motorischem und expressivem Ausdruck (Emotion, nicht-bewusste Reaktionen, Mimik, Gestik, Expression, Aktion/Motivation) scheint dabei zielführend zu sein. Ähnliche methodische Empfehlungen, die sich für einen triangulativen Ansatz oder ein Mixed-Methods-Design aussprechen, finden sich auch im Hinblick auf die Erhebung und Analyse von Emotionen im Kontext bildungswissenschaftlicher Forschungsbemühungen bzw. im Kontext von Bildung und Emotion (vgl. bspw. Pekrun 2006; Pekrun und Schutz 2007; Hagenauer 2011; Schutz et al. 2016; Huber 2017b; Gläser-Zikuda et al. 2018). Michaela Gläser-Zikuda et al. (2018) weisen zudem darauf hin, dass nicht nur die Kombination diverser methodischer Zugänge in der bildungswissenschaftlichen Erforschung von Emotionen notwendig und sinnvoll ist, sondern dass auch spezifische, eigens entwickelte Erhebungsverfahren, wie bspw. Rollenspiele, vermehrt zum Einsatz kommen sollen und dass hier noch erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht (vgl. Gläser-Zikuda et al. 2018, S. 392). Um diesen methodologischen Empfehlungen gerecht zu werden, wurde in Rücksprache mit Expert*innen aus der Mixed-Methods-Forschung, der Schulforschung, der psychosozialen Beratung und dem Jugendcoaching eine erste Projektskizze erstellt, die die folgenden drei Eckpunkte umfasst: (A) Im Mittelpunkt der Datenerhebung soll die Videodokumentation bzw. Videographie stehen, die allerdings mit anderen Erhebungsmethoden kombiniert werden kann. Videodaten zeichnen sich mitunter durch ihre Permanenz, verstanden als permanente Datenaufzeichnungstechnik und als dauerhafter Zugang zu diesen Daten, und durch ihre Dichte, verstanden als Ermöglichung einer detaillierten Betrachtung, aus (vgl. Tuma et al. 2013, S. 33). Zudem sind Videodaten audio-visuelle Medien und ermöglichen somit auch ein Abbild von Sprache und verbalisierter Reflexion. Daher sind sie besonders dazu geeignet dem Problem der methodischen Erfassung von Emotionen gerecht zu werden. (B) Um Emotionen und emotionale Markierungen differenziert wahrnehmen, adäquat zum Ausdruck bringen und zur Disposition stellen zu können, braucht es unterschiedliche, projektive und imaginative Verfahren, die auf das emotionale Erleben der Schüler*innen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fokussieren. Dementsprechend steht die Sensibilisierung
5.2 Die Pilotstudie und die Erprobung von Setting und Methode
149
und Reflexion von Emotionen im Kontext der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Mittelpunkt der inhaltlichen Gestaltung der Datenerhebung. (C) Die erhobenen Daten sollen mit qualitativen und quantitativen Auswertungsmethoden analysiert werden, um sowohl den qualitativen Dimensionen und der Subjektivität von Emotionen durch Interpretation gerecht zu werden, als auch ein mengen- und verhältnismäßiges Abbild des emotionalen Erlebens der Schüler*innen darstellen zu können. Zudem soll die Methodentriangulation, ganz im Sinne des klassischen Triangulationsansatzes, eine Validierungsfunktion erfüllen. Ausgehend von diesen drei Eckpfeilern (Videodokumentation, Sensibilisierung, Mixed-Methods-Ansatz) wurde eine erste Pilotstudie mit einer Wiener Handelsakademie im Rahmen eines Persönlichkeitstrainings im Wintersemester 2016/2017 durchgeführt, welche in erster Linie der Erprobung des Settings, der Kameraführung und der Passung der unterschiedlichen projektiven und imaginativen Verfahren diente. In mehreren Workshops, die zum Teil in einem Beobachtungslabor der Universität und zum Teil in den Räumlichkeiten der Schule selbst stattfanden, wurden unterschiedliche Kameratechniken, verschiedene Gruppengrößen und eine Vielzahl an selbstreflexiven Verfahren im Einzel- und Gruppensetting erprobt. Die Videodaten wurden in einem weiteren Schritt mit unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Auswertungsmethoden ausschnittweise analysiert. Dabei stellte sich relativ bald heraus, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt und methodologische Einschränkungen berücksichtigt werden müssen, um dem leitenden Erkenntnisinteresse und der Zielsetzung des Projekts gerecht werden zu können. Im Besonderen wurde im Kontext der Datenerhebung deutlich, dass 1) ein Gruppensetting den bestmöglichen Zugang zum emotionalen Erleben von Schüler*innen gewährleistet, sofern ein gewisses Maß an Vertrauen und Wertschätzung vorausgesetzt werden kann, da ein interaktives Setting die Explorationsbereitschaft erhöht und gleichzeitig sozial erwünschten Antworten präventiv entgegenwirkt; dass 2) die Gruppengröße unter acht Personen liegen sollte, damit Sprechakt, Verhalten und Reaktion in den Video- und Audioaufzeichnungen eindeutig zuordenbar sind; dass 3) mehrere, simultan geschaltete, fest stehende aber in Zoom und Winkel steuerbare Kameras eine optimale Perspektive ermöglichen, um alle Personen und Verhaltensbeobachtungen adäquat abbilden zu können; dass 4) die Videoaufnahmen außerhalb der Schule in einem geschützten und neutralen Rahmen stattfinden sollten, nicht nur um Ablenkung zu vermeiden, sondern um den Schulkontext mit seinen üblichen Konnotationen in den Hintergrund zu drängen; dass 5) im Vorfeld Maßnahmen getroffen werden müssen, die eine Basis des Vertrauens, der
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5 Methodologische Überlegungen
Sicherheit und Wertschätzung ermöglichen, um sowohl die Schüler*innen selbst als auch die erhobenen Daten zu schützen; dass 6) Lehrpersonen, mit denen die Schüler*innen täglich im Leistungskontext im Austausch stehen, nicht am Projekt beteiligt sein dürfen, da jene das Explorationsniveau der Schüler*innen beeinflussen; dass 7) die ausgewählten imaginativen und projektiven Verfahren genauer Anweisung und Einführung bedürfen, um zeitlich und inhaltlich angemessen bearbeitet werden zu können; und dass 8) die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen und Schulen, und die damit einhergehende Beziehungsgestaltung, von einer einzigen Person geleitet werden sollte, die sowohl mit den Zielen des Projekts als auch mit den inhaltlichen und methodischen Überlegungen im Detail vertraut ist. Bei der Datenauswertung zeigte sich, dass 9) in der qualitativen Analyse Verfahren zu bevorzugen sind, die eine systematische Kombination aus beobachtbarem Verhalten und Sprache (bzw. Transkript) ermöglichen, dabei aber relativ eng am Material bleiben und regelgeleitet vorgehen. Bei den quantitativen Verfahren erwiesen sich die, anfangs noch vielversprechend erscheinenden, Frequenz- und Kontingenzanalysen aufgrund des heterogenen Sprachniveaus und Sprachstils sowie aufgrund von Mehrdeutigkeiten, Kontextabhängigkeiten und inhaltlichen Färbungen als wenig aussagekräftig. Allerdings wurde deutlich, dass 10) videobasierte Ratingverfahren eine gewinnbringende und vor allem ergänzende Perspektive innerhalb des Forschungsprojekts und im Hinblick auf den qualitativen Analysestrang ermöglichen, weil sie sowohl eine Validierungsfunktion einnehmen können als auch auf spezifische, möglicherweise in der qualitativen Analyse nicht berücksichtigte, Dimensionen aufmerksam machen können, woraufhin jene verfeinert und entsprechend dem Erkenntnisinteresse des Projekts adaptiert wurden. In den ersten Interpretationsschritten und Analyseprozessen, die mitunter der Ausdifferenzierung und dem Verfeinern der Forschungsfragen dienten, wurde zudem deutlich, dass die subjektive Perspektive der Schüler*innen bzw. der Anspruch einer subjektorientierten und individuumzentrierten Vorgehensweise nur teilweise berücksichtigt werden konnte, da in der Auswertung und Interpretation die Zuordnung und Gruppierung von Aussagen zuweilen nicht so eindeutig erschien. Um dieses gewichtige Problem zu lösen wurde der Entschluss gefasst, dass 11) die Schüler*innen zentral in die Datenauswertung involviert sein sollen und dass ein partizipativer Forschungszugang am ehesten in der Lage ist, die Lebenswirklichkeit und das emotionale Erleben von Schüler*innen adäquat abzubilden. Um die Verzerrungsgefahr des subjektiven Zugangs der Interpretation (im Sinne der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit) zu minimieren, die Fehleranfälligkeit des quantitativen Ratings (im Sinne der Reliabilität) zu kontrollieren und den methodologischen Empfehlungen der
5.2 Die Pilotstudie und die Erprobung von Setting und Methode
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Videoanalyse gerecht zu werden, wurde zudem entschieden, dass 12) zukünftig alle Analyse- und Auswertungsschritte in Forschungsteams bzw. Kleingruppen durchgeführt werden sollten. Abschließend soll erwähnt werden, dass sich zwei der zentralen methodischen Bedenken, die im Vorfeld der Pilotierung große Sorgen bereiteten, in der Zusammenarbeit mit den Schüler*innen als völlig unbegründet erwiesen: Zum einen überraschte die kollektive Bereitschaft der Schüler*innen über ihre Emotionen und ihr emotionales Erleben zu berichten. War zu Beginn der Pilotstudie noch unklar, ob sich die Schüler*innen auf einen stark selbstreflexiven und durchaus persönlichen Austausch miteinander einlassen würden, war nach den ersten Workshops bereits deutlich, dass nahezu alle Schüler*innen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Tiefe, ein Bedürfnis danach hatten, sich emotional mitzuteilen. Besonders beeindruckend war die Tatsache, dass die männlichen Schüler, die in der Pilotstudie aufgrund der beteiligten Schulform der Handelsakademie zahlenmäßig bei weitem überwogen, sehr viel offener über ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen sprachen, als die weiblichen Schüler*innen, deren Explorationsbereitschaft aber ebenso unerwartet groß war. Zum anderen wurde die Kamera, sowohl im fixierten Modus als auch als bewegte Handkamera, von den Schüler*innen kaum beachtet und ließ auch keine Verzerrungs- oder Anpassungseffekte erkennen; auch wenn zu Beginn der Workshops die Kameras noch des Öfteren die Blicke der Schüler*innen auf sich zogen, so wurde der Tatsache, während der Workshops selbst gefilmt zu werden, nach ein paar Minuten kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. Auch wenn dieser Sachverhalt durchaus bekannt ist bzw. in der Methodenliteratur beschrieben wird (vgl. bspw. Heath et al. 2010, S. 10 oder Herrle und Breitenbach 2016, S. 36) und Videoaufnahmen mit Smartphones und Tablets Teil der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen sind, war es doch erstaunlich, dass das Bewusstsein gefilmt zu werden bei den Schüler*innen keinerlei Störeffekte nach sich zog. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich empfiehlt – auch wenn Pilotstudien im Allgemeinen mit einem doch beträchtlichen Mehraufwand verbunden sind und aus finanziellen Gründen oft vernachlässigt werden – bei der Konzeptualisierung eines explorativen, noch wenig erforschten Themas zentrale Fragen und Unsicherheiten empirisch abzuklären, um ein methodisches Design entwickeln zu können, das dem Gegenstand der Untersuchung und dem zentralen Erkenntnisinteresse gerecht wird. Besonders bei explorativen Videostudien sollte daher eine Pilotstudie, in der Erhebungs- und Auswertungsmethoden erprobt und modifiziert werden können, der eigentlichen Untersuchung vorausgehen.
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5 Methodologische Überlegungen
5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung Im Anschluss an die Pilotstudie und unter Berücksichtigung der dabei deutlich gewordenen Voraussetzungen und Einschränkungen wurde ein multi-methodisches und partizipatives Forschungsdesign entwickelt, das den unterschiedlichen methodischen Zugängen, den unterschiedlichen Datenquellen, den multiplen, epistemologischen Grundlagen und dem leitenden Erkenntnisinteresse von EMOTISION gerecht werden sollte. Der hierfür gewählte Mixed-Methods-Ansatz orientiert sich an der komplexen, offenen Designform (vgl. Kuckartz 2014, S. 90) des „fully integrated mixed designs“, zum Teil auch fully mixed research design genannt (vgl. Teddlie und Taschakkori 2009, S. 151). Im Vergleich zu klassischen parallelen oder sequenziellen Designformen ermöglicht dieser offene und dynamische Zugang die Kombination und Integration der qualitativen und quantitativen Methodenstränge zu jedem Zeitpunkt im Forschungsverlauf. Besonders steht dabei ein interaktiver Umgang mit den unterschiedlichen Datenquellen und Methoden im Mittelpunkt der Forschungstätigkeit. D. h. der Forschungsprozess versteht sich als dynamisches, reziprokes, interdependentes, zyklisches und interaktives Geschehen (vgl. Teddlie und Taschakkori 2009, S. 156), wodurch zu jedem Zeitpunkt der Forschung Interferenzen entstehen können und multiple Integrationspunkte, sogenannte multiple points of integration, zeitlich unabhängig in jeder Phase des Projekts auftreten (vgl. Onwuegbuzie und Johnson 2006, S. 53). Die gleichzeitige Sequenzierung der Methoden bei unterschiedlichen Datenquellen ermöglicht überdies einen explorativen und einen erklärenden Anspruch im Kontext theoretischer Generalisierungen zu erheben (vgl. Cresswell und Plano Clark 2007, S. 84 und 136 f.), auch wenn das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit in erster Linie explorativer Natur ist. Der hier vorgestellte, integrative Mixed-Methods-Zugang erweist sich zudem als sinnvoll, wenn, wie in diesem Fall, das Erkenntnisinteresse der Studie mehrere Zielsetzungen verfolgt, wenn die Analyse und Auswertung durch mehrere Forschungsteams gleichzeitig stattfindet, wenn nicht nur unterschiedliche Methoden, sondern auch unterschiedliche Datenquellen in der Erhebung und Auswertung berücksichtigt werden und wenn die beforschten Personen im Sinne eines partizipativen Zugangs zu Forschungspartner*innen und somit zu Entscheidungsträger*innen entlang des Forschungsprozesses werden. Auch wenn Datenerhebung und Datenauswertung im Sinne der Idee eines fully integrated mixed designs in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen bzw. ineinander übergehen, so lassen sich in EMOTISION konzeptuell fünf
5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung
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Forschungsphasen voneinander unterscheiden. In der Phase der Konzeptualisierung geht es um die Konkretisierung der Forschungsfragen, die Passung zwischen Gegenstand und Methode sowie die Auswahl und Modifikation der Methoden im Kontext des leitenden Erkenntnisinteresses. In der darauf folgenden Phase der primären Datenerhebung steht die Reflexion und Sensibilisierung des emotionalen Erlebens der Schüler*innen im Mittelpunkt von fünf konsekutiven Workshopsessions. Darauf folgt die dritte Phase der Selektion und partizipativen Arbeit in den Fokusgruppen, die sich sowohl als Erhebungs- als auch als Auswertungsphase versteht und sich somit zeitlich und inhaltlich mit der vierten Phase, der Datenauswertung, Analyse und Interpretation überschneidet. Den Abschluss des Forschungsprojekts bildet die Phase der Ergebnisdarstellung im Sinne der integrativen Ableitung zentraler Schlussfolgerungen. Wie in der nachfolgenden Graphik (siehe Abb. 5.1) deutlich wird, ermöglicht das hier gewählte methodische Design nicht nur die Integration von Methoden und Daten zu jedem Zeitpunkt des Forschungsverlaufs, sondern ebenso einen kontinuierlichen und zyklischen Austausch zwischen den einzelnen Forschungsphasen:
Abb. 5.1 Das methodische Design von EMOTISION. (Quelle: Huber 2019b, S. 164)
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5 Methodologische Überlegungen
Zur besseren Übersicht und zum Verständnis des methodischen Designs sollen an dieser Stelle der Datenkorpus und die Methoden der Auswertung kurz vorgestellt werden, auch wenn beide in den nachfolgenden Kapiteln im Detail beschrieben sind (siehe Kap. 7 und 8). Der Datenkorpus umfasst die folgenden Ressourcen: 1. die Videoaufzeichnungen aus den Workshops mit den Schüler*innen, 2. die Materialien und Produkte aus den einzelnen Workshops, 3. die Forschungstagebücher der Schüler*innen, sowie 4. eine ausführliche Stammdatensammlung der Schüler*innen. Die Methoden der Datenauswertung lassen sich in drei große Themenblöcke gliedern: (A) die interpretative, qualitative Videoanalyse (ISQIA), (B) die standardisierte, quantitative Videoanalyse (Rating), sowie (C) die Arbeit in den Fokusgruppen (Partizipativer Auswertungsprozess). In der nachfolgenden Übersichtstabelle findet sich eine Zuordnung der Ressourcen und Methoden zu den leitenden Fragestellungen der vorliegenden Arbeit (siehe Tab. 5.1), wobei im Sinne der Idee des fully integrated mixed designs sowohl die methodischen Zugänge als auch die jeweiligen Ressourcen sowie Erhebung und Auswertung in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen. Aus methodologischer Perspektive können aus der Übersicht von Ressourcen und Methoden bereits zwei Gruppen von Mixinglevels respektive Formen der Triangulation unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Datenstränge (aus Erhebung und Analyse) identifiziert werden (vgl. hierzu Huber 2017b, S. 253 ff.). Zum einen geht es um die Kombination und Integration unterschiedlicher forschungsmethodischer Zugänge und im Besonderen um die Gegenüberstellung und Integration der qualitativen und quantitativen Videoanalyse. Zum anderen – und dies zeichnet das vorliegende Forschungsprojekt im Kontext bildungswissenschaftlicher Mixed-Methods-Zugänge mitunter aus (vgl. hierzu Dalehefte und Kobarg 2012) – werden unterschiedliche Datenquellen (bzw. Ressourcen) im Analyseprozess miteinander kombiniert. Auch wenn die qualitative Analyse aufgrund des explorativen Anspruchs das Herzstück der empirischen Arbeit innerhalb des Forschungsprojekts darstellt und somit die standardisierte Videoanalyse und die Fokusgruppen als indikative Vergleichsreferenzen gelten (vgl. hierzu auch Teddly und Tashakkori 2009, S. 162), müssen die potentiellen Mixinglevels
5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung
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Tab. 5.1 Forschungsfragen, Ressourcen und Auswertungsmethoden Forschungsfrage
Ressourcen
Auswertung
1. Welche emotionalen Markierungen werden von den Schüler*innen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie berichtet bzw. welche subjektiv als bedeutsam erlebten emotionalen Markierungen lassen sich im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen identifizieren?
Video, Materialien, Stammdaten, Forschungs-tagebücher
ISQIA
2. Was sind die entscheidenden Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen im Bildungskontext? 3. Welche Emotionen und emotionalen Qualitäten sind für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext bzw. für die Entstehung emotionaler Markierungen aus subjektiver Perspektive von Bedeutung? 4. Welche Funktionen haben emotionale Markierungen für und innerhalb der eigenen Bildungsbiografie respektive welche Effekte und Folgen zeitigen die emotionalen Markierungen im Leben der Schüler*innen und wie beeinflussen sie ihre Bildungsbiografie? 5. Welche Erfahrungen und Erlebnisse werden Video, von den Schüler*innen besonders stark bzw. Materialien, intensiv emotional erzählt und an welchen Stellen in den Erzählungen der Schüler*innen sind die emotionalen Markierungen am stärksten?
Rating
Fokusgruppen Video, 6. Wie authentisch sind die Erzählungen Forschungs-tagebücher, der Schüler*innen im Hinblick auf ihr Stammdaten emotionales Erleben, welchen Stellenwert haben Emotionen tatsächlich in ihrem alltäglichen Leben und wie valide sind dementsprechend die Ergebnisse aus den einzelnen Interpretationsschritten? Quelle: Eigene Darstellung
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5 Methodologische Überlegungen
als eine gleichberechtigte Kombination aus Methoden und Ressourcen verstanden werden. Daraus ergibt sich eine Vielzahl möglicher Integrationspunkte respektive potentieller Mixinglevels, die es bei der Konzeptualisierung von Mixed-Methods-Designs im Vorfeld zu berücksichtigen gilt, um begründet argumentieren zu können, welchen Zweck das jeweilige Design und die dabei potentiell möglichen Integrationspunkte erfüllen sollen bzw. warum dieses Design für den vorliegenden Gegenstand sinnvoll und notwendig ist (vgl. Schoonenboom und Johnson 2017, S. 110). Für das Forschungsdesign von EMOTISION lassen sich diesbezüglich zumindest drei zentrale Grundgedanken respektive Integrationsziele, sogenannte purposes of mixing, beschreiben (vgl. für die folgende Übersicht auch Huber 2017b, S. 255 f.): 1. Alle möglichen Mixinglevels sollen die Signifikanz und Validität der unterschiedlichen Datenstränge erhöhen (diversification and explanation). Beispielsweise soll die Kombination der qualitativen Videoanalyse mit den Forschungstagebüchern helfen die subjektive Bedeutung emotionaler Markierungen in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen besser zu verstehen, indem die Interpretationen aus der Videoanalyse mit den persönlichen Eindrücken und Aufzeichnungen der Schüler*innen verglichen werden. Ebenso ermöglicht der Rückgriff auf die Produkte und Materialien aus den Workshops im Rahmen der Videointerpretation ein tieferes Verständnis für die Zuordnung und Kategorisierung einzelner Aussagen und Verhaltensweisen. Die Kombination der qualitativen und quantitativen Videoanalyse ermöglicht überdies eine Diversifikation des gesamten Forschungsprozesses, indem bspw. starke Effekte in den quantitaiven Daten als Indikator für einen zweiten Blick auf die qualitativen Daten herangezogen werden oder aber indem isolierte Aussagen von Schüler*innen durch den Vergleich mit den quantitativen Werten besser verstanden und dementsprechend eingeordnet werden können etc. 2. Die Mixinglevels sollen des Weiteren die zentralen Ergebnisse der einzelnen Datenstränge durch einen zweiten Zugang bestätigen (triangulation and proofing). Die Kombination der unterschiedlichen Datenstränge ermöglicht es bspw. Interpretationen über die zentralen emotionalen Qualitäten in der qualitativen Analyse durch den Rückgriff auf die Materialien und Produkte der Workshops oder aber durch einen Vergleich mit den Forschungstagebüchern gegebenenfalls zu bestätigen oder aber auch zu verwerfen. Durch die Kombination der qualitativen und quantitativen Videoanalyse ist es überdies möglich ein Phänomen oder einen Sachverhalt, wie bspw. ein positiv konnotiertes Vorstellungsbild der zukünftigen Profession,
5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung
157
aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Dies erhöht sowohl die Zuverlässigkeit der Ergebnisse aus den einzelnen methodischen Zugängen als auch die Zuverlässigkeit der Schlussfolgerungen im Kontext der Metainterferenzen. Die Fokusgruppen und das partizipative Forschungsdesign eröffnen zudem mehrere Möglichkeiten der Überprüfung und Bestätigung der einzelnen Analyseschritte. Beispielsweise können schwierige Sequenzen mit den betroffenen Schüler*innen gemeinsam interpretiert werden oder aber die Zuordnungen und Interpretationen bestimmter Szenen, Kategorien oder Aussagen überprüft bzw. bestätigt werden etc. 3. Die Mixinglevels sollen zudem den multiplen theoretischen und empirischen Ansprüchen des Forschungsprojekts gerecht werden (multiple cases and multiple causes). Ein weiterer Grund für die Kombination und Integration von unterschiedlichen Methoden und Daten bzw. für die Wahl des vorliegenden Forschungsdesigns ergibt sich aus den unterschiedlichen theoretischen und empirischen Topoi des Projekts. Hierzu zählen bspw. die Bedeutung von Emotionen und emotionalen Markierungen, der Prozess der Bildungslaufbahnentscheidung, der Übergang von Schule zur Hochschule bzw. in den tertiären Bildungssektor, die subjektive Perspektive und das emotionale Erleben der Schüler*innen oder aber das partizipative Forschungsdesign. Mit Blick auf die Methodenliteratur und auf aktuelle Studien der Mixed-Methods-Forschung werden für die genannten Themenbereiche auch von anderen Autor*innen multi-methodische Forschungsdesigns empfohlen: Bspw. empfehlen DeCuir-Gunby et al. (2012) generell einen videobasierten Mixed-Methods-Zugang, wenn es darum geht das Verhalten und Agieren von Schüler*innen in Lehr-Lern-Interaktionen bzw. pädagogischen Kontexten zu analysieren; Kratzmann et al. (2012) schlagen für die Rekonstruktion von Bildungslaufbahnentscheidungen und Bildungsverläufen vor, zukünftig stärker mit Mixed-Methods-Designs zu arbeiten; Christian Seipel und Susanne Rippl (2013) betonen, im Anschluss an die Arbeit von Wiederhorn (2011), dass es zukünftig in der Bildungsverlaufsforschung im Sinne einer ganzheitlichen Perspektive notwendig sein wird, mit multi-methodischen Forschungszugängen zu arbeiten. Beispiele für den sinnvollen Einsatz von Mixed-Methods-Designs in der Übergangsforschung wären die Studie von Doyle et al. (2013) zum Übergang von Schüler*innen mit Behinderung in den Hochschulbereich, die Jugendstudie von Gaupp (2013) zum Übergang von der Schule in die Arbeitswelt oder die Übergangsevaluationsstudie von Abrams et al. (2008). Im Kontext der Videographie machen Inger Dalehefte und Mareike Kobarg (2012) darauf aufmerksam, dass Videostudien weitaus signifikanter und valider sind, sofern man unterschiedliche Daten und
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5 Methodologische Überlegungen
Ressourcen miteinander kombiniert und dass eine Methodenkombination notwendig ist, um die Nachteile der einzelnen methodischen Zugänge zu kompensieren (vgl. Dalehefte und Kobarg 2012, S. 21 ff.). Abschließend muss betont werden, dass in den letzten Jahren im Kontext der Emotionsforschung bzw. in der empirischen Analyse des emotionalen Wahrnehmens und Erlebens die Kombination und Integration von unterschiedlichen Datenquellen und unterschiedlichen methodischen Zugängen aufgrund der Komplexität und Multidimensionalität des Gegenstands eine methodologische Notwendigkeit darstellt. Damit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass das hier gewählte Forschungsdesign ein tieferes Verständnis der einzelnen Analyseschritte und der sich daran anschließenden zentralen Schlussfolgerungen gewährleisten, die Überprüfung und Bestätigung der Ergebnisse der einzelnen Methoden und Metainterferenzen ermöglichen sowie der Pluralität der theoretischen Grundannahmen und empirischen Ansprüche gerecht werden soll. Der eklektizistisch anmutende Pluralitätsanspruch soll allerdings nicht als methodologische Beliebigkeit verstanden werden, sondern als konstitutiv für die Möglichkeit wissenschaftliche Erkenntnis zu generieren. Dementsprechend verortet sich das hier beschriebene Forschungsdesign und demzufolge die vorliegende Arbeit methodologisch in der Tradition des „dialektischen Pluralismus“ (vgl. hierzu dialectical pluralism: Johnson 2012; Johnson et al. 2014; Johnson 2015; Johnson und Schoonenboom 2015). Der dialektische Pluralismus, der sich in den letzten Jahren vor allem durch R. Burke Johnson als neues Paradigma der Mixed-Methods-Forschung etablieren konnte, versucht die vier klassischen Paradigmen der Mixed-Methods bzw. „the four worldviews used in research“ (Cresswell und Plano Clark 2007, S. 22) zu überwinden. Im Gegensatz zum Postpositivismus, Konstruktivismus, Pragmatismus und Transformativismus (vgl. hierzu auch Morgan 2008, S. 61 f. sowie Kuckartz 2014, S. 40 f.) geht es im dialektischen Pluralismus um die Idee eines Metaparadigmas, das fernab von paradigmatischen Grabenkämpfen eine Sowohl-Als-Auch Perspektive an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis ermöglicht. Burke Johnson geht dabei von drei zentralen Grundannahmen aus: 1) Im dialektischen Pluralismus steht ein sorgsames und selbstreflexives, dialektisches Verstehen unterschiedlicher Disziplinen, Paradigmen, Theorien und Meinungen im Mittelpunkt; 2) dabei geht es um die Kombination von zentralen Ideen und Ansätzen unterschiedlicher und teils gegensätzlicher Positionen sowie um die Berücksichtigung unterschiedlicher epistemologischer, sozialer und politischer Wertvorstellungen zugunsten der eigenen Forschungsbemühungen; 3) vorausgesetzt und explizit verlangt sind dabei lediglich die
5.3 Das methodische Design im Kontext der Mixed-Methods-Forschung
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Berücksichtigung ethischer Standards, die Verbreitung und Nutzbarmachung der jeweiligen Forschungsergebnisse sowie eine fortlaufende Evaluation der eigenen Forschungspraxis (vgl. Johnson 2015, S. 5 sowie Johnson 2012, S. 752). Neben diesen Grundgedanken ist der dialektische Pluralismus für die vorliegende Arbeit und das Forschungsprojekt EMOTISION als methodologischer Überbau deshalb besonders geeignet, da es in erster Linie um die Suche nach Gemeinsamkeiten und nicht so sehr um Abgrenzungen, Typisierungen oder Differenzbildungen geht. Diese dialektisch pluralistische Sichtweise wurde bereits im theoretischen Teil der Arbeit deutlich und soll auch ein zentrales Leitmotiv der empirischen Analyse sein. Zudem geht Johnson (2012, 2015) von einem positiven (aber nicht positivistischen) Wissenschaftsverständnis aus, indem er Forschung immer als einen Beitrag zur Gesellschaft versteht und Theorie und Praxis somit in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehend sieht (vgl. Johnson 2015, S. 13), was wiederum den partizipativen Anspruch des Projekts reflektiert. Des Weiteren betont der dialektische Pluralismus zum einen die Arbeit in Gruppen bzw. Teams und die Notwendigkeit der Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen im Analyseprozess sowie zum anderen die Reflexion des eigenen emotionalen Erlebens, die Notwendigkeit von Empathie zur Überwindung von Differenzen und ein Besinnen auf das innere Empfinden aller am Forschungsprozess Beteiligten (vgl. Johnson 2015, S. 8). Die Suche nach Gemeinsamkeiten, die positive Weltsicht bzw. research as a win-win-situation, die Hervorhebung des emotionalen Erlebens, der respektvolle und wertschätzende Umgang mit Menschen, Theorien und Methoden sowie das prospektive Verständnis von Gruppenprozessen und -dynamiken verdeutlichen die Passgenauigkeit dieses Metaparadigmas als methodologischem Überbau der vorliegenden Arbeit.
6
Samplingstrategien und Stichprobendesign
Auch wenn sich die Mixed-Methods-Forschung in den letzten Jahrzehnten immer größer werdender Beliebtheit erfreut, kommt dem Mixed-Methods-Sampling im Rahmen methodologischer Überlegungen eher eine untergeordnete Bedeutung zu. Andrea Hanse (2017) weist diesbezüglich darauf hin, dass in der Regel unterschiedliche Formen von Zufallsstichproben, die als Standard für die quantitativen Teilstudien gelten, sowie unterschiedliche Formen bewusster Auswahlverfahren, die normalerweise für die qualitativen Teilstudien herangezogen werden, gegenübergestellt und mit parallelen oder sequenziellen M ixed-Methods-Designs verbunden werden (vgl. Hanse 2017, S. 238). Die Ausrichtung und Konzeptualisierung des vorliegenden Forschungsdesigns sowie die Orientierung an der Idee eines fully integrated mixed designs ermöglicht allerdings weder ein theoretisches Sampling, im Sinne einer, auf Maximierung oder Minimierung von Differenzen abzielenden, theoretisch begründeten Auswahl von Forschungsteilnehmer*innen (vgl. Lamnek 2010, S. 171), noch eine statistische (Zufalls-) Stichprobe, im Sinne der Auswahl einer, die Grundgesamtheit repräsentierenden Anzahl an zu untersuchenden Fällen (vgl. Stein 2019, S. 136). Vielmehr müssen in der Auswahl der Forschungspartner*innen die Rahmenbedingungen des partizipativen Forschungszugangs, die Einschränkungen aus der Erprobung von Setting und Methode, das zentrale Erkenntnisinteresse und der Gegenstand der Untersuchung sowie damit einhergehende forschungsethische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Daher wird im Folgenden ein komplexes Stichprobendesign mit mehrstufigem Auswahlprozess vorgestellt, das als eine „Multilevel Mixed-Methods-Samplingstrategie“ verstanden werden kann (vgl. hierzu die Übersicht von Teddlie und Yu 2008, S. 200).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_6
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
6.1 Das Multilevel Mixed-Methods-Sampling als komplexes Stichprobendesign Multilevel Mixed-Methods-Samplingtechniken sind im Gegensatz zu klassischen, parallelen oder sequenziellen Mixed-Methods-Samplings, besonders für komplexe, offene Designformen geeignet und kommen bei Studien im Bildungsbereich oder anderen Organisationssystemen zum Einsatz, in denen es unterschiedliche Hierarchie- und Zuständigkeitsebenen gibt, die bei der Auswahl von Studienteilnehmer*innen eine zentrale Rolle spielen können (vgl. Teddlie und Yu 2008, S. 219). Im Rahmen des Multilevel Mixed-Methods-Samplings werden von Charles Teddlie und Abbas Tashakkori (2009) für den Bildungsbereich die folgenden fünf strukturellen Ebenen unterschieden: das staatliche Bildungssystem, die jeweilige Schulorganisation, die betroffene Schule selbst, Lehrer*innen und Klassen der jeweiligen Schule sowie die einzelnen Schüler*innen (vgl. Teddlie und Tashakkori 2009, S. 190). Je nach Berücksichtigung der Anzahl an Ebenen müssen differenzierte Samplingstrategien zum Einsatz kommen, die sich an den Bedürfnissen der jeweiligen Entscheidungsträger*innen orientieren und gegebenenfalls auf Abhängigkeitsverhältnisse Rücksicht nehmen. Im Fall von EMOTISION müssen, auch wenn die strukturellen Ebenen nur indirekt Teil des Untersuchungsdesigns sind und lediglich ein einziges Sampling benötigt wird, zumindest die letzten vier Ebenen berücksichtigt werden, da es in Österreich im Unterschied zu den USA nur ein staatliches Bildungssystem gibt. Neben diesen 1) strukturellen Rahmenbedingungen spielen für die Auswahl der Teilnehmer*innen der vorliegenden Studie auch 2) organisatorische, 3) inhaltliche und 4) forschungsethische Kriterien eine zentrale Rolle, wobei die jeweiligen Kriterien lediglich konzeptuell unabhängig von den strukturellen Rahmenbedingungen gedacht werden können: Bei den organisatorischen Kriterien, die sich bereits in der Pilotierung des Projekts abzeichneten, ist es besonders die Gruppengröße, die einen entscheidenden Einfluss auf die Auswahl der Stichprobe hat. So zeigte sich bei den ersten Videoanalysen bereits, dass eine Obergrenze von acht Personen eine optimale Fokussierung bei vier fixierten Kameras ermöglichen würde, da diese Gruppengröße die Beobachtung von Interaktionsprozessen bei gleichzeitiger Sprecher*innenzentrierung erlaubt (Klassen- und Schüler*innenebene). Eine weitere organisatorische Eingrenzung ergibt sich aus dem Ort der Untersuchung. So sollten im Idealfall Schulen am Projekt teilnehmen, die eine örtliche Nähe zur Universität aufweisen, um den Hin- und Rückweg der Schüler*innen und die
6.1 Das Multilevel Mixed-Methods-Sampling als komplexes …
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damit einhergehende Belastung möglichst gering zu halten (Schulorganisationsund Schulebene). Um dem partizipativen Anspruch gerecht zu werden, sollte darüber hinaus die zeitliche Perspektive berücksichtigt werden bzw. eine längerfristige Zusammenarbeit mit den Schüler*innen gewährleistet sein (Schulebene). Die inhaltlichen Kriterien ergeben sich aus dem Erkenntnisinteresse und dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Schüler*innen müssen sich am Übergang von der Schule zur Hochschule befinden, dementsprechend kurz vor der Matura stehen und zwischen 16 und 18 Jahre alt sein sowie eine Allgemeinbildende Höhere Schule besuchen (Schul-, Klassen- und Schüler*innenebene). Und bei den forschungsethischen Kriterien sind neben Verfügbarkeit und Vertraulichkeit im Besonderen die Anonymität, die Kontinuität, die Freiwilligkeit, die inhaltliche Transparenz und der Leistungskontext entscheidende Voraussetzungen für die Auswahl der Forschungspartner*innen (Schul- und Schüler*innenebene). Die nachfolgende Tabelle fasst die einzelnen Kriterien entlang der vier zentralen Dimensionen zusammen (siehe Tab. 6.1): Im Folgenden wird das komplexe Stichprobendesign mit mehrstufigem Auswahlprozess bzw. das Multilevel Mixed-Methods-Sampling entlang dieser vier Dimensionen skizziert. Zuvor sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass im Sinne der Idee des fully integrated mixed designs das hier zum Einsatz kommende Stichprobendesign bzw. die Samplingstrategien bereits integraler Bestandteil des dynamischen, reziproken und zyklischen Forschungsprozesses sind. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich somit im wissenschaftstheoretischen Sinne nicht nur als methodologische Begründung des empirischen Vorgehens, sondern auch als ein konstitutiver Beitrag zur Frage nach der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis.
Tab. 6.1 Multilevel Samplingmatrix mit vier Dimensionen Struktur
Organisation
Inhalt
Ethik
(Staat)
Ort/Nähe
AHS
Freiwilligkeit
Schulorganisation
Zeit/Partizipation
16.–18. Lj.
Transparenz
Schule
Gruppengröße
Übergang/Matura
Leistungskontext
Lehrer*in/Klasse
Anonymität
Schüler*innen
Kontinuität Verfügbarkeit Vertraulichkeit
Quelle: Eigene Darstellung
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
6.2 Der Rekrutierungsprozess von Schulorganisation, Schulleitung und Schüler*innen Am Beginn der Samplingstrategien ging es um die Abklärung der strukturellen Rahmenbedingungen. In einem ersten Schritt wurden die zwei bevorzugten Gymnasien, das Erich-Fried-Realgymnasium und das Bundesgymnasium Wasagasse, kontaktiert, die sich beide in Universitätsnähe bzw. im neunten Wiener Gemeindebezirk befinden (Kriterium Schule). Die Schulen wurden allerdings nicht nur aufgrund der geographischen Nähe zur Universität, sondern auch aufgrund des spezifischen Schulprofils ausgewählt; beide Schulen verfügen über eine Unter- und Oberstufe und sind in der Oberstufe modular aufgebaut. Somit bieten sie die Möglichkeit der individuellen Schwerpunktsetzung im Rahmen von Wahlmodulen (Kriterium Ort und Schultyp). Die Kontaktaufnahme wie auch die weitere Abwicklung der Zusammenarbeit mit den Schulen passierte über die jeweilige Schulleitung. Hierzu wurde zuerst ein Termin mir den Direktoren, Herrn Direktor Mag. Günther Maresch im Erich-Fried-Realgymnasium und Herrn Direktor Mag. Johannes Bauer im Bundesgymnasium Wasagasse, vereinbart, um ihnen die Projektidee, das zentrale Erkenntnisinteresse und die Zielsetzung des Forschungsprojekts vorzustellen (Kriterium Transparenz). Glücklicherweise erklärten sich beide Direktoren sofort bereit, das Projekt nicht nur zu unterstützen, sondern darüber hinaus als Projektlehrer die gemeinsame Arbeit mit den Schüler*innen zu begleiten (Kriterium Lehrer*innen und Klassen). In weiterer Folge wurde vereinbart, das Projekt in den modularen Regelstundenplan der Schüler*innen zu implementieren, sodass jene über ein Jahr kontinuierlich am Forschungsprojekt teilnehmen konnten (Kriterium Zeit bzw. Partizipation). Ebenso war es ein besonderes Anliegen den Leistungsdruck der Schüler*innen zu minimieren. Hierzu wurde die Vereinbarung getroffen, dass alle Schüler*innen, die sich mit der freiwilligen Einschreibung in das Forschungsprojekt verpflichten kontinuierlich teilzunehmen und nach bestem Wissen und Gewissen mitzuarbeiten, das Modul EMOTISION positiv und ohne weitere Prüfungsleistung abschließen (Kriterium Leistungskontext). Des Weiteren wurden pro Schule zwei Termine vereinbart, um den Schüler*innen, die sich zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme noch in der 10. Schulstufe (6. Klasse Oberstufe) befanden, das Projekt im Detail vorzustellen (Kriterium Transparenz und Schüler*innen). Zeitgleich musste die strukturelle Ebene der Schulorganisation berücksichtigt werden. Hierzu wurde die Bildungsdirektion Wien (bis 31.12.2018 namentlich
6.2 Der Rekrutierungsprozess von Schulorganisation, Schulleitung …
165
als Stadtschulrat Wien geführt) kontaktiert, mit der Bitte das Forschungsprojekt EMOTISION und im Besonderen den Einsatz von Videographie im Schulsetting zu genehmigen. Um eine offizielle Genehmigung zu erhalten musste eine detaillierte Projektskizze erstellt und der Abteilung für pädagogische Angelegenheiten der Allgemeinbildenden Höheren Schulen weitergeleitet werden. Nach Prüfung durch die schulpsychologische Abteilung wurde von der Bildungsdirektion Wien, namentlich von Frau Mag.a Sabine Sommer, im Mai 2017 eine offizielle Genehmigung des Projekts ausgesprochen und dem Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien postalisch zugesandt (Kriterium Schulorganisation und Transparenz). Die Rekrutierung der Schüler*innen wiederum orientierte sich an den Anmeldephasen der Module für die siebten Klassen. So wurde das Projekt im Detail allen Schüler*innen der sechsten Klassen gegen Ende des Sommersemesters vorgestellt, wobei pro Schule drei Klassen pro Jahrgang geführt werden. Die Schüler*innen wurden also über die Inhalte und Anforderungen des Projekts aufgeklärt und aufgefordert nur dann daran teilzunehmen, wenn sie zuverlässig an allen Terminen anwesend sein würden und das Projekt freiwillig besuchen wollen (Kriterium Freiwilligkeit und Transparenz). Das Einverständnis der Eltern wurde nach Rücksprache mit der Bildungsdirektion Wien und der Schulleitung explizit nicht eingeholt, um den Schüler*innen eine möglichst autonome Entscheidung zu ermöglichen. Ebenso wurde den Schüler*innen versichert, dass weder Lehrpersonen noch Schulleitung über die Inhalte der gemeinsamen Arbeit informiert werden würden (Kriterium Anonymität und Vertraulichkeit). Zudem wurde darauf hingewiesen, dass maximal acht Personen pro Schule am Projekt teilnehmen können, sofern sie die Voraussetzungen erfüllen (Kriterium Gruppengröße). Die Anmeldung erfolgte über ein anonymes Online-Anmeldesystem der jeweiligen Schulen, um sicherzustellen, dass sich die Schüler*innen tatsächlich eigenständig zum Projekt anmelden würden (Kriterium Anonymität und Freiwilligkeit). Zu diesem Zeitpunkt – und das soll an dieser Stelle auch erwähnt sein – war es also noch völlig unklar, ob sich überhaupt jemand für das Projekt zur Verfügung stellen würde. Noch vor offiziellem Projektbeginn wurde mit den Direktoren vereinbart, dass die Schüler*innen kontinuierlich im Abstand von zwei Wochen im Schuljahr 2017/2018 jeweils einen Nachmittag (bzw. vier Unterrichtseinheiten mit Pausen) am Projekt beteiligt sein werden (Kriterium Kontinuität). Dies wurde auch in der Vorschau des regulären Stundenplans der siebten Klassen vor Anmeldeschluss bereits sichtbar (Kriterium Transparenz). Am Ende des Sommersemesters 2017 bzw. nach Beendigung der Anmeldephase für die Wahlmodule waren aus beiden Schulen aller Klassen insgesamt zwölf Schüler*innen offiziell zum Modul
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
EMOTISION angemeldet. Während der Sommerpause wurden die Workshops (Erhebungsphase) vorbereitet und die inhaltliche Abstimmung präzisiert. Auch wenn die Vorbesprechung mit den teilnehmenden Schüler*innen bereits nach Abschluss des Stichprobendesigns (im Wintersemester 2017/2018) stattfand, soll diese hier dennoch Erwähnung finden, da dabei besonders forschungsethischen Gesichtspunkten Rechnung getragen wurde. Im Zentrum der Vorbesprechung stand die bewusste Evozierung von Vertrauen und Sicherheit im Kontext der bevorstehenden Zusammenarbeit. Hierzu wurden eine juristisch geprüfte Einverständniserklärung sowie eine Vertraulichkeitsvereinbarung in einem ersten Schritt im Detail durchbesprochen, durch Beispiele verständlich erklärt und mit den Schüler*innen gemeinsam diskutiert. Die Vertraulichkeitsvereinbarung stellt sicher, dass keinerlei personenbezogene Daten oder persönliche Informationen ganz oder teilweise an Dritte weitergeben werden und geht mit einer Vertraulichkeitspflicht einher, die Namen, Kontaktdaten und die persönlichen Angelegenheiten aller im Projekt Beteiligten schützt. Dabei wurde den Schüler*innen die Ernsthaftigkeit des vertrauensvollen Umgangs im Projekt vermittelt, um die Explorationsbereitschaft von Beginn an auch formal sicherzustellen. Die Einverständniserklärung bezieht sich hingegen auf die freiwillige Teilnahme sowie auf das Einverständnis der Dokumentation und Datensammlung innerhalb des Projekts. Dabei steht allerdings die Zusicherung der Anonymität im Zentrum der Erklärung; die betreffenden Daten und Materialien dürfen nämlich nur dann für die universitäre Lehre und Forschung eingesetzt werden, wenn die Anonymisierung aller Beteiligten und somit ein umfassender Datenschutz gewährleistet ist. Somit diente auch die Einverständniserklärung dazu, den Schüler*innen zu verdeutlichen, dass innerhalb des kommenden Jahres ein vertraulicher und wertschätzender Umgang im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen wird. Den Schüler*innen wurde nach Rückfragen zur Vertraulichkeitspflicht und Klärung der Verschwiegenheit gegenüber anderen natürlich auch die Möglichkeit geboten, das Unterzeichnen der Erklärungen zu verweigern. Nachdem die Einverständniserklärung und Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnet worden waren, wurden die Stammdaten der Schüler*innen mittels einer Vorlage erhoben. Ebenso wurde der forschungsethischen Forderung nach Erreichbarkeit und Verfügbarkeit durch ein eigens für das Projekt entwickeltes Online-Kommunikationstool sowie durch eine Messenger-Applikation für Smartphones nachgekommen, die im Rahmen der Vorbesprechung vorgestellt wurden. Ebenso wurden die Schüler*innen mit der Projekthomepage und dem individuell nutzbaren Online-Forschungstagebuch vertraut gemacht und erhielten eine Onlinekennung sowie ein personalisiertes Passwort (Projekthomepage: https:// emotision.univie.ac.at/).
6.3 Stammdaten und Bildungsbiografie der Schüler*innen
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Im Folgenden werden die Schüler*innen im Detail vorgestellt wobei Namen und biografische Informationen, die Rückschlüsse auf die Identität der Schüler*innen erlauben würden, bewusst verändert wurden. Ebenso wurde die Zuordnung der Schüler*innen zu den Schulen mit Absicht vernachlässigt, um dem Anspruch der Anonymität und Vertraulichkeit (auch selbst) gerecht zu werden.
6.3 Stammdaten und Bildungsbiografie der Schüler*innen Alle am Forschungsprojekt beteiligten Schüler*innen waren während der Zusammenarbeit, die sich über ein ganzes Schuljahr erstreckte, in der 7. Klasse Oberstufe (11. Schulstufe) bzw. ein Jahr vor der Matura und im Durchschnitt siebzehn Jahre alt. Die personenbezogenen Daten wurden am Beginn und am Ende des Projekts mithilfe eines standardisierten Stammdatenblatts schriftlich erfasst und gegengeprüft. Die Schüler*innen werden im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung ihrer bisherigen Bildungslaufbahn in alphabetischer Reihenfolge ihrer Pseudonyme vorgestellt. Die Pseudonyme bzw. Decknamen wurden von den Schüler*innen am Ende des Forschungsprojekts selbst gewählt und orientieren sich an der methodologischen Empfehlung kulturelle und phonetische Ähnlichkeiten mit den Originalnamen aufzuweisen und wesentliche Merkmale der Person (wie bspw. Geschlecht oder Alterskohorte) widerzuspiegeln (vgl. hierzu Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 170 sowie Kuckartz 2016, S. 171). Zudem wurden die personenbezogenen Daten entsprechend allgemeiner forschungsethischer Standards der Anonymisierung (Vertraulichkeit, Privatsphäre, persönliche Freiheit etc.) verändert, um sowohl den Schutz der Forschungspartner*innen als auch der Daten selbst zu gewährleisten (vgl. Johnson und Christenson 2017, S. 139 f.): Anna wurde in Wien geboren und ist das jüngste Kind der Familie. Ihre bereits erwachsenen Schwestern sind beide berufstätig und wohnen nicht mehr Zuhause. Ihr Vater hat die Schule mit Matura abgeschlossen und arbeitet im Immobilienbereich. Ihre Mutter hat einen Pflichtschulabschluss und ist krankheitsbedingt Frühpensionistin. Ihre Eltern sind geschieden und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist durch die Krankheit der Mutter und durch einen sozial bedingten Schulwechsel von Anna in der Sekundarstufe I geprägt. Anna ist ohne Bekenntnis und bezeichnet sich selbst als Agnostikerin. Den Kindergarten und die Volksschule wählten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie, wobei Anna hier kein Mitspracherecht hatte. Auch das erste Gymnasium wurde
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
aufgrund der günstigen geographischen Lage ausgewählt. Allerdings wechselte Anna, wie einige ihrer Mitschüler*innen auch, aufgrund massiver sozialer Probleme nach zwei Jahren in ein anderes Gymnasium. Dieser Schulwechsel war für Anna ein einschneidendes Erlebnis. Die Entscheidung die Oberstufe an derselben Schule zu absolvieren wurde von ihr selbst getroffen, da sie sich in der Schule wohlfühlte und hier ihren Abschluss machen wollte. Ihre Lieblingsfächer sind Chemie und Psychologie und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,8. Anna ist sich bezüglich ihrer Zukunft noch sehr ungewiss, möchte aber nach der Schule ein Studium absolvieren. Ihr Berufswunsch liegt im Bereich des Profilings, wobei sie sich eine Studienkombination aus Psychologie und Biochemie vorstellen könnte. Ihre Stärken sieht sie im literarischen Bereich und vor allem im Schreiben, als Schwächen bezeichnet sie ihre soziale Inkompetenz und die Unfähigkeit sich in größeren Menschenmengen aufzuhalten. Donna wurde in Wien geboren und ist ebenso das jüngste Kind der Familie. Ihr ältester Bruder studiert, während der mittlere im Gesundheitsbereich arbeitet. Ihr Vater hat einen Lehrabschluss und arbeitet in einem Handwerksberuf. Ihre Mutter verfügt über einen Pflichtschulabschluss und ist im Bereich der Raumpflege tätig. Ihrer Eltern sind verheiratet, stammen ursprünglich aus Südosteuropa und kamen vor 30 Jahren nach Wien. Die Familiengeschichte ist durch mehrere unerwartete Todesfälle und schwere Erkrankungen geprägt. Donna ist muslimischen Glaubens und bezeichnet sich selbst als religiös. Den Kindergarten wählten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie aus. Auch die Volksschule wurde aufgrund des kurzen Schulwegs von den Eltern ausgesucht. Die Entscheidung auf ein Gymnasium zu gehen, wurde innerhalb der Familie getroffen, wobei eine Freundin der Eltern der Familie die Schule im neunten Wiener Gemeindebezirk empfahl. Die Entscheidung auch die Oberstufe in derselben Schule zu absolvieren wurde von Donna selbst getroffen, mit der Begründung die Matura in derselben (vertrauten) Schule machen zu wollen. Ihr Lieblingsschulfach ist Chemie (bzw. Naturwissenschaften im Allgemeinen) und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 2,1. Donna könnte sich durchaus vorstellen, nach der Schule in ein anderes Land zu ziehen. Ihr Ausbildungswunsch liegt im medizinischen Bereich bzw. im Gesundheitswesen. Ihre Stärken sieht sie im Bereich von sozialen Kompetenzen, ihre Schwächen in der Lern- und Leistungsfähigkeit. Elif wurde als älteste Tochter der Familie in Wien geboren. Die mittlere Schwester und der jüngere Bruder besuchen beide die Schule. Ihr Vater hat einen Mittelschulabschluss und arbeitet in der Gastronomie. Ihre Mutter absolvierte eine Handelsschule und arbeitet als Einzelhandelskauffrau. Ihre Eltern sind verheiratet, wobei ihre Mutter in Wien geboren wurde und ihr Vater nach der
6.3 Stammdaten und Bildungsbiografie der Schüler*innen
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Hochzeit der Eltern aus dem mittleren Osten nach Österreich zog. Die Familiengeschichte ist durch eine genetische Erbkrankheit und den Tod eines Verwandten geprägt. Elif ist muslimischen Glaubens und bezeichnet sich selbst als religiös. Den Kindergarten und die Volksschule wählten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnsitz der Familie. Die Entscheidung für das Gymnasium wurde gemeinsam mit den Eltern aufgrund einer Empfehlung eines Verwandten getroffen, wohingegen die Entscheidung die Oberstufe an derselben Schule zu absolvieren von Elif selbst getroffen wurde. Ihre Lieblingsschulfächer sind Geschichte und Biologie und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 3,2. Elif möchte zukünftig in Wien studieren und arbeiten. Ihr Berufswunsch ist es Lehrerin zu werden, wobei sie sich selbst als ordentlich und hilfsbereit beschreibt. Ihre Schwächen sieht sie im Durchhaltevermögen bzw. beschreibt sie sich als ungeduldig und wenig ausdauernd. Jasmin wurde als das mittlere Kind der Familie in Wien geboren. Ihre ältere Schwester studiert und ihr jüngerer Bruder geht noch zur Schule. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter haben einen Hochschulabschluss, wobei der Vater als Ingenieur und die Mutter als Ärztin arbeitet. Ihre Eltern sind verheiratet und stammen beide aus dem mittleren Osten. Die Familiengeschichte ist durch Vertreibung und Krieg sowie durch den frühen Tod eines Familienmitglieds (der Kernfamilie) geprägt. Jasmin ist muslimischen Glaubens und bezeichnet Religion als wichtigen Teil ihrer Identität. Die Eltern wählten den Kindergarten und die Volksschule aufgrund der positiven Erfahrungen der älteren Schwester aus. Auch die Entscheidung für das Gymnasium wurde von den Eltern aufgrund der Erfahrungen der Schwester getroffen. Die Oberstufe in derselben Schule zu absolvieren war für Jasmin keine bewusste Entscheidung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ihre Lieblingsfächer sind Biologie und Englisch und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe ist 1,0. Jasmin möchte ihr Studium schnellstmöglich abschließen und zukünftig in der Stadt leben. Ihr Ausbildungswunsch ist es Medizin zu studieren, wobei sie sich selbst als belastbar, organisiert, selbstständig und engagiert bezeichnet. Als Schwächen nennt sie ihre Unsicherheit und Schüchternheit. Julia wurde als ältestes Kind der Familie in Wien geboren. Ihre jüngere Schwester und ihr jüngster Bruder gehen beide zur Schule. Beide Eltern verfügen über einen Hochschulabschluss, wobei ihr Vater als Geschäftsführer einer Firma arbeitet und ihre Mutter als Lehrerin tätig ist. Ihre Eltern sind verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist unauffällig. Julia ist katholischen Glaubens, bezeichnet sich selbst allerdings nicht als sehr religiös. Den Kindergarten wählten ihre Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie und auch die Volksschule, die sich im gleichen Haus wie der Kindergarten
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
befindet, wurde von den Eltern ausgesucht. Die Wahl für das Gymnasium wurde wiederum von den Eltern, diesmal aufgrund des guten Rufs der Schule und der Nähe zum Wohnort, getroffen. Die Entscheidung in der Oberstufe in derselben Schule zu bleiben wurde von Julia selbst getroffen, da ein Schulwechsel für sie nicht infrage gekommen wäre. Ihre Lieblingsfächer sind Geschichte und Sport und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,4. Julia könnte sich vorstellen, nach der Schule für eine Zeit ins Ausland zu gehen, um daran anschließend ihr Studium in Österreich zu beginnen. Ihr Ausbildungswunsch ist es zu studieren, wobei sie Biologie priorisiert. Ihre Stärken sieht sie im Umgang mit Menschen, als Schwächen bezeichnet sie demgegenüber ihre ungeduldige Art und dass sie sich manchmal selbst im Weg steht. Martina wurde in der Nähe von Wien geboren und hat einen jüngeren Bruder, der zur Schule geht. Ihre Eltern haben beide einen Hochschulabschluss, wobei ihr Vater eine Firma im Elektronikbereich leitet und ihre Mutter Hochschulprofessorin ist. Ihre Eltern sind verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist unauffällig. Martina ist römisch-katholisch, wobei über ihr Verhältnis zu Kirche und Religion wenig bekannt ist. Den Kindergarten und die Volksschule wählten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie, wobei Martina ein Mitspracherecht bei der Wahl der Volksschule hatte. Auch die Wahl des Gymnasiums war durch die geographische Nähe mitbestimmt und wurde von den Eltern gemeinsam mit Martina getroffen. Die Oberstufe in derselben Schule zu absolvieren, war eine pragmatische Entscheidung, die von Martina selbst getroffen wurde. Ihre Lieblingsfächer sind Geographie, Geschichte und Englisch und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,5. Martina könnte sich vorstellen im Ausland zu studieren. Ihr Ausbildungswunsch ist die Kombination eines Wirtschafts- und Kunststudiums. Ihre Stärke sieht sie in ihrer Zielstrebigkeit, ihre Schwächen in der Übergenauigkeit und Ungeduldigkeit. Mira wurde in Wien geboren und hat eine jüngere Schwester, die noch zur Schule geht. Ihr Vater verfügt über einen Hochschulabschluss und arbeitet selbstständig im Kunst- und Immobiliensektor. Ihre Mutter hat einen Lehrabschluss und arbeitet im Modebereich. Ihre Eltern sind verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist unauffällig. Mira ist katholischen Glaubens und bezeichnet sich selbst als spirituell. Den Kindergarten und die Volksschule suchten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie aus, wobei Mira hierbei kein Mitspracherecht hatte. Die Wahl für das Gymnasium wurde von Mira und ihren Eltern gemeinsam getroffen, wobei auch hier die örtliche Nähe eine zentrale Rolle spielte. Die Entscheidung die Oberstufe in derselben Schule zu absolvieren wurde wiederum in der Familie gemeinsam getroffen. Miras Lieblingsfächer sind Sport, Mathematik und Psychologie und
6.3 Stammdaten und Bildungsbiografie der Schüler*innen
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ihr Notendurchschnitt liegt in der Oberstufe bei 1,8. Besonders wichtig für ihre Zukunft betrachtet sie einen ausgewogenen Lebensstil. Ihr Berufswunsch ist noch unklar, wobei sie sich gut vorstellen könnte im Trainingsbereich, bspw. als Outdoortrainerin oder Personaltrainerin, zu arbeiten. Als persönliche Stärken bezeichnet sie ihre Kommunikations- und Präsentationskompetenzen sowie ihre sozialen Fähigkeiten, als Schwäche hingegen nennt sie ihre Ungeduld. Nora wurde in Wien geboren und hat keine Geschwister. Ihr Vater hat ein Hochschulstudium abgeschlossen und arbeitet als freiberuflicher Künstler. Ihre Mutter hat die Schule mit Matura abgeschlossen und ist als Bankangestellte tätig. Die Eltern sind verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist bis auf den unerwarteten Tod der Großeltern eher unauffällig. Nora ist ohne Bekenntnis und Religion spielt in ihrem Leben keine Rolle. Den Kindergarten wählten die Eltern aufgrund der örtlichen Nähe zum Wohnort der Familie. Für die Volksschule hingegen entschieden sich die Eltern aufgrund des guten Rufs und der schönen Lage der Schule. Auch die Wahl für das Gymnasium wurde von den Eltern aufgrund des guten Rufs einer liberalen Schule mit hohen Niveau getroffen, wobei Nora bei dieser Bildungsentscheidung ein Einspruchsrecht hatte, von dem sie aber nicht Gebrauch machte. Die Oberstufe in derselben Schule zu absolvieren entschied Nora eigenständig, da sie sowohl mit dem sozialen Umfeld als auch ihren Leistungen zufrieden war. Ihre Lieblingsfächer sind Geschichte und Deutsch und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,3. Nach Abschluss der Schule würde sie gerne ein Auslandsjahr absolvieren. Ihr Ausbildungs- und Berufswunsch ist noch ungewiss, wobei sie sich Kunst und/oder Geschichte bzw. Kunstgeschichte gut vorstellen könnte. Als Stärken bezeichnet sie ihre Begabung für Sprachen und ihren Ehrgeiz, als Schwäche sieht sie ihr Zeitmanagement. Paul wurde in Wien als ältester Sohn der Familie geboren. Sein jüngerer Bruder besucht die Schule. Sein Vater verfügt über einen Hochschulabschluss und arbeitet bei den Öffentlichen Verkehrsbetrieben. Seine Mutter hat die Pflichtschule abgeschlossen und arbeitet als Designerin. Die Eltern sind zwar geschieden, leben aber seit zehn Jahren wieder zusammen. Die Familiengeschichte ist durch mehrere, schwere Krankheiten und die Scheidung der Eltern geprägt. Paul ist römisch-katholisch getauft, möchte aber aus der Kirche schnellstmöglich austreten. Den Kindergarten wählten die Eltern aufgrund der Nähe zum Wohnort der Familie. Die Volksschule hingegen wurde aufgrund des guten Rufs von den Eltern ausgewählt. Die Entscheidung für das Gymnasium wurde von den Eltern aufgrund der geographischen Nähe und aufgrund des Bildungsangebotes getroffen. Dasselbe gilt für die Entscheidung, die Oberstufe an derselben Schule abzuschließen, wobei Paul sich hier als Mitentscheidungsträger artikuliert. Seine
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
Lieblingsfächer sind Mathematik und die Naturwissenschaften und sein Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,6. Paul würde gerne schnell mit seinem Studium beginnen und eine eigene Wohnung beziehen. Sein Ausbildungswunsch ist es Maschinenbau zu studieren. Als Stärken bezeichnet er sein allgemeines Interesse und seine Neugierde, als Schwächen sieht er seine Unentschlossenheit und Unsicherheit. Renate wurde in Wien geboren. Sie hat zwei erwachsene Halbbrüder, zu denen allerdings kein Kontakt besteht. Zu ihrem Vater, über den kaum etwas bekannt ist, hat sie ebenso keinen Kontakt. Ihre Mutter hat die Schule mit Matura abgeschlossen und arbeitet in einem Bundesministerium. Die Eltern waren nie verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist unauffällig, wobei die Situation mit dem unbekannten Vater für Mutter und Tochter als belastend erlebt wurde. Renate ist katholischen Glaubens, hat allerdings ein ambivalentes Verhältnis zur Kirche. Kindergarten und Volksschule wurden von der Mutter aufgrund der Nähe zum Wohnort ausgewählt. Auch die Entscheidung für das Gymnasium wurde von der Mutter aufgrund des guten Rufs der Schule getroffen, wobei Renate mit allen Entscheidungen ihrer Mutter zufrieden zu sein scheint. Lediglich die Entscheidung die Oberstufe an derselben Schule zu absolvieren wurde von ihr selbst getroffen. Ihre Lieblingsfächer sind Deutsch, Französisch und Latein und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe ist 1,0. Renate würde gerne in Wien bleiben und ein Studium beginnen. Ihr Ausbildungswunsch ist es zu studieren, wobei sie sich vorstellen könnte Romanistik oder Deutsche Philologie zu inskribieren. Als Stärken sieht sie ihr Sprachentalent und ihre Planungskompetenz, als Schwächen bezeichnet sie ihre Unpünktlichkeit und die Unfähigkeit im Team zu arbeiten. Sarah wurde im mittleren Osten als eines von sechs Kindern geboren. Von ihren vier älteren Brüdern haben drei einen Lehrabschluss bzw. arbeiten bereits und ein Bruder befindet sich noch in Ausbildung. Ihre jüngere Schwester besucht noch die Schule. Ihre Mutter arbeitete in ihrem Heimatland als Krankenschwester, fand aber in Österreich keinen Job. Gleiches gilt für ihren Vater, der im Baugewerbe tätig war. Die Eltern sind verheiratet und kamen vor ca. 10 Jahren nach Österreich. Die Familiengeschichte ist von Kriegserfahrungen, dem Umzug nach Österreich und der schweren Erkrankung der Mutter geprägt. Sarah ist muslimischen Glaubens und bezeichnet sich selbst als religiös. An den Kindergarten und die Volksschulzeit in ihrem Heimatland hat Sarah wenige Erinnerungen, weiß aber, dass ihre Eltern beide Institutionen für sie ausgesucht haben. Die Volksschule in Österreich, die Sarah ab der 3. Klasse besuchte, wurde aufgrund der geographischen Nähe zum Wohnsitz der Familie ausgewählt. Die Entscheidung für das Gymnasium wurde ebenso von den Eltern getroffen, wobei
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Freunde der Familie die Schule empfahlen. Auch die Entscheidung die Oberstufe an derselben Schule abzuschließen wurde von den Eltern getroffen, ohne die Meinung von Sarah zu berücksichtigen. Ihre Lieblingsfächer sind unklar, Englisch gefällt ihr halbwegs gut. Ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 3,3. Zukünftig würde Sarah gerne in Wien bleiben und eine Ausbildung oder ein Studium abschließen. Ihr Ausbildung- und Berufswunsch ist ebenso noch unklar, wobei es eine leichte Tendenz in Richtung sozialer Berufe und sozialwissenschaftlicher Studienrichtungen gibt. Als Stärke sieht sie ihre bisherigen Erfahrungen und ihre Lebensgeschichte, als Schwächen nennt sie ihre fehlende Lern- und Leistungsbereitschaft. Vera wurde in Wien geboren und hat zwei erwachsene Halbgeschwister. Ihr älterer Halbbruder arbeitet im IT-Bereich und ihre ältere Halbschwester ist Lehrerin. Beide Eltern verfügen über einen Hochschulabschluss und arbeiten als Lehrkräfte an Wiener Mittelschulen. Ihre Eltern sind verheiratet und stammen beide aus Österreich. Die Familiengeschichte ist bis auf eine Erkrankung von Vera selbst relativ unauffällig. Den Kindergarten wählten die Eltern aufgrund persönlicher Präferenzen und des angenehmen sozialen Klimas. Auch die Volksschule wurde von den Eltern ausgewählt, wobei die Gründe unbekannt sind. Die Entscheidung für das Gymnasium wurde von den Eltern gemeinsam mit Vera getroffen, wobei Vera sich in dieser Schule am wohlsten fühlte und daher keinen Einspruch gegen die Elternentscheidung einlegte. Die Oberstufe an derselben Schule abzuschließen war hingegen ihre Entscheidung, da sie nicht in eine andere Schule wechseln wollte. Ihre Lieblingsfächer sind Geographie und Englisch und ihr Notendurchschnitt in der Oberstufe liegt bei 1,2. Nach der Schule würde Vera gerne ein Auslandsjahr machen und könnte sich auch vorstellen im Ausland zu studieren. Ihr Berufswunsch liegt im Bereich zwischen Wirtschaft und Kreativität, wobei sie noch unschlüssig ist, welchen Ausbildungsweg sie einschlagen möchte. Als ihre Stärken sieht sie das logische Denken, ihren Ehrgeiz und Teamgeist sowie ihr Selbstbewusstsein, als Schwäche bezeichnet sie hingegen ihre Sturheit.
6.4 Zur Frage der Repräsentativität des Stichprobendesigns und Samplings Es ist unbestritten, dass das Sampling der zwölf am Projekt beteiligten Schüler*innen keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität erheben kann und dass ein begründeter Schluss im Sinne wahrscheinlichkeitstheoretischer Kriterien auf die Grundgesamtheit aller Schüler*innen am Übergang ebenso
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6 Samplingstrategien und Stichprobendesign
wenig Gültigkeit beanspruchen dürfte. Gleichwohl ist der Sozialforschung inhärent, dass man sich immer mit einer begrenzten Anzahl an Fällen begnügen muss und dennoch davon ausgeht, dass die Aussagen eine darüber hinausgehende Geltung beanspruchen, auch wenn die Auswahl der zu untersuchenden Fälle nicht die Struktur der Grundgesamtheit hinsichtlich zentraler Merkmalsausprägungen widerspiegelt. Siegfried Lamnek (2010) weist mit Bezug auf Christel Hopf (1979) darauf hin, dass verallgemeinernde Aussagen, die über den untersuchten Bereich hinausgehen, unabhängig der Anlage der Untersuchung, lediglich theoretisch zu begründen seien (vgl. Lamnek 2010, S. 164). Dementsprechend ist es sehr wohl legitim theoretische Generalisierungen aus einem kleineren Sampling abzuleiten, sofern diese „durch Abstraktion auf das Wesentliche“ (Lamnek 2010, S. 167) gewonnen und im Sinne von Existenzaussagen getroffen werden, ohne aber von Repräsentativität im engeren Sinne zu sprechen. Des Weiteren machen John Cresswell und Viki Plano Clark (2007) zwar darauf aufmerksam, dass die Sampling- bzw. Stichprobengrößen in Mixed-Methods-Studien in der Regel meist insofern variieren, als dass die qualitative Teilstudie mit einer kleineren Anzahl an absichtsvoll ausgewählten Fällen auskommt, als die quantitative (Zufalls-)Stichprobe (vgl. Creswell und Plano Clark 2007, S. 119). Dies betrifft besonders sequenzielle Designformen. Gleichzeitig betonen sie allerdings, dass sich die Vergleichbarkeit der Daten erhöht, wenn im qualitativen und quantitativen Vorgehen dieselbe Stichprobe herangezogen werden kann, vorausgesetzt die zu untersuchenden Fälle sind qualitativ und quantitativ gleich gewichtet und methodisch simultan (concurrent) geschalten (vgl. Creswell und Plano Clark 2007, S. 120 und 122 f.). Grundsätzlich ist das vorliegende Sampling unabhängig seiner Größe im Hinblick auf die Heterogenität der Schüler*innen durchaus zufriedenstellend, auch wenn dies kein Kriterium des Multilevel Mixed-Methods-Samplings ist. Sowohl die schulischen Leistungen, die Interessen und Vorlieben, der sozioökonomische Hintergrund, der Bildungshintergrund als auch die Herkunft der einzelnen Forschungspartner*innen sind durchaus different und gleichzeitig charakteristisch für eine österreichische AHS. Lediglich die Geschlechterverteilung könnte ausgewogener sein; waren in der Pilotstudie noch drei Viertel der teilnehmenden Schüler*innen männlich, so hat sich das Verhältnis im Projekt selbst, zugunsten der weiblichen Teilnehmer*innen ins Gegenteil verkehrt. Allerdings spiegelt dies auch ein wenig die Tendenz der statistischen Verteilung von Schüler*innen in den österreichischen Oberstufen der Allgemeinbildenden Höheren Schulen wider (vgl. hierzu Statistik Austria 2017, S. 45). Zudem muss erwähnt werden, dass sich in beiden, am Projekt teilnehmenden, Schulen weitaus mehr weibliche
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Schüler*innen befinden und dass im Besonderen in diesem Jahrgang (geboren 2000/2001) die weiblichen Schüler*innen zahlenmäßig überwiegen. Die diesbezüglichen Bedenken vor Untersuchungsbeginn gingen allerdings von einer anderen, sich in der Pilotstudie abzeichnenden, geschlechtsspezifischen Problemlage aus. Und zwar zeigte sich dort, wie bereits erwähnt, dass die Explorationsbereitschaft bei den männlichen Schülern größer war und somit unklar blieb, ob ähnliche Fortschritte innerhalb der Datenerhebung mit geringer männlicher Beteiligung realisierbar seien, was sich allerdings als unbegründet herausstellte. Darüber hinaus kann im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung des Geschlechts in der Emotionsforschung festgehalten werden, dass die meisten berichteten Unterschiede in der Wahrnehmung und im Ausdruck von Emotionen zwischen den Geschlechtern entweder ein methodisches Artefakt sind (bspw. recall bias) oder aber dass das stereotype Wissen über Geschlechter diese Unterschiede produziert und verstärkt (vgl. Lozo 2010, S. 52).
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Methoden der Datenerhebung
Wie bereits in den methodologischen Ausführungen deutlich wurde, lässt sich innerhalb des vorliegenden Forschungsdesigns und unter Berücksichtigung des Multilevel Stichprobendesigns samt partizipativer Anlage die Erhebungsphase lediglich konzeptuell von der Auswertungsphase trennen. Im Kontext von EMOTISION erscheint es dennoch sinnvoll die Datenerhebung und die Konzeptualisierung der Workshops, die einen beträchtlichen Anteil am innovativen Potential des methodischen Designs der vorliegenden Studie haben und dementsprechend im Vorfeld der Untersuchung viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nahmen, im Detail vorzustellen. Im Folgenden werden daher 1) die Videographie, 2) die inhaltliche Gestaltung der Workshops sowie 3) die Implementierung und Nutzung der Forschungstagebücher entlang der Workshopphasen im Rahmen der Datenerhebung skizziert.
7.1 Beobachtungssetting und Videoerhebung Der Knotenpunkt der Datenerhebung und gleichzeitig der Grundbaustein von EMOTISION sind fünf konsekutive Workshops, die mit zwei Gruppen von Schüler*innen in einem Beobachtungslabor der Universität Wien im Wintersemester 2017/2018 durchgeführt wurden. Die Workshops hatten eine Dauer von 3,5 bis 4 h und wurden mittels Audio- und Videoaufzeichnungen dokumentiert. Insgesamt entstanden dabei über 38 h Videomaterial (aus fünf Workshops mit je zwei Gruppen von Schüler*innen), das in weiterer Folge entlang der qualitativen und quantitativen Methoden ausgewertet wurde. Das Beobachtungslabor befindet sich am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, verfügt über einen venezianischen Spiegel mit dahinter befindlichem Regieraum und ist von
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_7
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der Größe und Ausstattung vergleichbar mit einem durchschnittlichen Seminarraum an einer Hochschule. Das Interieur wurde für die Workshops so gewählt, dass ein Stoffsofa und fünf bequeme Couchsesseln um einen kleinen Holztisch in der Mitte des Raumes kreisförmig platziert wurden. Somit war sichergestellt, dass auch die räumlichen Rahmenbedingungen für die Schüler*innen eine angenehme und einladende Atmosphäre gewährleisten würden. Zudem unterstreicht das Setting die Differenz zum Schulgebäude und zum herkömmlichen Unterrichtsgeschehen. Von besonderem Interesse für die Wahl des Settings und Interieurs waren zudem die technischen Anforderungen an die Videobeobachtung sowie Positionierungsüberlegungen im Hinblick auf die Kameraausrichtung und die Veränderung der Brennweite (Zoomoptionen). Für die Videoaufnahmen wurde mit einem 4-Kanal-Videonetzwerk gearbeitet: Durch ein multiperspektivisches Setting mit vier synchronisierten, hochauflösenden Kameras sowie zwei sensiblen Richtmikrophonen konnten einzelne Sequenzen im Detail und unter Berücksichtigung gruppendynamischer Prozesse und Interaktionsverläufe beobachtet und dokumentiert werden. Die vier Videospuren wie auch die zwei Audiospuren wurden über einen digitalen Netzwerkknoten (Hub) mit einer Kontrolleinheit (PTC Controller) verbunden und synchronisiert. Dies ermöglichte zum einen die synchrone Aufzeichnung von Audio- und Videospuren und zum anderen die unabhängige und situationsangepasste Steuerung (Schwenk) und Fokussierung (Zoom) der vier Kameras während der Workshopeinheiten. Die fixierten Kameras mit Normal- und Obersicht verfügen über eine 360-Grad-horizontal-Schwenkoption und eine 180-Grad-vertikal-Schwenkoption. Erwähnt sei hier auch, dass die Mechanik der Kameras sowie die Arbeit im Regieraum im Labor selbst kaum hörbar waren. Die Workshops wurden innerhalb des Netzwerks über einen digitalen Recorder aufgezeichnet und zusätzlich via externen Cutter und Videosoftware (MAGIX) mit einem Videolaptop in zwei unterschiedlichen Dateiformaten (MPEG4 und MPEG2) zeitgleich abgespeichert. Dies diente einerseits der Absicherung im Sinne der doppelten Datenspeicherung und andererseits ermöglichten die unterschiedlichen Dateiformate eine bessere Handhabung im Kontext der Analysesoftware Transana, auf die im Rahmen der Datenauswertung noch eingegangen werden wird. Zudem mussten dadurch die Dateiformate im Anschluss nicht mehr gerendert (bzw. umgewandelt) werden. Die Regie wurde für jeden Workshop von je zwei Projektmitarbeiter*innen übernommen, die über die Inhalte und das Erkenntnisinteresse des Projekts im Detail Bescheid wussten, im Vorfeld der Workshops in die Kameraführung eingewiesen worden waren und mehrere Trainingsaufnahmen absolviert hatten. Somit war sichergestellt, dass während der Workshops die sprechenden oder agierenden Personen in Großaufnahme mit entsprechender Brennweiteneinstellung am
7.2 Inhaltliche Gestaltung der Workshops
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Video zu sehen sind, gleichzeitig aber die umgebenden Personen mit mittlerer oder weiter Brennweiteneinstellung ebenso noch gut erkennbar sind. Zudem wurde vereinbart, dass der Workshopleiter immer eine zirkuläre Sprecher*innenabfolge gewährleistet, damit die Regie den Kamerawechsel mit entsprechender Zoom- und Schwenkeinstellung zeitgerecht vorbereiten konnte. Auch wenn das Beobachtungssetting der Videoerhebung in EMOTISION durchaus komplex und ressourcenaufwendig erscheinen mag, ist ein solches Arrangement im Vergleich zu klassischen U nterrichts- bzw. Gruppenvideobeobachtungssettings (wie bspw. das am häufigsten anzutreffende Schüler*innen-Lehrer*innen-Kamera-Setting) in jedem Fall empfehlenswert, insbesondere wenn die Rekonstruktion subjektiver Perspektiven im Kontext des emotionalen Erlebens und Wahrnehmens im Mittelpunkt steht.
7.2 Inhaltliche Gestaltung der Workshops Insgesamt wurden fünf Workshops als Nachmittagseinheiten mit zwei Gruppen von Schüler*innen in einem zeitlichen Abstand von zwei Wochen (exklusive Schulferien) zwischen Oktober 2017 und Februar 2018 unter ähnlich gehaltenen Bedingungen durchgeführt. Für organisatorische Angelegenheiten, Abstimmungsfragen und die Stammdatensammlung wurde vor und nach den fünf Workshops jeweils ein Besprechungstermin in den Schulen vereinbart. Die Termine an der Universität und an den Schulen wurden zwar mit den Direktoren, die auch die Rolle der Projektlehrer übernahmen, abgestimmt, fanden aber ohne deren Beteiligung statt. Das Ziel der Workshops war die professionell angeleitete Sensibilisierung der Schüler*innen im Hinblick auf die Vielschichtigkeit und Wirkmächtigkeit der eigenen Emotionen und ihrer emotionalen Markierungen unter besonderer Berücksichtigung der eigenen Bildungslaufbahn. Durch die stufenweise Sensibilisierung und Konfrontation mit der eigenen Emotionalität, der individuellen emotionalen Verfasstheit und den emotionalen Bewertungen von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen, sollten die Schüler*innen unter professioneller Anleitung und Begleitung dazu befähigt werden, außerhalb von leistungsorientierten Bildungskontexten, einen reflexiven Zugang zur eigenen Bildungsbiografie zu erarbeiten, der ihnen die Möglichkeit eröffnet, prägende Erfahrungen, zentrale Einflussfaktoren und entscheidende, emotionale Qualitäten im Kontext der eigenen Lebens- und Lerngeschichte bewusst zu machen und zu reflektieren. Dieser Anstoß selbstreflexiver Lernprozesse ist im Besonderen in dieser durchaus konfliktbehafteten Entwicklungsphase am Übergang ins
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junge Erwachsenenalter sowie im Hinblick auf den damit einhergehenden, institutionellen Übergang von der Schule in den tertiären Bildungssektor von zentraler Bedeutung. Dementsprechend war ein intendierter Effekt der Workshops die Schüler*innen am Übergang bestmöglich zu unterstützen. Dieser Nutzen für die Forschungspartner*innen entspricht der Grundidee partizipativer Forschung und wurde auch im Vorfeld den Schulen und Schüler*innen kommuniziert, auch wenn dieser Effekt nicht notwendigerweise das Erkenntnisinteresse des Projekts widerspiegelt. Die inhaltliche Gestaltung und Ausrichtung der Workshops wurde, im Rahmen der Pilotstudie gemeinsam mit Expert*innen aus der Erwachsenenbildung, der Bildungs- und Berufsberatung, der psychosozialen Arbeit sowie der Übergangsforschung konzipiert und entsprechend dem Setting sowie den technischen und inhaltlichen Anforderungen des Forschungsdesigns erprobt und adaptiert. Grundsätzlich sind die fünf Workshopeinheiten bzw. Workshopphasen ähnlich strukturiert: Nach einer kurzen Einstiegsphase (bspw. Einstiegsübung oder Wiederholung) zu Beginn der gemeinsamen Arbeit (ca. 10–15 min) werden pro Workshop immer zwei Tools, im Sinne projektiver oder imaginativer Übungen und Verfahren, durchgeführt (ca. eine Dreiviertelstunde bis Stunde pro Übung) und deren Ergebnisse im Anschluss von den Schüler*innen präsentiert und gemeinsam diskutiert. Zwischen den Übungen sind je nach Bedarf ausreichende Pausen vorgesehen (zwischen 5–10 min). Am Ende steht eine halbstrukturierte Gruppenreflexion im Mittelpunkt der Workshops (ca. eine Stunde bis eineinhalb Stunden). Die elektronisch archivierten Tools und Übungen aus den fünf Workshopphasen wurden während der gesamten Projektdauer immer wieder für Interpretationen herangezogen. Auch wenn die Workshops im Stundenplan der Schüler*innen exakt mit 4 Unterrichtsstunden terminiert waren, wurde mit den Schüler*innen im Vorfeld eine flexible zeitliche Handhabung vereinbart. Die fünf Workshopphasen sind im Detail wie folgt aufgebaut: 1. Sensibilisierungsphase (Freies Nachfühlen) In einem ersten Durchlauf sollten die Schüler*innen eine erste Beziehung zu ihrer eigenen Emotionalität herstellen und sich für Emotionen und Gefühle sensibilisieren. Dabei galt es zu Anfang, Emotionen als solche zu erkennen und sie konkret zu benennen sowie darüber Nachzudenken, welchen Stellenwert Emotionen in der eigenen Lebenswirklichkeit einnehmen. Das primäre Ziel des ersten Workshops war es, die Authentizität des intentionalen Gehalts der eigenen Emotionen zu hinterfragen. Hierfür wurde nach einer kurzen, spielerischen Vorstellungsrunde zu Beginn vom Workshopleiter kurz in das Thema eingeführt, um mit den Schüler*innen diskursiv emotionstheoretische Grundlagen zu erarbeiten:
7.2 Inhaltliche Gestaltung der Workshops
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Was sind Emotionen? Welche Emotionen gibt es? Wie nehmen wir Emotionen wahr? Wie drücken wir sie aus? Etc. Darauf folgend kamen die ersten zwei Tools zum Einsatz: – Das „Gefühlsrad“ (the wheel of emotion) ist eine Scheibe aus laminiertem Papier, auf der 141 Emotionswörter in Dreiergruppen kreisförmig um den Mittelpunkt der Scheibe angeordnet sind (bspw. „Unruhig, nervös, gestresst“ oder „Fröhlich, heiter, gutgelaunt“). Je nachdem, wie weit man auf der Scheibe (bspw. mit einem eingefärbten Klebepunkt oder einer Spielfigur) nach außen geht, lässt sich die Stärke bzw. Intensität der Emotionen bzw. der Emotionswörter ausdrücken. Das Gefühlsrad wurde, nachdem es im Detail besprochen wurde, im ersten Workshop dazu verwendet, unterschiedliche emotionale Zustände auszudrücken, wie bspw. den aktuellen emotionalen Zustand am Beginn des Workshops oder aber Emotion bzw. Emotionswörter, die als Charaktereigenschaften bezeichnet werden können. Die Schüler*innen mussten die jeweiligen Emotionen im Anschluss vorstellen und begründen, warum sie diese Emotionswörter in dieser Ausprägung bzw. Intensität gewählt haben. Das Gefühlsrad stand den Schüler*innen bei Bedarf bei allen nachfolgenden Workshops und Übungen als Hilfestellung zur Verfügung. – Die „Physiologie der Emotionen“ ist eine Tabelle aus 20 emotionalen Qualitäten (bspw. Furcht, Scham, Mitgefühl, Liebe etc.) und 23 körperlichen Reaktionen im weitesten Sinne (bspw. Schnelle Atmung, Schwitzen, Erröten, Weinen etc.). Emotionen und Reaktionen sind jeweils auf der X- und Y-Achse so gruppiert, dass man jeder Emotion unterschiedliche Reaktionen durch einen Punkt oder ein Kreuz zuordnen kann. Die Schüler*innen waren aufgefordert die Zuordnung so zu treffen, wie sie aus ihrer Perspektive richtig erscheinen bzw. wie die jeweiligen Emotionen auf sie wirken und welche Reaktionen sie bei sich selbst wahrnehmen. Nachdem die Tabelle erklärt worden war, wurden die Schüler*innen aufgefordert jene in Ruhe auszufüllen. Im Anschluss wurden die Ergebnisse präsentiert und im Vergleich mit den anderen Schüler*innen und deren Reaktionen unter besonderer Berücksichtigung bildungsbiografischer Zusammenhänge kritisch diskutiert. 2. Realisierungsphase (Nachfühlende Strukturierung) (Gegenwart) In der zweiten Einheit standen die individuellen Tages- und Wochenabläufe der Schüler*innen im Mittelpunkt des Workshops. Dabei wurde anhand gruppendynamisch orientierter Übungen, die im Vergleich zum eigenständigen Arbeiten ein stärkeres Interesse sowie größere Authentizität und Begeisterung bei den Schüler*innen gewährleisten, sukzessive die eigene emotionale Involviertheit bzw. die emotionale Bewertung des Alltags erarbeitet. Zuerst standen die individuellen
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Tagesabläufe im Mittelpunkt, um in einem zweiten Schritt die typische Arbeitswoche der Schüler*innen anhand ihrer emotionalen Bewertungen zu strukturieren. Es sollte den Schüler*innen die Möglichkeit geboten werden, tägliche Routinen, Handlungsabläufe und Strukturen bewusst zu reflektieren und diese mit der eigenen Bildungsbiografie kritisch in Verbindung zu bringen. Das primäre Ziel der zweiten Workshopphase war es, die eigenen Ambivalenzen im Hinblick auf alltägliche Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse der Gegenwart bewusst zu machen. Dabei standen, nach einer kurzen Wiederholung und Reflexion der ersten Einheit, die folgenden Tools im Zentrum der gemeinsamen Arbeit: – Der „Flow Scout“ ist eine Bewertungsmatrix zur Selbsteinschätzung. Auf der rechten Seite findet sich eine Spalte, in der alltägliche Routinen, Tätigkeiten und Arbeitsabläufe eingetragen werden können. Im Anschluss findet sich für jede Tätigkeit in Form einer Tabelle eine Skalierung von 0–100. Auf der Rückseite findet sich eine Hilfestellung mit zu befüllenden Tabellen zu bestimmten Themen (bspw. Schule, Freizeit, Sport, Freunde etc.) und den jeweiligen Wochentagen. Die Schüler*innen wurden aufgefordert eine durchschnittliche Arbeitswoche in Gedanken durchzuspielen und alle für sie relevanten Tätigkeiten und Routinen des Alltags zu sammeln. In einem zweiten Schritt mussten die Schüler*innen die Aktivitäten (bspw. Recherchetätigkeit am Computer, Mathematikhausübung, Referatsvorbereitung, Lesen etc.) zuerst von 0–100 hinsichtlich der Frage bewerten, was sie davon besonders gut machen (Kompetenzeinschätzung). Darauf folgte die zweite Bewertung von 0–100, die darauf abzielte zu klären, welche dieser Tätigkeiten sie besonders gerne machen (Werteinschätzung). Alle Einschätzungen die über dem Wert von 80 lagen, wurden in der Gruppe vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Die Gegenüberstellung von Kompetenz und Wertigkeit ist besonders hilfreich, wenn es darum geht, eine kritisch reflexive Distanz zum eigenen Alltag herzustellen und zu klären, welche Tätigkeiten und Routinen als besonders belastend oder aber besonders positiv erlebt werden. Zudem ermöglicht der Flow Scout eine differenzierte Perspektive auf das Hier und Jetzt am Übergang ins junge Erwachsenenalter. Als Überleitung wurde mit den zentralen Aktivitäten der Schüler*innen noch ein Assoziationstest durchgeführt, bei dem sie zu den genannten Routinen spontan einen Emotionsbegriff assoziieren mussten. – „Das Alltägliche Leben“ ist eine nicht-sprachliche, kunsttherapeutischen Arbeitsformen entlehnte Reflexionsübung. Dabei arbeitet man mit einer, auf einem A3-Blatt angeordneten Abfolge von sechs großen Kästchen, wobei sich unter jedem der Kästchen ein kleines Feld, die sogenannte Emotionsspur, befindet. Die Schüler*innen wurden aufgefordert sechs Szenen aus
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ihrem alltäglichen Leben zu zeichnen, die ihres Erachtens repräsentativ für ihren Alltag und emotional aus subjektiver Perspektive besonders bedeutsam sind. Hierzu wurde den Schüler*innen Farbstifte und Zeichenmaterial zur Verfügung gestellt. In den kleinen Feldern unterhalb der Kästchen mussten sie im Anschluss ihr emotionales Erleben durch einen Graphen, ähnlich eines Elektrokardiogramms oder Seismographen, darstellen. Die Zeichnungen bzw. die jeweiligen Szenen (wie bspw. der alltägliche Konflikt mit den Eltern, der Austausch mit dem Freundeskreis etc.) wurden im Anschluss in den Gruppen präsentiert und kritisch diskutiert. Durch den künstlerisch graphischen Ausdruck sollte den Schüler*innen hier auch die Möglichkeit geboten werden, einen zusätzlichen, nicht-sprachlich fundierten Zugang zu ihrem emotionalen Erleben herzustellen sowie eine abstraktere Ausdrucksform für ihre alltäglichen Ambivalenzen zu nutzen. 3. Rekonstruktionsphase (Strukturierende Reflexion) (Vergangenheit) In der dritten Phase ging es um die Rekonstruktion der eigenen Bildungsbiografie bzw. um die Reflexion der bisherigen Schullaufbahn der Schüler*innen. Zuerst wurde der Versuch unternommen, eine reflexive und kritische Distanz zur bisherigen Lebens- und Lerngeschichte sowie zur eigenen Bildungsbiografie herzustellen. In einem zweiten Schritt wurde die persönliche Bildungslaufbahn von den Schüler*innen selbst grob strukturiert, um die einzelnen Bildungsstationen daran anschließend deskriptiv nachzuzeichnen respektive inhaltlich zu befüllen. Darauf folgend wurden die emotionalen Markierungen der einzelnen Abschnitte rekonstruiert und auf ihre Stimmigkeit hin überprüft. Das primäre Ziel der Rekonstruktionsphase war es, neben der Vergegenwärtigung der emotionalen Konnotationen einzelner bildungsbiografischer Erfahrungen, ein differenziertes Verständnis von intrinsischen und extrinsischen Motiven bisheriger Bildungslaufbahnentscheidungen zu entwickeln. Wiederum standen dabei, nach einer Wiederholung der Workshopinhalte aus der Realisierungsphase, zwei Tools im Mittelpunkt: – „Das Alte Selbst“ ist eine Zeichenübung, die auf die kritische Reflexion der eigenen Selbstwahrnehmung abzielt. Dabei wurden die Schüler*innen aufgefordert ein Bild von sich selbst zu zeichnen, das einen Charakter darstellt, den sie im Kontext ihrer Bildungslaufbahn hinter sich gelassen haben. Die Schüler*innen sollten versuchen darzustellen, wer sie früher einmal waren, wie sie ihr altes Ich respektive Selbst graphisch charakterisieren und welche Eigenschaften sie diesem Selbstbild zuschreiben würden. Die zum Teil höchst emotionalen und äußerst selbstkritischen Zeichnungen wurden danach wieder in der Gruppe vorgestellt und gemeinsam diskutiert.
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– Die inhaltlich zentrale und zeitlich weitaus umfangreichere Übung der Rekonstruktionsphase war allerdings das sogenannte „Mental Mentoring“. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, was bisher im Kontext der eigenen Schullaufbahn und Bildungsbiografie am prägendsten wahrgenommen wurde. Hierfür wurden drei bildungsbiografische Phasen unterschieden: Kindergarten und Volksschule, Unterstufe (Sekundarstufe I) sowie Oberstufe (Sekundarstufe II). Die Schüler*innen wurden zuerst gebeten, die einzelnen Etappen und Stationen der Bildungslaufbahn in Zweiergruppen zu diskutieren. In einem zweiten Schritt mussten sie für jede der drei Zeitspannen wichtige und prägende Personen (bspw. Familie, Verwandtschaft, Lehrer*innen, Freunde, Vorbilder etc.), wichtige und prägende Erfahrungen (bspw. Schulfächer, Hausarbeiten, Lernerfahrungen, außerschulische Erfahrungen etc.) sowie wichtige und prägende Erlebnisse (bspw. Lob, Streit, Gespräche, Unfälle, Auslandsaufenthalte etc.) sammeln. Hierzu wurde den Schüler*innen wiederum eine Vorlage zur Verfügung gestellt, die ihnen die Arbeit durch Beispiele und Fragestellungen erleichtern sollte. Nach einer langen Vorbereitungsphase wurde das „Mental Mentoring“ von den Schüler*innen vorgestellt und in der Gruppe besprochen, wobei hier besonders Rückfragen zur emotionalen Bewertung der Erfahrungen, Erlebnisse und Personen im Zentrum standen. Zudem ging es dabei auch um die Frage, wie prägende Erlebnisse oder Personen aus der Vergangenheit das eigene Selbstkonzept, die Einstellung zur Bildung im Allgemeinen sowie aktuelle Motivlagen und Befindlichkeiten beeinflussen. 4. Imaginationsphase (Dekonstruktive Antizipation) (Zukunft) In der vierten Workshopphase wurde den Schüler*innen die Möglichkeit geboten anhand von imaginativen Übungen ein Bild ihrer zukünftigen Bildungsbiografie in einem ersten Schritt zu skizzieren, um daran anschließend die eigenen Erwartungen und Vorstellungen an den (vermeintlich) zukünftigen Beruf oder die (vermeintlich) zukünftige Ausbildung zu erarbeiten. Dabei stand am Anfang die Frage nach den, mit den Vorstellungen des zukünftigen Ichs oder Selbst verbundenen, Emotionen im Mittelpunkt. In einem zweiten Schritt wurde dann der Frage nachgegangen, ob auch eine andere emotionale Befindlichkeit möglich wäre, als die zunächst angenommene und womit diese Differenz zusammenhängen könnte. Das primäre Ziel der Imaginationsphase war eine differenzierte und kritische Reflexion emotionaler Markierungen im Kontext zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen. Dabei sollte auch im Blick behalten werden, ob es in der Vorstellung der Schüler*innen überhaupt die Möglichkeit gibt, dass etwas anders eintrifft als erwartet, bspw. Enttäuschung, Wut, Ärger etc., und was dies für die Betroffenen im Hinblick auf ihre Bildungslaufbahnentscheidungen
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bedeuten würde. Nach einer kurzen Wiederholung der Rekonstruktionsphase wurden hierzu zwei Tools angewandt: – Das „Emotion Selfie“ ist eine, den klassischen Verfahren des Personalmanagements und der Erwachsenenbildung und -beratung, entlehnte Imaginationsübung auf nicht-sprachlicher Ebene. Die Schüler*innen wurden dabei aufgefordert eine detaillierte Zeichnung anzufertigen, die ein möglichst authentisches Bild des zukünftigen Selbst symbolisiert. Leitend war dabei die Frage: „Wo siehst du dich beruflich in 5–8 Jahren bzw. zu deinem 25. Geburtstag?“ Die Zeichnungen wurden im Einzelsetting und ohne vorherige Sensibilisierung angefertigt. Im Anschluss mussten die Schüler*innen ihr Bild vorstellen und erklären, warum sie sich in diesem fiktiven Szenario wiederfinden und wie sie dieses Vorstellungsbild emotional bewerten. Ebenso wurde danach gefragt, warum gerade diese Zukunftsvorstellung für sie am plausibelsten erscheint. Zudem wurden von den Schüler*innen selbst mehrere Rückfragen, bspw. zur emotionalen Konnotation oder zu bestimmten Details der Zeichnung, gestellt. – Die zweite Übung des vierten Workshops nennt sich „Der Flug des Lebens“ und ist eine, den projektiven Verfahren der Kinder- und Jugendpsychotherapie, entlehnte Übung im Kontext der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Schüler*innen mussten dabei für eine ihrer Kolleg*innen ein zukünftiges Szenario eines Traumberufs anhand eines fiktiven Tagebucheintrages skizzieren. Die didaktische Anweisung lautete dabei einen Tagebucheintrag bezugnehmend auf den Traumjob aus Sicht der zugeteilten Kollegin zu verfassen, während man gerade aus dem Fenster eines unlängst gestarteten Flugzeugs blickt und beobachtet, wie die Stadt Wien immer kleiner wird. Dabei sollte beschrieben werden, wo die Reise hingeht, was das Ziel der Reise ist, um welchen Beruf es sich handelt und warum man sich für diese Stelle entschieden hat. Nachdem die Schüler*innen den Eintrag verfasst hatten, wurden sie aufgefordert ihn vorzulesen, ohne aber bekannt zu geben, für wen der fiktive Tagebucheintrag geschrieben wurde. Im Anschluss mussten die Autorin und die betreffende Schüler*in ihre Perspektive (Selbst- und Fremdwahrnehmung) wiedergeben und die Passgenauigkeit diskutieren. Dabei standen nicht nur die eigenen Emotionen, Interessen und Vorstellungen im Mittelpunkt, sondern besonders die Selbstkonzept-fremden Assoziationen und Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte. 5. Kontextualisierungsphase (Finale Selbstreflexion) In der letzten Workshopeinheit, die aufgrund der Weihnachtsferien einen etwas größeren zeitlichen Abstand zu der vorhergehenden aufwies, was aber
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auch bewusst intendiert war, wurden gruppendynamische Prozesse erneut reflektiert, um sowohl die Möglichkeit der Perspektivenübernahme zwischen den Schüler*innen zu gewährleisten, insbesondere wenn es sich um stark emotional konnotierte Vorstellungsbilder handelt, als auch Uneindeutigkeiten im Sinne innerpsychischer Ambivalenzen zuzulassen und zu kommunizieren. Hierzu wurde den Schüler*innen die Möglichkeit geboten, die eigenen Lernprozesse Schritt für Schritt anhand der Rekonstruktion der vorherigen vier Phasen selbst zu erforschen und zu beurteilen. Damit wurde überdies ein versöhnlicher Ausgang im Sinne der Möglichkeit eines metaphorischen und realen Abschiednehmens gewährleistet, der mit einem In-Beziehung-Setzen der eigenen Lernerfahrung einherging und somit auch für zukünftige Herausforderungen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie eine solide Basis darstellen sollte. Das primäre Ziel der Kontextualisierungsphase war somit eine finale Reflexion der Lernprozesse durch die Rekonstruktion der vorherigen Workshopphasen. Nach einer kurzen Wiederholung und einer spielerischen Einstiegsübung zur Frage „Wer bin ich?“, standen wiederum zwei Tools im Zentrum der gemeinsamen Kontextualisierung: – Die zeitlich und inhaltlich priorisierte Übung des letzten Workshops trägt den Namen „Meilensteine der Bildung“. Dabei handelt es sich um eine Vorlage eines Lebenspfades, beginnend mit dem Schuleintritt (symbolisiert durch eine Schultasche), mit sechs Stationen vor der Matura und einer dreigeteilten Station nach der Matura. Jede Station besteht aus einem inhaltlichen Feld und einem Emotionsfeld. Die Schüler*innen wurden aufgefordert ihre Meilensteine der Bildung (bspw. Übergänge, Personen, Fächer, Lehrer*innen, Nachprüfungen etc.) aufzuschreiben und für jede Station eine passende Emotion hinzuzufügen. Ebenso hatten sie die Möglichkeit die bevorstehende Matura durch emotionale Qualitäten zu charakterisieren. Nach der Matura folgten drei (strich-punktierte) Pfade mit Stationen, welche die drei wahrscheinlichsten Berufswünsche bzw. Ausbildungsoptionen darstellten. Die Schüler*innen mussten zuerst die drei möglichen Berufswünsche aufschreiben und durch emotionale Qualitäten charakterisieren und sich im Anschluss für einen der drei Pfade entscheiden. Im Rahmen der Präsentation der Meilensteine wurden die Schüler*innen aufgefordert eine konsistente Geschichte zu erzählen und die emotionalen Bewertungen der Stationen in die Erzählung mit einzubinden. Am Ende konnten die Schüler*innen sich kritische Fragen stellen oder aber Anmerkungen zu den Lebenspfaden der anderen und den bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidungen machen, bevor das letzte Tool des Projekts zur Anwendung kam. – „Facing Faces“ ist eine assoziative Übung, in der die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Schüler*innen kritisch gegenübergestellt wurde. Sie besteht
7.2 Inhaltliche Gestaltung der Workshops
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aus sieben, persönlichen Fragen (bspw. Mit meinem aktuellen Leben bin ich glücklich, weil?), die auf einem Blatt zuerst in subjektiver Perspektive und dann aus der Perspektive der dritten Person formuliert sind. Die Schüler*innen mussten zuerst die Fragen für sich selbst (Selbsteinschätzung) und in einem zweiten Schritt die Fragen für eine Mitschüler*in (Fremdeinschätzung), die ihnen im Vorfeld zugeteilt wurde, beantworten. Im Anschluss wurde zuerst die Fremdwahrnehmung präsentiert und mit der Selbstwahrnehmung verglichen. Dabei stand die Frage nach der emotionalen Bewertung der Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung im Mittelpunkt. Die Schüler*innen hatten hierbei wiederum die Möglichkeit Fragen zu stellen, Anmerkungen zu machen oder aber auch Empfehlungen abzugeben. Am Ende der fünf Workshopphasen bzw. in der letzten Stunde jeder Workshopeinheit stand eine halbstrukturierte Gruppenreflexion im Zentrum der gemeinsamen Arbeit, die sich aus fünf Fragestellungskomplexen zusammensetzte. Der Workshopleiter hatte hierfür eine Vorlage, wobei die ersten drei Komplexe für alle Workshopeinheiten gleich gestaltet waren; lediglich der vierte Komplex wurde für den Inhalt des jeweiligen Workshops leicht adaptiert. Der fünfte Fragestellungskomplex stand im Mittelpunkt der Gruppenreflexion. Der Leitfaden ermöglichte hierbei ein situationselastisches aber systematisches Vorgehen. Die fünf, konsekutiven Fragestellungskomplexe waren dabei wie folgt aufgebaut: 1. Lerneffekte: Was war heute im Workshop neu für euch? Was habt ihr so noch nicht gekannt? Mit welchen Themen habt ihr euch bisher noch nicht auseinandergesetzt? 2. Erleben der Workshops: Wie hat euch der Workshop gefallen? Welche Übungen haben euch gut oder nicht so gut gefallen und warum? 3. Wahrnehmung der Emotionen: Wie habt ihr euch heute im Workshop gefühlt? Welche Emotionen waren heute für euch am stärksten präsent? Welche Emotionen sind nicht vorgekommen? 4. Inhalt der Workshops: Wir haben uns heute mit (…) beschäftigt. Ebenso haben wir uns überlegt und vorgestellt, wie (…). Wenn ihr jetzt nochmals an (…) denkt, welche Emotionen spielen dabei im Allgemeinen eine zentrale Rolle? Seht ihr einen Zusammenhang zwischen (…) und euren eigenen Wünschen und Hoffnungen? Wenn ihr jetzt rückblickend nachdenkt, was ist im Moment dabei besonders wichtig? Wenn ihr an die Inhalte des heutigen Workshops denkt, lassen sich generelle Interessen oder Abneigungen im Hinblick auf eure Bildungsbiografie und/oder berufliche Zukunft beschreiben?
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7 Methoden der Datenerhebung
5. Primäres Erkenntnisinteresse: Welche Situationen, Erfahrungen, Personen oder aber Erinnerungen aus eurem Leben waren für euch heute am wichtigsten? Und warum glaubt ihr, dass diese Erfahrung oder Person so wichtig ist? Welche Emotion oder welches Gefühl verbindet ihr mit dieser Erfahrung oder Person? Und wie ist dieses Gefühl entstanden? Welche Bedeutung hat dieses Gefühl jetzt im Rückblick für euch? Den Abschluss der Gruppenreflexion bildete die Überleitungsfrage „Wie geht es euch jetzt im Moment?“ und der Hinweis, dass wir leider bereits am Ende seien, dass es eine sehr produktive und aufschlussreiche Auseinandersetzung war und dass es jetzt noch die Möglichkeit gäbe, abschließend etwas hinzuzufügen, sofern der Wunsch danach bestehe. Abschließend wurde den Schüler*innen für ihre Offenheit und Wertschätzung gedankt, was das offizielle Ende der Workshops markierte. Neben den erwähnten Tools und Übungen standen den Schüler*innen während aller Workshops folgende Utensilien zur Verfügung: Schreibmaterial, Zeichenmaterial, Notizblöcke, Mappen bzw. Schreibunterlagen, Moderationskarten, das Gefühlsrad, eine Liste mit Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten und eine Liste mit Emotionen. Alle Materialien und Produkte aus den Workshops (bspw. alle Zeichnungen, alle Tabellen, alle Notizen etc.) wurden zeitnah elektronisch archiviert (d. h. eingescannt und chronologisch geordnet), um im Rahmen der Datenauswertung allen am Projekt beteiligten Personen jederzeit zur Verfügung zu stehen.
7.3 Forschungstagebücher entlang der Workshopphasen Die Forschungstagebücher wurden den Schüler*innen über die Projekthomepage als Onlinetool zur Verfügung gestellt. Bei der Vorbesprechung im Wintersemester 2017/2018 erhielten alle Schüler*innen einen Benutzernamen sowie eine Kennzahl, mit der sie über die Projekthomepage zu jedem Zeitpunkt direkt einen Eintrag in ihr Online-Forschungstagebuch schreiben konnten. Zudem wurde in der Vorbesprechung die Funktion der Forschungstagebücher besprochen und die möglichen Anwendungsfelder thematisiert. Das Onlinetool war so gestaltet, dass es auch problemlos über Smartphone oder Tablet genutzt werden konnte. Die Eintragungen wurden nach dem Absenden automatisch in ein Word-Dokument zusammengeführt und nach Namen und Datum geordnet. Die Forschungstagebucheintragungen dienten im Rahmen der Datenerhebung bzw. der einzelnen
7.3 Forschungstagebücher entlang der Workshopphasen
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Workshops dazu, den Schüler*innen die Möglichkeit zu bieten, 1) den Workshop und die Erfahrungen aus dem Workshop zu reflektieren und zu beurteilen, 2) besonders relevante Informationen aus den Workshops erneut zu thematisieren oder hervorzuheben sowie 3) Informationen zu ergänzen bzw. Erfahrungen und Interpretationen nachzureichen, sofern dies notwendig sein sollte. Die Schüler*innen wurden nach jeder Workshopeinheit aufgefordert mindestens einen Tagebucheintrag zu verfassen, in welchem sie nochmals bewusst über die Inhalte des Workshops nachdenken und ihre Gedanken kommunizieren sollten. Die Forschungstagebücher erfüllten somit einen doppelten Zweck: Einerseits sollten die Schüler*innen die Möglichkeit haben zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort spontane Einfälle oder Gedanken, die im Kontext von EMOTISION relevant sein könnten, ohne großen Aufwand niederzuschreiben und direkt weiterzuleiten, ähnlich der Idee einer Memofunktion. Andererseits sollten die Forschungstagebücher auch eine kontinuierliche Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Modul EMOTISION und seinen Inhalten gewährleisten, indem sich die Schüler*innen auch zwischen den Workshopphasen mit ihrem emotionalen Erleben und Wahrnehmen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie beschäftigen sollten. Das Kriterium der Kontinuität und Verfügbarkeit ist sowohl für den partizipativen Forschungsansatz als auch für die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Emotionen und emotionalen Markierungen eine zentrale Voraussetzung und wurde bereits im Kontext der Multilevel Samplingstrategien thematisiert.
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Methoden der Datenauswertung
In diesem Kapitel werden die empirischen Methoden der Datenauswertung innerhalb von EMOTISION vorgestellt. Zuerst wird auf (1) die qualitative Auswertung der Videos eingegangen und das methodische Vorgehen der Inhaltlich Strukturierenden Qualitativen Inhaltsanalyse (ISQIA) im Detail beschrieben. Im Anschluss werden (2) die quantitative Videoanalyse und das spezifische Ratingsystem in EMOTISION skizziert. Abschließend wird (3) die Analysearbeit in den Fokusgruppen in den Blick genommen sowie die Forschungstagebücher der Schüler*innen entlang der Fokusgruppen vorgestellt. Wie bereits im methodologischen Teil der Arbeit ausgeführt, müssen die standardisierte Videoanalyse und die Arbeit in den Fokusgruppen als indikative Vergleichsreferenzen für die Qualitative Inhaltsanalyse verstanden werden. D. h., auch wenn der Fokus der Datenauswertung auf der qualitativen Videoanalyse liegt, ermöglichen die quantitative Analyse und die Arbeit in den Fokusgruppen nicht nur eine Überprüfung und Bestätigung der Ergebnisse aus der Qualitativen Inhaltsanalyse, sondern eröffnen überdies die Möglichkeit die Ergebnisse miteinander zu vergleichen und dabei auf bisher unbekannte bzw. unberücksichtigte Dimensionen hinzuweisen (vgl. hierzu auch purposes of mixing in Abschn. 5.3). Die Auswertung entlang der qualitativen und quantitativen Videoanalyse wurde von Forschungsteams durchgeführt, die sich aus 20 Studierenden der Bildungswissenschaft zusammensetzten, die im Rahmen eines zweisemestrigen Forschungsseminars über ein Jahr am Forschungsprojekt EMOTISION beteiligt waren. Die Aufnahme in das Seminar wurde durch eine Reihe an Voraussetzungen geregelt. Nachdem die zehn Forschungsteams, bestehend aus je zwei Studierenden, ein Semester lang in die Thematik und Methodologie des Projekts im Detail eingeführt worden waren, beschäftigten sie sich im zweiten Semester jeweils mit einer ausgewählten Workshopeinheit, um eine intensive
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_8
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8 Methoden der Datenauswertung
Auseinandersetzung und ein tiefgreifendes Verständnis im Kontext der subjektiven Perspektiven der Schüler*innen zu gewährleisten. Die Arbeit der Forschungsteams wurde fortlaufend von drei Projektmitarbeiter*innen und der Projektleitung evaluiert. Am Ende wurden alle Kodierungen und Ratings vom Kernteam des Forschungsprojekts überprüft und, sofern notwendig, hinsichtlich ihrer Einheitlichkeit und Stringenz unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Gütekriterien adaptiert, wie auf den nachfolgenden Seiten ausgeführt wird. Auch im Kontext der Datenauswertung sei auf das interdependente Verhältnis von Erhebungsmethoden und Auswertungsmethoden sowie auf die Kombination und Integration von Datenquellen und forschungsmethodischen Ansätzen im Kontext des fully integrated mixed designs und des Multilevel Mixed-Methods-Samplings hingewiesen.
8.1 Zum Stellenwert der Qualitativen Inhaltsanalyse in EMOTISION Philipp Mayring (2015) schreibt im Vorwort zur zwölften Auflage seines Methodenstandardwerks, 30 Jahre nach dessen Erstveröffentlichung, dass die Qualitative Inhaltsanalyse eine Zwischenposition im aktuellen, sozialwissenschaftlichen Diskurs einnimmt, in dem eine strikte Gegenüberstellung qualitativer und quantitativer Analysen als unsinnig angesehen wird; vielmehr braucht es die Suche nach Verbindendem und Gemeinsamkeiten um gegenstandsadäquate Forschungsergebnisse zu erzielen (vgl. Mayring 2015, S. 8). Für Mayring ist die Qualitative Inhaltsanalyse kein hybrider Methodenansatz, sondern die Möglichkeit eines gegenstandsangemessenen, qualitativen Vorgehens, das klaren Grundsätzen und Regeln folgt und somit eine solide Basis für die Analyse und Interpretation von manifesten und latenten Sinnstrukturen bietet. Dabei lässt sich der methodische Zugang durch sechs Definitionsmerkmale charakterisieren: Die Qualitative Inhaltsanalyse im Verständnis von Philipp Mayring 1) analysiert Kommunikation (als symbolisches Material), 2) der Gegenstand der Analyse ist dabei fixierte Kommunikation (also Material, das in irgendeiner Form festgehalten wurde), das Vorgehen der Analyse ist 3) systematisch (und nicht impressionistisch), 4) regelgeleitet (und damit intersubjektiv nachvollziehbar) sowie 5) theoriegeleitet (und arbeitet somit entlang einer theoretisch ausgewiesenen Fragestellung) und verfolgt 6) das Ziel, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Interpretation zu ziehen (und kann daher als schlussfolgernde Methode verstanden werden) (vgl. Mayring 2015, S. 12 f.).
8.1 Zum Stellenwert der Qualitativen Inhaltsanalyse in EMOTISION
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Auch wenn sich in der empirischen Sozialforschung und insbesondere in Qualifizierungsarbeiten immer wieder die Formulierung „Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring“ findet, so ist die Qualitative Inhaltsanalyse heute ein Sammelbegriff für eine Vielzahl an methodischen Zugängen, die je nach Gegenstand und Erkenntnisinteresse gänzlich unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Dabei lassen sich zumindest drei Grundformen unterscheiden: (A) die zusammenfassenden Verfahren, die das Ziel haben Material so zu reduzieren, dass nur die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, (B) die explikativen Verfahren, die das Ziel haben zusätzliches Material heranzutragen, um das Verständnis zu einem bestimmten Themenfeld zu erweitern sowie (C) strukturierende Verfahren, die das Ziel haben, bestimmte Aspekte aus dem Material unter Berücksichtigung eines vorab festgelegten Erkenntnisinteresses bzw. vorab festgelegter Ordnungskriterien herauszufiltern (vgl. hierzu Mayring 2015, S. 65–68; Kuckartz 2016, S. 48; Gläser-Zikuda 2013, S. 139). Innerhalb dieser drei Grundformen lassen sich dann, je nach Autor*in und Referenzliteratur, wiederum unterschiedliche Subformen der Qualitativen Inhaltsanalyse unterscheiden (siehe für eine Übersicht zu den Varianten Qualitativer Inhaltsanalyse: Schreier 2014). Von den acht, von Mayring (2015) selbst unterschiedenen Subformen, die auch von Udo Kuckartz (2016) beschrieben werden – 1) Zusammenfassung, 2) Induktive Kategorienbildung, 3) enge und 4) weite Kontextualisierung, 5) formale Strukturierung, 6) inhaltliche Strukturierung, 7) typisierende Strukturierung und 8) skalierende Strukturierung (vgl. Kuckartz 2016, S. 48 sowie Mayring 2015, S. 68) – wird in der vorliegenden Arbeit mit der Inhaltlich Strukturierenden Qualitativen Inhaltsanalyse (ISQIA) unter besonderer Berücksichtigung der Videographie gearbeitet (vgl. hierzu auch Video-based Content Analysis, Huber 2020). Die ISQIA eignet sich besonders für die Analyse große Datenmengen (vgl. Mayring 2015, S. 67), für die Analyse von Gruppendiskussionen oder Interaktionen innerhalb von Gruppen (vgl. Flick 2007, S. 268), für mehrstufige Verfahren der Kategorienbildung und Kodierung (vgl. Kuckartz 2016, S. 97), für Mehrfachkodierungen von Sinneinheiten (vgl. Kuckartz 2016, S. 102) sowie zur Identifizierung und Konzeptualisierung von inhaltlichen Aspekten, die zugleich die Strukturen des Kategoriensystems abbilden und Themen als Kategorien explizieren (vgl. Schreier 2014, S. 4). Darüber hinaus gilt die ISQIA, aufgrund ihrer Komplexität und Trennschärfe im Analyseprozess, als der Kern der Qualitativen Inhaltsanalyse. Diese Aspekte sind allerdings nicht die einzigen Beweggründe für die Wahl der Qualitativen Inhaltsanalyse innerhalb von EMOTISION. Die Qualitative Inhaltsanalyse eignet sich zudem, in Abgrenzung zu anderen qualitativen Verfahren, besonders für die Analyse von subjektiven Sichtweisen
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8 Methoden der Datenauswertung
(vgl. Lamnek 2010, S. 200), für die Analyse von latenten (und manifesten) Sinnstrukturen (vgl. Mayring und Fenzel 2019, S. 633 sowie Mayring 2015, S. 32), für die Analyse alltäglicher Phänomene des Denkens, Fühlens und Handelns in der Lebenswirklichkeit von Menschen (vgl. Mayring 2015, S. 38), für die reflektierte Übernahme der Perspektive des anderen und die Möglichkeit der Re-Interpretation (vgl. Mayring 2015, S. 49), für die Analyse von Videomaterial (vgl. Rädiker und Kuckartz 2019, S. 86), für die Analyse von Emotionen im Videomaterial (vgl. Mayring et al. 2005 sowie Kleinknecht und Poschinski 2014) sowie – und dies wurde besonders in der Pilotstudie deutlich und sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben – für die Analyse der Bedeutung von Emotionen im Kontext bildungswissenschaftlicher Theoriebildung (vgl. hierzu bspw. Gläser-Zikuda 2001; Mayring et al. 2005; Maier 2008; Gläser-Zikuda 2008; Hagenauer 2011; Meyer 2015; Schultz und Wosnitza 2018; Fränken und Wosnitza 2018 etc.). Aus methodologischer Perspektive ist die Qualitative Inhaltsanalyse darüber hinaus für das vorliegende Forschungsdesign besonders geeignet, da sie sich durch ihr regelgeleitetes und systematisches Vorgehen reibungslos in das komplexe Design von EMOTISION einbetten lässt, da sie durch ihre Positionierung im Methodendiskurs besonders für triangulative Zugänge und Mixed-Methods-Ansätze attraktiv erscheint, da sie die Suche nach Verbindendem und Gemeinsamkeiten sowie ihre epistemologische Ausrichtung mit dem dialektischen Pluralismus teilt und da sie in ihrer Genese und in ihren Grundzügen viele Gemeinsamkeiten mit dem theoretischen Hintergrund der vorliegenden Arbeit aufweist.
8.2 Die Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA) Im Folgenden wird das Vorgehen entlang der ISQIA innerhalb des Forschungsprojekts EMOTISION beschrieben. Dabei orientieren sich die Analyseschritte an den Empfehlungen von Udo Kuckartz (2016), der im Gegensatz zu Philipp Mayring (2015) die ISQIA im Detail vorstellt und ein komplexes Vorgehen im Analyseprozess vorschlägt, das für das hier vorliegende Forschungsdesign übernommen und für die Arbeit mit Videodaten adaptiert wurde. Die folgenden Ausführungen verstehen sich somit als eine Erweiterung der ISQIA nach Kuckartz (2016) auf Grundlage der Arbeiten von Philipp Mayring (2015). Eine detaillierte Beschreibung der videobasierten ISQIA, wie sie innerhalb von EMOTISION entwickelt und in weiterer Folge systematisch ausgearbeitet wurde, findet sich auch bei Huber 2020.
8.2 Die Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
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1. Intendierte Textarbeit In der ersten Phase der qualitativen Datenauswertung wurden die Videos in die Analysesoftware Transana eingespielt und synchronisiert. Durch ein Multi-User-Setting war es möglich, dass alle am Forschungsprojekt beteiligten Personen gleichzeitig auf die Datenbank und die unterschiedlichen Videos zugreifen konnten. Um die großen Datenmengen unabhängig von Ort und Zeit permanent verfügbar zu haben, wurde über Transana ein Server in Madison/ Wisconsin für zwei Jahre angemietet. In einem zweiten Schritt wurde für jedes Video eine Transkript- bzw. Textdatei und eine Tonspur erstellt und Video, Audio und Text innerhalb der Software synchronisiert. Die Videos wurden im Anschluss von den Forschungsteams transkribiert. Für die Transkription wurde im Vorfeld ein umfangreicher Leitfaden erstellt, der unter anderem detaillierte Anweisungen für die Transkription von Mimik, Gestik und Verhalten bereitstellte. Während der Transkription hatten die Forschungsteams die Möglichkeit über eine, in Transana implementierte, Memofunktion Anmerkungen, Spontanassoziationen, Auffälligkeiten oder andere zentrale Gedanken und Emotionen zu notieren. Ebenso wurden allen Teams die Tools und Übungen aus den Workshops bzw. die dabei entstandenen Produkte und Materialien in elektronischer Form zur Verfügung gestellt. Die Transkripte wurden im Peer-Review-Verfahren zweimal gegengelesen, mit den Videodaten abgeglichen und Rechtschreibfehler sowie Formfehler ausgebessert. Besonders auffällige Passagen wurden zudem in der Software entsprechend farblich markiert. Am Ende wurde für jeden Workshop eine detaillierte Fallzusammenfassung ausgearbeitet, die neben der Beschreibung der zentralen Inhalte auch offene Fragen und Unklarheiten, bspw. an die Schüler*innen selbst, beinhalteten. 2. Entwicklung von thematischen Hauptkategorien In der ISQIA ist es die Regel, dass die Hauptkategorien deduktiv gewonnen werden, indem sie direkt aus der Hauptforschungsfrage abgeleitet werden (vgl. Kuckartz 2016, S. 101 sowie Mayring 2015, S. 68). Allerdings sollten die Hauptkategorien nicht von vornherein final feststehen, sondern im Prozess der intendierten Textarbeit immer wieder reflektiert und gegebenenfalls adaptiert werden. Im Fall von EMOTISION war es die Zeit zwischen dem letzten Videoworkshop und dem ersten Treffen mit den Fokusgruppen (ca. zweieinhalb Monate), die dafür genutzt wurde die zentralen Kategorien, die gleichzeitig die Subforschungsfragen der vorliegenden Arbeit darstellen, sprachlich und inhaltlich zu konkretisieren. Die Wahl für die vier zentralen Hauptkategorien wurde dabei erst entlang des Datenmaterials final getroffen, indem noch vor dem ersten Kodierprozess ca. 25 % des Videomaterials mit den vier zentralen Kate-
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8 Methoden der Datenauswertung
gorien durchgearbeitet wurden. Dieses Vorgehen orientiert sich zum Teil an der Idee des offenen Kodierens der Grounded Theory (vgl. Kuckartz 2016, S. 101) aber gleichzeitig auch am Prinzip der hermeneutischen Differenz. Die hermeneutischen Zirkel bzw. Spiralen (von Vorverständnis und Textverständnis sowie von Textteilen und Textganzem) verdeutlichen das grundlegende Problem der Idee genuin induktiver oder aber genuin deduktiver Erkenntnisgenerierung. Im Kontext von EMOTISION stellte sich heraus, dass nicht nur die Idee des offenen Kodierens bzw. der uneingeschränkte Blick für alles Relevante und Auffällige, das mehr ist als bloß ein singuläres Thema, hilfreich für die finale Bestimmung der Hauptkategorien ist, sondern dass immer auch Problemfälle, also Aussagen oder Verhalten, welche sich schwer zuordnen und einschätzen lassen, besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Diese eignen sich nicht nur zur Prüfung der Trennschärfe der zentralen Themen bzw. ob es eine begriffliche und/ oder konzeptuelle Veränderung einer Kategorie braucht, sondern verweisen oft auf Aspekte die außerhalb des strukturellen Denkens der inhaltlichen Ordnungskriterien liegen. 3. Erster Kodierprozess des Videomaterials mit den Hauptkategorien Im ersten Kodierprozess wurde das gesamte Videomaterial sequenziell durchgearbeitet und jede sinntragende Videosequenz einer Hauptkategorie zugeordnet. Wichtig ist es an dieser Stelle festzuhalten, dass in EMOTISION nicht Textstellen, sondern Videosequenzen kodiert wurden. In Transana wurden hierfür, wie bereits erwähnt, Text (Transkript), Video (4-Kanal-Videospur) und Audio (dargestellt durch ein Wellenformdiagramm) synchronisiert. Nicht sinntragende Videopassagen blieben unkodiert. Wichtig war es dabei darauf zu achten, dass die Zuordnung von Videopassagen aufgrund der Gesamteinschätzung des Materials getroffen wurde. Daher arbeiteten die Forschungsteams auch immer mit demselben Videomaterial. Durch das Kodieren bzw. durch die Zuordnung einer Videosequenz zu einer Kategorie entstanden in EMOTISION sogenannte Clips. Ein Clip ist eine kodierte Sequenz und beinhaltet neben den jeweiligen Kategorien, einen selbst gewählten Titel und die Beschreibung des zu beobachtenden (nonverbalen) Geschehens. Der Titel musste dabei so gewählt werden, dass er sowohl den zentralen Inhalt des Geschehens als auch die betreffende Kategorie widerspiegelt. Bei der ISQIA können innerhalb einer Passage bzw. in einem Clip mehrere Themen angesprochen sein und folglich können einer Passage auch mehrere Kategorien zugeordnet werden (vgl. Kuckartz 2016, S. 102). In EMOTISION wurde allerdings die Regel festgelegt, dass Doppel- und Mehrfachkodierungen im ersten Kodierdurchlauf mit den Hauptkategorien nur dann legitim sind, wenn sich die Passage nicht in mehrere Sinneinheiten unterteilen
8.2 Die Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
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lässt oder aber so kodiert werden kann, dass zwei kodierte Segmente entstehen. Die kleinste Sinneinheit in EMOTISION umfasst einen Satz, und die größte einen Absatz bzw. acht Zeilen als Orientierungsmaßstab im Transkript, da eine zetliche Taktung aufgrund der unterschiedlichen Sprechgeschwindigkeiten hier nicht zielführend wäre. Bezüglich der maximalen Größe einer Passage galt es grundsätzlich nicht zu große Textfragmente zusammenzufassen, wobei Teile einer kodierten Passage auch in einem anderen Clip kodiert werden konnten. Für die erste Kodierphase wurde ein ausführlicher Leitfaden im Sinne eines schriftlichen Manuals verfasst, der neben Definition, Forschungsfrage, Kodierregeln und Kriterien der Hauptkategorien auch die Trennschärfe bzw. Abgrenzung zwischen den Kategorien, die Möglichkeit der Doppel- und Mehrfachkodierung sowie die Zuordnung der Clips und den Umfang der Kodierung im Detail definierte. Dieses erste Manual wurde in Transana übertragen und diente in weiterer Folge als Vorlage für den elektronischen Kodierleitfaden. Das gesamte Videomaterial wurde dann entlang der vier Hauptkategorien von den Forschungsteams kodiert, wobei immer im Team gearbeitet werden musste. Grundsätzlich ist das Arbeiten in (nicht-wechselnden) Kodierteams empfehlenswert, da die Kodierungen im Laufe des Prozesses immer mehr an Präzision gewinnen und die Zuordnungen zuverlässiger getroffen werden (vgl. hierzu auch Lamnek 2010, S. 145). 4. Zusammenstellung aller mit der gleichen Kategorie kodierten Textstellen (Transana) Die Zusammenstellung passierte innerhalb von EMOTISION durch die Analysesoftware automatisch. Daher soll an dieser Stelle kurz die Software vorgestellt werden: Transana ist eine Software für die wissenschaftliche Transkription, Analyse und Auswertung von qualitativen (Video-)Daten. Sie zählt derzeit zu den differenziertesten Analysetools im Kontext qualitativer Forschungszugänge und ermöglicht die gleichzeitige Bearbeitung von Text, Bild, Audio und Video durch mehrere Forscher*innen gleichzeitig. Dabei lassen sich jegliche Dateiformate problemlos importieren und bearbeiten. So können bspw. in unterschiedlichen Dateiformaten Kategorienbildungen und Kodierungssysteme synchronisiert und abgestimmt werden. Zudem ermöglicht das Programm, neben mehreren automatischen Frequenz- und Häufigkeitsanalysen, die automatische Kodierung von Zusatzkategorien und Vergleichsreferenzen. Transana erlaubt es außerdem, von jeder Teilnehmerin, jeder Fragestellung, jedem Code etc. eigenständig ein Dokument anzufertigen, das alle relevanten Ergebnisse geordnet darstellt. Damit wird die Vergleichbarkeit nicht nur erleichtert, sondern auch qualitativ verbessert, da die Automatismen so programmiert sind, dass sie alle im Projekt relevanten Codes systematisch ordnen. Bildformate können mit Transana in
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8 Methoden der Datenauswertung
Größe und Form beliebig verändert werden, als Ganzes kodiert oder aber auch in Teilen mittels code shaping kategorisiert werden sowie in Dokumente und Transkripte als Teil oder Ganzes problemlos eingearbeitet werden. Neben der ausgezeichneten Transkriptionsunterstützung aller Medienformate ermöglicht Transana im Kontext der Videoanalyse die Synchronisierung inklusive Tagging, Overlapping und sequenzielles Mapping von Transkript, Audiospur und Videokanal. Zusätzlich verfügt Transana auch über mehrere Memofunktionen, Hyperlinkassistenz, mehrdimensionale Analysefunktionen (inklusive Segmentierung, Sequenzialisierung, Kategorisierung und Typisierung), Suchassistenten, Chatfunktionen sowie textbasierte als auch graphikbasierte Berichtfunktionen. 5. Die induktive Bestimmung von Subkategorien und die partizipative Kategorienbildung In EMOTISION war die Bestimmung der Subkategorien eine besonders aufwendige und intensive Phase innerhalb des qualitativen Auswertungsprozesses. Nachdem alle mit denselben Hauptkategorien kodierten Clips in Transana in Sammlungen zugammengestellt worden waren, wurde von jedem Forschungsteam eine Mindmap erstellt, die Subthemen und mögliche Subkategorien beinhalteten. Die Mindmaps wurden im Seminar präsentiert und alle Begriffe, Themen und Kategorien aller Forschungsteams in einer Datei gesammelt. Zudem stellten die Forschungsteams ausgewählte Clips mit Doppel- oder Mehrfachkodierung vor, die im Plenum entlang der bisher genannten Subkategorien diskutiert wurden. In einem zweiten Schritt mussten die Forschungsteams die gesammelten Subthemen entlang der kodierten Clips ordnen und in einer Liste systematisieren, mit dem Ziel relevante Dimensionen zu identifizieren sowie Subkategorien zusammenzufassen. Daraus entstanden zehn Sammlungen von Subkategorien mit ersten Definitionen und Ankerbeispielen. Und an dieser Stelle weicht die induktive Bestimmung der Subthemen vom allgemeinen Vorgehen der Qualitativen Inhaltsanalyse ab: Denn die Sammlungen wurden in einem nächsten Schritt zuerst zusammengefasst, indem sowohl nach Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten als auch nach besonders auffälligen Dimensionen gesucht wurde. Die dabei entstandene Sammlung potentieller Subkategorien war bereits sehr präzise und umfangreich, allerdings brauchten die begrifflichen Abgrenzungen eine weitere Konkretisierung, die sich an der subjektiven Perspektive und Lebenswirklichkeit der Schüler*innen orientieren sollte. Daher wurden zeitgleich in den Fokusgruppen die deduktiven Hauptkategorien samt Subforschungsfragen erörtert und im Anschluss die Subkategorien aus der Sammlung, als mögliche Antworten auf die Subforschungsfragen, gemeinsam mit den Schüler*innen erarbeitet und nach den Vorstellungen und
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Ideen der Schüler*innen sprachlich und inhaltlich angepasst, mit dem Ziel eine optimale Passgenauigkeit zu erzielen. Dabei entstanden zum Teil neue Subkategorien, da den Schüler*innen bspw. an manchen Stellen eine Abgrenzung subjektiv bedeutsam erschien; zum Teil wurden aber auch Subthemen zusammengefasst, da sie in der Wahrnehmung der Schüler*innen bspw. mit einem ähnlichen Vorstellungsbild oder einer ähnlichen Funktion einhergingen. Diese „partizipative Kategorienbildung“ stellt eine Neuheit im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschungsbemühungen dar und unterstreicht das innovative Potential des Forschungsdesigns von EMOTISION (vgl. hierzu Huber und Muller 2019, S. 199 f.). Die umfangreichen Adaptionen aus den Fokusgruppen wurden dann nochmals mit den Forschungsteams durchbesprochen. Im Anschluss wurde von jedem Forschungsteam anhand der problematischen Clips aus der ersten Kodierung überprüft, ob sich im Material Passagen finden, die keiner der potentiellen Subkategorien zugeordnet werden können, da in EMOTISION auf die Subkategorie „Sonstiges“ aufgrund der kleinen Anzahl an Hauptkategorien und der Trennschärfe zwischen ihnen bewusst verzichtet wurde. 6. Zweiter Kodierprozess des Materials mit dem ausdifferenzierten Kategoriensystem Nachdem die Haupt- und Subkategorien in Transana übertragen worden waren, erfolgte der zweite Kodierdurchlauf des gesamten Materials. Die erste Phase stellte eine zweiwöchige Intensivkodierung dar, mit dem Ziel mögliche Probleme oder Unsicherheiten zu identifizieren sowie einen soliden elektronischen Kodierleitfaden mit sehr präzisen Ankerbeispielen in Transana zu erarbeiten. (Der elektronische Kodierleitfaden bietet im Unterschied zu einer schriftlichen Vorlage die Möglichkeit, alle Informationen einer Subkategorie, wie bspw. Definition, Kodierregel, Ankerbeispiel etc., bei Bedarf über die Software zu visualisieren, was im Rahmen von Videodaten eine große Unterstützung darstellt, allerdings in der Erstellung sehr zeitintensiv ist.) Die Forschungsteams sollten innerhalb der zwei Wochen so viel Material wie möglich kodieren, wobei in mehreren Sitzungen die Kodierungen überprüft und problematische Passagen mit allen am Projekt beteiligten Forschungspartner*innen diskutiert wurden. Es mussten zwar keine Kategorien ausdifferenziert oder aber zusammengefasst werden, allerdings wurden neue Regeln für die Doppel- und Mehrfachkodierungen erarbeitet: Doppel- oder Mehrfachkodierungen innerhalb einer Hauptkategorie waren nicht zulässig. Wurden einem Clip mehrere Codes zugeordnet, mussten diese Mehrfachkodierungen hierarchisiert werden, indem jene Kategorie in Transana als erste ausgewählt wurde, welche a) für den Clip am geeignetsten und b) aus der Perspektive der Schüler*in am bedeutendsten erschien. Auch hier musste die
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8 Methoden der Datenauswertung
Gesamteinschätzung des Workshops, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Ressourcen, wie bspw. der Materialien und Produkte aus den Übungen oder der Memos aus der Transkription etc., berücksichtigt werden. Entgegen methodischer Empfehlungen wurde in EMOTISION darauf folgend das gesamte Videomaterial (und nicht nur Teilaspekte) mit dem ausdifferenzierten Kategoriensystem erneut kodiert. In den folgenden sechs Wochen wurde jeder Workshop bzw. jedes Video wie folgt kodiert: 1) Sinntragende Passagen wurden in Transana als Clip markiert, 2) der Clip wurde dann kodiert, indem Kategorien und Subkategorien den sinntragenden Passagen zugeordnet wurden, 3) sofern notwendig und nicht im Transkript berücksichtigt, konnte zudem das zu beobachtende Verhalten bzw. die nonverbale Kommunikation innerhalb der Clip-Datei beschrieben werden und 4) dem Clip wurde ein differenzierter Name gegeben, der sowohl den Inhalt als auch die Kategorien widerspiegeln sollte. Während der sechs Wochen gab es regelmäßige Treffen der Forschungsteams, bei denen Probleme, Schwierigkeiten und offene Fragen besprochen wurden. Die Forschungsteams wurden zudem vom Kernteam des Projekts supervidiert und erhielten innerhalb der zweiten Kodierphase mehrmals schriftliche Rückmeldungen zur Qualität ihrer Arbeit (betreffend Präzision, Zuordnung, sprachliche Differenziertheit etc.) sowie zum Umfang bzw. zur Sättigung der Gesamtkodierung im Hinblick auf sinntragende und analytisch relevante Passagen. 7. Finale Überprüfung von Kodierung und Intercoder-Übereinstimmung In einer abschließenden vierwöchigen Überarbeitungsphase wurden alle erstellten Clips vom Kernteam des Forschungsprojekts unter besonderer Berücksichtigung der Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung (vgl. nachstehend a-g) erneut überprüft und gegebenenfalls adaptiert und normiert: Zum einen wurden die Clipnamen in Länge, Abstraktionsniveau, inhaltlicher Konsistenz und sprachlichem Ausdruck vereinheitlicht. Ebenso wurde die fehlerfreie Zuordnung der Kategorien sowie die Nachvollziehbarkeit der Hierarchisierung der Doppel- und Mehrfachkodierungen überprüft. Dies sollte im Besonderen Flüchtigkeitsfehlern der Forschungsteams in der Arbeit mit der Analysesoftware entgegenwirken. In Ausnahmefällen wurden zu umfangreiche Videoclips in mehrere sinntragende Passagen unterteilt und erneut kodiert; demgegenüber galt es bei vereinzelten Clips, die für sich alleine nicht ausreichend verständlich waren, sie in ihrer Länge zu erweitern, indem bspw. Workshopleiterfrage oder nachfolgende Kommentare von MitSchüler*innen mitkodiert wurden. Dieses Vorgehen der finalen Prüfung entspricht der qualitativen Sicherstellung der Übereinstimmung von Kodierungen im Sinne
8.2 Die Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
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der Idee des „konsensuellen Kodierens“ (vgl. Hopf und Schmidt 1993, S. 61 f.; sowie Liebendörder 2017, S. 174 f.). Beim konsensuellen Kodieren bzw. beim subjective assessment (vgl. Guest et al. 2012, S. 91) wird das Material von zwei oder mehreren Personen kodiert und anschließend die Kodierungen miteinander verglichen. In EMOTISION wurde (a) das konsensuelle Kodieren als Reliabilitätsprüfung, wie ursprünglich angedacht (vgl. Hopf und Schmidt 1993, S. 63), in zweifacher Weise berücksichtigt: Einerseits im Kontext des zweiten Kodierdurchlaufs durch die Forschungsteams (je zwei Personen) und andererseits im Rahmen der finalen Überprüfung durch das Kernteam (vier Personen). Da die Kodiereinheiten im gesamten Forschungsprozess frei wählbar waren bzw. die freie Segmentierung und die offene Kodierung (Themencodes) ein zentrales Element des gesamten Kodierprozesses innerhalb der videobasierten ISQIA darstellten und zudem der zweite, konsensuelle Kodierdurchlauf als auch die finale Überprüfung mit dem gesamten Material durchgeführt wurde, wäre die Berechnung eines quantitativen Koeffizienten, wie bspw. dem Krippendorf Alpha oder dem Cohens Kappa, im Sinne der IntercoderReliabilität wenig sinnvoll (vgl. hierzu auch Kuckartz 2016, S. 216 f.): Zum einen ließe sich keine Differenz in der Gegenüberstellung der Kodierer festmachen bzw. kein relativer Anteil der übereinstimmenden Kodierungen berechnen. Gleichzeitig wäre es wenig ertragreich, bei frei wählbaren Kodiereinheiten mit offenem Kodierverlauf von einer relativen Wahrscheinlichkeit auf zufällige Übereinstimmungen der Kodierungen auszugehen. Hinzu kommt, dass durch die Option der Doppel- und Mehrfachkodierungen außerhalb derselben Kategorie mit der Notwendigkeit der Hierarchisierung der jeweiligen Subkategorien die Randhäufigkeiten beim Vergleich der Übereinstimmungen nur bedingt abbildbar wären. Und, wie bereits erwähnt, werden quantifizierende Koeffizienten der Zuordnungsübereinstimmung nicht berechnet, wenn das gesamte Material konsensuell kodiert wurde, was allerdings in der Regel bei qualitativen Videostudien selten der Fall ist. Unabhängig davon, wurden neben der qualitativen Reliabilitätsprüfung alle für die qualitative Inhaltsanalyse empfohlenen externen Gütekriterien mehrfach berücksichtigt: hierzu zählen a) die externe Validierung durch Expert*innen außerhalb des Forschungsprojekts, b) die kommunikative Validierung durch die Diskussion mit allen Forschungspartner*innen, c) die intensive Auseinandersetzung mit dem Feld durch den partizipativen Forschungsansatz sowie d) der Anspruch auf Triangulation durch das Mixed-Methods-Forschungsdesign. Ebenso wurde der Forderung nach Objektivität respektive intersubjektiver Nachvollziehbarkeit durch e) die detaillierte Dokumentation des gesamten Forschungsprozesses, f) durch die Interpretation in und mit Gruppen sowie g) durch die regelgeleitete
202
8 Methoden der Datenauswertung
Anwendung kodifizierter Verfahren Rechnung getragen. Nach Abschluss dieser letzten, intensiven Überarbeitungsphase wurden die Zusammenstellungen des gesamten Materials in Form von umfangreichen Endberichten archiviert, die neben Clipnamen, Dateinamen, Schüler*innennamen, Kategorien und Subkategorien, Episode (Workshop), Zeit und Gesamtlänge auch die transkribierten Textstellen beinhalten. Methodologischer Nachtrag zu den Strukturierungsdimensionen der Inhaltsanalyse Zentral für viele Auswertungsmethoden ist die Frage nach der Strukturierung des Materials durch spezifische Dimensionen. In der Regel unterscheidet man Fälle (meist Personen) und Kategorien (Haupt- und Subthemen). Im Fall von EMOTISION waren die Strukturierungsdimensionen zu Beginn allerdings weniger eindeutig bzw. ließen sich innerhalb des Projekts mehrdimensionale Analyseebenen unterscheiden: Neben dem Kategoriensystem, das in Transana die zentrale Dimension darstellte und in Form von sogenannten Keywords repräsentiert wurde, wurden die Schüler*innen als zwölf Fälle in eigenen Sammlungen, sogenannten Collections, angelegt. Zudem wurden aber auch noch zwei weitere Dimensionen im Kodierungsprozess berücksichtigt: die Workshops bzw. die zehn Videoaufnahmen wurden als weitere Strukturierungsdimension in Form von zehn Clustern, bestehend aus Video, Audio, Transkript und Memos angelegt und die zwei Schüler*innengruppen wurden in Form von zwei konzeptuellen Datenbanken abermals als eigene Strukturierungsebene in Transana berücksichtigt. Somit war es möglich im Rahmen der kategorienbasierten Auswertung unterschiedliche Dimensionen zu berücksichtigen bzw. komplexe Zusammenhänge zwischen den Dimensionen durch automatisierte Fallberichte problemlos miteinander zu verschränken. Die Implementierung der Strukturierungsdimensionen hingegen war äußerst aufwendig und wurde nur durch eine, eigens für EMOTISION programmierte, Adaption der Software ermöglicht. An dieser Stelle sei auch die hervorragende Zusammenarbeit mit David K. Woods, dem Entwickler der Software, erwähnt. Abschließend muss erwähnt werden, dass ein solches Mehrebenemodell mit unterschiedlichen Strukturierungsdimensionen im Rahmen von Videoanalysen eine hervorragende Möglichkeit der mehrdimensionalen Ergebnisdarstellung ermöglicht (siehe hierzu die unterschiedlichen Varianten der Ergebnisdarstelung innerhalb der videobasierten ISQIA bei Huber 2020).
8.3 Die standardisierte quantitative Videoanalyse
203
8.3 Die standardisierte quantitative Videoanalyse Noch bevor die videobasierte ISQIA durchgeführt wurde, wurden alle Videos von den Forschungsteams, nachdem sie transkribiert und die Transkripte überarbeitet worden waren, sequenziell geratet. Das Vorgehen der Ratings orientierte sich an bereits bestehenden Studien im Kontext der standardisierten quantitativen Videoanalyse (vgl. hierzu Seidel et al. 2005 sowie Koch und Zumbach 2002) und nutze dementsprechend ein differenziertes Beobachtungsverfahren mit sequenzieller Taktung (vgl. Prenzel et al. 2002, S. 146). Alle Workshops wurden mithilfe einer Ratingvorlage sequenziell im Minutentakt entlang von zwei Emotionsdimensionen bewertet. Und zwar wurden die Aussagen und das Verhalten der Schüler*innen unter Berücksichtigung der Kontroll-Werte-Theorie von Reinhard Pekrun (2006, 2018) von den Ratingteams hinsichtlich der emotionalen Valenz (Wertigkeit) und hinsichtlich des emotionalen Arousals (Aktivierungspotential) beurteilt. Die Grundidee der Kontroll-Werte-Theorie, die mehrere Teilmodelle umfasst und sowohl die Wirkung von Emotionen auf Lernen und Leistung als auch die Rückwirkung von Leistungsresultaten auf nachfolgende Emotionen thematisiert, geht von einer zweidimensionalen Konzeption von Emotionen aus, die sowohl den subjektiven Wert (Valenz: positiv versus negativ bzw. angenehm versus unangenehm), als auch die Aktivierungsdimension (Arousal: aktivierend versus deaktivierend bzw. fördernd versus hemmend) berücksichtigt (vgl. Pekrun 2018, S. 216). An dieser Stelle sei auch Reinhard Pekrun für seine Unterstützung und das Bereitstellen des gesamten Achievement Emotions Questionnaries (AEQ) gedankt, der mitunter für die Skalierung der Ratings herangezogen wurde. Mithilfe eines umfangreichen Ratingmanuals wurden die Forschungsteams in die Ratingprozesse eingeführt. Gegenstand des Ratings waren nicht die Transkripte oder die visualisierten Tonspuren, sondern die Videoaufnahmen, d. h. das Erkenntnisinteresse fokussiert hier auf die subjektive Wahrnehmung des Videomaterials durch die unabhängigen Beobachter*innen. Dabei war die folgende Frage im Ratingprozess leitend: Welche Erfahrungen und Erlebnisse werden von den Schüler*innen besonders stark bzw. intensiv emotional erzählt und an welchen Stellen in den Erzählungen der Schüler*innen sind die emotionalen Markierungen am stärksten? Dementsprechend geht es darum, jene Passagen zu identifizieren, in denen die emotionale Valenz und das emotionale Arousal (in Größe und Stärke) am deutlichsten sind. Auf der Ratingvorlage fanden sich die Ratingeinheiten zeitlich sequenziell im Minutentakt angeordnet. Dies ermöglichte eine kontinuierliche Beurteilung durch die Rater*innen. Die Zeiteinheiten dienten im Ratingprozess nur als Orientierung,
204
8 Methoden der Datenauswertung
ermöglichen aber die Vergleichbarkeit der Zahlenwerte in der Ergebnisdarstellung sowie die Berechnung der Interrater-Reliabilität. Im Zentrum des Ratings bzw. der Einschätzung des V-A-Wertes standen hingegen die jeweiligen Aussagen der Schüler*innen. D. h. die Bewertung bzw. das Rating zielte nicht auf die emotionale Stimmung im Workshop ab, sondern auf die emotionale Färbung der Aussagen und des Verhaltens der Schüler*innen bzw. auf den emotionalen Gehalt der Erzählungen und im Besonderen auf die Intensität der emotionalen Markierungen. Daher bot die Vorlage auch die Möglichkeit jeder Taktung eine Notiz hinzuzufügen, die zumindest den Namen der sprechenden oder agierenden Personen beinhalten musste. Im Manual wurden zudem Valenz und Arousal sowie klare Kriterien und Richtlinien für den Ratingvorgang vorab definiert. Zwei Aspekte sollen an dieser Stelle Erwähnung finden: Zum einen wurde festgelegt, dass ein hoher Valenzwert mit einem hohen Arousalwert, unabhängig der Polarität, einhergehen muss, wie auch niedrige Werte sich gegenseitig bedingen sollten. Zum anderen wurde den Ratingteams empfohlen sich in beiden Ratingdurchgängen auf die hohen V-A-Werte zu konzentrieren, diese zu überprüfen und sie gegebenenfalls kurz zu begründen. Skaliert wurden die V-A-Werte von −10 bis +10, wobei im Manual eine genaue Beschreibung für den Umgang mit den jeweiligen Werten zu finden war. Somit wurde jeder Videominute ein Valenzwert von −10 bis +10 sowie eine Arousalwert von −10 bis +10 zugewiesen, wobei sich die Zuordnung, wie bereits erwähnt, nicht auf die zeitliche Dimensionierung, sondern auf den Inhalt der Videopassage beziehen sollte. Das Signifikanzniveau wurde unter Berücksichtigung der Gesamteinschätzung aller Ratings ab einem Wert von 2x ≥ ± 6 festgelegt; d. h. all jene Werte, die über ± 5/6 oder ± 6/5 lagen, wurden als signifikant eingeschätzt und dementsprechend berücksichtigt. Alle Werte unter ± 5 wurden hingegen in der Auswertung vernachlässigt (siehe Abb. 8.1). Als maximale Abweichung für den Interrater-Wert wurde eine Streuung von ± 2 festgelegt. D. h. waren die Rater*innen im individuellen Rating weiter als 2 Werteinheiten voneinander entfernt, durfte kein Mittelwert berechnet werden, sondern die Sequenz musste im Plenum erneut gesichtet werden, was allerdings lediglich beim Rating einiger Pausen innerhalb der Workshops vorkam. Zu Beginn wurde mit allen Forschungsteams gemeinsam eine Zufallssequenz gerated und die Ergebnisse miteinander verglichen. Nachdem die Abweichungen zwischen den Rater*innen diskutiert worden waren und die Übereinstimmungen zwischen ihnen immer größer wurden, wurden zwei weitere Zufallssequenzen ausgewählt und zu Übungszwecken gemeinsam beurteilt. Im Anschluss wurde jedes Video anhand einer Vorlage von jedem Rater/jeder Raterin individuell gesichtet und sequenziell nach V-A-Werten geratet. In einem zweiten Durchlauf mussten die Rater*innen das Video gemeinsam ansehen, erneut das gesamt
8.3 Die standardisierte quantitative Videoanalyse
205
Abb. 8.1 Valenz und Arousal im Ratingprozess. (Quelle: Eigene Darstellung)
Videomaterial sequenziell bewerten und sich auf einen V-A-Wert für jede Rating-Einheit einigen. Der konsensuelle Interrater-Wert musste in gegen seitigem Einverständnis bestimmt werden; war dies an bestimmten Stellen, trotz Zuhilfenahme weiterer Ressourcen, im Besonderen der Materialen und Produkte aus den Workshops, nicht möglich, wurde der Mittelwert aus den Individualratings errechnet, sofern, wie bereits erwähnt, die Abweichung nicht größer als ± 2 war. Ergebnis des Rating-Prozesses waren drei Rating-Skalen, zwei individuelle Skalen und eine Interrater-Skala pro Workshop. Die Interrater-Skalen wurden abschließend vom Kernteam des Projekts erneut überprüft, wobei besonders die Zuordnung der Zahlenwerte im Fokus stand. Alle signifikanten Werte aus den Interrater-Skalen bzw. jene Passagen, denen ein signifikanter V-A-Wert zugeschrieben wurde, wurden in weiterer Folge in Transana übertragen. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen von Markus Wirtz und Franz Caspar (2002) wurde das Cohens Kappa innerhalb des Ratingprozesses mehrfach berechnet (vgl. Wirtz und Kaspar 2002, S. 239). Zum einen wurden alle
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8 Methoden der Datenauswertung
Individualratings der Ratingteams gegenübergestellt und zum anderen wurde eine Interrater-Reliabilitäts-Zufallssequenz bestehend aus 3 × 5 min aus drei unterschiedlichen Workshops nach Abschluss des Ratingprozesses durchgeführt. Wenig überraschend ergab sich eine mittelmäßige bzw. moderate Interrater-Reliabilität in der Zufallssequenz (κ = 0,61), jedoch ein durchaus signifikanter Wert in der Gegenüberstellung der Individualratings (κ = 0,87) (vgl. hierzu auch Huber und Maricic 2020 sowie die Ergebnisse in Abschn. 8.10). Dies war deshalb zu erwarten, da der Ratingprozess eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Material voraussetzt und nicht alle Rater*innen alle Workshops und – weitaus bedeutsamer – nicht alle beteiligten Schüler*innen im Vorfeld des Ratings ausreichend gut kennenlernen konnten. Dennoch ist die InterraterReliabilität der Individualratings, orientiert am durchschnittlichen Level der Übereinstimmung (vgl. McHugh 2012, S. 279), mit einem Cohens Kappa von 0,87 durchaus zufriedenstellend, insbesondere da der konsensuelle Interrater-Wert in den Berechnungen des Cohens Kappa nicht berücksichtigt wurde. Im nachfolgenden Kapitel wird abschließend die Auswertung und Analysearbeit in den Fokusgruppen vorgestellt.
8.4 Die Fokusgruppen und Forschungstagebücher entlang der Fokusgruppen Partizipativen Forschungsbemühungen liegen generell zwei zentrale Annahmen zugrunde. Einerseits wird der Differenz zwischen der akademischen Weltsicht und der Weltsicht der Forschungspartner*innen ein hohes Potential für den Erkenntnisgewinn zugestanden (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 3) und andererseits soll die Teilhabe am Forschungsprozess mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (vgl. von Unger 2014, S. 1). Diese doppelte Zielsetzung partizipativer Forschung geht mit der leitenden Idee des gemeinsamen Erklärens, Verstehens, Interpretierens und gleichberechtigten Entscheidens einher. Um die Schüler*innen im Sinne des partizipativen Anspruchs des Forschungsprojekts auch zentral in die Datenauswertung miteinzubeziehen, wurde als weiterer methodischer Zugang die Arbeit in Fokusgruppen gewählt. Die Fokusgruppen mit den an EMOTISION beteiligten Schüler*innen fanden im zweiwöchigen Abstand (4-stündig) im Sommersemester 2018 an den Schulen selbst statt und hatten als primäres Ziel die gemeinsame Interpretation und Auswertung der Videodaten aus dem Wintersemester. Der Workshopleiter übernahm dabei auch die Leitung der Fokusgruppen, wobei zusätzlich jeweils
8.4 Die Fokusgruppen und Forschungstagebücher entlang …
207
eine P rojektmitarbeiter*in aus dem Projekt anwesend war, um ein detailliertes Beobachtungsprotokoll für jede Fokusgruppeneinheit zu verfassen. In den Fokusgruppen standen neben der Vermittlung des leitenden Erkenntnisinteresses und dem Vorgehen der methodischen Zugänge in erster Linie die Videosequenzen aus dem Wintersemester und die Ergebnisse aus den qualitativen und quantitativen Analyseprozessen im Zentrum der gemeinsamen Arbeit. Hierzu wurden 1) für jede Schüler*in pro Fokusgruppeneinheit zwei Videosequenzen vorbereitet, die entweder eine problematische bzw. schwer einzuordnende oder aber eine besonders bedeutsame bzw. stark emotional konnotierte Passage aus den Workshops zeigten. Die Sequenzen wurden gemeinsam gesichtet und im Anschluss von den Schüler*innen interpretiert. Ebenso wurden 2) ausgewählte Sequenzen mit hohen V-A-Werten mit den Schüler*innen gemeinsam durchbesprochen, wobei hier von den Schüler*innen besonders die Valenzperspektive in den Blick genommen wurde. Eine Fokusgruppeneinheit wurde dazu genutzt, 3) die deduktiv gewonnenen Hauptkategorien zu erörtern, um im Anschluss die induktiv gewonnenen Subkategorien zu diskutieren und sie sprachlich und inhaltlich nach den Vorstellungen der Schüler*innen zu gestalten. In den letzten zwei Fokusgruppen wurden zudem 4) im Sinne der kommunikativen Validierung Doppel- und Mehrfachkodierungen sowie spezifische Teilergebnisse mit den Schüler*innen gemeinsam analysiert. In jeder Fokusgruppeneinheit wurde darüber hinaus 5) ausreichend Zeit für die kritische Prüfung der Authentizität der einzelnen Aussagen und Behauptungen aus den jeweiligen Workshops im Kontext bildungsbiografischer Zusammenhänge bereitgestellt. Dabei wurden die Schüler*innen vom Fokusgruppenleiter konkret gefragt, ob sie diese oder jene Behauptung erneut aufstellen oder aber aus gegenwärtiger Sicht möglicherweise anders beurteilen würden. Spätestens an dieser Stelle muss erwähnt werden, dass ein großer Vorteil der partizipativen Arbeit mit homogenen Gruppen, wie bspw. mit Schüler*innen aus einer Schule aus einem Jahrgang, darin besteht, dass, sofern ein Klima des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung gewährleistet ist, besondere Synergieeffekte entstehen (vgl. hierzu auch Huber und Muller 2019, S. 201–205): So hat sich in den Fokusgruppen deutlich herauskristallisiert, dass sich das authentische Interesse der Forscher*innen an der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen, das sich bspw. im aufmerksamen Zuhören oder detaillierten Nachfragen ausgedrückt hat, positiv auf die Vertrautheit, Geborgenheit und Offenheit aller im Projekt beteiligten Personen ausgewirkt hat. Ebenfalls wurde deutlich, dass durch den wertschätzenden Umgang die Schüler*innen selbst im Verlauf des Projekts sensibler für die Lebenswirklichkeit ihrer Mitschüler*innen wurden und gleichzeitig das Explorationsniveau aufgrund dieser neuen Vertrautheit anstieg.
208
8 Methoden der Datenauswertung
Für die Arbeit in den Fokusgruppen allerdings eröffnete diese positive Atmosphäre auch die Möglichkeit besonders kritisch gegenüber den Ausführungen anderer Schüler*innen zu sein. Somit war die Gefahr sozial erwünschten Verhaltens oder ausweichender Antworten gruppendynamisch minimiert, was die Qualität der Arbeit in den Fokusgruppen abermals unterstreicht. Eine besondere Stellung innerhalb der Fokusgruppen nehmen die Forschungstagebücher der Schüler*innen ein. Stand während der Workshops noch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungslaufbahn und mit den zentralen Inhalten der einzelnen Phasen im Zentrum der Forschungstagebucheintragungen, so dienten sie im Rahmen der Fokusgruppen zur Beantwortung spezifischer, auf die Schüler*innen individuell abgestimmter Fragen im Kontext des primären Erkenntnisinteresses des Projekts. Hierfür wurden die Fokusgruppen mit Laptops ausgestattet und in jeder Fokusgruppeneinheit wurde am Ende ein ausreichendes Zeitfenster zur Beantwortung personalisierter Fragen zur Verfügung gestellt. Für jede Workshopphase aus dem Wintersemester (Sensibilisierung, Realisierung, Rekonstruktion, Imagination, Kontextualisierung) wurde ein Set aus spezifischen Fragen, die sich auf die Bildungslaufbahn und das emotionale Erleben der Schüler*innen bezogen, vorbereitet und den Schüler*innen am Ende der Fokusgruppen überreicht. Die zum Teil sehr persönlichen Fragen wurden vertraulich behandelt und dementsprechend nicht im Plenum diskutiert. Die Zusammenstellung der Fragen ergab sich aus folgenden Ressourcen: Zum einen galt es die Fragen aus den Zwischenberichten, die im Anschluss an die intendierte Textarbeit der ISQIA entstanden sind, zu beantworten. Ebenso wurden zentrale Aussagen der Schüler*innen im Hinblick auf den subjektiven Stellenwert emotionaler Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte aus den einzelnen Workshops aufgegriffen und rückgespiegelt. Hierzu zählen sowohl Fragen zu den zentralen Einflussfaktoren als auch Fragen zu spezifischen Vorstellungsbildern, zu emotionalen Qualitäten als auch zu den Funktionen und Folgen emotionaler Markierungen. An dieser Stelle seien zwei Fragen zur Veranschaulichung beispielhaft vorgestellt: „Im Workshop hast du erzählt, dass deine Mutter die Heldin deiner Kindheit und Jugend ist und dich im Kontext deiner Bildungslaufbahn stark beeinflusst. Gibt es in deinem Leben noch andere Personen, die für die Vorstellung deiner eigenen Zukunft so prägend sind?“ „Du sprichst im Workshop davon, dass du das Gefühl hast ein Studium voraussichtlich nicht zu schaffen, obwohl sich deine schulischen Leistungen in letzter Zeit verbessern. Wer oder was ist für diese negative Selbsteinschätzung verantwortlich?“ Zudem wurden je nach Einschätzung der Aussagen der Schüler*innen immanente Nachfragen zu undurchsichtigen Themenfelder sowie Konfrontationsfragen
8.4 Die Fokusgruppen und Forschungstagebücher entlang …
209
bei widersprüchlichen Zusammenhängen an die Schüler*innen gestellt. Den Abschluss des Fragensets stellte jeweils eine offene Ergänzungsfrage dar, die den Schüler*innen die Möglichkeit bieten sollten, Sachverhalte zu ergänzen, die ihnen im Rahmen der Auseinandersetzung in den Fokusgruppen bewusst geworden waren. Die Schüler*innen hatten zudem die Möglichkeit die Forschungstagebucheintragungen der Fokusgruppen zu einem späteren Zeitpunkt nachzureichen, sofern dies von ihnen gewünscht wurde. Die Abgabe erfolgt, wie bereits im Rahmen der Workshops, über das dafür vorgesehene Onlinetool der Projekthomepage. Abschließend sei noch erwähnt, dass, obwohl den Schüler*innen keine formalen Vorgaben zur Länge oder Struktur der Beantwortung der Fragen gemacht wurden, die Aufgabenstellung dennoch von den meisten ausführlich beantwortet wurde. Dies verdeutlicht einerseits die intrinsische Motivation der Schüler*innen und verweist andererseits auf die generelle Bedeutung des Forschungsgegenstandes von EMOTISION.
Teil III Ergebnisdarstellung
9
Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Im zweiten Teil der empirischen Arbeit werden die Ergebnisse aus den unterschiedlichen methodischen Zugängen dargestellt. Im Mittelpunkt der gesamten Ergebnisdarstellung steht dabei die Problematisierung der primären Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit: • Welche Bedeutung haben emotionale Markierungen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen aus der Sicht von Schüler*innen am Übergang von der Sekundarstufe II in die tertiäre Bildung und welche Einflussfaktoren und Vorstellungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte konstituieren diese emotionalen Markierungen? Um dieser Forschungsfrage und dem damit einhergehenden Erkenntnisinteresse gerecht zu werden, werden zu Beginn die Ergebnisse aus der qualitativen Inhaltsanalyse vorgestellt und entlang der zentralen Subkategorien interpretiert. Im Anschluss werden die Ergebnisse aus dem standardisierten Ratingverfahren anhand von Häufigkeitsverteilungen präsentiert. Sowohl die qualitative als auch die quantitative Ergebnisdarstellung fokussiert auf die Reichweite des eigenen methodischen Zugangs. Erst in der darauf folgenden Darstellung der partizipativen Arbeit in den Fokusgruppen steht, bedingt durch die partizipative Kategorienbildung und die kommunikative Validierung, die Triangulation der methodischen Zugänge vermehrt im Zentrum der Betrachtung. Die tatsächliche Gegenüberstellung der Ergebnisse aus der qualitativen und quantitativen Videoanalyse folgt im letzten Teil der Ergebnisdarstellung, jedoch unter Berücksichtigung der Arbeit in den Fokusgruppen. Wie bereits im Methodenteil deutlich wurde, liegt der Schwerpunkt der Ergebnisdarstellung auf der qualitativen Analyseebene allerdings unter Berücksichtigung ihrer indikativen Vergleichsreferenzen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_9
213
214
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Bevor auf die zentralen Ergebnisse aus der Qualitativen Inhaltsanalyse eingegangen wird, sollen die, der Auswertung und Interpretation zugrunde liegenden, Forschungsfragen erneut vorgestellt werden (siehe hierzu Abschn. 1.3 sowie 5.3). Dabei lassen sich vier Fragehorizonte entlang der vier zentralen Kategorien der ISQIA beschreiben: 1. Welche emotionalen Markierungen werden von den Schüler*innen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie berichtet bzw. welche subjektiv als bedeutsam erlebten emotionalen Markierungen lassen sich im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen identifizieren? 2. Was sind die entscheidenden Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen im Bildungskontext? 3. Welche Emotionen und emotionalen Qualitäten sind für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext bzw. für die Entstehung emotionaler Markierungen aus subjektiver Perspektive von Bedeutung? 4. Welche Funktionen haben emotionale Markierungen für und innerhalb der eigenen Bildungsbiografie respektive welche Effekte und Folgen zeitigen die emotionalen Markierungen im Leben der Schüler*innen und wie beeinflussen sie ihre Bildungsbiografie? Daraus ergeben sich vier zentrale Themen bzw. vier deduktive Hauptkategorien: 1. Formen von emotionalen Markierungen bzw. emotionalen Bewertungen (Wer oder was wird emotional markiert?) 2. Einflussfaktoren für die Entstehung von emotionalen Markierungen (Warum wird etwas emotional markiert?) 3. Qualitäten und subjektiver Gehalt von emotionalen Markierungen (Wie wird etwas emotional markiert?) 4. Funktionen und Wirkung von emotionalen Markierungen (Welche Folgen gehen mit der emotionalen Markierung einher?) Im Kontext der Ergebnisdarstellung gilt es auf den nachfolgenden Seiten dreierlei zu bedenken: (A) Zum einen verweisen die Subforschungsfragen auf das jeweilige Erkenntnisinteresse der Hauptkategorien aus der ISQIA. Die jeweiligen Fragehorizonte waren somit leitend für die intensive Phase der induktiven Bestimmung der Subkategorien entlang des gesamten Forschungsprozesses. (B) Zum anderen sind die Subforschungsfragen, und somit auch die Hauptkategorien, wie bereits im Methodenteil angedeutet, themenzentriert und konsekutiv.
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
215
D. h. es handelt sich um thematische und theoretische, deduktiv konstruierte Hauptkategorien, die aufeinander aufbauen. Zu berücksichtigen gilt in diesem Zusammenhang, dass eine emotionale Markierung für einen Einflussfaktor oder eine Qualität gegeben sein muss, dies aber nicht gleichbedeutend damit ist, dass diese Markierung im Material tatsächlich vorhanden ist bzw. sichtbar wird, da sie von den Schüler*innen möglicherweise nicht explizit benannt wurde. Natürlich ist theoretisch davon auszugehen, dass jedem Einflussfaktor und jeder Qualität eine Form zugrunde liegt bzw. eine Form gegeben ist; das bedeutet aber nicht, dass sich diese Form auch immer gleich identifizieren lässt bzw. dass die jeweilige Form in dieser Videopassage oder an späterer Stelle vorhanden sein muss. Die Funktionen wiederum, die gewissermaßen eine Sonderstellung innerhalb der Hauptkategorien beanspruchen, ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Einflussfaktor, Qualität und Form. Somit gilt es auch die Kontingenz der emotionalen Markierungen in der Darstellung der Ergebnisse zu berücksichtigen. (C) Und zum dritten ist die spezifische Gerichtetheit der vier Hauptkategorien auf den nachfolgenden Seiten besonders zu beachten. Während die Formen und Funktionen emotionaler Markierungen in den meisten Fällen gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert in Erscheinung treten und somit vorwärts gerichtet zu verstehen sind, beziehen sich die Einflussfaktoren eher auf vergangene und gegenwärtige Repräsentationen und sind somit rückwärts gerichtet. Die emotionalen Qualitäten hingegen müssen sowohl vorwärts als auch rückwärts gerichtet verstanden werden. Auch wenn diese Differenzierung lediglich konzeptuell aufrecht erhalten werden kann und die Ergebnisse zeigen werden, dass die Trennschärfe der Gerichtetheit nicht immer so eindeutig ist, ist dies dennoch eine hilfreiche Perspektive, um die Verortung der jeweiligen Themen bzw. der Hauptkategorien und deren Abgrenzung besser nachvollziehen zu können. Insgesamt wurden rund 38 Stunden Videomaterial kodiert. Dabei entstanden 1794 sinntragende Videoclips mit einer Gesamtlänge von rund 14 Stunden und einem Umfang von 2718 Kodierungen. Der vollständige Endbericht der ISQIA, der Mithilfe von Transana erstellt wurde, umfasst somit rund 750 Seiten bei ca. 1,3 Mio. Zeichen. Für die vier deduktiven Hauptkategorien wurden im Rahmen der induktiven Bestimmung der Subthemen sowie im Kontext der partizipativen Kategorienbildung 20 Formen, 25 Einflussfaktoren, 22 emotionale Qualitäten sowie 18 Funktionen identifiziert. Diese Subthemen, die angesichts des Stellenwerts der partizipativen Kategorienbildung und des komplexen Vorgehens beim induktiven Konstruktionsprozess in EMOTISION ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Arbeit darstellen, werden in den nachfolgenden vier Kapiteln zur Übersicht thematisch geordnet und im exakten Wortlaut des Kodierleitfadens in tabellarischer Form
216
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
dargestellt. Die Tabellen veranschaulichen zudem für jede Subkategorie die Anzahl an Kodierungen im gesamten Material sowie die Gesamtlänge aller entsprechend kodierten Clips (in Stunden:Minuten:Sekunden.Hundertstel). Die besonders relevanten Subkategorien aus der ISQIA sind in den jeweiligen Tabellen unterstrichen. Im Anschluss an die tabellarische Darstellung werden in den jeweiligen Kapiteln die Hauptthemen gesondert diskutiert und die Ergebnisse entlang der zentralen Subkategorien (absteigend nach ihrer Signifikanz) interpretiert bzw. im Kontext des zentralen Erkenntnisinteresses problematisiert. Um die Interpretationen nachvollziehbar darzustellen, ohne aber gleichzeitig den Text zu ausschweifend zu gestalten, werden ausgewählte Zitate aller Schüler*innen in den ersten zwei Unterkapiteln der Ergebnisdarstellung ihre subjektive Perspektive verdeutlichen.
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen Die erste Hauptkategorie zielt auf die Identifikation der subjektiv bedeutsamen, emotionalen Markierungen der Schüler*innen im Kontext ihrer Bildungslaufbahn ab. Dabei geht es besonders um die Darstellung jener mentalen Repräsentationen und Vorstellungsbilder, die als bildungsentscheidungsrelevante emotionale Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte verstanden werden müssen. Begrifflich werden dabei in Übereinstimmung mit den konzeptuellen Vorstellungen der Schüler*innen „Markierungen“, „Verlangen“ und „Wünsche“ als unterschiedliche Formen von Repräsentationen und Vorstellungsbildern unterschieden. Die Markierung meint dabei die positive und/ oder negative Bewertung einer bildungsentscheidungsrelevanten Repräsentation. Das Verlangen wird dagegen als positive und/oder negative Bewertung bedürfnisorientierter Vorstellungsbilder, welche die eigene Bildungsbiografie beeinflussen, verstanden. Und der Wunsch wird definiert als die positive und/oder negative Bewertung persönlicher Ambitionen, die im Kontext der eigenen Bildungsbiografie von Bedeutung sind. Diese konzeptuelle Differenz verweist auf den subjektiven Stellenwert der Hierarchisierung und Priorisierung der 20 einzelnen, hier thematisierten Subkategorien in den Vorstellungen der Schüler*innen (siehe Tab. 9.1). Eine besondere Stellung innerhalb der 20 Formen emotionaler Markierungen nehmen zwei Subthemen ein, die auf die zentrale Bedeutung berufsbezogener Vorstellungsbilder verweisen und bei allen Schüler*innen, unabhängig des Berufs- oder Ausbildungswunsches, die Vorstellungen der und Erwartungen an
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen
217
Tab. 9.1 Formen emotionaler Markierungen (ISQIA) Formen (=Repräsentationen und Vorstellungsbilder als bildungsentscheidungsrelevante emotionale Markierung) Subkategorie
Kodierungen
Zeit
(Markierung von) Gegenstand und Interessengebiet
79
0:38:45.4
(Markierung von) Unterrichts- bzw. Schulfach
40
0:19:30.7
(Markierung von) Ausbildungs- und Studienbild
52
0:18:45.4
(Markierung von) Berufsbild und Vorstellung der Profession
92
0:36:14.7
(Markierung von) Allgemeiner Tätigkeit und praktischem Tun
92
0:48:24.6
(Verlangen nach) Sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung (von außen)
40
0:22:20.0
(Verlangen nach) Erfolg und Selbstverwirklichung (von innen: 51 gut/kompetent sein zu wollen)
0:27:00.7
(Verlangen nach) Teilhabe, Partizipation und Zugehörigkeit
36
0:16:40.1
(Verlangen nach) Verantwortung, Leitung und Führung
4
0:01:13.5
(Verlangen nach) Finanzieller und materieller Sicherheit
15
0:04:38.0
(Verlangen nach) Sicherheit, Orientierung und zu wissen, was man will
23
0:07:56.4
(Wunsch) Wissen zu schaffen und weiter zugeben
10
0:04:56.0
(Wunsch) Menschen helfen zu wollen
25
0:11:25.8
(Wunsch nach) Reichtum und Luxus
4
0:01:54.4
(Wunsch nach) Selbstständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit 38
0:16.29.1
(Wunsch nach) Work-Life-Balance und ausgeglichener Lebens- 20 struktur
0:10:11.4
(Wunsch nach) Kinder und Familie
8
0:04:02.0
(Wunsch nach) Partnerschaft und Beziehung
10
0:04:03.3
(Wunsch nach) Gesundheit und einem langen Leben
4
(Wunsch) Mit sich selbst glücklich zu sein und Spaß im Leben 16 zu haben (als positive Grundgestimmtheit sich und dem Leben gegenüber)
0:01:02.1 0:05:58.9
Quelle: Eigene Darstellung
die eigene Bildungslaufbahn wesentlich prägen. Dies sind die „Markierung von allgemeinen Tätigkeiten und praktischem Tun“ und die „Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession“:
218
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Die emotionale Bewertung der Allgemeinen Tätigkeit und des praktischen Tuns ist dabei für alle Schüler*innen ein zentrales der zukünftigen Tätigkeiten im beruflichen Alltag wird dabei, je nach individueller KonnotationMotiv für die Konzeptualisierung ihres zukünftigen Selbstbildes im Kontext bildungsbiografischer Überlegungen. Das Vorstellungsbild, für die Schüler*innen zu einer Leitidee für die eigene Bildungslaufbahn. Donna verweist diesbezüglich immer wieder auf die positive Markierung von sozialen Tätigkeiten und auf die Bedeutung des Kontakts und des Austausches mit Menschen, die für ihren Ausbildungswunsch zentrale Beweggründe darstellen (vgl. Donna WS2, 3090). Dabei stellt sie sich in erster Linie vor, diese sozialen Tätigkeiten erfüllend zu erleben, unabhängig des konkreten Berufsbildes (vgl. Donna WS3, 2049 sowie Donna WS5, 1151). Ähnliches gilt für die Vorstellung der pädagogischen Arbeit bei Julia. Zum einen ist das Bild des Lehrens und Unterrichtens im Allgemeinen besonders positiv bewertet und zum anderen ist die positive Bewertung des eigenständigen Lernens als selbstreflexiver Prozess in ihrer Lebenswirklichkeit ein zentrales Motiv für den eigenen Berufswunsch (vgl. Julia WS2, 2181 sowie Julia WS2, 2238). Bei Vera hingegen äußert sich der Wunsch im kreativen Bereich tätig zu sein zum einen am Interesse und an der Begeisterung für kreativ-handwerkliche Tätigkeiten (vgl. Vera WS4, 3265), wie bspw. dem Nähen von Mode oder aber dem Entwerfen von Designskizzen (vgl. Vera WS5, 1184). Gleichzeitig sieht sie aber auch die positive Bewertung von kommunikativen Handlungsformen und teamorientierten Tätigkeiten als Anhaltspunkt für ihren zentralen Wunsch im kreativen Bereich tätig sein zu wollen (vgl. Vera WS3, 2393). Für Annas Berufswunsch im Kontext des Profilings steht die Tätigkeit der psychologischen Analyse von Menschen im Mittelpunkt (vgl. Anna WS4, 1202). Dabei differenziert sie die positive Markierung der deskriptiven Arbeit im Kontext der akkuraten Beschreibung von Personen von dem analytischen Prozess der Erstellung von Charakterprofilen unter Zuhilfenahme spezifischer Kategorien und Vorlagen (vgl. Anna WS1, 0495 sowie Anna WS4, 1203). Besonders Jasmins Wunsch Medizin zu studieren und als Chirurgin zu arbeiten, wird immer wieder durch die Thematisierung der praktischen Tätigkeiten der Chirurgie deutlich (vgl. Jasmin WS4, 1360 sowie Jasmin WS5, 1353). Im Clip „Markierung von chirurgischer Tätigkeit des Schneidens mit Spaß“ führt sie hierzu folgendes aus: „Medizin und ich, ich weiß nicht wieso, aber ich finde, es voll cool Menschen aufzuschneiden und so. Nein ich meine halt, wenn es, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, (lacht), aber halt ja, die biologische Ursache halt finde ich interessant. Und auch, dass man so brutal ähm eingreifen kann, um etwas Gutes daraus zu machen.
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen
219
Es muss ja nicht immer die Lösung sein, also man muss nicht immer operiert werden, aber wenn dann ist es was was (unverständlich) und ich finde, dass sich das auch so gut entwickelt hat.“ (Jasmin WS4, 1323)
Die plastische Vorstellung der handwerklichen Tätigkeit des Eingreifens, Aufschneidens und Rausnehmens wird dabei zu einem immer wiederkehrenden Motiv für die mentale Repräsentation Ärztin respektive Chirurgin werden zu wollen. Die zentrale Bedeutung der emotionalen Bewertung allgemeiner Tätigkeiten und des praktischen Tuns spiegelt sich bei allen Schüler*innen, zwar in unterschiedlichen Formen aber mit starker Ausprägung, wider und ist in den meisten Fällen positiv konnotiert bzw. gehen die tätigkeitsbezogenen Vorstellungsbilder mit positiven emotionalen Qualitäten einher. Die emotionale Bewertung allgemeiner Tätigkeiten ist somit aus der Perspektive der Schüler*innen für Bildungslaufbahnentscheidungen eine besonders relevante Stellgröße. Ebenso von zentralem Interesse für die Beantwortung der Frage nach den Formen emotionaler Markierungen und inhaltlich sehr nahe am eben dargestellten Subthema der Tätigkeiten, ist die Subkategorie Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession. Die emotionale Bewertung vom Bild eines konkreten Berufes ist ebenso für alle Schüler*innen ein zentrales Motiv im Kontext der Auseinandersetzung mit der zukünftigen Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn. Hier geht es allerdings nicht mehr um die Berufspraxis bzw. das praktische Arbeiten (bspw. mit Menschen, Computer oder am Zeichenbrett), sondern um die Vorstellung des eigenen Selbst im Kontext einer bestimmten Profession respektive um die Imagination des Selbst im Berufsbild der eigenen Zukunft (bspw. als Sozialarbeiterin, Informatikerin oder Graphikdesignerin). Dementsprechend verortet sich diese Form der emotionalen Markierung auf einem höheren Abstraktionsniveau als die praktische Tätigkeit. Für Renate ist das positiv markierte, stereotype Vorstellungsbild der Journalistin, trotz einer realistischen Einschätzung von Berufschancen und Erfolgsaussichten, eine treibende Kraft im Nachdenken über ihre eigene Zukunft (vgl. Renate WS4, 2131). Dabei merkt sie im Clip „Realistische Einschätzungen im Beruf als Journalistin als Problembewusstsein“ an: „Und ich weiß nicht. Journalistin ist halt so ein Beruf irgendwie so ähnlich wie Autorin, Erfinder, Schauspieler wo man halt, entweder man ist richtig gut oder unfassbar schlecht. Und natürlich machen das viele. Aber das wäre halt so das, wo ich mir denke, da würde ich gerne hin, da bin ich eigentlich auch gut und das macht mir Spaß.“ (Renate WS4, 2090)
220
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Neben dem generellen Vorstellungsbild einmal als Printjournalistin tätig zu sein, ist für sie die Idee später für eine Qualitätszeitung zu schreiben und das damit einhergehende Bild, das sie dabei von ihrem zukünftigen Selbst als Journalistin entwirft, konstitutiv für die Möglichkeit der Gestaltung ihrer zukünftigen Bildungslaufbahn (vgl. Renate WS3, 1421 sowie Renate WS4, 2113). Auch für Martina sind das Bild der Printjournalistin und die Vorstellung bei einer Redaktion im Modebereich zu arbeiten besonders positiv emotional bewertet (vgl. Martina WS4, 2023). Demgegenüber lehnt sie das Berufsbild der Designerin kategorisch ab, auch wenn sie die Aufgaben und Tätigkeitsfelder als durchaus spannend einschätzt und sich über die Überschneidungen beider Berufe bewusst ist (vgl. Martina WS3, 2043 sowie Martina WS5, 0232). Diese klare negative Bewertung von Berufsbildern bzw. die Kontrastierung von abgelehnten Berufsbildern gegenüber den optimierten Vorstellungen des zukünftigen Wunschberufs findet sich bei allen Schüler*innen. So stellt Paul die negative Markierung des Alten- und Krankenpflegeberufes klar seinem Traumberuf des Ingenieurs gegenüber, ohne dies differenziert begründen zu können (vgl. Paul WS3, 3242). Das Berufsbild respektive seine imaginierte Vorstellung des Bildes des Flugzeugbauers hingegen scheint dem Idealberufsbild sehr nahe zu kommen (vgl. Paul WS4, 1565 sowie Paul WS4, 3244). Auch Elif hat das Bild der verantwortungsbewussten und hilfsbereiten Volksschullehrerin als Berufswunsch bereits internalisiert und bezieht sich in der Argumentation für die Entscheidung Lehrerin werden zu wollen zuallererst auf ihre stereotype Vorstellung dieses spezifischen Berufsbildes (vgl. Elif WS5, 3254 sowie Elif WS5, 3264). Demgegenüber lehnt sie die Vorstellung als Technikerin zu arbeiten kategorisch ab (vgl. Elif WS3, 1402). Ähnlich argumentiert Mira im Kontext des Berufswunsches zukünftig als Motivationstrainerin arbeiten zu wollen (vgl. Mira WS4, 2255). Sie verbindet mit diesem Berufsbild die Möglichkeit frei und unabhängig einer Tätigkeit nachzugehen, in der sie sich selbst am ehesten wiederfindet bzw. die am ehesten ihre antizipierte Vorstellung ihres zukünftigen Selbst widerspiegelt, ohne aber genauer ausführen zu können, wie dies konkret aussehen könnte und in dem Bewusstsein, dass ihre Interpretation auf vagen Vermutungen aufbaut (vgl. Mira WS4, 2261). Demgegenüber lehnt auch sie das Berufsbild der Informatikerin oder Technikerin prinzipiell ab (vgl. Mira WS3, 2245). Dies führt sie im Clip „Abneigung gegen Bürojob als negative Markierung des Berufsbilds Informatiker“, auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnte als Informatikerin zu arbeiten, wie folgt aus: „Und ich will auch auf jeden Fall keinen Bürojob. Und ich, Entschuldigung Paul, ich hasse Computer über alles. (Paul lacht) Ich kann mit Computern so überhaupt nicht (Matthias unterbricht).“ (Mira WS4, 2240)
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen
221
Im Kontext der Bewertung der Berufsbilder wird deutlich, dass es einerseits nicht so sehr um tatsächliche Rahmenbedingungen, sondern eher um stereotype Vorstellungen geht, die entweder mit dem eigenen Selbstkonzept vereinbar sind oder aufgrund der Konfusionsgefahr kategorisch abgelehnt werden. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der klaren Gegenüberstellung von emotionalen Bewertungen spezifischer Berufsbilder bzw. von emotionalen Markierungen unterschiedlicher Vorstellungsbilder der zukünftigen Profession. Auch die Subkategorie Berufsbild, ist neben der allgemeinen Tätigkeit, eine besonders signifikante Bezugsgröße im Hinblick auf die Beantwortung der Frage nach der Identifikation subjektiv als bedeutsam erlebter emotionaler Markierungen im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen. Das dritte Subthema, das bei allen Schüler*innen als bildungsentscheidungsrelevante emotionale Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte immer wieder thematisiert wird, ist die Markierung von Gegenstand oder Interessengebiet. Auch wenn diese Subkategorie nicht so zentral bzw. signifikant wie die Tätigkeiten und Berufsbilder für die Auseinandersetzung mit der zukünftigen Bildungslaufbahn der Schüler*innen ist, muss ihr im Kontext der Formen emotionaler Markierungen eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Besonders die deutliche Priorisierung der Bewertung des Gegenstandes gegenüber der „Markierung von Ausbildungs- und Studienbild“ sowie gegenüber der „Markierung von Unterrichts- und Schulfach“, als zwei weitere Subthemen der ersten Hauptkategorie, ist nicht nur ein überraschendes Ergebnis im Hinblick auf den Prozess der Bildungslaufbahnentscheidung, sondern verweist auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung des subjektiven Zugangs und auf die Bedeutung idiosynkratischer Perspektiven im Kontext der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungslaufbahn. Denn berücksichtigt man diese subjektive Perspektive als individuelle Konstruktion eines identitätsstiftenden Fachinteresses sowie die Bedeutung der emotionalen Bewertung eines spezifischen Gegenstandes, lassen sich Bildungslaufbahnentscheidungen nicht einfach auf einen Unterrichtsgegenstand oder ein Studienfach bzw. die emotionale Markierung derselben reduzieren. Nora spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von ihrem Interesse am Nationalsozialismus und an bestimmten Teilbereichen der Geschichte (vgl. Nora WS2, 0180 sowie Nora WS5, 1321). Die positive Markierung des Gegenstandsgebiets des Nationalsozialismus führt sie auf Erfahrungen aus der 8. Schulstufe zurück, wobei sie immer wieder darauf verweist, dass Geschichte für sie nicht durch das Schulfach repräsentiert wird (vgl. Nora WS5, 3261). Auch ihr noch recht unklarer Studienwunsch, also möglicherweise Kunst oder Geschichte studieren zu wollen, ist zwar ein Ausdruck ihres Interesses an historischer Literatur und Geschichte; gleichzeitig ist es ihr aber wichtig zu betonen, dass ein
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Geschichtsstudium für sie nicht so klar und eindeutig erscheint, weil es in ihrem Erleben eben eine Differenz zwischen dem Interessengebiet, der Profession und dem Studium gibt (vgl. Nora WS3, 2175). Im Clip „Geschichtliches Interesse beeinflusst die Freizeitgestaltung und ist mit Scham besetzt“ verdeutlicht Nora nochmals die Bedeutung dieser subjektiv äußerst relevanten Subkategorie: „Das eben nicht, keine Ahnung, ich habe halt nicht so viel Zeit dafür. In den Sommerferien oder wenn ich halt wirklich viel Zeit habe dafür, dann (lacht), das klingt jetzt ur nerdig, lese ich halt schon geschichtliche Bücher und ich (unverständlich) mit der Mira in einer Ausstellung in München, also keine Ahnung, mich interessiert das halt voll und solche Sachen (…) das klingt so armselig, aber bei dieser langen Nacht der Museen bin ich noch mit einem Freund um 00:30 Uhr in der Nacht in ein Bezirksmuseum vom Ersten und habe meine Mutter so zugespammed, dass ich bitte noch eine Stunde draußen bleiben kann, weil ich allein in diesem Museum war, so über NS-Zeit oder so und habe mir das Kleingedruckte, dass sich nicht mal irgendwelche komischen Akademiker durchlesen, das habe ich mir durchgelesen und die so gefragt, welche Literatur sie mir empfehlen können.“ (Nora WS2, 3201)
Bei Vera äußert sich ihr latenter Berufswunsch im kreativen Bereich tätig zu sein, in der immer wieder auftauchenden, emotionalen Bewertung des Gegenstandsbereichs der Ästhetik (vgl. Vera WS4, 2203). Nicht nur das Lesen einschlägiger Zeitschriften, sondern auch ihre aktive Auseinandersetzung mit Design, Architektur und kreativer Gestaltung sind ein Ausdruck dessen, welche Bedeutung dieses Interessengebiet für sie hat, ohne aber gleichzeitig einen konkreten Berufswunsch oder ein bestimmtes Studium damit verbinden zu wollen (vgl. Vera WS 5, 1185 und 1193). Im Clip „Allgemeines Interesse an Graphikgestaltung und Design“ führt sie hierzu aus: „Das sind so verschiedene, irgendwie Designs für Gewand oder Stoff oder einfach Plakate, weil ich finde, ich weiß nicht, ich gehe nicht in den IKT-Zweig aber Grafikdesign ist ziemlich interessant. Oder generell Design, das begeistert. Und ihr wisst, ich kann mich für Gewand und Möbel und Häuser und eigentlich so ziemlich alles in dieser Richtung interessieren.“ (Vera WS4, 2153)
Bei Jasmin, die zwar bereits weiß, dass sie sicher Medizin studieren wird, findet sich ebenso im Vergleich mit dem Studienbild oder Schulfach häufiger die positive Markierung des medizinischen Gegenstandsbereichs, wie bspw. ihr generelles Interesse am menschlichen Körper (vgl. Jasmin WS4, 0095) oder ihr Interesse an physiologischen und biologischen Prozessen (vgl. Jasmin WS4,1322 sowie Jasmin WS3, 1145). Wichtig ist es hier darauf hinzuweisen, dass diese
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen
223
Subkategorie, sowohl in den Kodierungen als auch in den Ausführungen der Schüler*innen, ausschließlich positiv konnotiert wahrgenommen wurde. Dies verdeutlicht, dass der Gegenstandsbereich bzw. das Interessengebiet der Schüler*innen nicht nur ein Ausdruck (der Notwendigkeit) von Subjektivität für die eigene Lebenskonzeption ist, sondern auch prospektiv im Kontext des eigenen Selbstkonzeptes wahrgenommen wird und somit eine identitätsstiftende Funktion einnimmt. Die Subkategorien Markierung von Ausbildungs- und Studienwunsch sowie Markierung von Unterrichts- bzw. Schulfach sind, wie bereits erwähnt, weniger repräsentativ für die Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn. Interessanterweise ist die emotionale Bewertung des Studienwunsches oft ein Ausschlusskriterium im Nachdenken über die eigene berufliche Zukunft. So scheint die Vorstellung eines bestimmten Studiums oft mit Unsicherheit und Zweifel einherzugehen und lässt in den meisten Fällen eine extrinsische Erwartungshaltung erkennen (vgl. bspw. Julia WS5, 3255; Donna WS5, 1124; Anna WS2, 2545; Martina WS4, 0393; Paul WS4, 0200; Nora WS5, 1330). Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass die Vorstellung einer bestimmten Ausbildung oder eines konkreten Studiums oft mit negativen Emotionen assoziiert ist. Und auch die „Markierung von Unterrichts- bzw. Schulfach“ scheint eher einen negativen Effekt auf die bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen zu haben, insbesondere unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Kodierungen. Auffällig ist dabei, dass Schulfächer in den meisten Fällen im Kontext der zukünftigen Bildungslaufbahn nur dann thematisiert werden, wenn sie eindeutig negativ markiert sind. Im Besonderen scheint eine generelle Abneigung gegen und ein Unbehagen am Schulfach ein leitendes Motiv zu sein (vgl. bspw. Anna WS2, 1595; Jasmin WS3, 3372; Paul WS1, 1225; Elif WS3, 1563; Nora WS3, 0240; Sarah WS2, 2121), sofern es nicht vorrangig um das Interessengebiet respektive den spezifischen Gegenstandsbereich geht. Mit Blick auf die positiven und/oder negativen emotionalen Bewertungen bedürfnisorientierter Vorstellungsbilder, die Einfluss auf die eigene Bildungsbiografie nehmen und durch den Begriff des Verlangens ausgedrückt werden, sind zwei Subkategorien besonders hervorzuheben. Auch wenn sie keine so zentrale Stellung einnehmen, wie die zuvor thematisierten Markierungen von Tätigkeit, Berufsbild und Gegenstand, beeinflussen sie dennoch die Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungslaufbahn. An erster Stelle steht dabei das Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung, als das innere Bedürfnis irgendwo gut und kompetent sein zu wollen. Interessanterweise findet sich dieses Verlangen meist kontext- und gegenstandsunabhängig sowie in der Regel emotional negativ oder
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
zumindest ambivalent konnotiert (vgl. bspw. Donna WS2, 0222; Anna WS5, 0440; Jasmin WS5, 0215; Martina WS2, 2272; Vera WS4, 0310). Wie sich an späterer Stelle noch zweigen wird ist das Verlangen nach Erfolg ein Garant für die Steigerung der allgemeinen Motivation und Anstrengungsbereitschaft der Schüler*innen (vgl. bspw. Vera WS4, 2194; Jasmin WS5, 2202; Martina WS4, 3251; Paul WS1, 3191; Nora WS3, 2212). Als zweite relevante Subkategorie im Kontext der bedürfnisorientierten Vorstellungsbilder findet sich das Verlangen nach sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung von außen für die eigenen Leistungen und für sich selbst als Person ist ebenso für die meisten Schüler*innen identitätsstiftend, wird aber selten kontextunabhängig thematisiert, sondern steht meist in Verbindung mit Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen (vgl. bspw. Paul WS3, 2232; Mira WS3, 2353; Nora WS2, 2052; Donna WS3, 1334). Ähnlich wie das Verlangen nach Erfolg steigert auch das Verlangen nach Anerkennung die allgemeine Motivation, ist aber im Gegensatz dazu vorrangig positiv konnotiert und wird von den Schüler*innen insbesondere mit Stolz assoziiert (vgl. bspw. Jasmin WS5, 0275; Sarah WS5, 0425; Donna WS4, 3114; Julia WS4, 3145; Vera WS5, 3302). Spannenderweise wurden beide Subkategorien in der Phase der induktiven Kategorienbildung nach mehreren Diskussionen als thematische und notwendige Gegensatzpaare entwickelt, ohne aber zu wissen, dass sie im Kontext der unterschiedlichen Bedürfnisse eine zentrale Rolle spielen würden. Der interpretative Schluss liegt nahe, dass Erfolg und soziale Wertschätzung in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen, die konzeptuelle Trennung allerdings notwendig für die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit und die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen ist, da sie so leichter mit dem eigenen Selbstkonzept der Schüler*innen vereinbar scheinen. Ein Subthema, das im Kontext der bildungsbiografischen Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität keine Rolle zu spielen scheint ist das Verlangen nach finanzieller und materieller Sicherheit. Dies ist insofern überraschend, als dass es in vielen der Tools und Übungen aus den Workshops vorkommt und im Vorfeld der Analyse und Interpretation als besonders relevante Kategorie eingeschätzt wurde. Neben dem Verlangen nach Teilhabe, Partizipation und Zugehörigkeit sowie dem Verlangen nach Verantwortung, Leitung und Führung, denen ebenso eine untergeordnete Rolle beigemessen werden muss, sei noch das Verlangen nach Sicherheit, Orientierung und zu wissen, was man will erwähnt. Allerdings nicht so sehr, weil dieses Verlangen nach Orientierung für die Bildungsbiografie und die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung der Schüler*innen eine zentrale Rolle spielt, sondern weil es im Kontext des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit eine besonders heikle Subkategorie darstellt.
9.1 Zu den Formen der emotionalen Markierungen
225
Aus der Perspektive der Schüler*innen kann dieses Verlangen nach Sicherheit als Reflexionsanstoß verstanden werden, der zu einer vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst führt (vgl. bspw. Julia WS5, 3380; Jasmin WS5, 3373; Martina WS5, 1154; Mira WS4, 2572; Vera WS1, 3264) und in erster Linie mit Angst und Unsicherheit assoziiert ist (vgl. bspw. Elif WS1, 1003; Nora WS5, 3461; Donna WS3, 1360; Anna WS4, 0202; Jasmin WS4, 0191). Dementsprechend wurde lange über die Bedeutung von Sicherheit bzw. Orientierungslosigkeit diskutiert mit dem Ergebnis, dass sowohl das Verlangen nach Sicherheit als auch die schwer zu ertragende Orientierungslosigkeit ein wichtiges Thema, allerdings keine bildungsentscheidungsrelevanten Bewertungen für die Schüler*innen darstellen. Bei den positiven und/oder negativen Bewertungen persönlicher Ambitionen, die im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn von Bedeutung sind und als Wünsche begrifflich gefasst wurden ist lediglich eine Subkategorie aus der Perspektive der Schüler*innen signifikant. Und zwar findet sich immer wieder der Wunsch nach Selbstständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit. Einerseits wird dieser als Ausdruck der Ablehnung des von außen strukturierten (Schul-)Alltags bzw. als das Verlangen nach Selbstbestimmung im Kontext von (familiären) Abhängigkeiten und Pflichten deutlich (vgl. bspw. Julia WS3, 0460; Donna WS2, 3142; Renate WS2, 2272; Elif WS2, 3221; Sarah WS5, 1160); und andererseits verbirgt sich dahinter die Sehnsucht, die Welt und die Menschen in der Welt kennen zu lernen und in der Zukunft die Möglichkeit zu haben, diese Sehnsucht zu befriedigen (vgl. bspw. Vera WS4, 3153; Anna WS1, 0492; Jasmin WS4, 3064; Martina WS4, 0383; Mira WS4, 2272). Auch wenn diese Kategorie keine direkten Rückschlüsse auf die Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen zulässt und sie daher auch nicht als zentral für das, der Arbeit zugrunde liegende, Erkenntnisinteresse eingeschätzt wird, ist der latente Wunsch nach Selbstständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit im Leben der Schüler*innen ein weiterer Hinweis auf die zentrale Bedeutung der subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit bzw. Ausdruck des Verlangens sein Leben individuell gestalten zu können. Zwei Subkategorien, die zwar von einigen Schüler*innen thematisiert werden, allerdings eine doch unerwartet untergeordnete Rolle spielen sind der Wunsch nach Work-Life-Balance und ausgeglichener Lebensstruktur sowie der Wunsch Menschen helfen zu wollen. Unerwartet ist dieses Ergebnis deshalb, da beide Themen in der Workshopgestaltung berücksichtigt wurden und zu Beginn der induktiv partizipativen Kategorienbildung von den Schüler*innen als besonders relevant eingeschätzt wurden. Im Kontext der Work-Life-Balance ist allerdings hervorzuheben, dass die Artikulation derselben als eine Reaktion auf die schulischen Anforderungen und Pflichten und das damit einhergehende Stresserleben verstanden werden kann (vgl. bspw. Julia WS3, 3265; Donna WS5,
226
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
0351; Anna WS5, 0442; Jasmin WS2, 2333; Renate WS5, 0193). Der Wunsch Menschen helfen zu wollen wiederum ist stark abhängig vom familiären Kontext und der eigenen Sozialisation (vgl. bspw. Sarah WS5, 2184; Donna WS4, 1440; Jasmin WS4, 2563; Mira WS3, 3451). Überraschenderweise keine signifikante Bedeutung für die eigene Bildungslaufbahn und die Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen haben die Subkategorien Wunsch nach Kindern und Familie, Wunsch nach Partnerschaft und Beziehung sowie der Wunsch mit sich selbst glücklich zu sein und Spaß im Leben zu haben.
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen Die zweite Hauptkategorie beschäftigt sich mit den subjektiv als bedeutsam erlebten Einflussfaktoren, die für die Konstitution der emotionalen Bewertungen innerhalb der eigenen Lebens- und Lerngeschichte verantwortlich sind. Dementsprechend soll dieses zweite Hauptthema die Frage beantworten, warum bzw. wodurch die emotionalen Markierungen im Bildungskontext entstehen und welche Faktoren in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen hierbei den größten Einfluss haben. Die 25 Einflussfaktoren werden dabei als vergangene und/oder internalisierte, bewusste und/oder nicht-bewusste Repräsentationen verstanden. Wie in der Übersicht zu den einzelnen Subkategorien deutlich wird (siehe Tab. 9.2), werden dabei schulspezifische, personalisierte und nicht-personalisierte, erfahrungsabhängige, herkunftsbezogene, gesellschaftliche und selbstreferentielle Einflussfaktoren unterschieden. Im Vergleich zu den drei anderen Hauptkategorien fällt hier bereits auf den ersten Blick die relativ hohe Anzahl an Subkategorien und die absolut hohe Anzahl an Kodierungen auf. Diese Dichte und Komplexität der Analyse verweist auf zweierlei: Zum einen handelt es sich um eine äußerst heikle und differenzierte Problemstellung, die im interpretativen Akt ein tiefgreifendes Verständnis und eine intensive Auseinandersetzung mit dem emotionalen Erleben der Schüler*innen voraussetzt. Und zum anderen verdeutlicht die Bandbreite an Kodierungen und Faktoren den zentralen Stellenwert dieser Subfragestellung sowohl aus der Perspektive der Schüler*innen als auch im Hinblick auf das, dieser Arbeit zugrunde liegende Erkenntnisinteresse. Eine besonders relevante Subkategorie innerhalb der 25 Einflussfaktoren sowie unter Berücksichtigung aller Kodierungen innerhalb der gesamten ISQIA ist der Einflussfaktor Peer und Freundeskreis, der sowohl quantitativ (Menge) als auch qualitativ (Relevanz) an erster Stelle der Inhaltsanalyse steht. Begrifflich ist es
227
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen Tab. 9.2 Einflussfaktoren emotionaler Markierungen (ISQIA) Einflussfaktoren (=Vergangen und/oder internalisiert) Subkategorie
Kodierungen
Zeit
Schulfach und Unterrichtsgegenstand (unabhängig von Lehrperson oder Unterricht)
67
0:31:18.5
Schulnoten und Zeugnisnoten (und andere Benotungen)
21
0:09:41.6
Unterrichtsstil und didaktisches Vorgehen (Unterricht im Allgemeinen)
36
0:15:36.7
Konkrete Lehrperson
95
0:44:19.7
Eltern (Mutter, Vater und elterliche Einflussnahme)
107
0:56:41.8
Geschwister
14
0:05:41.7
Peer und Freundeskreis
115
0:57:14.0
Verwandtschaft und erweiterte Familie (bspw. Cousinen, Tanten etc.)
20
0:11:24.6
Fremde oder unbekannte Person (bspw. eine Verkäuferin, ein Müllmann etc.)
6
0:03:00.3
Bekannte Personen im Umfeld (bspw. Freunde der Eltern, unser Nachbar etc.)
8
0:03:04.0
Herkunft, Heimat und Kultur
17
0:10:37.7
Religion und Spiritualität (sowie Schicksal und höherer Sinn)
5
0:01:36.8
Fernsehen, Internet und (soziale) Medien
17
0:13:03.1
Schulische Schlüsselerlebnisse und prägende Erfahrungen
23
0:15:27.8
Außerschulische Schlüsselerlebnisse und prägende Erfahrungen
40
0:29:44.8
Schulische Anforderungen und Pflichten (bspw. HÜ, Lernen, Mitarbeit etc.)
82
0:37:31.8
Gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche
24
0:12:29.2
Allgemeines Lob und Anerkennung (nicht-personalisiert)
12
0:05:49.7
Allgemeine Kritik, Tadel und Ablehnung (nicht-personalisiert) 4
0:02:14.2
Autonomieerleben und das Erleben von Unabhängigkeit und Freiheit
22
0:09:53.0
Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit
88
0:48:30.2
Erleben von Handlungsunfähigkeit, Inkompetenz und Selbstunwirksamkeit
29
0:13:25.1 (Fortsetzung)
228
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Tab. 9.2 (Fortsetzung) Einflussfaktoren (=Vergangen und/oder internalisiert) Subkategorie
Kodierungen
Zeit
Erleben von Zugehörigkeit und sozialer Eingebundenheit („Akzeptiert zu werden und Teil des Systems zu sein“)
23
0:10:47.1
Erleben von Ausgrenzung und Ausschluss („Nicht akzeptiert zu 12 werden und nicht ins System zu passen“)
0:05:44.0
Unvorhersehbare und unsichere Zukunft
0:06:40.0
13
Quelle: Eigene Darstellung
wichtig hier darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der induktiv partizipativen Kategorienbildung die Peer oder Gleichaltrigengruppe bewusst mit dem Freundeskreis subsumiert wurde. Grund hierfür ist einerseits, dass im Jungendalter die Differenz zwischen den Freunden, dem erweiterten Freundeskreis und der Gruppe an Gleichaltrigen, mit denen man regelmäßig im Austausch ist, kontextbedingt bzw. aufgrund der Schule und der Schulklasse schwer aufrechtzuerhalten ist. Andererseits kann in Übereinstimmung mit den Schüler*innen konstatiert werden, dass der erweiterte Freundeskreis im Schulalter zwar oft konstant bleibt, die Personen allerdings, die als enge Freunde bezeichnet werden, oft und schnell wechseln. So werden bspw. bereits am Ende der Sekundarstufe II KlassenKolleg*innen aus der Volksschule oder Unterstufe, mit denen man genau genommen wenig oder keinen sozialen Austausch in der gemeinsamen Schulzeit pflegte, aufgrund der geteilten Erfahrung und der kollektiven Vergangenheit automatisch zu Freunden bzw. als Freunde tituliert. Selbst in der einjährigen Zusammenarbeit mit den Schüler*innen wurden beste Freundschaften wiederentdeckt oder aber durch neue Beziehungen ersetzt. Unabhängig der Kurzlebigkeit und Fluktuation ist der Einfluss der Peer auf die Konstitution emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn von zentraler Bedeutung. Für Julia nehmen Freunde nicht nur einen zentralen Einfluss auf den persönlichen Stellenwert von Bildung und Schule, sondern können im Allgemeinen als sinnstiftendes Moment für Zufriedenheit und Glück im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn bezeichnet werden (vgl. Julia WS1, 2234 sowie Julia WS2, 2212). Dies betrifft jedoch nicht nur positive Erfahrungen mit Freunden oder KlassenKolleg*innen, sondern genauso jene Erlebnisse, die mit negativen Emotionen, wie bspw. Scham oder Ärger, einhergehen (vgl. Julia WS1, 1065). Auch Donna hebt die Bedeutung von negativen Erfahrungen innerhalb des eigenen Freundeskreises für die Konstitution emotionaler Bewertungen im
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
229
Kontext der eigenen Bildungsbiografie hervor (vgl. Donna WS5, 1350). Gleichzeitig verweist sie mehrere Male auf den positiven Einfluss des Freundeskreises auf die eigenen Zukunftsvorstellungen (vgl. Donna WS3, 1382 sowie Donna WS4, 2164). Für sie ist die Peergruppe eine Reflexionsfläche des eigenen Selbstbildes und somit ein zuverlässiger Maßstab zur Beurteilung eigener Fähigkeiten und Kompetenzen. Hierzu äußert sie sich im Clip „Selbstsicherheitsfunktion durch Peer (Angleichung von Selbst- und Fremdeinschätzung)“ folgendermaßen: „Also von den Fähigkeiten zum Beispiel. Man kann ja von sich selber sagen, boah ich kann das voll gut, aber, in echt kann man das voll schlecht (lachend), so. Und da sind halt andere, halt außer man selbst, viel ehrlicher und können das viel eher beschreiben, manchmal. Und wenn dann die eigenen Aspekte und die von jemand anderen zusammen kommen und sie ähnlich sind, dann ist es irgendwie ein gutes Zeichen.“ (Donna WS4, 2394)
Im Austausch mit Freunden schöpft Donna Hoffnung bezüglich ihrer eigenen Zukunftsvorstellungen und scheint dabei immer wieder über den Wert dessen nachzudenken, was sie als Person auszeichnet. Auch Vera sieht in ihren Freunden die Möglichkeit der Perspektivenerweiterung im Kontext der Gestaltung ihrer zukünftigen Bildungslaufbahn (vgl. Vera WS5, 2072). Ähnlich wie Donna bezeichnet sie dabei die Fremdeinschätzung durch Kolleg*innen in Schule und Freizeit als besonders hilfreich und unterstützend im Nachdenken über sich selbst (vgl. Vera WS4, 2544). Aber auch sie verweist immer wieder auf Negativerfahrungen mit vermeintlichen Freunden, wie bspw. Mobbingerlebnisse, die aus ihrer Perspektive jedoch mit positiven Folgen im Kontext der Auseinandersetzung mit sich selbst einhergehen. Beispielsweise wurde ihr durch eine belastende Mobbingerfahrung erst bewusst, dass sie ihr eigenes Glück selbst in der Hand hat und die Entscheidung, was sie aus ihrem Leben machen will und welchen Weg sie dabei einschlagen wird, einzig und allein selbstbestimmt treffen muss (vgl. Vera WS3, 2401). Auch Anna, die sich grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Stellenwert von Freunden äußert und auf eine Reihe unglücklicher Erlebnisse mit Gleichaltrigen zurückblickt, wie bspw. auf den, dadurch bedingten, Schulwechsel in der Unterstufe, versteht das Feedback ihrer MitSchüler*innen als Stärkung für das eigene Selbstbewusstsein und als Anstoß über den zukünftigen Bildungsweg nachzudenken (vgl. Anna WS5, 2391). Trotz ihres sozialen Rückzugs merkt sie diesbezüglich im Clip „Peer als sicherheitsstiftendes Moment im Nachdenken über die eigene Zukunft“ an:
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
„Ich habe es ja nicht so mit Menschen (lachend). Aber es gibt schon ein, zwei Leute, wo ich weiß, die kennen mich und ich kenne sie. Und als Menschen gibt es ja, da ist schon Vertrauen, wenn sie zum Beispiel sagen, das passt oder das wäre was für dich. Und auch umgekehrt. So ist es auch viel leichter. Dann kann man besser nachdenken, beruflich aber auch allgemein für die Zukunft.“ (Anna WS4, 2542)
Jasmin bezeichnet ihren Freundeskreis als Austausch- und Kommunikationsmöglichkeit mit sinnstiftendem Charakter und bezieht sich dabei auf die Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Medizinstudium (vgl. Jasmin WS2, 3181). Erst durch den Anstoß von MitSchüler*innen und in Abgrenzung zu ihrer Familie entwickelte sie eine differenziertere Einstellung zum Studium und kann daher aus ihrer Perspektive eine weitaus realistischere Einschätzung darüber abgeben, was sie sich zukünftig wünscht und wie sie mit den Erwartungen von außen umgehen soll (vgl. Jasmin WS2, 1535 sowie Jasmin WS5, 1300). Für Martina ist die Peer der bedeutendste Einflussfaktor im Kontext der eigenen, beruflichen Zukunft (vgl. Martina WS4, 3021). Sie ist sich auch über den mehrdimensionalen Einfluss und die ambivalente Besetzung des Freundeskreises bewusst. Zum einen berichtet sie, dass die Anerkennung und Bewunderung durch die Peergruppe prospektive Folgen im Kontext der Anbahnung zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen zeitigt (vgl. Martina WS3, 2013). Zum anderen verweist sie aber auch auf Mobbingerfahrungen und Geschlechterkonflikte, die zwar mit Aggression und Ärger verbunden sind, sie allerdings motivieren, sich intensiver mit bestimmten Themenbereichen und möglichen Berufen auseinanderzusetzen (vgl. Martina WS3, 3210). An dieser Stelle sei kritisch angemerkt, dass alle Schüler*innen aus dem Projekt (und auch aus der Pilotstudie) auf Mobbingerfahrungen zurückblicken und mindestens einmal in ihrer Schullaufbahn Opfer von systematischer Ausgrenzung durch MitSchüler*innen waren. Insgesamt ist der Einfluss der Subkategorie „Peer und Freundeskreis“ auf die Konstitution emotionaler Bewertungen im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen besonders signifikant. Unabhängig der emotionalen Valenz hat die Gleichaltrigengruppe immer eine unterstützende Funktion in der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie. Wichtig ist es dabei lediglich im Blick zu behalten, dass es hier nicht so sehr um das Konzept Freundschaft geht, sondern um die subjektive Auseinandersetzung mit der mentalen Repräsentation der Vorstellungen und Konzepte von Personen gleichen Alters und Status. Somit kann auch die imaginierte Peergruppe repräsentativ für den Anstoß reflexiver Prozesse sein. Im Austausch mit Freunden eröffnet sich zudem die Möglichkeit das eigene Selbstbild kritisch in den Blick zu nehmen sowie über die eigenen
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
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Stärken und Schwächen bewusst nachzudenken. Darüber hinaus prägen positive und negative Rückmeldungen von Freunden einerseits bildungsentscheidungsrelevanten emotionalen Bewertungen und erlauben andererseits eine kritische Prüfung und gegebenenfalls notwendige Neubewertung konstitutiver emotionaler Markierungen. Diese zentrale Funktion des Freundeskreises als Spiegel seiner selbst ist allerdings weder intendiert noch wird sie als solche bewusst wahrgenommen, sondern vollzieht sich auf einer inzidentellen und latenten Ebene alltäglicher, sozialer Interaktionen. Das zweite Subthema, das für die Konstitution emotionaler Markierungen von zentraler Bedeutung ist und bei allen Schüler*innen die Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie prägt, betrifft die elterliche Einflussnahme. Die Subkategorie Eltern umfasst natürlich nicht nur Vater und Mutter, sondern bezieht sich im Allgemeinen auf den Einfluss der Erziehungsberechtigten. Da in EMOTISION allerdings alle Schüler*innen in einer traditionellen Familienstruktur sozialisiert wurden und auch in der Übergangsforschung die Kategorie Eltern begrifflich nicht weiter differenziert wird, erscheint eine so gefasste, simplifizierte Formulierung durchaus sinnvoll und ausreichend. Der zentrale Stellenwert der Eltern in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen spiegelt sich in allen Themenbereichen und Phasen der eigenen Bildungsbiografie wider. Besonders deutlich wird dies bereits an den traditionellen Bildungsübergängen bzw. den Statuspassagen im Kontext der bisherigen Bildungslaufbahn der Schüler*innen. Hier fungieren Eltern durch die bewusste Wahl der Bildungsinstitute als Weichensteller für den weiteren Bildungsweg. Am Übergang ins Jungendalter bzw. mit dem Wechsel in die Oberstufe kommt es allerdings in der Wahrnehmung der Schüler*innen zu einer vermeintlichen Autoritätsverschiebung der Entscheidungsträger*innen. Die meisten Schüler*innen trafen die Entscheidung die Oberstufe am selben Gymnasium zu absolvieren eigenständig oder im gegenseitigen Einverständnis mit den Eltern. In den Erzählungen der Schüler*innen wird dabei deutlich, dass mit näher rückendem Ende der regulären Schulzeit in der Oberstufe, sich auch die Beziehungsqualität und -dynamik zwischen Eltern und Kindern ändert. Dies ist jedoch nicht nur auf das Alter bzw. auf das absehbare Ende der Adoleszenz zurückzuführen, sondern steht in direktem Zusammenhang mit dem bevorstehenden Übergang in den tertiären Bildungssektor und der Anerkennung des damit einhergehenden Rollenwechsels. Für Paul ist die Wertschätzung der Eltern ein besonders wichtiges Thema. Das oft erlebte Desinteresse und die Gleichgültigkeit, die ihm seine Eltern bezüglich seiner schulischen Leistungen, seiner Interessen und Berufsvorstellungen entgegenbringen, lösen in ihm den Wunsch nach Anerkennung, Achtung und Lob aus (vgl. Paul WS3, 2270). Insgesamt scheint die Beziehung zu seinen Eltern
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
und besonders zu seinem Vater ambivalent besetzt zu sein. Dies spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Bildungslaufbahn wider. Zum einen berichtet er, dass bspw. das technische Interesse seines Vaters bereits früh ausschlaggebend für seine eigene Technikaffinität war (vgl. Paul WS1, 1270). Zum anderen lehnt er aber auch Berufsbilder oder Themengebiete aufgrund der Interessenslage und des beruflichen Alltags seines Vaters ab (vgl. Paul WS4, 0372). Ähnlich gestaltet sich auch die Einflussnahme der Eltern bei Mira. Ihr Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, der sich in ihrem Idealberuf der Trainerin widerspiegelt, sowie die Bereitschaft im Leben unterschiedliche Berufe zu durchlaufen, ist ein Ausdruck der kritischen Auseinandersetzung mit dem Lebenskonzept ihrer Eltern (vgl. Mira WS4, 3170). Sie ist sich allerdings über diesen Zusammenhang durchaus bewusst und betont, dass der berufliche Werdegang ihrer Eltern ihre eigenen Vorstellungen der Lebensgestaltung und –planung beeinflusst (vgl. Mira WS4, 3360). Demgegenüber fördern ihre Eltern ihre Selbstständigkeit innerhalb der eigenen Bildungslaufbahn und unterstützen sie bei all ihren Ambitionen (vgl. Mira WS3, 3233). In Elifs Leben nehmen die Kernfamilie und ihre Eltern eine besondere Bedeutung ein. Die Beziehung zu ihren Eltern ist von tiefer Dankbarkeit und Wertschätzung geprägt, auch wenn ihre bisherige Schullaufbahn durchaus problematisch verlaufen ist und sie in der Unterstufe schwere Konflikte mit ihren Eltern ausfechten musste (vgl. Elif WS2, 1060). Doch auch sie ist sich des Einflusses ihrer Eltern auf die eigene Lebensgestaltung bewusst und durchaus in der Lage diesen kritisch zu reflektieren (vgl. Elif WS2, 2085). Auch wenn sie ihre Berufsvorstellungen und insbesondere den Wunsch Lehrerin zu werden in Abgrenzung zu den elterlichen Bedürfnissen und Wünschen stehend begreift, betont sie den positiven Einfluss von Mutter und Vater im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn (vgl. Elif WS1, 0581). Ohne die intensive Beziehung zu ihren Eltern bzw. die positive Beziehung innerhalb ihrer Familie hätte sie bereits vor einigen Jahren einen anderen Bildungsweg eingeschlagen bzw. das Gymnasium verlassen. Auch Nora versteht ihre Eltern als einen zentralen Einflussfaktor im Kontext ihrer bisherigen Bildungslaufbahn und ist sich der zentralen Bedeutung ihrer Eltern im Hinblick auf bisherige Bildungslaufbahnentscheidungen bewusst (vgl. Nora WS3, 0220). Gleichzeitig ist die Beziehung zu ihren Eltern, und besonders zu ihrem Vater, äußerst ambivalent besetzt. Das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater ermöglicht es ihr nicht, ihn als Vorbild im Kontext der eigenen Lebensplanung anzuerkennen (vgl. Nora WS3, 3213). Sie wünscht sich zwar eine intensivere Beziehung zu ihm und beklagt die fehlende Wertschätzung, gleichzeitig scheint sie den Konflikt zu suchen und ihr Selbstkonzept daran zu orientieren (vgl. Nora WS2, 2052). So lässt sich ihr Interesse an Geschichte einerseits auf ihren Vater (und seine Interessen) zurückführen, andererseits werden der Vater
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
233
und seine Ratschläge bezüglich der zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidungen kategorisch abgelehnt (vgl. Nora WS5, 0390). Diese ambivalente Haltung zeigt sich auch bei Sarah. Für sie ist die väterliche Zuwendung und Liebe explizit ein zentrales Moment im Kontext des eigenen Wohlbefindens (vgl. Sarah WS1, 1031). Der tägliche Austausch mit und die emotionale Zuwendung durch ihren Vater sind für Sarah eine Voraussetzung ihren Alltag zu bewältigen. Demgegenüber beklagt sie allerdings den negativen Einfluss ihrer Eltern auf ihre eigene Lernleistung und ihre zukünftige Bildungslaufbahn (vgl. Sarah WS3, 3390). Sie wünscht sich frei und eigenständig eine Berufswahl treffen zu können und kritisiert, dass ihre Eltern sie diesbezüglich zu wenig unterstützen, obwohl ihr Berufswunsch im sozialen Bereich zu arbeiten und ihre Zukunftsvorstellungen stark durch die elterliche Einflussnahme und ihre Wertvorstellungen geprägt sind. Sie ist hin und hergerissen, zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und dem Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Eltern (vgl. Sarah WS5, 1406). Dies zeigt sich besonders im Clip „Eltern als negativer Einfluss im Nachdenken über die eigene Zukunft (Angst)“: „Einfach was ich will (stöhnt). Dann würde ich mich frei und unabhängig fühlen. Aber das ist eine große Angst, wenn meine Familie mir das in der Zukunft wegnimmt. Also zum Beispiel, wenn meine Eltern das nicht akzeptieren, was ich machen werde, weil sie andere Wünsche haben. Und ich mag sie, wirklich (lacht). Aber es ist ja meine Zukunft.“ (Sarah WS5, 0403)
Julia sieht in der Entscheidungshoheit ihrer Eltern im Kontext bisheriger Bildungslaufbahnentscheidungen ein Fehlen von Autonomie und beklagt das Abhängigkeitserleben durch die Fremdentscheidung ihrer Eltern (vgl. Julia WS3, 0371). Sie versteht die elterliche Einflussnahme als kontinuierlichen Begleiter in der eigenen Bildungsbiografie (vgl. Julia WS3, 1502). Einerseits wünscht sie sich mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung durch ihre Eltern, andererseits beklagt auch sie, dass die elterliche Zuwendung im Kontext der eigenen Bildungsambitionen und der zukünftigen Bildungslaufbahn eine Belastung für sie darstellt (vgl. Julia WS3, 0384). Ihre ambivalente Einstellung gegenüber den Eltern, die sie mit den anderen Schüler*innen teilt, wird besonders im Clip „Bildungslaufbahnbezogene Diskussionen mit dem Vater als belastende Situation“ deutlich: „Dann das Zweite, das ist das einzig schlechte. Also das ist ähnlich wie mit der Nora und was die Martina letztes Mal gesagt hat und zwar, dass das meinen Vater darstellen soll, das bin eben ich und er ist einfach extrem stur und jedes Mal, wenn wir eben irgendwie normal reden oder diskutieren endet das in irgendeinem Streit, beziehungsweise oft so, dass wir wegen irgendeiner Kleinigkeit sofort streiten oder
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irgendwas an dem anderen kritisieren und das ist halt nicht so schön, weil es auch nicht selten ist oder so etwas und sozusagen die einzige negative Sache, die ich da drauf habe, weil das öfters passiert, weil man halt trotzdem irgendwie angespannt ist.“ (Julia WS2, 2201)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der elterliche Einfluss im Kontext der eigenen Bildungsbiografie besonders hervorgehoben werden muss. Die Schüler*innen wünschen sich durchgängig eine intensive und wohlwollende Beziehung zu den Eltern, müssen allerdings gleichzeitig viele der elterlichen Wertvorstellungen und Lebensentwürfe ablehnen, um ihr eigenes Selbstbild zu festigen. Dies wiederum führt zu dauerhaften Konflikten und einer stark ambivalent besetzten Beziehungskonstellation. Dementsprechend werden die Beziehungen als problematisch und konfliktbehaftet erlebt. Auch wenn an manchen Stellen die Beziehung zu den Vätern oder aber Müttern als besonders problematisch erlebt wird, scheint das Stimmungsbild „Eltern“ in der emotionalen Bewertung diese Differenz nicht mehr zu berücksichtigen. Dies gilt auch für Schüler*innen aus Scheidungsfamilien. Zudem nehmen die Schüler*innen die Eltern nicht als Unterstützungsangebot im Hinblick auf den bevorstehenden Übergang und die damit einhergehende Bildungslaufbahnentscheidung wahr. Im Gegenteil; im Erleben der Schüler*innen gibt es in der Familie weder ausreichend Zeit, noch den geeigneten Ort, um über die bevorstehende Bildungsentscheidung nachzudenken. Das Bedürfnis sich gegenüber den Eltern abzugrenzen und einen eigenen Lebensentwurf zu skizzieren, scheint eine identitätsstiftende Funktion zu erfüllen und somit eine notwendige Voraussetzung am Übergang in den tertiären Bildungssektor zu sein. Der elterliche Einfluss hat also, unabhängig der Intention im Vergleich zu der Einflussnahme des Freundeskreises, einen negativ verstärkenden Effekt auf die Bildungslaufbahnentscheidung der Schüler*innen. Paul verdeutlicht dies im Clip „Unterstützung bei Reflexion über Bildungslaufbahnentscheidung durch Freunde (nicht durch Eltern)“ folgendermaßen: „Und zum Beispiel meine Eltern denken sich, ok, was ist wie, könnten sich zum Beispiel denken, ok, wie bringe ich jetzt mein Kind dazu, ähm, etwas zu studieren, zu studieren, wo es eh einen Job kriegt. Ja, wenn ich jetzt zum Beispiel denke, ähm, mein Sohn würde gerne Musik studieren, dabei wäre ähm Betriebswissenschaft ein viel sichereres Studium für meinen, für mein Kind, deshalb will ich dass es Betriebswissenschaft studiert. Und deshalb ist der Freund vielleicht etwas, ähm, besser in dieser, ähm, subjektiven Meinung des, für unser Selbst, und darin zu unterstützen.“ (Paul WS3, 3285)
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
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Eine weitere Subkategorie, die einen signifikanten Einfluss auf die Konstitution der emotionalen Markierungen der Schüler*innen hat, ist die Konkrete Lehrperson. In Abgrenzung zum Schulfach, zu den Schulnoten und zum Unterrichtsstil bzw. zum didaktischen Vorgehen wird die Lehrperson als personalisierter Einflussfaktor verstanden. Besonders hervorzuheben im Kontext der Einflussnahme durch Lehrer*innen sind zum einen die individuellen und durchaus heterogenen Erfahrungen der Schüler*innen. Dies betrifft bspw. gänzlich unterschiedliche Erlebnisse der Schüler*innen mit derselben Lehrperson im selben Schuljahr und Fach. Zum anderen verdeutlichen die einzelnen Aussagen der Schüler*innen, dass im Kontext der Einflussnahme durch Lehrer*innen in erster Linie die spezifische, interindividuelle Beziehungsebene zwischen Lehrperson und Schüler*in im Mittelpunkt des Nachdenkens über die eigene Bildungsbiografie steht. Erst im reziproken Zusammenspiel des Heterogenitätsaspekts und der subjektiven Beziehungsebene lassen sich die Aussagen der Schüler*innen interpretativ nachvollziehen: Für Donna sind Lehrer*innen ein Motivator und Antrieb im eigenen Leben etwas erreichen zu wollen. In ihrer bisherigen Schullaufbahn erlebte sie Lehrpersonen durchgängig negativ (vgl. Donna WS5, 3244). Ausschlaggebend und gleichzeitig repräsentativ für ihre grundlegend ablehnende Haltung gegenüber Lehrer*innen ist eine Erfahrung mit ihrer Volksschullehrerin, die sie auf alle gegenwärtigen Beziehungskonstellationen mit Lehrpersonen überträgt (vgl. Donna WS3, 1330 sowie Donna WS5, 1342). Diese Diskriminierungserfahrung, bei der sie im Kontext eines öffentlichen Interviews aufgrund ihres Migrationshintergrunds von der Volksschullehrerin mit Absicht ausgelassen wurde, erfüllt sie nach wie vor mit Wut und Aggression und wird von ihr als prägend für ihr gesamtes Leben und im Besonderen für ihre Einstellung gegenüber Lehrpersonen, Schule und Unterricht bezeichnet (vgl. Donna WS3, 3305). Im Clip „Verhalten der Lehrperson als Antrieb für Verbesserung der Deutschkenntnisse“ wird dies besonders deutlich: „Und seitdem habe ich mich immer bemüht so gut wie möglich Deutsch zu sprechen und auch Wörter zu benutzen die man sonst im Alltag halt nicht benutzt und ich weiß nicht ich glaube die Lehrerin hatte irgendetwas gegen Kinder mit Migrationshintergrund.“ (Donna WS3, 1324)
Auch für Vera haben Lehrpersonen eine Motivationsfunktion. Sie erzählt, dass ihre Englischlehrerin ein zentraler Einflussfaktor für ihre Begeisterung gegenüber Sprachen sei und sie motiviere in Englisch besser zu werden (vgl. Vera WS5, 1193 sowie Vera WS3, 2451). Dabei geht es ihr allerdings nicht so sehr um
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den Unterricht, den sie als mittelmäßig bezeichnet, sondern um die Person der Lehrerin und die persönliche Beziehung zu ihr. Gleiches gilt für ihre Deutschlehrerin; auch die Beziehung zu ihr hebt sie positiv hervor und bezeichnet sie als weibliches Rollenvorbild, zur Identifikation und Abgrenzung gleichermaßen (vgl. Vera WS2, 1120). Zudem gesteht sie ein, dass sie sich in vielen Bereichen lediglich aufgrund der Inspiration durch diese Lehrerin engagiert. Insgesamt scheinen Lehrer*innen für Vera die spezifische Leistungsmotivation in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen zu erhöhen (vgl. Vera WS5, 2594 und 3003). Für Anna ist der Mathematikunterricht aufgrund der Lehrperson positiv konnotiert, auch wenn sie selbst kein Interesse an Mathematik hat (vgl. Anna WS5, 1271). Sie bezeichnet die Beziehung zur Lehrerin als wesentlich für ihre Motivation, sich im Fach mehr anzustrengen (vgl. Anna WS2, 2532). Die Lehrerin empfindet sie dabei als sicherheitsstiftendes Moment in ihren, sonst doch recht komplizierten, Beziehungskonstellationen in der Schule und verweist explizit auf die Identifikation mit der Person in Abgrenzung zum Gegenstand. Doch wie bereits bei Vera und Donna sieht auch sie keine direkte Verbindung zu ihren beruflichen Ambitionen. Vielmehr scheint die Beziehung zur Lehrperson auch hier die spezifische Leistungsbereitschaft zu erhöhen (vgl. Anna WS5, 3085). Jasmin bezeichnet demgegenüber den Austausch mit Lehrer*innen als Hilfestellung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Jasmin WS5, 3230). Als Beispiele nennt sie sowohl konflikthafte Situationen aufgrund rassistisch anmutender Tendenzen mit zwei konkreten Lehrpersonen als auch positive Beziehungserfahrungen und konstruktive Auseinandersetzungen (vgl. Jasmin WS5, 1305). Dabei scheint auch bei ihr das Fach bzw. der Gegenstand eher eine nebensächliche Bedeutung zu haben. Wichtiger hingegen ist für Jasmin die motivierende Funktion, sich im Kontext spezifischer Beziehungskonstellationen mit Lehrpersonen besonders zu engagieren, seien es positive oder negative Beziehungserfahrungen (vgl. Jasmin WS3, 3345). Die Ausführungen der Schüler*innen machen deutlich, dass „konkrete Lehrpersonen“ in der eigenen Bildungsbiografie eine zentrale Rolle spielen. Allerdings geht es primär um das subjektive Erleben des Beziehungsangebots und um die anfänglich nicht-bewusste relationale Interaktion und Übertragung der Schüler*innen. Unabhängig der Valenz der jeweiligen emotionalen Bewertung führt die Person der Lehrer*in, im Gegensatz zum Unterrichtsgegenstand, zum didaktischen Vorgehen oder der konkreten Beurteilung, vorrangig zu einer gesteigerten, spezifischen Motivationsbereitschaft. Besonders negative Erfahrungen mit Lehrer*innen scheinen die Motivation der Schüler*innen für einen bestimmten Gegenstand oder ein Schulfach zu befördern. Dennoch ist der Einfluss der Lehrpersonen auf die eigene Bildungslaufbahn und diesbezügliche
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Entscheidungen nicht so eindeutig respektive linear, wie zuvor im Kontext der Eltern und Peers. Lehrpersonen scheinen, insbesondere wo die Abgrenzung zu den Eltern dies nicht mehr ermöglicht, den Schüler*innen als spezifische Rollenbilder (oder seltener auch als Vorbilder) zu fungieren. Lehrpersonen unterstützen somit die Persönlichkeitsentwicklung: Durch Abgrenzung und/oder Identifikation mit den Wertvorstellungen und Normen sowie der jeweiligen Lebensgestaltung der Lehrer*innen, seien sie real oder imaginiert, können die Schüler*innen ihr eigenes Selbstbild stärken und werden durch die subjektive Wahrnehmung des spezifischen, negativ oder positiv konnotierten Beziehungsangebots darin motiviert. In den meisten Fällen gehen dabei Abgrenzung und Identifikation Hand in Hand. Ähnlich der elterlichen Einflussnahme, wenn auch nicht im selben Ausmaß, haben auch Lehrpersonen einen negativ verstärkenden Effekt auf die bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen, da die im Vordergrund stehende, performative Beziehungsebene eine Neubewertung oder kritische Reflexion der emotionalen Markierungen erschwert. Bei der vierten, hier besonders hervorzuhebenden Subkategorie handelt es sich im Vergleich zu den Peers, Eltern und Lehrpersonen um einen selbstreferentiellen Einflussfaktor, der in seiner Wirkmächtigkeit, Vielschichtigkeit und subjektiven Bedeutung besonderer Aufmerksamkeit bedarf: gemeint ist das Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Auch wenn diese Kategorie begrifflich deduktiv anmuten mag, wurde sie als eine der ersten Subthemen induktiv bestimmt und bereits im Anschluss an den ersten Kodierdurchgang mit mehreren Ankerbeispielen belegt, noch bevor ersichtlich wurde, wie signifikant das Thema für den gesamten Forschungsprozess sein würde. Inhaltlich kann dieses Subthema verstanden werden als das positiv konnotierte Erleben von sich selbst als Person, die in der Lage ist, Herausforderungen und Schwierigkeiten eigenständig zu bewältigen oder aber sich in unvertrauten bzw. neuen und somit herausfordernden Situationen als kompetent und wertvoll zu erleben. D. h. es geht hier nicht um die Erwartung oder Überzeugung der Selbstwirksamkeit, sondern um die positive Erfahrung, etwas selbstständig und aus eigenen Stücken geschafft zu haben, unabhängig davon, ob die erbrachte Leistung tatsächlich dieses Erleben rechtfertigt. Innerhalb des Kategoriensystems der Einflussfaktoren findet sich hierzu auch ein thematisches Gegenstück, das „Erleben von Handlungsunfähigkeit, Inkompetenz und Selbstunwirksamkeit“, das allerdings aus der Perspektive der Schüler*innen im Hinblick auf die eigene Bildungslaufbahn keine signifikante Bedeutung hat. Demgegenüber muss das Kompetenzerleben als einer der wichtigsten Einflussfaktoren innerhalb der Bildungsbiografie der Schüler*innen verstanden werden:
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Jasmin berichtet immer wieder von der Überwindung subjektiver Herausforderungen im Kontext ihrer eigenen Bildungslaufbahn, die für sie richtungsweisend im Hinblick auf die Konstitution zukunftsorientierter Vorstellungsbilder sind. Bereits in der Grundschulzeit war das Erleben von Selbstständigkeit im Sinne von Selbstkompetenz ein zentraler Einflussfaktor für ihre positive Haltung gegenüber Schule und Unterricht (vgl. Jasmin WS2, 1121). Zudem verweist sie auf das positive Erleben von Selbstengagement während der Schulzeit und die damit einhergehende, erhöhte Hilfsbereitschaft gegenüber MitSchüler*innen und ihrer Familie (vgl. Jasmin WS5, 1323). Im Kontext ihres Berufswunsches, erzählt sie von einer Reihe an Erfahrungen, in denen sie sich als handlungsfähig und kompetent erleben konnte und die für ihren Wunsch Ärztin zu werden mitunter ausschlaggebend waren. Neben mehreren Erlebnissen in der Schule, in denen sie ihre Angst gegenüber Blut überwinden und dadurch SchulKolleg*innen die Hilfestellung geben konnte, die sie benötigten (vgl. Jasmin WS4, 1340 sowie Jasmin WS3, 2365) ist ein Erlebnis aus ihrer Perspektive besonders hervorzuheben: Dabei musste sie im Rahmen einer notfallmedizinischen Intervention einer Ärztin in der Öffentlichkeit Hilfestellung leisten, indem sie ihr beim Anlegen eines Wundverbandes half (vgl. Jasmin WS4, 3145). Immer wieder bezieht sich Jasmin auf diese Erfahrung und wie stark und wertvoll sie sich dabei gefühlt habe. Dieses Erleben von Handlungsfähigkeit steigert nicht nur ihr Selbstvertrauen, sondern auch ihre allgemeine Leistungsbereitschaft. Auch bei Renate lässt kein anderer Einflussfaktor so direkte Rückschlüsse auf ihre Berufsambitionen und Interessengebiete zu, wie das eigene Kompetenzerleben. Ihr Interesse an Sprachen, das sich im Studienwunsch der Deutschen Philologie und Romanistik widerspiegelt, wurde schon sehr früh durch das Schreiben geweckt. Bereits im Kindergarten lernte sie schreiben und lesen und verfasste mitunter Briefe an Freunde und Eltern, wobei sie sich dabei als besonders kompetent erlebte (vgl. Renate WS5, 1223). Im weiteren Schulverlauf wurde das Schreiben zu einer zentralen Tätigkeit, bei der sie das Gefühl hatte einen wertvollen Beitrag leisten zu können und von ihrem Umfeld ernst genommen zu werden (vgl. Renate WS3, 1374). Für Renate ist das Kompetenzerleben im Allgemeinen und das Wissen im Schreiben und im sprachlichen Ausdruck gut zu sein, ein zentraler Indikator für das persönliche Glück (vgl. Renate WS1, 0300). Für Martina ist das Erleben von Handlungsfähigkeit besonders im Hinblick auf ihr Selbstkonzept bzw. ihre Selbstwahrnehmung ein prägender Einflussfaktor. Immer wieder bezieht sie sich auf Erlebnisse, die ihr halfen, ihre Unsicherheit und Schüchternheit zu überwinden und sich selbst als wertvoll und kompetent zu erleben, insbesondere im Hinblick auf negative Erfahrungen mit anderen MitSchüler*innen. Besonders die eigenständige und erfolgreiche Bewältigung eines frühen Auslandssemesters
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halfen ihr dabei, ihre selbstkritische Haltung abzulegen (vgl. Martina WS3, 2021 sowie Martina WS5, 0195). Auch bei der erfolgreichen Unterstützung und Hilfestellung bei schulischen Problemen ihrer MitSchüler*innen erlebte sie sich als besonders wertvoll und kompetent (vgl. Martina WS3, 2064). Gleiches gilt für die eigenen schulischen Leistungen und das Erreichen persönlicher Ziele. Im Clip „Erleben von Handlungsfähigkeit (Mathematik) steigert die eigene Selbstsicherheit“ wird dies besonders deutlich: „Mein größter Erfolg (…), was mir jetzt da als Erstes eingefallen ist, dass ich, ich hatte mal auf eine Mathe Schularbeit eine fünf und ich habe mich dann wirklich echt angestrengt für die nächste und hatte dann eine eins und da, daran habe ich mich jetzt erinnert, aber es ging jetzt nicht um die Note oder so, sondern dass ich das eben geschafft habe. Von da an war das für mich in der Schule einfach anders.“ (Martina WS5, 0230)
Diese Kompetenzerlebnisse ermöglichen es Martina erst, eigenständig Entscheidungen zu treffen und einen eigenen Plan für ihren zukünftigen Bildungsweg zu entwerfen (vgl. Martina WS5, 0332). Paul, der sich mehr oder weniger als Autodidakt versteht, bezieht sich in seinen bildungsentscheidungsrelevanten Bewertungen immer auf die Notwendigkeit des Erlebens von Handlungsfähigkeit. Sein Technikinteresse wurde bereits früh durch mehrere Erfahrungen, in denen er eigenständig etwas zusammenbaute oder konzipierte, geweckt (vgl. Paul WS3, 3422). Zudem berichtet er, dass sich sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fächern oft erst dann entwickelt hat, wenn er sich selbstständig bzw. im Eigenstudium die Inhalte angeeignet hat, worauf er besonders stolz ist (vgl. Paul WS5, 1434). Auch sein Interesse an Mathematik führt er auf das frühe, diesbezügliche Erleben von Handlungsfähigkeit zurück (vgl. Paul WS5, 1404). Auch für Mira ist das Gefühl sich selbst als kompetent und handlungsfähig zu erleben, eine treibende Kraft in der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie. Für sie sind es besonders die kleinen Erfolge, die sie bewusst reflektiert und auf die sie sehr stolz ist (vgl. Mira WS4, 0352). Dabei geht es bei ihr zum einen um die erfolgreiche Selbstinszenierung, bspw. in Theateraufführungen oder aber in Streitgesprächen mit MitSchüler*innen (vgl. Mira WS3, 2335). Zum anderen sind es aber auch eigenständig bewältigte, schulische Erfolge die im Allgemeinen ihrer Leistungsbereitschaft steigern (vgl. Mira WS3, 3230). Im Clip „Stolz auf intrinsischen Ehrgeiz zu lernen bedingt durch das Erleben von Handlungsfähigkeit“ führt Mira hierzu aus:
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„Und meine Eltern haben auch gar nichts gesagt, ich habe das irgendwie selber, ich war dann selbst so stolz auf mich und habe das so, und auch jetzt habe ich noch so einen Ehrgeiz.“ (Mira WS3, 2384)
Ähnlich wie zuvor bei Renate, steigert in Miras Verständnis das Kompetenzerleben in unterschiedlichen Bereichen ihres Alltags ihre allgemeine Zuversicht im Hinblick auf die bevorstehende Zukunft (vgl. Mira WS2, 0224). Aber auch im Kontext ihres Berufswunsches im Trainings- und Coachingbereich bezieht sie sich immer wieder auf Erfahrungen, in denen sie bereits erleben konnte, dass sie in der Lage ist, andere Personen zu motivieren und zu unterstützen, und zwar unabhängig von der Erfahrung, dass sie daran auch großen Spaß hat (vgl. Mira WS4, 3270). Elif, die in ihrer Bildungslaufbahn aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und ausbleibenden, schulischen Leistungen bereits größere Schwierigkeiten hatte, bezeichnet das Erleben von Kompetenz und Selbstwirksamkeit als besonders relevant für ihr eigenes Selbstbild. Repräsentativ hierfür ist der Clip „Selbstwirksamkeitserleben in Latein geht mit Stolz und gesteigertem Selbstwertgefühl einher“, indem Elif sehr emotional über ihre subjektiv empfundene Leistungssteigerung spricht: „Ja und dann hatten wir halt Latein und so und mit Latein wurde ich irgendwie mehr motiviert zu lernen, weil ich dann gesehen habe, dass ich doch etwas kann und es eigentlich nicht an mir liegt, gelegen ist.“ (Elif WS3, 1572)
Als größten Erfolg in ihrem Leben, auf den sie besonders stolz ist, nennt sie den Aufstieg in die Oberstufe und den positiven Bescheid der Nachprüfung (vgl. Elif WS5, 0374). Diese und weitere Erfahrungen, in denen sie eigenständig eine Leistung erbringen musste, von der in ihrer subjektiven Vorstellung die eigene Zukunft abhängt (vgl. Elif WS3, 2152), ermöglichen es ihr, sich selbst zu akzeptieren und stolz auf sich und die eigene Bildungslaufbahn zu sein. Gleichzeitig verweisen sie auf ihren Wunsch Lehrerin zu werden und anderen dabei auch solche Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Elif WS5, 3095). Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass das „Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit“ bei allen Schüler*innen einen entscheidenden Einflussfaktor für die Konstitution emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn darstellt. Dieses Erleben, von sich selbst als kompetente und wertvolle Person, die aus eigenen Stücken in der Lage ist, Herausforderungen zu bewältigen, geht immer mit Stolz einher und steigert dadurch die eigene Selbstsicherheit. Besonders relevant ist dabei die Tatsache, dass diese positiven Effekte gänzlich unabhängig
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vom Gegenstand respektive vom thematischen Kontext in Erscheinung treten. D. h., dass sich bspw. ein Kompetenzerleben in einem bestimmten Schulfach gleichzeitig auf die Leistung und Selbsteinschätzung in anderen Fächern auswirkt, da die Selbstwirksamkeit die allgemeine Motivation und Leistungsbereitschaft steigert und einen direkten Einfluss auf das eigene Selbstkonzept hat. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass das Kompetenzerleben auch die Selbstregulation der Schüler*innen und die damit verbundenen Lernstrategien verbessert. Ebenso wird in den Erzählungen der Schüler*innen deutlich, dass das Selbstwirksamkeitserleben einen zentralen Einfluss auf den Übergang zwischen Schule und Hochschule respektive auf den Übergang ins junge Erwachsenenalter nimmt, da die Vorstellung von sich und der sozialen Umwelt als kompetente Person wahrgenommen zu werden, auch das Gefühl von Selbstständigkeit bzw. Erwachsensein verstärkt. Somit wirkt das Kompetenzerleben der Angst und Unsicherheit vor dem bevorstehenden Übergang entgegen und ermöglicht eine prospektive Einstellung gegenüber der unmittelbaren Zukunft. Abschließend sei hier noch angemerkt, dass in den Erzählungen der Schüler*innen über das eigene Kompetenzerleben, sei es in Schule und Unterricht oder aber im privaten Umfeld, das Verhalten und die Reaktionen in den Workshops mitunter in der emotionalen Intensität stärker waren, als bspw. im Kontext von Mobbingerfahrungen oder anderen belastenden Situationen in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen. Dies verdeutlicht abermals die signifikante Bedeutung, sich selbst im Kontext der eigenen Bildungsbiografie als wertvoll, wirkmächtig und kompetent zu erleben. Eine außergewöhnliche und besonders hervorzuhebende Stellung innerhalb der Einflussfaktoren nimmt die Subkategorie Schulische Anforderungen und Pflichten ein. Gemeint sind damit all jene Anforderungen, mit denen sich die Schüler*innen im Rahmen ihrer Schullaufbahn auseinandersetzen müssen, wie bspw. Prüfungs- und Schularbeitsvorbereitungen, Hausübungen, Mitarbeit, Gruppenarbeiten, Recherche etc. Außergewöhnlich ist diese Kategorie aufgrund ihrer durgängig negativen Konnotation in der Wahrnehmung der Schüler*innen. In keiner anderen Subkategorie wird die negative, emotionale Bewertung so deutlich, wie im Kontext schulischer Anforderungen. Der ergänzenden Subkategorie der Gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüche hingegen muss aus der Perspektive der Schüler*innen eher eine untergeordnete Bedeutung beigemessen werden. Besonders heikel im Kontext „Schulischer Anforderungen und Pflichten“ ist die Tatsache, dass unabhängig der Leistungsbereitschaft und des Bewältigungspotentials der Schüler*innen, jene immer negativ assoziiert sind und als äußerst belastend erlebt werden (vgl. Sarah WS2, 3013; Julia WS5, 0275; Donna WS3, 0203; Vera WS2, 0286; Anna WS3, 1301; Jasmin WS2,
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
2390; Renate WS4, 0292; Martina WS1, 1111; Paul WS5, 0243; Mira WS5, 0252; Elif WS2, 0251; Nora WS1, 0325 etc.). D. h. selbst von Schüler*innen, die keinerlei Schwierigkeiten in der Bewältigung schulischer Anforderungen haben bzw. schulische Herausforderungen mit Leichtigkeit meistern, werden diese Anforderungen und Pflichten als eine große Belastung in der eigenen Lebenswirklichkeit erlebt. Dementsprechend verbinden alle Schüler*innen die schulischen Anforderungen mit Stress, Frustration, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Wut und/oder Aggression. Im nachfolgenden Kapitel wird dies besonders im Kontext der negativen Emotionen deutlich. Dieses negative Erleben und Bewerten liegt in erster Linie an dem kontinuierlichen Stressniveau der Schüler*innen, das insbesondere in der Oberstufe des Gymnasiums nicht abzureißen scheint. So berichten alle Schüler*innen, unabhängig vom individuellen Leistungsniveau, von einem Gefühl permanenter Überforderung. Exemplarisch sei hier Julia zitiert, deren Aussage im Clip „Permanente hohe schulische Anforderungen wirken überfordernd (Stress)“ von allen anderen Schüler*innen aufgegriffen und mit Beispielen belegt wurde: „Aber es ist einfach, kommt mir vor, bei uns doppelt so stressig, weil wir einfach wirklich, und das glaubt niemand, dem man das erzählt, schon durchgehend, von ab wann die Schularbeiten oder Tests beginnen, durchgehend, manchmal sogar zwei in einer Woche, aber IMMER, man hat dann da wenn das aus ist sofort das nächste (macht mit ihrer Hand Spalten, wie in einem Terminkalender) und wenn man eine Woche für Sachen lernt, dann lernt man durchgehend.“ (Julia WS3, 3261)
Dieser Dauerstress erhöht zwar die spezifische Leistungsmotivation, bspw. die Bereitschaft in der Nacht für eine Zulassungsschularbeit zu lernen oder einen Geburtstag wegen der Lateinschularbeit nicht zu feiern, führt aber gleichzeitig bei kontinuierlicher Wahrnehmung zu Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit und vermindert so die allgemeine Leistungsbereitschaft. Dementsprechend – und hierbei sind sich alle Schüler*innen einig – reduziert dieses permanente Gefühl der Anspannung das subjektive Wohlbefinden und steigert die eigene Vulnerabilität. Die kurzfristigen Folgen sind Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, die langfristigen Folgen hingegen könnten eine grundlegende Abneigung gegenüber der eigenen Bildungsbedürftigkeit und der zukünftigen Bildungsaspiration sowie eine kritisch-ablehnende Haltung gegenüber Schule und Unterricht sein. Somit nehmen schulische Anforderungen sehr wohl einen indirekten Einfluss auf die eigene Bildungsbiografie, der sich allerdings vorrangig als hemmend und negativ erweist.
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
243
Wie bereits in der Darstellung der Einflussnahme der Lehrpersonen deutlich wurde, spielen die Einflussfaktoren Schulnoten und Zeugnisnoten sowie Unterrichtsstil und didaktisches Vorgehen im Vergleich zu den vier zentralen Subkategorien dieses Themenfeldes eher eine untergeordnete Rolle für die Entstehung emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn. Im Gegensatz zu den Schulnoten und dem Unterrichtsstil scheint allerdings die Subkategorie Schulfach und Unterrichtsgegenstand in der Interpretation der Ausführungen der Schüler*innen sehr wohl die Entstehung emotionaler Bewertungen im Hinblick auf die eigene Bildungsbiografie sowie auf zukünftige Bildungslaufbahnentscheidungen zu beeinflussen. Besonders selbstreflexive Prozesse werden durch die intensive Beschäftigung mit einem bestimmten Schulfach angestoßen. So berichten die Schüler*innen, dass durch die bewusste und intensive Auseinandersetzung mit einem bestimmten Unterrichtsgegenstand, aufgrund der subjektiven Bedeutung, die dieser Gegenstand in einer bestimmten Phase der Bildungslaufbahn für sie einnimmt, in erster Linie eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst stattfindet. In den meisten Fällen sind diese reflexiven Prozesse der Tatsache geschuldet, dass die Auseinandersetzung freiwillig stattfindet und intrinsisch motiviert ist, bspw. im Rahmen der vorwissenschaftlichen Arbeit für die Matura. Dementsprechend geht es hier nicht um das Bewältigen schulischer Anforderungen und Pflichten, sondern um die persönliche und als privat erlebte Annäherung an ein, von der Lehrperson und dem didaktischen Vorgehen unabhängiges, Unterrichtsfach. Es verwundert daher auch nicht, dass bestimmte Schulfächer, neben dem primären, sozialen Umfeld und dem Kompetenzerleben einen additiven Einfluss auf die emotionale Bewertung von spezifischen, zukunftsorientierten Vorstellungsbildern nehmen. Insbesondere beeinflusst das Schulfach die emotionale Bewertung spezifischer Gegenstandsbereiche und Interessengebiete. Allerdings lässt sich hier kein direkter Zusammenhang herstellen, vielmehr eröffnet der Einflussfaktor „Schulfach und Unterrichtsgegenstand“ selbstreflexive Prozesse respektive die Möglichkeit „sich selbst als Person besser kennen zu lernen“ (vgl. bspw. Elif WS5, 3343; Paul WS1, 1224; Martina WS5, 3112; Renate WS5, 3470) und kann somit als Anstoß verstanden werden, über die eigene Bildungslaufbahn nachzudenken und sich darüber, bspw. mit der Peergruppe, den Eltern oder Lehrpersonen, im Sinne eines erweiterten Problembewusstseins auszutauschen. Einen direkten Einfluss auf die Konstitution emotionaler Markierungen nehmen, wenn auch in einem geringeren Ausmaß, die Außerschulischen Schlüsselerlebnisse und prägenden Erfahrungen der Schüler*innen. Hierzu zählen vor allem Todesfälle und schwere Krankheiten in der Familie und im sozialen Umfeld, traumatische Erfahrungen wie bspw. Unfälle oder Gewalterfahrungen,
244
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
prägende Auslandsreisen und Erfahrungen des Alleinseins. Solche Erfahrungen werden von allen Schüler*innen berichtet und sind höchst emotional besetzt. Allerdings prägen diese Schlüsselmomente vorrangig die moralische Haltung der Schüler*innen und führen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, Normen und Konventionen (vgl. bspw. Elif WS3, 2081; Julia WS1, 1065; Donna WS3, 1324; Vera WS3, 2453; Anna WS5, 0432). In den Workshops wurde dabei besonders deutlich, wie wichtig und hilfreich die Kommunikation über solch prägende Erfahrungen ist und wie sehr die Schüler*innen von der Einsicht profitieren, dass auch andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Der Einfluss außerschulischer Schlüsselmomente auf die Bildungsbiografie kann hingegen eher als ein verstärkender Effekt verstanden werden; durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen werden auch die zukunftsorientierten Vorstellungsbilder reflektiert und in den meisten Fällen kommt es zu einer erneuten Differenzierung bestehender Interessen und Abneigungen und somit zu einer klareren Vorstellung darüber, wer man in Zukunft möglicherweise zu sein beansprucht. Keinen signifikanten Einfluss auf die Konstitution emotionaler Markierungen nehmen die restlichen personalisierten Einflussfaktoren. So scheinen Fremde und unbekannte Personen sowie Bekannte Personen im Umfeld keinen hohen Stellenwert für die Bildungslaufbahn der Schüler*innen zu haben. Ebenso ist den Geschwistern sowie der Verwandtschaft und erweiterten Familie eher eine vernachlässigbare Rolle im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn zuzuschreiben, auch wenn sie im Kontext bisheriger Bildungslaufbahnentscheidungen, insbesondere am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I, des Öfteren als (Mit-)Entscheidungsträger*innen in Erscheinung treten. Die Auseinandersetzung mit Herkunft, Heimat und Kultur ist ebenso wie die Frage nach Religion und Spiritualität für viele Schüler*innen eine identitätsstiftende Notwendigkeit; beide scheinen allerdings im Hinblick auf die Frage nach der Gestaltung der eigenen Zukunft für die Schüler*innen unbedeutend zu sein. Überraschend ist der geringe Stellenwert der Einflussnahme von Fernsehen, Internet und (sozialen) Medien. Auch wenn die Schüler*innen hierbei verhältnismäßig viel Zeit investieren, scheint dies nicht mit der Auseinandersetzung der eigenen Bildungslaufbahn in Zusammenhang zu stehen. Erwähnt sei an dieser Stelle allerdings, dass den sozialen Netzwerken, wie bspw. Twitter, Facebook, Instagram oder Snapchat, im Kontext der Bildungsbiografie weniger Bedeutung beigemessen werden muss, als der medialen Berichterstattung. Neben den Nachrichten scheinen zudem das Fernsehen und Streaming-Dienste einen Einfluss auf die Konstitution emotionaler Markierungen zu nehmen (vgl. bspw. Anna WS4, 3182; Jasmin WS2, 1560; Elif WS2, 2091; Nora WS2,
9.2 Zu den Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen
245
2070; Sarah WS2, 1012), jedoch lassen sich aus dem Material hierzu keine Schlussfolgerungen im Kontext bildungstheoretischer Implikationen ableiten. Des Weiteren ist das nicht-personalisiertes Feedback aufgrund der fehlenden Beziehungsebene innerhalb dieser Hauptkategorie vernachlässigbar: Sowohl Allgemeines Lob und Anerkennung sowie Allgemeine Kritik, Tadel und Ablehnung, bei denen der Inhalt der Rückmeldung und nicht die konkrete Person im Mittelpunkt stehen, haben kaum Einfluss auf die emotionalen Bewertungen der Schüler*innen. Dies ist insofern von Interesse, als dass hier erneut deutlich wird, dass das Erleben von Handlungsfähigkeit weder an die Anerkennung von außen noch an die tatsächlich erbrachte Leistung geknüpft ist. Ein weiteres Gegensatzpaar innerhalb der Kategorie der Einflussfaktoren, das eine unerwartet geringe Bedeutung für die Entstehung bildungsentscheidungsrelevanter Bewertungen hat betrifft das Erleben und die Wahrnehmung von Akzeptanz durch andere. Sowohl das Erleben von Zugehörigkeit und sozialer Eingebundenheit als auch das Erleben von Ausgrenzung und Ausschluss nehmen lediglich einen geringen Einfluss auf die Bildungsbiografie und die zukünftigen Bildungsentscheidungen der Schüler*innen. Allerdings – und dies ist von besonderer Bedeutung für das nachfolgende Kapitel über die emotionalen Qualitäten – geht das Erleben von Zugehörigkeit in den meisten Fällen mit Geborgenheit einher (vgl. bspw. Donna WS1, 2593; Martina WS2, 1551; Mira WS5, 1370; Elif WS3, 1572; Sarah WS1, 2502). D. h., wie sich an späterer Stelle noch zeigen wird, dass soziale Eingebundenheit zwar keinen direkten Einfluss auf die Konstitution emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn hat, allerdings sehr wohl indirekt Bildungslaufbahnentscheidungen beeinflusst, da sich die soziale Zugehörigkeit auf die Stellung innerhalb der Peer auswirkt und die Peer, wie bereits weiter oben deutlich wurden, signifikant die eigene Bildungsbiografie beeinflusst. Ebenso wirkt sich die soziale Eingebundenheit auf das Erleben von Geborgenheit aus. Somit darf das Erleben von Zugehörigkeit und sozialer Eingebundenheit für das Wohlbefinden der Schüler*innen nicht unterschätzt werden, auch wenn sich aus dem Material kein direkter Zusammenhang im Hinblick auf die Konstitution bildungsentscheidungsrelevanter Markierungen ableiten lässt. Abschließend sei noch auf zwei weitere Subkategorien hingewiesen, die am Beginn des Forschungsprozesses besonders relevant erschienen, allerdings im Lauf der Interpretation in den Hintergrund gedrängt wurden. Zum einen wurde das Autonomieerleben und das Erleben von Unabhängigkeit und Freiheit besonders im Hinblick auf die schulischen und gesellschaftlichen Anforderungen als relevanter Einflussfaktor konstatiert. Allerdings – und dies ist eine doch interessante, wenn auch nicht überraschende Beobachtung – ist Autonomie aus der
246
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Perspektive der Schüler*innen nur in einem geringen Maße hilfreich und förderlich. Vielmehr scheinen die Schüler*innen für die Bewältigung alltäglicher Herausforderungen eine gewisse autoritäre Struktur mit klaren Grenzen zu benötigen (vgl. bspw. Vera WS2, 2315; Anna WS3, 1260; Jasmin WS2, 1525; Renate WS1, 1004; Martina WS3, 3342; Paul WS1, 1212). Dies widerspricht nicht der zuvor angesprochenen Überforderung im Kontext der schulischen Anforderungen und Pflichteten, sondern ermöglicht vielmehr deren Bewältigung. Daraus lässt sich schließen, dass Kontinuität, Struktur und klare Grenzen für die Schüler*innen mindestens gleichbedeutend sind, wie das Erleben von Unabhängigkeit, Freiheit und Autonomie. Zum anderen wurde die Subkategorie Unvorhersehbare und unsichere Zukunft im Rahmen der induktiven Kategorienbildung als Möglichkeit bestimmt, den Einfluss der Ungewissheit auf die Gestaltung der eigenen Zukunft sichtbar zu machen. In den Interpretationen zeigte sich, dass dieses Subthema für die Konstitution emotionaler Markierungen in der Bildungslaufbahn der Schüler*innen zwar keinen zentralen Einflussfaktor darstellt, allerdings, wie sich im nachfolgenden Kapitel zeigen wird, in erster Linie mit Angst und Furcht assoziiert wird. Auch wenn alle Schüler*innen den bevorstehenden Übergang als Gegeben akzeptieren und sich damit arrangiert zu haben scheinen, ist die Antizipation des Verlusts von Schulstruktur und Freundeskreis auf einer nichtbewussten Ebene mit Angst assoziiert (vgl. bspw. Mira WS4, 0334; Anna WS5, 0432; Jasmin WS4, 2520; Martina WS4, 0280).
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen Die dritte Hauptkategorie zielt auf die Identifikationen jener konkreten Emotionen ab, die im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn aus Sicht der Schüler*innen am bedeutendsten erscheinen. Dementsprechend soll dieses Kapitel die Frage beantworten, welche Emotionen und emotionalen Qualitäten für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext bzw. für die Entstehung diesbezüglicher emotionaler Markierungen aus der Perspektive der Schüler*innen ausschlaggebend sind. Diese Hauptkategorie ist in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse: Zum einen gibt es hierzu keine vergleichbaren empirischen Arbeiten, die tatsächlich unterschiedliche Emotionen bzw. emotionale Qualitäten anhand subjektorientierter Forschungsperspektiven im Bildungskontext identifizieren und sich dabei nicht auf einen spezifischen Ausschnitt, bspw. Prüfungsangst oder Lernfreude, beschränken. Und zum anderen wurden die 22 emotionalen Qualitäten, sowohl begrifflich als auch
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
247
inhaltlich (bzw. definitorisch) nach den Vorstellungen der Schüler*innen entlang des Datenmaterials bestimmt, um erstens der anthropologischen Differenz von Emotion und Gefühl respektive der Problematik von beobachtbarem Ausdruck und subjektiver Wahrnehmung gerecht zu werden, um zweitens die qualitativen Dimensionen von Emotionen zu berücksichtigen und gleichzeitig sicher zu stellen, dass nicht die jeweils zu bestimmende Emotion sondern lediglich die Zuschreibung einen interpretativen Akt darstellt und um drittens eine intersubjektive Passung der emotionalen Qualitäten zu gewährleisten. Daher sollen in diesem Teil der Ergebnisdarstellung, im Anschluss an die Übersichtstabelle (siehe Tab. 9.3), in einem kurzen Exkurs die einzelnen Subkategorien und ihre begrifflichen Differenzierungen, die ebenso als ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Arbeit verstanden werden müssen, erläutert werden, um die Perspektive der Schüler*innen und ihr emotionales Verständnis sichtbar zu machen. Mit Blick auf die 22 induktiv bestimmten, emotionalen Qualitäten fällt auf, dass innerhalb von EMOTISION einige Emotionen in einer Subkategorie subsumiert wurden, wie bspw. „Frustration, Langeweile und Enttäuschung“, „Dankbarkeit und Wertschätzung“, „Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung“ oder aber „Hoffnung, Mut und Zuversicht“. Auch wenn die Begrifflichkeiten keineswegs als Synonyme verstanden werden und sich auch das emotionale Erleben theoretisch durchaus differenzierter darstellen lassen würde, so wurde sowohl in der Arbeit mit den Schüler*innen als auch in der Zusammenschau der Kodierungen deutlich, dass aufgrund der fehlenden Trennschärfe der jeweiligen Begrifflichkeiten bei gleichzeitiger Notwendigkeit präziser Merkmalsausprägungen, bestimmte Emotionswörter als emotionale Qualitäten innerhalb einer gemeinsamen Subkategorie zusammengefasst werden müssen. Aus emotionstheoretischer Perspektive ist dabei besonders die Subkategorie „Frustration, Langeweile und Enttäuschung“ eine ungewöhnliche Gruppierung, da Langeweile im Vergleich zu Frustration und Enttäuschung nicht zwangsläufig negativ konnotiert erscheint. Aus Sicht der Schüler*innen sind allerdings alle drei Emotionswörter gleichwertig und bilden eine gemeinsame Erlebnisqualität, was den Schluss nahelegt, dass Langeweile in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen eine grundsätzlich negative Konnotation zugeschrieben werden kann. Eine weitere auffällige Unterscheidung betrifft die Gegenüberstellung von „Interesse und Neugierde“ und „Vorfreude“ (in Abgrenzung zu „Freude, Spaß und Begeisterung“), die sich in dieser Form im Kontext emotionstheoretischer Überlegungen eher selten findet. Grund für diese etwas befremdlich anmutende Differenz ist die Argumentation der Schüler*innen, dass aus ihrer Perspektive Vorfreude mit der Freude auf etwas Bekanntes einhergeht, wohingegen Interesse und Neugierde nicht zwangsläufig mit Freude
248
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Tab. 9.3 Qualitäten emotionaler Markierungen (ISQIA) Qualität (=Emotionen, inneres Erleben) Subkategorie
Kodierungen
Zeit
Freude, Spaß und Begeisterung (subsumiert je nach Kontext „cool, leiwand etc.“)
79
0:42:37.2
Interesse und Neugierde (etwas Neues, muss nicht mit Freude einhergehen, neutral)
62
0:28:21.3
Vorfreude (auf etwas Bekanntes, Freude ist zentral)
19
0:09:29.8
Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen
64
0:30:46.3
Liebe und Zuneigung
20
0:10:28.7
Dankbarkeit und Wertschätzung
37
0:16:47.6
Hoffnung, Mut und Zuversicht
14
0:05:32.6
Stolz (und Selbstwertgefühl)
84
0:43:27.9
Ambivalenzen und allgemeine emotionale Verwirrung
41
0:21:01.9
Ängstliche Vorfreude und Lustangst
10
0:06:28.8
Hass und Abneigung
24
0:10:03.6
Ärger, Wut und Aggression
37
0:22:28.7
Stress und Nervosität
40
0:15:52.6
Scham und Verlegenheit
40
0:24:21.0
Angst und Furcht
66
0:30:33.0
Ekel und Abscheu
8
0:01:45.8
Trauer und Melancholie
24
0:11:38.4
Eifersucht und Neid
1
0:00:09.1
Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung
32
0:17:09.3
Frustration, Langeweile und Enttäuschung
42
0:20:06.9
Unglücklich-Sein und Unzufrieden-Sein (als Endzustand, „ich 3 bin/war unglücklich“, nicht als Unglück)
0:00:24.1
Glücklich-Sein und Zufrieden-Sein (als Endzustand, „ich bin/ war glücklich“, nicht als Glück)
0:04:51.2
17
Quelle: Eigene Darstellung
einhergehen muss und sich eher auf etwas Neues bzw. Unbekanntes richtet. Als eine emotionstheoretische Hypothese könnte demnach zukünftig die, aus subjektiver Perspektive bedeutsame, Unterscheidung zwischen „Vorfreude als
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
249
Freude auf etwas Bekanntes“ und „Neugierde als neutrales Interesse an etwas Neuem“ problematisiert werden. Ebenso ungewöhnlich ist die Unterscheidung zwischen den Subkategorien „Ambivalenzen und allgemeine emotionale Verwirrung“ und „Ängstliche Vorfreude und Lustangst“, die zu Beginn der induktiv partizipativen Kategorienbildung noch in einer Subkategorie zusammengefasst wurden. Auch hier bestanden die Schüler*innen darauf, eine inhaltliche und sprachliche Differenz einzuführen, die ihrem emotionalen Erleben gerecht wird. Demnach meint „Ängstliche Vorfreude und Lustangst“ ein, durch Antizipationstendenzen ausgelöstes, stark ambivalentes Erleben von Angst und Freude gleichermaßen, wohingegen die Kategorie „Ambivalenzen und allgemeine emotionale Verwirrung“ nicht zwangsläufig zukunftsorientiert sein muss und eher mit einem generellen Gefühl der Verwirrung einhergeht, da sich die, die ambivalente Grundhaltung auslösenden, Emotionen in der Wahrnehmung der Schüler*innen selbst nicht konkret bestimmen lassen. Natürlich könnte man kritisch einwerfen, dass die Lustangst eine Sonderform emotionaler Ambivalenz darstellt, allerdings entspräche dies nicht der subjektiven Perspektive des emotionalen Erlebens der Schüler*innen, auch wenn an dieser Stelle darauf hingewiesen werden muss, dass sowohl die Lustangst als auch die Vorfreude selten als diskrete Emotionen diskutiert werden. Eine Sonderstellung innerhalb des Kategoriensystems der emotionalen Qualitäten nehmen die Subkategorien „Glücklich-sein und Zufrieden-sein“ und „Unglücklich-sein und UnzufriedenSein“ ein. Diese durften nach Rücksprache mit den Schüler*innen nur dann kodiert werden, wenn sie in den Workshops sowohl explizit benannt wurden als auch als Endzustand bzw. Resultat und eben nicht prozesshaft in Erscheinung traten. Damit sollte methodisch sichergestellt werden, dass Glücklich-Sein oder Unglücklich-Sein nicht als Steigerungsform einer anderen Emotion verstanden werden bzw. als solche kodiert werden würden. Die Schüler*innen machen mit dieser Konkretisierung zudem deutlich, dass Glück und Unglück bzw. der Zustand „ich bin/war glücklich“ oder „ich bin/war unglücklich“ in ihrer Lebenswirklichkeit nicht als alltägliche Phänomene des emotionalen Erlebens verstanden werden dürfen, sondern eine Besonderheit darstellen. Abschließend sei im Kontext der begrifflichen Abgrenzung und inhaltlichen Bestimmung der Subthemen der dritten Hauptkategorie noch auf einen weiteren, zentralen Aspekt hingewiesen. Denn durchaus bemerkenswert an den 22 induktiv gewonnenen Subkategorien der emotionalen Qualitäten ist die Tatsache, dass sie im Kontext ihrer Valenz – mit neun positiven, elf negativen und zwei neutralen Emotionen – relativ gleichverteilt bzw. ausgewogen sind. Diese Balance in der emotionalen Valenz unterstreicht mitunter die präzise Arbeit der mehrstufigen Kategorienbildung sowie die inhaltliche Stringenz der Workshopgestaltung und verweist auf
250
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
die Vielfalt des emotionalen Erlebens der Schüler*innen. Im Folgenden werden die wichtigsten Qualitäten der emotionalen Markierungen der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen – wie bereits bisher auch nach Signifikanz absteigend – vorgestellt: Die bedeutendste Emotion in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen im Hinblick auf deren Bildungslaufbahn ist Stolz und Selbstwertgefühl. Stolz wird hier verstanden, als das Gefühl mit sich selbst und seinen Leistungen zufrieden zu sein und dabei Hochachtung gegenüber sich selbst und diesen Leistungen zu empfinden. Aus der Perspektive der Schüler*innen und im Hinblick auf die inhaltliche Bestimmung ist es dabei besonders wichtig, Stolz positiv konnotiert und selbstreferentiell zu begreifen und diese emotionale Qualität klar von Hochmut und Überheblichkeit abzugrenzen. Im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn ist jedenfalls keine andere Subkategorie innerhalb der emotionalen Qualitäten in Häufigkeit und Intensität so signifikant wie die Emotion Stolz. Für Julia gehen besonders schulische Erfolgserlebnisse mit Stolz einher. Immer wieder bezieht sie sich auf die Bewältigung spezifischer Herausforderungen in Schule und Unterricht, auf die sie rückblickend besonders stolz ist. Hierzu zählt bspw. die Ehrung als Jahrgangsbeste (vgl. Julia WS5, 1274) oder aber die Zusammenschau ihrer schulischen Erfolge in der bisherigen Bildungslaufbahn (vgl. Julia WS3, 0355). Julias Optimismus bezüglich ihrer zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidung und ihr genereller Wunsch zu studieren, lässt sich auf ihr hohes Selbstwertgefühl im Kontext schulischer Leistungen zurückführen. Donna ist im Besonderen auf ihren bisherigen Bildungsweg stolz. Zum einen erwähnt sie immer wieder die Bewältigung vorhergehender Übergänge, wie bspw. den Aufstieg ins Gymnasium (vgl. Donna WS3, 0185) oder den erfolgreichen Übergang in die Oberstufe (vgl. Donna WS4, 1254). Zum anderen ist es für sie nicht selbstverständlich, unabhängig ihres Potentials und ihrer Leistungen, eine Schule besuchen und die Matura machen zu dürfen (vgl. Donna WS3, 1364). Auch ihren Berufs- und Studienwunsch im sozialen Bereich tätig zu sein verbindet sie mit der Vorstellung von Stolz (vgl. Donna WS4, 3310). Sowohl bisherige Erfahrungen der sozialen Anteilnahme und Hilfsbereitschaft als auch die zukünftige Idee Menschen zu helfen ist mit Stolz assoziiert (vgl. Donna WS4, 3114). Die antizipierte soziale Wertschätzung im Berufsleben geht zudem mit der Hoffnung auf ein erhöhtes Selbstwertgefühl einher (vgl. Donna WS4, 3114). Auch in Veras Bildungsbiografie ist Stolz die zentrale Emotion. Zum einen verbindet auch sie, ähnlich wie Julia, schulische Erfolgserlebnisse bzw. die Bewältigung spezifischer, schulischer Herausforderungen mit Stolz (vgl. Vera WS3, 0334 sowie Vera WS4, 0303). Zum anderen bezieht sie sich immer wieder auf ihr Auslandsjahr (vgl. Vera WS5, 1191), das diesbezügliche Stipendium (vgl.
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
251
Vera WS5, 0212) und auf den, sich dabei angeeigneten, offenen Umgang mit Menschen (vgl. Vera WS1, 0574). Besonders ihr Interesse an Kommunikation und ihr diesbezüglicher Berufswunsch sind in ihren Zukunftsvorstellungen mit Stolz assoziiert. Obwohl Anna ein geringes Selbstwertgefühl zu haben scheint und dies auch immer wieder als Problem kommuniziert, ist auch in ihrer bisherigen Lebens- und Lerngeschichte Stolz eine zentrale emotionale Qualität. Auch wenn sich dies in ihrem Fall nicht in der gleichen Häufigkeit wie bei den anderen Schüler*innen niederschlägt, so verweist sie doch zum einen auf den Stolz im Hinblick auf ihre spezifischen Kompetenzen (vgl. Anna WS1, 0481) und zum anderen auf die mit Stolz assoziierte Vorstellung der eigenen beruflichen Zukunft (vgl. Anna WS4, 2212). Für Jasmin sind, trotz ihrer außerordentlichen schulischen Leistungen, besonders die Erfahrungen mit Stolz assoziiert, in denen sie ihr Organisationstalent und ihre Leitungskompetenz unter Beweis stellen kann. Hierzu zählen bspw. ihre Selbstständigkeit im schulischen Kontext (vgl. Jasmin WS3, 1121), ihre Funktion als Klassensprecherin oder aber die Unterstützung ihrer MitSchüler*innen (vgl. Jasmin WS5, 1321). Ebenso bezieht sie sich immer wieder auf ihre erworbene Selbstsicherheit (vgl. Jasmin WS3, 3090) und die damit einhergehende Überwindung ihrer Schüchternheit (vgl. Jasmin WS4, 2443). Im Kontext ihres zukünftigen Berufswunsches Medizin zu studieren und als Ärztin zu arbeiten verweist sie sowohl auf ihre bisherigen Erfahrungen und das Erleben von Handlungsfähigkeit als auch auf die Vorstellung später als Chirurgin zu arbeiten, die gleichermaßen mit Stolz assoziiert sind. Besonders deutlich wird die zentrale Bedeutung von Stolz in der Bildungslaufbahn von Renate. Auch wenn sie eher zurückhaltend agiert und keineswegs ein überhöhtes Selbstwertgefühl an den Tag legt, berichtet sie immer wieder, wie stolz sie auf ihre sprachlichen und literarischen Leistungen und Kompetenzen ist (vgl. Renate WS5, 1232 sowie 3244), die gleichzeitig die Grundlage für ihren zentralen Studienwunsch der Romanistik und deutschen Philologie darstellen. Bereits ihre ersten Erfahrungen mit dem Schreiben in der Volksschule, auf die sie besonders stolz ist, waren für sie prägend für ihr Interesse an Sprachen und Literatur (vgl. Renate WS5, 1223). Stolz ist im Kontext der eigenen Bildungsbiografie und im Hinblick auf die Wahrnehmung seiner selbst und diesbezüglicher Kompetenzen und Fähigkeiten eine unverzichtbare Stellgröße. Die meisten bildungsentscheidungsrelevanten Bewertungen gehen direkt oder indirekt mit Stolz einher. Dabei sind zwei interdependente Perspektiven relevant: Zum einen sind die Schüler*innen stolz auf das Geleistete bzw. die bisher erbrachten Leistungen und zum anderen sind sie stolz auf das zukünftige Selbstbild bzw. wird die Vorstellung des zukünftigen (professionellen) Selbst mit Stolz assoziiert. Grundsätzlich
252
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
kann Stolz eine positive und prospektive Wirkung zugesprochen werden. Dies betrifft motivationale Aspekte im Kontext von Lernen ebenso wie identitätsstiftende Momente der Persönlichkeitsentwicklung. Besonders auffällig in den Kodierungen ist die kausale Beziehung zwischen Stolz und dem Kompetenzerleben, auf die an späterer Stelle noch eingegangen wird. Ebenso kausal ist der Zusammenhang zwischen Stolz und Selbstsicherheit, der von den Schüler*innen immer wieder thematisiert wird und die Wirkmächtigkeit dieser emotionalen Qualität verdeutlicht. Gleichzeitig wird in der Zurückhaltung und sensiblen Wortwahl der Schüler*innen sowie in der konzeptuellen Abgrenzung dieser Emotion ersichtlich, dass Stolz, insbesondere in der Fremdwahrnehmung, nicht nur positiv konnotiert ist; stolz auf sich selbst zu sein, kann durchaus missinterpretiert werden. Dieser Sachverhalt ist den Schüler*innen bewusst und erschwert den subjektiven Umgang mit der Gefühlsqualität bzw. die entsprechenden Emotionsregulationsmechanismen. Die zweite zentrale Qualität der emotionalen Markierungen der Schüler*innen, die sich im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn und zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen als besonders signifikant erweist, ist Freude, Spaß und Begeisterung. Freude, als die zentrale positive Emotion, wird verstanden als ein hochgestimmter Gefühlszustand, in dem man sich selbst und seine Umwelt durchwegs positiv gestimmt und angenehm wahrnimmt. Spaß und Begeisterung verweisen auf die unterschiedlich erlebte Intensität des gefühlten Frohseins. So schwierig die Freude als Gefühlszustand zu definieren ist, so vielfältig sind ihre Synonyme. Neben Emotionswörtern wie bspw. Fröhlichkeit, Frohsinn, Glück, Heiterkeit oder Vergnügen sind es besonders umgangssprachliche Formulierungen, Jugendwörter und Anglizismen, wie bspw. cool, leiwand, geil, fett, nice, hammer, super, lit, bombe oder tight, die als Ausdruck des emotionalen Erlebens von Freude, Spaß und Begeisterung Verwendung finden. Dementsprechend stellt die Kodierung von Freude, insbesondere in Abgrenzung zu „Interesse und Neugierde“ sowie zu „Vorfreude“, eine interpretative Herausforderung dar. Besonders das Wort „cool“, das ein selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Sprachrepertoire in Österreich, und zwar relativ unabhängig vom Alter, zu sein scheint, verlangt besonderer Aufmerksamkeit und wurde im Kodierleitfaden dementsprechend als mögliches Synonym von Freude angeführt. Die zentrale Bedeutung von Freude für die emotionale Bewertung von Erfahrungen, Vorstellungsbildern und Repräsentationen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte zeigt sich in vielfältiger Weise: Für Martina ist Schule per se mit Freude assoziiert (vgl. Martina WS2, 0563). Dabei spielen zwei Aspekte eine zentrale Rolle: Zum einen gibt es Fächer, in denen ihre zentralen Interessen, insbesondere im Kontext von Kunst
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
253
und Kultur, befriedigt werden, und die sie lustvoll und mit Begeisterung erlebt (vgl. Martina WS4, 2080). Dabei verweist sie des Öfteren auf die motivationale Funktion ihrer Begeisterung und auf die dadurch gesteigerte Leistungsbereitschaft (vgl. Martina WS3, 2042). Zum anderen ist der soziale Aspekt von Schule ein Indikator für Freude. Sowohl der Austausch mit Freundinnen als auch die Beziehung zu Lehrpersonen ist mit Freude assoziiert und verstärkt ebenso das eigene Wohlbefinden (vgl. Martina WS3, 2035). Im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft betont sie besonders die Freude am Planen und Umsetzen von eigenen Projekten als Ausdruck von Selbstverwirklichung im Kontext ihres zentralen Studienwunsches (vgl. Martina WS1, 1221). Für Paul ist Freude und Spaß besonders entscheidend für das eigene Wohlbefinden und für die Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie. Zum einen begeistern ihn Technik und im Besonderen Funktionszusammenhänge technischer Prozesse (vgl. Paul WS4, 1583). Immer wieder berichtet er über die Faszination komplizierte Phänomene zu verstehen und über die Freude am Nachvollziehen naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, wie bspw. seine Begeisterung für Chemie (vgl. Paul WS5, 1441). Die Schule und das schulische Lernen ist im Gegensatz zu Martina für Paul nicht positiv besetzt, sondern ein notwendiges Übel. Allerdings verweist auch er auf die Bedeutung sozialer Beziehungen für das Erleben von Freude und Spaß im Kontext von Schule und Unterricht (vgl. Paul WS1, 1212). Auch für Pauls Bildungslaufbahn scheint Freude eine zentrale Qualität bildungsentscheidungsrelevanter Bewertungen zu sein, was sich besonders in seinem Wunsch Maschinenbau zu studieren widerspiegelt. Wie bedeutsam das Erleben von Freude für die eigene Bildungslaufbahn und die diesbezüglichen emotionalen Markierungen ist zeigt sich besonders in den Ausführungen von Mira. Sowohl ihr konkreter Berufswunsch im Trainings- und Coachingbereich als auch ihr prinzipieller Wunsch nach Freiheit und Unabhängig und ihr ungezwungener Charakter, spiegeln sich in allen Kodierungen der Subkategorie „Freude, Spaß und Begeisterung“ wider. So verweist sie des Öfteren auf das intensive Erleben von Freude im Kontext von Sport und Bewegung (vgl. Mira WS1, 0484 sowie Mira WS4, 3375), die für sie einen zentralen Lebensbereich markieren. Zudem hat sie Spaß an Verantwortung und Leitung (vgl. Mira WS3, 2375) sowie an Tätigkeiten, bei denen sie kreativ ist und sich selbst verwirklichen kann (vgl. Mira WS2, 0514). Besonders aber erlebt sie die Unterstützung und Begleitung von Menschen als lustvoll und begeisternd (vgl. Mira WS2, 0514). Ähnlich wie zuvor bei Paul ist auch für Nora der soziale Austausch und die Beziehungsebene in der Schule der zentrale Anstoß für das Erleben von Freude, Spaß und Begeisterung (vgl. Nora WS1, 0462). Zum einen erlebt sie Freude im alltäglichen Zusammensein und in der Zuneigung zu Freuden (vgl. Nora WS2, 2012).
254
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Zum anderen erlebt sie Streitgespräche und Diskussionen mit Freunden über schulische und außerschulische Themen als besonders lustvoll und anregend (vgl. Nora WS2, 3193). Auch wenn Schule nicht per se positiv konnotiert zu sein scheint, ist auch bei Nora das Erleben von Freude zentral für ihre bildungsentscheidungsrelevanten Bewertungen. Dies zeigt sich sowohl in ihrer Begeisterung für Geschichte (vgl. Nora WS1, 0331) als auch im lustvollen Erleben der Auseinandersetzung mit den Gegenstandsbereichen Deutsch und Kunst (vgl. Nora WS3, 3185). Für Sarah sind neben den Freunden und den sozialen Beziehungen ähnlich wie bei Mira spezifische Tätigkeitsfelder mit Freude und Spaß markiert, die sich wiederum in ihrem zentralen Berufswunsch im sozialen Bereich tätig zu sein widerspiegeln (vgl. Sarah WS1, 1044 sowie Sarah WS2, 2455). Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Emotion Freude im Schulkontext als auch im Hinblick auf die eigene Bildungsbiografie und die Einstellung gegenüber Bildung im Allgemeinen eine besonders entscheidende emotionale Qualität darstellt. Dies zeigt sich zum einen in ihrer aktivierenden Funktion. So steigert Freude nicht nur die Leistungsbereitschaft und Motivation, sondern auch den Austausch und die Kommunikation mit anderen. Zum anderen ist Freude der zentrale Indikator für Wohlbefinden in Schule und Unterricht, insbesondere wenn Schule nicht per se positiv konnotiert ist. Auffällig in den Kodierungen dieser Subkategorie ist der kausale Zusammenhang zwischen Freude und der Peergruppe. Dies verdeutlicht abermals den zentralen Einfluss der Peer auf die Konstitution emotionaler Markierungen, im Besonderen, wenn man das pädagogische Potential der Emotion Freude berücksichtigt. Ebenso auffällig ist die Markierung spezifischer Tätigkeitsfelder und des praktischen Tuns mit Freude im Kontext zukunftsorientierter Vorstellungsbilder. Dies verweist auf die zentrale Bedeutung des Erlebens von Freude für die Anbahnung zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen. Ein weiterer Gefühlszustand, der aus emotionstheoretischer und bildungswissenschaftlicher Perspektive oft dem Erleben von Freude gegenübergestellt wird und als repräsentativ für viele der emotionalen Markierungen der Schüler*innen im Bildungskontext bezeichnet werden kann, ist die emotionale Qualität Angst und Furcht. Angst wird verstanden als ein negativ konnotiertes Gefühl der Bedrohung und Einschüchterung, das mit Unlust einhergeht. Für die Kodierung von Angst besonders bezeichnend ist im Kontext der vorliegenden Arbeit das Vorhandensein einer tatsächlichen oder imaginierten, angstauslösenden Situation. Auch wenn es theoretisch durchaus möglich ist generelle Angst zu empfinden, bspw. im Kontext von Schule oder aber im Hinblick auf sein Selbstbild, ist aus der Perspektive der Schüler*innen Angst und Furcht immer an eine bestimmte Situation oder an die Vorstellung derselben gebunden.
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
255
Für die Schüler*innen scheint es zudem eine Emotion zu sein, die zukunftsgerichtet in Erscheinung tritt und nicht so sehr an vergangene oder gegenwärtige Repräsentationen geknüpft ist: Julia, die durchaus selbstbewusst in Erscheinung tritt und von außen keineswegs als ängstliche Person eingeschätzt werden würde, empfindet, trotz ihres grundsätzlichen Optimismus bezüglich der bevorstehenden Studienzeit, Angst im Hinblick auf den nahenden Bildungsübergang. Dabei sind es nicht so sehr das Studium und die universitären Herausforderungen, die sie verängstigen, sondern vielmehr das Unbekannte und die neue Lebenssituation (vgl. Julia WS1, 1065). Zudem verweist sie des Öfteren auf ihre Angst vor der bevorstehenden Zukunft und auf ein damit einhergehendes, vermindertes Selbstwertgefühl (vgl. Julia WS4, 0164). Gleichzeitig scheint diese Zukunftsangst die Auseinandersetzung mit sich selbst und der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung anzuregen. Im Gegensatz zu Julia spielt Angst in Donnas Bildungslaufbahn eine weitaus größere Rolle. Besonders im Kontext schulischer Anforderungen spiegelt sich ihre Angst wider. So erwähnt sie mehrere Male die Angst die Matura nicht zu schaffen und generell am Ende der Schulzeit noch zu scheitern (vgl. Donna WS3, 1360). Allerdings setzt sie sich, ähnlich wie Julia, aktiv mit dieser Angst auseinander, was sich bspw. daran zeigt, dass sie selbst von Versagensängsten im Kontext von Schule spricht (vgl. Donna WS1, 0251). Des Weiteren zeigt sich diese Angst vor dem Scheitern im Besonderen wenn es um das zukünftige Studium geht. So würde Donna bspw. gerne Medizin studieren, ist aber davon überzeugt zu scheitern und bezieht sich in mehreren Aussagen auf diese Versagensangst (vgl. Donna WS5, 3081 sowie Donna WS2, 3140). Dementsprechend spricht auch sie explizit von einer, der Zukunftsangst geschuldeten, verminderten Selbstsicherheit. Auch Anna wird in ihrer Angst darin gehemmt sich mit bestimmten Herausforderungen zu konfrontieren. Ähnlich wie Donna scheint auch bei ihr die Angst vor dem Scheitern und Versagen in der unmittelbaren Zukunft ein Anstoß zu sein, sich mit der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung zu beschäftigen (vgl. Anna WS4, 2531). Interessanterweise überträgt Anna das Erleben von Angst im Kontext ihres Schulwechsels in der Sekundarstufe I auf den bevorstehenden Übergang in den tertiären Bildungssektor (vgl. Anna WS3, 0165) und spricht diesbezüglich ebenso von einem verminderten Selbstbewusstsein. Die größte Angst von Anna ist es, in der Zukunft (noch immer) unglücklich zu sein (vgl. Anna WS5, 0432). Dementsprechend ambivalent erlebt sie die Auseinandersetzung mit der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung. Auch Jasmin bezeichnet als größte Angst die Vorstellung von einem unerfüllten Leben (vgl. Jasmin WS5, 0215). Bei ihr, die sich als schüchtern und zurückhaltend erlebt, spielen zwei Aspekte im Kontext
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
von Angst und Furcht eine zentrale Rolle in ihrer Bildungslaufbahn: Zum einen fürchtet auch sie, ähnlich wie Julia, die ungewisse Zukunft und die neue Lebenssituation nach der Schule (vgl. Jasmin WS4, 2520). Daher bezeichnet sie auch die Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Bildungsübergang als ängstlich besetzt (vgl. Jasmin WS4, 0191). Zum anderen spricht sie von einem, der Angst geschuldeten, Rückzugsverhalten wenn es um die Auseinandersetzung mit spezifischen Herausforderungen geht (vgl. Jasmin WS3, 2365). Auch hier scheint das Selbstbewusstsein bzw. Selbstwertgefühl eng mit dem Erleben von Angst verknüpft zu sein. Und auch Renate verweist an mehreren Stellen explizit auf das Erleben von Angst und der damit einhergehenden, verminderten Selbstsicherheit (vgl. Renate WS3, 1534). Im Kontext der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung erzählt sie von ihrer Angst mit ihrem Studium keine Berufsperspektiven zu haben und somit einer unsicheren Zukunft entgegenzublicken (vgl. Renate WS4, 0291). Zudem ist auch für sie die unmittelbare Zukunft mit Angst assoziiert, was wiederum die Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungslaufbahn fördert (vgl. Renate WS4, 0274). Rückblickend lässt sich im Kontext der Subkategorie „Angst und Furcht“ festhalten, dass sich dieser Gefühlszustand bei den Schüler*innen in erster Linie auf die zukunftsorientierten Vorstellungsbilder bezieht. Insbesondere die Frage nach der unmittelbar bevorstehenden Zukunftsgestaltung scheint für alle Schüler*innen mit Angst assoziiert zu sein. Dies führt in weiterer Folge dazu, dass sich die Schüler*innen mit sich selbst und der zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidung auseinandersetzen, wobei diese Auseinandersetzung nicht öffentlich stattfindet, sondern eher als kritischer Reflexionsprozess verstanden werden muss, der allerdings durchaus negative Folgen zeitigen kann. Neben dem Anstoß selbstreflexiver Prozesse führt diese zukunftsgerichtete Angst zu einem verminderten Selbstbewusstsein und zu weniger Selbstsicherheit. Damit entsteht wiederum die Gefahr des Rückzugs bzw. des Vermeidungsverhaltens. Somit scheint Angst eher hinderlich für die prospektive Gestaltung der eigenen Bildungsbiografie zu sein, auch wenn man ihr durchaus positive Eigenschaften und Funktionen zusprechen kann. Im Gegensatz zu Stolz, Freude und Angst, wird die vierte, hier vorzustellende, Emotion eher selten im Kontext von Schule und Unterricht oder aber im Hinblick auf ihren Stellenwert für Bildungsverläufe diskutiert. Dennoch zeigt sich im Rahmen der interpretativen Auswertung, dass diese Subkategorie eine besonders signifikante Bedeutung für die Bildungslaufbahn der Schüler*innen und ihre diesbezüglichen emotionalen Markierungen hat. Denn eine, für alle Schüler*innen gleichermaßen relevante, emotionale Qualität ist das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen. Geborgenheit wird verstanden als ein Gefühl des
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
257
Behütet-Seins und des Schutzes bzw. als innere Sicherheit und Zufriedenheit, die mit Akzeptanz und Vertrauen einhergeht. Dieses Wohlgefühl innerer Sicherheit findet sich in allen Phasen der Bildungsbiografie der Schüler*innen als zentraler Ankerpunkt und Basis für die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Stellung in der Welt. Auch wenn zu Beginn des Forschungsprozesses andere Qualitäten von emotionalen Markierungen zentraler erschienen, wurde relativ bald deutlich, dass Geborgenheit aus der subjektiven Perspektive der Schüler*innen einen unverzichtbaren Gefühlszustand darstellt: In Martinas Bildungslaufbahn nimmt Geborgenheit einen besonders hohen Stellenwert ein. Bereits in der frühen Kindheit ist ihre erste Beziehung zu einer Pädagogin bzw. zu einer Erzieherin durch ein tiefes Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit geprägt, das sie in weiterer Folge auch in den Phasen ihrer Schullaufbahn immer wieder zu suchen scheint (vgl. Martina WS5, 1103). Dabei sind zwei Aspekte für sie besonders zentral: Zum einen findet sie diese Geborgenheit im Erleben von Zugehörigkeit und im Austausch mit anderen (vgl. Martina WS2, 1551), insbesondere mit ihren Klassenkameradinnen. Dabei betont sie, dass besonders der Austausch über negative Erfahrungen und traumatische Erlebnisse diese Gefühlsqualität befördert (vgl. Martina WS5, 4313). Zum anderen verweist sie immer wieder auf die Notwendigkeit von ritualisierten Praktiken, die mit Geborgenheit einhergehen, wie bspw. ihre morgendlichen Schulrituale (vgl. Martina WS2, 3103) oder aber die Nachmittagsrituale mit ihrer Mutter (vgl. Martina WS1, 1100). Die dabei erlebte Geborgenheit ermöglicht es ihr in weiterer Folge sich mit der kritischen Fragen nach der Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn respektive mit der eigenen Lebensplanung auseinanderzusetzen. Auch für Paul, der grundsätzlich eine negative Einstellung gegenüber der Schule hat, ist Geborgenheit ein zentrales Moment in seiner Bildungslaufbahn. Dabei verweist er auf die Notwendigkeit des Erlebens von Geborgenheit, um den permanenten Leistungsdruck zu ertragen und ab und an ein Gefühl der Entspannung und des Rückhalts zu empfinden (vgl. Paul WS1, 3143). Auch für Paul sind dabei die Freunde, der Austausch mit ihnen und die Klassengemeinschaft zentral (vgl. Paul WS3, 0304). Wichtig ist es dabei zu verstehen, dass sich – ähnlich wie die Rituale bei Martina – die Gemeinschaft und Freunde bzw. die Beziehungsebene durch Kontinuität und nicht so sehr durch Zuneigung oder Wertschätzung auszeichnen. Mira bezeichnet Geborgenheit als das wichtigste Gefühl in ihrem Leben und ist davon überzeugt, dass jeder Mensch dieses Gefühl braucht, um zu überleben (vgl. Mira WS1, 0313). Auch sie thematisiert dabei das Erleben von Zugehörigkeit in der Schule durch MitSchüler*innen und Lehrpersonen (vgl. Mira WS5, 1370) und bezeichnet soziale Eingebundenheit als einen Garanten für Geborgenheit (vgl. Mira WS1, 0314). Zudem verweist auch Mira auf die Notwendigkeit
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
von Kontinuität, sei es im Rahmen langjährig praktizierter Schulrituale und -routinen (vgl. Mira WS3, 3060) oder aber einfacher, entspannender Tätigkeiten mit Freunden (vgl. Mira WS2, 2124). Für Mira ist Geborgenheit nicht nur eine Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Bildungsübergang, sondern auch ein Indikator für die Beziehungsgestaltung (vgl. Mira WS1, 0315). Für Elif, die bereits einen sehr problematischen Bildungsübergang erlebt hat und mit schulischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, stellt das Gefühl der Geborgenheit ebenso einen unverzichtbaren Aspekt ihrer Bildungsbiografie dar. So bezeichnet sie, trotz ihrer negativen Schulerfahrungen, die Schule, durch die erlebte Geborgenheit, die sie aufgrund ihrer Freunde und einiger Lehrpersonen dort erfährt, als ein zweites Zuhause (vgl. Elif WS1, 0591). Zudem führt sie aus, dass das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, das ihr Freunde und Familie vermitteln, der Grund ist, warum sie überhaupt auf eine Bildungslaufbahn zurückblicken kann. Dieses Gefühl des Rückhalts und Vertrauens gibt ihr die Zuversicht auch den bevorstehenden Bildungsübergang zu meistern (vgl. Elif WS3, 3254). Auch für Nora ist Geborgenheit eine besonders wichtige emotionale Qualität im Kontext ihrer eigenen Lebens- und Lerngeschichte. Dabei sind sowohl der kontinuierliche Austausch mit ihren MitSchüler*innen (vgl. Nora WS3, 2121) als auch ihr enger Freundeskreis die zentralen Indikatoren für Geborgenheit und Wohlbefinden (vgl. Nora WS1, 0473). Einerseits versteht sie, ähnlich wie Martina und Paul, den Austausch über Vergangenes und im Besonderen über negative Erfahrungen als Voraussetzung von Geborgenheit (vgl. Nora WS3, 3154). Andererseits macht sie aber auch deutlich, dass sie aufgrund des Gefühls der Geborgenheit ihrer Tendenz, die Vergangenheit zu verdrängen, nicht mehr in dem Maße nachkommen muss und sich somit intensiver mit sich selbst auseinandersetzen kann (vgl. Nora WS3, 3155). Es verwundert daher auch nicht, dass aus Noras Perspektive Geborgenheit die Entwicklung und Verfeinerung ihrer Identität ermöglicht (vgl. Nora WS3, 0220). Berücksichtigt man die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen, den bevorstehenden Bildungsübergang, die Ablösung von den Eltern und der Schule, die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensplanung sowie die Ungewissheit im Kontext der unmittelbaren Zukunft kann das Gefühl von „Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen“ als die wichtigste Emotion in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen verstanden werden. Geborgenheit als Wohlgefühl innerer Sicherheit darf dabei allerdings nicht mit Zuneigung, Wertschätzung, Dankbarkeit oder Liebe verwechselt werden, sondern zeichnet sich zuallererst durch Kontinuität aus: Wo und durch wen man sich geborgen fühlt, ist von Person zu Person gänzlich verschieden. Dies zeigt sich in der ungleichen Eingebundenheit der Schüler*innen in die jeweilige Klassengemeinschaft oder aber in den
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
259
unterschiedlichen Routinen, die mit Geborgenheit einhergehen. Im Hinblick auf die Bedeutung von Geborgenheit für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen kann ihr durchaus ein konstruktiver Stellenwert beigemessen werden: Zum einen ist das Gefühl von Geborgenheit Voraussetzung von Explorationsverhalten und zum anderen ermöglicht es die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und die Kommunikationen dieser Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. D. h. anders als im Kontext der Angst wird die kritische Bezugnahme auf sich selbst durch den Austausch mit anderen, sei dieser auch imaginativ, prospektiv erlebt und steigert das eigene Wohlbefinden und die eigene Selbstsicherheit im Sinne einer nachhaltigen Identitätsentwicklung. Somit liegt der Schluss nahe, dass Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen eine grundlegende und notwendige Voraussetzung von Bildungsprozessen darstellen. Eine weitere Subkategorie, die im Hinblick auf die Frage nach den zentralen Emotionen für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte von Bedeutung ist, ist die Gefühlsqualität Interesse und Neugierde. Interesse wird in der Regel als geistige oder kognitive Anteilnahme und Aufmerksamkeit verstanden, die mit Engagement, Achtsamkeit und einem gewissen Eifer einhergeht. Wichtig ist es nochmals darauf hinzuweisen, dass Interesse und Neugierde aus der Perspektive der Schüler*innen begrifflich und konzeptuell differenziert betrachtet wurde. Wie bereits weiter oben angesprochen, muss Interesse dabei, im Gegensatz zur Vorfreude, nicht zwangsläufig mit Freude einhergehen und richtet sich auf etwas Neues bzw. Unbekanntes. Ebenso notwendig scheint die Klarstellung, dass Interesse bzw. Neugierde, trotz der geistigen oder kognitiven Anteilnahme als eine grundlegende emotionale Qualität verstanden werden muss, die mit dem Wunsch einhergeht, Neues zu erfahren oder sich Unbekanntes anzueignen. In den Kodierungen fällt auf, dass Interesse, ebenso wie Freude eher zukunftsorientiert zu sein scheint. Insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung ist bei allen Schüler*innen ein grundsätzliches Interesse Voraussetzung für die Markierung des jeweils spezifischen Gegenstandsbereichs (vgl. bspw. Sarah WS5, 1455; Donna WS3, 3305; Vera WS4, 2153; Anna WS4, 1265; Jasmin WS4, 0095). Im Kontext der Wahrnehmung dieser emotionalen Qualität ist hervorzuheben, dass diese eher konstant im Hintergrund mitschwingt, selten spontan erlebt wird und weniger an spezifische Personen oder Situationen gebunden ist. Zudem scheint das Interesse der Schüler*innen im Kontext ihres Berufsbildes, Studienwunsches oder bevorzugten Gegenstands- und/oder Tätigkeitsbereichs in erster Linie intrinsisch motiviert zu sein und – damit in Zusammenhang stehend – sich stärker an nicht-personalisierten Einflussfaktoren, wie bspw. dem Schulfach oder dem Unterrichtstil, zu orientieren. Bei allen Schüler*innen führt Interesse zur persönlichen Hingabe und zu einer gewissen Art
260
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
von Commitment und geht mit einer gerichteten Erwartungshaltung einher. Dementsprechend wird in den Ausführungen der Schüler*innen deutlich, dass Interesse bzw. Neugierde eine fördernde bzw. aktivierende Wirkung im Kontext der eigenen Bildungsbiografie hat, auch wenn die Emotion an sich, eher als Hintergrundstimmung verstanden werden kann. Es steht zwar außer Frage, dass Interesse und Neugierde eine zentrale Emotion im Kontext der Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn darstellt, dennoch ist sie nicht in gleichem Maße signifikant für die emotionalen Markierungen der Schüler*innen, wie das Erleben und Antizipieren von Stolz, Freude, Angst oder Geborgenheit. Mit Blick auf die restlichen, positiv konnotierten, emotionalen Qualitäten fällt auf, dass diesen, aus der Perspektive der Schüler*innen, weitaus weniger Bedeutung beigemessen werden muss, als den negativen Gefühlsqualitäten. Am Bedeutendsten scheint dabei noch Dankbarkeit und Wertschätzung zu sein. Diese Emotion wird vor allem mit der elterlichen Einflussnahme im Kontext bisheriger Bildungsübergänge sowie dem Rückhalt der Eltern im Kontext der eigenen Bildungsaspiration in Verbindung gebracht (vgl. bspw. Julia WS3, 0384; Donna WS1, 0382; Mira WS3, 3325; Elif WS2, 2085). Insgesamt scheint Dankbarkeit stärker von personalisierten Faktoren abhängig zu sein und es lässt sich in den Erzählungen der Schüler*innen eine Nuance bzw. ein Unterton von Schuld oder zumindest Abhängigkeit erkennen. Sehr überraschend ist die untergeordnete und eher zu vernachlässigende Bedeutung von Liebe und Zuneigung in der Bildungsbiografie der Schüler*innen. Natürlich sind der enge Freundeskreis und die Eltern mit Liebe assoziiert, aber dennoch scheint dieses Emotionspaar eher im Hintergrund zu stehen. Spannend ist allerdings, die des Öfteren festzustellende Zuneigung bestimmter Schüler*innen zu konkreten Lehrpersonen (vgl. Elif WS3, 1512; Paul WS3, 2264; Martina WS3, 2042; Jasmin WS3, 2010). Dies verdeutlicht wiederum den hohen Stellenwert des Einflusses von Lehrpersonen auf die Konstitution emotionaler Markierungen. Wenig signifikant sind in der Zusammenschau aller Kodierungen und im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen die Emotionen Hoffnung, Mut und Zuversicht sowie Vorfreude. Bei den neutralen Emotionen wurde bereits zu Beginn des Kapitels auf die Differenz zwischen Ambivalenzen und allgemeiner emotionaler Verwirrung und Ängstliche Vorfreude und Lustangst hingewiesen, die eine durchaus gewinnbringende konzeptuelle Überlegung darstellt. Auffällig im Kontext der Wahrnehmung von „Ambivalenzen und allgemeiner emotionaler Verwirrung“ bei den Schüler*innen ist, dass diese zwar relativ gegenstands- und personenunabhängig sind und somit immer wieder unspezifisch in Erscheinung treten, allerdings in den meisten Fällen zu Abwehr, Verdrängung oder Konfliktvermeidung führen (vgl. bspw. Nora WS2, 2561; Donna WS1, 2580; Anna
9.3 Zu den Qualitäten der emotionalen Markierungen
261
WS4, 2214; Jasmin WS5, 2213; Mira WS4, 0344). Im Gegensatz zu negativen Emotionen, wie bspw. Angst, scheint also emotionale Verwirrung besonders bedrohlich zu sein und daher Emotionsregulationsmechanismen zu aktivieren, die den Fokus von diesem unklaren und diffusen Gefühl weglenken. Bei den weiteren negativen Emotionen, die in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen eine zentrale Rolle einnehmen, zeigt sich in den Interpretationen, dass sich diese in erster Linie auf Schule, Unterricht und Lernen beziehen. So wird Frustration, Langeweile und Enttäuschung primär im Kontext schulischer Anforderungen und Pflichten und im Hinblick auf das didaktische Vorgehen und die Unterrichtsgestaltung von den Schüler*innen thematisiert. Das Gefühl der Frustration entsteht aus dem Erleben des schulischen Alltags als ermüdend und anstrengend und führt bei allen Schüler*innen zu einer grundsätzlich negativen, emotionalen Bewertung des Schulalltags (vgl. bspw. Donna WS2, 2031; Vera WS2, 2081; Anna WS2, 0202; Jasmin WS5, 0284; Mira WS1, 3104). Noch deutlicher wird die negative Konnotation schulischer Anforderungen im Kontext der Emotion Stress und Nervosität. Wie bereits weiter oben ausgeführt, scheint die kontinuierliche Überforderung der Schüler*innen, selbst bei sehr guten Leistungen und einer problemlosen Bewältigung der spezifischen Anforderungen, immer mit dem Gefühl von Stress einherzugehen (vgl. bspw. Elif WS2, 0251; Nora WS1, 0325; Sarah WS3, 3152; Julia WS3, 3261). Auch wenn das Erleben von Stress zu einem Anstieg der spezifischen Lernbereitschaft führt, verweisen alle Schüler*innen darauf, dass das permanente Stresserleben zu einem grundsätzlich negativen Befinden beiträgt und somit dem schulischen Wohlbefinden abträglich ist. Wenn auch weniger signifikant und nicht in derselben Häufigkeit ist auch die Subkategorie Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung im Kontext von Schule, Lernen und Unterricht zu verorten. Dabei wird besonders der Zusammenhang zur bevorstehenden Zukunft und dem damit einhergehenden Übergang in den tertiären Bildungssektor deutlich (vgl. Renate WS4, 0280; Elif WS5, 1384; Nora WS5, 1339; Sarah WS2, 2404). Im Kontext bildungsbiografischer Überlegungen und im Hinblick auf den weiteren Bildungsverlauf der Schüler*innen lässt sich konstatieren, dass sowohl Frustration als auch Stress und Hilflosigkeit zu einer negativen Bewertung von Bildung im Allgemeinen führen und somit der Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit der Schüler*innen entgegenwirken. Ähnliches gilt für Ärger, Wut und Aggression; auch hier zeigt sich eine klare Fokussierung auf Schule und schulische Anforderungen, jedoch ganz besonders auf konkrete Lehrpersonen (vgl. Donna WS5, 1344; Anna WS5, 1273; Jasmin WS3, 1154; Martina WS5, 1111; Nora WS3, 2133). Allerdings scheint Wut und Ärger durchaus eine förderliche Wirkung zu haben und zu einem generellen Anstieg der Motivation zu
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
führen. Zudem nehmen die Schüler*innen selbst Wut als äußerst positiv wahr und assoziieren damit eine Art der Bedürfnisbefriedigung. Dieser positive und förderliche Effekt von Wut und Ärger zeigt sich auch im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn und der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidungen. Eine überraschend geringe Bedeutung für die Bildungsverläufe der Schüler*innen scheint die Emotion Scham und Verlegenheit zu haben. Zwar tritt Scham immer wieder situationsspezifisch in Erscheinung, insbesondere in der Auseinandersetzung mit konkreten Lehrpersonen und dem Freundeskreis sowie im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Erwartungen, allerdings lässt sich nur schwer herausarbeiten, welche Vorstellungsbilder und Repräsentationen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie dabei zentral sind. Hierzu bedarf es weiterer Forschungsarbeiten. Dennoch kann dem Erleben von Scham eine spezifische Wirkung beigemessen werden: Kurzfristig führt das Schamgefühl zum aktiven Rückzug, zur Abwehr und zu Vermeidungsverhalten (vgl. bspw. Jasmin WS3, 0300; Elif WS1, 2374; Nora WS5, 3104; Sarah WS2, 2001), langfristig hingegen zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstkonzept und somit zur Identitätsentwicklung (vgl. bspw. Paul WS3, 2275; Donna WS5, 3062; Jasmin WS5, 2344). Es sei hier dennoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass trotz dieser aktivierenden Funktion von Scham (aktiver Rückzug und aktive Reflexion), die Schüler*innen Scham und Verlegenheit sowie die Wahrnehmung schambehafteter Situationen oder Interaktionen äußerst negativ erleben und bewerten. Scham ist ein stetiger Begleiter im Schulalltag, auf den man allerdings aus subjektiver Perspektive gerne verzichten möchte. Keinen signifikanten Stellenwert kann aus der Perspektive der Schüler*innen den Subkategorien Trauer und Melancholie, Eifersucht und Neid sowie Ekel und Abscheu zugeschrieben werden. Ebenso vernachlässigbar im Hinblick auf die Bildungslaufbahn und die bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen scheinen die Qualitäten Unglücklich-Sein und Unzufrieden-Sein sowie Glücklich-Sein und Zufrieden-Sein.
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen Die vierte und letzte Hauptkategorie der ISQIA beschäftigt sich mit den Funktionen und Wirkungen der emotionalen Markierungen im Kontext der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen. Dabei steht die Frage nach den Effekten und Folgen der emotionalen Bewertungen im Leben der Schüler*innen im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Der Begriff der Funktion soll keineswegs
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen
263
eine kausal deterministische Logik implizieren, sondern auf die Relation zwischen emotionalen Bewertungen und ihren damit einhergehenden Folgen aufmerksam machen. Somit lassen sich die Funktionen emotionaler Markierungen als bewusste und nicht-bewusste motivationale Tendenzen verstehen, die das zukünftige Verhalten der Schüler*innen beeinflussen. In der induktiv partizipativen Kategorienbildung wurde besonders deutlich, dass Funktionen keine Gemütszustände oder Vorstellungsbilder darstellen sondern als Absichten, Neigungen oder Bewegungen in Erscheinung treten. Dementsprechend wurde im Kodierleitfaden eine Reihe an Kriterien formuliert, die eine Abgrenzung zu den Qualitäten und Formen der emotionalen Markierungen deutlich machen und gleichzeitig die Identifikation der Funktionen erleichtern sollen. So gilt für die Bestimmung der Funktion und Wirkung einer emotionalen Bewertung mitunter, dass sie erstens eindeutig dem Bildungskontext zugerechnet werden können muss, dass sie zweitens für die sie berichtende Person subjektiv als real erlebt beschrieben worden sein muss und dass sie drittens im Besonderen durch den Vergleich und das Heranziehen des Kontexts der Aussage sowie durch andere Workshop-Passagen identifiziert werden kann. Unabhängig davon war die begriffliche Differenzierung der finalen Subkategorien innerhalb dieser letzten Hauptkategorie besonders aufwendig. So mussten bspw. zwei Subthemen miteinander kombiniert werden und gleichzeitig aus einer Subkategorie zwei neue Subthemen abstrahiert werden. Besonders auffällig ist dabei, dass die Funktionen, so wie sie im Kodierleitfaden beschrieben sind, begrifflich und konzeptuell für Kategorien der qualitativen Sozialforschung besonders detailliert erscheinen. Dies ist einerseits der Notwendigkeit der klaren begrifflichen Abgrenzung und andererseits der Berücksichtigung der Vorstellungen der Schüler*innen geschuldet. Besonders die entsprechenden Gegensatzpaare wurden von den Schüler*innen kritisch diskutiert und immer wieder sprachlich angepasst. Schlussendlich wurden 18 Funktionen bzw. Tendenzen entlang der Ergebnisse des ersten Kodierdurchlaufs in der Auseinandersetzung mit den Schüler*innen bestimmt, von denen, wie im Anschluss an die Übersichtstabelle gezeigt wird (siehe Tab. 9.4), drei Subkategorien besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die signifikanteste Funktion der emotionalen Markierungen im Kontext der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen und von besonderer Bedeutung für Bildungslaufbahnentscheidungen ist die Subkategorie Gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit. Diese Tendenz kann als Selbstsicherheitsfunktion verstanden werden und wird von den Schüler*innen übereinstimmend als positiv konnotierte Zuversicht gegenüber sich selbst und der eigenen Zukunft beschrieben.
264
9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Tab. 9.4 Funktionen emotionaler Markierungen (ISQIA) Funktion (=Tendenzen und Folgen, kein Gemütszustand) Subkategorie
Kodierungen
Zeit
Gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit; Selbstsicherheitsfunktion (Zuversicht)
79
0:39:02.2
Verminderte Selbstsicherheit und geringeres Selbstbewusstsein 43 (Pessimismus)
0:15:44.6
Gesteigertes Problembewusstsein und erhöhte Problemlösekompetenz
0:39:35.4
78
Gesteigerte Empathie und Einfühlungsvermögen
39
0:17:37.8
Erhöhte Hilfsbereitschaft und soziales Engagement
19
0:11:27.7
Allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft (Allg. Ehrgeiz)
62
0:30:40.8
Spezifische Lern- und Leistungsbereitschaft (Schule und Fächer)
27
0:12:18.0
Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Erschöpfung (Passiv, „Es geht nicht“)
19
0:08:26.6
Faulheit und Prokrastination (Aufschieben) (Aktiv, „Ich will nicht“)
15
0:10:12.7
Rückzug, Konfliktvermeidung und antisoziale Tendenzen (soziale Isolation und Selbstschutz)
34
0:14:47.3
Commitment und persönliche Hingabe (in bestehenden sozialen Beziehungen)
17
0:09:50.2
Beziehungsgestaltung und soziale Vernetzung (Anbahnung sozialer Beziehungen)
17
0:09:16.9
Kommunikationsbereitschaft und Mitteilungsbedürfnis (in Interaktionen)
20
0:11:23.2
Moralentwicklung und die Veränderung von Normen, Werten und Konventionen
43
0:28:07.0
Vermeidung der bewussten Auseinandersetzung mit dem Erlebten (Abwehr und Verleugnung)
39
0:14:56.8
Handlungsumsetzung bzw. das konkrete Setzen von spezifischen Handlungen
10
0:05:00.8
Ritualisierung von Handlungen (bzw. wiederholende Handlungen mit Symbolgehalt)
21
0:15:03.0
Tiefgreifende und umfassende Identitätsentwicklung („Dann war ich ein anderer“)
16
0:09:37.2
Quelle: Eigene Darstellung
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen
265
Für Julia ist dabei besonders der Stolz anderer Personen bzw. die Anerkennung und das Lob von anderen wichtigen Bezugspersonen relevant (vgl. Julia WS5, 1254). Ebenso erhöht die wiederholte Bewältigung schulischer Anforderungen, im Gegensatz zu einmaligen Erfolgserlebnissen oder guten Noten, ihr Selbstvertrauen (vgl. Julia WS5, 1265). Besonders deutlich wird die Bedeutung der erhöhten Selbstsicherheit, wenn Julia über ihre Bildungslaufbahnentscheidungen spricht. Sowohl für vergangene Bildungsentscheidungen (vgl. Julia WS5, 3275) als auch für die zukünftige Entscheidung über ihren weiteren beruflichen Werdegang sieht sie ihre Selbstsicherheit als eine notwendige Voraussetzung eigenständig und nach bestem Wissen und Gewissen eine potentielle Möglichkeit auszuwählen (vgl. Julia WS5, 3422). Auch für Donna ist das soziale Umfeld ein Indikator für die eigene Selbstsicherheit. Besonders der Freundeskreis und die Rückmeldungen bzw. das Feedback von Freunden stärkt ihr Selbstbild und erhöht ihr Selbstvertrauen (vgl. Donna WS4, 2391). Dabei scheint es für sie in der Auseinandersetzung mit Freunden zu einer Angleichung von Selbstund Fremdbild zu kommen, die ihre eigene Selbstsicherheit auch dann erhöht, wenn es sich um kritische Rückmeldungen handelt (vgl. Donna WS4, 2394). Dies wiederum ermöglicht ihr, ihre eigenen Bedürfnisse im Kontext zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen durchzusetzen und sich besser vom elterlichen Einfluss und den Bedürfnissen anderer abzugrenzen. Für Vera ist neben dem Vergleich mit anderen und dem Erkennen, dass man sich leistungsorientiert auf Augenhöhe mit ihnen befindet (vgl. Vera WS3, 2442) besonders das Erleben von Kompetenz und Handlungsfähigkeit in unterschiedlichen Domänen eine zentrale Voraussetzung für eine gesteigerte Selbstsicherheit (vgl. Vera WS3, 3301 sowie Vera WS5, 2074). Ihr erhöhtes Selbstvertrauen geht wiederum mit Mut und Hoffnung einher und ermöglicht ihr eine prospektive Perspektive auf die eigene Zukunft. Ähnlich wie Donna verweist auch Anna auf die Notwendigkeit der konflikthaften Auseinandersetzung mit anderen für die Entwicklung der eigenen Selbstsicherheit (vgl. Anna WS2, 2532). Zudem betont auch sie die Bedeutung des Feedbacks durch Freunde als zentralen Bezugspunkt für ein positives Selbstbild (vgl. Anna WS5, 2391). Ebenso bezieht sie sich auf das Erleben von positiven Emotionen und besonders auf das Erleben von Freude und Begeisterung, die ihre eigene Selbstsicherheit erhöhen. Berücksichtigt man Annas durchwachsene Bildungsbiografie verdeutlicht die Tatsache, dass sie aufgrund ihres Selbstvertrauens der eigenen Zukunft optimistisch entgegenblicken kann (vgl. Anna WS5, 2121), den zentralen Stellenwert dieser Subkategorie. Auch bei den anderen Schüler*innen gestaltet sich die Tendenz der erhöhten Selbstsicherheit in ähnlicher Weise. So zeigt sich bspw. auch bei Jasmin und Renate die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit anderen bzw. des Austausches
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
und Feedbacks (vgl. Jasmin WS3, 1112; Renate WS3, 3305) sowie die zentrale Bedeutung des Freundeskreises und der Peer für ein positives Selbstbild und ein gesteigertes Selbstvertrauen (vgl. Jasmin WS4, 1340; Renate WS4, 2465). Ebenso verweisen beide auf das, mit Stolz einhergehende, Erleben von Selbstwirksamkeit und Kompetenz (vgl. Jasmin WS5, 1314; Renate WS3, 3014). Zusammenfassend kann im Hinblick auf die Subkategorie Gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit festgehalten werden, dass diese immer mit positivem, emotionalem Erleben einhergeht. Besonders Freude, Stolz, Mut, Geborgenheit und Dankbarkeit sind dabei wirkmächtige emotionale Qualitäten. Neben dem Erleben von Handlungsfähigkeit, als dem zentralen Moment für eine gesteigerte Selbstsicherheit, ist besonders der soziale Austausch eine wichtige Komponente für ein positives Selbstbild. Und auch hier scheinen die Rückmeldungen und das Feedback der Peer wichtiger zu sein und eher internalisiert werden zu können, als bspw. das Lob der Eltern oder Lehrer*innen. Der wohl wichtigste Zusammenhang, und gleichzeitig ein Effekt der sich bei allen Schüler*innen einstellte, ist, dass eine erhöhte Selbstsicherheit nicht nur eine optimistische Grundeinstellung bezüglich der eigenen Zukunft ermöglicht, selbst wenn die bisherige Bildungslaufbahn von traumatischen Erfahrungen gekennzeichnet ist, sondern den Schüler*innen auch die Angst und Unsicherheit vor der zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidung nimmt. Somit liegt der Schluss nahe, dass eine gesteigerte Selbstsicherheit eine nachhaltige und kluge Bildungslaufbahnentscheidung, im Sinne der Berücksichtigung eigener Wünsche und Bedürfnisse, ermöglicht. Die zweite Subkategorie innerhalb der Funktionen emotionaler Markierungen, die einen signifikanten Effekt auf die Bildungsbiografie der Schüler*innen hat, ist die Tendenz Gesteigertes Problembewusstsein und erhöhte Problemlösekompetenz. Dieses Wirkungsprinzip kann verstanden werden als die Fähigkeit Probleme als solche zu erkennen und einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Dementsprechend geht es dabei auch um die Entwicklung neuer Perspektiven und Ideen im Sinne kreativer und selbstreflexiver Prozesse. Bei Martina zeigt sich ihr gesteigertes Problembewusstsein immer wieder in ihrer realistischen Einschätzung bezüglich ihres Studienwunsches bei gleichzeitiger Abwägung potentieller Berufschancen (vgl. Martina WS4, 0393). So ist für sie das Wirtschaftsstudium ein Mittel zum Zweck, um ihren eigentlichen Interessen im Kontext von Mode und Kunst nachzukommen (vgl. Martina WS4, 2061). Dieser klare Fokus auf die eigene Zukunft zeigt sich auch in der sekundären Priorisierung von Partnerschaft und Beziehung (vgl. Martina WS4, 3191). Als besonders prägend für ihr Problembewusstsein und ihre gesteigerte Problemlösekompetenz bezeichnet sie die Angst vor der Zukunft (vgl. Martina WS3, 2060) sowie negative Erfahrungen mit KlassenKolleg*innen in Schule
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen
267
und Unterricht (vgl. Martina WS5, 1140 sowie Martina WS5, 3414), die mit Wut oder Hilflosigkeit assoziiert sind. Am bedeutendsten ist für sie allerdings die konkrete Auseinandersetzung mit spezifischen Unterrichtsfächern (vgl. Martina WS5, 3405). Auch Paul verweist auf die Bedeutung der intensiven Auseinandersetzung mit einem bestimmten Unterrichtsfach für seine allgemeine Problemlösekompetenz (vgl. Paul WS1, 1424). Dabei sind die eigenen Vorlieben und Interessen zweitrangig; in Pauls Fall war es die Auseinandersetzung mit Projektmanagement. Mehr noch als Martina sieht er aber den Freundeskreis und KlassenKolleg*innen als prägend für seine erweiterte Perspektive im Kontext bildungsbiografischer Überlegungen (vgl. Paul WS4, 2533). So ermöglichen seine Freunde nicht nur eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, sondern helfen ihm auch bei der Reflexion über seine konkrete Berufswahl (vgl. Paul WS4, 3124). Zudem scheint die Unterstützung durch Freunde für ihn prägender zu sein, als die seiner Eltern oder Lehrpersonen (vgl. Paul WS3, 3285). Und auch Paul verweist auf die zentrale Bedeutung negativer Erfahrungen und Emotionen, wie bspw. die Notwendigkeit von Frustration für das Nachdenken über sich selbst und seine Stellung in der Welt (vgl. Paul WS4, 3124). Miras gesteigertes Problembewusstsein zeigt sich, ähnlich wie bei Martina, in der notwendigen Annäherung von eigenen Wünschen und Bedürfnissen an die tatsächlichen Anforderungen der Berufswelt (vgl. Mira WS4, 2243). Auch für sie ist dabei die Auseinandersetzung mit negativen Emotionen von zentraler Bedeutung. So bezieht sie sich einerseits auf die Erfahrung anderer respektive irritierende Sichtweisen durch die Peer und dem damit einhergehenden Gefühl der Verunsicherung und Angst, das in weiterer Folge die eigene Perspektive erweitert (vgl. Mira WS5, 3401). Andererseits verweist auch Mira auf die intensive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, der zu einem allgemeinen Reflexionsanstoß führt und in weiter Folge die eigene Problemlösekompetenz steigert (vgl. Mira WS5, 3451). Auch Elif, deren intensive Auseinandersetzung mit Wissensbeständen bislang eher gezwungenermaßen stattfand und dementsprechend negativ konnotiert ist, bezieht sich explizit auf die Bedeutung dieses Kampfes für die Entwicklung einer kritischen Perspektive auf sich selbst und eines erweiterten Problembewusstseins (vgl. Elif WS1, 3024). Nora bezeichnet die einschneidende Beschäftigung mit einem Unterrichtsgegenstand sogar explizit als studienwahlentscheidungsunterstützend und verweist auf ihr dabei entwickeltes Problembewusstsein (vgl. Nora WS5, 3382). Wie wichtig die Auseinandersetzung mit negativen Emotionen für das eigene Problembewusstsein ist, wird bei Sarah ersichtlich, wenn sie das durchaus kränkende Erkennen der eigenen Lernschwächen, respektive die Bewusstwerdung derselben, als hilfreich und notwendig für ihr Selbstkonzept bezeichnet (vgl. Sarah WS2, 2354).
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Und auch bei ihr führt die kritische Auseinandersetzung mit anderen, zu einer Steigerung der eigenen Problemlösekompetenz (vgl. Sarah WS1, 1030). Bei allen Schüler*innen lässt sich klar zeigen, dass besonders die Reflexion negativer Erfahrungen das eigene Problembewusstsein erhöht. Dabei scheint zum einen die intensive Beschäftigung mit einem bestimmten Schulfach, sei es aufgrund von Interesse oder aufgrund von Zwang, in weiterer Folge die eigene Problemlösekompetenz zu steigern. Zum anderen ist die Unterstützung und Auseinandersetzung mit der Peer und dem Freundeskreis besonders hilfreich für die Ausbildung eines gesteigerten Problembewusstseins. In beiden Fällen allerdings sind es negative Emotionen, insbesondere Angst und Wut, die dieser Tendenz gegenüber förderlich erscheinen. Das gesteigerte Problembewusstsein wiederum ermöglicht nicht nur eine realistische Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen, sondern auch eine selbstkritische Haltung im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn. Das dritte signifikante Subthema im Kontext der Folgen und Wirkungsweisen emotionaler Markierungen, das für die Bildungsbiografie der Schüler*innen von zentraler Bedeutung ist, ist die Allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft. Diese Tendenz wird verstanden als allgemeiner Ehrgeiz, der sich nicht auf ein spezifisches Schulfach oder einen bestimmten Gegenstand richtet, sondern generelle die Motivation und den Antrieb der Schüler*innen steigert. Als zweite relevante und hiervon abzugrenzende Kategorie wurde die Spezifische Lern- und Leistungsbereitschaft bestimmt, die sich in erster Linie auf Schule, Schulfächer und spezifische Gegenstandsbereiche konzentriert, wohingegen die allgemeine Motivation nicht nur auf ein Schulfach oder einen Test fokussiert und auch nicht nur den Lern- und Leistungskontext institutionalisierter Bildung umfasst. Besonders deutlich tritt innerhalb der Subkategorie „Allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft“ der Zusammenhang zwischen Anerkennung und Motivation in Erscheinung: Für Julia sind dabei besonders Erfahrungen motivationsfördernd, die mit sozialer Wertschätzung einhergehen. Dies betrifft Lob und Anerkennung für ihre schulischen Leistungen, wie bspw. die Auszeichnung als Klassenbeste (vgl. Julia WS5, 1280) und die damit einhergehende Wahrnehmung durch die KlassenkameradInnen. Ebenso berichtet sie von Erfahrungen, in denen sie sich als besonders kompetent erlebt hat, die ihre allgemeine Bereitschaft sich anzustrengen und gut sein zu wollen steigern (vgl. Julia WS1, 1072). Im Kontext der Beziehungsebene zu Lehrpersonen hingegen, scheint die Leistungsbereitschaft spezifischer zu sein, wie dies bereits im Kapitel zu den Einflussfaktoren deutlich wurde (siehe Abschn. 9.2). Dennoch wirkt sich die positive Beziehung zu spezifischen Lehrpersonen auch auf die allgemeine Motivation aus, wenngleich die
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen
269
spezifische Lernbereitschaft (bspw. für ein Fach, für ein Projekt oder eben für eine Lehrer*in) dabei weitaus mehr gesteigert wird (vgl. Julia WS3, 2925). Auch Für Donna ist die Anerkennung ein zentraler Antrieb im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn. So spricht sie bspw. davon, mehr erreichen zu wollen als ihre Eltern und etwas zu schaffen, das ihre Eltern nicht geschafft zu haben (vgl. Donna WS3, 1343). Auch die Angst vor Beschämung und die Antizipation von Kritik durch andere, ist für sie ein Motivator, sich mehr anzustrengen und generell bessere Leistungen zu erbringen (vgl. Donna WS5, 3062). Ähnlich wie Julia bezeichnet auch sie das Lob und die Anerkennung von außen als Impulsgeber für ihre allgemeine Motivation (vgl. Donna WS5, 3154). Vera spricht demgegenüber vom starken Wunsch nach Erfolg und Selbstverwirklichung, der für sie ein immer wiederkehrendes Motiv ist, sich anzustrengen und gute Leistungen zu erbringen (vgl. Vera WS4, 2194). Gleichzeitig ist auch für sie die Anerkennung von außen besonders wichtig für ihren allgemeinen Antrieb (vgl. Vera WS5, 3203). Und auch bei Vera steigert die Beziehungsebene zu konkreten Lehrperson die spezifische Anstrengungsbereitschaft, die wiederum einen Einfluss auf ihre grundsätzliche Haltung gegenüber Schule hat und somit auch die allgemeine Motivation indirekt beeinflusst (vgl. Vera WS2, 1125). Gleiches gilt für Jasmin, wenn sie ihre Lehrerin als Grund für ihr gesteigertes Interesse an Biologie nennt (vgl. Jasmin WS4, 0101). Wie bereits Vera wird auch Jasmin durch das Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung motiviert (vgl. Jasmin WS5, 2202), insbesondere wenn sie über ihre eigene Zukunft nachdenkt (vgl. Jasmin WS4, 2343). Die Selbstverwirklichung durch das Studium und den Arztberuf bezeichnet sie dementsprechend als intrinsisch motiviert (vgl. Jasmin WS4, 2484). Besonders deutlich wird in Jasmins Ausführungen der Zusammenhang zwischen Interesse bzw. Neugierde und der allgemeinen Anstrengungsbereitschaft (vgl. Jasmin WS5, 3052 sowie Jasmin WS5, 2050). Dieser Konnex zwischen Interesse und allgemeiner Motivation wird auch bei Renate deutlich (vgl. Renate WS1, 1021). Doch auch für sie scheint die Anerkennung von außen ebenso von zentraler Bedeutung zu sein. Besonders das Verlangen nach Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung stellt für Renate eine Motivationsgrundlage dar und beflügelt ihren Ehrgeiz (vgl. Renate WS3, 3311). Zudem steigern positive Rückmeldungen auf die eigene Leistung die generelle Anstrengungsbereitschaft (vgl. Renate WS5, 30126). Der Wunsch nach Erfolg und Selbstverwirklichung scheint auch in der Lebenswirklichkeit von Martina als zentraler Bezugspunkt für den eigenen Antrieb und die allgemeine Motivation zu fungieren (vgl. Martina WS4, 3251 sowie Martina WS3, 3410). Gleichzeitig erlebt sie in Schule und Unterricht die Anerkennung und Wertschätzung von außen als aktuellen Motivationsfaktor (vgl. Martina WS3, 3484). Dieses interdependente Verhältnis scheint für alle Schüler*innen zuzutreffen:
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Die Anerkennung und Wertschätzung der Gegenwart, die zur Steigerung der allgemeinen Motivation beiträgt, führt zum Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung in (der Antizipation) der Zukunft, welche wiederum als genereller Ehrgeiz in Erscheinung tritt. Mit Blick auf die Ausführungen der Schüler*innen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die „Allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft“ einerseits stark von der Anerkennung von außen abhängt und andererseits mit Erfolgserlebnissen und dem Kompetenzerleben zusammenhängt, das möglicherweise als eine Anerkennung von innen verstanden werden kann. Ebenso deutlich wird die Bedeutung des Verlangens nach Erfolg und Selbstverwirklichung für den allgemeinen Ehrgeiz und Antrieb der Schüler*innen. Die Beziehungsebene hingegen, bspw. zu einer konkreten Lehrperson, scheint sich vorrangig auf die spezifische Leistungsbereitschaft auszuwirken. Im Kontext der emotionalen Qualitäten fällt auf, dass für die allgemeine Motivation besonders positive Emotionen förderlich zu sein scheinen. Neben Stolz und Freude ist dabei besonders „Interesse und Neugierde“ ein zuverlässiger Motivator sich anzustrengen. Wut und Scham hingegen scheinen (ebenso wie Zuneigung bzw. Liebe) eher die spezifische Leistungsbereitschaft zu steigern. Dies legt wiederum den Schluss nahe, dass die kontinuierliche Erfahrung positiver Emotionen die generelle Einstellung zu Schule, Unterricht und Bildung sowie die allgemeine Bereitschaft sich im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn anzustrengen und seine Ziele zu erreichen nachhaltig prägt. Neben diesen drei zentralen Funktionen emotionaler Markierungen, die als primäres Ergebnis der vierten Hauptkategorie bezeichnet werden können, lassen sich weitere Tendenzen beschreiben, die im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen und im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung der eigenen Bildungsbiografie von Bedeutung sind, auch wenn deren Signifikanzniveau weitaus geringer eingeschätzt werden muss. Ein Effekt, der hierzu gezählt werden kann, betrifft die Subkategorie Moralentwicklung und die Veränderung von Normen, Werten und Konventionen. Dabei sind es, neben der Auseinandersetzung mit und der Abgrenzung von den Eltern (vgl. bspw. Mira WS4, 2223; Vera WS3, 3460; Jasmin WS4, 2180), besonders schulische und außerschulische Schlüsselerlebnisse, die die eigenen moralischen Wertmaßstäbe im Hinblick auf die Gestaltung des zukünftigen Bildungsverlaufs nachhaltig prägen (vgl. bspw. Nora WS3, 2212; Donna WS4, 3110; Anna WS3, 1222; Jasmin WS3, 1092; Martina WS5, 1111; Paul WS3, 2275). Besonders deutlich werden dabei der Einfluss negativer Erfahrungen und diesbezügliche Emotionen, wie bspw. soziale Ausgrenzung oder Mobbing sowie traumatische Erlebnisse im Kontext von Krankheit und Tod, die die eigenen Prioritäten neu ordnen und Wichtigkeitsbesetzungen im
9.4 Zu den Funktionen der emotionalen Markierungen
271
Hinblick auf den bevorstehenden Bildungsübergang adaptieren. Des Weiteren ist die Subkategorie Verminderte Selbstsicherheit und geringeres Selbstbewusstsein ein immer wieder kehrendes Thema der Schüler*innen. Dabei sind zwei Erlebnisqualitäten zentral. Zum einen scheint die bevorstehende Zukunft und die damit einhergehende Angst das eigene Selbstbewusstsein zu schmälern, was sich natürlich in weiterer Folge negativ auf die zukünftige Bildungslaufbahnentscheidung auswirkt (vgl. bspw. Julia WS4, 0164; Vera WS4, 3035; Renate WS3, 1534; Martina WS5, 2381; Mira WS4, 0334). Zum anderen führt das schambesetzte Erleben von Inkompetenz und Handlungsunfähigkeit zu einer geringeren Selbstsicherheit und einem negativ konnotierten Selbstbild (vgl. bspw. Sarah WS5, 3104; Donna WS4, 2582; Anna WS4, 2403; Jasmin WS5, 0254; Paul WS5, 0130), wodurch auch hier die eigenen Bedürfnisse in der Gestaltung der bevorstehenden Bildungslaufbahn in den Hintergrund gedrängt werden. Durchaus nachvollziehbar und bereits in den vorherigen Kapiteln deutlich geworden ist der Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung mit dem Freundeskreis bzw. das Erleben von sozialer Eingebundenheit und der Funktion Gesteigerte Empathie und Einfühlungsvermögen (vgl. bspw. Donna WS1, 2414; Vera WS5, 3200; Jasmin WS1, 2405; Martina WS5, 3412; Mira WS1, 3205; Sarah WS5, 3014). Diese wiederum beeinflusst nicht so sehr die eigene Bildungslaufbahn respektive die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung, sondern ermöglicht eine selbstreflexiv emotionale Bezugnahme auf die Bedürfnisse und Wünsche anderer Personen. Zwei weitere durchaus negative konnotierte Funktionen emotionaler Bewertungen, die in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen eine, wenn auch untergeordnete, Rolle spielen, sind die Vermeidung der bewussten Auseinandersetzung mit dem Erlebten und Rückzug, Konfliktvermeidung und antisoziale Tendenzen. Dabei fällt auf, dass Rückzug und antisoziale Tendenzen in erster Linie im Kontext von Scham und Verlegenheit und dem damit einhergehenden Erleben von Inkompetenz und Handlungsunfähigkeit in Erscheinung treten (vgl. bspw. Anna WS4, 1280; Jasmin WS3, 0300; Sarah WS2, 2001) oder aber die Folge des Erlebens von Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung sind (vgl. bspw. Martina WS3, 2010; Elif WS5, 2153; Nora WS3, 2163). Die Vermeidung der bewussten Auseinandersetzung mit dem Erlebten entsteht demgegenüber – neben schweren, traumatischen Erlebnissen, wie bspw. dem Tod von Geschwistern oder der Androhung und/oder dem versuchten Suizid – wie bereits zuvor erwähnt vorrangig durch das Erleben von ambivalenten Emotionen und dem Gefühl emotionaler Verwirrung (vgl. bspw. Nora WS2, 2561; Paul WS3, 3431; Jasmin WS5, 2475; Anna WS4, 3165). Eine weitere negative Folge der emotionalen Bewertung der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen, die sich in jeder Phase der Bildungsbiografie wiederfindet und für alle Schüler*innen
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
gleichermaßen wirkmächtig ist auch wenn sie in ihrer Häufigkeit nicht so signifikant erscheint, betrifft den kausalen Zusammenhang von schulischen Anforderungen und der Subkategorie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Erschöpfung (vgl. bspw. Paul WS1, 2134; Nora WS5, 3275; Sarah WS3, 3152; Donna WS2, 2042; Jasmin WS2, 2380). Dies verdeutlicht abermals die Problematik des Erlebens permanenter Überforderung in der Sekundarstufe II. Abschließend sei noch auf eine weitere Beobachtung im Kontext der verbleibenden positiv konnotierten Funktionen hingewiesen, auch wenn diese keine Relevanz für die Bildungslaufbahn der Schüler*innen zu haben scheinen. Es mag zwar wenig überraschend sein, aber die Subkategorien Beziehungsgestaltung und soziale Vernetzung sowie Kommunikationsbereitschaft und Mitteilungsbedürfnis gehen größtenteils mit der Emotion „Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen“ einher und die Subkategorien Erhöhte Hilfsbereitschaft und soziales Engagement sowie Commitment und persönliche Hingabe stehen in engem Zusammenhang mit „Freude, Spaß und Begeisterung“. Auch wenn alle vier Subthemen eine vernachlässigbare Rolle im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen spielen, so verdeutlichen sie doch die Bedeutung positiven emotionalen Erlebens in Schule und Unterricht respektive im Kontext von Bildungsprozessen. Wie bereits im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, besteht ein interdependentes Verhältnis zwischen der Funktion Ritualisierung von Handlungen und der emotionalen Qualität der Geborgenheit. Allerdings lässt die Tendenz der Ritualisierung (im hier vorliegenden Material) keine direkten Rückschlüsse auf die Bildungsbiografie der Schüler*innen zu. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass den Subkategorien Handlungsumsetzung bzw. das konkrete Setzen von spezifischen Handlungen, Faulheit und Prokrastination sowie tiefgreifende und umfassende Identitätsentwicklung keine signifikante Bedeutung im Kontext der Funktionen und Wirkungen von emotionalen Markierungen zugesprochen werden kann.
9.5 Zentrale Zusammenhänge zwischen den Hauptkategorien Bevor die Teilergebnisse aus der standardisierten Videoanalyse vorgestellt werden, sollen im Sinne der Identifikation von Themenclustern Querverbindungen zwischen den Hauptkategorien herausgearbeitet werden, die sich bereits in der Darstellung der vier Hauptthemen abgezeichnet haben und die dem konsekutiven Charakter des Kategoriensystems gerecht werden. Im Folgenden werden allerdings lediglich jene Querverbindungen thematisiert, die mit den
9.5 Zentrale Zusammenhänge zwischen den Hauptkategorien
273
zentralen bzw. signifikanten Subkategorien der ISQIA in Verbindung stehen. Die Darstellung folgt dabei der konsekutiven Logik und Gerichtetheit der vier Hauptkategorien, wobei sich im Folgenden (a) aus Einflussfaktor und Qualität das Vorstellungsbild ergibt und (b) dem Vorstellungsbild, dem Einflussfaktor und der Qualität eine spezifische Funktion zugrunde liegt. Der, gegen den Uhrzeigersinn gerichtete, Pfeil wiederum verweist (c) auf den zyklischen Charakter der emotionalen Markierungen bzw. auf den Sachverhalt, dass die Funktion und die Form in einem interdependenten Verhältnis stehen und sich gegenseitig bedingen. • [Positive Markierung von allgemeiner Tätigkeit und praktischem Tun]: Erleben von Handlungsfähigkeit => Stolz und Selbstwertgefühl => Gesteigerte Selbstsicherheit (oder allgemeine Motivation): Besonders deutlich wird in der Ergebnisdarstellung der kausale Zusammenhang zwischen dem Erleben von Handlungsfähigkeit und Stolz. Beide führen zu einer positiven, mit dem eigenen Selbstkonzept in Einklang stehenden Markierung einer allgemeinen Tätigkeit, die wiederum richtungsweisend für zukünftige Bildungslaufbahnentscheidungen ist. In erster Linie lässt sich innerhalb dieser Konstellation (Tätigkeit, Handlungsfähigkeit, Stolz) eine gesteigerte Selbstsicherheit beobachten, wobei in manchen Fällen dabei auch die allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft der Schüler*innen erhöht wird. • [Positive Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession (oder Positive Markierung von allgemeiner Tätigkeit]: Peer und Freundeskreis => Freude, Spaß und Begeisterung (oder Geborgenheit) => Gesteigertes Problembewusstsein (oder Moralentwicklung): Die meisten Schüler*innen verbinden mit der Gleichaltrigengruppe und dem Freundeskreis Freude und Geborgenheit, auch wenn die gemachten Erfahrungen nicht immer positiv besetzt sind. In der Auseinandersetzung mit Peer entstehen positive Markierungen zukünftiger Berufsbilder und in manchen Fällen auch positive Markierungen allgemeiner Tätigkeiten. Begleitet werden diese wiederum von einem gesteigerten Problembewusstsein und einer erhöhten Problemlösekompetenz. In manchen Fällen lässt sich dabei auch eine Veränderung der eigenen Normen und Werte beobachten. • [Negative Markierung von Ausbildungs- und Studienbild (oder Negative Markierung von Berufsbild)]: Schulische Anforderungen => Stress und
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9 Inhaltlich Strukturierende Qualitative Inhaltsanalyse (ISQIA)
Nervosität (oder Ärger oder Angst) => Spezifische Leistungsbereitschaft (versus Niedergeschlagenheit): Ebenso deutlich wurde in den Ausführungen der Schüler*innen die permanente Überforderung durch die schulischen Anforderungen und Pflichten, die in den meisten Fällen mit einem erhöhten Stresslevel einhergeht. Seltener führen diese schulischen Anforderungen aber auch zu Angst oder Wut. Daraus resultiert eine negative Markierung von Ausbildungs- und Studienbildern oder in manchen Fällen auch eine negative Markierung des zukünftigen Berufsbildes, die somit mit dem eigenen Selbstkonzept unvereinbar erscheinen und abgelehnt werden. Begleitet wird diese Trias in der Regel von einer spezifischen Leistungsbereitschaft oder aber führt, wenn die negativen Emotionen in ihrer Intensität zu wirkmächtig sind, zu Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit. • [Negative Markierung von Gegenstand oder Interessengebiet (oder Negative Markierung von Berufsbild)]: Konkrete Lehrperson => Ärger, Wut und Aggression (oder Angst oder Scham) => Spezifische Leistungsbereitschaft (selten Allgemeine Motivation): Auch wenn die Beziehungsebene zu den Lehrpersonen in vielen Fällen positiv konnotiert ist, wird in den Ergebnissen besonders deutlich, dass die konkrete Lehrperson (als Projektionsfläche) in den meisten Fällen negativ besetzt ist, selbst wenn sie als Rollenvorbild dient. Dabei scheint besonders Ärger und Wut als zentrale emotionale Qualität die Beziehungskonstellation zu begleiten. In selteneren Fällen sind allerdings auch Angst oder Scham involviert. Diese führen wiederum zur negativen Markierung von bestimmten Gegenstandsbereichen und in manchen Fällen zur negativen Markierung eines Berufsbildes. In den meisten Fällen lässt sich dabei eine spezifische Anstrengungsbereitschaft beobachten, die (wie bereits in 4.1.2 ausgeführt) zuweilen in eine allgemeine Motivationsbereitschaft umschlagen kann. • [Positive Markierung von Gegenstand oder Interessengebiet]: Schulfach und Unterrichtsgegenstand => Stolz und Selbstwertgefühl (oder Interesse und Neugierde) => Gesteigertes Problembewusstsein: Die intensive Auseinandersetzung mit einem Schulfach wird von den Schüler*innen positiv erlebt und geht in den meisten Fällen mit Stolz einher, oder seltener mit Interesse und Neugierde. Dies führt wiederum zu einer positiven Markierung von bestimmten Interessengebieten im Kontext zukünftiger
9.5 Zentrale Zusammenhänge zwischen den Hauptkategorien
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Bildungslaufbahnentscheidungen. Dabei lässt sich innerhalb dieser Gruppierung ein gesteigertes Problembewusstsein bei den Schüler*innen beobachten. • [Verlangen nach Sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung]: Anerkennung (innen: Erleben von Handlungsfähigkeit; außen: Allgemeines Lob) => Interesse und Neugierde (oder Freude oder Stolz) => Allgemeine Motivation: Die Anerkennung von anderen, die sich oft im allgemeinen Lob ausdrückt, oder aber die Anerkennung von sich selbst, die im Erleben von Kompetenz und Selbstwirksamkeit gründet, wird immer von positiven Emotionen begleitet. Besonders Interesse und Neugierde sowie Freude und Stolz sind dabei im Erleben der Schüler*innen zentral. Daraus resultiert ein allgemeines Verlangen nach sozialer Wertschätzung, das im Kontext der zukünftigen Lebensplanung besonders wirkmächtig ist. Begleitet wird diese Trias von der allgemeinen Motivation und Anstrengungsbereitschaft der Schüler*innen. Besonders in diesem Themencluster wird die wechselseitige Abhängigkeit von Form und Funktion deutlich. • [Negative Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession (oder Negative Markierung von Ausbildungs- und Studienbild)]: Eltern => Stolz und Selbstwertgefühl (oder Dankbarkeit oder Wut) => Gesteigertes Problembewusstsein (oder Moralentwicklung): Ebenso deutlich wurde in den Ausführungen der Schüler*innen, dass die Auseinandersetzung mit und die Beziehung zu den Eltern einen besonderen Stellenwert in ihrer Lebenswirklichkeit einnimmt. Diese Beziehungskonstellation geht meist mit Stolz einher, in selteneren Fällen auch mit Dankbarkeit oder Wut. Unabhängig der emotionalen Konnotation führt dies in den meisten Fällen zu einer negativen Markierung von Berufsbildern oder aber zu einer negativen Markierung bestimmter Studienbilder. Die Abgrenzung der Schüler*innen zu den Eltern hat dabei eine identitätsstiftende Funktion. In erster Linie lässt sich innerhalb dieser Konstellation ein gesteigertes Problembewusstsein bei den Schüler*innen beobachten; in manchen Fällen auch eine Entwicklung der Moral. • [Positive Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession]: Negative Erfahrungen (Prägende Schlüsselerlebnisse) => Negative Emotionen (Angst oder Wut) => Moralentwicklung:
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Besonders prägende negative Erfahrungen, wie bspw. spezifische Schlüsselerlebnisse, werden von negativen Emotionen begleitet. Insbesondere Angst und Wut treten dabei im Erleben der Schüler*innen zum Vorschein. Dennoch wirkt dieses negative Zusammenspiel positiv auf die Markierung spezifischer Berufsbilder. Dies unterstreicht einmal mehr, die Wirkmächtigkeit negativer Erfahrungen und Emotionen für die Ausbildung positiv konnotierter Vorstellungsbilder im Kontext der eigenen Lebens- und Lerngeschichte. Dementsprechend liegt es nahe, dass diese Konstellation zur Moralentwicklung der Schüler*innen führt bzw. von dieser begleitet wird. • [Negative Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession (oder Negative Markierung von Ausbildungs- und Studienbild)]: Unsichere Zukunft (oder Erleben von Inkompetenz) => Angst => Verminderte Selbstsicherheit: Die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit der unmittelbaren Zukunft geht bei allen Schüler*innen, ob bewusst oder nicht-bewusst, mit Angst und Furcht einher. Ebenso wie das Erleben von Inkompetenz führt diese Angst vor dem Unbekannten zur negativen Markierung zukünftiger Berufsbilder oder in manchen Fällen auch zur negativen Markierung bestimmter Studiengänge. Dementsprechend wird diese Konstellation von einer verminderten Selbstsicherheit der Schüler*innen begleitet. • [Positive Markierung von Gegenstand und Interessengebiet]: Soziale Eingebundenheit, Peer oder Eltern => Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen => Gesteigerte Selbstsicherheit (oder Allgemeine Motivation): Unterschiedliche Beziehungskonstellationen, vor allem zur Peer und zu den eigenen Eltern, sowie die eigene soziale Eingebundenheit in Schule und Unterricht ermöglichen das Gefühl von Geborgenheit. Geborgenheit hat in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen einen außerordentlich hohen Stellenwert und ermöglicht es ihnen, ihre Umgebung zu erkunden und ihr Selbstkonzept kritisch zur Disposition zu stellen. Die Eingebundenheit, der Freundeskreis und die Eltern sowie die damit einhergehende Geborgenheit führen zur positiven Markierung von spezifischen Gegenstandsbereichen und Interessengebieten. Innerhalb dieser Trias lässt sich vor allem eine gesteigerte Selbstsicherheit beobachten, wobei in manchen Fällen auch die allgemeine Motivation der Schüler*innen erhöht wird.
9.5 Zentrale Zusammenhänge zwischen den Hauptkategorien
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• [Positive Markierung von Gegenstand und Interessengebiet]: Schulfach und Unterrichtsgegenstand => Interesse und Neugierde => Allgemeine Motivation: Ebenso verdeutlichen die Ergebnisse den Zusammenhang zwischen der intensiven Auseinandersetzung mit einem spezifischen Schulfach und dem daraus resultierenden, allgemeinen Interesse. Beide ermöglichen wiederum eine positive Markierung von bestimmten Gegenstandsbereichen und Interessengebieten. Begleitet wird die Trias von Gegenstand, Schulfach und Interesse von einer allgemeinen Motivation und Anstrengungsbereitschaft der Schüler*innen. • [Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung]: Eltern => Negative Emotion (Angst, Ärger, Hass) => Allgemeine Motivation (oder Moralentwicklung) In der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern entstehen, auch wenn die Beziehung zu ihnen wertschätzend und liebevoll erlebt wird, oft negative Emotionen wie Hass, Ärger oder Angst, insbesondere wenn es um die eigene Zukunftsgestaltung geht. Dies führt, unabhängig der Intention der Eltern, zum Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung. Begleitet wird diese Konstellation in der Regel von einer gesteigerten, allgemeinen Motivationsbereitschaft, oder in manchen Fällen von der Veränderung der eigenen Normen, Werte und Konventionen.
Standardisierte Quantitative Videoanalyse
10
Im Anschluss an die Ergebnisse der ISQIA werden die Teilergebnisse aus den quantitativen Ratings der Videos vorgestellt. Wie bereits im Methodenteil im Detail beschrieben, wurden alle Videos vor der qualitativen Analyse anhand eines differenzierten Beobachtungsverfahren mit sequenzieller Taktung entlang von zwei Emotionsdimensionen bewertet. Mithilfe eines umfangreichen Ratingmanuals wurden die zehn Videos von zehn Ratingteams hinsichtlich der emotionalen Valenz (Wertigkeit) und hinsichtlich des emotionalen Arousals (Aktivierungspotential) beurteilt. Wichtig erscheint an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass der Gegenstand des Ratings nicht die Transkripte oder die visualisierten Tonspuren, sondern die Videoaufnahmen selbst waren, d. h. das Erkenntnisinteresse fokussiert auf die subjektive Wahrnehmung des Videomaterials durch die unabhängigen Beobachter*innen. Die, dem Ratingprozess zugrunde liegende, erkenntnisleitende Frage lautet dabei folgendermaßen: Welche Erfahrungen und Erlebnisse werden von den Schüler*innen besonders stark bzw. intensiv emotional erzählt und an welchen Stellen in den Erzählungen der Schüler*innen sind die emotionalen Markierungen am stärksten? Dementsprechend geht es in der standardisierten Videoanalyse um die Intensität und Häufigkeit der emotionalen Markierungen der Schüler*innen bzw. um die Identifikation jener Passagen, in denen die emotionale Valenz und das emotionale Arousal (in Größe und Stärke) am deutlichsten erscheinen. Wie bereits im Methodenteil ausführlich dargestellt wurde, um dem leitenden Erkenntnisinteresse der standardisierten Videoanalyse gerecht zu werden, jeder Videominute ein Valenzwert von −10 bis +10 sowie eine Arousalwert von −10 bis +10 zugewiesen, wobei sich die Zuordnung – und dies ist entscheidend – nicht auf die zeitliche Dimensionierung, sondern auf den Inhalt der Videopassagen bezieht. Das Signifikanzniveau wurde unter Berücksichtigung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_10
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10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
der Gesamteinschätzung aller Ratings ab einem Wert von 2× ≥ ± 6 festgelegt; d. h. alle jene Werte, die über ± 5/6 oder ± 6/5 lagen, wurden als signifikant eingeschätzt und dementsprechend berücksichtigt, wobei als maximale Abweichung für den Interrater-Wert eine Streuung von ± 2 festgelegt wurde. Die Berechnung des Cohens Kappa ergab dabei eine moderate Interrater-Reliabilität in der Zufallssequenz (κ = 0.61), jedoch einen durchaus signifikanten Wert in der Gegenüberstellung der Individualratings (κ = 0.87). Zu Beginn veranschaulicht eine Übersichtstabelle das Verhältnis zwischen der Gesamtzahl an Ratings (ALL) und den signifikanten V-A-Werten (SIG) für alle Workshopphasen (siehe Tab. 10.1). Die Interrater-Reliabilität (κ) bezieht sich auf die Gegenüberstellung der Individualratings in den Ratingteams unter Berücksichtigung der erlaubten Streuung für das entsprechende Signifikanzniveau. Die absoluten Werte von 0,177 und 0,167 verdeutlichen eine ausgeglichene Verteilung der Ratings zwischen den zwei Gruppen. Allerdings fällt auf, dass der Workshop2 der Gruppe1 mit 0,249 und der Workshop3 der Gruppe2 mit 0,266 im Vergleich mit dem Gesamtdurchschnitt von 0,172 etwas höher ausfallen. Diese Abweichung lässt sich allerdings nicht als Fehler interpretieren, da zum einen die Interrater-Reliabilität der Individualratings beider Ratingteams zufriedenstellend ist und zudem die konsensuellen Ratingwerte korrekt bestimmt wurden und da zum anderen beide Ratings in den Fokusgruppen erneut besprochen und im Besonderen die hohen V-A-Werte gemeinsam mit den Schüler*innen thematisiert wurden (siehe Kap. 11). In einem weiteren Schritt wurde die Verteilung der signifikanten Werte über die Workshopdauer analysiert, da in der Zusammenschau aller Ratings zeitlich kontingente Muster ersichtlich wurden. In der nachfolgenden Grafik werden
Tab. 10.1 Übersicht aller Ratingwerte (samt Interrater-Reliabilität) Workshops
Gruppe1 ALL
Gruppe1 SIG
Gruppe2 ALL
Gruppe2 SIG
WS1
215 (κ = 0.91)
23 (0,107)
196 (κ = 0.90)
22 (0,112)
WS2
213 (κ = 0.82)
53 (0,249)
210 (κ = 0.85)
27 (0,128)
WS3
230 (κ = 0.90)
44 (0,191)
222 (κ = 0.81)
59 (0,266)
WS4
225 (κ = 0.89)
34 (0,151)
203 (κ = 0.92)
25 (0,123)
WS5
213 (κ = 0.87)
43 (0,202)
236 (κ = 0.85)
45 (0,191)
Summe
1114 (κ = 0.878)
197 (0,177)
1067 (κ = 0.866)
178 (0,167)
Total Quelle: Eigene Darstellung
2181 (κ = 0.872)
375 (0,172)
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
281
die Durchschnittswerte beider Gruppen für jeden Workshop dargestellt (siehe Abb. 10.1), um die relative Verteilung der Werte über die Zeit sichtbar zu machen. Auf der X-Achse finden sich die V-A-Werte und auf der Y-Achse die Zeiteinheiten in Stunden abgebildet. Zu Beginn sei vorausgeschickt, dass diese Darstellung lediglich der Veranschaulichung dient und nur bedingt Gültigkeit beansprucht; einerseits sind es Mittelwerte, die aus jeweils 20 Werten (10-Minuten-Taktung) berechnet wurden und andererseits wurden die Valenzwerte und die Arousalwerte subsumiert und ihre Polaritäten vernachlässigt. Dennoch verdeutlicht die Grafik, was sich in der ersten Durchsicht der Ratings bereits abzeichnete: (A) In allen Workshopphasen gibt es einen ersten emotionalen Höhepunkt nach ungefähr einer halben Stunde. Dies entspricht der Erwartung einer sukzessiven Sensibilisierung des emotionalen Niveaus der Schüler*innen. Dementsprechend war die inhaltliche Gestaltung der Anfangsphase der Workshops (mit Einstiegsübungen und Wiederholungen) durchaus sinnvoll und zielführend. (B) Ebenso auffällig ist der Abfall des Emotionsniveaus bei eineinhalb Stunden. Dieser niedrige Emotionslevel lässt sich allerdings nicht (nur) durch die erste Pause in den Workshops erklären, denn wie bereits erwähnt, wurden die Videos durchgehend geratet und somit auch die Pausen entsprechend bewertet. Vielmehr scheint sich durch die zeitliche Vorgabe der Workshopphasen anhand der Unterrichtseinheiten eine natürliche
8 7
6 WS1
5
WS2
4
WS3 WS4
3
WS5 2 1 0 0
0.5
1
1.5
2
2.5
3
3.5
4
Abb. 10.1 Verlaufsdiagramm der Ratingwerte über die Workshopdauer. (Quelle: Eigene Darstellung)
282
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
(emotionale) Ermüdung bei den Schüler*innen nach einer gewissen Zeit einzustellen. (C) Die hohen V-A-Werte für die Zeitspanne zwischen der zweiten und dritten Stunde entsprechen den jeweiligen Tools und somit der Zielsetzung der inhaltlichen Gestaltung der Workshops. (D) Besonders hervorzuheben sind, neben dem ersten emotionalen Höhepunkt nach einer halben Stunde, hingegen die Werte für die letzte Zeitspanne der Workshops. Hier wurden die, im Methodenteil ausführlich beschriebenen, halbstrukturierten Gruppenreflexionen entlang des Leitfadens durchgeführt und somit die zentralen Inhalte der jeweiligen Workshopphasen erneut aufgegriffen und problematisiert. Dementsprechend finden sich hier nicht nur die meisten signifikanten V-A-Werte, sondern auch die höchsten Ratings. Lediglich im ersten Workshop sind in der abschließenden Gruppenreflexion keine V-A-Werte mit Signifikanzniveau zu finden. Dies kann dadurch erklärt werden, dass das Ziel des ersten Workshops das Hinterfragen der Authentizität des intentionalen Gehalts der eigenen Emotionalität war. Somit stand die generelle Auseinandersetzung mit Emotionen, ihre Wahrnehmung und ihr Ausdruck, und nicht so sehr die eigene Bildungslaufbahn im Mittelpunkt der gemeinsamen Reflexion. Sowohl die Abweichung im ersten Workshop als auch die hohen V-A-Werte der restlichen Workshops im letzten Zeitsegment verdeutlichen ebenso wie der erste emotionale Höhepunkt die präzise Arbeit der Ratingteams und somit die Validität und Reliabilität des standardisierten Zugangs. Im Folgenden werden die Ergebnisse für die vier zentralen Hauptthemen in EMOTISION entlang der konsensuellen Ratingwerte vorgestellt. Dabei sind die Subkategorien im Sinne von Ordinalskalen bereits nach absoluter Häufigkeit (Hn) gereiht. In den Tabellen finden sich zudem die relative Häufigkeit (hn) in Abhängigkeit der Gesamtzahl an signifikanten V-A-Werten pro Hauptthema, die relative Gesamthäufigkeit (hnt) in Abhängigkeit der Ratings aller Workshops, sowie die Bestimmung des Durchschnittswerts von Valenz und Arousal (ØV und ØA). Ein positiver Valenzwert (+) drückt aus, dass die Rater*innen die Schüler*innen in diesen Passagen im Hinblick auf ihr emotionales Erleben im Kontext der eigenen Bildungsbiografie als positiv gestimmt wahrnehmen, wohingegen ein negativer Valenzwert (−) die negative emotionale Konnotation ausdrückt. Ein positiver Arousalwert (+) hingegen meint, dass die Rater*innen den Schüler*innen in diesen Passagen ein Aktivierungspotential zuschreiben, wohingegen ein negativer Wert (−) ausdrückt, dass die Rater*innen dem Erleben der Schüler*innen eine hemmende Wirkung im Kontext ihrer Bildungslaufbahn beimessen. Wie bereits erwähnt, waren die Ratingteams also angehalten, die emotionale Involviertheit und die Intensität der emotionalen Bewertungen zu erfassen und nicht die aktuelle emotionale Stimmung im Workshop. Auch wenn die Darstellung des Valenz- und Arousal-Durchschnitts für die vorliegende Arbeit
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
283
nicht geplant war, da es lediglich um die Frage nach der Intensität und Häufigkeit der emotionalen Markierungen geht, sollen der Vollständigkeit halber auch die Polaritäten (±) der zwei Emotionsdimensionen vorgestellt werden. Im Kontext der standardisierten Videoanalyse muss aus methodologischer Perspektive betont werden, dass die deskriptive Darstellung der Häufigkeiten nur bedingt interpretationsfähig ist, da aufgrund des komplexen methodischen Zugangs in der Erhebung, der auf eine Bestimmung einer Rangfolge abzielt, darüber hinausgehende Deutungen der Methodenpassung nicht gerecht werden würden und somit unzulässig wären. Dies gilt besonders für die Polaritäten von Valenz und Arousal sowie für mögliche Korrelationen innerhalb der jeweiligen Häufigkeiten. Bei den Formen emotionaler Markierungen (siehe Tab. 10.2) zeigt sich, dass die Markierung des Gegenstands und Interessengebiets mit 37 signifikanten Bewertungen an erster Position steht, knapp gefolgt von der Markierung der Allgemeinen Tätigkeit und des praktischen Tuns mit 36 signifikanten Ratings. Beide scheinen aktivierend auf die Schüler*innen zu wirken und werden zudem positiv emotional konnotiert erlebt. Bereits weniger häufig findet sich auf der dritten Position die emotionale Bewertung des Berufsbildes und der Vorstellung der Profession. Allerdings stellt diese, ebenso als positiv aktivierend wahrgenommene, Bewertung noch immer über 10 % aller bildungsentscheidungsrelevanten emotionalen Markierungen dar. Somit werden die ersten drei Ränge von Bewertungen einer bildungsentscheidungsrelevanten Repräsentation eingenommen. Erst an vierter und fünfter Stelle finden sich zwei bedürfnisorientierte Vorstellungsbilder, und zwar mit 20 signifikanten Werten das Verlangen nach sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung sowie mit 17 aussagekräftigen Ratings das Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung. Das Verlangen nach sozialer Wertschätzung und Anerkennung wird dabei als negativ konnotiert bewertet, auch wenn die Rater*innen ihm eine aktivierende Funktion zusprechen. Die erste emotionale Bewertung persönlicher Ambitionen, und zwar der Wunsch Menschen helfen zu wollen, folgt hingegen mit 17 signifikanten Ratings auf Rang sieben. Auffallend ist des Weiteren der negative V-A-Wert für die emotionale Markierung des Schul- und Unterrichtsfach sowie des Ausbildungs- und Studienbildes. In der Rangfolge der Einflussfaktoren (siehe Tab. 10.3) zeigt sich eine klare Priorisierung der personalisierten Subkategorien. Mit 57 signifikanten Ratings findet sich die elterliche Einflussnahme an erster Position, die von den Rater*innen sowohl als aktivierend als auch als positiv konnotiert beurteilt wurde. Bei der konkreten Lehrperson, die mit 47 signifikanten Ratings den dritten Rang einnimmt, fällt auf, dass jene zwar durchaus eine aktivierende Wirkung in der
284
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
Tab. 10.2 Formen emotionaler Markierungen (Rating) FORMEN Nr
Subkategorie
Hn
hn
ØV
ØA
hnt
1
Gegenstand und Interessengebiet
37
0,152
+
+
0,097
2
Allgemeine Tätigkeit und praktisches Tun
36
0,147
+
+
0,096
3
Berufsbild und Vorstellung der Profession
26
0,106
+
+
0,069
4
Soziale Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung
20
0,081
−
+
0,053
5
Erfolg und Selbstverwirklichung
17
0,070
+
+
0,045
6
Menschen helfen zu wollen
17
0,070
+
+
0,045
7
Unterrichts- und Schulfach
15
0,061
Teilhabe, Partizipation und Zugehörigkeit
12
0,049
−
0,040
8
−
+
0,032
9
Selbstständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit
11
0,045
+
0,029
10
Ausbildungs- und Studienbild
10
0,041
−
11
Work-Life-Balance
9
0,037
0,024
12
Sicherheit, Orientierung und zu wissen, was man will
6
0,024
−
−
13
Wissen zu schaffen und Wissen weiterzugeben
6
0,024
14
Finanzielle und materielle Sicherheit
4
0,016
15
Kinder und Familie
4
0,016
16
Partnerschaft und Beziehung
4
0,016
17
Mit sich selbst glücklich zu sein und Spaß im Leben
4
0,016
18
Verantwortung, Leitung, Führung
4
0,016
19
Gesundheit und ein langes Leben
2
0,008
20
Reichtum und Luxus
1
0,004
Quelle: Eigene Darstellung
−
−
0,026
−
0,016
+
+
0,016
−
+
0,011 0,011
−
−
−
0,011
−
0,011
−
+
0,011
−
0,005
−
+
− +
+
+
+
0,003
Bildungslaufbahn der Schüler*innen zu haben scheint, allerdings mit einem negativen emotionalen Erleben einhergeht. Demgegenüber scheint der Einfluss von Freunden und der Peergruppe eine positiv aktivierende Wirkung zu haben. Die Peer landet mit 45 aussagekräftigen Werten auf dem vierten Platz. Durchbrochen wird die Vormachtstellung der personalisierten Einflussfaktoren allerdings durch das Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Mit 50 signifikanten Werten positioniert sich das Kompetenzerleben
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
285
Tab. 10.3 Einflussfaktoren emotionaler Markierungen (Rating) EINFLUSSFAKTOREN Nr
Subkategorie
Hn
hn
ØV
ØA
hnt
1
Eltern
54
0,138
+
+
0,144
2
Erleben von Handlungsfähigkeit
50
0,127
+
+
0,133
3
Konkrete Lehrperson
47
0,120
0,125
Peer und Freundeskreis
45
0,115
−
+
4
+
0,120
5
Außerschulische Schlüsselerlebnisse
28
0,088
6
Schulische Anforderungen und Pflichten
25
0,064
+
−
−
+
0,075
+
0,066
7
Schulfach und Unterrichtsgegenstand
23
0,059
+
+
0,061
8
Schulische Schlüsselerlebnisse
15
0,038
−
+
0,040
9 10
Unterrichtsstil und didaktisches Vorgehen
13
0,033
Verwandtschaft und erweiterte Familie
11
0,028
−
+
−
+
0,035 0,029
11
Erleben von Zugehörigkeit
11
0,028
+
+
0,029
12
Allgemeines Lob und Anerkennung
10
0,025
+
+
0,027
13
Gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche
8
0,020
−
−
0,021
14
Autonomieerleben
7
0,018
+
+
0,019
15
Erleben von Ausgrenzung
7
0,018
−
−
0,019
16
Schulnoten und Zeugnisnoten
6
0,015
17
Herkunft, Heimat und Kultur
6
0,015
18
Erleben von Handlungsunfähigkeit
6
0,015
19
Geschwister
4
0,010
20
Fernsehen, Internet und (soziale) Medien
4
0,010
21
Fremde und unbekannte Personen
3
0,008
22
Unvorhersehbare und unsichere Zukunft
3
0,008
23
Bekannte Personen im Umfeld
2
0,005
24
Allgemeine Kritik, Tadel und Ablehnung
2
0,005
25
Religion und Spiritualität
1
0,003
Quelle: Eigene Darstellung
−
+
−
+
−
+
−
+
−
+
+
0,016
−
0,016
−
+
−
+
−
+
0,016 0,011 0,011 0,008 0,008 0,005
+
0,005
−
0,003
auf dem zweiten Rang, wobei auch dieses als positiv aktivierend bewertet wird. In der Gesamtdarstellung der Einflussfaktoren wird bei den Ratings deutlich, dass die schulspezifischen, die nicht-personalisierten und die herkunftsbezogenen
286
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
Subkategorien wenig Bedeutung für die Bildungsbiografie der Schüler*innen haben. Als unerwartet oder überraschend kann die negative Konnotation und die deaktivierende Wirkung des Unterrichtsstils und didaktischen Vorgehens bezeichnet werden, insbesondere in der Gegenüberstellung mit dem Schulfach und Unterrichtsgegenstand. Bei den emotionalen Qualitäten (siehe Tab. 10.4) scheinen die ersten drei Positionen relativ eindeutig zu sein. Die zentrale Emotion im Kontext der Tab. 10.4 Qualitäten emotionaler Markierungen (Rating) QUALITÄTEN Nr
Subkategorien
Hn
hn
ØV
ØA
hnt
1
Stolz und Selbstwertgefühl
43
0,147
+
+
0,115
2
Freude, Spaß und Begeisterung
35
0,120
+
+
0,173
3
Angst und Furcht
28
0,096
+
0,074
4
Frustration, Langeweile und Enttäuschung
20
0,068
−
Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung
19
0,065
−
Interesse und Neugierde
18
0,062
+
−
0,051
6
−
−
0,053
5
+
0,048
7
Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen
17
0,058
+
+
0,045
8
Scham und Verlegenheit
14
0,048
9
Stress und Nervosität
13
0,045
−
10
Trauer und Melancholie
12
0,041
11
Dankbarkeit und Wertschätzung
11
0,038
12
Ärger, Wut und Aggression
11
0,038
13
Ambivalenzen und emotionale Verwirrung
9
0,031
14
Hass und Abneigung
9
0,031
15
Vorfreude
7
0,024
16
Liebe und Zuneigung
7
0,024
17
Ängstliche Vorfreude und Lustangst
5
18
Glücklich-Sein und Zufrieden-Sein
5
19
Hoffnung, Mut und Zuversicht
20
Ekel und Abscheu
21
Unglücklich-Sein und Unzufrieden-Sein
2
22
Eifersucht und Neid
Quelle: Eigene Darstellung
+
0,037
−
+
0,034
−
0,032
+
−
−
0,029
−
+
0,029
−
−
0,024
+
0,024
+
+
0,019
+
+
0,019
0,017
+ +
−
0,013
0,017
4
0,014
+
3
0,014
−
0,007 /
/
−
0,013
+
0,011
−
−
0,008
/
/
−
−
0,005 /
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
287
Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen scheint mit 43 Ratings Stolz und Selbstwertgefühl zu sein. Mit 35 signifikanten Werten folgt darauf an zweiter Stelle Freude, Spaß und Begeisterung. Beide haben, wenig überraschend, eine positiv aktivierende Wirkung auf den Bildungsverlauf der Schüler*innen. An dritter Stelle, mit 28 aussagekräftigen Beurteilungen, folgt mit Angst und Furcht die erste negative, emotionale Qualität, der allerdings eine aktivierende Wirkung zugesprochen werden muss. Die Positionen vier (Frustration, Langeweile und Enttäuschung) und fünf (Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung) sind mit 20 und 19 signifikanten Werten zwar nicht mehr so eindeutig, wie die ersten drei Positionen, allerdings sind sie aufgrund ihrer negativ deaktivierenden Wirkung besonders hervorzuheben. Die Bedeutung der Valenz- und Arousalperspektive ist im Kontext der emotionalen Qualitäten von besonderem Interesse. Dabei fällt auf, dass „Scham und Verlegenheit“, „Stress und Nervosität“, „Ärger, Wut und Aggression“ sowie „Hass und Abneigung“ von den Rater*innen als negativ aktivierend beurteilt wurden, wohingegen „Trauer und Melancholie“, „Ekel und Abscheu“ sowie „Unglücklich-Sein und Unzufrieden-Sein“ eine negativ deaktivierende Wirkung zugesprochen werden muss. Dies scheint, wie auch die positiv aktivierende Wirkung von „Hoffnung, Mut und Zuversicht“, „Vorfreude“, „Liebe und Zuneigung“, „Interesse und Neugierde“ sowie „Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen“, durchaus nachvollziehbar. Überraschend hingegen ist die positiv deaktivierende Wirkung von „Dankbarkeit und Wertschätzung“, „Ängstlicher Vorfreude und Lustangst“ sowie „Glücklich-Sein und Zufrieden-Sein“. Ebenso unerwartet ist die negativ deaktivierende Wirkung der Emotion „Ambivalenzen und allgemeine emotionale Verwirrung“. Mit Blick auf die Funktionen emotionaler Markierungen (siehe Tab. 10.5) muss vorausgeschickt werden, dass sich die Darstellung der V-A-Werte hier etwas problematisch gestaltet. Insbesondere die Zuschreibung des Aktivierungspotentials respektive einer aktivierenden oder deaktivierenden Wirkung scheint für die Funktionen emotionaler Markierungen epistemologisch heikel zu sein. Auch die Zuschreibung von positiver und negativer Valenz ist im Kontext einer Funktion nicht ganz unproblematisch, jedoch im Sinne der subjektiven Perspektive der Schüler*innen und des partizipativen Charakters der Studie durchaus vertretbar. Im Folgenden werden beide Werte dargestellt, um die Einschätzung der Ratingteams vollständig abzubilden. Hinsichtlich der Häufigkeit der Intensität der Funktionen emotionaler Markierungen ergibt sich folgende Verteilung: An erster Stelle steht mit 35 signifikanten Werten die Gesteigerte
288
10 Standardisierte Quantitative Videoanalyse
Tab. 10.5 Funktionen emotionaler Markierungen (Rating) FUNKTIONEN Nr
Subkategorie
Hn
hn
ØV
ØA
hnt
1
Gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit
35
0,144
+
+
0,093
2
Allgemeine Motivation u. Anstrengungsbereitschaft
33
0,136
+
+
0,088
3
Gesteigertes Problembewusstsein
27
0,111
+
+
0,072
4
Moralentwicklung und die Veränderung von Werten
22
0,091
−
+
0,058
5
Verminderte Selbstsicherheit
16
0,066
Gesteigerte Empathie und Einfühlungsvermögen
15
0,062
−
−
0,043
6 7
Spezifische Lern- und Leistungsbereitschaft
14
0,058
8
Vermeidung d. Auseinandersetzung mit d. Erlebten 13
0,053
−
9
Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit
10
0,041
10
Rückzug und Konfliktvermeidung
10
0,041
11
Erhöhte Hilfsbereitschaft und soziales Engagement 9
0,037
12
Kommunikationsbereitschaft u. Mitteilungsbedürfnis
9
0,037
13
Beziehungsgestaltung und soziale Vernetzung
8
14
Ritualisierung von Handlungen
15 16
+
−
0,040
+
0,037
−
−
0,034
+
−
0,027
+
0,027
+
+
0,024
+
+
0,024
0,033
+
+
0,021
7
0,029
+
+
0,019
Gesteigerte Empathie und Einfühlungsvermögen
6
0,025
+
4
0,016
+
−
0,016
Commitment und persönliche Hingabe
+
0,011
17
Handlungsumsetzung
4
+
0,011
18
Faulheit und Prokrastination
/
/
0,016 /
−
−
/ /
Quelle: Eigene Darstellung
und erhöhte Selbstsicherheit. Direkt dahinter folgt auf der zweiten Position die Allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft, der 33 Mal ein aussagekräftiger Wert zugeschrieben wurde. An dritter Stelle folgt mit 27 signifikanten Werten das Gesteigerte Problembewusstsein, gefolgt von der Moralentwicklung auf Position vier, mit 22 gehaltvollen Ratings.
Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
11
Wie bereits im Methodenteil ausgeführt, wurden in den Fokusgruppen sechs inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, um einerseits die Validität der erhobenen Daten zu überprüfen und andererseits Unklarheiten und problematische Zusammenhänge zu diskutieren, mit dem Ziel zu gemeinsamen Entscheidungen im Sinne partizipativer Forschung zu gelangen. Hierzu zählen (1) die Interpretation bedeutsamer Videosequenzen, (2) die Diskussion hoher V-A-Werte, (3) die Gestaltung und Ausdifferenzierung des Kategoriensystems, (4) die Problematisierung von Doppel- und Mehrfachkodierungen, (6) die Beantwortung spezifischer Fragen im Kontext der Forschungstagebücher sowie (5) die kontinuierliche, kritische Prüfung der Authentizität der einzelnen Aussagen und Behauptungen der Schüler*innen. Die den Fokusgruppen zugrunde liegende Forschungsfrage lautet demnach: Wie authentisch sind die Erzählungen der Schüler*innen im Hinblick auf ihr emotionales Erleben, welchen Stellenwert haben Emotionen tatsächlich in ihrem alltäglichen Leben und wie valide sind dementsprechend die Ergebnisse aus den einzelnen Interpretationsschritten? Im Sinne des Erkenntnisinteresses des partizipativen Ansatzes und der kommunikativen Validierung sowie unter Berücksichtigung des methodischen Designs und methodologischen Überbaus des Forschungsprojekts verorten sich die Fokusgruppen klar im Raum der methodischen Integration. Im Besonderen soll dabei die Signifikanz und Validität der unterschiedlichen Datenstränge (diversification and explanation) in den Blick genommen werden. Gleichzeitig sollen die Fokusgruppen aber auch den multiplen theoretischen und empirischen Ansprüchen des Forschungsprojekts gerecht werden (multple cases and multiple causes) (siehe hierzu Abschn. 5.3). Im Folgenden wird daher ein kurzer Überblick der einzelnen Auswertungsschritte innerhalb der Fokusgruppen skizziert, um zu verdeutlichen, wie repräsentativ die Ergebnisse aus den Workshopphasen tatsächlich sind und wie zentral die
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_11
289
290
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
subjektive Perspektive der Schüler*innen auch in der Auswertungsphase des Forschungsprojekts in unterschiedlichen Kontexten berücksichtigt wurde: Für die Interpretation bedeutsamer Videosequenzen wurden für die Schüler*innen jeweils zwei Clips pro Workshop ausgewählt und gemeinsam diskutiert. Im Folgenden werden die, für die Schüler*innen besonders bedeutsam erlebten Clips vorgestellt, die innerhalb der Fokusgruppen problematisiert wurden. Dabei wurde vorrangig auf die Authentizität der jeweiligen Inhalte sowie auf die Stimmigkeit der emotionalen Bewertung aus Sicht der betroffenen Schüler*innen fokussiert. Für Anna wurden beispielsweise die folgenden Szenen ausgewählt: „Vater repräsentiert keine Vorbildfunktion hinsichtlich der Berufswahl“ (Anna WS1, 0461), „Kritik an gesellschaftlichen Erwartungen als Ausdruck von Freiheit und Unabhängigkeit“ (Anna WS2, 2531), „Frustration in Schule durch Überforderung im Unterricht“ (Anna WS3, 1301), „Vorstellung der beruflichen Interaktion(sbereitschaft) mit Hinweis auf antisoziale Tendenzen“ (Anna WS4, 1231), „Unglückliche Zukunft als die größte Angst im Leben“ (Anna WS5, 0432) sowie „Schulwechsel als Meilenstein führt zum Erleben von Geborgenheit“ (Anna WS5, 1280). Für Anna, die zwar grundsätzlich zurückhaltend ist und über sich selbst und ihre Emotionen in den Workshops sehr bedacht spricht, sind sowohl die zentralen emotionalen Markierungen im Hinblick auf ihren Berufsbzw. Ausbildungswunsch stimmig (Psychologie und Biologie im Kontext spezifischer Berufsbilder), als auch die Wichtigkeitsbesetzungen im Hinblick auf die zentralen Bezugspersonen in ihrem sozialen Umfeld (Eltern und Peer). Auch ihre Zukunftsangst wurde von den anderen Schüler*innen in den Fokusgruppen erneut aufgegriffen und diskutiert. Bei Donna ging es unter anderem um die folgenden Clips: „Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bezüglich der eigenen Zukunft“ (Donna WS1, 2552), „Kompetenzerleben beim Lernen steigert das allgemeine Wohlbefinden“ (Donna WS2, 2303), „Relativierung als prospektiver Umgang mit Enttäuschung (gefühlte Reflexion)“ (Donna WS2, 2343), „Interesse am Berufsbild Pädagogik aufgrund negativer didaktischer Erfahrungen“ (Donna WS3, 3305), „Peer als zentrale Stellgröße für Selbstbild einhergehend mit gesteigerter Selbstsicherheit“ (Donna WS4, 2391) sowie „Negative Markierung des Studiums aufgrund von verminderter Selbstsicherheit“ (Donna WS4, 3000). Auch Donna bestätigt in den Fokusgruppen ihre zentralen Interessen im Kontext ihrer beruflichen Zukunft (soziale und sozial-medizinische Arbeitsfelder). Besonders deutlich wird bei ihr die Bedeutung ihrer emotionalen Markierungen für ihr eigenes Selbstbild, das sie in den Fokusgruppen immer wieder zur Disposition stellt, um ihre Selbstwahrnehmung im Spiegel der anderen zu reflektieren. Donna spricht mehrmals von
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
291
der Entwicklung einer verbesserten Selbstwahrnehmung, die ihr hilft die eigenen Bedürfnisse besser zu artikulieren. Bei Elif standen unter anderem die folgenden Clips im Zentrum der Diskussion: „Hoher Stellenwert der Schule als ein zweites Zuhause durch Freunde (Geborgenheit)“ (Elif WS1, 0531), „Überfordert mit alltäglichen schulischen Anforderungen (Stresserleben)“ (Elif WS2, 0251), „Abgelehnte Lehrperson wird zur Projektionsfläche (Vermeidungsverhalten)“ (Elif WS2, 2534), „Selbstwirksamkeitserleben in Latein geht mit Stolz und gesteigertem Selbstwertgefühl einher“ (Elif WS3, 1572), „Peer als zentraler Einfluss für die Bewertung der eigenen Bildungslaufbahn“ (Elif WS3, 3110) sowie „Finale Studienwahlentscheidung Lehramt (Stolz Wissen vermitteln zu dürfen)“ (Elif WS5, 1394). In der Auseinandersetzung mit den eigenen Videosequenzen ist Elif des Öfteren unangenehm bzw. peinlich berührt, verweist aber gleichzeitig auf die Bedeutung des emotionalen Erlebens für ihre Bildungslaufbahn, insbesondere mit Blick auf ihre problematische, schulische Vergangenheit. Auch sie wiederholt in den Fokusgruppen ihren zentralen Ausbildungswunsch (im pädagogischen Feld bzw. als Lehrperson zu arbeiten) sowie den großen Stellenwert von Freunden, des Kompetenzerlebens und des Übergangs in die Oberstufe. Bei Jasmin standen mitunter folgende Themen im Zentrum des gemeinsamen Arbeitens: „Bedeutung von Peers und Hingabe innerhalb eigener Freundschaften“ (Jasmin WS2, 1003), „Schule als positiv besetzter Ort differenzierter Erfahrungsmöglichkeiten“ (Jasmin WS2, 1525), „Allgemeines Interesse an Medizin als Gegenstand“ (Jasmin WS3, 1145), „Mutter verstärkt Berufswunsch durch Ablehnung als reflexive Erkenntnis“ (Jasmin WS4, 2174), „Positives Erleben von Selbstengagement steigert Hilfsbereitschaft“ (Jasmin WS5, 1323) sowie „Medizin als finale Berufswahlentscheidung geht mit Freude und Begeisterung einher“ (Jasmin WS5, 1335). Das lustvolle Erleben der Imaginationen der eigenen Zukunft ist für Jasmin repräsentativ für die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung. Ihr Studienwunsch Medizin zu studieren hat sich in den Fokusgruppen ebenso bestätigt, wie ihr kritischer Umgang mit den familiären Vorstellungsbildern der eigenen beruflichen Zukunft. Mit Julia wurden unter anderem folgende Szenen diskutiert.: „Stolz über schulische Erfolge in der Bildungslaufbahn“ (Julia WS1, 0291), „Angst vor Neuem durch den Besuch der Universität und dem Wissen über die folgende Umstellung“ (Julia WS1, 1065), „Lernen (am Schreibtisch) führt zur Selbstreflexion (transformatorischer Bildungsprozess)“ (Julia WS2, 2223), „Stolz über Handlungsfähigkeit im Kontext höherer schulischer Anforderungen“ (Julia WS3, 0462), „Gesteigertes Bewusstsein für zukünftige Übergänge und Bevorzugung von Aktion statt Aufschiebung“ (Julia WS3, 0371) sowie „Stolz über Ehrung als
292
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
Jahresbeste (Allg. Lob)“ (Julia WS5, 1274). Julias Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit ermöglichen es ihr ihre Unsicherheiten bezüglich des bevorstehenden Übergangs zu kompensieren. Auch wenn sie sich noch nicht gänzlich darüber im Klaren ist, was sie studieren möchte (vorzugsweise Biologie), legt sie besonderen Wert auf ihre intrinsischen Bedürfnisse und betont die Stringenz ihrer Aussagen und Bewertungen entlang der einzelnen Workshopphasen. Zudem hebt sie die Lerneffekte aus den Workshops immer wieder positiv hervor. Gemeinsam mit Martina wurden mitunter diese Themen analysiert: „Positive Markierung von Schule und Unterricht aufgrund des Freundeskreises“ (Martina WS1, 1330), „Das Wissen über noch zu bewältigende schulische Anforderungen als permanenter Stressauslöser“ (Martina WS1, 2113), „Erfolgreiche und eigenständige Bewältigung des Auslandsaufenthaltes als Handlungsfähigkeit (Stolz)“ (Martina WS3, 2021), „Interesse an kreativen Prozessen als Vorstellung des eigenen, praktischen Tuns“ (Martina WS4, 2013), „Peer als zentraler Einfluss auf die eigene, berufliche Zukunft erhöht Selbstsicherheit“ (Martina WS4, 2465) sowie „Wunsch nach autoritärer Lehrkraft als Ausdruck des Verlangen nach Sicherheit“ (Martina WS5, 3062). In Martinas Reflexionen wird deutlich, dass sie sich intensiv mit ihrer Zukunft und ihrem emotionalen Erleben beschäftigt. Dementsprechend bestätigt sie nicht nur ihr zentrales berufliches Interesse, das sich in dem Zusammenspiel von Kunst und Wirtschaft ausdrückt, sondern differenziert in den Fokusgruppen zunehmend ihre bildungsentscheidungsrelevanten emotionalen Markierungen. Bei Mira standen mitunter die folgenden Themen im Mittelpunkt der gemeinsamen Diskussion: „Erleben von Zugehörigkeit als Garant für Sicherheit und Geborgenheit“ (Mira WS1, 0314), „Erlebte Kompetenz in unterschiedlichen Bereichen steigert allgemeine Zuversicht“ (Mira WS2, 0224), „Überwindung von Herausforderungen wird immer positiv erlebt (Stolz)“ (Mira WS2, 2175), „Positive Markierung von Bewegung und Spiel entlang der gesamten Bildungslaufbahn“ (Mira WS3, 3435), „Gesellschaftliche Anerkennung des Berufs weniger wichtig als Selbstverwirklichung im Job“ (Mira WS4, 2233) sowie „Positive Markierung der Motivationstrainerin als mögliches Berufsbild“ (Mira WS4, 2245). Auch wenn Mira ein sehr positiv konnotiertes Selbstbild an den Tag legt respektive grundsätzlich ein sehr positiv gestimmter Mensch ist, wird bei ihr in den Fokusgruppen die Ernsthaftigkeit der Reflexion der eigenen Bildungslaufbahn deutlich. So bestätigt sie nicht nur ihre Aussagen und Bewertungen aus den Workshops, wie bspw. ihren Berufswunsch im Trainings- und Coachingbereich zu arbeiten, sondern ergänzt jeden Videoclip um eine ausführliche Rechtfertigung des eigenen emotionalen Erlebens und des daraus resultierenden Verhaltens.
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
293
Mit Nora wurden beispielsweise die folgenden Clips analysiert: „Stress als generelle, emotionale Begleiterscheinung schulischer Anforderungen“ (Nora WS1, 0325), „Wunsch nach einem besseren Verhältnis zum Vater als Ausdruck des Verlangens nach Wertschätzung“ (Nora WS2, 2052), „Konflikt mit Lehrer geht mit Scham über das eigene Verhalten einher“ (Nora WS3, 2163), „Wunsch nach Erfolg führt zu Motivation sich anzustrengen und zu studieren“ (Schlüsselmoment) (Nora WS3, 2212), „Aktuelle Berufsvorstellung im Bereich Kunstgeschichte bzw. Geschichte im Allgemeinen“ (Nora WS5, 0283) sowie „Stolz aufgrund guter Leistungen ausgewählt worden zu sein für die USA Reise“ (Nora WS5, 1322). Auch Nora, die oft über ihre ablehnende Haltung Emotionen gegenüber spricht und regelmäßig Widerstände im emotionalen Erleben erkennen lässt, zeigt sich in den Fokusgruppen überraschend versöhnlich. Sowohl ihre zentralen emotionalen Markierungen hinsichtlich ihrer beruflichen Ambitionen oder aber im Hinblick auf die Beziehung mit Lehrpersonen, Freunden und ihren Eltern, als auch ihre Widerstände gegenüber der eigenen Emotionalität bestätigen sich in der Analyse der Clips und werden von ihr als Lernerfahrungen bezeichnet. Mit Paul wurden unter anderem folgende Szenen diskutiert: „Schule als Mittel zum Zweck für die zukünftige Ausbildung als Ausdruck des Verlangens nach Erfolg“ (Paul WS1, 1212), „Verminderte Selbstsicherheit bezüglich der eigenen Deutschkenntnisse wegen Lehrerin“ (WS3, 2270), „Desinteresse an Wirtschaft im Allgemeinen aufgrund des eigenen Vaters“ (Paul WS4, 0372), „Differenzierte Vorstellung des eigenen Berufsbildes als Techniker bei Airbus“ (Paul WS4, 1565), „Freunde als zentrale Vorbilder werden im Umfeld am meisten bewundert“ (Paul WS5, 0223) sowie „Positive Markierung von Mathematik in Volksschule aufgrund des Erlebens von Handlungsfähigkeit“ (Paul WS5, 1404). Für Paul scheint die Arbeit in den Fokusgruppen, insbesondere die Videointerpretationen, eine Selbstverständlichkeit. Schritt für Schritt bewertet er jeden Clip und erklärt, wie dieser interpretiert werden könne. Auch bei ihm scheinen die beruflichen Ambitionen (mit Maschinenbau und Technik), die Einflussfaktoren und die zentralen emotionalen Qualitäten im Kontext seiner Lebens- und Lerngeschichte in den Fokusgruppen gänzlich Bestätigung zu finden. Mit Renate wurden unter anderem die folgenden Clips besprochen: „Schulischer Erfolg als Indikator für das persönliche Glück“ (Renate WS1, 0300), „Introspektion über den Alltag schafft Klarheit über eigene Herausforderungen (Problembewusstsein)“ (Renate WS2, 2484), „Erleben von Abhängigkeit bei Schulwahl steigert Problembewusstsein bezüglich Bildungslaufbahn“ (Renate WS3, 0423), „Freude am Schreiben als zentrale Markierung im Hinblick auf eine mögliche Berufsperspektive“ (Renate WS4, 2090), „Kritische Reflexion des zukünftigen Berufsbildes als Journalistin“ (Renate
294
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
WS4, 2131) sowie „Publizistik und Kommunikationswissenschaft als zentrale Studienwahl“ (WS5, 1235). Auch Renate distanziert sich in den Fokusgruppen in keiner Weise von ihren zentralen emotionalen Bewertungen. Ihre beruflichen Ambitionen sieht sie durch das Projekt bestätigt und auch ihr Verständnis der bisherigen Bildungslaufbahn bezeichnet sie als tiefgreifender als zuvor. Dennoch scheint Renate, ähnlich wie Julia, Donna oder Sarah, mitten im Reflexionsprozess der eigenen Zukunft damit beschäftigt zu sein, die alltäglichen Anforderungen bestmöglich zu bewältigen. Dies unterstreicht einmal mehr die Prozesshaftigkeit der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang in den tertiären Bildungssektor. Gemeinsam mit Sarah wurden unter anderem die folgenden Szenen analysiert: „Sicherheit und Vertrauen in der Beziehung zur besten Freundin“ (Sarah WS1, 2070), „Erleben von Zugehörigkeit und Vertrauen ermöglicht Selbstexploration“ (Sarah WS1, 2502), „Bewältigung von schulischen Anforderungen geht mit Stolz einher“ (Sarah WS2, 0234), „Bevorzugung guter Schüler*innen durch Lehrperson führt zu verminderter Leistungsbereitschaft“ (Sarah WS2, 2413), „Bildungswegentscheidung durch die Eltern bestimmt (Angst vor Fremdbestimmung und verlorene Chancen)“ (Sarah WS5, 0390) sowie „Positive Markierung von sozialer Arbeit als vernünftigster Job“ (Sarah WS5, 2100). Obwohl Sarah das Sprechen über die emotionalen Bewertungen, insbesondere im Kontext ihrer Familie und Freunde, sowie über ihre unmittelbare Zukunft als unangenehm erlebt, unterstreicht sie in den Fokusgruppen immer wieder die Relevanz ihrer eigenen Aussagen. Ihre Berufsvorstellung (im Sozialbereich zu arbeiten) sieht sie erneut bestätigt. Gleichzeitig verweist sie auf die Bedeutung ihres emotionalen Erlebens für die eigene Lebensplanung und auf den Wunsch sich weiterhin stärker mit ihren Emotionen zu beschäftigen, um sich von externalen Einflüssen besser distanzieren zu können. Gemeinsam mit Vera wurde unter anderem folgendes diskutiert: „Bewunderung der vielfältigen Lebenserfahrung des Vaters (Stolz)“ (Vera WS1, 0553), „Geborgenheit in der Schule durch Beziehung zu Schulfreunden“ (Vera WS3, 0341), „Neue Interessen durch Perspektivenerweiterung im Rahmen der Fremdeinschätzung (Problembewusstsein)“ (Vera WS4, 2544), „Studienwunsch Modekolleg mit wirtschaftlichen und praxisbezogenen Schwerpunkten“ (Vera WS4, 3262), „Erleben von Handlungsfähigkeit im Auslandsjahr in Amerika (Stolz)“ (Vera WS5, 1191), „Entscheidung für ein kreatives Studium mit wirtschaftlicher Grundlage“ (Vera WS5, 1210). Auch wenn Vera, ähnlich wie Julia, selbstbewusst und zielorientiert ihre Clips kommentiert und interpretiert, zeigt sich auch bei ihr immer wieder, wie treffend bestimmte emotionale Markierungen das eigene Selbstbild beschreiben. Sie spricht dementsprechend von Aha-Effekten der eigenen Emotionalität in der Interpretation der Videos. Und
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auch bei Vera zeigen sich Übereinstimmungen in den emotionalen Bewertungen ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zudem berichtet sie, dass die Arbeit im Projekt die Vorstellung ihrer eigenen Zukunft spezifiziert hat. Wie bereits im Kontext der Ergebnisdarstellung der standardisierten Videoanalyse erwähnt, wurden in den Fokusgruppen des Weiteren die Ratings mit den hohen V-A-Werten thematisiert. Dabei wurden jeweils ausgewählte Sequenzen des Workshop2 der Gruppe1 sowie des Workshop3 der Gruppe2 in den Blick genommen, da beide Workshops prozentuell die meisten signifikanten V-A-Werte aufweisen. In beiden Fällen zeigte sich, dass die Ratings durchaus stimmig waren: Einerseits waren bereits Sequenzen aus den jeweiligen Workshops Gegenstand der Reflexion ausgewählter Videoclips, was die Intensität der emotionalen Bewertungen in den Erzählungen der Schüler*innen verdeutlicht. Und andererseits bestätigten die Schüler*innen, dass die, in den Workshop verwendeten, Tools und Übungen besonders emotional konnotierte Vorstellungsbilder bewusst machten und die Summe an erlebten Emotionen dementsprechend den Ratings gerecht werden würden. Interessanterweise hätten die Schüler*innen ihren eigenen Aussagen insgesamt höhere Werte zugeordnet, als die Ratingteams. Besonders kritisch wurden zudem negative Werte, sowohl für die Valenz als auch für das Arousal, diskutiert, was als Bedürfnis der Schüler*innen, richtig verstanden und bewertet worden zu sein, interpretiert werden kann. Beides weist überdies darauf hin, dass eine Gegenüberstellung der Schüler*innenratings und jene der Ratingsteams eine gewinnbringende Perspektive gewesen wäre. Allerdings hätte man hierfür das umfangreiche und durchaus komplexe Ratingmanual adaptieren und mehrere Übungseinheiten mit den Schüler*innen durchführen müssen, um zu verlässlichen Beurteilungen zu gelangen. Für die Gestaltung und Ausdifferenzierung des Kategoriensystems wurden zu Beginn der Arbeit mit den Fokusgruppen die Hauptkategorien und die ihnen zugrunde liegenden Subfragestellungen diskutiert. Dabei ging es in erster Linie um das Verständnis des Erkenntnisinteresses der einzelnen Themen. Erwähnt sei hier nochmals, dass die Schüler*innen von Beginn an über die Zielsetzung des Forschungsprojekts im Detail informiert waren. Im Anschluss an die Hauptkategorien wurden alle Subkategorien Schritt für Schritt durchbesprochen und nach den Vorstellungen der Schüler*innen begrifflich adaptiert und konzeptuell geordnet. Besonders bei den Formen und Qualitäten wurden von den Schüler*innen maßgebliche Änderungen vorgeschlagen. Dies betrifft einerseits die Unterscheidung zwischen Markierungen, Verlangen und Wünsche als unterschiedliche Formen idiosynkratischer Vorstellungsbilder und andererseits die begriffliche Fassung der Qualitäten, auf die in dieser Arbeit bereits im Detail eingegangen wurde (siehe Abschn. 9.3). An dieser Stelle sei auch erwähnt, wie
296
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
kritisch die einzelnen Subkategorien von den Schüler*innen diskutiert wurden und mit welcher Sorgfalt die finalen Formulierungen in den Fokusgruppen ausgearbeitet wurden. Die Anmerkungen, Kommentare und Vorschläge aus beiden Schüler*innengruppen wurden in weiterer Folge im Forschungsteam zusammengefasst und in den elektronischen Kodierleitfaden von Transana übertragen. Es sei nochmals erwähnt, dass diese Form der „partizipativen Kategorienbildung“ eine Neuheit im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschungsbemühungen darstellt und dass es angesichts des Potentials dieses methodischen Zugangs, im Besonderen im Hinblick auf die Passgenauigkeit des Kategoriensystems und die Möglichkeit der Berücksichtigung der subjektiven Ebene bzw. der Bedürfnisse und Interessen der Schüler*innen, empfehlenswert wäre, eine solche Vorgehensweise zukünftig (in der empirischen Bildungsforschung) vermehrt zum Einsatz zu bringen. Die durchaus anspruchsvolle Problematisierung von ausgewählten Doppelund Mehrfachkodierungen der ISQIA wurde in den Fokusgruppen dadurch gelöst, dass den Schüler*innen Clips vorgespielt wurden, die aus Kodiererperspektive eben nicht eindeutig waren. Im Anschluss wurden die Schüler*innen gebeten, Aussagen und Verhalten zu interpretieren, ohne aber auf die jeweiligen Codes direkt Bezug zu nehmen. Auch wenn in einigen Fällen Abweichungen zu beobachten waren, so wurde dennoch deutlich, dass das Hierarchisierungsprinzip bei Doppel- oder Mehrfachkodierungen eine exzellente Möglichkeit darstellt, mit vermeintlichen Mehrdeutigkeiten umzugehen. Vermeintlich deshalb, da selbst die Schüler*innen zu den Schluss kamen, dass in manchen Passagen mehr Inhalt zu finden sei, als tatsächlich herausgearbeitet werden kann und man daher Prioritäten setzen müsse. Dementsprechend kann das Hierarchisierungsprinzip in der ISQIA aus methodologischer Perspektive als optimale Lösung für dieses unvermeidbare Dilemma verstanden werden, sofern man der Forderung gerecht wird, innerhalb einer Hauptkategorie ausnahmslos auf Doppel- und Mehrfachkodierungen zu verzichten (vgl. hierzu auch Huber 2020). Abschließend sei noch auf die Forschungstagebücher der Fokusgruppen verwiesen. Diese wurden innerhalb von EMOTISION, ebenso wie die Materialien und Produkte aus den Workshops, als Vergleichsreferenz für die Arbeit mit den Videos genutzt und dienten zur Beantwortung spezifischer, auf die Schüler*innen individuell abgestimmter Fragen im Kontext des primären Erkenntnisinteresses des Projekts. Wichtig ist es an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass die zum Teil sehr persönlichen Fragen vertraulich behandelt und nicht im Plenum diskutiert wurden. Die Zusammenstellung der Fragen ergab sich aus den Zwischenberichten und den ersten Interpretationen der einzelnen Workshops. Zudem wurden je nach Einschätzung der Aussagen der Schüler*innen immanente
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
297
Nachfragen zu undurchsichtigen Themenfeldern sowie Konfrontationsfragen bei widersprüchlichen Zusammenhängen an die Schüler*innen gestellt. Dank der ausführlichen Beantwortung durch die Schüler*innen sowie der, dem Setting geschuldeten, vollständigen Rücklaufquote der Forschungstagebücher konnten viele Vermutungen bestätigt und einige offene Fragen beantwortet werden. Hierzu zählt mitunter das problematische Verhältnis von Anna zu ihren traumatischen Erfahrungen am Beginn der Sekundarstufe I, die kritisch negative Selbsteinschätzung und das verminderte Selbstwertgefühl in Donnas Selbstwahrnehmung, die Abhängigkeit von anderen und das Problem der eigenständigen Entscheidungsfindung bei Elif, die Bedeutung von Stolz und Selbstwirksamkeit in Jasmins perfektionistischem Lebensentwurf, Julias problematisches Verhältnis zu ihren intrinsischen Motiven und subjektiven Bedürfnissen, die zwänglich anmutende Strukturiertheit und Genauigkeit in Martinas Rekonstruktion prägender Erfahrungen, Miras ambivalentes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper und zu ihrer Weiblichkeit, Noras Abwertung und Vermeidungsverhalten gegenüber der bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen, die emotionale Aufwertung vermeintlicher Freunde bei gleichzeitiger Abwertung personalisierter Einflussfaktoren bei Paul, Renates Bedürfnis nach Konfliktvermeidung und der damit im Zusammenhang stehende Wunsch nach einer harmonischen Lebensgestaltung, das permanente Stresserleben von Sarah und ihre Überforderung dies ihrer sozialen Umwelt zu kommunizieren oder aber Veras Idealisierung der Vergangenheit und deren Einfluss auf ihre bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung. Mit Blick auf das multi-methodische Design und den partizipativen Anspruch des Projekts muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass die hier kurz skizzierten Themenfelder der Fokusgruppen nicht losgelöst von der restlichen Analyse und Forschungsarbeit im Projekt betrachtet werden können. Dies wäre sowohl ein Widerspruch zum Verständnis partizipativer Forschungsbemühungen als auch zur Idee des fully integrated mixed designs. Besonders schwierig ist es die Bedeutung der Beziehungsebene innerhalb des Projekts als konstruktives Moment des gemeinsamen Arbeitens hervorzuheben, ohne aber ein grenzüberschreitendes Verhalten oder ein unpassendes Naheverhältnis zu suggerieren (vgl. hierzu auch Huber und Muller 2019). Denn durch die kontinuierliche und langfristige Zusammenarbeit und das darauf aufbauende Vertrauen, durch die Offenheit und Ehrlichkeit, die von einem kritischen Bewusstsein bei gleichzeitiger Wertschätzung begleitet wird sowie durch die intensive Beschäftigung mit den eigenen Emotionen und dem eigenen Selbstbild entstehen zwischen allen, am Projekt beteiligten Personen, spezifische Beziehungskonstellationen. Und natürlich beeinflussen diese Beziehungen, ob intendiert oder nicht, die
298
11 Überblick zu den Ergebnissen der Fokusgruppen
eigene Forschungstätigkeit gleichermaßen wie die Explorationsbereitschaft der Forschungspartner*innen. Doch wie bereits erwähnt, sind die unterschiedlichen Beziehungsebenen eine Voraussetzung partizipativer Forschung und somit durchaus eine gewinnbringende Perspektive im Kontext des vorliegenden Erkenntnisinteresses (im Detail beschrieben bei Huber und Muller 2019). Dementsprechend muss dem planvollen und gezielten Initiieren von positiven Momenten der Beziehungsgestaltung ebenso wie der Antizipation und Reflexion spezifischer Beziehungsstrukturen ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Die Reaktionen der Schüler*innen am Ende der letzten Fokusgruppen bestätigen diese Annahme. Im Besonderen scheint der wertschätzende, respektvolle und wohlwollende Umgang bei gleichzeitiger Autorität und Struktur eine Atmosphäre zu gewährleisten, die es den Schüler*innen ermöglicht, ein tiefgreifendes Vertrauen und eine positive Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zum eigenen emotionalen Erleben aufzubauen und zu festigen. Es liegt die Vermutung nahe, dass hierin die allgemeine Bedeutung der pädagogischen Beziehung sichtbar wird und dass demnach sowohl der Erkenntniszuwachs im Forschungsprozess als auch die Explorationsbereitschaft in der Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität Bildungsprozessen geschuldet sind.
Diskussion der Metainterferenzen
12
Im Sinne der drei Integrationsziele des multi-methodischen Forschungsansatzes (siehe Abschn. 5.3) werden im Folgenden die Ergebnisse aus der qualitativen und quantitativen Videoanalyse gegenübergestellt und diskutiert. Wie bereits in der gesamten Ergebnisdarstellung deutlich wurde, geht es auch hier – der Leitidee des dialektischen Pluralismus folgend – um die Suche nach Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, um die Kombination von zentralen Ideen und Ansätzen unterschiedlicher Positionen und um ein selbstreflexives, dialektisches Verstehen, die gemeinsam eine Sowohl-Als-Auch Perspektive ermöglichen sollen. Zur besseren Übersicht gliedert sich auch dieses Kapitel entlang der vier Hauptthemen der Formen, Einflussfaktoren, Qualitäten und Funktionen emotionaler Markierungen, wie sie in der nachfolgenden Tab. 12.1 zusammenfassend dargestellt werden. Zum besseren Verständnis und zur Veranschaulichung der Integrationsleitsung der qualitativen und quantitativen Daten werden im Folgenden für jedes Hauptthema joint displays herangezogen; der Vektor Bl bezieht sich dabei auf die Gesamtwirkung im Kontext der „Bildungslaufbahn“).
12.1 Die Formen emotionaler Markierungen In der Interpretation der qualitativen Inhaltsanalyse zeigt sich, dass drei Subkategorien sowohl in Häufigkeit als auch unter Berücksichtigung der subjektiven Bedeutung einen besonderen Stellenwert einnehmen: die Markierung von allgemeiner Tätigkeit und praktischem Tun, die Markierung von Berufsbild und Vorstellung der Profession sowie die Markierung von Gegenstand und Interessengebiet (siehe nachfolgend Tab. 12.2). Diese drei Subthemen finden sich ebenso an erster Stelle im quantitativen Rating. Allerdings fällt dabei auf, dass in den
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_12
299
300
12 Diskussion der Metainterferenzen
Tab. 12.1 Übersicht zur Ergebnisverschränkung Formen
Einflussfaktoren
Qualitäten
Funktionen
1
Allgemeine Tätig- 1 keit u. praktisches Tun
Eltern
1
Stolz
1
Gesteigerte Selbstsicherheit
2
Berufsbild u. Vorstellung der Profession
2
Peer und Freundeskreis
2
Freude
2
Gesteigertes Problembewusstsein
3
Gegenstand und Interessengebiet
3
Erleben von Handlungsfähigkeit
3
Angst
3
Allgemeine Motivation
4
Lehrpersonen
4
Geborgenheit
4
Moralentwicklung
Quelle: Eigene Darstellung
Ratings die Markierung von Gegenstand und Interessengebiet an erster Stelle steht, wohingegen in der qualitativen Analyse das Berufsbild und die allgemeine Tätigkeit (sowohl in Häufigkeit als auch in Intensität und Relevanz) einen weitaus signifikanteren Stellenwert einnehmen. Gleichzeitig ist die Differenz zwischen Gegenstand und Tätigkeit im Rating so gering, dass sie vernachlässigbar erscheint, im Besonderen, wenn man berücksichtigt, dass die emotionale Bewertung von Tätigkeit und Berufsbild auf das Vorstellungsbild des zukünftigen, beruflichen Agierens abzielen und somit ein thematisches Naheverhältnis aufweisen. Sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Zugang wird die positive Konnotation dieser drei Repräsentationen deutlich. Dabei scheinen besonders die Tätigkeit und das Interessengebiet mit positiven Emotionen einherzugehen und eine fördernde Wirkung auf die Schüler*innen zu haben, im Besonderen wenn es um die Auseinandersetzung mit zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidungen geht, wie in der Interpretation der qualitativen Ergebnisse deutlich wird. Das Berufsbild hingegen, das oft mit stereotypen Vorstellungen einhergeht, wird, je nachdem, ob es mit dem eigenen Selbstkonzept vereinbar scheint, entweder idealisiert oder kategorisch abgelehnt. Dennoch überwiegen auch in der Bewertung der Vorstellung der zukünftigen Profession positive emotionale Qualitäten. Im Hinblick auf die zentralen Formen emotionaler Markierungen lässt sich somit in beiden Datensträngen eine relativ eindeutige Stoßrichtung festmachen. Bei der emotionalen Markierung von Ausbildungs- und Studienbild, das im quantitativen Rating weniger Bedeutung zu haben scheint als in der qualitativen Analyse, fällt auf, dass sich die von den Schüler*innen berichtete Wahr-
12.1 Die Formen emotionaler Markierungen
301
nehmung des Studienbildes als Ausschlusskriterium in der negativen Polarität des V-A-Wertes der Ratings widerspiegelt. Gleiches gilt für das Unbehagen und die generelle Abneigung gegenüber einem bestimmten Schulfach. Ebenso gleichbedeutend treten die zwei zentralen bedürfnisorientierten Vorstellungsbilder – das Verlangens nach Erfolg und Selbstverwirklichung sowie das Verlangen nach sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung – innerhalb beider Methoden in Erscheinung. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass beide als Indikator für die allgemeine Motivationsbereitschaft der Schüler*innen gelten, was sich durch den positiven Arousalwert in den Ratings zu bestätigen scheint. Widersprüchlich hingen scheint die Valenzperspektive zu sein. Denn in den Interpretationen wurde deutlich, dass das Verlangen nach Erfolg in den meisten Fällen gegenstandsunabhängig und negativ konnotiert in Erscheinung tritt, wohingegen das identitätsstiftende Verlangen nach Anerkennung, das sich in erster Linie an Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen orientiert, von den Schüler*innen emotional positiv konnotiert wahrgenommen wird. Die Ratings hingegen suggerieren Gegenteiliges. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass aus der Beobachterperspektive das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung mit einem vermeintlich negativen Selbstkonzept assoziiert ist, wohingegen das intrinsisch motivierte Verlangen nach Selbstverwirklichung von den Rater*innen positiv wahrgenommen wurde. Eine weitere Differenz findet sich im Kontext der persönlichen Ambitionen. Denn der Wunsch Menschen zu helfen spielt in der qualitativen Auswertung überraschenderweise eine untergeordnete Rolle, wobei deutlich wurde, dass dieser stark vom familiären Kontext und der eigenen Sozialisation geprägt ist. Im Rating positioniert sich der Wunsch Menschen zu helfen in der Rangfolge (Position sechs) verhältnismäßig weit oben. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Ambition anderen zu helfen für die Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn höher einzuschätzen ist, als ursprünglich angenommen, insbesondere wenn man deren positive Wirkung auf das eigene Selbstkonzept berücksichtigt. Der Wunsch nach Selbstständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit, der zum einen als Ausdruck der Ablehnung von externen Anforderungen und Strukturen und zum anderen als Sehnsucht die Welt und die Menschen in der Welt kennen zu lernen verstanden werden kann, wurde in der qualitativen Analyse als Hinweis auf die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit thematisiert. Dabei wurde deutlich, dass dieser allerdings nur bedingt förderlich im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn ist, da er eine hemmende Wirkung auf die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung zu haben scheint. Diese Annahme lässt sich mit Blick auf den negativen Arousalwert in den Ratings bestätigen.
302
12 Diskussion der Metainterferenzen
Tab. 12.2 Joint Display der signifikanten Formen ↗
Formen
Co
Hn
hn
ØV
ØA
Bl
1
Allgemeine Tätigkeit und praktisches Tun
92
36
0,147
+
+
2
Berufsbild und Vorstellung der Profession
92
26
0,160
+
+
↗
3
Gegenstand und Interessengebiet
79
37
0,152
+
+
Quelle: Eigene Darstellung
→
Ebenso verweisen beide methodischen Zugänge auf die vernachlässigbare Bedeutung extrinsisch motivierter Vorstellungsbilder, wie dem Wunsch nach Reichtum oder das Verlangen nach materieller Sicherheit, sowie auf den untergeordneten Stellenwert von Partnerschaft und Familie für die Bildungsbiografie von Schüler*innen.
12.2 Die Einflussfaktoren emotionaler Markierungen In der Gegenüberstellung der Einflussfaktoren zeigt sich ein ähnliches Bild wie zuvor bei den Formen emotionaler Markierungen. Sowohl in der qualitativen Auswertung als auch im standardisierten Rating sind die Peergruppe, die Eltern, die konkrete Lehrperson und das Erleben von Handlungsfähigkeit die zentralen Einflussfaktoren für die Konstitution emotionaler Markierungen in der Lebensund Lerngeschichte der Schüler*innen (siehe nachfolgend Tab. 12.3). Lediglich die Prioritäten scheinen anders verteilt zu sein: Ist in der qualitativen Analyse die Peer und der Freundeskreis noch der zentrale Einflussfaktor, scheinen in den Ratings die Eltern einen höheren Stellenwert einzunehmen, auch wenn die Differenz nur gering ist. Der positive V-A-Wert verweist zudem auf die identitätsstiftende Funktion, sich gegenüber den Eltern
Tab. 12.3 Joint Display der signifikanten Einflussfaktoren Einflussfaktoren
Co
Hn
hn
ØV
ØA
1
Eltern
107
54
0,138
+
+
2
Peer und Feundeskreis
115
45
0,115
+
+
3
Erleben von Handlungsfähigkeit
88
50
0,127
+
+
4
Konkrete Lehrperon
95
47
0,120
−
+
Quelle: Eigene Darstellung
↘
Bl
↗
↗
↘
12.2 Die Einflussfaktoren emotionaler Markierungen
303
abzugrenzen und einen eigenen Lebensentwurf zu skizzieren, was wiederum als notwendiger und hilfreicher Entwicklungsschritt der Schüler*innen interpretiert werden kann, der dementsprechend positive Folgen in der eigenen Selbstwahrnehmung zeitigt, selbst wenn den Eltern eine negativ verstärkende Wirkung auf die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung der Schüler*innen zugeschrieben werden muss. Bei der Gleichaltrigengruppe und dem Freundeskreis scheint sich hingegen die positive Einflussnahme im Kontext des bevorstehenden Bildungsübergangs zu bestätigen. Unabhängig davon, ob die Erfahrungen mit Personen gleichen Alters und Status positiv oder negativ erlebt wurden, führen sie zum Anstoß reflexiver Prozesse und zur Möglichkeit sein Selbstbild kritisch in den Blick zu nehmen und prägen somit bildungsentscheidungsrelevante emotionale Bewertungen. Des Weiteren wird der zentrale Einfluss der konkreten Lehrperson in beiden methodischen Zugängen bestätigt und verdeutlicht ihre zentrale Bedeutung im Gegensatz zur Einflussnahme des Unterrichtsgegenstandes, des didaktischen Vorgehens oder der Schul- und Zeugnisnoten. Zudem scheint sich die Annahme aus der qualitativen Interpretation in den Ratings zu bestätigen, dass besonders negative Erfahrungen mit Lehrpersonen einen positiven Effekt auf die eigene Bildungslaufbahn haben und dementsprechend den Bildungsverlauf der Schüler*innen stärker beeinflussen, als positive Beziehungskonstellationen. Des Weiteren findet sich in der Häufigkeitsverteilung der Ratings der Hinweis, dass der selbstreferentielle Einflussfaktor des Erlebens von Handlungsfähigkeit in seiner Wirkmächtigkeit in keiner Weise unterschätzt werden darf. Sowohl seine positive Konnotation als auch sein Aktivierungspotential verweisen auf die Tragweite dieser Subkategorie für die Entstehung bildungsentscheidungsrelevanter Vorstellungsbilder. Zudem sind die Gegenstandsunabhängigkeit des Kompetenzerlebens sowie die Ermöglichung einer prospektiven Perspektive gegenüber der unmittelbaren Zukunft Hinweise auf die zentrale Bedeutung dieses Einflussfaktors, und zwar nicht nur für die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung, sondern generell für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen. Besonders die Tatsache, dass sich das Erleben von sich selbst als wertvoll und kompetent global auf andere Gegenstandsbereiche auswirkt, verdeutlicht die zentrale Stellung dieser Subkategorie. Bei den weiteren Einflussfaktoren fällt auf, dass in der Rangfolge der Häufigkeiten der Ratings die außerschulischen Schlüsselerlebnisse eine relativ hohe Position einnehmen, wohingegen sie in der qualitativen Auswertung eher auf einem mittleren Signifikanzniveau angesiedelt sind. Dabei wurde in den Interpretationen deutlich, dass besonders traumatische Erfahrungen die moralische Haltung der Schüler*innen nachhaltig verändern und es in weiterer Folge zu einer
304
12 Diskussion der Metainterferenzen
erneuten Differenzierung bestehender Interessen und Abneigungen kommt. Dies wird in den V-A-Werten der Ratings bestätigt. Dennoch muss den prägenden, außerschulischen Schlüsselerlebnissen eine höhere Bedeutung beigemessen werden, als ursprünglich angenommen. Gänzlich bestätigt wird hingegen die besondere Stellung des Einflusses schulischer Anforderungen und Pflichten und deren Wert im Alltag der Schüler*innen. Dabei verweisen sowohl der qualitative als auch der quantitative Zugang auf die durchgängig negative Konnotation dieser Subkategorie in der Wahrnehmung der Schüler*innen sowie auf deren Aktivierungspotential im Kontext der spezifischen Leistungsbereitschaft. Etwas überraschend ist die untergeordnete Bedeutung des Erlebens von Zugehörigkeit und sozialer Eingebundenheit in den quantitativen Häufigkeiten, da jene Kategorie in der qualitativen Analyse in direktem Zusammenhang mit dem Erleben von Geborgenheit steht und somit als Indikator für das Wohlbefinden der Schüler*innen verstanden werden kann. Allerdings wird die positive Bedeutung des Erlebens von Zugehörigkeit für die Bildungsbiografie der Schüler*innen auch in den V-A-Werten des Ratings deutlich. Übereinstimmend lässt sich noch festhalten, dass die übrigen personalisierten Einflussfaktoren (Geschwister, Verwandtschaft, bekannte Personen im Umfeld und fremde Personen) sowie die eigene Herkunft und Religion den Bildungsverlauf der Schüler*innen und die Entstehung diesbezüglicher emotionaler Bewertungen kaum beeinflussen. Gleiches gilt für Fernsehen und Internet, für nichtpersonalisierte Kritik sowie für das Erleben von Ausgrenzung.
12.3 Die Qualitäten emotionaler Markierungen Im Hinblick auf die Frage nach den zentralen emotionalen Qualitäten für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext findet sich sowohl in den qualitativen Daten als auch in der quantitativen Rangfolge eine idente Verteilung der signifikanten Subkategorien (siehe nachfolgend Tab. 12.4). In beiden Fällen ist Stolz die bedeutendste Emotion in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen, was die These zu bestätigen scheint, dass die meisten bildungsentscheidungsrelevanten Bewertungen direkt oder indirekt mit Stolz bzw. mit diesbezüglichen Hoffnungen und Erwartungen einhergehen. Ebenso bestätigt scheint die prospektive Wirkung von Stolz im Kontext motivationaler Aspekte sowie im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen.
12.3 Die Qualitäten emotionaler Markierungen
305
Tab. 12.4 Joint Display der signifikanten Qualitäten Qualitäten
Co
Hn
hn
ØV
ØA
1
Solz und Selbstwertgefühl
84
43
0,147
+
+
2
Freude, Spass und Begeisterung
79
35
0,120
+
+
3
Angst und Furcht
66
28
0,068
+
4
Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen
64
17
0,058
− +
+
↗
Bl ↘
→ ↗
Quelle: Eigene Darstellung
Ähnliches gilt für die zweite, zentrale emotionale Qualität, dem Erleben von Freude, Spaß und Begeisterung, die sich innerhalb beider Methodenstränge besonders durch die klare positive Konnotation auszeichnet. Freude ist allerdings, wie bereits an früherer Stelle ausgeführt, nicht nur im Kontext zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen von Bedeutung, sondern generell von zentralem Wert für die Einstellung der Schüler*innen gegenüber Bildung: Einerseits steigert Freude, Spaß und Begeisterung die Motivation und den Austausch mit anderen und andererseits ist Freude, neben Geborgenheit, der zentrale Indikator für Wohlbefinden in Schule und Unterricht. Etwas weniger signifikant in den Ratings aber noch immer an dritter Position findet sich die Subkategorie Angst und Furcht, die auch im Kontext der qualitativen Analyse eine zentrale Bedeutung für die Bildungsverläufe der Schüler*innen einnimmt. Die negative Valenz dieser Emotion in den Ratings ist wenig überraschend und entspricht sowohl den Ausführungen der Schüler*innen als auch der allgemeinen Erwartungshaltung. Auffällig hingegen ist der positive Arousalwert, der eine Aktivierungsdimension suggeriert. Zwar zeigt sich in der qualitativen Auswertung, dass Angst im Kontext der eigenen Bildungsbiografie selbstreflexive Prozesse anstößt und sich die Schüler*innen dadurch intensiver mit der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung auseinandersetzen, gleichzeitig aber auch die Gefahr des Rückzugs und des Vermeidungsverhaltens entsteht, insbesondere wenn die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft zu bedrohlich für das eigene Selbstkonzept wird. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Angst zwar hinderlich für die prospektive Gestaltung, im Sinne der Berücksichtigung eigener Bedürfnisse, der eigenen Zukunft ist, gleichzeitig aber einen zentralen Einfluss auf die Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen hat. Betrachtet man die weiteren emotionalen Qualitäten innerhalb der zwei methodischen Zugänge fällt auf, dass die, in der qualitativen Analyse so zentrale
306
12 Diskussion der Metainterferenzen
Emotion der Geborgenheit, in den quantitativen Ratings nicht denselben Stellenwert zu haben scheint. Die untergeordnete Bedeutung der Einflussnahme des Erlebens von Zugehörigkeit in den Ratings kann bereits als erster Hinweis auf diese leichte Bedeutungsverschiebung interpretiert werden, auch wenn sich Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen in der Häufigkeitsverteilung noch immer im ersten Drittel der Subkategorien bewegt und zudem die Differenz zu den übergeordneten Subthemen relativ gering ist. Der Grund für diese minimale Bedeutungsverschiebung der Geborgenheit in den Ratings dürfte darin liegen, dass in der Wahrnehmung der Schüler*innen Geborgenheit in erster Linie mit Kontinuität und eben nicht mit Wertschätzung oder Zuneigung einhergeht. Dementsprechend sind, berücksichtigt man die Ausführungen der Schüler*innen, die Voraussetzungen für das Erleben von Geborgenheit gänzlich unterschiedliche, ebenso wie die Wahrnehmung dessen, was Geborgenheit aus subjektiver Perspektive auszeichnet. Daher verwundet es auch nicht, dass das Wohlgefühl innerer Sicherheit in Valenz und Arousal nicht dasselbe Signifikanzniveau aufweist, wie in den Interpretationen der qualitativen Daten. In diesem Sinne muss der Geborgenheit, als notwendige Voraussetzung von Explorationsverhalten und der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst, weiterhin ein zentraler Stellenwert für die Gestaltung der Bildungsbiografien der Schüler*innen beigemessen werden, im Besonderen unter Berücksichtigung der Entwicklungsaufgaben und der Lebenswirklichkeit am Übergang ins junge Erwachsenenalter sowie des positiven Einflusses von Geborgenheit auf das allgemeine Wohlbefinden der Schüler*innen. Des Weiteren zeigt sich in der Gegenüberstellung der Ergebnisse die doch zentrale Bedeutung negativer Emotionen im Kontext von Schule, Unterricht und Lernen. So finden sich in der Häufigkeitsverteilung der Ratings an vierter und fünfter Position die Qualitäten Frustration, Langeweile und Enttäuschung sowie Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass beiden eine durchwegs negative Konnotation zugeschrieben werden muss und sie gemeinsam mit der Emotion Stress zu einer generellen Abwertung des Schulalltags und in weiterer Folge zur negativen Bewertung von Bildung führen. Auch wenn bereits in der qualitativen Analyse der Zusammenhang zwischen schulischen Anforderungen und Pflichten und dem Erleben von Überforderung deutlich wurde, muss diesem Konnex ebenso eine größere Bedeutung beigemessen werden, als ursprünglich angenommen. Hinzu kommt, dass beide Datenstränge auf die deaktivierende bzw. hemmende Wirkung sowohl von Hilflosigkeit als auch von Frustration verweisen. Einzig dem Stresserleben kann eine Motivationsfunktion zugeschrieben werden, wobei in der qualitativen Auswertung deutlich wurde, dass diese in den meisten Fällen nur die spezifische
12.4 Die Funktionen emotionaler Markierungen
307
Leistungsbereitschaft fördert und dementsprechend bei kontinuierlicher Wahrnehmung zu Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit führen kann. Bestätigt wird in der Zusammenschau der Ergebnisse die positiv aktivierende Wirkung von Interesse und Neugierde sowie dessen Stellenwert für die eigene Bildungslaufbahn. Ebenso lässt sich die Annahme bestätigen, dass Dankbarkeit, aufgrund der antizipierten (oder imaginierten) Abhängigkeit und Schuld, eher eine negative Wirkung auf die eigenverantwortliche Gestaltung der Bildungsbiografie der Schüler*innen hat. Und auch die, der qualitativen Analyse geschuldete, Annahme, dass Ambivalenzen, auch wenn sie unspezifisch in Erscheinung treten, in den meisten Fällen zur Abwehr, Konfliktvermeidung oder Verdrängung führen und somit eine deaktivierende Funktion haben, lässt sich mit Blick auf die Einschätzung der Ratingteams aufrechterhalten. Gleiches gilt für die aktivierende Wirkung von Ärger, Wut und Aggression sowie von Hass und Abneigung im Kontext der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungslaufbahn. Einzig die Bedeutung von Scham und Verlegenheit in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen lässt sich weder in der Zusammenschau der Ergebnisse noch innerhalb der einzelnen Methodenstränge eindeutig klären. Einerseits tritt Scham immer wieder situationsspezifisch in Erscheinung, andererseits lässt sich schwer herausarbeiten, welche Vorstellungsbilder im Kontext der eigenen Bildungsbiografie damit in Zusammenhang stehen. Ebenso unklar ist, ob dem Schamgefühl tatsächlich eine aktivierende Wirkung, bspw. im Sinne der Identitätsentwicklung, zugeschrieben werden kann, oder aber ob lediglich Rückzug und Passivität das Resultat des Schamerlebens sind. Abschließend sei noch erwähnt, dass sich der überraschend geringe Stellenwert von Liebe und Zuneigung (für die Bildungsverläufe der Schüler*innen) in der Gegenüberstellung der Ergebnisse bestätigt.
12.4 Die Funktionen emotionaler Markierungen Wie bereits im Kontext der standardisierten Videoanalyse angemerkt, wird im Folgenden auf die Interpretation des Arousalwerts aus den Ratings in der Gegenüberstellung mit den qualitativen Daten verzichtet, da dies konzeptuell widersprüchlich und methodisch unzulässig wäre. Dennoch lassen sich Querverbindungen zwischen den Ergebnissen beider methodischer Zugänge herausarbeiten und veranschaulichen (siehe nachfolgend Tab. 12.5). So lässt sich übereinstimmend konstatieren, dass die gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit sowohl qualitativ als auch quantitativ die zentralste Funktion emotionaler Markierungen darstellt. Wenig überraschend wird die Selbstsicher-
308
12 Diskussion der Metainterferenzen
Tab. 12.5 Joint Display der signifikanten Funktionen Funktionen
Co
Hn
hn
ØV
ØA
1
Gesteigerte und erhöhte Selbstsicherheit
79
35
0,144
+
+
2
Gesteigertes Problembewusstsein und erhöhte Problemlösekompetenz
78
27
0,111
+
+
3
Allgemeine Motivation und Anstrenngungsbereitschaft
62
33
0,136
+
+
4
Moralentwicklung und die Veränderung von Normen, Werten und Konventionen
43
22
0,091
−
+
↗
Bl → ↗
→
Quelle: Eigene Darstellung
heit von positiven Emotionen, wie bspw. Freude, Stolz und Geborgenheit, begleitet und ermöglicht den Schüler*innen eine optimistische Grundeinstellung, die ihnen die Angst und Unsicherheit vor der zukünftigen Bildungslaufbahnentscheidung nimmt. Dies drückt sich auch im durchgängig positiven Valenzwert aus. Während in der qualitativen Analyse das gesteigerte Problembewusstsein aus der Perspektive der Schüler*innen relevanter erscheint, als die allgemeine Motivations- und Anstrengungsbereitschaft, verhält es sich in den Ratings genau umgekehrt. Dennoch haben beide einen zentralen Einfluss auf die Bildungsbiografie der Schüler*innen. Das Problembewusstsein ermöglicht eine realistische Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen sowie eine selbstkritische Haltung im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn. Die allgemeine Motivation wiederum ist Voraussetzung sich auch zukünftig Bildungsprozessen zuzuwenden und geht mit der allgemeinen Bereitschaft einher, sich im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn anzustrengen und seine Ziele erreichen zu wollen. Dementsprechend liegt die Schlussfolgerung nahe, dass beide Funktionen gleichbedeutend für die Gestaltung der Bildungsbiografie der Schüler*innen sind, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig ergänzen. Mit Blick auf die weiteren Subkategorien fällt auf, dass in der qualitativen Analyse lediglich die drei soeben genannten Funktionen als besonders signifikant bestimmt wurden, wohingegen in den quantitativen Ratings eine weitere Subkategorie als sehr aussagekräftig eingeschätzt wurde, der im Vergleich zu den zuvor genannten ein negativer Valenzwert zugeschrieben wird. Denn an vierter Position in der Häufigkeitsverteilung der Ratings findet sich die Subkategorie Moralentwicklung und die Veränderung von Normen, Werten und
12.4 Die Funktionen emotionaler Markierungen
309
onventionen. Auch wenn die Moralentwicklung in der qualitativen Analyse in K der Häufigkeit an vierter Position steht, wurde ihr in den Interpretationen dennoch nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wie der gesteigerten Selbstsicherheit, dem Problembewusstsein oder der allgemeinen Motivation. Die negative Valenz dieser Subkategorie lässt sich durch die Tatsache erklären, dass im Besonderen negative Erfahrungen, wie bspw. traumatische Erlebnisse, zur Veränderung der moralischen Wertmaßstäbe der Schüler*innen führen. Die Moralentwicklung wiederum ermöglicht es Prioritäten neu zu ordnen und Wichtigkeitsbesetzungen im Hinblick auf den bevorstehenden Bildungsübergang entsprechend zu adaptieren. Dies legt den Schluss nahe, dass der Moralentwicklung in Kontext der Funktionen emotionaler Markierungen ein höherer Stellenwert beigemessen werden muss, als ursprünglich angenommen und sie somit als vierte, signifikante Subkategorie Geltung beansprucht. Ebenso übereinstimmend ist das Signifikanzniveau der verringerten Selbstsicherheit und des geringeren Selbstbewusstseins. Diese Subkategorie folgt sowohl in den qualitativen als auch in den quantitativen Daten der Moralentwicklung und ist ebenso wie diese negativ konnotiert. Allerdings zeigt sich in der qualitativen Analyse, dass sich ein vermindertes Selbstwertgefühl in zweifacher Weise negativ auf den zukünftigen Bildungsverlauf und die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung auswirkt. Zum einen werden die eigenen Bedürfnisse durch ein negativ konnotiertes Selbstbild in den Hintergrund gedrängt und zum anderen wird die damit einhergehende Angst (vor der Zukunft) als Hemmnis im Kontext der bevorstehenden Bildungslaufbahnentscheidung wahrgenommen. Unter Berücksichtigung der verbleibenden Subkategorien kann festgehalten werden, dass die gesteigerte Empathie, die Vermeidung der bewussten Auseinandersetzung mit dem Erlebten, die spezifische Lern- und Leistungsbereitschaft sowie die Kategorie des Rückzugs und der Konfliktvermeidung auf einem mittleren Signifikanzniveau auszusiedeln sind. D. h. sie haben eine zentrale Bedeutung für die Schüler*innen, wirken sich allerdings nicht im gleichen Maße auf die Bildungslaufbahn derselben aus, wie die zuvor genannten. Ähnliches gilt für die Subkategorie Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit sowie für die Kategorie erhöhte Hilfsbereitschaft und soziales Engagement. Abschließend sei noch erwähnt, dass die Funktion Faulheit und Prokrastination, ebenso wie die Qualität Eifersucht und Neid, von keinem Ratingteam als signifikant beurteilt wurde und somit in der Gegenüberstellung der methodischen Zugänge nicht berücksichtigt werden kann.
Teil IV Diskussion und Fazit
Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
13
Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit werden die zentralen Ergebnisse unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes und im Hinblick auf die, der Arbeit zugrunde liegenden Forschungsdesiderate aufgegriffen und kritisch diskutiert. Zu Beginn werden die Thesen und Annahmen aus der Literatur den Ergebnissen aus dem Forschungsprojekt gegenübergestellt und problematisiert. Daran anschließend wird der Versuch unternommen, die Subforschungsfragen und in weiterer Folge die primäre Forschungsfrage präzise und entlang der zentralen Ergebnisse der empirischen Analyse zu beantworten. In einem letzten Schritt werden die Limitationen der Arbeit vorgestellt sowie die Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung umrissen. Im Folgenden werden die zentralen Annahmen, wie sie im Kontext des spezifischen Forschungsstandes der vorliegenden Arbeit präzisiert wurden (siehe hierzu Abschn. 4.9), den Ergebnissen des empirischen Teils gegenübergestellt. Das Ziel ist es dabei, aus der Perspektive der am Projekt beteiligten Schüler*innen respektive Forschungspartner*innen, die jeweiligen Annahmen zu bestätigen bzw. zu stützen oder aber sie gegebenenfalls infrage zu stellen.
13.1 Die frühen Bildungsübergänge und Bildungslaufbahnentscheidungen Aus der subjektiven Perspektive der Schüler*innen stellen Bildungsübergänge im Allgemeinen zentrale Schnittstellen für die Strukturierung des eigenen Lebens dar, die als besonders bedeutsam und dementsprechend emotional konnotiert erlebt werden. Dies wurde mitunter in den Erzählungen des Erlebens vergangener Übergänge deutlich, die von allen Schüler*innen im Detail erinnert werden
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_13
313
314
13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
und als einschneidende Erlebnisse bzw. prägende Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte mit starken emotionalen Markierungen einhergehen. In diesem Sinne ist Matthias Rath (2011), der Übergänge aus anthropologischer Perspektive als Signaturen der menschlichen Biografie versteht, nicht nur zuzustimmen, sondern es lässt sich hier ergänzen, dass unabhängig des Erfolgs oder Misserfolgs respektive des Bewältigens oder Scheiterns am Übergang, das Erleben dieser Transitionen die eigene Identität zentral beeinflusst und zu einem inhärenten Teil des eigenen Selbstkonzepts wird. So ist der Übergang von der Grundschule in das Gymnasium, unabhängig der eigenen Leistungen, des Kompetenzerlebens oder der sozialen Eingebundenheit etc., für die Schüler*innen ein Übergang in eine neue Lebensphase und ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit und Autonomie. Dabei scheinen allerdings die Übergangscharakteristika der Altersnormierung, Standardisierung, Leistungsorientierung und Selektion in der Wahrnehmung der Schüler*innen nicht gleichberechtigt nebeneinander zu stehen (vgl. Tillmann 2013). Während die Altersnormierung und die Standardisierung aus der Perspektive der Schüler*innen weniger relevant zu sein scheinen bzw. als Tatsachen akzeptiert werden, wird die Auslese- und Selektionsfunktion bereits früh bewusst als solche wahrgenommen. Zum einen betrifft die Selektion nicht nur die eigene Bildungslaufbahn, sondern auch den weiteren Lebensweg des Freundeskreises und der Klassenkamerad*innen, deren antizipierter oder realer Verlust besonders emotional erlebt wird. Zum anderen führt das Wissen um die Auslese und Selektion an den Gelenkstellen des Bildungssystems zur Internalisierung der Leistungsorientierung desselben, die mit negativen Emotionen und emotionalen Markierungen einhergeht. Besonders Angst und Stress sind hier die primären negativen Emotionen. Dies legt den Schluss nahe, dass die ersten Übergänge im Bildungssystem aufgrund der frühen Internalisierung der Leistungsorientierung einen indirekten Beitrag zur sukzessiven Abnahme der Lernfreude und des Wohlbefindens der Schüler*innen leisten, was sich zum Teil bereits in den Befunden zur Abnahme der Lernfreude in Schule und Unterricht widerspiegelt (vgl. Hagenauer 2011). Dennoch wird der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, im Vergleich zum Übergang zwischen den Sekundarstufen, als durchwegs positiv und lustvoll erlebt. Die zentralen emotionalen Qualitäten sind dabei Stolz und Freude. Der Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II ist stark von kontextuellen Faktoren abhängig. Besonders das Gymnasium scheint hier, aufgrund der besseren Verbleibchancen im Bildungssystem, eine Ausnahmestellung einzunehmen. Im Gegensatz zur Mittelschule nehmen Schüler*innen aus Gymnasien den Übergang in die Sekundarstufe II – in der Regel ist das die Oberstufe derselben Schule – geradezu als zwingende Notwendigkeit wahr,
13.2 Die Struktur der Bildungslaufbahnentscheidung
315
auch wenn sie sich für eine andere Schulform interessieren oder den Umstieg in das duale Ausbildungssystem in Erwägung ziehen. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass sich bis zum Ende der Sekundarstufe I bereits die Vorstellung durchgesetzt hat, entweder aufgrund des gefühlten Privilegs oder aber aufgrund des verspürten Zwangs eine Allgemeinbildende Höhere Schule besuchen zu dürfen respektive besuchen zu müssen, zumindest den formalen Aufstieg in der Oberstufe als Selbstverständlichkeit oder aber Verpflichtung wahrzunehmen. Dies wurde besonders deutlich, da die Schüler*innen, unabhängig des heterogenen Leistungsniveaus, ihrer Noten oder Herkunft und selbst unabhängig des Wunsches die Schullaufbahn mit Matura abschließen zu wollen, die Bewältigung des Übergangs und somit die Bewältigung der vermeintlichen Auslese am Ende der Sekundarstufe I als identitätsstiftende Notwendigkeit begreifen. Dies unterstreicht die, in der Literatur, des Öfteren thematisierte Abnahme der sekundären Herkunftseffekte im Verlauf der eigenen Bildungsbiografie (vgl. Schnabel et al. 2002; Maaz 2006; Bieri Buschor et al. 2008; Trautwein 2013) sowie die damit einhergehende Tatsache, dass sich die Schüler*innen in dieser Bildungslaufbahnentscheidung, im Vergleich zu den vorherigen Übergängen, zum größten Teil als Mitentscheidungsträger*innen erleben. Gleichzeitig muss jedoch festgehalten werden, dass der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, wie bereits in mehreren Studien deutlich wurde, der entscheidende Faktor für die Entstehung von Bildungsungleichheit ist (vgl. Gresch 2011; Bellenberg 2012; Kleine et al. 2013; Kleine 2014; Geppert 2017a): Die Bildungsentscheidung am Ende der Grundschule war selbst aus Sicht der am Projekt beteiligten Schüler*innen eine reine Elternentscheidung und wurde unabhängig der Schul- bzw. Bildungsempfehlung der Lehrpersonen getroffen.
13.2 Die Struktur der Bildungslaufbahnentscheidung Gänzlich anders gestaltet sich allerdings der Übergang von der Allgemeinbildenden Höheren Schule in die Hochschule und den tertiären Bildungssektor. Die, in der Literatur des Öfteren proklamierte, Struktur der Bildungsentscheidung als Interaktionsprozess zwischen unterschiedlichen Protagonist*innen des Bildungssystems (vgl. Bornkessel und Asdonk 2011) trifft auf die Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II nicht zu. Im Gegenteil; in der Wahrnehmung der Schüler*innen wird der bevorstehende Übergang als bedrohliche Herausforderung erlebt, die es eigenständig und unabhängig zu bewältigen gilt, da sie gleichzeitig konstitutiv für die Suche nach dem eigenen Selbst respektive der eigenen Identität ist. Ganz im Sinne von Erikson (1950)
316
13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
sind die Antizipation der unmittelbaren Zukunft, und die damit einhergehenden Unsicherheiten im Rahmen der möglichen Gestaltung derselben, ein Wechselspiel zwischen Identitätsfindung und Rollendiffusion. Die Schüler*innen erleben sich dabei zwar als selbstständig und frei, gleichzeitig wird diese Autonomie, Freiheit und Unabhängigkeit als kontinuierliche Bedrohung wahrgenommen. Die damit einhergehende Angst vor dem Ungewissen führt zum Verlangen nach Sicherheit und Orientierung. Zudem nehmen die Schüler*innen ihre soziale Umwelt auf bewusster Ebene nicht als Unterstützung wahr. Die Schule wird dabei nicht nur als wenig hilfreich eingeschätzt (vgl. Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018), sondern als zusätzliche Belastung wahrgenommen, die zu einem erhöhten Erleben negativer Emotionen führt. Im Besonderen gehen die schulischen Anforderungen und Pflichten mit einem kontinuierlichen Stresserleben einher, das aufseiten der Schüler*innen, unabhängig des Bewältigungspotentials jener Anforderungen, zu einem Gefühl permanenter Überforderung führt. Selbst Unterstützungsangebote, wie bspw. diesbezügliche Gespräche mit Eltern oder aber Hilfestellungen von vertrauten Lehrpersonen, werden von den Schüler*innen unabhängig der Intention jener Bezugspersonen, negativ bzw. als Hemmnis wahrgenommen. Dies liegt natürlich darin begründet, dass das Bedürfnis sich gegenüber den Eltern und anderen Bezugspersonen abzugrenzen und einen eigenen Lebensentwurf zu skizzieren, eine identitätsstiftende Funktion im Sinne der Bewältigung entwicklungsspezifischer Aufgaben erfüllt (vgl. Havighurst 1972 [1948]). Schon aufgrund dieser Tatsache, dass sich Schüler*innen in der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang in das junge Erwachsenenalter im Hinblick auf ihrer Identitätskonstitution emotional von den vertrauten Strukturen ablösen und als eigenständig, frei und autonom erleben müssen, spricht gegen die Axiomatik der klassischen Entscheidungstheorien. Dementsprechend müssen die antiquierten Sichtweisen der Rational-Choice-Modelle, die den Menschen und seine Entscheidungen als Ergebnis einer an utilitaristischen Prinzipien und ökonomischen Zwängen orientierten Rationalität verstehen, für die Bildungsentscheidung am Ende der Sekundarstufe II als obsolet betrachtet werden. Die Bildungsentscheidung als eigenverantwortliche und selbstbestimmte Entscheidung am Übergang ins junge Erwachsenenalter lässt sich weder einer kausalen Logik noch einer extrinsischen Argumentationsstruktur unterwerfen. In diesem Sinne lässt sich auch das subjektorientierte ErwartungsWert-Modell von Jacquelynne S. Eccles (1983, 2005) im Kontext der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang zur Hochschule nur bedingt a ufrechterhalten. Zwar ist Eccles zuzustimmen, dass das eigene Fähigkeitskonzept und die subjektive Bedeutsamkeit von Themen und Gegenständen sich an den emotionalen Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte orientieren
13.2 Die Struktur der Bildungslaufbahnentscheidung
317
respektive daraus hervorgehen, jedoch stellt die bewusste Auseinandersetzung mit der Wahrscheinlichkeit auf Erfolg im Hinblick auf die unterschiedlichen Berufsoder Studienmöglichkeiten keinen Schlüsselfaktor der Entscheidungsfindung dar. Zum einen würde dies der zentralen Bedeutung der bildungsentscheidungsrelevanten, emotionalen Markierungen (wie bspw. das antizipierte Berufsbild) der eigenen Bildungslaufbahn widersprechen und zum anderen lässt sich diese bewusste Reflexion der eigenen Erfolgsaussichten schlichtweg nicht beobachten. Überdies konnte die von Eccles und Wingfield (2002) proklamierte Bedeutung extrinsischer Motive und Investitionskosten als Einflussfaktoren der Bildungsentscheidung in keiner Weise bestätigt werden. Natürlich sind die finanziellen Ressourcen und insbesondere eine gewisse materielle Sicherheit für die Schüler*innen von Bedeutung, allerdings ist ihr Stellenwert für die Gestaltung der zukünftigen Bildungslaufbahn vernachlässigbar. Demgegenüber ist Lent et al. (1994) zuzustimmen, dass sich im Besonderen Selbstwirksamkeitskonzepte auf die Bildungslaufbahnentscheidung auswirken und diese auch Einfluss auf die eigenen Erfolgsaussichten im Sinne Eccles (2005) nehmen. Selbstwirksamkeit ist dabei, wie von Lent et al. (1994) beschrieben, sowohl für die jeweilige Berufsvorstellung, die emotionale Markierung allgemeiner Tätigkeiten und die Markierung des Berufsbilds, als auch für die sich daran anschließende Berufsoder Studienwahl verantwortlich und wirkt auf weitere, im Entscheidungsprozess relevante, Variablen ein. Wie in der Ergebnisdarstellung deutlich wurde ist das Erleben von Selbstwirksamkeit somit ein Schlüsselfaktor für die Konstitution jener emotionalen Markierungen, die in weiterer Folge die eigene Bildungslaufbahn zentral beeinflussen. Allerdings reicht das Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit nicht aus, um die Dynamik von Bildungslaufbahnentscheidungen und die zentrale Bedeutung von Emotionen und emotionalen Markierungen nachzuvollziehen. Ebenso wenig lässt sich das Kompetenzerleben von der Herausbildung berufsspezifischer Interessen und persönlicher Ziele, wie von Lent et al. (1994) beschrieben, trennen, was im Besonderen in der Darstellung der Zusammenhänge zwischen den Subkategorien und der Darstellung der Einflussfaktoren deutlich wurde. So beeinflusst das Kompetenzerleben das eigene Selbstkonzept, die Motivation und Leistungsbereitschaft sowie im Besonderen das eigene Selbstwertgefühl, das wiederum mit einer gesteigerten Selbstsicherheit einhergeht. Gleichzeitig wirkt sich das Erleben von Handlungsfähigkeit global auf die bildungsentscheidungsrelevanten Vorstellungsbilder aus. Den Modellvorstellungen von Hachmeister et al. (2007) und Tutt (1997), die davon ausgehen, dass Bildungslaufbahnentscheidungen unterschiedliche Phasen durchlaufen kann ebenso nur bedingt zugestimmt werden. Natürlich ist den Autor*innen recht zu geben, dass die Studien- und Berufswahl als
318
13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
sukzessiv-deduktiver Prozess verstanden werden kann, allerdings muss sowohl der These, dass die Informationsquellen im Entscheidungsprozess immer spezifischer werden, als auch der Annahme, dass sich im Entscheidungsfindungsprozess eine Bewertungsphase von einer Entscheidungsphase unterscheiden lässt, entschieden widersprochen werden. Zum einen haben die tatsächlichen bzw. objektiven Informationsquellen für die Schüler*innen kaum Bedeutung, unabhängig wie weit sie in ihrem Entscheidungsprozess sind. Informationen scheinen insgesamt in adaptiven Entscheidungsfindungsprozessen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Und zum anderen lässt sich die Bewertung nicht von der Entscheidung trennen, weil – und dies wurde auch in Studien zur Berufswahl bestätigt (vgl. bspw. Wells und Iyengar 2005 oder Hellberg 2009) – sich beide Prozesse gegenseitig beeinflussen. Schwarz (2000) geht sogar davon aus, dass sich erst im Zusammenspiel von Bewertung (Emotion) und Entscheidung (Urteil) mentale Prozesse konstituieren. Unabhängig davon scheint der Mehrwert der Differenzierung des Entscheidungsfindungsprozesses in sich überschneidende Phasen aus der Perspektive der betroffenen Schüler*innen überschaubar. Bestätigt werden konnte jedoch die These der späten Bildungslaufbahnentscheidung von Hachmeister et al. (2007), nämlich, dass der Zeitpunkt der Studienfachwahl am Ende der Schulzeit oder erst am Übergang in die Hochschule angesiedelt werden kann. In diesem Sinne ist auch Guggenberger (1991) und seiner Anomie-These zuzustimmen, dass Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang zu Hochschule nicht langfristig, gezielt und bewusst getroffen werden, sondern vielmehr mit subjektiven Vorstellungen, Erwartungen und Absichten einhergehen. Allerdings sind diese Vorstellungen, Erwartungen und Absichten nicht beiläufig oder zufällig, sondern müssen aus Sicht der Schüler*innen als bildungsentscheidungsrelevante Repräsentationen, bedürfnisorientierte Vorstellungsbilder und persönliche Ambitionen verstanden werden, die den emotionalen Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte geschuldet sind. Ganz im Sinne von Wiltrud Gieseke (2016) sind Bildungslaufbahnentscheidungen somit individuelle Bewertungen im Prozess, deren Wirkungen und Konsequenzen im Voraus nicht erkennbar sind.
13.3 Zum Stellenwert von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen Emotionen und Emotionsmuster sind für Wiltrud Gieseke (2016) nicht nur Voraussetzungen von Bildungslaufbahnentscheidungen, sondern Schlüsselfaktoren des lebenslangen Lernens, der Selbstbildung und der eigenen
13.3 Zum Stellenwert von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen
319
Bildungsbiografie. Besonders der von ihr postulierte und im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen selten thematisierte zentrale Stellenwert von Beziehungserfahrungen mit Eltern, Lehrpersonen und Freunden konnte in der vorliegenden Arbeit bestätigt werden. Diese Erfahrungen konstituieren emotionale Markierungen, die in jeder Phase der Entscheidungsfindung und Lebensplanung auf bewusster und nicht-bewusster Ebene ihre Wirkung entfalten. Allerdings muss aus der Perspektive der Schüler*innen festgehalten werden, dass jene Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen nicht zwangsläufig als tatsächliche Beziehungserfahrungen erlebt werden müssen. So konnte gezeigt werden, dass sich der Einfluss der Gleichaltrigengruppe, unabhängig des Konzepts von Freundschaft oder einer tatsächlichen Beziehungsebene, in der subjektiven Auseinandersetzung mit den mentalen Repräsentationen der Vorstellungen und Konzepte von Personen gleichen Alters und Status vollzieht und somit auch die imaginierte Peergruppe repräsentativ für den Anstoß reflexiver Prozesse sein kann. Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit Lehrpersonen. Dennoch ist der zentrale Einfluss dieser drei Personengruppen – Freunde, Eltern und Lehrpersonen – auf die Entstehung und Verfestigung emotionaler Bewertungen ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Ebenso bestätigt werden kann Giesekes These, dass Emotionsmuster bzw. emotionale Markierungen als Persönlichkeitsvariablen konstitutiv für das eigene Selbstbild sind (vgl. Gieseke 2016). Denn aus der subjektiven Perspektive der Schüler*innen haben emotionale Markierungen mitunter eine Selbstsicherheitsfunktion bzw. steigern oder vermindern sie die eigene Selbstsicherheit. Zudem steigern sie das eigene Problembewusstsein, verändern die eigenen Normen, Werte und Konventionen und führen in Ausnahmefällen sogar zu tiefgreifenden Identitätsentwicklungen. Die Beobachtung, dass die emotionalen Markierungen im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen zur Moralentwicklung beitragen, deckt sich überdies mit der These von Lerner et al. (2015), dass Emotionen in der Entscheidungsfindung direkten Einfluss auf Werte und Normen nehmen. Zugleich untermauert die gesteigerte Problemlösekompetenz der Schüler*innen im Kontext der zentralen Funktionen emotionaler Markierungen die These von Hannula (2015), dass der Konnex von Emotion und Entscheidung von so zentraler Bedeutung ist, da das Zusammenspiel beider, als Basis subjektbezogener Problemlösekompetenz verstanden werden kann. Des Weiteren lassen sich die von Pfister et al. (2017) postulierten, allgemein gehaltenen Funktionen von Emotionen in der Entscheidungsfindung, mit Ausnahme der Geschwindigkeitsfunktion, die in der vorliegenden Arbeit aufgrund des Erkenntnisinteresses und Forschungsdesigns nicht berücksichtigt werden konnte, bekräftigen. Allerdings lässt sich aus der Tatsache, dass B ildungslaufbahnentscheidungen
320
13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
persönliche (vgl. Hellberg 2009) und adaptive (vgl. Arnold 2009) E ntscheidungen sind, schließen, dass Emotionen hier notwendigerweise eine zeitlich ange messene Entscheidungsfindung ermöglichen müssen, wobei sich das „zeitlich angemessen“ einerseits auf das Problem der Repräsentation von Information bezieht (vgl. Gigerenzer und Gaissmaier 2011) und andererseits individuell gänzlich unterschiedlich attribuiert ist (vgl. Guggenberger 1991). Besonders deutlich wurde in der Ergebnisdarstellung auch der Zusammenhang, dass Emotionen und emotionale Markierungen vom Entscheidungsfindungsprozess selbst bzw. von der Auseinandersetzung mit der bevorstehenden Entscheidung hervorgerufen werden (vgl. Schwarz 2000). Einerseits wurde dies anhand des zyklischen Charakters der emotionalen Markierungen und dem Sachverhalt, dass die Funktion und die Form in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen und sich gegenseitig bedingen, deutlich. Besonders die Ausführungen der Schüler*innen zum Verlangen nach sozialer Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung veranschaulichen diese reziproke Wirkung. So wird die Anerkennung von anderen, bspw. in Form des allgemeinen Lobs, und die Anerkennung von sich selbst, bspw. in Form des Kompetenzerlebens, von positiven Emotionen begleitet (in den meisten Fällen von Stolz, Freude oder Interesse), aus denen wiederum das Verlangen nach sozialer Wertschätzung hervorgeht, das in erster Linie von der Tendenz zur allgemeinen Motivation und Anstrengungsbereitschaft begleitet wird und somit eine kontinuierliche, positive Wechselwirkung zwischen emotionaler Bewertung und Entscheidung entsteht. Andererseits wurde besonders in der Imaginationsphase bei den Schüler*innen deutlich, dass die Antizipation und Auseinandersetzung mit der unsicheren Zukunft mit Angst einhergeht und diese wiederum zur negativen Markierung bestimmter Berufsbilder führt und somit die Entscheidungsfindung zentral beeinflusst. Ebenso kann die These bestätigt werden, dass Bildungslaufbahnentscheidungen besonders von der Vorstellung zukünftiger Emotionen und antizipierter emotionaler Bewertungen beeinflusst werden (vgl. George und Dane 2016). Dies wurde speziell im Kontext der positiven, emotionalen Qualitäten deutlich: Zum einen werden die Schüler*innen in ihren Entscheidungen nicht nur durch den Stolz auf die bisher erbrachten Leistungen beeinflusst, sondern es zeigte sich immer wieder, dass sie auch stolz auf das zukünftige Selbstbild sind respektive die Vorstellung des zukünftigen (professionellen) Selbst mit Stolz assoziiert ist. Zum anderen wurde an mehreren Stellen die positive emotionale Markierung spezifischer Tätigkeitsfelder und des praktischen Tuns mit Freude im Kontext zukunftsorientierter Vorstellungsbilder der Schüler*innen deutlich.
13.3 Zum Stellenwert von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen
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In dem von Hellberg (2009) postulierten Prozessmodell der Emotionen und Kognitionen entstehen durch den Vergleich zwischen der Imagination eines realen Berufes und der Vorstellung eines Idealberufes unterschiedliche Antizipationen, die mit emotionalen Prozessen und dem Erleben derselben einhergehen. Aus der Perspektive der Schüler*innen lässt sich allerdings die Differenz zwischen Ideal- und Realberuf bzw. die klare Trennung zwischen (realer) Vorstellung und (fiktiver) Imagination nicht aufrechterhalten. Die emotionalen Markierungen von Berufsbildern sind als bildungsentscheidungsrelevante Vorstellungsbilder wirkmächtig, unabhängig davon, ob sie real oder imaginativ sind. Zu fragen wäre überdies was ein reales von einem imaginierten Vorstellungsbild aus subjektiver Perspektive unterscheidet. Allerdings verdeutlichen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit die zentrale Bedeutung von Berufsbildern für die Anbahnung und Reflexion von Bildungslaufbahnentscheidungen am Ende der Sekundarstufe II. Dementsprechend ist Hellberg (2009) und sein Modell insofern von Bedeutung, als dass die, von ihm als entscheidungsrelevant postulierte, Vorstellung des zukünftigen Berufs respektive die emotionale Bewertung desselben in der Analyse von Bildungslaufbahnentscheidungen bisher völlig unterschätzt wurden. Denn wie in der Ergebnisdarstellung deutlich wurde, ist die emotionale Bewertung vom Bild eines konkreten Berufes für alle Schüler*innen ein zentrales Motiv im Kontext der Auseinandersetzung mit der zukünftigen Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn. Unverständlich bleibt dennoch Hellbergs Eingrenzung des emotionalen Erlebens einzig und allein als Folge von Antizipationstendenzen. Demgegenüber ist Gieseke (2016), unter Berücksichtigung von Schwarz (2000) und Damasio (2001), zuzustimmen, dass Bildungslaufbahnentscheidungen besonders von internalisierten, emotionalen Überzeugungen beeinflusst werden, wohingegen aktuelle, emotionale Episoden eine vernachlässigbare Rolle zu spielen scheinen. Allerdings muss an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass die aktuellen emotionalen Episoden lediglich in der Sensibilisierungsphase Bestandteil des gemeinsamen Arbeitens mit den Schüler*innen waren. Es finden sich jedoch an mehreren Stellen im Material Hinweise darauf, dass die Schüler*innen bewusst zwischen beiden Formen emotionaler Erregung unterscheiden und in der reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie den aktuellen, emotionalen Episoden eine weitaus geringere Bedeutung beimessen.
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13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
13.4 Zu den Motivlagen der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang Im Rahmen der Motive für Bildungslaufbahnentscheidungen von Maturant*innen werden in der Literatur die Studienfach- und Berufswahl, die Hochschulwahl, die Wahl des Hochschulorts sowie die Wahl des Hochschultyps unterschieden. Da es in Österreich im Vergleich zu Deutschland keine staatlich regulierten Zulassungsgrenzen bei Universitätsstudien gibt, spielen die Hochschulwahl und die Wahl des Hochschulorts als externe Einflussfaktoren eine nebensächliche Rolle. Aus der subjektiven Perspektive der Schüler*innen orientiert sich die Wahl des Hochschulorts zudem eher an persönlichen Präferenzen als an extrinsischen Faktoren, wobei aufgrund der Dichte an Hochschulen, Fachhochschulen, Colleges und anderen tertiären Bildungseinrichtungen Wien eine Sonderstellung in Österreich und im deutschsprachigen Raum einnimmt und sich hierzu daher keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen ableiten lassen. Die Wahl des Hochschultyps ist für die Schüler*innen hingegen in keiner Weise von Bedeutung. So zeigte sich, dass die Studienfachwahl für die Schüler*innen weitaus relevanter ist, als die Form der Hochschule oder die Form des Hochschulabschlusses. Dies deckt sich sowohl mit den Befunden anderer Studien (vgl. Notter und Arnold 2003; Hachmeister et al. 2007) als auch mit den aktuellen Hochschulprognosen in Österreich. Ebenso vernachlässigbar am Übergang vom Gymnasium scheint aus der Perspektive der Schüler*innen der Berufseinstieg zu sein. Auch wenn der direkte Berufseinstieg aufgrund extrinsischer Motivatoren nach der Matura durchwegs attraktiv erscheint, wird er von den Schüler*innen lediglich als Zwischenlösung in Betracht gezogen. Dies entspricht der statistischen Wahrscheinlichkeit, dass 85 % aller Absolvent*innen von Allgemeinbildenden Höheren Schulen in Österreich innerhalb der ersten drei Jahre nach der Matura ein Hochschulstudium beginnen und somit 42 % aller Studienanfänger*innen aus der AHS stammen (vgl. Statistik Austria 2017). Weitaus attraktiver als der Berufseinstieg ist hingegen die Möglichkeit eines Zwischenjahres bzw. des sogenannten gap years; alle Schüler*innen könnten sich prinzipiell vorstellen ein Zwischenjahr im Ausland (oder im sozialen Dienst) zu absolvieren und einige von ihnen ziehen dies auch tatsächlich in Betracht bzw. haben bereits konkrete Auslandspläne. Die steigende Bedeutung des Zwischenjahres als Zwischenlösung am Übergang vom Gymnasium zur Hochschule konnte somit bestätigt werden (vgl. Bieri Buschor et al. 2008). Mit Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit lässt sich der, in der Übergangsforschung einhellig betonte Konsens, dass Bildungslaufbahnentscheidungen
13.4 Zu den Motivlagen der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang
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am Übergang zur Hochschule in erster Linie intrinsisch motiviert getroffen werden und dass die intrinsischen Motive subjektiv als bedeutsamer erlebt werden als die extrinsischen Motivlagen bestätigen (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Heublein et al. 2014; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Aus Sicht der Schüler*innen und unter Berücksichtigung ihrer emotionalen Markierungen sind dabei die Selbstverwirklichung, die Freude an bestimmten Tätigkeiten und die Befriedigung eigener Interessenslagen weitaus relevanter als die Aussicht auf externale Vorteile oder Belohnungen. In der intrinsischen Motiviertheit bzw. in der kollektiven Betonung etwas der Sache wegen bzw. aus Spaß und Begeisterung zu tun – wie einhellig in der Literatur betont – wird die Bedeutung von Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen in Theorie und Praxis besonders deutlich; es stellt sich also die berechtigte Frage, warum emotionale Faktoren bisher im Kontext der Übergangsforschung nicht berücksichtigt wurden, obwohl alle Autor*innen in der Beschreibung der Wirkmächtigkeit intrinsischer Motive beiläufig immer wieder auf die Bedeutung von Freude, Interesse und Stolz bzw. auf den zentralen Stellenwert von Emotionen hinweisen. Gleichzeitig ist es schwer nachzuvollziehen, warum die meisten Modelle der Bildungslaufbahnentscheidung, denen eine rational begründete Entscheidungstheorie zugrunde liegt, diese Tatsache weiterhin schlichtweg ignorieren. Diese kritische Anmerkung gewinnt zudem an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass unabhängig des sozioökonomischen Hintergrunds, der Herkunft und der Bildungsnähe der Familie die zentralen Motive der Bildungslaufbahnentscheidung von Maturant*innen dieselben sind (vgl. Heublein et al. 2017). Diese Annahme konnte in der vorliegenden Arbeit ebenso bestätigt werden; im Besonderen gibt es bei den bildungsentscheidungsrelevanten Repräsentationen (Interessen, Berufsbilder, Tätigkeiten) keinerlei Unterschiede zwischen den Schüler*innen. Berücksichtigt man die Heterogenität des Samplings, insbesondere die unterschiedlichen Leistungsniveaus, die divergente Herkunft und die Diversität in der Bildungsnähe der Eltern, ist dies durchaus bemerkenswert. Unterschiede zeigten sich lediglich bei den persönlichen und oft extrinsisch motivierten Ambitionen, wie bspw. im Hinblick auf den Stellenwert von Partnerschaft und Familie oder aber im Hinblick auf die Bedeutung von Wohlstand, die allerdings einen weitaus geringeren Einfluss auf die Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen haben. Dies entspricht auch den Ergebnissen bisheriger Studien zu den extrinsischen Einflussfaktoren, denen zum einen ebenso eine geringere Bedeutung für die Entscheidungsfindung zugeschrieben wird und die zum anderen in der Zusammenschau der Studien recht uneinheitlich ausfallen (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Von den vier zentralen extrinsischen Motiven – Berufsmöglichkeiten und Chancen am Arbeitsmarkt, sicherer Arbeitsplatz, gute Verdienstmöglichkeiten,
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13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
angemessenes und ausgeglichenes Betriebsklima – erwiesen sich allerdings in der vorliegenden Arbeit lediglich die Verdienstmöglichkeiten (im Verlangen nach finanzieller und materieller Sicherheit) sowie das ausgeglichene Betriebsklima (im Wunsch nach Work-Life-Balance und einer ausgeglichenen Lebensstruktur) als signifikant, wobei beiden lediglich eine moderate Bedeutung beigemessen werden darf. Aus der Perspektive der Schüler*innen hingegen ist das Verlangen nach sozialer Wertschätzung und Anerkennung das zentrale extrinsische Motiv für die Studienwahl. Auch Heine et al. (2005) und Heublein et al. (2017) weisen auf die Bedeutung des Ansehens, des Status und der sozialen Wertschätzung im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen hin. Diese Kategorie der Anerkennung von außen sollte in zukünftigen Studien daher mehr Aufmerksamkeit erfahren, im Besonderen weil sie in engster Weise mit dem, für die eigene Bildungsbiografie so zentralen, Erleben von Selbstwirksamkeit in Verbindung steht und zudem mit der Tendenz der allgemeinen Motivationsbereitschaft einhergeht. Im Vergleich zu den extrinsischen Motiven ist der Forschungsstand zu den intrinsischen Motivlagen weitaus einheitlicher, im Besonderen was das leitende Motiv für die Bildungslaufbahnentscheidung von Maturant*innen und Studienanfänger*innen betrifft. So wird einhellig betont, dass das Interesse am Fach der zentrale Beweggrund für die Entscheidungsfindung ist (vgl. Notter und Arnold 2003; Heine et al. 2005; Hachmeister 2007; Heublein et al. 2017; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Aus der Perspektive der Schüler*innen und unter Berücksichtigung der zentralen Ergebnisse kann dies zum Teil bestätigt werden. Die emotionale Markierung von Gegenstand und Interessengebiet zählt zu den drei zentralen bildungsentscheidungsrelevanten Repräsentationen. Die besondere Bedeutung dieser Kategorie liegt aus emotionstheoretischer Perspektive darin begründet, dass sie ausschließlich positiv konnotiert wahrgenommen wird und als Ausdruck von Subjektivität in der eigenen Lebenskonzeption eine identitätsstiftende Funktion einnimmt. Ebenso lässt sich die Bedeutung des zweiten intrinsischen Motivs, die persönliche Entfaltung (vgl. Heine et al. 2005; Hachmeister et al. 2007; Heublein et al. 2017), aus Sicht der Schüler*innen als signifikant ausweisen. Diese findet sich im Verlangen nach Erfolg und Selbstverwirklichung repräsentiert, das für alle Schüler*innen im Kontext der zukünftigen Lebensplanung von Bedeutung zu sein scheint. Problematischer hingegen gestaltet sich das, in der Literatur an dritter Stelle rangierende, intrinsische Motiv der eigenen Begabungen, da unklar ist, ob damit von den Autor*innen spezifische Fachkompetenzen oder aber der Glaube an die persönlichen Stärken im Sinne des Selbstkonzepts gemeint ist. Unter Berücksichtigung der globalen Wirkung der Selbstwirksamkeit kann jedenfalls aus Sicht der Schüler*innen festgehalten werden, dass die fachlichen Kompetenzen ledig-
13.4 Zu den Motivlagen der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang
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lich einen geringen Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn haben, wohingegen das Selbstkonzept respektive die eigene Selbstsicherheit weitaus relevanter für den Entscheidungsfindungsprozess ist. Fast gänzlich bestätigt werden konnten die, in der Literatur als signifikant angeführten, personenbezogenen Einflussfaktoren (vgl. Hachmeister et al. 2007; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Der zentrale Stellenwert der Eltern, der in den Studien besonders hervorgehoben wird, wird auch in den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit deutlich. Allerdings muss aus der Perspektive der Schüler*innen und mit Blick auf die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen die Bedeutung des Freundeskreises und der Mitschüler*innen besonders hervorgehoben werden. Denn aus Sicht der Schüler*innen nimmt die Peergruppe einen weitaus signifikanteren Einfluss auf die Bildungslaufbahnentscheidung bzw. die Konstitution bildungsentscheidungsrelevanter Repräsentationen, als bisher angenommen. Ebenso muss der These von Hachmeister et al. (2007) entschieden widersprochen werden, wonach der Einfluss der Lehrpersonen im Kontext der personenbezogenen Einflussfaktoren am geringsten zu sein scheint. Lehrpersonen fungieren für die Schüler*innen als Rollenbilder und ermöglichen ihnen durch Abgrenzung oder Identifikation das eigene Selbstbild zu stärken. Auch wenn in den Ausführungen der Schüler*innen deutlich wurde, dass dabei negative Emotionen und negativ markierte Vorstellungsbilder im Vordergrund stehen, beeinflussen Lehrpersonen die Konstitution emotionaler Markierungen und damit die Bildungslaufbahnentscheidungen der Schüler*innen. Abschließend lässt sich noch festhalten, dass alle genannten Persönlichkeitsmerkmale, die in den Studien zum Übergang von der Schule zur Hochschule als signifikant eingeschätzt wurden, in der vorliegenden Arbeit bestätigt werden konnten. Im Besonderen zeigte sich, dass die generelle Bedeutung der Selbstwirksamkeit, als das zentrale Persönlichkeitsmerkmal (vgl. Bieri Buschor et al. 2008; Pütz et al. 2011; Mauk 2016), auch aus der Perspektive der Schüler*innen eine unverzichtbare Einflussgröße im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn darstellt. Ebenso bestätigen die Ergebnisse den zentralen Stellenwert des eigenen Selbstbildes und des Selbstwertgefühls (vgl. Bieri Buschor et al. 2008; Pütz et al. 2011). Das dritte Merkmal, das als signifikant für die Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II gilt, ist Freude und Spaß am Studium sowie Freude und Spaß an der beruflichen Tätigkeit (vgl. Mauk 2016; Margraf-Stiksrud und Stemmler 2018). Auch wenn dieses Persönlichkeitsmerkmal im Hinblick auf die vorliegende Analyse wenig differenziert erscheint, lässt sich aus Sicht der Schüler*innen dennoch festhalten, dass die antizipierte Freude an der beruflichen Tätigkeit bzw. die positive emotionale Markierung des praktischen Tuns die wirkmächtigste Repräsentation im Kontext der Bildungs-
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13 Allgemeine Schlussfolgerungen entlang des Forschungsstandes
laufbahnentscheidung ist. Demgegenüber ist die Freude am Studium respektive die positive Markierung des Ausbildungs- und Studienbildes aus Sicht der Schüler*innen vernachlässigbar. Unabhängig davon ist es schwer nachzuvollziehen, warum die Freude am Studium und die Freude an der beruflichen Tätigkeit von manchen Autor*innen in einer Kategorie subsumiert werden.
Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung der Forschungsfragen
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In den allgemeinen Schlussfolgerungen wurde deutlich, welche zentrale Stellung Emotionen im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen einnehmen, selbst wenn sie, wie in vielen der rezipierten Studien, nicht expliziter Gegenstand der Analyse sind. Des Weiteren wurde deutlich, dass sich der Übergang zwischen Schule und Hochschule von den vorherigen Bildungsübergängen in mehrfacher Weise unterscheidet und dass die Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II dementsprechend anders strukturiert und kontextualisiert ist. In der Gegenüberstellung der Ergebnisse mit anderen Studien zeigte sich zudem, dass einige der zentralen Thesen der Übergangsforschung bestätigt werden konnten, wohingegen sich viele der Modellvorstellungen und Grundannahmen der Bildungsverlaufsforschung als nicht haltbar erwiesen. Auch wenn bereits deutlich wurde, dass Emotionen unverzichtbare Stellgrößen im Kontext der Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang zur Hochschule sind, gilt es dennoch abschließend zu spezifizieren welche Bedeutung Emotionen und emotionale Markierungen aus der Perspektive der Schüler*innen innerhalb der eigenen Bildungsbiografie einnehmen. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, die Subforschungsfragen sowie die primäre Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit unter Berücksichtigung der zentralen Ergebnisse aus den unterschiedlichen methodischen Zugängen zu beantworten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_14
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14 Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung ···
14.1 Über Formen, Einflussfaktoren, Qualitäten und Funktionen • Welche emotionalen Markierungen werden von den Schüler*innen im Kontext der eigenen Bildungsbiografie berichtet bzw. welche subjektiv als bedeutsam erlebten emotionalen Markierungen lassen sich im Kontext der Bildungslaufbahn der Schüler*innen identifizieren? Die zentrale emotionale Bewertung, die in weiterer Folge die Bildungslaufbahnentscheidung der Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe II bestimmt, betrifft die Vorstellung und Imagination des zukünftigen beruflichen Agierens respektive das Vorstellungsbild des professionellen Selbst. In der Reflexion der emotionalen Markierung der Vorstellung der Schüler*innen vom zukünftigen Bild des eigenen Arbeitens und praktischen Tuns vollzieht sich die Entscheidung, welcher Bildungsweg nach der Schule eingeschlagen wird. Sowohl die positive emotionale Bewertung von allgemeinen Tätigkeiten als auch die positive emotionale Bewertung des zukünftigen Berufsbildes ermöglicht es den Schüler*innen in der Antizipation unterschiedlicher Ausbildungswege einen eigenen Lebensentwurf zu skizzieren, der der Unsicherheit und Angst vor der unmittelbaren Zukunft entgegenwirkt und somit Teil des eigenen Selbstkonzepts wird. Nicht die Vorstellung und emotionale Bewertung von Ausbildungsmöglichkeiten oder Studiengängen ermöglicht die Entscheidungsfindung, sondern die positive emotionale Markierung des zukünftigen Tuns und Agierens bzw. das Berufsbild, dass das Selbst in Zukunft zu sein beansprucht und mit positiven Emotionen einhergeht, eröffnet die Möglichkeit, in der nahezu unendlichen Vielzahl an potentiellen Bildungswegen eine Entscheidung zu treffen. Dies erklärt auch die Tatsache, warum Schüler*innen prinzipiell mehrere Bildungswege in Betracht ziehen. Und natürlich verändert sich das Selbstkonzept in der Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, wie sich auch die emotionalen Markierungen im Laufe der individuellen Entwicklung verändern müssen. Dementsprechend müssen Bildungslaufbahnentscheidungen als adaptive Entscheidungsprozesse verstanden werden, die sich wiederholen, gegenseitig beeinflussen und verändern, immer mit dem Ziel, sich im Laufe des eigenen Lebens einer beruflichen Identität anzunähern. Somit lässt sich konstatieren, dass das Vorstellungsbild der zukünftigen Tätigkeiten im beruflichen Alltag respektive die Imagination des Selbst im Berufsbild der eigenen Zukunft für die Schüler*innen zu einer Leitidee in der Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn werden muss. Und auch wenn es sich dabei um stereotype Vorstellungen handeln mag, ändert
14.1 Über Formen, Einflussfaktoren, Qualitäten und Funktionen
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dies nichts an der identitätsstiftenden Notwendigkeit der Gegenüberstellung von emotionalen Markierungen unterschiedlicher Vorstellungsbilder der zukünftigen Profession und ihrer Tätigkeitsbereiche. Sind diese nämlich mit dem eigenen Selbstkonzept vereinbar und werden nicht aufgrund der Konfusionsgefahr abgelehnt, werden aus subjektiver Perspektive die richtigen Entscheidungsprozesse in Gang gesetzt. Hier soll nicht der Eindruck entstehen, dass die emotionale Bewertung des Gegenstandes und Interessengebiets, wie in der Literatur hervorgehoben, keine Bedeutung für die Entscheidungsfindung hat. Neben der emotionalen Markierung von Tätigkeiten und Berufsbildern sind die Gegenstandsbereiche ebenso bedeutsame bildungsentscheidungsrelevante Repräsentationen, insbesondere da sie, wie bereits mehrmals erwähnt, ausschließlich positiv konnotiert wahrgenommen werden und als Ausdruck von Subjektivität der eigenen Lebenskonzeption eine identitätsstiftende Funktion einnehmen. Dennoch soll hier klar zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II – den Ergebnissen der vorliegenden Studie zufolge – vorrangig von der emotionalen Bewertung der zukünftigen Tätigkeitsbereiche, Berufsbilder und des professionellen Selbstverständnisses abhängt. • Was sind die entscheidenden Einflussfaktoren für die Entstehung emotionaler Markierungen im Bildungskontext? Die zwei zentralen Einflussfaktoren in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen und konstitutiv für die Entstehung emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn sind zum einen das Erleben von Selbstwirksamkeit und zum anderen die Auseinandersetzung mit der Peergruppe und dem Freundeskreis. Die ausnahmslos positive Konnotation, das multidimensionale Aktivierungspotential und die Gegenstandsunabhängigkeit des Erlebens von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit verdeutlichen die zentrale Bedeutung dieses Einflussfaktors sowohl für die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung und die Gestaltung des zukünftigen Bildungsverlaufs als auch für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen und Krisen in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die positive Erfahrung, sich selbst im eigenen Handeln und Verhalten als kompetent und wertvoll zu erleben, wirkt sich, unabhängig der tatsächlich erbrachten Leistung, global auf andere Gegenstandsbereiche und somit auch auf das eigene Selbstkonzept aus. Berücksichtigt man, dass das Kompetenzerleben die Selbstregulation und die damit verbundenen Lernstrategien verbessert, die allgemeine Motivation und positive Einstellung gegenüber Bildung im weitesten Sinne
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14 Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung ···
steigert, zudem die eigene Selbstsicherheit erhöht und damit den Übergang ins junge Erwachsenenalter erleichtert, muss davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um den wirkmächtigsten Einflussfaktor in der Bildungsbiografie der Schüler*innen handelt. Neben dem Erleben von Handlungsfähigkeit ist der, in der Literatur bei weitem unterschätzte und kaum berücksichtigte, Einfluss von Peer und Freundeskreis von zentraler Bedeutung für die Konstitution emotionaler Markierungen und die sich daran anschließende Bildungslaufbahnentscheidung. Die Gleichaltrigengruppe und die mentalen Repräsentationen der Vorstellungen und Konzepte von Personen gleichen Alters und Status haben immer eine unterstützende Funktion in der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie, unabhängig davon, ob die Erfahrungen als positiv oder negativ erlebt wurden. Im Austausch mit Mitschüler*innen und Freunden eröffnet sich die Möglichkeit, das eigene Selbstbild kritisch in den Blick zu nehmen, über die eigenen Stärken und Schwächen bewusst nachzudenken und somit die bildungsentscheidungsrelevanten emotionalen Bewertungen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren respektive neu zu bewerten. Auch wenn sich diese Auseinandersetzung auf einer inzidentellen und latenten Ebene alltäglicher, sozialer Interaktionen vollzieht und dies auch ein möglicher Grund dafür ist, dass der Gleichaltrigengruppe bisher wenig Aufmerksamkeit in der Übergangsforschung zuteil wurde, ist der Einfluss der Peer als Spiegel seiner selbst unverzichtbar und somit wesentlich für die Entstehung emotionaler Markierungen im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn. Auch hier soll nicht das falsche Bild entstehen, dass der Einfluss der Eltern keine Bedeutung für die Schüler*innen und ihre Bildungslaufbahnentscheidungen hat. Allerdings führt das identitätsstiftende Bedürfnis, sich gegenüber den Eltern abzugrenzen und einen eigenen Lebensentwurf zu skizzieren, zu einem negativ verstärkenden Effekt auf die Bildungslaufbahnentscheidung der Schüler*innen. Ähnliches gilt für den zentralen Einfluss der Lehrpersonen. Sowohl Eltern als auch Lehrpersonen beeinflussen die Schüler*innen und ihre emotionalen Markierungen zentral, dennoch muss – unter Berücksichtigung der zentralen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung – dem Erleben von Selbstwirksamkeit und der Peergruppe eine größere Bedeutung in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen beigemessen werden. • Welche Emotionen und emotionalen Qualitäten sind für die Bewertung der eigenen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext bzw. für die Entstehung emotionaler Markierungen aus subjektiver Perspektive von Bedeutung?
14.1 Über Formen, Einflussfaktoren, Qualitäten und Funktionen
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Im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn ist, wie sich in der vorliegenden Studie zeigen ließ, keine andere Emotion in Häufigkeit und Intensität so bedeutsam wie Stolz. Die meisten bildungsentscheidungsrelevanten Repräsentationen gehen direkt oder indirekt mit dem Erleben von Stolz einher. Dabei wird Stolz sowohl im Hinblick auf die bisher erbrachten Leistungen als auch in der Vorstellung des zukünftigen und professionellen Selbst als zentrale emotionale Qualität erlebt. Die prospektive Wirkung von Stolz im Kontext motivationaler Aspekte des Lernens und im Hinblick auf identitätsstiftende Momente der Persönlichkeitsbildung verdeutlichen den Stellenwert dieser Emotion ebenso, wie die positive Konnotation dieser Emotion in der Wahrnehmung der Schüler*innen. Darüber hinaus steht Stolz in einem interdependenten Verhältnis zum Kompetenzerleben und ist eine Voraussetzung für die eigene Selbstsicherheit. Auch wenn die Übergangsforschung dem Erleben von Stolz bislang kaum Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ, muss spätestens an dieser Stelle die Bedeutung des Erlebens von Stolz und des Selbstwertgefühls im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen und der zukünftigen Lebensplanung besonders hervorgehoben werden. Ebenso von zentraler Bedeutung für die eigene Bildungsbiografie und die generelle Einstellung gegenüber Bildung ist die Emotion Freude bzw. das Erleben von Freude, Spaß und Begeisterung. Besonders das Aktivierungspotential von Freude im Austausch und der Kommunikation mit anderen sowie im Hinblick auf die eigene Motivation und Leistungsbereitschaft unterstreicht den, auch in der Literatur immer wieder implizit thematisierten, zentralen Stellenwert von Freude in der Lebens- und Lerngeschichte von Schüler*innen im Allgemeinen sowie für das Treffen von Bildungsentscheidungen am Übergang im Speziellen. Darüber hinaus ist Freude der zentrale Indikator für Wohlbefinden in Schule und Unterricht, im Besonderen wenn Schule nicht per se positiv konnotiert wahrgenommen wird. Neben der kausalen Beziehung von Freude und der Peergruppe, die wie bereits weiter oben ausgeführt einen signifikanten Einfluss auf die eigene Bildungslaufbahn nimmt, verweist besonders die häufige Markierung allgemeiner Tätigkeiten mit Freude auf die zentrale Bedeutung des Erlebens dieser emotionalen Qualität für die Anbahnung zukünftiger Bildungslaufbahnentscheidungen. Auch wenn Angst selbstreflexive Prozesse anstößt, muss dieser Emotion zusammenfassend eine negative und hemmende Wirkung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiografie zugesprochen werden. Angst verringert die eigene Selbstsicherheit und führt im schlimmsten Fall zu Rückzug und Vermeidungsverhalten. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Angst in der
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14 Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung ···
Lebenswirklichkeit der Schüler*innen eine tragende Rolle spielt und das Nachdenken über die Gestaltung der eigenen Zukunft zentral beeinflusst. Die vierte, zentrale emotionale Qualität, die im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn von besonderem Interesse ist und bislang innerhalb diesbezüglicher Forschungsbemühungen nicht thematisiert wurde, ist Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen. Geborgenheit ist eine Voraussetzung von Explorationsverhalten, erhöht die eigene Selbstsicherheit und ermöglicht dadurch, im Vergleich zum Erleben von Angst, die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst, die Kommunikation dieser Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und steigert somit ebenso das eigene Wohlbefinden. Wichtig ist es nochmals darauf hinzuweisen, dass Geborgenheit sich in erster Linie durch Kontinuität auszeichnet und nicht mit Zuneigung, Wertschätzung oder Dankbarkeit verwechselt werden darf. Mit Blick auf die ungewisse Zukunft, die zu bewältigenden Aufgaben und bevorstehenden Herausforderungen in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen muss Geborgenheit, neben Stolz und Freude, als eine der zentralen emotionalen Qualitäten in der Lebens- und Lerngeschichte von Schüler*innen verstanden werden. • Welche Funktionen haben emotionale Markierungen für und innerhalb der eigenen Bildungsbiografie respektive welche Effekte und Folgen zeitigen die emotionalen Markierungen im Leben der Schüler*innen und wie beeinflussen sie ihre Bildungsbiografie? Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung liegt der Schluss nahe, dass die wohl wichtigste Funktion emotionaler Markierungen und konstitutiv für das Treffen von Bildungslaufbahnentscheidungen die erhöhte Selbstsicherheit ist. Diese grundlegende Zuversicht gegenüber sich selbst und der eigenen Zukunft geht immer mit positiven Emotionen, im Besonderen mit Freude, Stolz, Mut, Geborgenheit und Dankbarkeit einher und ermöglicht die Berücksichtigung eigener Bedürfnisse und Wünsche in der Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Zukunft. Neben der sozialen Eingebundenheit und dem Austausch mit Gleichaltrigen ist dabei besonders das Erleben von Handlungsfähigkeit ein zentrales Moment für die gesteigerte Selbstsicherheit und das damit einhergehende, positive Selbstbild. Die wechselseitige Abhängigkeit der gesteigerten Selbstsicherheit und der positiven Markierung allgemeiner Tätigkeiten, die wiederum Voraussetzung für das Treffen von Bildungslaufbahnentscheidungen ist, verdeutlicht den zentralen Stellenwert dieser Funktion in der Lebens- und Lerngeschichte der Schüler*innen. Ebenso von Relevanz als zentrale Funktionen emotionaler Markierungen innerhalb der eigenen Bildungsbiografie sind das gesteigerte Problembewusst-
14.2 Emotionale Markierungen am Übergang – ein Fazit
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sein und die allgemeine Motivations- und Anstrengungsbereitschaft. Diese, in der Literatur wenig berücksichtigten, Effekte emotionaler Bewertungen stehen nicht nur gleichberechtigt nebeneinander, sondern ergänzen sich in ihrer Wirkung gegenseitig. Das Problembewusstsein, das besonders durch die Reflexion negativer Erfahrungen erhöht wird, ermöglicht die Entwicklung neuer Perspektiven und Ideen im Sinne kreativer und selbstreflexiver Prozesse und somit eine realistische Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen sowie eine selbstkritische Haltung gegenüber der eigenen Bildungslaufbahn. Im Gegensatz dazu führt die allgemeine Motivation und Anstrengungsbereitschaft, die in erster Linie durch Anerkennungsprozesse und die sie begleitenden, positiven emotionalen Qualitäten hervorgerufen wird und sich nicht auf einen spezifischen Gegenstand richtet, zu einem generellen Antrieb und Ehrgeiz der Schüler*innen, sich im Kontext der eigenen Bildungslaufbahn anzustrengen und seine Ziele erreichen zu wollen. In weiterer Folge lässt sich ein interdependentes Verhältnis zwischen dem Problembewusstsein und der positiven Markierung von Berufsbildern sowie zwischen der Allgemeinen Motivation und der positiven Markierung von Gegenstand und Interessengebiet konstatieren. Die vierte Funktion emotionaler Markierungen, die für die Bildungslaufbahn der Schüler*innen und die bevorstehende Bildungslaufbahnentscheidung durchaus von Relevanz ist, betrifft die Moralentwicklung bzw. die Veränderung von Normen, Werten und Konventionen. Die Moralentwicklung, die besonders durch die Auseinandersetzung mit und die Abgrenzung von den Eltern sowie durch negative schulische und außerschulische Schlüsselerlebnisse angestoßen wird, ermöglicht es den Schüler*innen Prioritäten neu zu ordnen und Wichtigkeitsbesetzungen im Hinblick auf den bevorstehenden Bildungsübergang entsprechend zu adaptieren. Im interdependenten Verhältnis zu der positiven und negativen Markierung von Berufsbildern stehend, unterstützt sie den Prozess der Bildungslaufbahnentscheidung.
14.2 Emotionale Markierungen am Übergang – ein Fazit Nachdem die Subforschungsfragen entlang der zentralen Ergebnisse problematisiert wurden, soll abschließend die zentrale Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit im Sinne eines persönlichen Resümees und unter Berücksichtigung einer integrativ holistischen Perspektive beantworten werden:
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• Welche Bedeutung haben emotionale Markierungen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen aus der Sicht von Schüler*innen am Übergang von der Sekundarstufe II in die tertiäre Bildung und welche Einflussfaktoren und Vorstellungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte konstituieren diese emotionalen Markierungen? Emotionen und emotionale Markierungen ermöglichen sowohl die Bewältigung des Übergangs zwischen Schule und Hochschule als auch die Bewältigung des Übergangs ins junge Erwachsenenalter, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. In einer Zeit, die als Umbruch und Krise erlebt wird, die mit umfassenden körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen einher geht und die von Unsicherheiten begleitet wird, geben emotionale Markierungen als Voraussetzung jeder Bedeutungs- und Sinnzuschreibung Sicherheit und Struktur. Mehr noch, als bewusste und nicht-bewusste emotionale Bewertungen von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte, ermöglichen sie die sukzessive Entwicklung eines vorläufigen Selbstkonzepts, einer fragmentarischen Identität, die signalisiert, wer wir in Zukunft zu sein beanspruchen: Eigenverantwortliche Bildungsentscheidungen am Übergang ins junge Erwachsenenalter werden nicht gezielt getroffen und unterliegen weder einer kausalen Logik noch extrinsischen, ökonomischen oder utilitaristischen Zwängen, sondern müssen als idiosynkratische Suchbewegungen verstanden werden. Im Hin und Her bzw. in der Antizipation und Reflexion bildungsentscheidungsrelevanter Repräsentationen, bedürfnisorientierter Vorstellungsbilder und persönlicher Ambitionen, die den emotionalen Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte geschuldet sind, konstituiert sich ein vorläufiges Idealbild der beruflichen Tätigkeitsfelder und des professionellen Selbstverständnisses. Ist das Bild respektive die emotionale Markierung des Vorstellungsbildes nicht stimmig bzw. mit dem eigenen Selbstkonzept unvereinbar, wird es zugunsten der noch fragmentarischen Identität verworfen. Vorläufig ist das Bild aber deshalb, da auch ein stimmiges Berufsbild, Tätigkeitsfeld oder professionelles Selbstverständnis die Suchbewegung nicht abreißen lässt, da jede Selektion, Präferenz oder Auswahl wiederum Einfluss auf die Bewertung nimmt und so ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen den Urteilen bzw. der Vorauswahl von Entscheidungsmöglichkeiten und den emotionalen Markierungen im Bildungsverlauf entsteht. Der präflexive Charakter emotionaler Markierungen ermöglicht es also, sie in der Suchbewegung zum Gegenstand des bewussten Nachdenkens eigenen und fremden Verhaltens sowie zum Gegenstand der
14.2 Emotionale Markierungen am Übergang – ein Fazit
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Reflexion von Sinnzuschreibungen und Wirklichkeitsbezügen zu machen, wodurch sie selbst fortlaufenden Adaptionsprozessen unterworfen sind. Den stärksten Einfluss auf diese Suchbewegung und die sie anleitenden und navigierenden emotionalen Markierungen haben Erfahrungen, in denen sich die Schüler*innen als kompetent und wertvoll erleben dürfen. Ebenso ist die Auseinandersetzung mit den mentalen Repräsentationen von vertrauten Personen konstitutiv für die Entstehung bildungsentscheidungsrelevanter, emotionaler Bewertungen, im Besonderen wenn es sich um Personen gleichen Alters und Status handelt. In dieser generellen Bedeutung der sozialen Interaktion und Eingebundenheit für die Entstehung emotionaler Markierungen wird ihre Kommunikationsfunktion im Kontext von Bildungslaufbahnentscheidungen deutlich. Im Zusammenspiel von körperlichen Prozessen, sozialen Interaktionen und kognitiven Bewertungen nehmen positive Emotionen in der Gestaltung der eigenen Bildungsbiographie und der Bewältigung des Übergangs und damit einhergehender Bildungslaufbahnentscheidungen eine besondere Bedeutung ein. Während schulische Anforderungen und Pflichten, aufgrund des Gefühls permanenter Überforderung, von Stress, Angst, Frustration und im schlimmsten Fall von Hilflosigkeit und Verzweiflung begleitet werden, ermöglichen positive Emotionen eine prospektive Einstellung gegenüber bevorstehenden Herausforderungen und der unsicheren und zum Teil unvorhersehbaren Zukunft. Im Besonderen das Erleben von Stolz, Freude und Geborgenheit steigert das eigene Wohlbefinden und somit die Lebenszufriedenheit und ermöglicht im Treffen adaptiver Bildungslaufbahnentscheidungen die Berücksichtigung eigener Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass emotionale Markierungen eine Voraussetzung von Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang zwischen Schule und Hochschule sind, (1) weil sie die, für die eigene Identitätsfindung notwendige, kontinuierliche Suchbewegung steuern und regulieren, (2) weil sie als Persönlichkeitsvariablen konstitutiv für das eigene Selbstbild sind, (3) weil sie in einer emotional tiefgreifenden Entwicklungsphase die eigene Selbstsicherheit, Leistungsbereitschaft, Moralentwicklung und Problemlösekompetenz verbessern, (4) weil sie in einer Zeit, in der sich vertraute Strukturen und Routinen auflösen signalisieren, was aus subjektive Perspektive wichtig und von Bedeutung ist, (5) weil sie immer, unabhängig der Zuschreibung von Realität oder Imagination, als subjektive Erlebnisqualitäten einen intentionalen Gehalt für das Individuum aufweisen, (6) weil sie aufgrund der emotionalen Bewertung vorhergehender Beziehungserfahrungen und Schlüsselerlebnisse zukünftige Ereignisse und Situationen evaluieren und antizipieren, und weil sie gerade dadurch
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14 Emotionen im Bildungsverlauf – Zur Beantwortung ···
(7) das mentale Grundgerüst für die Transfer- und Vermittlungsleistungen in der Bewältigung unbekannter Situationen und Herausforderungen bereitstellen: Versteht man Bildungslaufbahnentscheidungen als kontinuierliche Suchbewegungen, so liegt der Schluss nahe, dass sich der Prozess der Entscheidungsfindung selbst als Bildungsprozess konstituiert.
Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung
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Am Ende der vorliegenden Arbeit sollen ausgewählte Implikationen für die bildungswissenschaftliche Theorieentwicklung und die pädagogische Praxisgestaltung entlang der zentralen Ergebnisse vorgestellt sowie zukünftige Forschungsperspektiven skizziert werden. Wie jede wissenschaftliche Studie, weist aber auch die vorliegende Arbeit Limitationen auf. Daher soll zuvor im Sinne einer selbstkritischen Bezugnahme auch darauf hingewiesen werden, was diese Arbeit nicht leisten kann und wo ihre methodischen und epistemologischen Grenzen liegen: • Aufgrund des explorativen Anspruchs im Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit und der Tatsache, dass es bisher zur Frage nach dem Stellenwert von Emotionen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen am Übergang zwischen Schule und Hochschule keine verlässliche, empirische Befundlage gibt, lassen sich die Ergebnisse, wie in der Diskussion deutlich wurde, nur bedingt dem aktuellen Forschungsstand gegenüberstellen. Besonders zu den Fragen nach den zentralen emotionalen Qualitäten und den Funktionen emotionaler Markierungen im Kontext von Bildungsverläufen und Bildungslaufbahnentscheidungen können keine vergleichbaren Vorarbeiten herangezogen werden. • Im Kontext der Datenerhebung muss auf die spezifische, inhaltliche Gestaltung der Workshops hingewiesen werden. Auch wenn sie dem Erkenntnisziel der Forschung und den Gegebenheiten und Eigenschaften des zu untersuchenden Samplings gerecht werden, handelt es sich nicht um standardisierte Erhebungsmethoden und dementsprechend lässt sich die Gültigkeit und Reichweite der einzelnen Übungen nicht objektiv bestimmen. Die ausführliche Beschreibung des methodischen Vorgehens kann diesem Problem nur bedingt entgegenwirken. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Huber, Emotionen im Bildungsverlauf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28830-3_15
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15 Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung
• Im Rahmen der Datenauswertung lassen sich Videodaten als audio-visuelle Daten in der Interpretation aufgrund ihrer Dichte und Permanenz nicht im gleichen Maße abbilden, wie verbale bzw. textuelle Daten. Dies betrifft nicht nur das Video per se, sondern überdies die Strukturierungsdimensionen und Ebene der Analyse, den elektronischen Kodierleitfaden und die videobasierten Ankerbeispiele aus der ISQIA, die Abbildung der V-A-Werte, die Wellendiagramme der Tonspuren, die Charakteristik der einzelnen Clips oder aber die Beschreibung des zu beobachtenden Verhaltens und der nonverbalen Kommunikation, die nur gemeinsam und anhand der Analysesoftware direkt zugänglich sind. Da sich Sinnstrukturen auf der Ebene audio-visueller Daten vom sprachlich konstruierten Sinn unterscheiden und der Transfer nur bedingt möglich ist, bleibt hier eine Leerstelle, die in einer schriftlichen Auseinandersetzung nicht vollständig geschlossen werden kann. • Rating- und Beobachtungsverfahren bleiben trotz hoher Beobachter*innenübereinstimmung und des Vorteils der wiederholbaren Betrachtung durch die Videodokumentation immer subjektiv. Die Messwerte hängen nicht nur vom Objekt, sondern ebenso vom Rating selbst und der Beschaffenheit des Instruments ab. Auch wenn im Rahmen der standardisierten Videoanalyse die Ratings im Team durchgeführt und die Teams im Detail eingeschult wurden, genaue Regeln und Definitionen in Form eines Ratingmanuals bestimmt wurden, mehrere Trainings durchgeführt wurden und am Ende ein konsensuelles Vorgehen für die Bestimmung der V-A-Werte gewählt wurde, handelt es sich dennoch um ein wertendes und somit subjektives Verfahren. Für zukünftige Studien wäre zu überlegen, ob sich hier nicht ebenso ein partizipativer Zungang bzw. eine stärkere Einbeziehung der Forschungspartner*innen in den Ratingprozess anbieten würde. • Eine weitere Einschränkung betrifft die Spezifität der untersuchten Zielgruppe. Da es sich bei den Forschungspartner*innen um Schüler*innen von Allgemeinbildenden Höheren Schulen aus Österreich handelt, sind die Ergebnisse und Schlussfolgerungen zur Wahl des Hochschulorts und zur Hochschulwahl selbst nur bedingt auf andere Länder übertragbar. Dies liegt besonders an den unterschiedlichen, nationalen Zulassungsbestimmungen für Hochschulen. Demgegenüber ermöglicht die Spezifität der Gymnasien, als nicht berufsorientierte Schulen mit modularer Oberstufe, sehr wohl die internationale Vergleichbarkeit im Hinblick auf die Studienfachwahl, die sie begleitenden Motivlagen sowie im Allgemeinen im Hinblick auf die Bildungslaufbahnentscheidung am Übergang. Die Übertragbarkeit der zentralen Ergebnisse zur Bedeutung von Emotionen wird durch die Zielgruppe ebenso in keiner Wiese beeinflusst.
15.1 Implikationen für die Theoriebildung
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• Abschließend muss, wie bereits in der Anmerkung zur Frage nach der Repräsentativität des Stichprobendesigns (siehe hierzu Abschn. 6.4) erläutert, die Größe des Samplings als eine weitere Limitation der Untersuchung angeführt werden. Auch wenn theoretisch relevante Verzerrungen durch die Multilevel Samplingstrategie und die Pilotierung des Projekts weitgehend ausgeschlossen werden konnten, sind zwölf Fälle nicht für alle Schüler*innen am Übergang in den tertiären Bildungsbereich repräsentativ. Der partizipative Forschungsansatz, das triangulative Forschungsdesign und die Heterogenität der Stichprobe wirken diesem Problem nur bedingt entgegen.
15.1 Implikationen für die Theoriebildung Im Folgenden werden ausgewählte theoretische Implikationen im Kontext der zentralen Ergebnisse der empirischen Analyse vorgestellt. Auch wenn sich durchaus weitere Überlegungen für die pädagogische Theoriebildung abstrahieren ließen, soll die reduzierte Auswahl auf die Notwendigkeit der zukünftigen Berücksichtigung der vorgestellten Implikationen verweisen: 1. Die Auslese- und Selektionsfunktion der Bildungsübergänge und die bewusste, negativ konnotierte Wahrnehmung derselben durch die Schüler*innen im Rahmen der eigenen Schullaufbahn, gehen mit einer frühen Internalisierung der Leistungsorientierung des Bildungssystems einher. Diese Auslesefunktion ist also nicht nur im Hinblick auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem von zentraler Bedeutung: Der, in dieser Arbeit postulierte, indirekte Beitrag zur sukzessiven Abnahme der Lernfreude und des Wohlbefindens durch diese Internalisierung, verweist einerseits auf die Notwendigkeit eines bildungspolitischen Umdenkens in der Strukturierung des Pflichtschulwesens sowie andererseits auf die Notwendigkeit der Erarbeitung von Konzepten zur Reduktion einer frühen, an Leistung orientierten, Selektion. Aus emotionstheoretischer Perspektive erscheint beides unumgänglich. 2. Bildungsentscheidungen am Übergang ins junge Erwachsenenalter müssen als eigenverantwortliche, selbstbestimmte, adaptive und persönliche Entscheidungen verstanden werden, die in erster Linie von den emotionalen Bewertungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte abhängen. Dementsprechend müssen die Modellvorstellungen der Übergangsforschung und Bildungslaufbahnentscheidung, denen eine klassische Entscheidungstheorie respektive die Grundidee der Rational-Choice-Theories zugrunde liegt,
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15 Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung
insofern überarbeitet und ergänzt werden, als dass an die Stelle der utilitaristischen Prinzipien und ökonomischen Zwänge sowie der extrinsischen Motive und Investitionskosten emotionale Prozesse treten. Dies betrifft im Besonderen die jeweiligen Modellierungen und theoretischen Konzeptionen. Aktuelle Studien, wie die vorliegende, verdeutlichen, dass Bildungslaufbahnentscheidungen intrinsisch motiviert getroffen werden und dass die zentralen Motive von Bildungsentscheidungen weitgehend unabhängig von externalen Faktoren sind. 3. Die wichtigste theoretische Implikation steht in einem interdependenten Verhältnis mit dem soeben skizzierten Problem der Idee einer rationalen Entscheidungsfindung und betrifft das sogenannte Informationsparadoxon: Bisherige bildungspolitische Maßnahmen und pädagogische Unterstützungsangebote, wie bspw. Wissenschaftspropädeutika, Vorbereitungskurse, Berufsorientierungsprogramme, Schnuppertage an Fachhochschulen und Universitäten oder Informationsveranstaltungen an und außerhalb von Schulen, gehen nach wie vor davon aus, dass sich das Problem der Entscheidungsfindung durch zusätzliche Information und diesbezügliche Vermittlungsbemühungen lösen lässt. Diese Annahme kann allerdings angesichts der zentralen Bedeutung von Emotionen und emotionalen Markierungen für Bildungslaufbahnentscheidungen, angesichts des Einflusses von personenbezogenen und selbstreferentiellen Einflussfaktoren und angesichts des Stellenwerts der Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität für die subjektive Gestaltung der eigenen Bildungsbiografie nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Orientierungslosigkeit vieler Maturant*innen in der Übergangsperiode, die steigende Zahl von Studienabbrüchen und -wechsel, die hohen Ausfallquoten am Beginn vieler Studienfächer, die kurzfristige Durchschnittsdauer des ersten Arbeitsplatzes nach der Sekundarstufe II sowie das generelle Unwohlsein junger Erwachsener in der Gestaltung ihres zukünftigen Lebens; all diese Problemlagen werden sich auch zukünftig nicht durch Information und die Vermittlung von Wissensbeständen lösen lassen, auch wenn die Verwertungslogik der aktuellen Bildungspolitik und die sie begleitende, wirtschaftliche Orientierung an ökonomischen Prinzipien dies suggerieren mag. 4. Abschließend sei noch eine weitere Schlussfolgerung genannt, die sich im Zwischen von Theorie und Praxis positioniert und eine Überleitung zu den nachfolgenden Praxisimplikationen ermöglicht: In der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen besteht eine signifikante Differenz zwischen Schule und Bildung. Schule ist Teil des Alltags und ein Mittel zum Zweck. Bildung bzw. die Bildungslaufbahnentscheidung repräsentiert hingegen etwas völlig
15.2 Implikationen für die Praxisgestaltung
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Anderes: sie ist privat, sie ist subjektiv bedeutsam, sie ist ambivalent besetzt, sie ist ernst und es gibt weder den Raum noch die Zeit in Schule oder Privatleben adäquat darüber nachzudenken und sich auszutauschen. Besonders im Kontext von Schulentwicklung und Curriculumsplanung aber auch hinsichtlich der bewussten Gestaltung von Bildungsübergängen ist dies eine entscheidende, weil notwendige Differenzierung.
15.2 Implikationen für die Praxisgestaltung Auch wenn die Ableitung von Handlungsempfehlungen aus grundlagenorientierten Forschungsbemühungen wissenschaftstheoretisch problematisch erscheint, insbesondere wenn diese nicht durch entsprechende Interventionsstudien abgesichert sind, und die normativen Setzungen als naturalistische Fehlschlüsse interpretiert werden könnten, lässt sich im Hinblick auf die pädagogische Praxis und im Sinne der am Projekt beteiligten Schüler*innen zumindest das Folgende unter Vorbehalt konstatieren: 1. In Schule und Unterricht müssen den Schüler*innen vielfältige Möglichkeiten für das Erleben von Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit bereitgestellt werden. Dabei geht es nicht um die performative Inszenierung von Erfolgserlebnissen durch Lehrpersonen, sondern lediglich um die Möglichkeit den Schüler*innen Erfahrungsräume anzubieten, in denen sie sich als wertvoll, wirkmächtig und kompetent erleben dürfen. Dies könnte bspw. in Form von fächerübergreifenden Projekten mit Eigenverantwortung oder in kreativen, außerschulischen Aktivitäten gezielt gefördert werden. Dennoch sollten den Schüler*innen diese Erfahrungsräume in allen Schulfächern und im Besonderen in den Hauptfächern kontinuierlich und intentional zur Verfügung gestellt werden. 2. Lehrpersonen müssen bewusst den Austausch zwischen Gleichaltrigen und den Peers über die eigene Bildungslaufbahn, die zukünftige Bildungslaufbahnentscheidung, die eigene Lebensplanung und diesbezügliche Wünsche, Hoffnungen und vor allem Ängste fördern. Dabei ist es entscheidend, dies außerhalb des Leistungskontexts von Schule und in einem geschützten und vertraulichen Bezugsrahmen zu tun. 3. Schulleiter und Lehrpersonen müssen, sofern dies in ihren Möglichkeiten liegt, in Schule und Unterricht darum bemüht sein, ein Gefühl der Geborgenheit, Sicherheit und des Vertrauens herzustellen. Dies gelingt einerseits durch die gezielte Förderung der sozialen Eingebundenheit und Zugehörigkeit
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15 Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung
der Schüler*innen sowie andererseits durch das Sicherstellen von Kontinuität (Regelmäßigkeit) und Struktur (Grenzen) im Unterricht. Man könnte aus emotionstheoretischer Perspektive selbstironisch behaupten, Schule braucht soziale Autorität. 4. Für jegliche pädagogische Bezugnahme, aber ganz besonders für Lehrpersonen und Eltern gilt, durch das explizite Ansprechen von Emotionen (Kommunikation von und durch Emotion) zu versuchen den Stress und die Angst der Schüler*innen möglichst zu reduzieren, um so gleichzeitig die Förderung von Lernfreude und Wohlbefinden zu ermöglichen. Dies ist nicht nur für die Schüler*innen von zentraler Bedeutung; auch Lehrpersonen und Eltern (bzw. Erziehungsberechtigte) sind fortlaufend mit ihrem emotionalen Erleben in ihrer pädagogischen Verantwortung konfrontiert. Die Kommunikation der eigenen Emotionen ist nicht nur eine Katharsis und verbessert die pädagogische Beziehung, sondern führt möglicherweise dazu, den negativ verstärkenden Effekt, den Eltern und Lehrpersonen im Kontext der eigenen Lebensplanung oftmals evozieren und der durch die entwicklungsbedingte Ablehnung autoritärer Vorstellungen und Strukturen hervorgerufen wird, zumindest ein Stück weit zu reduzieren. 5. Zu guter Letzt sollte die Schule und das Leben im Allgemeinen mehr Raum und Zeit für das Nachdenken über Bildung im weitesten Sinne, über die eigene Lebenswirklichkeit, über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu Verfügung stellen. D. h. es geht nicht um das Nachdenken über Schule, Leistung, Anforderung oder Beurteilung und auch nicht um die Frage nach dem Studienfach, der Studiendauer, den Zulassungsverfahren oder den Berufsaussichten, sondern um die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- und Lerngeschichte. Denn: Versteht man Bildungslaufbahnentscheidungen als kontinuierliche Suchbewegungen, so liegt der Schluss nahe, dass sich der Prozess der Entscheidungsfindung selbst als Bildungsprozess konstituiert.
15.3 Zukünftige Forschungsperspektiven Im Sinne eines Ausblicks sollen abschließend mögliche Forschungsperspektiven skizziert werden, die sich im Zuge dieser Arbeit respektive in der interpretativen Auseinandersetzung mit den empirischen Ergebnissen sukzessive entwickelt haben und als Impulse für zukünftige, bildungswissenschaftlich orientierte Forschungsbemühungen dienen sollen. Die folgende Aufzählung versteht sich dabei als reduzierte Auswahl zu klärender Fragen im Anschluss an das zentrale Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit:
15.3 Zukünftige Forschungsperspektiven
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• Nicht eindeutig geklärt werden konnten der Einfluss und die Bedeutung des Erlebens von Scham in der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen. Hier braucht es weniger theoretische Analysen als vielmehr empirische Einsätze, die sich der Aktivierungsdimension dieser Emotion im Kontext von Bildungsverläufen widmen und dabei differenzierte Erhebungsmethoden einsetzen, die die Explorationsbereitschaft gegenüber dieser als bedrohlich erlebten Emotion erhöhen. • Pädagogisch und entwicklungstheoretisch äußerst relevant scheint das, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren, für Schüler*innen immer attraktiver werdende Zwischenjahr zu sein. Dabei ist allerdings weder geklärt, welche spezifische Funktion und Bedeutung dieses gap year für die Schüler*innen einnimmt, noch wie sich hierbei die pädagogische Bezugnahme und Begleitung bestmöglich gestalten ließe. Insgesamt ist das pädagogische Potential des Zwischenjahres und dessen bildungsbiografischer Stellenwert empirisch wenig erforscht. • Im Kontext der extrinsischen Motive für Bildungslaufbahnentscheidungen muss zukünftig der Bedeutung des Verlangens nach sozialer Wertschätzung und Anerkennung für die Studienwahl mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Einerseits sollten diese Dimensionen in Studiendesigns stärker berücksichtigt werden, im Besonderen im Kontext standardisierter Umfragen zur Studienfachwahl an Hochschulen, und andererseits gilt es die positive Konnotation dieser Dimension, die Interdependenz mit der Emotion Stolz und die damit einhergehende Motivationsbereitschaft empirisch genauer in den Blick zu nehmen. • Insgesamt ermöglichen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit eine Reihe von hypothesenprüfenden Folgeuntersuchungen mit größeren Stichprobendesigns. Von besonderem Interesse wäre dabei die Berücksichtigung unterschiedlicher Schultypen in unterschiedlichen Ländern und/oder Kulturen, mit dem Ziel der Reproduktion und Differenzierung der zentralen Kategorien, wie bspw. Berufsbild und Tätigkeit, Selbstwirksamkeit und Peer, Stolz und Geborgenheit oder Selbstsicherheit und allgemeine Motivation etc. • Auch explorative, qualitativ orientierte Zugänge wären für weiterführende Studien bzw. Folgeuntersuchungen sinnvoll und notwendig. Dabei lassen sich zumindest drei, noch zu klärende Fragehorizonte identifizieren: die Hintergründe und die Bedeutung der starken Fokussierung auf das professionelle Selbstverständnis der Schüler*innen; die Peer als Bildungsmoment und das pädagogische Potential (des Konzepts) von Freundschaft; sowie die gezielte Erforschung der emotionstheoretisch signifikanten Differenz zwischen allgemeiner Motivation und spezifischer Leistungsbereitschaft und deren unterschiedliche Wirkungsweisen im Bildungsverlauf.
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15 Implikationen für Theorie, Praxis und Forschung
• Aus methodologischer Perspektive sollte zukünftig die, in dieser Arbeit erstmals erprobte und erfolgreich durchgeführte, partizipative Kategorienbildung nicht nur in das Methodenrepertoire der qualitativen Sozialforschung aufgenommen werden, sondern überdies durch Folgestudien einer regelgeleiteten und methodenunabhängigen Systematik zugeführt werden, um sie in zukünftigen, partizipativ orientierten Forschungsprojekten ebenso gewinnbringend nutzen zu können. • Des Weiteren sollte die bildungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Emotionen zukünftig stärker auf den Einsatz der Videobeobachtung und Videoanalyse zurückgreifen. Auch wenn sich in den letzten Jahren hierzu vermehrt methodologische Empfehlungen in der Fachliteratur finden, scheint der Einsatz der Videographie nach wie vor auf Teilbereiche der Schulforschung beschränkt zu sein und in der Erforschung von Emotionen in pädagogischen Kontexten nur vereinzelt Anwendung zu finden. Besonders zielführend wären dabei, wie bereits mehrmals angemerkt, triangulative und multi-methodische Zugänge. • Auch wenn die inhaltliche Gestaltung der Workshops in EMOTISION komplex erscheinen mag und die Umsetzung ein gewisses Maß an Vorkenntnissen voraussetzt, wären zukünftige Interventionsstudien hilfreich, die die Implementierung eines reflexiven und sensibilisierenden Zugangs für alle Schüler*innen am Übergang ermöglichen. Wünschenswert wäre überdies ein, durch entsprechende Interventionsstudien abgesichertes, Lehrer*innenhandbuch zur professionellen Begleitung von Schüler*innen im Regelunterricht; dies betrifft sowohl Schüler*innen am Ende der Pflichtschulzeit als auch am Ende der Sekundarstufe II. • Abschließend soll nochmals auf den zentralen Stellenwert von Geborgenheit in der Lebenswirklichkeit von Schüler*innen und auf die Notwendigkeit der empirischen Erforschung dieser emotionalen Qualität hingewiesen werden. Das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen kann im Anschluss an die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit als Voraussetzung von Explorationsverhalten und als Voraussetzung der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst verstanden werden. Überdies konnte gezeigt werden, dass Geborgenheit im Kontext von Bildungsprozessen zu einer Steigerung der Selbstsicherheit und des generellen Wohlbefindens von Schüler*innen führt. Dementsprechend wäre es wünschenswert dieser emotionalen Erlebnisqualität in zukünftigen Forschungsarbeiten zum Konnex von Bildung und Emotion besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.
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