Einstieg in die Chinastudien: Methoden, Modelle, Übungsaufgaben 9783110665024, 9783110665017

Designed for new students, this textbook provides an introduction to China studies. As a regional science, Sinology borr

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German Pages 274 Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. China Als Idee
2. Geschichtswissenschaft Und Sinologie
3. Historiografie Chinas
4. Chinastudien Und Literaturwissenschaft
5. Philosophie Im Alten China
6. Religionswissenschaftliche Chinastudien
7. Sprachwissenschaften Und Sinologie
8. Chinastudien Und Ethnologie
9. Gender Studies Und China
10. Soziologie Und Chinastudien
11. Kommunikation Und Medien In China
12. Wirtschaften In China
13. China Als Teil Der Politischen Welt
14. China Als Wissenschaft
Anhang
Zeittafel
Leitfäden
Bibliografie
Register
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Einstieg in die Chinastudien: Methoden, Modelle, Übungsaufgaben
 9783110665024, 9783110665017

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Thorben Pelzer, Merle Schatz Einstieg in die Chinastudien

Thorben Pelzer, Merle Schatz

Einstieg in die Chinastudien Methoden, Modelle, Übungsaufgaben

Begleitprojekt im Rahmen der „StiL LaborUniversität“ (2018–2019), gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung

ISBN 978-3-11-066501-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066502-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066507-9 Library of Congress Control Number: 2019943627 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter der Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Yi Meng Wu, Studio Wu 無 Design, Berlin Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Thorben Pelzer und Merle Schatz 1

China als Idee 5 Thorben Pelzer 1.1 Chinabilder 5 1.2 Der Orient als das „Andere“ 1.3 Die Verortung Chinas 13 1.4 Fazit 15 1.5 Begriffe 15 1.6 Vorschläge zur Vertiefung 1.7 Transferaufgaben 16

6

15

2

Geschichtswissenschaft und Sinologie Merle Schatz 2.1 Wozu Geschichte? 19 2.2 Quellen 22 2.3 Quellenkritik 24 2.4 Fazit 27 2.5 Begriffe 28 2.6 Vorschläge zur Vertiefung 28 2.7 Transferaufgaben 28

3

Historiografie Chinas 31 Thorben Pelzer 3.1 Geschichte und Geschichtsschreibung 31 3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien 3.3 Wer schreibt die Geschichte Chinas? 40 3.4 Fazit 45 3.5 Begriffe 45 3.6 Vorschläge zur Vertiefung 46 3.7 Transferaufgaben 46

4

19

Chinastudien und Literaturwissenschaft 49 Merle Schatz 4.1 Literaturwissenschaft 49 4.2 Kurzer Abriss der chinesischen Literaturgeschichte 4.3 Literaturtheorie 57

32

51

VI

Inhaltsverzeichnis

4.4 4.5 4.6 4.7 5

6

7

8

Fazit 63 Begriffe 64 Vorschläge zur Vertiefung Transferaufgaben 65

Philosophie im alten China 67 Merle Schatz 5.1 Philosophie im alten China 5.2 Die Denkschulen 70 5.3 Philosophie oder Religion? 5.4 Fazit 79 5.5 Begriffe 79 5.6 Vorschläge zur Vertiefung 5.7 Transferaufgaben 81

64

67 78

80

Religionswissenschaftliche Chinastudien 83 Merle Schatz 6.1 Religionsforschung 83 6.2 Religionen in China 84 6.3 Religion in China als kulturelles System 6.4 Fazit 95 6.5 Begriffe 95 6.6 Vorschläge zur Vertiefung 96 6.7 Transferaufgaben 96 Sprachwissenschaften und Sinologie 97 Merle Schatz 7.1 Sprachwissenschaft 97 7.2 Kontaktlinguistik und Sprachkontakt 7.3 Sprachpolitik in China 104 7.4 Fazit 106 7.5 Begriffe 106 7.6 Vorschläge zur Vertiefung 106 7.7 Transferaufgaben 107

91

99

Chinastudien und Ethnologie 109 Merle Schatz 8.1 Ethnologie 109 8.2 Methoden der Ethnologie 111 8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung

112

Inhaltsverzeichnis

8.4 8.5 8.6 8.7 9

Fazit 120 Begriffe 120 Vorschläge zur Vertiefung Transferaufgaben 121

121

Gender Studies und China 123 Thorben Pelzer 9.1 Der Körper: Ein kulturelles Gut 123 9.2 Der Körper als Diskurs 128 9.3 Geschlechterstudien über China 132 9.4 Fazit 137 9.5 Begriffe 137 9.6 Vorschläge zur Vertiefung 138 9.7 Transferaufgaben 138

10 Soziologie und Chinastudien 141 Merle Schatz und Peter Ludes 10.1 Soziologie 141 10.2 Soziologische Theorien 146 10.3 Soziologische Chinaforschung 150 10.4 Fazit 153 10.5 Begriffe 154 10.6 Vorschläge zur Vertiefung 154 10.7 Transferaufgaben 154 11 Kommunikation und Medien in China 157 Thorben Pelzer 11.1 Die Kraft der Worte und Bilder 157 11.2 Kommunikationstheorien 158 11.3 Mediale Wirkkraft 162 11.4 Fazit 167 11.5 Begriffe 167 11.6 Vorschläge zur Vertiefung 168 11.7 Transferaufgaben 168 12 Wirtschaften in China 171 Thorben Pelzer 12.1 Warum Wirtschaften? 171 12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme 172 12.3 Wirtschaftliche Untersuchungsfelder: Eine Auswahl

181

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

12.4 12.5 12.6 12.7

Fazit 187 Begriffe 188 Vorschläge zur Vertiefung Transferaufgaben 188

188

13 China als Teil der politischen Welt 191 Thorben Pelzer 13.1 Politologische Modelle 191 13.2 Reich der Mitte: Mythos und Praxis 192 13.3 Internationale Beziehungen nach dem Sinozentrismus 13.4 Fazit 202 13.5 Begriffe 202 13.6 Vorschläge zur Vertiefung 203 13.7 Transferaufgaben 203 14 China als Wissenschaft 205 Thorben Pelzer 14.1 Über die Wissenschaft reflektieren 205 14.2 Geschichte der Chinastudien 206 14.3 Herausforderungen der Chinastudien 211 14.4 Fazit 218 14.5 Begriffe 218 14.6 Vorschläge zur Vertiefung 219 14.7 Transferaufgaben 219

Anhang Zeittafel 222 Leitfäden 225 Bibliografie 235 Register

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196

Einleitung Thorben Pelzer und Merle Schatz Dieses Buch soll in die Chinastudien einführen. Es ist aus der Einführungsveranstaltung „Modelle und Methoden der Regionalwissenschaften und Chinaforschung“ der Leipziger Sinologie entstanden. Das Buch richtet sich an Studienanfänger*innen der Chinastudien, die keine Vorkenntnisse besitzen, sowie an Interessent*innen anderer Fachrichtungen, die nicht nur weitere Zugänge, sondern auch mögliche Inhalte der Chinaforschung kennenlernen möchten. Das Buch stellt anhand von 14 Disziplinen ganz unterschiedliche theoretische und methodische Herangehensweisen sowie ihre Anwendung für Fragestellungen mit Chinabezug vor. Es zeigt damit das weite wissenschaftliche Betätigungsfeld und die spezifischen Arbeitsweisen des Fachs – aber ausdrücklich ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Das vorliegende Lehrwerk kann keinen ausschöpfenden Überblick über den gesamten aktuellen Kenntnisstand der Fachrichtungen bieten. Ziel ist es vielmehr zu zeigen, dass und wie etwa Ethnologie, Religionswissenschaft, Geschichte oder Sprachwissenschaft Möglichkeiten für die Chinaforschung darstellen. Mittels all der hier im Buch vorgestellten Disziplinen wird bereits umfassend Chinaforschung betrieben. Regionalwissenschaften haben schon immer Methoden und Modelle anderer Fächer für die Entwicklung und Bearbeitung eigener Forschungsfragen herangezogen und haben ihrerseits somit inhaltlich und theoretisch auch diesen zugearbeitet. Von ursprünglich vorranging philologisch ausgerichteten Forschungen und historischen Beschreibungen ausgehend, hat sich die Chinaforschung im Laufe der Zeit immer weiter geöffnet und von den Theorien und Methoden anderer Fachbereiche in der Entwicklung ihres eigenen Forschungsprofils sehr profitiert. Chinaforschung wird sowohl von Sinolog*innen bzw. Chinawissenschaftler*innen als auch von Kolleg*innen aus anderen Disziplinen (Medien- und Kommunikationswissenschaften, Philosophie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Politologie und viele mehr) betrieben, die ihrerseits China als Forschungsregion ausgewählt haben. Es ist uns bewusst, dass die hier genannten Disziplinen, die ausgewählten Inhalte und theoretischen Modelle eine strenge Eingrenzung und mitunter Vereinfachung darstellen. Die theoretische und inhaltliche Vielfalt jeder gewählten Fachrichtung kann im Rahmen eines breit ausgelegten Einführungswerks der Sinologie natürlich nicht abgedeckt werden. Hierzu gibt es jeweils eigene Einführungsveranstaltungen und -lektüren, auf die in den Kapiteln auch verwiesen wird. Folglich ist das vorliegende Buch als ein erster Einstieg in die umfassenden https://doi.org/10.1515/9783110665024-001

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Einleitung

Arbeitsmethoden und in mögliche Forschungsfelder der Chinastudien zu lesen. Es ist kein Ratgeber für etwaige spätere Berufsentscheidungen. Im Studium wirken die unermesslich erscheinende Datenmenge und die methodischen Möglichkeiten auf die Studierenden anfänglich immer recht erschlagend – besonders seitdem das Internet und die digital verfügbaren Ressourcen das wissenschaftliche Arbeiten durch einen besseren Zugang zu Quellen und durch die einfachere Kommunikation mit Kolleg*innen vereinfacht, aber auch beschleunigt und verdichtet haben. Diese anfängliche Orientierungslosigkeit, einhergehend mit dem hohen Aufwand des Spracherwerbs, sind Teil des Sinologiestudiums und diese Herausforderung wird sich auch für zukünftige Studienanfänger*innen nicht ändern. Der in diesem Buch vorgeschlagene Einstieg entlang an Disziplinen stellt eine Möglichkeit dar, diese Informationsflut in einem ersten Schritt systematisch zu organisieren. Grundsätzlich bedeutet ein breiter disziplinärer Zugang aber auch immer, dass individuelle Forschungsinteressen, ganz gleich ob in historischer Perspektive oder gegenwärtig ausgerichtet, auch in Bezug auf China verwirklicht werden können. Neben der interdisziplinären Verflechtung verfügt die Chinaforschung mit eigenen Forschungseinrichtungen, Institutionen, Fachverbänden und Fachzeitschriften über ein deutliches Profil, das fortlaufend in enger Zusammenarbeit mit Chinawissenschaftler*innen aus dem chinesischsprachigen Raum und aus zahlreichen anderen Teilen der Welt weiterentwickelt wird. Die chinesische Sprachkompetenz ist hierbei nicht nur ein deutliches Merkmal von Chinawissenschaftler*innen, sondern auch der direkteste und damit beste Zugang zu den notwendigen mündlichen und schriftlichen Quellen, mit denen gearbeitet wird. Da jedoch in den ersten Semestern der Chinastudien diese Sprachkompetenz noch erworben werden muss, also nicht vorausgesetzt werden kann, sind Begriffe in diesem Einstiegswerk übersetzt und für die Eindeutigkeit in latinisierter Umschrift (Hanyu Pinyin) und mit Schriftzeichen angegeben, sodass das Buch grundsätzlich von allen Leser*innen erschlossen werden kann. Das Buch ist für den Lehreinsatz konzipiert, es ist aber auch für ein autodidaktisches Studium zu Hause geeignet. Das Einführungsmodul, in dem das Buch entstanden ist, gliederte sich in (a) eine Vorlesung, in denen die Inhalte der Kapitel vorgestellt und erläutert werden, (b) eine Übung, in der die Transferaufgaben der Kapitel bearbeitet werden und (c) ein Tutorium, in dem Fragen zu den Kapiteln, aber auch die wichtige Aufgabe des wissenschaftlichen Arbeitens besprochen und eingeübt wurde. Die Buchstruktur nimmt diesen didaktischen Ansatz auf. Wichtige Begriffe in den Texten sind fett hervorgehoben und werden am Ende nochmals aufgeführt. Jedes Kapitel beinhaltet in den Fußnoten zahlreiche Literaturhinweise. Zudem schlagen wir im jeweiligen Abschnitt „Vorschläge zur Vertiefung“ fünf ausgewählte Werke vor, die bei Interesse an den

Einleitung

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vorgestellten Methoden oder Inhalten als nächster Arbeitsschritt konsultiert werden können. Danken möchten wir den Studierenden der Sinologie in Leipzig, die mit ihren kritischen Anmerkungen, Kursevaluationen und Diskussionen zur inhaltlichen Gestaltung beigetragen haben. Zudem danken wir der LaborUniversität Leipzig: Im Rahmen der 8. Projektkohorte des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung getragenen Lehr-Lern-Projektes wurde unser Projekt „Modelle und Methoden der Sinologie/Chinastudien“ in dem Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 30. September 2019 gefördert und mit didaktischen Hinweisen, Feedback-Gesprächen, Präsentationen und Diskussionen sehr gut unterstützt und professionell betreut. Georg Frischbuter, der als wissenschaftliche Hilfskraft Teil unseres Projektteams war, hat mit seinem Tutorium, den Gesprächen mit den Studierenden und mit kritischem Lesen der Buchkapitel ebenso zur Verwirklichung des Projektes beigetragen. Herzlicher Dank gilt auch Lena Henningsen für die „Erprobung“ einiger Kapitel in ihrem Unterricht. Zudem danken wir den studentischen Hilfskräften Hannah Adler und Richard Schmidt, die uns sowohl mit ihren Kommentaren zu den einzelnen Kapiteln als auch mit technischen Zuarbeiten sehr geholfen haben.

1 China als Idee Thorben Pelzer Zusammenfassung: In diesem Kapitel werden die ambivalenten Konnotationen des Begriffs „China“ diskutiert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage nach der Deutungshoheit über den Begriff „China“ und seinen Assoziationen. Zur Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung wird in grundlegende Methoden und Modelle der Kulturstudien, insbesondere die des Postkolonialismus, eingeführt.

1.1 Chinabilder Egal, ob wir von „Chinastudien“, „Chinawissenschaften“ oder lateinisch von der „Sinologie“ sprechen: Dem Namen nach befasst sich unsere Disziplin mit etwas, das wir „China“ nennen. Im Alltag mag die Bedeutung des Wortes „China“ trivial erscheinen. Haben unsere Freunde in „China“ einen Urlaub verbracht, denken wir unweigerlich an Drachen, grünen Tee, Konfuzius, chinesische Schriftzeichen, Reis, Maultaschen, Tierkreiszeichen, oder an den Film The Great Wall (2016). Je nach Interessenslage denken wir an imposante Naturlandschaften, an die maoistischen Bündnisse an den deutschen Universitäten 1968, oder an David Bowies Lied „China Girl“ (1983). Bei einer sich anbahnenden Geschäftsreise sind unsere Chinabilder oftmals weniger romantisch: Wir denken an überfüllte U-Bahnen, an Korruption und an Fabriken mit schlecht bezahlten Arbeitskräften. Womöglich studieren wir vor dem Abflug noch einen Reiseführer, der uns auf tatsächliche oder angebliche kulturelle Eigenarten vorbereiten soll. Im Zeitschriftenregal titelt Der Spiegel mit der Überschrift „Chinas Welt – Was will die neue Supermacht?“ und abends stellen sich auf dem Fernsehsender 3sat die Gäste einer Talkshow der Frage „Wie tickt China?“.1 In politischen Diskussionen wirkt „China“ häufig eher wie ein einzelnes, durchschaubares Individuum als wie ein großflächiges Land mit vielfältigen Gruppen, Interessen und Weltanschauungen. Als Menschen sind wir empfänglich für Vorurteile und Abstraktionen. Sie machen unseren Alltag berechenbarer. Wir können das Verhalten von Individuen und Institutionen voraussagen, in dem wir auf unsere bisherigen Erfahrungen zurückgreifen. Wenn wir in der Bibliothek für die verspätete Rückgabe

1 Der Spiegel. „Chinas Welt: Was will die neue Supermacht?,“ 03.01.2011; scobel. „Wie ‚tickt‘ China?“. 3sat. 30.08.2012. https://doi.org/10.1515/9783110665024-002

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1 China als Idee

eines Buches eine Strafgebühr zahlen müssen, können wir berechtigterweise annehmen, dass wir im folgenden Monat für die nächste verspätete Buchrückgabe ebenfalls eine Strafgebühr zahlen müssen. Anhand erkannter Regeln und Muster passen wir unser Verhalten an: Wir geben das nächste Buch lieber fristgerecht zurück. Haben wir in unserem Leben bereits einige Freunde mit indischen Wurzeln kennengelernt, die ihr Essen für unseren Geschmack zu scharf würzen, könnten wir zu der Annahme gelangen, dass schärferes Essen ein fester Bestandteil einer „indischen Küche“ sei, und uns in der Konsequenz vornehmen, indische Restaurants in Zukunft zu vermeiden. Nicht alle Muster, die wir auf diese Art und Weise entdecken, müssen in der Wirklichkeit Bestätigung finden: Zwar hat unsere Nachbarin regelmäßig mit zwei arabischen Anwohnern Streit. Doch ob sie tatsächlich, wie wir schnell annehmen, eine allgemeine Aversion gegen Ausländer*innen hegt, oder einfach nur mit genau diesen zwei Menschen nicht zurechtkommt, können wir anhand der zu geringen Stichprobe nicht mit Sicherheit feststellen. Auf diese Weise sind auch unsere Chinabilder eine Ansammlung von stereotypischen Motiven (auch „Tropen“ genannt). Die meisten dieser Vorurteile stammen dabei nicht einmal aus unseren eigenen Erfahrungen, sondern wurden kollektiv über Jahrhunderte in unserer Gesellschaft angesammelt. Da wir Teil dieser Gesellschaft sind und von klein auf in ihr kultiviert wurden, können wir uns nicht vollständig von diesen Vorstellungen befreien. Es ist allerdings unsere Aufgabe, zu verstehen, woher diese Ideen rühren und mit welchen Absichten sie popularisiert wurden. Es ist weiterhin wichtig, dass wir uns bewusstwerden, dass diese Abstraktionen die Realität nicht passiv wiederspiegeln, sondern sie aktiv beeinflussen. Anders ausgedrückt: Unsere Vorstellungen, auch in Bezug auf China, sind keine unmittelbaren Abbilder von dem, was wir wahrnehmen, sondern bilden das Kaleidoskop, durch welches wir die Realität betrachten.

1.2 Der Orient als das „Andere“ Werden wir uns der Funktion relativer Adjektive bewusst: Wir können Gegensatzpaare wie lang und kurz, groß und klein, oder dick und dünn nur anwenden, wenn wir mindestens zwei Objekte in einer Kategorie vergleichen können. Wir können nur zu der Aussage gelangen, Kapellen seien relativ klein, wenn wir von der Existenz von Kirchen und Kathedralen wissen. Stellen wir uns vor, es würde außer uns keine andere Person auf der Welt geben: Wir könnten nicht sagen, ob wir relativ groß oder klein gewachsen sind. Das Mittelmaß unserer Mitmenschen würde uns auch keinen Eindruck darüber geben können, ob wir

1.2 Der Orient als das „Andere“

7

an Über- oder Untergewicht leiden. Unsere Schuhgröße wäre nicht größer oder kleiner als der Durchschnitt, denn unsere Schuhgröße wäre gleichsam der Durchschnitt. Wir könnten nicht einmal von uns behaupten, dass wir über einen besonderen Charakter verfügen: Wir wären uns nicht bewusst, dass wir ein Individuum sind, welches sich durch irgendwelche Eigenarten von anderen Individuen abgrenzt. In der Fachsprache nennen wir diese Gegensatzpaare „binäre Opposition“. Es braucht also das Gegenüber, um uns unserer Selbst bewusst zu werden. Das gilt nicht nur für Individuen. Um von Verwandtschaften sprechen zu können, brauchen wir Regeln, die bestimmen, welche Menschen nicht als unsere Verwandten gelten. Einen nationalistischen Chauvinismus kann es nur geben, wenn es in unserem Bewusstsein auch andere Nationalstaaten gibt, die wir für unterlegen erklären können. Schließlich kann es „den Westen“ mit seinen aufklärerischen Idealen nur geben, wenn es Regionen auf der Erde gibt, die explizit nicht dem „Westen“ zugehörig sind. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten Philosophen der sogenannten Frankfurter Schule die Kritische Theorie der Gesellschaft. Sie hat zum Ziel, den ideologischen Überbau einer Gesellschaft zu hinterfragen. Zum Überbau gehören neben unseren Institutionen, Ritualen und Strukturen auch unsere geistigen Vorstellungen und damit auch jene Gedanken, die wir über den „Anderen“ oder das „Andere“ hegen. Teilweise auf der Kritischen Theorie aufbauend, teilweise mit ihr in Konkurrenz stehend, etablierte sich ab den 1960ern die wissenschaftliche Disziplin der Kulturstudien (oft englisch belassen: cultural studies), welche die Dynamiken des gesellschaftlichen Überbaus als kulturelle Felder analysiert. Die vielleicht wichtigste Gemeinsamkeit dieser wissenschaftlichen Strömungen ist es, dass Wissen nicht mehr als zeitlos gültig verstanden wird, sondern dass Wahrheiten als sich mit der Zeit verändernde Machtstrategien begriffen werden.2 So analysieren als Teilgebiet der Kulturstudien die Postkolonialen Studien das Wissen und die damit einhergehende Macht über „fremde“ Gebiete, beispielsweise das Wissen und die Macht Europas über China. Aus dem Geschichtsunterricht kennen wir den für die postkolonialen Studien namensstiftenden Begriff Kolonialismus: Er meint die staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung, Vertreibung oder

2 Vergleichende Einführungen in die Kritische Theorie, die Kulturstudien und den Postkolonialismus finden sich in Ina Kerner, „Postcolonial Theories as Global Critical Theories,“ Constellations 25, Nr. 4 (2018): 614–628; James D. Ingram, „Critical Theory and Postcolonialism,“ in The Routledge Companion to the Frankfurt School, herausgegeben von Peter E. Gordon, Espen Hammer und Axel Honneth (London, New York: Routledge, 2018).

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1 China als Idee

Ermordung der ansässigen Bevölkerung. In den postkolonialen Studien ist der Begriff aber weiter gefasst und meint auch einen „kulturellen Kolonialismus“: Auch, wenn die Herrschaft einer Kultur über eine andere strenggenommen nicht der politischen Ordnung einer Kolonialherrschaft entspricht, kann sie über ihre kulturelle Hegemonie Macht über Werte und Vorstellungen einer fremden, „anderen“ Kultur ausüben. Das Fremde oder das „Andere“ wird in den postkolonialen Studien als „the Other“ bezeichnet (auch in deutschsprachigen Publikationen meist auf Englisch belassen). Durch sogenanntes Othering wurden in der Vergangenheit sowohl soziale und ethnische Gruppen als auch kulturelle und geografische Regionen als „andersartig“ abgegrenzt und für minderwertig erklärt. Der beobachtende Blick (im Englischen gaze) auf das „Andere“ erlaubt uns, zu Aussagen über uns selbst zu gelangen. Ein Beispiel für „Othering“ ist der Umgang Europas mit dem „Orient“, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Der historische Umgang Europas mit dem Orient ist für Sinolog*innen von Belang, da unsere Forschung immer auch eine Begegnung mit dem Fremden darstellt. Wir sind dazu angehalten, unsere Rolle als Mittler*innen kritisch zu überprüfen, um eine differenzierte Auseinandersetzung mit unserer Forschungsregion zu ermöglichen.

1.2.1 Der Osten des Westens Wie der Literaturtheoretiker Edward Said (1935–2003) in seinem disziplinenübergreifend einflussreichen Werk Orientalismus 1978 festgehalten hat, sicherte sich der selbsternannte „Westen“ auch zur eigenen Identitätsbildung die Deutungshoheit über den „Orient“. Der „Orient“ wird dabei homogenisiert (das heißt undifferenziert und stereotypisch) betrachtet: Kulturelle Eigenarten eines weiten geografischen und gesellschaftlichen Raumes fallen außer Acht, um eine gesamte Landmasse und ihre Bevölkerung als kulturell rückständig und „anders“ zu charakterisieren. Diese rhetorische Strategie wird in der Fachsprache Orientalismus genannt. Ein frühes Beispiel für einen Schriftsteller, der China in dieser Weise diskutierte, ist der deutsche Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831). In einer Vorlesung, die er ab 1822 hielt, erklärte er: Unter allen Verhältnissen hat China seinen Charakter immer behalten; kein Volk von einem andern geistigen Prinzip hat sich an die Stelle des alten gesetzt. Insofern hat China eigentlich keine Geschichte. Wie es jetzt ist, so ist es das Resultat seiner Geschichte; wir sprechen hier nicht bloß von einem vergangenen, sondern auch von einem noch gegenwärtigen Reiche, und indem wir von seiner ältesten Geschichte sprechen, zugleich von seiner Gegenwart.

1.2 Der Orient als das „Andere“

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Dies ist das Prinzip des chinesischen Staates, und über seinen Begriff ist er nicht hinausgegangen; doch besitzt er in diesem seinem Bestande eine hohe Kultur. Wenn wir also mit China anfangen, so haben wir vor uns den ältesten Staat und doch keine Vergangenheit, sondern einen Staat, der ebenso heute existiert, wie wir ihn in alten Zeiten kennen lernen.3

Für Hegel war China also ein unveränderbares Motiv, welches den Konsequenzen historischer Entwicklungen nicht unterworfen sei. Chinas Gesellschaft sei damit statisch und geschichtslos. Wenige Jahrzehnte später übernahm der Philosoph Karl Marx (1818–1883) diese Vorstellung, als er China 1862 als „lebendes Fossil“ beschrieb.4 Es handelt sich hier um „kulturessentialistische“ Betrachtungen: Individuen werden auf Grundlage ihrer Gruppenzugehörigkeit (hier: ihrer Kultur) notwendige („essentielle“) Eigenschaften zugewiesen, was zur Stereotypisierung führt. Dass weiße, männliche Autoren eine komplexe Bevölkerung zu einer kollektiven Masse oder einem abstrakten Phänomen subsumieren, mag uns heute vielleicht ignorant und einem vernünftigen, differenzierenden Geist zuwider erscheinen. Tatsächlich argumentieren kontemporäre „Chinaversteher*innen“ aber häufig auch heute noch auf einer vergleichbaren Ebene, wenn sie versuchen, komplexe soziale Zusammenhänge auf eine Staatenebene zu abstrahieren. Noch 1991 soll Richard Nixon, einst der erste US-amerikanische Präsident, der in die Volksrepublik China reiste, zur Möglichkeit einer liberalen Demokratie in der Volksrepublik gesagt haben: Du kannst sie nicht dazu drängen. Die Chinesen denken über Geschichte und Zukunft in Jahrhunderten und nicht, wie wir, in Jahrzehnten, denn ihre Kultur ist so viel älter als die unsere.5

Tatsächlich lebten Konfuzius (551–479 v. u. Z.) und die ersten griechischen Vorsokratiker im selben Jahrhundert und die Geschichte der Region China ist auch sonst nicht von außergewöhnlicher, herausstechender Länge. Doch für die Wahrnehmung unserer Realität sind imaginierte Vorstellungen wesentlicher als historische Fakten. Neben der Deutungshoheit über den chinesischen Geschichtsverlauf ermächtigten sich Menschen in Europa vor allem im 18. Jahrhundert auch der

3 Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: Die orientalische Welt (Leipzig: Verlag von Felix Meiner, [1837] 1919), 278. 4 Karl Marx, „Chinesisches.“ Die Presse, 07.07.1862. 5 [Übersetzung durch den Autor.] Monica Crowley, Nixon in Winter. The Final Revelations (London, New York: I.B. Tauris, 1998), 173.

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1 China als Idee

Deutungshoheit über die chinesische Kunst. In der Welle der „Chinoiserie“ verarbeiteten europäische Künstler*innen ihre Sehnsuchtsgedanken in Form einseitiger Darstellungen einer angeblich harmonischen und außergewöhnlich literarisch geprägten chinesischen Kultur.6 Auch die Vorstellung einer Gefährdung der westlichen Vormachtstellung durch „die Chinesen“ ist keine neue Entwicklung, die sich etwa durch den wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China in den letzten Jahrzehnten begründen würde. Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wich die Vorstellung des geschichtslosen Chinas einer irrationalen Angst vor der zahlenmäßigen Übermacht der asiatischen und insbesondere chinesischen Bevölkerung, der sogenannten Gelben Gefahr. China wurde nun nicht mehr nur als exotischer kultureller Gegenpol wahrgenommen, sondern auch als ein ernstzunehmender Widersacher der „westlichen Zivilisation“. Es ist wichtig, sich dabei ins Bewusstsein zu rufen, dass sich unsere Vorstellungen von Nationen, Kulturen und Staaten nicht aus der Natur ableiten, sondern auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen. Die Traditionen, aus denen wir solche Konstrukte ableiten, sind dabei nicht nur eine stereotypische Darstellung einer komplexeren Mengenlage. Mehr noch sind Teile dieser Bräuche gänzlich erfundene Traditionen – ein Begriff, den die Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) und Terence Ranger (1929–2015) in ihrem gleichnamigen Sammelband populär gemacht haben.7 Das vermutlich bekannteste Beispiel ist der Kilt, ein Kleidungsstück, welches heute eng mit der schottischen Hochländer-Kultur verknüpft wird, aber wohl erst im 18. Jahrhundert erfunden wurde. Im chinesischen Kontext wird häufig der Konfuzianismus als „erfundene Tradition“ bezeichnet: Zwar spielten die heute als „konfuzianisch“ bezeichneten Lehren tatsächlich eine wesentliche ideengeschichtliche Rolle für die chinesischen Kaiserreiche. Doch ist die herausstellende Verknüpfung dieser Lehren mit ihrem größten Denker Konfuzius eine Erfindung späterer jesuitischer Missionare und ihnen folgenden chinesischen Schriftstellern, die versuchten, in der chinesischen Kultur eine Kombination aus Denker und Gedankensystem ausfindig zu machen, welche sie mit dem ihnen vertrauten Stellenwert Jesus von

6 Die Chinoiserie äußerte sich beispielsweise in der chinesisch anmutenden Verzierung europäischer Porzellanvasen und Wandgemälden. Angeblich chinesische Gebäude, etwa in „chinesischen Gärten“, sind in vielen europäischen Städten heute noch beschaubar. Für ein älteres Standardwerk, vgl. Hugh Honour, Chinoiserie. The Vision of Cathay (London: J. Murray, 1973). 7 Eric Hobsbawm and Terence Ranger, Hrsg. The Invention of Tradition (Cambridge: Cambridge University Press, 1983).

1.2 Der Orient als das „Andere“

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Nazareths im Christentum vergleichen konnten.8 Ein anderes Beispiel für eine erfundene chinesische Tradition ist die „traditionelle chinesische Medizin“ (TCM). Zwar bezieht sich die TCM in ihren Behandlungsmethoden tatsächlich auf Praktiken und Lehrtexte, die teilweise bis zu zweitausend Jahre alt sind. Als eigenständig greifbarer, standardisierter und als Alternative zur Biomedizin verstandener Zweig ist die TCM dagegen ein Produkt der kommunistischen Regierung ab den 1950er Jahren.9 Der gesellschaftliche Auftrag der Sinolog*innen ist es zwar, eine Region zu analysieren und, im Idealfall, der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Die oben genannten Beispiele zeigen aber, dass eine dazu häufig unvermeidbare Abstraktion zu oberflächlichen Stereotypen führen kann. Der Orientalismus grenzt eine Region ab, auch wenn starre Grenzen vielleicht gar nicht vorhanden sind; er vereinfacht auf Kosten des Verständnisses der Kulturen. Als Sinolog*innen können wir analysieren, wie Orientalismen Vorstellungen von China geprägt haben und weiterhin prägen, sollten uns selbst aber von diesen so weit wie möglich befreien.

1.2.2 Selbst-Orientalisierung Während Said sein Hauptaugenmerk noch auf den Okzident als Urheber von Orientalismen legte, stellte der Sinologe Arif Dirlik (1940–2017) fest, dass sich auch asiatische Akteure diesen bedienen.10 Bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts suchten indische, chinesische, tibetische, mongolische und japanische Publizist*innen als Ausweg aus der drohenden oder vollzogenen Unterdrückung durch westliche Nationen nach gemeinsamen kulturellen Werten, um in gemeinsamer Anstrengung eine kulturelle Alternative zum „Westen“ zu bieten. Diese Bewegungen werden als Panasianismus bezeichnet. Einer der wichtigsten frühen panasiatischen Aktivisten war der bengalische Literaturnobelpreisträger Ravīndranātha Ṭhākura (1861–1941). Aber auch der japanische Kunsttheoretiker Okakura Kakuzō 岡倉 覚三 (1862–1913) versuchte, westlicher Kultur einen „asiatischen“ Gegenpol entgegenzuhalten. In seinem Buch Die Ideale des Ostens schrieb er 1903:

8 Vgl. Lionel M. Jensen, Manufacturing Confucianism: Chinese Traditions and Universal Civilization (Durham: Duke University Press, 1998). 9 Zur Entstehungsgeschichte der TCM vgl. Kim Talyor, Chinese Medicine in Early Communist China, 1945–63. A Medicine of Revolution (London, New York: Routledge, 2005). 10 Arif Dirlik, „Chinese History and the Question of Orientalism.“ History and Theory 35, Nr. 4 (1996): 96–118. doi:10.2307/2505446.

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1 China als Idee

Ganz Asien ist eins. Der Himalaja scheidet wohl zwei gewaltige Kulturen, die chinesische mit dem Kommunismus des Konfuzius und die indische mit dem Individualismus der Veden, aber er trennt sie nur, um ihr Gemeinsames deutlicher hervortreten zu lassen. Selbst an seinen Schneewänden brach sich zu keiner Stunde der breite Strom der Sehnsucht nach dem Urgrund und dem Urziel allen Seins, die als gemeinsames Gedankenerbe alle Rassen Asiens befähigte, sämtliche großen Religionen der Erde zu gebären und sie von den seefahrenden Völkern des Mittelmeers und der Ostsee unterschied, deren Liebe zum einzelnen mehr den Äußerungen des Lebens als seinen Endzwecken nachhing.11

Wie im klassischen Orientalismus bedient sich auch die Selbst-Orientalisierung der Homogenisierung und Exotisierung. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur und Geschichte kann aufgrund der fehlenden Differenzierungen in beiden Fällen nicht stattfinden. Stattdessen ist es wichtig, sich der Absichten der Akteure bewusstzuwerden. Im Pazifikkrieg (1941–1945) wurde der Panasianismus durch die japanische Regierung missbraucht, um ein koloniales Imperium zu rechtfertigen. In den 1990er Jahren bedienten sich autoritäre Politiker wie der singapurische Premierminister Lee Kuan Yew (Lǐ Guāngyào 李光耀, 1923–2015) Orientalismen, um in einer Debatte um „asiatische Werte“ herauszuarbeiten, weshalb die Bevölkerungen ihrer Staaten keine liberalen Demokratien benötigten. So stellte Lee 1992 in einer Rede fest: Als Asiate mit kulturell chinesischem Hintergrund entsprechen meine Werte einer Regierung, die ehrlich, effektiv und effizient darin ist, ihre Bevölkerung zu schützen und allen die Möglichkeit bietet, in einer stabilen und geordneten Gesellschaft voranzuschreiten, in welcher alle ein gutes Leben leben und Kinder heranziehen können, die sich besser einbringen als man selbst.12

Die grundlegenden Motive der Debatte um die „asiatischen Werte“ fanden im 21. Jahrhundert in der Volksrepublik China eine Renaissance, indem durch die Schlagworte „Harmonische Gesellschaft“ (héxié shèhuì 和諧社會) und „China Dream“ (Zhōngguó mèng 中國夢) versucht wurde, einen chinesischen Exzeptionalismus zu begründen. Die Abgrenzung des „Anderen“, des Ostens vom Westen, wie sie durch europäische und US-amerikanische Autor*innen betrieben wurde, ist also mittlerweile auch Teil einer aktiven Identitätsstiftung einst ausgegrenzter asiatischer Kulturen und Individuen. Einst durch ausländische Autor*innen popularisierte Vorurteile des „Andersseins“ werden bemüht, um sich

11 Okakura Kakuzō, Die Ideale des Ostens (Leipzig: Insel, [1903] 1922), 1. 12 [Übersetzung durch den Autor.] Kuan Y. Lee, „Speech by Mr Lee Kuan Yew, Senior Minister of Singapore, at the Create 21 Asahi Forum on 20 Nov 92, Tokyo.“ Pressemitteilung. 20.11.1992: 15–16. Zugegriffen am 29. Juli 2018. http://www.nas.gov.sg/archivesonline/data/pdfdoc/ lky19921120.pdf

1.3 Die Verortung Chinas

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von einem westlichen Universalismus loszusagen und diesen gegen einen generalisierenden Kulturessentialismus einzutauschen. Bisher haben wir herausgearbeitet, dass mit der Idee „China“ ein Konvolut an Assoziationen verknüpft ist, von denen wir uns zwar nicht gänzlich befreien können, derer Undifferenziertheit und gesellschaftlicher Urheberschaft wir uns aber bewusst sein müssen. Was fehlt, ist die Frage nach einer Verortung der abstrakten Idee „Chinas“ im geografischen Raum.

1.3 Die Verortung Chinas Unter „Verortung“ verstehen wir die Positionsbestimmung in einem Gebiet. Das Smartphone symbolisiert durch einen blauen Punkt unseren eigenen Aufenthaltspunkt in einer Stadt, und eine blaue Linie markiert auf einer Landkarte einen Kanal. Im Alltag stellen wir uns die Frage nach der Verortung Chinas in der Regel nicht. Ist in den Nachrichten vom „chinesischen Präsidenten“ die Rede, so ist klar, dass es sich um den Präsidenten der Volksrepublik China handelt. Diese wiederum können wir zumindest grob verorten. Die Gleichsetzung einer abstrakten, räumlichen Idee (hier: „China“) mit einem konkreten Staat (hier: die Volksrepublik China) ist uns von klein auf anerzogen: Die meisten durch die internationale Staatengemeinde anerkannten Länder sind sogenannte Nationalstaaten. Die Regierungen dieser Staaten vertreten mehrheitlich eine ausgewählte Gemeinschaft an Menschen mit ähnlichen kulturellen Merkmalen. In der Regel wird jede Nation dabei maximal von einem Staat vertreten. Als Chinawissenschaftler*innen sollten wir uns dagegen bewusstwerden, dass die abstrakte Idee „China“ nicht zwingend mit einem modernen Staat identisch sein muss. Zur Veranschaulichung dazu dienen sechs Verräumlichungen, die allesamt den Anspruch hegen, die Idee „China“ abzubilden. Die heute am naheliegendsten erscheinende und im Alltag am häufigsten anzutreffende Verräumlichung ist jene der Volksrepublik China. Das politische Einflussgebiet der Volksrepublik lässt sich größtenteils eindeutig durch Grenzlinien abstecken; nur die Ansprüche auf einige Grenzgebiete, etwa Aksai Chin oder das Südostchinesische Meer, sind international umstritten und damit in ihrer Zuordnung ambivalent. Die Verortung Chinas wird komplexer, wenn wir auf die Insel Taiwan reisen. Die dortige Regierung sieht sich als legitime Vertretung der ersten Republik China, deren Führung sich 1949 vom chinesischen Festland absetzte. Diese chinesische Parallelregierung, die durch die Vereinten Nationen (UN) nicht anerkannt ist, beschränkt ihren tatsächlichen Einflussbereich auf die Insel Taiwan und 165 umliegende Inseln. Die Staatsoberhäupter beider Länder sind ihrer

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1 China als Idee

Wortwahl nach „Präsidenten Chinas“. Bereits auf der politischen Ebene beschreibt der Begriff „China“ also keinen eindeutig definierten geografischen Raum. Die Frage ist, wie hilfreich solche politischen Definitionen der Idee „China“ für unser wissenschaftliches Arbeiten sind: Schließlich haben wir bereits herausgearbeitet, dass sich hinter dem Wort „China“ eine Assoziationskette kultureller Konnotationen verbirgt. Versuchen wir, das kulturelle China zu verorten, wäre ein möglicher Arbeitsbegriff das sogenannte Greater China: Die vereinte Fläche der Volksrepublik China, Hongkongs, Macaus, und der Republik China auf Taiwan. Diese Gebiete werden nicht gemeinsam verwaltet, stehen aber alle im Einfluss einer oder mehrerer Regierungen, die sich als „chinesisch“ verstehen. Dabei sind allerdings die Grenzregionen durch Menschen besiedelt, deren Kultur wir bisher nicht als „chinesisch“ begriffen haben: Beispielsweise durch ostturkische Uighur*innen, Mongol*innen oder Koreaner*innen. Sofern wir Greater China als ethnische Verräumlichung verstehen, hätten wir es also nicht mit klar ausgehandelten Grenzlinien (borders), sondern mit nicht eindeutig begrenzbaren, graduell verlaufenden Grenzgebieten (frontiers) zu tun. Stattdessen könnte es sich auch anbieten, sich auf das sogenannte eigentliche China (China proper), also das chinesische Kernland, zu beschränken. Bei diesem Konzept werden Gebiete ausgeklammert, in welchen, zumindest vor den Migrationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Hàn-Chinesen demografisch nur eine Minderheit darstellten: Tibet, Xinjiang (Ostturkestan), die Mongolei und die Mandschurei. Meinen wir mit „China“ ein multikulturelles Vielvölkergebiet, trifft „Greater China“ unsere Vorstellung; meinen wir mit „China“ das Gebiet, das die meisten Hàn-Chinesen ihre Heimat nennen und auf dem ein Großteil dessen, was wir mit „chinesischer“ Kultur verknüpfen, ihren Ursprung findet, so trifft „China proper“ unsere Definition besser. Die Ambivalenz in der Verortung Chinas wird noch deutlicher, wenn wir historische Chinas [sic!] betrachten. So etwa das Herrschaftsgebiet der LiáoDynastie (907–1125), ein historisches Kaiserreich, dessen Hof sich als kulturell „chinesisch“ begriff: Das Liáo-Reich erstreckte sich über die Mandschurei und einen Teil der Mongolei und Sibiriens. Beijing, die heutige Hauptstadt der Volksrepublik China, befand sich im äußersten Süden, einem Randgebiet des Reichs. Obwohl sich also Bevölkerung und Landmasse von der heutigen Volksrepublik China enorm unterschieden, reichte die Strahlkraft der als „chinesisch“ wahrgenommenen Kultur aus, um auch dieses Gebiet als „China“ zu bezeichnen. Schließlich wäre es auch denkbar, „China“ auf dem gesamten Globus zu verorten. Auf allen Kontinenten haben sich chinesischsprachige Bevölkerungen niedergelassen und zusammengeschlossen: Ob in Malaysia, im New Yorker

1.6 Vorschläge zur Vertiefung

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Chinatown, oder in deutschen Studierendenvereinen. Die Idee „China“ kann so von jeglicher politischer Besitznahme befreit und rein unter linguistischen und damit verknüpften kulturellen Gesichtspunkten betrachtet werden: „China“ ist überall.

1.4 Fazit Die Chinastudien sind die Wissenschaften, die sich mit China befassen. Die Idee „China“ hat dabei politische, kulturelle und historische Bedeutungen. Der Begriff zieht eine Vielzahl subjektiver Assoziationen und Stereotypen mit sich, die ihren Ursprung oftmals im Orientalismus, also der Besitznahme des Ostens durch den Westen, haben. Wenn wir uns mit dem Forschungsgegenstand „China“ beschäftigen, müssen wir uns stets die Ambivalenz der Idee „China“ vor Augen halten.

1.5 Begriffe Erfundene Tradition – Historische Fiktion, die dazu dient, bestimmte Normen und Strukturen gesellschaftlich zu legitimieren und zu festigen Greater China – Geografische Region, die Hongkong, Macau, Taiwan und die Volksrepublik China umfasst Kolonialismus – Staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung, Vertreibung oder Ermordung der ansässigen Bevölkerung Orientalismus – Stil der Herrschaft, der Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient Other – Zum Ziel der Selbst- und Fremdidentifizierung als „anders“ wahrgenommene Gruppe oder Gebiet Othering – Abgrenzung von Gruppen oder Gebieten, in der Regel durch Stereotypisierung und zum Ziel der Selbsterhöhung Panasianismus – Bewegung, die eine gemeinsame geistig-kulturelle Erneuerung asiatischer Nationen anstrebt

1.6 Vorschläge zur Vertiefung Frey, Marc und Nicola Spakowski (Hrsg.). „Asianismen seit dem 19. Jahrhundert.“ Comparativ 18, Nr. 6 (2008). Gentz, Joachim. Keywords Re-Oriented. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 2009.

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1 China als Idee

Gu, Ming Dong. Sinologism. An Alternative to Orientalism and Postcolonialism. London, New York: Routledge, 2013. Kerner, Ina. Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius, 2011. Williams, Raymond. Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford University Press, [1976] 1983.

1.7 Transferaufgaben 1.7.1 Chinesische Charakteristika Der US-amerikanische Missionar Arthur Henderson Smith (1845–1932) prägte mit seinem Buch Chinese Characteristics (1890) für Jahrzehnte das Chinabild seiner ausländischen Leserschaft. Welchen Eindruck gewinnen Sie aus dem Inhaltsverzeichnis? Welches Chinabild wurde durch diese orientalistischen Tropen vermittelt? Sind Teile der hier genannten Vorurteile heute noch in Gebrauch? 1. Gesicht 2. Wirtschaft 3. Industrie 4. Höflichkeit 5. Missachtung von Zeit 6. Missachtung von Genauigkeit 7. Talent zum Missverstehen 8. Talent zur Indirektheit 9. Flexible Inflexiblität 10. Intellektuelle Trübheit 11. Abwesenheit von Nerven 12. Geringschätzung von Ausländern 13. Abwesenheit eines Gemeinschaftsgeists 14. Konservatismus 15. Gleichgültigkeit gegenüber Komfort und Bequemlichkeit 16. Physische Vitalität 17. Geduld und Beharrlichkeit 18. Zufriedenheit und Vergnügtheit 19. Respekt gegenüber den Eltern 20. Güte 21. Abwesenheit von Mitgefühl 22. Gesellschaftliche Taifune [Streitkultur] 23. Gemeinschaftliche Verantwortung und Gesetzestreue

1.7 Transferaufgaben

24. 25. 26. 27.

17

Gemeinschaftliches Misstrauen Abwesenheit von Aufrichtigkeit Polytheismus, Pantheismus und Atheismus Die tatsächliche Verfasstheit Chinas und ihre aktuellen Bedürfnisse

1.7.2 Chinamotive in britischer Popmusik Sichten Sie die Musikvideos zu „Visions of China“ (1981) der Popgruppe Japan und zu „China Girl“ (1983) des Popsängers David Bowie (1947–2016). Welche Tropen zu China finden Sie visuell, textlich oder musikalisch wieder? Wie wird mit ihnen umgegangen?

1.7.3 China im Alltag Gehen Sie auf Entdeckungstour in der Stadt. Finden Sie Tropen chinesischer Kultur in der Öffentlichkeit, beispielsweise in Restaurants, Supermärkten, Werbeanzeigen oder Ausstellungen? Gibt es Erwartungshaltungen einheimischer Konsument*innen, die durch die Dienstleiter*innen bedient werden? Dokumentieren Sie Ihre Entdeckungen fotografisch.

2 Geschichtswissenschaft und Sinologie Merle Schatz Zusammenfassung: Dieses Kapitel fragt nach der Relevanz von Geschichtswissenschaft und stellt das Handwerk von Historiker*innen vor. Was sind Quellen, wie wird Quellmaterial erschlossen und welche Möglichkeiten gibt es, Quellen kritisch zu prüfen? Die grundsätzlichen Arbeitsmethoden von Historiker*innen gelten auch für die chinabezogene Geschichtswissenschaft und sollen hier anhand sinologischer Beispiele vorgestellt werden.

2.1 Wozu Geschichte? Historiker*innen interessieren sich für Ereignisse aller Art, stellen hierzu genaue Fragen, sie erforschen, wie und warum etwas geworden ist, wie es ist. Alles, was vergangen ist, kann nur in überlieferten Formen zugänglich gemacht werden. Diese überlieferten Formen sind Gegenstände oder Berichte. Die Aufgabe von Historiker*innen ist es, das Wesentliche in Bezug auf verschiedenste Themen anhand dieser Quellen ausfindig zu machen. Quellen können schriftliche und mündliche Überlieferungen sein, aber auch beispielsweise Bauwerke, archäologische Funde oder Gräber. Historiker*innen überprüfen die verfügbaren Quellen sehr kritisch auf ihre äußere und innere Glaubwürdigkeit, bevor die Informationen sortiert, strukturiert und interpretiert werden, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, was warum war. Historiker*innen können ihre Forschungsinteressen auf vergangene Ereignisse richten und etwa die Gründe für Herrschaftsabfolgen innerhalb einer chinesischen Dynastie erforschen. Sie können aber auch sehr gegenwärtiges Interesse untersuchen und aktuelle Ereignisse wie beispielsweise chinesische Ressourcenpolitik im Zusammenhang mit der sogenannten Neuen Seidenstraße (Xīn Sīchóuzhīlù 新絲綢之路), einem auch als „One Belt One Road“, oder „Belt and Road Initiative“ bekannten großangelegten Handels- und Infrastrukturprojekt, kritisch hinterfragen und hierfür weitreichende Linien von kulturellem Austausch, Handelsbeziehungen und politischen Verträgen nachzeichnen, um gegenwärtige Argumentationen zu überprüfen und zu erläutern. Die aktuelle mediale Informationsflut erfordert dieses genaue Hinsehen und eine genaue Quellenkritik. Sämtliche Informationen geben den Historiker*innen Auskünfte über Intentionen involvierter Akteure, über Manipulationen gesellschaftlichen Wissens und Denkens sowie über Machtverhältnisse innerhalb der chinesischen Gesellschaften. Der Blick auf „Geschichte“ ist eben auch der Blick auf die Geschichten, die die unter-

https://doi.org/10.1515/9783110665024-003

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2 Geschichtswissenschaft und Sinologie

schiedlichen Menschen zu Ereignissen erschaffen, erzählen und glauben wollen oder sollen – besonders oft dort, wo historische Ereignisse für politische Argumente gebraucht werden.1 Der griechisch-lateinische Begriff historia meinte in erster Bedeutung die res-gestae, die geschehenen Dinge und Taten. Aber der Begriff bekam noch eine zweite Bedeutung, als historia rerum gestarum, also als Erzählung (story) von geschehenen Taten und Dingen. Der chinesische Begriff lautet lìshǐ 歷史. Zwar bezieht sich Geschichte auf die Vergangenheit, sie gehört jedoch zur Gegenwart, weil unser historisches Denken immer im „Jetzt“, in der Gegenwart von uns vollzogen wird. Weil Geschichte aus dem Hier und Jetzt heraus und immer von einer bestimmten Person entworfen wird, ist sie auch immer etwas Subjektives, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Ereignisse geschichtlich zu betrachten heißt, ein Wissen über diese Ereignisse zu erarbeiten. Dies steht ganz unabhängig davon, wie man Ereignisse oder Handlungsweisen von Menschen bewertet. Neben Geschichte als Wissen ist Geschichte als Argument relevant: Menschen haben aufgrund regionaler, sozialer und kultureller Prägung ganz unterschiedliche Auffassungen zu verschiedenen Bereichen und Themen aus dem Leben, Gesellschaft oder Politik. Es gibt keine einheitlichen Überzeugungen. Menschen in China treffen aufeinander und streiten über ganz unterschiedliche Dinge, jeder meint, im Recht zu sein. Geschichte nun hilft, Argumente für das Denken zu artikulieren: In Rückbezug auf etwa eine Familiengeschichte, auf eine Geschichte von Flucht und Verfolgung, auf eine Geschichte von politischen Unsicherheiten oder Ressourcenmangel, in Rückbezug auf persönliche oder kollektive prägende Ereignisse lassen sich Argumente dafür finden, warum Menschen auf die eine Art und Weise denken und anders handeln als ihr Gegenüber, das vielleicht ganz andere Geschichte(n) erlebt hat. All dies trägt zu einem Verständnis bei – nicht aber zwingend zu Lösungen von Problemen. Es kann auch für zukünftige Handlungsentscheidungen relevant sein: Geschichte lehrt uns, dass nichts so bleiben wird, wie es ist. Mit Blick auf die Geschichte lernen wir über historische Veränderlichkeit von Körpern, Gefühlen oder sozialen Werten. Fast alles, was wir heute für selbstverständlich, vielleicht für natürlich halten, „das war schon immer so“; „schon seit Tausenden von Jahren hat man in China . . . “, erweist sich bei genauerem Hinsehen als historisch gewachsen und hierbei wandelbar. So gibt es beispielsweise nicht „den einen Konfuzianismus“, sondern unterschiedliche konfuzianische Denkschulen mit ihren eigenen Schwerpunkten, die auch immer vor einem ganz bestimmten politischen und

1 Ein hilfreiches Einstiegswerk: Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte (Paderborn: Schöningh, [2009] 2013).

2.1 Wozu Geschichte?

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gesellschaftlichen Hintergrund entstanden sind. Die Beschäftigung mit Geschichte bedeutet also auch, ein Bewusstsein für die Entwicklung einer Gesellschaft und ihrer Denktraditionen zu bilden. Was zu einer Zeit in einer Region Chinas üblich war oder ist, kann woanders in China oder außerhalb Chinas als fremd empfunden werden. Der historische Blick öffnet uns hier für die Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten auf dieser Welt und ist deswegen nicht nur für Historiker*innen von wesentlichem Interesse. Was macht nun das Handwerk von Historiker*innen aus? Historiker*innen betreiben eine kritische Quellenprüfung, um (a) die Quelle selbst zu prüfen (z. B. welcher Art ist die Quelle, ist das Material unbeschädigt, ist sie echt?), und um (b) Aussagen über einen Wahrheitsgehalt treffen zu können (z. B. handelt es sich um Zeitzeugenaussagen, sind die Aussagen echt, wann, wo und wie wurde die Quelle verfasst?). Zudem sind Historiker*innen in der Lage, sich in neue Gegenstände einzuarbeiten und durch Quellenstudium und Quellenkritik zu Spezialist*innen für ganz unterschiedliche Themen zu werden. So können sie sich mit chinesischer Wirtschaftspolitik, religiösen Kulturen, Geschlechterfragen, Verfassungstheorien, Terrorismus in historischer Perspektive beschäftigen – oder mit dem Umgang mit Geschichte in China selbst. Die Bandbreite der historischen Forschungsmöglichkeiten ist vielfältig, auch in Bezug auf die Region China. Allerdings, und dies ist wesentlich für die Beschäftigung mit China: China-Historiker*innen benötigen profunde Chinakompetenz, also die Beherrschung der chinesischen Sprache sowie Kenntnis von der Region, den historiografischen Traditionen und den gesellschaftspolitischen Entwicklungen, um mit den verfügbaren Quellen arbeiten und sich ein Urteil bilden zu können. Geschichte als Erzählungen, etwa die in Anlehnung an eine chinesische Dynastien-Abfolge, ist eine mögliche Organisation von Daten und eine beliebte Darstellung historischer Abläufe, da eine derartige Periodisierung zeitlich scharf abgrenzbar und damit zumindest von den Daten her eindeutig zuzuordnen ist (vgl. Kapitel 3). Aber allein zu wissen, dass etwa die Mongolen das chinesische Territorium als einen kleinen Teil ihres Weltreiches im Zeitraum von 1279–1368 beherrschten (Yuán-Dynastie), also die alleinige Kenntnis von Zahlen, ist noch keine Geschichte. Es wird erst dann zu Geschichte, wenn über eine Einbindung in eine Erzählung ein Sinnzusammenhang hergestellt wird, also durch Informationen zu den einzelnen Herrschern, ihren gesellschaftspolitischen Ambitionen, den unterschiedlichen Loyalitäten zu den anderen mongolischen Teilreichen, oder etwa durch kulturpolitische Veränderungen in Bezug auf das beherrschte bürokratische chinesische Reich. Erst dann entstehen Geschichten und erst dann lassen sich Entwicklungen und Veränderungen ausmachen. Nur anhand konkreter Beispiele, die historische Beschreibungen liefern, können die Leser*innen

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2 Geschichtswissenschaft und Sinologie

kritisch dazu Stellung beziehen, Sichtweisen annehmen oder ablehnen, über Argumente streiten und Positionen beziehen, etwa auch darüber, ob die Periodisierung 1279–1368 überhaupt sinnvoll ist. Aber es sind nicht nur die chronologischen Entwürfe, nach denen historische Ereignisse sortiert und interpretiert werden können.2 Die Ereignisse, die das gesellschaftliche, kulturelle und politische Leben Chinas hervorbrachten und auch formten, lassen sich auch unter anderen Schwerpunkten, etwa „Revolution“ oder „Nation“, „Modernisierung“ oder „Internationalisierung“ in Sinnzusammenhänge bringen und die Darstellungen fallen entsprechend unterschiedlich aus. Geschichtserzählungen können Grundvoraussetzung für politische Diskussionen oder Wertedebatten sein und müssen daher immer sorgfältig analysiert werden. Die chinabezogene Geschichtswissenschaft hat das große Glück, aus einem in Archiven, Bibliotheken, Museen oder Forschungsstätten erhaltenen reichen Bestand an Quellen, d. h. auch frühe schriftliche Quellen, schöpfen zu können. Hierzu zählen etwa Orakelknochen, antike Bronzegeräte, Lokalchroniken, Statistiken zu Bevölkerungszahlen, Steuer- oder Getreidepreise, statistische Jahrbücher, Memoiren, Tageszeitungen, Reiseberichte. Aber auch Überreste wie Grabbeilagen, Gebäude, Kleidung, Waffen, Schmuck etc. sind wertvolle Quellen. Die Quellenüberlieferung wird tendenziell weniger umfangreich, wenn der Untersuchungsgegenstand weit in der Vergangenheit liegt, beispielsweise vor der Hàn-Dynastie (206 v. u. Z.–220 u. Z). Mehr Quellen, besonders in Schriftform, liegen den ChinaHistoriker*innen vor, je weiter der Untersuchungsgegenstand in die Gegenwart rückt. Grundsätzlich gilt: Die Geschichten der Historiker*innen dürfen im Gegensatz zu den mitunter fiktiven Geschichten von Literat*innen nicht erfunden sein. Wie nun aber arbeiten wir mit den Quellen, die uns zur Verfügung stehen?

2.2 Quellen Was für Quellen gibt es? Unterschieden wird hier zwischen „Tradition“ und „Überrest“. Diese Einteilung in Quelltypen stammt aus dem 19. Jahrhundert und geht zurück auf die deutschen Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Ernst Bernheim (1850–1942). Tradition bezeichnet eine absichtsvolle Überlieferung, die zum Zweck der Unterrichtung der Nachwelt geschaffen wurde. Hierzu gehören: Memoiren, Chroniken,

2 Hierzu: Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte (Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse am 29. November 2002). Zugegriffen am 21. Februar 2019. https://edoc.bbaw.de/frontdoor/deliver/index/docId/91/file/I_03_Osterhammel.pdf.

2.2 Quellen

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Reiseberichte, Geschichtsschreibung, Sagen, Lieder, Autobiografien, politische Traktate, Testamente, Parteiprogramme. Überrest bezeichnet Zeugnisse der Vergangenheit, die ohne gezielte Überlieferungsabsicht entstanden sind. – Schriftquellen, z. B. Geschäfts- und Verwaltungsschriftgut (Urkunden/ Akten); Rechtsquellen: staatliche Verträge, Gesetzessammlungen; privates Schriftgut: Briefe, Tagebücher; statistische Erhebungen: ökonomische/demografische Daten; Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften, Filme, Tonaufnahmen; Literatur aus Kunst, Wissenschaft und Unterhaltung: Romane, wissenschaftliche Darstellungen, Dichtung – Bildquellen, z. B. Gemälde, Druckgrafik, Karikaturen, Fotografien, Karten – Gegenständliche bzw. abstrakte Quellen, z. B. Gebäude, Waffen, Schmuck, Haushaltsgegenstände, Münzen, Grabstätten, alte Wege Diese Unterscheidung in Tradition und Überreste ist allerdings kritisch zu sehen, suggerieren doch die Überreste höheres Maß an Objektivität als die Traditionsquellen, denen man von vorne herein einen größeren Interpretationsgehalt unterstellen mag. Zudem besteht bei Gemälden, Karten oder anderen hier genannten Gegenständen mitunter auch die Möglichkeit, dass sie mit einer gezielten Überlieferungsabsicht angefertigt wurden. Grundsätzlich ist also sehr wichtig, dass sämtliche Quellen den gleichen kritischen Verfahren der inneren und äußeren Quellenkritik unterzogen werden. Quellen müssen immer kritisch geprüft werden. Die Quellenkritik analysiert die formalen (äußeren und stilistischen) und inhaltlichen Merkmale einer Quelle, die Quelleninterpretation ordnet sie dann im nächsten Schritt in den historischen Kontext ein und wertet sie im Sinne der Fragestellung aus. So können beispielsweise auch die Werke berühmter chinesischer Maler Auskunft über zeitgenössische Kleidungsstile, über Musikinstrumente oder über Formen gesellschaftlicher Zusammenkünfte geben. Quellen sprechen niemals für sich. Sie müssen detailliert erarbeitet und interpretiert werden, man muss wissen, welche Fragen man an die Quelle hat und feststellen, ob die Quelle für den Untersuchungsgegenstand die passende ist. Um eine Quelle zu verstehen, muss sie im ersten Schritt aufbereitet werden. Hierfür beschäftigt man sich mit der Art der Quelle (Bild, Bauwerk, Text, etc.), dem Aufbewahrungsort oder der Herkunft der Quelle und ihrer Charakterisierung (Material, Schrift, Umfang, Textgestaltung/äußere Gestalt, Schäden oder fehlende Teile). Zudem muss die Quelle gelesen werden, d. h. Texte werden übersetzt, schwierige Schriften und Schriftformen entziffert, unbekannte Namen, Begriffe, Personen, Institutionen, Orte, Daten, Fachtermini müssen geklärt werden, um dann eine Grundaussage oder ein Thema festzustellen und um bestimmen zu können, auf welchen historischen Kontext und welchen

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2 Geschichtswissenschaft und Sinologie

sozialen, politischen oder kulturellen Hintergrund sich die Quelle bezieht. Zu zahlreichen sinologischen Schriften existiert bereits eine umfangreiche bedeutungserklärende Kommentarliteratur, die als Hilfsmaterial herangezogen werden kann.

2.3 Quellenkritik Das Ziel der Quellenkritik ist, einen Aussagewert der Quelle zu bestimmen. Hier wird technisch unterschieden zwischen einer (a) äußeren Quellenkritik, die formale Aspekte prüft und erfragt, ob die (Text-) Gestalt glaubwürdig ist, und (b) einer inneren Quellenkritik, die den Aussagewert überprüft und erfragt, ob dieser glaubwürdig ist. Folgende Fragen stellen ein Hilfsmittel dar, um eine entsprechende kritische Quellenüberprüfung durchzuführen:

2.3.1 Äußere Kritik Zunächst sollte man eine Quelle unter formalen Gesichtspunkten untersuchen. Diese äußere Kritik kann Aufschluss über Authentizität, Inhalte und den zu erwartenden Erkenntnisgewinn geben. Das bedeutet nicht, dass die Aussagen der Quelle wahr sein müssen, sondern dass die Aussagen in der Vergangenheit so gemacht worden sind, wie es die Quelle behauptet. Zur Überprüfung der Echtheit können die nachfolgenden Kriterien dienen: Überlieferung: Woher stammt die Quelle? Archivbestände, Quelleneditionen oder Forschungsliteratur sind mögliche Überlieferungen. Bei Internetquellen gilt Vorsicht, denn viele von ihnen erfüllen nicht die Grundprinzipien wissenschaftlicher Standards. Zum Beispiel sind Texte fehlerhaft oder unvollständig übernommen, Lücken/Kürzungen sind häufig nicht kenntlich gemacht, oft werden Quellen an eigene Intentionen angepasst und umgeschrieben. Beispielsweise hatte Marco Polo, der von 1271–1295 eine China-Reise unternahm, seine Reiseerlebnisse später in Gefangenschaft dem Mithäftling Rustichello da Pisa mündlich mitgeteilt. Dieser war für die Verfassung von Ritterromanen bekannt. Dass der Reisebericht aus der Erinnerung heraus entstand und stilistisch von dem Schreiber beeinflusst wurde, muss in der Bewertung dieser Quelle berücksichtigt werden. Erhaltungszustand: Eine vollständig erhaltene Quelle ist natürlich ideal, aber leider nicht immer verfügbar. Man muss die fehlenden Informationen in die Interpretation der Quelle einfließen lassen und vorsichtig mit den auf der Quelle beruhenden Aussagen sein.

2.3 Quellenkritik

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Erscheinungszustand: Handelt es sich um ein Original, eine Kopie, eine Abschrift? Aufbau: Wie ist die Quelle aufgebaut? Entspricht sie beispielsweise einem amtlichen Standardformular oder gibt es Abweichungen? Textsorte/Quellengattung: Quellen weisen je nach Gattung bestimmte Charakteristika auf. Ein Zeitungsartikel beschreibt eine Hungersnot anders als ein autobiografischer Rückblick. Politische Reden produzieren Inhalte anders als dokumentarische Berichte. Briefe, Reden, Urkunden, Presseartikel, Reiseberichte, Tagebücher, Gesetze, Verträge, Verfassungen, literarische Werke oder Parteiprogramme unterscheiden sich in Form, Inhalt und Sprache und können allein deswegen schon zu ein und demselben Thema unterschiedliche Informationen liefern. Wann und wo? Entstehungszeit und -ort: Die genaue zeitliche und räumliche Einordnung einer Quelle ist wichtig, um sie in ihrem zeitlichen Kontext verstehen zu können und um Informationen über die Urheber*innen und ihr Anliegen zu gewinnen. Wer? Autor*in/Verfasser*in: Sind die Verfasser*innen der Quelle bekannt? Sind Informationen über Intention, Inhaltsauswahl, Sprachwahl vorhanden? Für wen? Adressat*in: An wen oder gegen wen richtet sich die Quelle? Ist sie für eine große Menge von Personen bestimmt oder für eine einzelne Person, zu der persönliche Verbindungen bestanden? Richtet sie sich an Zeitgenoss*innen oder auch an spätere Generationen? Welcher sozialen Schicht, politischen Richtung usw. gehören die Adressat*innen an und von welchem Vorwissen ist auszugehen? Primäre oder sekundäre Quelle? Haben die Verfasser*innen die Informationen aus erster Hand oder nicht?

2.3.2 Innere Kritik Die innere Quellenkritik untersucht die Glaubwürdigkeit der Quellenaussage sowie Wortwahl und Textinhalt und fragt nach dem „Wie“ und dem „Was“ des Quelleninhalts: Zum „Wie“: Die Sprache einer Quelle ist nicht willkürlich, sondern Ausdruck der jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Handelt es sich um ritualisierte und kodifizierte Texte, um Fach- oder Alltagsprache, um klare oder undurchsichtige Wortwahl, um eindeutige Aussagen oder leere Füllsätze? Um welche Quellengattung handelt es sich (z. B. Urkunde oder Autobiografie)? Welche formalen Vorgaben/Rahmen sind den Verfasser*innen damit gesetzt? Wo weichen sie evtl. davon ab?

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2 Geschichtswissenschaft und Sinologie

Was versucht der Text zu erreichen? Ist er moralisierend, rechtfertigend, anklagend oder nüchtern geschrieben? Die Absicht einer Quelle ergibt sich aus ihrem sprachlichen Stil und ihrem Format. Welche Stilebene, Sprachduktus, Wortwahl, Topoi können identifiziert werden? Gibt es Schlüsselworte? Das „Wie“ hängt eng zusammen mit der Intention der Autor*innen, mit ihrer Beobachtungsgabe, ihren Wertvorstellungen, Persönlichkeitsmerkmalen, ihrer Stellung und auch mit ihren anvisierten Rezipient*innen der Inhalte, denen sie mitunter bestimmte Eigenschaften zusprechen. Das „Was“ fragt nach dem Inhalt des Textes, genannte Ereignisse, Personen und sachliches Hintergrundwissen müssen geklärt werden. Zudem muss bedacht werden, was die Verfasser*innen mitteilen konnten (sich im Polizeiverhör befindende Verfasser*innen teilen ausgewählte Inhalte anders mit als ein Badeurlauber*innen ihren Freund*innen) und was die Verfasser*innen mitteilen wollten. Was sind die Möglichkeiten und Absichten der Verfasser*innen? Sind sie glaubwürdig? Konnten sie die Wahrheit berichten oder hatten sie Gründe, dies nicht zu tun? Waren sie Augenzeug*innen oder erzählen sie Gehörtes nach? Erzählen sie aus einer Erinnerung? Wie lange liegt das beschriebene Ereignis zurück? Zu welchem Zweck haben sie die Quelle verfasst? Die Grundregeln der inneren und äußeren Quellenkritik sind grundsätzlich auf alle Texte und Textgattungen anwendbar. Aber China-Historiker*innen arbeiten nicht nur mit Texten. Beispielsweise werden auch Bilder oder andere Kunstwerke in die Untersuchungen mit einbezogen. Dann werden diese Quellen als historische Dokumente angesehen, die Aufschluss über die Vergangenheit, über die Wahrnehmung der Welt oder soziale Beziehungen geben können. Diese Quellen aber dürfen nicht als ein Abbild der Wirklichkeit gesehen werden, denn das sind sie nie. Vielmehr sind auch sie Interpretationen, die Aufschluss geben über die visuelle Auseinandersetzung ihrer „Künstler*innen“ mit ihren Lebenswirklichkeiten. Auch hier ist für eine Analyse quellenkritisch vorzugehen.

2.3.3 Interpretation und Ergebnisse Sämtliche aus der Quelle gewonnenen Informationen werden nun auf die Fragen an den Gegenstand bezogen und eingeordnet. Auch wird erläutert, inwiefern die gewonnenen Kenntnisse zum Forschungsstand des Themas beitragen und ob die Quelle überhaupt hilfreich war. Idealerweise sollten mehrere Quellen zu einem Thema herangezogen werden, um eine gute Einordnung durchführen zu können. In der Darstellung der Ergebnisse nimmt man die Fragestellung, die an die Quelle gerichtet wurde, wieder auf und beantwortet sie, indem die Grundaussage genannt wird, indem eine Einordnung in den historischen Kontext erfolgt und

2.4 Fazit

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indem die erarbeiteten Informationen erläutert werden. Beispielsweise helfen Grabfunde, Lücken zu schließen: In der 1971 entdeckten Hàn-zeitlichen Grabstätte Mǎwángduī 馬王堆 wurde unter anderem Seidenbücher gefunden, unter anderem das Buch der Wandlungen. Solche Funde sind sehr wertvoll, weil sie eventuelle bisherige fehlende oder unklare Textstellen enthalten. Zudem können im Vergleich mit bisherigen Textausgaben vorsichtige Aussagen über einen „ursprünglichen“ Textkorpus gemacht werden, über Schreibvarianten von Zeichen und über Schriftentwicklungen, um nur einige Möglichkeiten zu nennen.

2.3.4 Geschichte Chinas Es gibt unterschiedliche Gründe, sich geschichtswissenschaftlich mit China zu beschäftigen: Politische und gesellschaftliche Ereignisse sowie machtpolitische Verhältnisse und die Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft lassen sich tiefgründig beschreiben, wenn man sich mit ihrer Dauer, ihrer Sprache/Texten und ihren Formen von Wandel auseinandersetzt. Dies geht nur in Rückgriff auf die Vergangenheit, denn dann werden die großen Zusammenhänge der einzelnen Entwicklungen deutlich. Bei den Analysen und Kontextualisierungen kommt man zudem automatisch mit ganz unterschiedlichen Themengebieten in Berührung und arbeitet sich in Geografie, Mathematik, Medizin, Musik, Kunsthandwerk oder Wirtschaft ein, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Damit können ChinaHistoriker*innen ganz eigene thematische Vorlieben mit in den Forschungsprozess einbringen. Historische Chinaforschung erfragt zudem auch, ob aktuelle politische Phänomene und Schlagwörter wie etwa der „chinesische Traum“ oder „die Neue Seidenstraße“ spezifische historische Prägungen mit sich bringen. Die Beschäftigung mit historischen Ereignissen in Bezug auf China ist zudem spannend, weil viele Quellen noch nicht ausgewertet wurden. Zudem werden immer wieder neue Funde etwa bei Graböffnungen entdeckt, die es in Zusammenarbeit etwa mit den Archäologen zu entschlüsseln und einzuordnen gilt.

2.4 Fazit Um erforschen zu können, wie und warum etwas geworden ist, hinterfragen China-Historiker*innen ausgesuchte Themen kritisch. Basierend auf einer strengen kritischen äußeren und inneren Quellenanalyse tragen sie in zahlreichen Bereichen zu profundem Wissen bei und regen an, etablierte Erklärungen und Sichtweisen zu hinterfragen. So leisten sie wertvolle Arbeit, um die vielen und vielfältigen Geschichten Chinas zu untersuchen und zu skizzieren. Die Perspektiven auf die

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2 Geschichtswissenschaft und Sinologie

unterschiedlichen historischen Gegenstände sind hierbei forscher*innenabhängig und damit als Verständnisvorschläge und Diskussionsgrundlagen zu begreifen.

2.5 Begriffe Äußere Quellenkritik – Prüft, ob die Textgestalt glaubwürdig ist Innere Quellenkritik – Prüft, ob der Textinhalt glaubwürdig ist Orakelknochen – Tierknochen, die etwa ab 1300 v. u. Z. der Weissagung dienten. Auf ihnen finden sich die ersten Zeugnisse der chinesischen Schrift. Quelle – Quellen sind alle Texte, Gegenstände und Tatsachen, aus denen Erkenntnisse über die Vergangenheit gewonnen werden, d. h. über alles, was von Menschen gedacht, geschrieben oder geformt wurde. Eine Quelle kann also sehr vieles sein. Ob für Historiker*innen etwas zur Quelle wird, hängt von der Fragestellung ab und davon, ob ein Text oder Gegenstand Antworten darauf geben kann

2.6 Vorschläge zur Vertiefung Ebrey, Patricia Buckley. The Cambridge Illustrated History of China. Cambridge: Cambridge University Press, 2010. Klein, Thoralf. Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn: Ferdinand Schöningh, [2007] 2009. Mittag, Achim. „Geschichtsschreibung.“ In Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, herausgegeben von Brunhild Staiger, 248–252. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003. Spakowski, Nicola. „Zeit: Geschichtswissenschaften.“ In Sinologie und Chinastudien. Eine Einführung, herausgegeben von Stefan Kramer, 84–103. Tübingen: Narr, 2013. Vogelsang, Kai. Geschichte Chinas. Stuttgart: Reclam Verlag, 2012.

2.7 Transferaufgaben 2.7.1 Verständnis von Geschichte(n) Diskutieren Sie, warum wir nicht von „der Geschichte Chinas“ sprechen können und was der Begriff „Geschichten“ in diesem Kontext meint. Welche Möglichkeiten gibt es, um die unterschiedlichen Perspektiven auf Geschichte und den unterschiedlichen Ausdruck von Ereignissen herauszufinden? Nennen Sie Beispiele.

2.7 Transferaufgaben

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2.7.2 Alt, älter, China? Wenn sich Sinolog*innen auf die ersten schriftlichen Quellen in China stützen, von welchem Zeitraum sprechen sie hier und welche Funde liegen vor? In welchen Kontexten wird auf diese Quellen Bezug genommen (z. B. politische Legitimationen, kulturelle Kontinuitäten)? Suchen Sie drei Beispiele heraus und erläutern Sie diese.

2.7.3 Geschichtsschreibung(en) in China Informieren Sie sich über Geschichtsschreibung in China. Wer waren berühmte Historiker*innen, wann lebten sie und welche Werke werden mit ihnen in Verbindung gebracht? Welche Struktureigentümlichkeiten weisen ihre Werke auf? Nennen Sie drei Beispiele und diskutieren Sie diese.

3 Historiografie Chinas Thorben Pelzer Zusammenfassung: Dieses Kapitel stellt verschiedene Modelle und Methoden der chinesischen Geschichtsschreibung vor und problematisiert diese. Auf Basis der historiografischen Analyse wird dargelegt, wie unterschiedliche Narrative der „chinesischen“ Geschichte unsere Vorstellungen des „Chinesischseins“ beeinflussen.

3.1 Geschichte und Geschichtsschreibung Hinter dem Ausspruch „Die Geschichte wird von den Gewinnern geschrieben“ steckt mehr als eine Stammtischparole der Ewiggestrigen. In ihr steckt der Verdacht, dass Geschichte und Geschichtsschreibung nicht deckungsgleich sind. Während wir unter Geschichte die Ereignisse der Vergangenheit verstehen, handelt es sich bei der Geschichtsschreibung um einen menschlichen Prozess, der subjektiver Wahrnehmung und individuellen Zielsetzungen ausgesetzt ist. Der Historiker Hayden White (1928–2018) argumentierte, dass Geschichtsschreibung nie objektiv vonstattengehen könne.1 Zwar beschäftigt sich die Fachdisziplin der Geschichte auf einer wissenschaftlichen Ebene mit faktischen Gegebenheiten der Vergangenheit und ist damit wesentlich von der Belletristik, die fiktive Geschichten erzählt, abzugrenzen. Doch sind auch Historiker*innen immer gleichzeitig Erzähler*innen: Sie wählen ein Narrativ, durch die sie die Geschichte strukturieren und ihr einen Sinn geben. Dies ist die Historiografie. Ein Rahmen ist für die Geschichtsschreibung zwingend erforderlich, aber immer zu einem gewissen Grad willkürlich. Ein Beispiel zur Einführung: Die historische Bedeutung der Rückeroberung der Stadt Nanjing durch das QīngReich (1864) verändert sich je nach dem zeitlichen Rahmen, in welchem sich das Narrativ bewegt. Die Rückeroberung könnte das Finale der Geschichte der Tàipíng-Revolution (1850–1864) darstellen, deren Führer die Stadt zum Regierungssitz erklärt hatten und die jetzt besiegt wurden. Das Ereignis könnte aber auch den kritischen Wendepunkt in der Geschichte der Qīng-Dynastie darstellen, als Sinnbild einer Verkettung politischer, militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Ereignisse, die das letzte Jahrhundert des Kaiserreichs

1 Vgl. Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-century Europe (Baltimore: Johns Hopkins University, 1973). https://doi.org/10.1515/9783110665024-004

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3 Historiografie Chinas

markierten: Die Rückeroberung Nanjings brachte ein Erstarken lokaler Machthaber mit sich, und diese Machtfragmentierung erlaubte den späteren Machtverlust der Dynastie. Schließlich könnte das Ereignis auch den Anbeginn eines „Jahrhunderts der chinesischen Revolutionen“ darstellen, welches sich von der Tàipíng-Revolution über die Ausrufung der chinesischen Republik (1912) bis hin zur Kulturrevolution (1965–1976) erstrecken könnte. Der untersuchte zeitliche Rahmen wird durch Historiker*innen bestimmt und ist nur bedingt aus der historischen Faktenlage heraus begründbar. Tatsache ist dennoch, dass historische Ereignisse nie ex nihilo ohne Kontext stattfinden können, sondern sich innerhalb eines geschichtlichen Rahmens bewegen und einen historischen Hintergrund aufweisen, welcher zumindest näherungsweise als eigentlicher Beginn des zu untersuchenden Ereignisses gelten kann. Der Sinologe John King Fairbank (1907–1991), der unser chinesisches Geschichtsbild als Mitherausgeber der einflussreichen Cambridge History of China (ab 1978) maßgeblich geprägt hat, riet deshalb zu folgender historiografischer Praxis: In der Regel sollten Sie, wenn Sie die Mitte eines Jahrhunderts erforschen wollen, mit dem Ende des Jahrhunderts beginnen und sich von den Problemen an den Anfang zurückführen lassen. Versuchen Sie nie, mit dem Anfang anzufangen. Historische Forschung schreitet rückwärts, nicht vorwärts.2

Historiker*innen haben erheblichen Einfluss auf unser Verständnis von Geschichte, da sie die historischen Ereignisse für uns einrahmen und kontextualisieren. Dieser Prozess, die Historiografie, bedarf vielfältiger Abwägungen, ist also immer abhängig von den jeweiligen Historiker*innen, und ist oftmals hochpolitisch, wie die nächsten Kapitel näher darlegen sollen.

3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien Die Geschichtswissenschaft definiert den Beginn der Geschichte als den Beginn der schriftlichen Überlieferungen. Das bedeutet nicht, dass sich vor der Entwicklung der Schrift keine komplexen Gesellschaften gebildet hätten. Die sogenannte Urgeschichte, auch Vorgeschichte genannt, ist aber nicht Aufgabenfeld der Geschichtswissenschaften, sondern der Archäologie, welche die

2 [Übersetzung durch den Autor.] John King Fairbank, Trade and Diplomacy on the China Coast (Stanford: Stanford University Press, 1969), ix.

3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien

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materiellen Hinterlassenschaften der frühesten Zivilisationen ausgraben und deuten.3 Die Topoi „Zweitausend Jahre Chinesisches Kaiserreich“ und „Fünftausend Jahre Chinesische Geschichte“ haben Einzug in Enzyklopädien, Zeitungen, Populärliteratur, politische Traktate und akademische Forschungsbeiträge gehalten. Korrekt sind sie dadurch noch nicht: Wir müssen uns bewusstwerden, was „Chinesisch“ in diesem Kontext bedeuten soll und wie wir „chinesische Geschichte“ definieren. Im Folgenden werden daher einige historiografische Herangehensweisen dargestellt und dargelegt, wie sie unser Verständnis von chinesischer Geschichte verändern.

3.2.1 Dynastische Periodisierung Während die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung, etwa die Aufzeichnungen des Historikers (Shǐjì 史記, 1. Jh. v. u. Z.), eine angebliche Xià-Dynastie (frühes 2. Jt. v. u. Z.) als Beginn der dynastischen Zeitrechnung annimmt, beginnt die chinesische Geschichte im wissenschaftlichen Sinn erst mit der Spätphase der darauffolgenden Shāng-Dynastie (hier ca. 1300–1046 v. u. Z.). Statt die nicht schriftlich dokumentierte Xià-Dynastie als mythologische Erzählung zu akzeptieren, versuchen chinesische Historiker*innen des staatlich in Auftrag gegebenen „Xià-Shāng-Zhōu-Chronologie-Projekts“ (Xià Shāng Zhōu duàndài gōngchéng 夏商周斷代工程, ab 1996), frühe archäologische Fundstätten mit der Herrschaft der Xià und sogar konkreten, legendären Kulturheroen zu assoziieren.4 So soll eine, den morgenländischen Kulturen nicht nachstehende, langandauernde und kontinuierliche Geschichte einer möglichst homogenen, „chinesischen“ Zivilisation geschaffen werden. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und nationalistisch motivierter Pseudowissenschaft verschwimmen dadurch. Doch die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung der sogenannten Dynastiegeschichten hegt noch viel grundsätzlichere Probleme. Durch die

3 In aller Regel ist die akademische Disziplin der „Ur- und Frühgeschichte“ folgerichtig nicht an den historischen, sondern an den archäologischen Instituten und Fakultäten angesiedelt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Implikationen, die ein „Beginn“ der Geschichte mit sich bringt, findet sich in Daniel Lord Smail, On Deep History and the Brain (Berkeley: University of California Press, 2008). 4 Vgl. Sòng Jiàn 宋健, „Chāoyuè yígǔ: Zǒuchū mímáng: 超越疑古: 走出迷茫.“ [Den Zweifel an der Überlieferung überwinden: Aus dem Unpräzisen hinaustreten] Wén shǐ zhé 文史哲, Nr. 6 (1998): 5–11. doi:10.16346/j.cnki.37–1101/c.1998.06.002.

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3 Historiografie Chinas

Kanonisierung 24 ausgewählter, zumeist durch die jeweilige Nachfolgedynastie in Auftrag gegebener Standardwerke werden normativ auch eine ausgesuchte Anzahl von Dynastien als „offiziell chinesisch“ kanonisiert. Diese bilden dann eine kontinuierliche imperiale Geschichte, ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es sich bei diesen Dynastien um im Krieg miteinander gestandene Faktionen und Staaten handelte, die sich aus ethnisch unterschiedlichen Herrscherklans speisten, unterschiedliche Territorien regierten, und sich unterschiedlicher Institutionen bedienten. Wenn wir uns als Chinawissenschaftler*innen der Dynastieschreibung unreflektiert bedienen, laufen wir Gefahr, die Fiktion einer ununterbrochenen chinesischen Tradition aufrechtzuerhalten und zu fördern. Die Periodisierung in Dynastien bildet auch heute noch das curriculare Fundament der Chinastudien an vielen Fakultäten der Welt. Im Chinaprogramm der Harvard-Universität wird etwa dieses Lied zu der Melodie von „Bruder Jakob“ gesungen5:

Wenn wir die chinesische Geschichte primär in Dynastien unterteilen, behaupten wir zudem, die Machtinteressen der jeweiligen Herrscherklans seien das wesentliche Merkmal des historischen Wandels in China. Ökonomische, technologische und soziale Veränderungen spielen bei dieser Einteilung der chinesischen Geschichte überhaupt keine Rolle. Diese historisch wesentlichen Entwicklungen werden in der dynastischen Periodisierung ausgeblendet. Stattdessen entsteht leicht der Eindruck, die Geschichte verlaufe „zyklisch“, das heißt vom Aufstieg und Fall einer Herrschaftsfamilie zum Aufstieg und Fall der nächsten, ohne dass sich etwas Anderes wesentlich verändert habe. Wenn wir die Geschichte nach anderen Gesichtspunkten periodisieren, statt die offizielle Historiografie zu übernehmen, können wir nicht nur historische Zusammenhänge neu deuten, sondern auch kulturelle Chinas außerhalb der offiziellen Dynastien entdecken.

5 Peter K. Bol und William C. Kirby, „What is a Dynasty?,“ HarvardX. Zugegriffen am 29. Juli 2018. https://courses.edx.org/courses/course-v1:HarvardX+SW12.1x+2016/courseware/.

3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien

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3.2.2 Teleologische Geschichtsschreibungen Während die Dynastiegeschichten einen zyklischen Geschichtsverlauf implizieren, ging ein großer Teil der Historiograf*innen des zwanzigsten Jahrhunderts von einer linearen, zielgerichteten („teleologischen“) Entwicklungsgeschichte des sozialen Zusammenlebens aus. Eine Geschichte, die Kreise dreht, vor- und zurückläuft, stagniert oder sich verzweigt, lief dem progressiven Grundgedanken teleologischer Historiografien zuwider. Teleologische Geschichtsforschung wirkt daher im Vergleich weniger ergebnisoffen (vgl. Modernisierungstheorien in Kapitel 13). Die einflussreichste teleologische Historiografie ist die des historischen Materialismus, der historischen Komponente der kommunistischen Ideen des Philosophen Karl Marx (1818–1883). Marx baute dabei auf die Dialektik Hegels auf, welcher welthistorische Ereignisse als das Ergebnis von Thesen und diesen Thesen widersprechenden Antithesen beschrieb. In sich so ergebenen Synthesen würden gesellschaftliche Konflikte nach und nach abgebaut werden. Die Geschichte würde zielgerichtet auf eine Revolution der einfachen Bevölkerung zulaufen. Im Marxismus sind alle historischen Synthesen Ergebnisse von Klassenkonflikten. In den antiken Sklavenhaltergesellschaften sei das Spannungsfeld zwischen den Besitzeigentümern und den unterdrückten Sklav*innen unter dem Eindruck von Aufständen aufgehoben worden. Die ökonomische Produktionsweise habe sich so zum Feudalismus hin entwickelt. Der Feudalismus habe sich unter dem Eindruck bürgerlicher Revolutionen zum Kapitalismus entwickelt, dessen größte Ausuferung der Imperialismus gewesen sei.6 Die nächste weltpolitische Veränderung, welche aus der kapitalistischen These eine sozialistische Synthese werden ließe, benötige eine proletarische Weltrevolution (vgl. Kapitel 12). Mit der Popularität des Marxismus in intellektuellen Kreisen ab Ende des 19. Jahrhunderts und noch mehr, nachdem sich kommunistische Parteien an die Spitze von Staaten positionieren konnten, wie 1949 auf dem chinesischen Festland, wurde das marxistische Geschichtsmodell zum vorherrschenden Narrativ und bestehende Landesgeschichten dementsprechend neu gedeutet. Kommunist*innen in Asien standen dabei vor dem Problem, dass der historische Materialismus auf der Basis europäischer Geschichte konzipiert wurde.

6 Zu dieser Behauptung gelangt Wladimir Iljitsch Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus,“ in Werke, hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus (Ostberlin: Institut für Marxismus-Leninismus, 1960), 191–309.

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Marx bezog sich bei seiner exemplarischen Geschichtsdarstellung nicht auf ökonomische Veränderungen in asiatischen Gesellschaften, sondern stellte deren Geschichtlichkeit durch das Modell der „asiatischen Produktionsweise“ gänzlich in Frage.7 Die kommunistischen Parteien, welche die Sowjetunion und die Volksrepublik China ausriefen, hatten jeweils Agrargesellschaften geerbt, verstanden sich aber der kommunistischen Ideologie entsprechend als Stellvertreter*innen einer proletarischen Revolution. Diese sollte das Großkapitalwesen einer Industrialisierung in die Schranken weisen, die in ihren Ländern noch gar nicht in auszureichendem Maße stattgefunden hatte. Marxistische Historiograf*innen standen also vor der Herausforderung, die bisherige Geschichte Chinas so zu deuten, dass sie überhaupt in das vorgegebene Korsett des historischen Materialismus passen würde.8 Die politische Zielsetzung der marxistischen Geschichtsschreibung wird auch deutlich, wenn zum Beispiel argumentiert wird, die „Befreiung“ Tibets sei unter der Absicht, die tibetische Gesellschaft von den Fesseln des Feudalismus zu befreien und im Sinne des historischen Fortschritts ohne Umwege in die sozialistische Gesellschaft der Volksrepublik zu integrieren, geschehen.9 Während die Geschichte bei der dynastischen Periodisierung unter einer politischen Lupe betrachtet wird, wird sie im historischen Materialismus ökonomisch periodisiert. Dadurch werden wirtschaftliche Kontexte besser sichtbar, während wieder andere Kontexte in den Hintergrund geraten.

3.2.3 Einblick in weitere Periodisierungen Die Anzahl der Periodisierungen, die durch sinologische Historiker*innen vorgeschlagen wurden, ist fast so groß wie die Anzahl der Geschichtsdarstellungen selbst. Viele Periodisierungen orientieren sich grob an der traditionellen Historiografie und unterscheiden sich eher im Detail, etwa durch Zusammenfassung oder Aussparung einzelner Dynastien. Bekannte Ausnahmen sind etwa

7 Vgl. z. B. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Berlin: Dietz, [1939– 1941] 1983), 401. 8 Vgl. Arif Dirlik, „The Universalisation of a Concept. ‘Feudalism’ to ‘Feudalism’ in Chinese Marxist Historiography,“ The Journal of Peasant Studies 12, Nr. 2–3 (1985), 197–227. doi: 10.1080/ 03066158508438268; Rebecca E. Karl, The Magic of Concepts. History and the Economic in Twentieth-Century China (Durham, London: Duke University Press, 2017), 40–72, 113–140. 9 Für eine vergleichende Analyse der Historiografie Tibets vgl. John Powers, History as Propaganda. Tibetan Exiles versus the People’s Republic of China (Oxford, New York: Oxford University Press, 2004).

3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien

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Die chinesische Zivilisation (La civilisation chinoise, 1929) von Marcel Granet (1884–1940) und The Pattern of Chinese Past [Das Muster der chinesischen Vergangenheit] (1973) von Mark Elvin (geb. 1938). Granets Darstellung verwirft die dynastische Periodisierung, um stattdessen anhand politischer Regierungsformen zu gliedern. Er entwirft so das Bild einer Entwicklungsgeschichte von aristokratischen hin zu bürokratischen, militärischen und autokratischen Staatsordnungen.10 Elvin richtet seine Periodisierung auf sozio-ökonomische Veränderungen aus und bezieht sich dabei auch auf technologische und logistische Innovationen.11 Die gewählte Periodisierung hängt am Ende davon ab, welche Geschichte die Historiker*innen erzählen wollen. Während meistens politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Veränderungen im Vorderpunkt stehen, erkundete der Sinologe und Soziologe Marion J. Levy (1918–2002) historische Entwicklungen vor dem Hintergrund sexueller Reproduktion;12 Karl August Wittfogel (1896– 1988) dagegen, ebenfalls Sinologe und Soziologe, zeichnete die Entstehungsgeschichte „hydraulischer Gesellschaften“ und ihrer Kontrolle über das Wasser.13

3.2.4 Neuere Ansätze, 1: Sozialgeschichten In den Geschichtswissenschaften wurden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Gegenentwurf zu allumfassenden Historiografien, die den Anspruch hegten, der Geschichte einen sinnvollen, kontinuierlichen Rahmen zu bieten (sogenannte „Metanarrative“), verstärkt alternative Geschichten geschrieben. Zuvor wurde häufig versucht, Weltgeschichte auf der Ebene hochrangiger politischer Entscheidungsträger*innen zu erzählen. Durch den Fokus auf eine kleine Elite unter Ausklammerung der allgemeinen Bevölkerung wurde die Rolle, die wenigen Führungspersonen zu Gute kommt, aufgewertet. Einen Höhepunkt erlebte diese Art der Geschichtsschreibung Ende des 19. Jahrhunderts, als Historiker wie Thomas Carlyle (1795–1881) Biografien „großer Männer“ verfassten und

10 Marcel Granet, La civilisation chinoise. La vie publique et la vie privée (Paris: Renaissance du livre, 1929). 11 Mark Elvin, The Pattern of the Chinese Past. A Social and Economic Interpretation (Stanford: Stanford University Press, [1973] 1990). 12 Marion J. Levy Jr., The Family Revolution in Modern China (Cambridge: Harvard University Press, 1949). 13 Karl August Wittfogel, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer grossen asiatischen Agrargesellschaft (Leipzig: C. L. Hirschfeld, 1931).

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die Vorstellung propagierten, einige wenige „Genies“ hätten die Weltgeschichte maßgeblich geprägt.14 Komplexe soziale Zusammenhänge und der Einfluss der Massen, welche das Wirken dieser im Nachgang als wichtig erscheinenden Personen erst möglich machten, gerieten so in den Hintergrund. Wird die Geschichte Amerikas als die Geschichte der Vereinigten Staaten begriffen, beginnt sie in vielen Schulbuch-Narrativen frühestens mit der Wiederentdeckung des amerikanischen Kontinents (1492) durch den genuesischen Seefahrer Christopher Columbus (1436–1506) oder mit der Besiedelung durch die Mayflower-Kolonialist*innen (1620). Die Akteur*innen der Geschichte sind wie ihre Geschichtsschreiber*innen maßgeblich weiß: Die verdrängten ursprünglichen Einwohner*innen tauchen, ähnlich wie die schwarzen Sklav*innen und die späteren chinesischen Kulis, bestenfalls als passive Opfer der Kolonialisierung auf, sind aber nicht als handelnde Individuen selbst Protagonist*innen der Geschichte.15 Ähnlich betrachteten festlandchinesische Geschichtsdarstellungen aus den 1950ern ethnische Minderheiten noch als „ausländische Invasoren“ und „rückständige Nomaden“.16 In Rückbezug auf Bemerkungen des französischen Kulturwissenschaftlers Claude Lévi-Strauss (1908–2009) sprechen Historiograf*innen hier von „Meistererzählungen“ im Sinne von Erzählungen aus der Perspektive der „Meister“, das heißt der Unterdrücker*innen und Hegemon*innen. In der „Geschichte von unten“ wurde deshalb ab den 1960ern die allgemeine und insbesondere die unterdrückte Bevölkerung zu Träger*innen historischer Prozesse aufgewertet. Diese Art von Sozialgeschichten beschäftigen sich etwa mit der Rolle der chinesischen Landbevölkerung, mit den Schwarzen in den USA, oder mit den Frauen im europäischen Mittelalter.17

14 Thomas Carlyle, On Heroes, Hero-Worship, and The Heroic in History (London: James Fraser, 1841). 15 Mit der Beobachtung, dass hierarchisch untergeordnete, sozial unterdrückte (sogenannte subalterne) Gruppen vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen und nicht selbst für sich sprechen können, befassen sich die „Subaltern-Studien“ als Teilbereich des Postkolonialismus; vgl. den Standardtext Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?,“ in Marxism and the Interpretation of Culture, hrsg. Cary Nelson und Lawrence Grossberg (Chicago: University of Illinois Press, 1988), 271–313. 16 Nimrod Baranovitch, „Others No More. The Changing Representation of Non-Han Peoples in Chinese History Textbooks, 1951–2003,“ The Journal of Asian Studies 69, Nr. 1 (2010), 85–122: 89–97. 17 Für ein Beispiel aus der sinologischen Geschichtswissenschaft für „Geschichte von unten“, vgl. Frank Dikötter, The Cultural Revolution. A People’s History, 1962–1976 (London: Bloomsbury Press, 2016).

3.2 Chancen und Gefahren verschiedener Historiografien

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3.2.5 Neuere Ansätze, 2: Kulturgeschichten Neben den „Sozialgeschichten“ stellen „Kulturgeschichten“ einen weiteren neueren historiografischen Ansatz dar. Statt der objektiven Entwicklungsgeschichte gesellschaftlicher Gruppen werden Wahrnehmungen, Gefühle und Identitäten des subjektiven menschlichen Lebens historisiert. Dabei wird unter anderem versucht, darzulegen, dass Geschichte nicht nur zwischen und innerhalb politischer Gebilde und gesellschaftlicher Institutionen geschieht, sondern auch Ideen und Konzepte historische Entwicklungen durchlaufen. Bekannte Beispiele sind Foucaults vierbändige Geschichte der Sexualität (1976–2018), Laportes Gelehrte Geschichte der Scheiße (1978) oder, als ein sehr früher Vorläufer, Nietzsches Genealogie der Moral (1887). Für die Region China befasste sich zum Beispiel der niederländische Historiker Frank Dikötter (geb. 1961) mit den Kulturgeschichten der Konzepte Rasse, Sex und Drogen.18

3.2.6 Neuere Ansätze, 3: Mikro- und Globalgeschichten Zusätzlich zur in den Sozial- und Kulturgeschichten problematisierten personellen Beschränkung kann eine räumliche Verengung stattfinden. Eine isolierte „Geschichte Chinas“, die sich über Jahrtausende erstreckt, setzt erstens die Existenz einer Nation als natürliche Einheit voraus, einen sogenannten methodologischen Nationalismus.19 Diese Art der Geschichtsschreibung läuft Gefahr, die Bedeutung historischer Ereignisse auf „chinesischem“ Boden für das Ausland sowie die Bedeutung historischer Ereignisse im Ausland für die chinesische Geschichte zu marginalisieren. Wir setzen von vornerein voraus, dass sich gesellschaftlich festgelegte und historisch wandelbare Landesgrenzen eignen würden, um geschichtliche Ereignisse zu erklären. Dabei lassen wir außer Acht, dass es sich bei einer Nation um eine gewollte, vorgestellte und/oder abstrakte Gemeinschaft handelt, und historische Entwicklungen für gewöhnlich nicht innerhalb dieser von uns gesetzten Grenzen verlaufen.

18 Frank Dikötter, The Discourse of Race in Modern China (London: Hurst, 1992); Frank Dikötter, Sex, Culture and Modernity in China. Medical Science and the Construction of Sexual Identities in the Early Republican Period (Honolulu: University of Hawai’i Press, 1995); Frank Dikötter, Lars Laamann und Zhou Xun, Narcotic Culture. A History of Drugs in China (Chicago: The University of Chicago Press, 2004). 19 Ein Standardwerk, das das Verhältnis zwischen chinesischer Nation und chinesischer Historiografie beleuchtet, ist Prasenjit Duara, Rescuing History from the Nation. Questioning Narratives of Modern China (Chicago, London: University of Chicago Press, 1995).

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3 Historiografie Chinas

Neben der Fokussierung auf ein ausgesuchtes Thema ist daher ein Trend zu sogenannten Mikrogeschichten zu beobachten. Hier werden über sich einen langen Zeitraum (sogenanntes longue durée) erstreckende Historiografien durch Narrative, die zeitlich und räumlich stark begrenzt sind, ersetzt, um die zuvor zu Gunsten historischer Stringenz ausgeklammerte Diversität der menschlichen Geschichte sichtbar zu machen. Indem etwa Provinzen, Gemeinden oder Dörfer für sich genommen historisch analysiert werden, wird die Idee von „China“ als zusammenhängende historische Einheit in Frage gestellt.20 Am anderen Ende des Spektrums versucht seit den 1980ern der Zweig der Globalgeschichte, dem methodologischen Nationalismus in der Geschichtsschreibung entgegenzuwirken, indem sie die Geschichte Chinas und andere Landesgeschichten nicht isoliert betrachtet, sondern in einen globalen Gesamtkontext einbettet.

3.3 Wer schreibt die Geschichte Chinas? Die Chinawissenschaft ist eine Regionalwissenschaft, welche die Region China erforscht. Aufgrund der Namensgleichheit zwischen der Volksrepublik China und der geografischen oder kulturellen Region China herrscht eine hohe Verwechslungsgefahr, welche bei anderen Regionalwissenschaften wie der Afrikanistik oder der Skandinavistik nicht gegeben ist. Es ist zwar sehr gut möglich, sich als Chinawissenschaftler*in mit der Volksrepublik China zu beschäftigen. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass Staaten keine natürlichen Gebilde sind, sondern gemeinsam mit ihrer Geschichte von der Gesellschaft konstruiert werden. Sie sind nicht statisch. Im Verlauf der Geschichte errichteten Menschen eine Vielzahl von Staaten in der Region China. Manche Regierungen identifizierten sich mit der als „zivilisatorisches Zentrum“ erachteten, hochchinesischen Kultur, andere taten dies dagegen nicht (z. B. die Mongolen). Wiederrum wurden einige Regierungen, die sich als kulturell chinesisch begriffen, von der Mehrheitsethnie der Hàn-Chinesen gestellt, andere dagegen nicht (z. B. die Khitan oder die Jurchen). Wenn wir uns wissenschaftlich mit der Region China beschäftigen, ist es wesentlich, zwischen den Kategorien Staat, Kultur, Ethnie und Region zu unterscheiden und Normen des „Chinesischseins“, also der Attribuierung einer Person, Institution, Tradition oder eines Gegenstands als „chinesisch“, kritisch zu analysieren.

20 Beispielsweise Jie Li, Shanghai Homes. Palimpsests of Private Life (New York: University of Columbia Press, 2015); Huping Ling, Chinese St. Louis. From Enclave to Cultural Community (Philadelphia: Temple University Press, 2004).

3.3 Wer schreibt die Geschichte Chinas?

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3.3.1 Der Blickwinkel der Historiograf*innen Der oben genannte John K. Fairbank popularisierte 1954 gemeinsam mit dem Sinologen Têng Ssu-yü (Dèng Sìyǔ 鄧嗣禹, 1906–1988) das sogenannte „Impact–Response-Modell“ (Aufprall und Antwort).21 Dieses Paradigma, welches die Sinologie für Jahrzehnte prägte, ging davon aus, dass Eindrücke aus dem Westen (zunächst technische Überlegenheit und militärische Aggressionen, später auch gesellschaftliche Innovationen) ab dem 19. Jahrhundert zu historischen Veränderungen in China geführt hätten. Entwicklungen der späten Kaiserzeit und der frühen chinesischen Republik werden hier aufgefasst als Reaktionen auf Ideen, Ideologien und Geschehnisse, die sich außerhalb Chinas abgespielt haben. Der Historiker Paul A. Cohen (geb. 1934), selbst ein Schüler Fairbanks, propagierte dagegen ab 1984 als Gegenentwurf zum „Impact–Response-Modell“ Fairbanks den „China-zentrischen Ansatz“.22 In diesem Denkansatz wurden Erklärungsversuche favorisiert, die sich auf historische Entwicklungen in China selbst konzentrieren. So sollte vermieden werden, dass China in der Weltgeschichte nur als auf Außeneinflüsse reagierendes Objekt, statt als selbstständiges und aktiv agierendes Subjekt dargestellt wird. In eine ähnliche Richtung ging die Kritik des japanischen Sinologen Mizoguchi Yūzō 溝口 雄三 (1932– 2010). Er kritisierte, dass die historische Analyse Chinas häufig nicht dem Erkenntnisgewinn über China selbst gedient habe, sondern dem besseren Verständnis von Zusammenhängen außerhalb Chinas. Zudem seien Modelle und Methoden, die anhand der europäischen Geschichte entwickelt wurden, als Prämisse vorausgesetzt worden, statt diese erst anhand des chinesischen Quellenmaterials zu entwickeln. Mizoguchi schrieb: China ist an den Normen der Welt gemessen worden. Diese „Welt“ ist nichts als eine konzeptualisierte Welt, eine Welt der starren und vorbestimmten Methode gewesen. [. . .] Dass die Welt als Methode für China angenommen wurde, bedeutet, dass die Welt nichts als Europa gewesen ist.23

21 John K. Fairbank and Ssu-yü Têng, Hrsg. China’s Response to the West: A Documentary Survey, 1839–1923 (Cambridge: Harvard University Press, 1954). 22 Paul A. Cohen, Discovering History in China: American Historical Writing on the Recent Chinese Past (New York City: Columbia University Press, 1984). 23 [Übersetzung durch den Autor.] Mizoguchi Yūzō 溝口 雄三, Hōhō toshite no chūgoku 方法 としての中国 (Tokyo: Tōkyō daigaku shuppan kai 東京大学出版会, 1989). Übersetzt in Mizoguchi Yūzō, „China as Method.“ Inter-Asia Cultural Studies, Nr. 4 (2016): 513–518. doi: 10.1080/ 14649373.2016.1239447.

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3 Historiografie Chinas

Statt historische Entwicklungen in China mittels ursprünglich anhand von Beobachtungen in Europa formulierter Schablonen zu analysieren, sollen Chinawissenschaftler*innen gemäß Mizoguchi ihre Methode erst anhand ihrer Beobachtungen über China entwickeln. Eine Umkehrung des china-zentrischen Modells kommt ausgerechnet aus China selbst. Der Historiker Gě Zháoguāng 葛兆光 (geb. 1950) vertritt die Devise „China aus der Peripherie betrachten“ (cóng zhōubiān kàn Zhōngguó 從周邊看 中國).24 Kulturelle und ethnische Aspekte der chinesischen Geschichte könnten nur durch die Interaktion mit dem Fremden (dem „Anderen“), also den angrenzenden Randvölkern, erklärt werden. Statt der Eigenwahrnehmung soll hier also die Fremdwahrnehmung Auskunft über das Wesen Chinas liefern.

3.3.2 Die Verortung der Bevölkerungen Der Forschungsgegenstand der Chinastudien ist schwer zu fassen. Als Regionalwissenschaft, die sich mit der Fremdbezeichnung „China“ (lateinisch sina, altgriechisch Sînai) beschäftigt, beschäftigen sich die Chinastudien einer gängigen etymologischen Herleitung nach zwar strenggenommen mit dem historischen Gebiet der Qín-Dynastie (221–206 v. u. Z., altchinesische Aussprache /*[dz]i[n]/) und ihren durch die maritime Seidenstraße bekannten südlichen Kaufleuten. Wie wir aber im ersten Kapitel erarbeitet haben, ist der geografische Raum Chinas historisch wandelbar, denn verschiedene Dynastien, die von Historiografen als „chinesisch“ identifiziert wurden, übten auf unterschiedlich große Räume unterschiedlich großen Einfluss aus. Deuten wir den Begriff „China“ nicht nur als geografischen, sondern auch als kulturellen Raum, vergrößern wir die Möglichkeiten, das Feld der Chinastudien zu definieren. Wenn wir eine „Geschichte Chinas” schreiben, stehen wir vor der nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch politischen Herausforderung, zu begründen, was wir als „chinesisch“ erachten. Ein typischer Streitpunkt, in welchem sich die Ambivalenz des „Chinesischseins“ wiederspiegelt, ist die Bewertung der mandschurischen Qīng-Dynastie (1644–1912). Diese regierte über die Mandschurei, das chinesische Kerngebiet, die Mongolei, Tuva, Xinjiang (Ostturkestan), Tibet, Yunnan und die Insel Taiwan. In der klassischen akademischen Historiografie Chinas herrschten zwei

24 Gě Zháoguāng 葛兆光, Zhái zī Zhōngguó: Chóngjiàn yǒuguān Zhōngguó de lìshǐ 宅茲中國:重 建有關”中國”的歷史 [Im Reich der Mitte residieren. Abhandlung zur Erneuerung der Geschichten über „China“] (Beijing: Zhōnghuá shūjú 中华书局, 2011).

3.3 Wer schreibt die Geschichte Chinas?

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Grundannahmen: 1. Die Mandschur*innen hätten sich über die Jahrhunderte ihrer Herrschaft nach und nach kulturell „sinisiert“, ihr Reich sei also kaum noch als Fremdherrschaft wahrnehmbar gewesen; und 2. Das Konzept „China“ sei vorwiegend nicht ethnisch, sondern kulturell zu verstehen. Das heißt, dass auch nicht-hochchinesische Bevölkerungen und Landesgebiete, die Teil des mandschurischen Reichs gewesen sind, als Teil „Chinas“ verstanden werden könnten.25 Seit den 1990ern wird diese Auffassung von Vertreter*innen der „New Qing History“ in Frage gestellt. Sie weisen auf mandschurische Institutionen und eine fortbestehende mandschurische Identität in der Qīng-Zeit hin und sehen in „China“ nur einen Teil eines multiethnischen Imperiums.26 Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Nationalismus für politische Dissident*innen wie Sun Yat-sen (Sūn Zhōngshān 孫中山, 1866–1925) und Zōu Róng 鄒容 (1885–1905) zu einem wichtigen rhetorischen Mittel im Kampf gegen die als Fremdherrschaft aufgefasste mandschurische Dynastie. In einer ersten Phase versuchten die Nationalist*innen, einen Herrschaftsanspruch der hochchinesischen Hàn-Ethnie zu konstruieren und bedienten sich dabei auch chauvinistischen und rassistischen Theorien. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde diese Grundhaltung zu großen Teilen von einem neuen Nationalismus abgelöst: Statt einer einzigen hochchinesischen Nationalität sollte es jetzt mehrere chinesische Nationalitäten (Zhōnghuá mínzú 中華民族) im Plural geben, die gemeinsam auf dem Territorium des alten Imperiums und der neuen Republik leben sollten. Die fünf größten Gruppen, die Hàn, Mandschu, Mongol*innen, Tibeter*innen und muslimischen Huí, fanden als fünf Farben auf der neuen Nationalflagge ihre Repräsentation. Auf der sprachlichen Ebene wurden die meisten sino-tibetischen Sprachen in China zu Dialekten ähnelnden „Regiolekten“ umgedeutet, um eine größere nationale Einheit zu suggerieren. Tatsächlich handelt es sich der wissenschaftlichen Definition nach um eigenständige Sprachen, deren Sprecher*innen sich gegenseitig nicht verstehen können. Für Chinaforscher*innen stellt sich ein methodisches Problem. Verwenden wir das Attribut „chinesisch“, während unser Forschungsgegenstand ausschließlich hochchinesisch (Hàn 漢) ist, blenden wir ethnonationale Minderheiten aus.

25 Eine Verteidigung dieser Sichtweise findet sich bei Ping-ti Ho, „In Defense of Sinicization. A Rebuttal of Evelyn Rawski’s ‘Revisioning the Qing’,“ The Journal of Asian Studies 57, Nr. 1 (1998), 123–155. doi: 10.2307/2659026. 26 Standardtexte dieser historiografischen Schule sind Evelyn S. Rawksi, „Presidential Address. Reenvisioning the Qing. The Significance of the Qing Period in Chinese History,“ The Journal of Asian Studies 55, Nr. 4 (1996): 829–850. doi: 10.2307/2646525; Mark C. Elliott, The Manchu Way. The Eight Banners and Ethnic Identity in Late Imperial China (Stanford: Standford University Press: 2002).

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3 Historiografie Chinas

Der Vorwurf des Hànzentrismus liegt nahe, denn die hochchinesische Mehrheit gewinnt in unserer Analyse die Deutungshoheit und steht stellvertretend für ein eigentlich viel diversifizierteres China. Beschränken wir uns dagegen nicht auf die Hàn, sondern beziehen sowohl die sinitischen Minderheiten, wie auch Tibeter*innen, Mongol*innen und andere Ethnonationalitäten auf chinesischem Territorium in unsere China-Analyse ein, machen wir uns unter Umständen zu Kompliz*innen einer politischen Deutung. Als Anschauungsbeispiel soll das staatlich finanzierte „Nordost-Projekt“ (Dōngběi gōngchéng 東北工程, 2002–2007) der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) dienen: Hier wurden protokoreanische Königreiche auf dem Gebiet der heutigen Mandschurei, wie Koguryŏ (37–668) und Parhae (698–926), unter der Prämisse einer multiethnischen, rein kulturellen Definition Chinas untersucht. Der südkoreanische Staat versteht diese Gebiete wiederum als Teil seiner eigenen Geschichte und kritisierte das Projekt.27 Durch den Rückbezug auf vergangene Zeiten und die Konstruktion einer ununterbrochenen chinesischen Historiografie lassen sich inhärent chinesische Gebietsansprüche formulieren. Diesen entgegen stehen die Vorwürfe, das Staatsgebiet der Volksrepublik China sei die Fortführung eines illegitimen mandschurischen Imperiums. Eine neuere Forschungsrichtung innerhalb der Chinastudien, die sich kritisch mit der Konzeptualisierung der hochchinesischen Hàn auseinandersetzt, ist die der Hàn-Studien. Ironischerweise wird konträr zu dieser neuen, westlichen Begriffsschöpfung im chinesischen Sprachgebrauch die gesamte Disziplin der Chinastudien allgemein zu Hàn-Studien (Hànxué 漢學) erklärt, der Forschungsgegenstand China also a priori mit dem der Hàn gleichgesetzt. Für Wissenschaftler*innen ist es wichtig, „über den Dingen“ zu stehen und sich der sozialen Konstruktion ethnonationaler Kategorien bewusst zu werden. Statt uns dieser Kategorien in unserer Forschung unreflektiert zu bedienen, indem wir sie zum Teil des Objektivs machen, durch die wir unseren Forschungsgegenstand betrachten, sollten wir die ethnonationalen Kategorien selbst auf Distanz durch ein Objektiv untersuchen. Aufbauend auf Studien zu Übersee-Chines*innen des australischen Historikers Wang Gungwu (Wáng Gēngwǔ 王賡武, geb. 1930) popularisierte die taiwanische Komparatistin Shu-mei Shih (Shǐ Shūměi 史書美, geb. 1961) den Begriff der Sinophonität. Es handelt sich um eine linguistische Definition des Chinesischseins: Statt sich auf ein ausgewähltes Territorium zu beschränken, ist China hier ein kultureller Raum und findet auch im nicht-chinesischen

27 Vgl. Hyun-jin Seo, „Beijing Pledges Not to Stake Claim to Goguryeo in History Textbooks.“ The Korea Herald, 25.08.2004.

3.5 Begriffe

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Ausland, etwa in US-amerikanischen und europäischen Chinatowns, statt. Auf einer Karte ist China dann nicht mehr eindeutig zu verzeichnen, sondern ist in graduellen Schattierungen omnipräsent. Auslandschines*innen können eine nicht-chinesische Staatsbürgerschaft besitzen, aber gleichzeitig als „chinesisch“ wahrgenommene Praktiken ausführen und sich graduell als chinesisch identifizieren. Sinophone Geschichtsschreibungen beschränkten sich also nicht mehr auf die Geschichte eines Landes.

3.4 Fazit Historiker*innen geben der Geschichte einen Rahmen, indem sie ihre Narrative räumlich und zeitlich begrenzen, in dem sie ausgesuchte soziale und ethnische Gruppen als Akteur*innen identifizieren, und indem sie ausgewählte Ereignisse als wesentliche Teile innerhalb einer von ihnen festgelegten Entwicklungsgeschichte kontextualisieren. Unsere Vorstellung von „China“ wird maßgeblich davon geprägt, welche Menschengruppen, historische Ereignisse und Gebiete als Bestandteil einer „chinesischen“ Geschichte erfasst werden. All das bedeutet nicht, dass wir die Geschichtswissenschaften als subjektiv und unwissenschaftlich aburteilen können. Es bedeutet allerdings, dass wir uns der Interpretationsvielfalt von Geschichten bewusst sein müssen und ihre Wirkkraft kritisch reflektieren sollten.

3.5 Begriffe Chinesischsein – Attribuierung einer Person, Institution, Tradition oder eines Gegenstands als „chinesisch“ Dynastiegeschichte – Grundlegende Werke der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung, welche historische Epochen mit dem Aufstieg und Fall ausgewählter Kaiserhöfe gleichsetzt Geschichte – Entwicklungen der Vergangenheit ab dem Beginn schriftlicher Überlieferungen Hàn– Imaginierte ethnonationale Kategorie des „Hochchinesischen“ Hànzentrismus – Ethnochauvinistische Geisteshaltung, welche eine Überlegenheit der Hàn impliziert Historiografie – (Studium der) Geschichtsschreibung Historischer Materialismus – Marxistische Theorie, welche den Ablauf der Geschichte vorrangig als eine zielgerichtete Entwicklung ökonomischer Prozesse darstellt

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3 Historiografie Chinas

Methodologischer Nationalismus – Forschungsblickwinkel, der den Nationalstaat als natürliche Analyseeinheit voraussetzt Nation – Gewollte, vorgestellte und/oder abstrakte Gemeinschaft Sinophonität – Über die chinesischen Sprachen definierte kulturelle Kategorie Urgeschichte – Archäologisch rekonstruierbare Entwicklungen vor dem Beginn schriftlicher Überlieferungen; auch Vorgeschichte genannt

3.6 Vorschläge zur Vertiefung Ge, Zhaoguang. What is China? Territory, Ethnicity, Culture, and History. Cambridge: Harvard University Press, 2018. Jordan, Stefan (Hrsg.). Lexikon Geschichtswissenschaft: Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam, [2002] 2010. Mullaney, Thomas S. (Hrsg.). Critical Han Studies: The History, Representation, and Identity of China’s Majority. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2012. Szonyi, Michael (Hrsg.). A Companion to Chinese History. Hoboken: Wiley-Blackwell, 2017. Wilkinson, Endymion Porter. Chinese History. A Manual. Cambridge, London: Harvard University Press, 2000.

3.7 Transferaufgaben 3.7.1 Wörter schreiben Geschichte Diskutieren Sie die Konnotation der folgenden Begriffspaare, die jeweils dasselbe Ereignis oder Phänomen meinen. Rebellion – Aufstand Zwangsprostitution – Trostfrauen Vorfall – Massaker Angriffskrieg – Militärschlag Militärverbrechen – Kollateralschaden Dunkles Zeitalter – Frühes Mittelalter Befreiungskrieg – Unabhängigkeitskrieg Seperatist*innen – Patriot*innen Pazifizierung – Annexion

3.7 Transferaufgaben

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3.7.2 Chinesischsein und Deutschsein Informieren Sie sich über die Kategorien der deutschen Kultur, Sprache und Staatsbürgerschaft, über in Deutschland anerkannte nationale Minderheiten, sowie über die Konzepte „Leitkultur“ und „Multikulturalismus“. Wie gebrauchen Sie den Begriff „Deutsch“ im Alltag und welche Parallelen oder Unterschiede gibt es zum Begriff des „Chinesischseins“? Diskutieren Sie darauf aufbauend auch die Begriffe Hànyǔ 漢語 („Sprache der Hàn“), Huáyǔ 華語 („Sprache der kulturell chinesischen Nationalitäten“) und Guóyǔ 國語 („Landessprache“), die allesamt die gleiche hochchinesische Sprache meinen. Welches Verständnis von „Chinesischsein“ implizieren die Begriffe?

3.7.3 Chinesische Geschichte und Weltgeschichte Erinnern Sie sich an Ihren Kontakt mit chinesischer Geschichte vor Aufnahme Ihres Studiums. Wie schätzen Sie den Stellenwert außereuropäischer, insbesondere ostasiatischer und chinesischer Geschichte im Schulunterricht und in der Öffentlichkeit, beispielsweise im Angebot von Fernsehdokumentationen, ein? Überlegen Sie auch, welche Gründe es für den aktuellen Stellenwert chinesischer Geschichte geben könnte.

4 Chinastudien und Literaturwissenschaft Merle Schatz Zusammenfassung: Immer, wenn wir mit Literatur wissenschaftlich arbeiten, kommen Literaturtheorien dabei zum Einsatz. Diese Theorien sind sehr unterschiedlich, weil einerseits das Forschungsinteresse einen spezifischen Blick auf Literatur einnimmt und folglich einen theoretischen Zugang für das Beschreiben und Verstehen auswählt. Andererseits ist auch der Gegenstand der Literatur mit seinen Autor*innen und Leser*innen komplex und vielschichtig. Im vorliegenden Kapitel wird nach einer kurzen Einführung in die chinesische Literaturgeschichte die Methode der sozialgeschichtlichen Analyse näher vorgestellt. Dieser Ansatz kommt in sinologischer literaturwissenschaftlicher Forschung häufig zum Einsatz. Es ist ein praktikabler Zugang, um in das Thema Literaturtheorie als Handwerk der sinologischen Literaturwissenschaft einzusteigen, da er Textanalyse mit gesellschaftlichen und sozialen Ereignissen in Verbindung bringt. Im dritten Teil wird ein Praxisbeispiel vorgestellt.

4.1 Literaturwissenschaft Gegenstand der Literaturwissenschaft (chin. wénxué yánjiū 文學研究) ist die Literatur: Was ist Literatur, was ist die Literatur Chinas und was heißt es, Literaturen Chinas zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren?1 Literarische Texte fallen in Bezug auf Form, Sprache und Inhalt ganz unterschiedlich aus. Während uns die einen Texte unterhalten sollen, sollen uns die anderen sachlich informieren und wieder andere sollen unsere Phantasie anregen und Gedanken beflügeln, sodass es bei diesen Texten weniger um Fakten als um Vorstellungsvermögen der Leser*innen geht. So handelt es sich bei Literatur offenbar nicht nur um objektive Texte, die neutral und intentionslos vorliegen und immer gleich gelesen und verstanden werden. Vielmehr spielen neben der Form auch die Autor*innenschaft und die Leser*innen als Rezipienten eine maßgebliche Rolle, wenn Literatur geschrieben

1 Hierzu auch Thomas Sturm, „Literaturwissenschaft“ in Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hrsg. Brunhild Staiger (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), 452–453. Danksagung: Herzlicher Dank gilt Lena Henningsen für ihre wichtigen Hinweise und Kommentare sowie für die „Erprobung“ dieses Kapitels im Unterricht. https://doi.org/10.1515/9783110665024-005

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

und gelesen wird. Literarische Texte werden in unterschiedliche Gattungen eingeteilt und so finden wir auch in der chinesischen Literatur (a) Werke der Dramatik, also die dialogische handelnde Dichtung in Form von Tragödien, Komödien, Tragikomödien, (b) Werke der Epik, also die erzählende Literatur wie etwa Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen, Märchen und Legenden, aber auch Biographien und Essays, und (c) Werke der Lyrik wie etwa Gedichte, Balladen, Lieder, also eine gebundene Sprache in Versen und die Einteilung in Strophen. Aber die in der europäischen Geschichte übliche Zeiteinteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, entlang derer unterschiedliche literarische Gattungen zugeordnet werden können, findet in der Literaturgeschichte Chinas keine Anwendung. Hier erfolgt überwiegend eine Zuordnung entlang der Dynastien, die mitunter ganz unterschiedliche Gattungen hervorbrachten oder förderten. Allerdings ist in beiden Fällen zu beachten, dass literarische Strömungen nicht eindeutig entlang historischer Zeiteinteilungen festgelegt werden können, weil sie sich auch darüber hinaus entwickelten und verbreiteten. Dennoch werden in der chinesischen Literaturgeschichte einzelne Gattungen oftmals auch bestimmten Dynastien zugeordnet, wie beispielsweise das Yuán-Drama der Yuán-Dynastie (1279–1368). Auch haben technische Entwicklungen, etwa die Erfindung des Blockdrucks im siebten Jahrhundert, dazu beigetragen, dass sich in der Folge Literaturen verändert haben, vervielfältigt und verbreitet werden konnten. Eine weitere Frage ist, ob man eigentlich überhaupt die gängigen europäischen Einteilungen von Literatur auf die Literaturen Chinas übertragen darf, die bereits für das beginnende erste Jahrhundert vor unserer Zeit fassbar sind, also zu einer Zeit, als es im europäischen Raum derartiges noch nicht gab. Der Begriff wén 文 steht für „Schrift“, „Sprache“, „Literatur“, für „Förmlichkeit“, aber auch für „Kultur“ im weitesten Sinne und verweist somit auf die Verflechtung des Literaturbegriffs mit dem, was oftmals mit dem Begriff Kultur in Zusammenhang gebracht wird.2 Den Sinolog*innen liegen verschiedene Werke zur Literaturgeschichte Chinas vor und man kann sich einen guten Überblick über die einzelnen literarischen Strömungen in historischer Perspektive verschaffen (siehe Literaturhinweise am Kapitelende). Im Folgenden wird ein grober Abriss über ausgewählte Schwerpunkte in der Literaturgeschichte Chinas gegeben,3 der zum Recherchieren über die unterschiedlichen Literaturen Chinas in historischer Perspektive anregen mag.4

2 Das Neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch (Beijing, 1985), 846. 3 Für seine wertvollen Hinweise hierzu danken wir Viatcheslav Vetrov recht herzlich. 4 Ein zusammenfassender Überblick auch bei Heldwig Schmidt-Glintzer et al, „Literatur,“ in Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hrsg. Brunhild Staiger (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003), 440–444.

4.2 Kurzer Abriss der chinesischen Literaturgeschichte

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4.2 Kurzer Abriss der chinesischen Literaturgeschichte Die chinesische Literatur beinhaltet zum einen traditionelle Dichtung, die in enger Verbindung zu den Künsten der Malerei und Kalligrafie stand, etwa die fù 賦-Dichtung („poetische Beschreibungen“ oder „Rhapsodien“) in der HànDynastie, die shī 詩-Gedichte der Táng-Dynastie, die cí 辭-Gedichte der Sòng Dynastie und das qǔ 曲-Drama der Yuán-Dynastie, die allesamt als große literarische Leistungen im Bereich der Dichtkunst der jeweiligen Zeit und darüber hinaus angesehen sind. Zum anderen entwickelten sich über die etwa letzten 2500 Jahre in China, beginnend mit den Schriften aus der Zeit vor der QínDynastie (221–206 v. u. Z.), bis hin zu den belletristischen Formen der Gegenwart, zahlreiche unterschiedliche literarische Formen, die uns über die chinesischen Gesellschaften, ihre Gedankenwelten, Gewohnheiten und soziopolitischen Entwicklungen informieren. Im Folgenden sollen ausgewählte Entwicklungen kurz erwähnt werden.5

4.2.1 Zhōu-Dynastie (ca. 1046–256 v. u. Z.) bis Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien (Nánběicháo, 420–581) Bedeutend für diese Zeitspanne sind zwei literarische Sammlungen: Die älteste Sammlung von 305 Gedichten findet man im Buch der Lieder (Shījīng 詩經), das zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. u. Z. kompiliert wurde: 160 nach Vasallenstaaten geordnete Volkslieder (fēng 風), 74 kürzere Festlieder (xiǎoyǎ 小 雅), 31 längere Festlieder (dàyǎ 大雅), die bei Zeremonien eingesetzt wurden, und 40 Hymnen (sòng 頌) zu Ehren der Ahnen der Shāng- und Zhōu-Dynastie. Die zweite Gedicht-Sammlung ist das Chǔcí 楚辭 (Die Gesänge der Chǔ), einem Königreich im Gebiet des heutigen Süd-China, das während der Westlichen Zhōu-Dynastie (1046–771 v. u. Z.), der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (722–481 v. u. Z.) und der Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. u. Z.) bestand. Es beinhaltet politische Gedichte, schamanische Gesänge sowie Rätsel zu mythologischen Themen. Zudem entstand in diesem Zeitraum auch das Genre der fù-Dichtung, „poetische Beschreibungen“ oder „Rhapsodien“, das besondere Bedeutung in der HànDynastie (206 v. u. Z.–220 u. Z.) erlangte und ein wichtiges Genre in der chinesischen literarischen Tradition blieb. Sīmǎ Xiāngrú 司馬相如 (179–117 v. u. Z.) wird hier als der bedeutendste und sprachgewaltigste fù-Dichter angesehen.

5 Viktor H. Mair (Hrsg.), The Shorter Columbia Anthology of Traditional Chinese Literature (New York: Columbia University Press, 2000).

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Ebenso entstanden Standard-Historiografien Chinas, beispielsweise das Shǐjì 史記 („Aufzeichnungen des Historiografen“). Hierbei handelt es sich um das erste bedeutende Beispiel chinesischer Geschichtsschreibung, verfasst von dem Historiker und Literat Sīmǎ Qiān 司馬遷 (gest. 86 v. u. Z.). Es ist ein universales Geschichtswerk, das als Vorbild für die offizielle Geschichtsschreibung diente. Es ist daher auch die erste der sogenannten 24 Dynastiegeschichten, die von der Zeit um das 2. Jahrhundert v. u. Z. bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammengestellt wurden. Das Shǐjì beschreibt die chinesische Geschichte von den mythologischen Anfängen bis zur frühen Hàn-Dynastie und beinhaltet chronologische Tabellen wichtiger Ereignisse am Hof und unter anderem Ausführungen zu Astronomie, Astrologie, Riten, Musik, Wirtschaft und Bewässerung. Ein weiteres Werk ist das Buch der Hàn (Hànshū 漢書), das die Zeit der Westlichen Hàn-Dynastie und der kurzen Herrschaftszeit Wáng Mǎngs 王莽 (45 v. u. Z.–23. u. Z.) beschreibt. Zudem wurden später zwei weitere Werke des 6. Jahrhunderts auch zu literarischen Klassikern: Zum einen das Wénxuǎn 文選 („Auswahl von Literatur“), die frühste ausführliche chinesische Anthologie sortiert nach Themen wie Befehlen, Anordnungen, Mahnmälern, Prüfungsanweisungen, Kriegs-Proklamationen, prophetischen Zeichen, Klagen oder Beileidsbekundungen. Das Wénxuǎn wurde zu einem der wichtigsten Texte, die später für die Beamtenprüfung erlernt werden mussten. Zum anderen entstand das wénxīn diāolóng 文心雕龍 („der literarische Ausdruck des Herzens und das Schnitzen von Drachen“). Es beschreibt literarische Genres in ihrer historischen Entwicklung und wird traditionell als ein einflussreiches Traktat chinesischer Literaturtheorie und -philosophie angesehen. Zur Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien (Nánběicháo 南北 朝, 420–581) wurde auch kunstvolle und dezente kaiserliche Hof-Dichtung entwickelt.

4.2.2 Táng-Dynastie (618–907) und Sòng-Dynastie (960–1279) In dem Zeitraum vom 7.–13. Jhd. wurde das rhythmische, in fünf oder sieben Zeichen-Zeilen geschriebene shī-Gedicht bekannt, das sich aus dem yuèfǔ 樂府 (Dichtform aus dem 2. Jhd. v. u. Z.) entwickelte und die chinesische Lyrik bis in die Moderne prägte. Die shī-Dichtung erreichte in der Táng-Dynastie ihren Höhepunkt und verbreitete sich auch in der Sòng-Dynastie. Táng-Dichter wie Dù Fǔ 杜甫 (712–770) und Lǐ Bái 李白 (701–762) werden als große Dichter Chinas verehrt. Eines der bekanntesten Gedichte von Lǐ Bái ist Yè sī 夜思 („Nachtgedanken“). In der Táng-Dynastie entstanden auch die cí-Gedichte, die dann in der SòngDynastie zur Vollendung kamen. Cí sind in Versform verfasst und beinhalten

4.2 Kurzer Abriss der chinesischen Literaturgeschichte

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markante prosodische Merkmale. Oft drückten sie Sehnsuchtsgefühle (teils von fiktiven Personen) aus, aber die bekanntesten Vertreter wie Lǐ Hòuzhǔ 李後主 (ca. 937–978) und Sū Shì 蘇軾 (1037–1101), auch bekannt unter dem Namen Sū Dōngpō 蘇東坡, benutzten sie auch, um eine Vielzahl von Themen aus dem Leben anzusprechen. In der Táng- und Sòng-Dynastie lehnten einige Gelehrte die kunstvolle Ausdrucksweise, die mit dem Hof assoziiert wurde, ab und befürworteten eine literarische Form, die auf alten klassischen Prinzipien beruhte, diese zwar nicht imitierte, aber Ideale wie Klarheit, Originalität und Praktikabilität innovativ umsetzten.

4.2.3 Yuán-Dynastie (1279–1368), Míng-Dynastie (1368–1644) und QīngDynastie (1644–1912) In dem Zeitraum dieser drei Dynastien, also etwa vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, kamen als literarische Gattung die Dramenliteratur und Erzählliteratur auf. Yuán-Dichter hatten zahlreiche Vorbilder, an denen sie sich orientierten und so oftmals etablierte dichterische Formen beibehielten. Aber es entwickelten sich neben diesen alten dichterischen Formen auch die Arien, die später qǔ genannt wurden. Als qǔ wurden in China seit dem Altertum Gesänge oder Gedichte bezeichnet, die für den öffentlichen Vortrag gedacht waren. Erst seit dem 15. Jahrhundert wurde dieser Ausdruck für die Arien der Yuán-Zeit reserviert, die man zu ihrer Zeit noch cí oder yuèfǔ nannte.6 Die qǔ hatten eine typische dichterische Form mit Versen in festen Tonmustern, die teils gesprochen, teils gesungen dargeboten wurden. Auch wenn die Sprache dieser Darbietungen generell dem klassischen Chinesisch zugeordnet wird, lassen sich auch umgangssprachliche Elemente in den Dichtungen finden. Soziale und politische Veränderungen, die die Gesellschaften Chinas zur Zeit der Mongolenherrschaft prägten, finden sich auch in dieser Dichtung wieder. Theater gab es schon vor der Mongolenzeit, jedoch wohl ohne musikalische Bestandteile. Das änderte sich erst unter den Mongolen, als sich das zájù 雜劇 entwickelte. Hierbei handelte es sich um eine Form des chinesischen Dramas, das zu Unterhaltungszwecken aufgeführt wurde und die Rezitation von Prosa sowie Dichtung mit Gesang, Tanz und Mimik kombinierte und oftmals ein unterhaltsames komisches Ende beinhaltete. Die hier entwickelten Gesten und Bewegungen kommen auch im gegenwärtigen chinesischen Theater noch zur Anwendung.

6 Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur: von den Anfängen bis zur Gegenwart (München: C.H. Beck, 2. Auflage, 1999), 398 f.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Das berühmteste Drama der Mongolenzeit, ein wichtiges Theaterstück Chinas, ist die Geschichte vom Westzimmer (Xīxiāngjì 西廂記), das in der TángDynastie spielt. Das Drama verbreitete sich sehr schnell im Volk und fand zahlreiche Erwähnungen in späteren Romanen der Míng- und Qīng-Zeit. Die Geschichte vom Westzimmer handelt von einer Liebesgeschichte zwischen einem Examenskandidaten und der Tochter eines Staatsministers und gehörte schon bald zum allgemeinen Bildungsgut. In der Míng- und Qīng-Dynastie wurden klassische und umgangs-sprachliche Romane zu dominanten literarischen Formen. Die Werke Die Geschichte der Drei Reiche (Sānguó yǎnyì 三國演義), um 1390; Die Räuber vom Liang-Shan-Moor (Shuǐhǔ Zhuàn 水滸傳), um 1573; Die Reise nach Westen (Xīyóujì 西遊記) um 1590 und Traum der Roten Kammer (Hónglóumèng 紅樓夢 ) um 1750 bis 1792 gelten als die vier klassischen Romane (sì dà míngzhù 四大名著) der chinesischen Literatur, wobei wohl der Roman Pflaumenblüte in der goldenen Vase (Jīnpíngméi 金瓶梅) um 1596 bis 1610 hier auch erst gelistet war, dann aber mit dem Traum der Roten Kammer ausgetauscht wurde. In der Míng-Dynastie setzte sich eine einflussreiche literarische Gruppe, Gōng‘ān pài 公安派, benannt nach dem Ort ihrer Gründung Gōng‘ān in der Provinz Húběi, gegen das Plagiieren ein. Sie verurteilten Dichter*innen, die blind die Werke von Táng- und Sòng-Dichter*innen kopierten. Sie favorisierten umgangssprachlichen Stil, Individualität sowie Spontanität und wurden wiederum selbst für ihren laxen Schreibstil kritisiert.

4.2.4 Republik China (1912–1949) In der Zeit von 1912 bis 1945 wird die Bewegung des 4. Mai 1919 als Wendepunkt für die Literaturgeschichte Chinas in „modern“ und „vormodern“ eingeteilt. Die Studierendenproteste, die ihren Höhepunkt am 4. Mai 1919 erreichten, ergaben sich aus kulturellen und nationalen Erneuerungsbestrebungen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert abzeichneten und aus denen sich die Neue Kulturbewegung (Xīn wénhuà yùndòng 新文化運動) formte. Im Rahmen dieser Bewegung enstand ein zunehmend stärkeres nationales Bewusstsein. Westliche Denkrichtungen und westliche Demokratien wurden attraktiv, die antijapanische Bewegung setzte ein, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wurde gegründet, alte Familiensysteme aufgelöst, die Emanzipation der Frau diskutiert, traditionelle konfuzianische Traditionen wurden kritisch hinterfragt und abgelehnt. All dies fand ihren Niederschlag in einer sogenannten literarischen Revolution. Die Neue Kulturbewegung öffnete die Tür für westliche Literatur und westliche Konzepte von Wissenschaft und Demokratie. Mitglieder der Bewegung, etwa die

4.2 Kurzer Abriss der chinesischen Literaturgeschichte

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Schriftsteller Lǔ Xùn 魯迅 (1881–1936) und der Philosoph Hú Shì 胡適 (1891–1962), setzten sich dafür ein, dass Lyrik in Umgangssprache und nicht weiterhin in klassischer Schriftsprache verfasst werden sollte, damit das Volk die literarischen Schriften lesen und verstehen konnte. Die klassische Schriftsprache wurde als Hindernis für Volksbildung und Wissenschaft gesehen. Als erste Zeitschrift erschien die Neue Jugend (Xīnqīngnián 新青年) ab 1918 gänzlich in Umgangssprache. Essays und Erzählungen zählten zu den beliebtesten Formen dieser Neuen Literatur. Die Schriftstellerin Dīng Líng 丁玲 (1904–1986) war eine bedeutende Vertreterin der Literatur der Republikzeit. Ihr literarisches Frühwerk (1926–1929) betont weiblichindividualistische Züge, unter anderem wählte sie die Tagebuchform. Bekannt wurde sie mit der Erzählung Tagebuch des Fräulein Sophie (Suōfēi Nǚshì de Rìjì 莎 菲女士的日記, 1928), worin sie die Frustration einer leidenschaftlichen jungen Frau unter den Zwängen einer konfuzianisch orientierten Männergesellschaft schildert.

4.2.5 Volksrepublik (ab 1949) Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 befand sich die chinesische Literatur fest im Griff der offiziellen Parteipolitik und hatte den Massen zu dienen. Allerdings hatte Máo Zédōng 毛泽东 (1893–1976) bereits vom 2. bis 23. Mai 1942 in seinen Reden auf dem Yan’an-Forum über Literatur und Kunst (chin. Zài Yán’ān wén yì zuòtánhuì shàng de jiǎnghuà 在延安文艺座谈会上的讲话) nicht nur den Sozialistischen Realismus festgeschrieben, sondern auch entschieden, dass Kunst und Literatur der Politik zu dienen haben und folglich helfen sollten, die neue Ordnung der Kommunistischen Partei Chinas zu etablieren. Das offizielle literarische Leben während der Kulturrevolution (1965–1976) war dominiert von Werken im Stil des Revolutionären Realismus und des Revolutionären Romantizismus, die extrem gezeichnete modellhafte Charaktere entwarfen. Wichtige Autoren dieser Zeit sind etwa Hào Rán 浩然 (1932–2008), sowie als Dichter Máo Zédōng. Daneben existierte aber ein reges literarisches Leben im Verborgenen: Bücher wurden aus Bibliotheken gestohlen, unter Freund*innen zirkuliert, literarische Salons entstanden, viele junge Leute verfassten selber Gedichte oder unterhaltende Literatur, die in handschriftlichen Kopien landesweit zirkulierten und für einige Autor*innen juristische Verfolgung nach sich zog.7 Unterstützt wurden Autor*innen, die sozialistische Propagandathemen wie Klassenkampf, die

7 Lena Henningsen, „Literature of the Cultural Revolution,” in Routledge Handbook of Modern Chinese Literature, hrsg. Ming Dong Gu (Oxon: Routledge, 2019), 423–434.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Kollektivierung in der Landwirtschaft oder die Industrialisierung annahmen und glorifizierend darstellten, alle anderen Autor*innen wurden unterdrückt. Die politische Öffnung Chinas ab 1978 brachte wieder mehr Freiraum für Schriftsteller und literarisches Schaffen: Die „Narbenliteratur“ (shānghén wénxué 傷痕文學) thematisiert traumatische Erfahrungen der Bevölkerung zur Zeit der Kulturrevolution. Seit den 1970er und frühen 1980er Jahren wurde ein Stil bekannt, der „obskure Dichtung“ (ménglóngshī 朦胧诗) genannt wird. Er entstand nach der Kulturrevolution (1965–1976), als sich eine Gruppe junger Schriftsteller*innen von propagandistischen Schreibformen abwandte. Beeinflusst von westlichen modernen Schriftsteller*innen, begannen sie persönliche Gefühle und Wünsche durch das Schreiben auszudrücken. Die Zeitschrift Jīntiān 今天 („Heute“), herausgegeben von Běi Dǎo 北岛 (geb. 1949), förderte als erste diese Art des Schreibens. Der Begriff „obskure Dichtung“ leitete sich aus der Tatsache ab, dass die Schriftsteller*innen nicht den üblichen sprachlichen Regeln folgten. Dadurch war ihr Sprachgebrauch für die Leser*innen vage und undurchsichtig. Nach der Kulturrevolution interessierten sich viele Leser*innen für Kampfkunstromane und die dargestellten Helden, die hohe Prinzipien und Ideale verfolgten. Von da an wurde Kampfkunst-Belletristik ein beliebtes und häufig gelesenes Genre der chinesischen Literatur. Gegen Ende des Jahrhunderts bestimmte die Hinwendung zur Marktwirtschaft auch das literarische Leben. Insgesamt kam es zu einer verstärkten Kommerzialisierung des gesamten literarischen Sektors.8 Es kam zu teilweise unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen der chinesischen Literatur auf Taiwan, in Hongkong und Macau. Mit dem Aufkommen des Internets begann auch in der VR China die Verbreitung von Schriften in entsprechenden Formaten. Internet-Literatur, -Blogs, und -Texte im Email-Format wurden sehr beliebt unter jüngeren Leser*innen. Die chinesische Literatur konnte im 20. Jahrhundert die Isolation überwinden und in den Dialog mit der Weltliteratur eintreten. Ab dieser Zeit sind die literarischen Werke vergleichsweise gut dokumentiert, wissenschaftlich aufgearbeitet und durch Übersetzungen erschlossen, sodass auch bei uns viele chinesische Werke in deutscher oder englischer Sprache vorliegen. Die heutige sinophone Literatur umfasst neben Werken von Schriftsteller*innen aus der VR China auch (chinesische) Werke aus Taiwan, Singapur oder Übersee. Gegenwärtig findet man in der VR China zahlreiche Publikationen aus den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur, Frauenliteratur, Sehnsuchtsliteratur, Reiseliteratur oder Publikationen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen. Die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Gāo Xíngjiàn 高行健 (geb.

8 Shuyu Kong, Consuming Literature. Best Sellers and the Commercialization of Literary Production in Contemporary China (Stanford: Stanford University Press, 2005).

4.3 Literaturtheorie

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1940, seit 1998 französischer Staatsbürger) im Jahr 2000 und an Mò Yán 莫言 (geb. 1955) im Jahr 2012 hat das Interesse an der chinesischen Literatur stark gefördert. Die Literaturen Chinas haben über Jahrhunderte hinweg die intellektuelle und soziale Elite Chinas geprägt, traditionellerweise gab es eine enge Verbindung zwischen Literatur und Politik und auch keine Trennung zwischen Historiografie und Literatur. Heute macht der Besuch in einer Buchhandlung, etwa in Beijing, deutlich, dass zwar weiterhin viele Menschen nicht über die Mittel verfügen, sich Literatur zu kaufen, aber die Buchgeschäfte wie Bibliotheken benutzen, dort lesen oder Hausaufgaben machen. Studierende recherchieren dort und manch einer richtet es sich mit seinem Kind gemütlich ein und verbringt einen Wochenendtag bei der Kinderliteratur. Die Themenbreite, die durch das chinaspezifische Literaturstudium beforscht werden kann, ist, wie dieser kurze Einblick in die Literaturgeschichte andeutet, beinah grenzenlos. Für die Bearbeitung von Literatur aber benötigen wir bestimmte Methoden. Immer, wenn wir mit Literatur arbeiten und über sie nachdenken, kommen Literaturtheorien dabei zum Einsatz. Deswegen ist Literaturtheorie ein komplexes Feld und es gibt sehr unterschiedliche Theorien, weil der Gegenstand der Literatur mit seinen Autor*innen und Leser*innen sehr umfangreich und vielschichtig ist. Im Folgenden wird daher exemplarisch Literaturtheorie als ein möglicher Zugang zum literaturwissenschaftlichen Arbeiten mit chinesischen Quellen vorgestellt.

4.3 Literaturtheorie Literaturtheorie ist ein Teilgebiet der Literaturwissenschaft.9 Im Metzler Lexikon Literatur10 lesen wir zum Begriff Literaturtheorie: Literaturtheorie, [gr. Theõria = Betrachtung, Reflexion], im allgemeinen Sinne jede mehr oder weniger systematische Reflexion über den Begriff, das Wesen, die Form, Struktur und Zeichenhaftigkeit, die Produktion und Wirkung, aber auch die hermeneutische und methodische Erschließung literarischer Texte bzw. des Literarischen an sich.

9 Als Einstieg: Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie (Sammlung Metzler Band 246, 5. Auflage, Stuttgart: J.B. Metzler, 2012). 10 Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Hrsg., Metzler Lexikon Literatur (Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2007), 454.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Theorie meint also eine Anzahl von Überlegungen, die über das eigentliche Werk hinausgehen und damit dazu beitragen, das Werk in seiner sprachlichen, geistesgeschichtlichen, historischen und kulturspezifischen Konzeption und Wirkung zu verstehen. Diese Überlegungen stellen etablierte Vorstellung zu Text, Wissen und Erfahrung in Frage. Im Grunde lautet also eine vereinfachte Definition von Literaturtheorie: Das Nachdenken über Literatur.11 Theoriebewusstes Arbeiten bedeutet, alle wesentlichen Grundannahmen literaturwissenschaftlicher Analyse in Frage zu stellen, also Fragen auseinanderzunehmen wie „Welche Bedeutung hat Literatur?“, „Was heißt es, Texte zu interpretieren?“, „Was sind Autor*innen?“, „Warum ist das, was ich gerade lese, überhaupt Literatur?“, „In welchem Verhältnis stehen die Texte zu ihren Entstehungsbedingungen oder zu außerliterarischen Kontexten?“, „Ist Literatur in Produktion und Rezeption autonom, oder ist sie auf Gesellschaft, Realität oder Geschichte bezogen, also fremdbestimmt?“, „Steht der von Autor*innen intendierte Sinn im Vordergrund oder geht es um die Sinnkonstruktion durch Rezipienten?“ Es stehen also Texte, Kontexte, Autor*innen oder Leser*innen im Zentrum der literaturtheoretischen Auseinandersetzung. Folglich kann in entsprechende Typen von Literaturtheorie mit ihren ganz eigenen theoretischen Ansätzen unterteilt werden:

4.3.1 Literaturtheorie-Typen Textorientierte Theorien begreifen den literarischen Text als ein eigenständiges Phänomen und leiten ihn nicht aus sozialen Zusammenhängen oder Entstehungsbedingungen ab. Zu ihnen zählen Gattungs-, Erzähl- und Lyriktheorie, Intertextualität, Hermeneutik oder auch Semiotik. Autororientierte Theorien stellen die Autor*innen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen und erfragen „Was ist die Intention der Urheber*innen?“ und „Was will uns die/der Autor*in sagen?“ Die Intention des Textes soll mittels dieser Theorien erforscht werden. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Autorpersönlichkeit und dem literarischen Text? Biografische und psychologische Analyseverfahren kommen hier zur Anwendung. Leserorientierte Theorien stellen die Leser*innen in den Mittelpunkt der Untersuchung und erforschen die Wirkung und Wirkungsabsichten literarischer

11 Was Literatur ist und die Schwierigkeit, „Literatur“ zu definieren, soll hier nicht besprochen werden. Lohnenswert sind hierzu aber die Ausführungen von Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, in seinem Kapitel „Was ist Literatur“.

4.3 Literaturtheorie

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Werke. Zu ihnen zählt etwa die Rezeptionsästhetik, welche die Rolle der Leser*innen und den Akt des Lesens im Verstehensprozess betont. Kontextorientierte Theorien untersuchen die Literaturen als Ausdruck von historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Theorien wie etwa New Historicism stellen die Literaturen in ihren eigenen kulturellen Kontext und analysieren sie in Verbindung mit zeitgenössischen zirkulierenden Texten, politischen Überzeugungen und kulturellen Praktiken. Texte sind immer in ein historisches und kulturelles Umfeld eingebettet, dem sie ihre Existenz verdanken. Die sozialgeschichtlichen Ansätze, Literatursoziologie und -psychologie, Geistes- und Kulturgeschichte sind ebenso den kontextorientierten Theorien zuzuordnen. Eign literarisches Werk kann demnach also als Text wahrgenommen werden, als Produkt einer/s Autor*in, als Ergebnis des Leseprozesses und als Effekt eines Kontextes. Die Fülle der Literaturtypen und entsprechender vorhandener älterer und neuer literaturtheoretischer Theorien (u. a. Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, New Criticism, Strukturalismus, Semiotik, gesellschafts-, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze) kann befremdlich, erschlagend und damit abschreckend wirken. Daher ist es sinnvoll, hier gerade für Studienanfänger*innen eine Vorauswahl zu treffen, um einen guten Einstieg ins literaturwissenschaftliche Arbeiten zu ermöglichen und damit hoffentlich Interesse für weitere Forschungen in diesem Bereich zu wecken. Eine praktikable, kontextorientierte Theorie, die auch in den chinabezogenen literaturwissenschaftlichen Studien häufig zur Anwendung kommt, befasst sich mit der sozialgeschichtlichen Analyse von Texten und soll hier näher vorgestellt werden.

4.3.2 Sozialgeschichtliche Ansätze Bei den sozialgeschichtlichen Ansätzen einer Literaturanalyse stehen Geschichte und Gesellschaft im Mittelpunkt der Analyse. Literarische Texte werden in ihren Bezügen zur Gesellschaftsgeschichte inhaltlich, thematisch und formal analysiert. Es wird erfragt, welche gesellschaftlichen Ereignisse, Bedürfnisse, Probleme und Vorstellungen im Text zum Ausdruck kommen. Die Bedingungen, unter denen Literatur entsteht und verbreitet, gelesen, gebraucht, verarbeitet wurde oder wird, werden ebenso untersucht. Fragen zur gesellschaftlichen Sozialisation und Rolle der Autor*innen werden genauso erforscht wie die Vermittlungsinstanzen zwischen Autor*innen und Publikum, also etwa das Bibliothekswesen, die Lehrbücher in Bildungseinrichtungen oder die Entwicklung des Buchmarkts und der Lesekultur. Auch wird die Zusammensetzung von Lesergruppen, die soziale Herkunft von Leser*innen, ihre Lesesozialisation, Orte und Milieus der Rezeption, und die Formen und Gründe von Lektüren untersucht.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Leitfragen für eine sozialgeschichtliche Analyse sind beispielsweise: Was für ein Text liegt vor? Wie ist der Text verfasst? Wann wurde er publiziert und gelesen, wer sind die vermittelnden Instanzen? Wer ist Autor*in des Textes? An welchem Ort wurde der Text produziert? Wer sind die Leser*innen? Was passiert, wer handelt, wo, wann, wie findet die Handlung statt? Was sind die Bezüge zwischen Text, Motiven, Figuren und konkreten politischen, gesellschaftlichen oder sozialen Prozessen? Wie werden die Fakten literarisch verarbeitet? Welche Strukturen der Welt werden nachgeahmt oder inszeniert?

Mit der Bearbeitung dieser Fragen wird untersucht, wie ein Text von der sozialhistorischen Umgebung, in der er entstanden ist, beeinflusst ist und wie er auch selbst versucht, diese Umgebung zu beeinflussen. Es ist zeit- und gesellschaftsabhängig, in welchem Maß Texte Gedanken, Werte und Ideologie ihrer Zeit darstellen und somit auf sozialhistorische Fragestellungen antworten. Klawitter und Ostheimer haben in ihrer Übersicht zur Literaturtheorie Praxisbeispiele zu ausgewählten Literaturtheorien, unter anderem anhand der Kurzgeschichte Tagebuch eines Verrückten des chinesischen Schriftstellers Lǔ Xùn (1881–1936), vorgestellt.12 Das Buch ist für einen tieferen Einstieg in die Materie auch für literaturwissenschaftlich interessierte Sinolog*innen sehr zu empfehlen. Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, wie eine sozialgeschichtliche Analyse der Geschichte aussehen kann. Dies soll als Anhaltspunkt dienen, um weitere sozialgeschichtliche Analysen, etwa im Rahmen einer Hausarbeit oder BA-Arbeit, durchführen zu können. Aus der gleichen Zeitperiode wäre hier beispielsweise auch das oben genannte Werk Tagebuch des Fräulein Sophie von der Autorin Dīng Líng für eine sozialgeschichtliche Analyse zu empfehlen, die den Themenschwerpunkt „Emanzipation der Frau“ in den Mittelpunkt stellen würde. 4.3.3 Sozialgeschichtliche Analyse: Tagebuch eines Verrückten von Lǔ Xùn Das Tagebuch eines Verrückten (Kuángrén rìjì 狂人日記) von Lǔ Xùn (1881–1936) wurde 1918 in der Zeitschrift Neue Jugend (Xīn Qīngnián 新靑年) publiziert und ist eine moderne Kurzgeschichte, die landesweit Berühmtheit erlangte. Die Erzählung stellt eine radikale Abkehr von der traditionellen Literaturauffassung dar,

12 Für den Vorliegenden Text wurde die deutsche Fassung genommen: Lu Xun, Applaus (Zürich: Unionsverlag, 1999).

4.3 Literaturtheorie

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weil sie in Umgangssprache verfasst ist und gesellschaftliche Probleme Chinas ungeschönt thematisiert. Obgleich oftmals behauptet wird, dass dieses Werk als die erste moderne Kurzgeschichte der chinesischen Literatur gilt, weist Kubin darauf hin, dass die bereits 1911 von Lǔ Xùn veröffentlichte Kurzgeschichte Eine Kindheit in China moderne Züge erkennen lässt,13 allerdings ist sie nicht in Umgangssprache verfasst, sodass das Tagebuch eines Verrückten hier insgesamt eine eindeutigere Stellung einnimmt. Die Neue Jugend mit dem Untertitel „La Jeunesse“ war die erste Zeitschrift, die dann ganz in Umgangssprache erschien. Bereits in ihrer ersten Ausgabe findet sich der Aufruf des Herausgebers an die Jugend: „Menschenrecht, Gleichheit, Freiheit“.14 Mitglieder der Neuen Kulturbewegung waren überzeugt, dass ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel durch Aufklärung wesentlich für die weitere Entwicklung des Landes sei. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten bezog sich hierbei auf eine literarische Revolution: Die klassische Schriftsprache, bis dahin als einzige literarische Sprache anerkannt, sollte durch Umgangssprache abgelöst werden, damit Literatur, in der Sprache des Volkes formuliert, auch von diesem verstanden werden konnte. Damit brachen die Vertreter der Neuen Kulturbewegung wie etwa auch Lǔ Xùn mit der Überzeugung, dass Literatur allein von einer klassisch gebildeten Elite zu rezipieren sei. Als Literatur wurde bisher also nur anerkannt, was in klassischem Chinesisch verfasst war. Diese Schriftsprache aber wurde jetzt als ein Hindernis für Volksbildung und wissenschaftliche Entwicklung angesehen. Nicht allein die Form des Tagebuchstils macht jedoch seine Modernität aus, sondern auch die zwischen den dreizehn Abschnitten bestehenden Ordnungsstrukturen, in denen Handlungen und Deutungen ineinandergreifen. In der traditionellen chinesischen Erzählkunst herrschte hingegen eine bloße Aneinanderreihung von Episoden. Das Werk Tagebuch eines Verrückten klagt den „menschenfressen-den“ Charakter der konfuzianischen Gesellschaftsordnung sowie Moral an und wurde zu einem einflussreichen Text der Neuen Kulturbewegung. Ein „objektiver, intellektueller Erzähler“ gibt in der noch im klassischen Chinesisch verfassten Einführung zur Geschichte an, dass sie aus den Tagebuchaufzeichnungen eines geisteskranken jungen Mannes besteht. Es besteht also eine stilistische Zweiteilung zwischen den Einleitungssätzen und den tatsächlichen Aufzeichnungen „des Verrückten“, die in Umgangssprache verfasst sind. Der Tagebuchschreiber findet heraus, dass alle Menschen um ihn Kannibalen sind, die auch ihn auffressen wollen. Zudem

13 Wolfgang Kubin, Geschichte der chinesischen Literatur, Band 7: Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert (München: Saur, 2005), 23. 14 Ebenda, 26.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

entdeckt er bei seiner Lektüre konfuzianischer Klassiker, dass hier eine Tradition der Menschenfresserei begründet liege: Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen: die waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte „Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend“ gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: „Menschen fressen“!15

Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend als Kardinaltugenden des Konfuzianismus werden hier als schädigend für die Menschen entlarvt. Abschnitt IX nimmt die klassischen fünf konfuzianischen Beziehungsverhältnisse auf, wobei Lǔ Xùn die Freund-Freund-Beziehung in Freund-Feind transformiert. Die traditionelle chinesische hierarchische Gesellschaftsordnung mit ihren sozialen Pflichten wird hier kritisch aufgegriffen: Ein jeder möchte Menschen fressen und lebt dabei in der Angst, von anderen gefressen zu werden. Voller Argwohn schaut jeder in des anderen Gesicht. Wie angenehm wäre ein Leben frei von diesen Zwängen. Man könnte unbeschwert arbeiten, seines Weges gehen, essen und schlafen. Dabei bedarf es doch nur weniger Schritte, wie bei einer Türschwelle oder einem Paß. Aber Väter und Söhne, jüngerer Bruder und älterer Bruder, Mann und Frau, Freunde und Feinde, Lehrer und Schüler, ja, selbst Leute, die einander gar nicht einmal kennen, haben sich zusammengefunden, um sich gegenseitig aufzuhetzen und in Schach zu halten, selbst im Anblick des Todes unwillig, diese wenigen Schritte zu tun.16

Eine neue gesellschaftliche Ordnung wird angestrebt, bei der das alte China mit seiner ideologischen Basis, dem Konfuzianismus, als zerstörerisch für die Weiterentwicklung gesehen wird. Die Erneuerungsbewegung vom 4. Mai 1919 wollte einen bewussten Bruch mit den bisherigen Verhältnissen erreichen. An die Stelle des Alten hatte etwas Neues zu treten, dieses Neue war der Westen. Da nun alles Kommende aus dem Neuen geschöpft werden sollte, gewann der Terminus „neu“ eine motivierende Bedeutung und findet häufige Erwähnung in den Schriften der damaligen Zeit. Das Modewort der Jahrhundertwende lautete „zerschlagen“ (pò 破) bzw. „zerstören“ (pòhuài 破壞). Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang das von Hú Shì 胡適 (1891–1962) 1921 geprägte Schlagwort „Nieder mit dem Konfuziusladen“ (dǎdǎo Kǒngjiādiàn 打倒孔家店) geworden. Anklagen gegen alte Gesellschaftsstrukturen finden sich im Tagebuch eines

15 Lu Xun, Applaus (Zürich: Unionsverlag, 1999), 20. 16 Ebenda, Abschnitt IX.

4.4 Fazit

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Verrückten beispielsweise auch in der Auswahl der Personennamen wieder: Herr Gu Jiu 古久 (in der deutschen Fassung übersetzt mit „Herr Feudal“) spielt auf die lange Zeit feudalistischer Unterdrückung in China an. Die Neue Kulturbewegung setzte sich für die Befreiung des Einzelnen und die darauf fußende Befreiung der Gesellschaft ein. Lǔ Xùn thematisiert in seiner Erzählung auch den Konflikt zwischen aufgeklärtem, hinterfragenden Individuum und einem ignoranten, unterentwickelten, mitunter übermächtigen Kollektiv: Voller Wut war nun auch Chen Laowu schnurstracks hereingelaufen gekommen. Doch ungeachtet dessen, wie er mir den Mund zu stopfen suchte, ich mußte vor diesen Leuten meine Sache vorbringen. Ihr könnt euch ändern, von Grund auf ändern! Ihr müßt wissen, in Zukunft wird es für Menschenfresser auf der Erde keinen Platz mehr geben. Wenn ihr euch nicht ändert, werdet ihr euch gegenseitig auffressen! Und auch bei noch so großer Nachkommenschaft würdet ihr vom wahren Menschen ausgelöscht werden wie Wölfe von den Jägern. Oder wie Insekten!17

Wer aufklärt, klärt sich und sein Umfeld über einen unhaltbaren Ist- Zustand auf, an dessen Stelle ein anderer Zustand zu treten hat. Tritt dieser Zustand jedoch nicht ein, dann setzen Verzweiflung, Hilflosigkeit und Depression ein. Und auch der Tagebuchschreiber beschreibt immer wieder seine Ängste, er zeigt körperliche Reaktionen, er ist verzweifelt und frustriert aufgrund seiner scheinbar machtlosen Situation. Die Geschichte endet mit dem Aufruf „rettet die Kinder“ (XIII), die gerettet werden sollen und alleinige Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft darstellen: „Vielleicht gibt es Kinder, die noch keine Menschen gefressen haben?“ (XIII), denn diese Kinder sind noch nicht von der konfuzianischen Moral durchtränkt worden und haben das Potential für eine gesellschaftliche Erneuerung. Allerdings ist es auch nur ein „Vielleicht“, eine Skepsis, die auffordert, nach diesen Kindern zu suchen.

4.4 Fazit China kann auf eine lange Literaturgeschichte und vielfältige Genres zurückblicken. Das Zentrum des literarischen Interesses unterlag zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Literaturtheorie ist das Handwerk, um Literatur zu analysieren und über sie nachdenken zu können. Da Texte, Kontexte,

17 Ebenda, Abschnitt X.

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4 Chinastudien und Literaturwissenschaft

Autor*innen oder Leser*innen im Zentrum der literaturtheoretischen Auseinandersetzung stehen, können die entsprechenden Theorien diesen Kategorien zugeordnet werden. Eine sozialgeschichtliche Analyse eines chinesischen Textes etwa untersucht die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen und Ereignisse, die im Text formal, inhaltlich und thematisch zum Ausdruck kommen. Eine sozialgeschichtliche Analyse erlaubt neben der genauen Textarbeit, die im fortgeschrittenen Studium den chinesischen Originaltext als Grundlage nimmt, auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit historischen, politischen oder sozialen Ereignissen Chinas.

4.5 Begriffe Bewegung des 4. Mai – Protestdemonstration von Studenten am 4. Mai 1919 gegen die unrechten Klauseln des Versailler Vertrags Kulturrevolution – Politische Kampagne 1965–1976, die Máo Zédōng zur Stärkung seiner Autorität auslöste und die das Land gesellschaftlich und wirtschaftlich weit zurückwarf Lǐ Bái – (701–762) Einer der bedeutendsten Dichter der Táng-Zeit Literaturgeschichte – Beschreibt den historischen Prozess der Entstehung, Entwicklung (und Bewertung) von Literatur. In China oft in Anlehnung an die dynastische Periodisierung Shǐjì – Das erste bedeutende Geschichtswerk Chinas und die erste der 24 Dynastiegeschichten, ca. 94 v. u. Z. (westl. Hàn-Zeit) fertiggestellt Sīmǎ Qiān – (ca. 145–86 v. u. Z.) Chinesischer Astrologe, Historiker und Schriftsteller, Verfasser des Shǐjì Vier klassische Romane – Die Geschichte der Drei Reiche, Die Räuber vom Liang-Shan-Moor, Die Reise nach Westen, Traum der Roten Kammer. Nicht zu verwechseln mit den fünf Klassikern (vgl. Kapitel 5).

4.6 Vorschläge zur Vertiefung Emmerich, Reinhard et al. (Hrsg.) Chinesische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler, 2004. Gu, Ming Dong (Hrsg.). Routledge Handbook of Modern Chinese Literature. Oxon: Routledge, 2019. Kubin, Wolfgang. Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert. München: K.G. Saur, 2005. Nienhauser, William H. (Hrsg.) The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature. Bloomington: Indiana University Press, [1986] 1998. Wang, David Der-Wei (Hrsg.). A New Literary History of Modern China. Cambridge, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2017.

4.7 Transferaufgaben

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4.7 Transferaufgaben 4.7.1 Literaturen Chinas Es gibt einen reichen Textkorpus an Minderheitenliteratur in China. Informieren Sie sich über eine*n gegenwärtige*n Autor*in mongolischer, tibetischer und koreanischer Herkunft und stellen Sie je ein Werk kurz vor. Gibt es auch Hàn-Chines*innen, die über Minderheiten in China schreiben? Nennen Sie eine*n Autor*in und ein Werk.

4.7.2 Literatur als gesellschaftlicher Spiegel Analysieren Sie das Dilemma der modernen chinesischen Frau anhand des Tagebuchs der Fräulein Sophie der Schriftstellerin Dīng Líng.

4.7.3 Schriftsteller*innen in der VR China Wer ist Yán Liánkē 閻連科 und welche Werke hat er geschrieben? Was kritisiert er? Wie sieht er die Rolle von Schriftsteller*innen? Recherchieren Sie und fassen Sie zusammen.

5 Philosophie im alten China Merle Schatz Zusammenfassung: Dieses Kapitel stellt exemplarisch die wichtigsten Denkschulen der sogenannten klassischen chinesischen Philosophie vor, die immer wieder auch Gegenstand aktueller sinologischer Forschungen sind und im Zusammenhang mit historischen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen aufgegriffen werden. Das Kapitel geht auf wesentliche Begriffe, Konzepte und Lehren ein.

5.1 Philosophie im alten China Wenn Studienanfänger*innen zu Philosophie in China befragt werden, nennen sie meist Konfuzianismus, Daoismus, und dass es irgendwie um Harmonie und Ganzheitlichkeit ginge. Oft wird mit chinesischer Philosophie ein geheimnisvolles Wissen über die Lebenszusammenhänge und ein besseres Verständnis von Universum, Welt und dem Menschen angenommen, gerne verbunden mit eigenem Fernweh und einer Form von meditativer Abgeschiedenheit. In Darstellungen verschiedener Zeitschriften wird chinesische Philosophie allgemein verbunden mit klugen Ratschlägen für Glück, Achtsamkeit, Raumgestaltung, oder Kochen. Es wird insgesamt ein sehr schwammiges und oberflächliches Bild transportiert, das allerdings wohl mehr unsere Bedürfnisse als auch unseren Blick auf alte fernöstliche Philosophien widerspiegelt, anstatt tatsächlich über historische oder gar aktuelle philosophische Denkschulen, ihre gesellschaftspolitischen Inhalte und unterschiedlichen Vertreter in China aufklärt. Wenn wir uns mit Philosophie in China und aus einer sinologischen Perspektive heraus beschäftigen, kommen wir unweigerlich zu einer Bandbreite von Fragen, wie beispielsweise: Welche Zeit betrachten wir, wenn wir uns mit Philosophie in China beschäftigen? Wer waren oder sind wichtige Philosophen, welche philosophischen Schulen haben sich etabliert? Welchen philosophischen Kanon gibt es in China? Welche Begriffe gibt es im Chinesischen für Philosophie und was ist mit diesen Begriffen genau gemeint? Sprechen wir bei Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus eigentlich von Religion oder von Philosophie? Diese Fragen müssen wir dazu in Abgrenzung zu unserem Wissen, also unserem eigenen Kenntnisstand zu Philosophie in Europa betrachten. Denn unser Danksagung: Herzlicher Dank gilt Philip Clart für seine wichtigen Hinweise und Anmerkungen zu diesem Kapitel. https://doi.org/10.1515/9783110665024-006

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5 Philosophie im alten China

bestehendes Wissen bestimmt auch unseren Blick auf neue Inhalte. Vielleicht würden wir nach Metaphysik im Konfuzianismus suchen und schnell feststellen, dass wir hier mit unseren Begriffen und Vorstellungen nicht weiterkommen, da sie in anderen Kontexten entstanden sind und damit eine allzu schablonenartige Übertragung unpassend ist. Im Folgenden werden einige der oben gestellten Fragen für eine erste Orientierung aufgegriffen, um dann wichtige „klassische“ chinesische Philosophien und ihre Hauptvertreter vorzustellen. „Wichtig“ bedeutet in diesem Fall, dass im Laufe eines Sinologie-Studiums diese Philosophien und ihre Vertreter immer wieder Gegenstand sind oder Aspekte von historischen, gesellschaftlichen oder politischen Diskursen darstellen. Die sogenannte klassische Periode steht für Denkschulen,1 die sich im 6.–3. Jh. v. u. Z. herausgebildet haben und Gegenstand des vorliegenden Textes sind. Es geht in diesem Beitrag also um altchinesische Philosophie. Neuere „moderne“ philosophische Strömungen in China oder ihre Vertreter sind nicht wesentlicher Gegenstand dieses Kapitels. Ziel ist es, eine erste grobe Übersicht zum Thema klassische Philosophie in China aufzuzeigen. Literaturhinweise laden Interessierte zum weiteren kritischen Lesen und Vertiefen in dieses Thema ein.

5.1.1 Welchen Begriff gibt es im Chinesischen für Philosophie? Die chinesische Übersetzung von Philosophie lautet zhéxué 哲学. Der alteuropäische Begriff Philosophie wurde in China mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über Japan entlehnt. Japanisch tetsugaku, im Chinesischen zhéxué (zhé für „weise/klug“ und xué für „lernen, Lehre“), war ein Begriff, der zunächst jedoch eher die europäischen Philosophien meinte, dann aber auch für die Beschreibung der chinesischen Denker, die in der östlichen Zhōu-Zeit (770–256 v. u. Z.) lebten, eingesetzt wurde – obgleich ihnen dieser Begriff natürlich nicht bekannt war. Es wurde schon früh deutlich, dass sich Begriffe aus einer Denktradition (etwa aus der griechischen Kultur) nicht einfach mit dem chinesischen Kontext vergleichen ließen, weil sich einerseits die Texte formal unterschieden und man sich andererseits in China vordergründig mit praktischer Philosophie und eher weniger mit Metaphysik beschäftigte, da es nicht um die „Liebe oder Freundschaft zur Weisheit“ (als wortwörtliche Bedeutung 1 Inwiefern die „Schulen“ seit jeher als starre Denksysteme existiert haben oder ob die Einteilungen in Daosimus, Legalismus etc. eine spätere Erfindung waren, problematisiert Kidder Smith, „Sima Tan and the Invention of Daoism, `Legalism,´ et cetera“, The Journal of Asian Studies, Nr. 62, 1 (2003): 129–156.

5.1 Philosophie im alten China

69

des griechischen Worts philosophia) ging, sondern um das Nachdenken über gesellschaftliche und politische Verbesserungen (was aber auch Thema in der griechischen Philosophie war). Wenn wir also von Philosophie in China sprechen, müssen wir beachten, dass es hier im Laufe der Zeit sowohl innerhalb Chinas als auch im Vergleich mit westlichen Philosophien unterschiedliche Ideen, Themen und Formen der Gesprächs- und Diskussionsführung sowie der Textproduktion und Lehre gibt.

5.1.2 Klassische chinesische Philosophie Die klassische chinesische Philosophie in China wird dem Zeitraum von ihren Anfängen bis zur Reichseinigung mit Beginn der Qín-Dynastie 221 v. u. Z. zugeordnet: Die Östliche Zhōu-Dynastie (770–256 v. u. Z.) war eine gewalttätige Zeit der Kriege, Zersplitterung und moralischen Krise. Regionalfürsten gingen durch strategische und politisch motivierte Heirat mit Nachkömmlingen der Beherrscher fremder Reiche Bündnisse ein. Auf diese Weise versuchten sie einen Platz in der Erbfolge verschiedener Häuser zu erhalten. Die erste Hälfte der Östlichen Zhōu-Zeit (722–481 v. u. Z.) wird einer Chronik entsprechend „Frühling und Herbst“, die zweite Hälfte (403–221 v. u. Z.) wird „Zeit der Streitenden Reiche“ genannt. Es war eine Zeit, in welcher Regionalfürsten der jeweiligen feudalen Ländereien um die Macht kämpften. Neben neuen militärischen Strategien mit Heeren aus Reitern und Fußtruppen sowie technischen Erfindungen wie dem bronzenen Abzug der Armbrust, um die Herrschaft über die Ländereien ausdehnen zu können, dachten die Herrscher auch über neue Regierungsformen nach. In dieser Phase zogen verschiedene politische Ratgeber, Lehrer, Denker und Strategen (in der Gesamtheit dann später Philosophen genannt) von Hof zu Hof. Sie schlugen den Herrschern ganz unterschiedliche Ideen in Bezug auf die staatliche Ordnung vor und präsentierten philosophische Abhandlungen, die Fragen zu Grundprinzipien der menschlichen Gesellschaft stellten. Relevante Themen waren Fragen nach dem richtigen Leben in einer gut funktionierenden, richtig strukturierten Gesellschaft, die ideale Regierungsform und die besten Methoden für einen funktionierenden Staat, die hierfür notwendigen idealen moralischen Eigenschaften von Herrscher und Untertanen – also Fragen, die heute dem Bereich der praktischen Philosophie zuzuordnen sind. Diese Ratgeber hatten dazu ganz unterschiedliche Vorstellungen und berieten einerseits die Fürsten, andererseits kritisierten sie sich auch gegenseitig und förderten so die Redekunst, das logische Denken und Argumentieren. Verschiedene, zum Teil miteinander

70

5 Philosophie im alten China

konkurrierende Denkschulen bildeten sich heraus, es war die „Zeit der Hundert Schulen“.

5.2 Die Denkschulen In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Denkschulen des alten Chinas mit ihren Vertretern und Hauptwerken vorgestellt.

5.2.1 Konfuzianismus Der bei uns gebräuchliche Begriff „Konfuzianismus“ ist, ebenso wie der Name „Konfuzius“, auf Übersetzungstätigkeiten jesuitischer Missionare zurückzuführen, die im 17. Jahrhundert den Namen Kǒng Fūzǐ 孔夫子 latinisierten. Der chinesische Begriff für die konfuzianischen Lehren hingegen lautet rú – rújiā 儒家 („die Schule der rú“), rújiào 儒教 („die Lehren der rú“), rúxué 儒学 („das Studium der rú“): In der späten Zhōu-Zeit wurden die sechs Künste Riten, Schreiben, Rechnen, Musik, Bogenschießen und Wagenlenken als rú bezeichnet, im engeren Sinne wurde der Begriff für die Gelehrten des Ritualwesens gebraucht. Der Konfuzianismus durchlief eine wechselhafte Geschichte. Mit ihm werden traditionelle chinesische Werte in Verbindung gebracht und er gilt als ein wesentliches Merkmal der „chinesischen Zivilisation“. 5.2.1.1 Konfuzius Konfuzius (551–479 v. u. Z.) war einer von zahlreichen Denkern seiner Zeit, die sich politisch relevante Fragen stellten, zum Beispiel wie der ideale Staat geordnet sein sollte, wie der ideale Herrscher zu sein hatte. Konfuzius wurde 551 v. u. Z. in der Stadt Qūfù 曲阜 im Staat Lǔ 魯, in der heutigen Provinz Shāndōng, unter dem Namen Kǒng Qiū geboren. Auf seinen späteren Reisen von Staat zu Staat, begleitet von seinen Schülern, lernte er verschiedene Menschen und Bräuche kennen. Immer wieder beobachtete er Habgier, Lüge, Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit unter den Menschen. Er begann daher als erster Moralphilosoph das „Gute“ zu lehren und verband traditionelle Gesellschaftsrollen mit moralischem Verhalten. Hierfür vertrat er die Position, dass man sich auf die vergangene, bessere Zeit, nämlich der frühen Zhōu-Zeit, zurückbesinnen sollte, um die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen lösen zu können. Die Wiederherstellung der damaligen Ordnungsprinzipien würde dazu führen, dass auch wieder Ordnung im Staate

5.2 Die Denkschulen

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entstehen würde. Zentral war hier, dass jedes Individuum einen festen Platz im sozialen Gefüge hatte und dass die Höherstehenden eine moralische Autorität, ein ideales Verhalten, vorzuleben hatten. Die traditionellen fünf Beziehungen und ihre hierarchische Über- und Unterordnung werden im Konfuzianismus betont und bestehen zwischen Vater und Sohn, Herrscher und Untertan, Ehemann und Ehefrau, älterem Bruder und jüngerem Bruder sowie Freund und Freund (nur letztere sind hierarchisch gleichgestellt). Zwar wird diese Einteilung oft Konfuzius zugeschrieben, geht aber auf Menzius (siehe unten) zurück.2 Dennoch waren soziale Beziehungen, besonders die zwischen Vater und Sohn sowie Herrscher und Untertan, auch für Konfuzius wesentlich.3 Ihm nach sollten alle ihre Rolle verantwortungsvoll, tugend- und vorbildhaft erfüllen, jeder sollte nach moralischer Vervollkommnung streben, um ein harmonisches Funktionieren der Gesellschaft zu erreichen. Die moralische Qualität jedes Einzelnen ist also wesentlich, dabei sollten fünf Kardinaltugenden als Anleitung für ein gutes moralisches Verhalten dienen: Aufrichtigkeit xìn 信, Sittlichkeit lǐ 禮 (Riten als Reglung sowohl menschlichen Verhaltens als auch für Staatsführung), Rechtschaffenheit yì 義, Menschlichkeit rén 仁 und Weisheit zhì 智. Die höchste dieser fünf Tugenden war die Menschlichkeit, auch übersetzt als Humanität, Menschenliebe oder Güte. Sie beinhaltet die tiefe Anteilnahme am Wohlbefinden anderer. Ordnung in der Familie, die sich dann überträgt auf gesellschaftliche und staatliche Bereiche, ja auf den Kosmos, lässt sich durch tugendhaftes Verhalten und die Achtung von Anstand und Riten herstellen. Aus den fünf Tugenden werden soziale Pflichten abgeleitet wie beispielsweise Kindespietät xiào 孝 (Ergebenheit und Respekt gegenüber den Eltern und Ahnen), Loyalität zhōng 忠 (Untertanentreue), und die Einhaltung von Sitten lǐ 禮. Konfuzius, der selbst nie in ein bedeutendes Amt gehoben wurde, bereitete seine Schüler auf den Staatsdienst vor und unterwies sie, Schriften wie das Buch der Lieder und das Buch der Urkunden zu lernen. Es waren wohl seine Schüler, die seine uns überlieferten gesammelten Sprüche und Dialoge Lúnyǔ 論語 zusammenstellten. In der weiteren Entwicklung der konfuzianischen Denktradition wurden die Lehren von Menzius und Xúnzǐ 荀子 ebenso bedeutungsvoll. Sie waren die beiden bekanntesten unter den Schülern von Konfuzius in der späten Zhōu-Zeit.

2 Hierzu der kritische Beitrag von Hsü Dau-Lin, „The Myth of the ‘Five Human Relations’ of Confucius,“ Monumenta Serica 29, Nr. 1 (1970), 27–37. 3 Michael Dillon (Hrsg.), Encyclopedia of Chinese History (London: Routledge, 2017), 214.

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5 Philosophie im alten China

5.2.1.2 Menzius Der erste wichtige Nachfolger von Konfuzius war Menzius (chin. Mèngzǐ 孟子, ca. 370–300 v. u. Z.). Ähnlich wie schon Konfuzius reiste er umher und bot sich als Ratgeber an. Er trat für das Volk sowie für die Beamten des Staates ein, die seiner Ansicht nach vom Herrscher respektvoll und ihrem Rang entsprechend entlohnt werden sollten. Er sprach sich zudem verstärkt für die Erblichkeit von Ämtern aus und gegen die Ernennung aufgrund von Verdiensten. Er war fest vom Guten im Menschen überzeugt und ermahnte den jeweiligen Herrscher, das Volk etwa mittels Steuersenkung und milden Strafen, gut zu behandeln, sonst würde der Herrscher das Himmelsmandat (tiānmìng 天命), das ihn als rechtmäßigen Machthaber auszeichne, verlieren. Zudem vertrat Menzius die Ansicht, dass das Volk eine ungerechte Herrschaft auch beenden darf. Das Gute im Menschen besteht nach Menzius von Geburt an. Bekannt ist sein Beispiel, dass wenn ein Kind in einen Brunnen zu fallen drohe, der Mensch spontan helfen würde, und dies zeige, dass das Gute im Menschen vorhanden ist. Ebenso sind aber auch Mitgefühl, Scham, Ehrerbietung und die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, angeboren. Diese Eigenschaften führen zu den vier Tugenden Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Sitte, Weisheit, die es zu pflegen gilt. Bildung bedeute daher für ihn in erster Linie moralische Bildung. Allerdings könne sich dieses angeborene Gute aufgrund äußerer gesellschaftlicher, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Einflüsse verändern. Daher ermahnte Menzius, dass die angeborene Güte ständig in Gedanken gerufen und aufmerksam geübt werden müsse. 5.2.1.3 Xúnzǐ Die Gedanken von Meister Xún (ca. 310–220 v. u. Z.) sind uns im Gegensatz zu den unsortierten Gedanken und Dialogen von Konfuzius zusammenhängender und in geordneter Form überliefert. Das Xúnzǐ (Werke wurden zum Teil nach ihren Denkern benannt) ist eine Abfolge von Essays, die er zum Teil selbst verfasst hat. Ganz anders als Menzius vertrat Xúnzǐ die Ansicht, dass der Mensch von Grund auf schlecht sei. Dieses Schlechte könne aber durch Erziehung, Lernen und tugendhaftes Verhalten zum Guten gewendet werden, daher betont Xúnzǐ in seinen Lehren Sittlichkeit und rechtes Handeln. Wie auch andere chinesische Philosophen unterscheidet Xúnzǐ unter den Menschen zwischen dem Gemeinen (xiǎorén 小人), dem Edlen (jūnzǐ 君子) und dem Heiligen/Weisen (shèngrén 聖人). Xúnzǐ verfügte über politische und administrative Erfahrung und konnte daher auch Herrscher gut beraten und mahnte, dass alle menschlichen Angelegenheiten auch vom Menschen generiert würden. Die Götter brauche man nicht um Hilfe bitten. Er zeigte allerdings ein starkes Interesse an Riten, weil sie eine

5.2 Die Denkschulen

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geordnete Möglichkeit darstellten, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Musik forme die Emotionen der Menschen, Riten das Pflichtgefühl.

5.2.2 Konfuzianische Klassiker Der Neokonfuzianer Zhū Xī 朱熹 (1130–1200 u. Z.) stellte im 12. Jahrhundert zentrale Werke des klassischen Konfuzianismus und seiner Interpretationskultur zusammen: die sogenannten „Vier Bücher“ (Sìshū 四書) bestehend aus 1. den Analecta bzw. Gesammelten Worten (Lúnyǔ 論語) des Konfuzius, 2. das Buch Menzius (Mèngzǐ 孟子), 3. das Große Lernen (Dàxué 大學) und 4. Maß und Mitte (Zhōngyōng 中庸). Was ist Neokonfuzianismus? Dieser Begriff bezeichnet eine Denktradition, die sich in der Sòng- und Míng-Dynastie bildete und daher im Chinesischen Sòng Míng lǐxué 宋明理學 (übersetzt etwa „Sòng-Míng-Lehre vom Prinzip“ oder „Sòng-Míng-Rationalismus“) genannt wird. Sie baut auf dem Konfuzianismus auf, weist aber auch starke Einflüsse des Daoismus und Buddhismus auf. Aber was ist dann mit den klassischen Schriften gemeint, auf die sich etwa Konfuzius bezog, wenn die Vier Bücher doch erst im 12. Jahrhundert zusammengestellt wurden? Hierbei handelt es sich um folgende Werke: 1. das Shūjīng 書經 (Buch der Urkunden, Buch der Dokumente), 2. das Shījīng 詩經 (Buch der Lieder, Buch der Oden), 3. das Chūnqiū 春秋 (Frühlings- und Herbstannalen), 4. Lǐjì 禮記 (Buch der Riten), 5. das Yìjīng 易經 (Buch der Wandlungen). Diese fünf Werke sind die sogenannten Fünf Klassiker. Mit der Einrichtung einer kaiserlichen Akademie in der Hàn-Dynastie (206 v. u. Z.–220 u. Z.) und ihrer festen Etablierung in der Suí-Dynastie (581–618) wurden Prüfungen für Beamtenkandidaten eingeführt – ein Rekrutierungssystem, das mit Unterbrechung zur Zeit der Mongolen-Herrschaft (Yuán-Dynastie) in China bis 1905 in Gebrauch war, um Kandidaten für öffentliche Ämter zu finden. Bestandteil der Prüfungen waren Fragen zu den Vier Büchern und Fünf Klassikern und hierzu auch die reichhaltige Kommentarliteratur, die Inhalte und Bedeutungen der alten Schriften erläuterten.

5.2.3 Daoismus Eine weitere bedeutende philosophische Richtung, die sich in der Östlichen Zhōu bildete, war der philosophische Daoismus, chin. dàojiā 道家, die „Lehre des Weges“. Dào ist der wesentliche Begriff dieser Lehre und ein Schlüsselkonzept, das später auch in abgewandelter Form von Konfuzianern und Buddhisten

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5 Philosophie im alten China

gebraucht wurde. Dào bedeutet „Weg“, aber im klassischen Chinesisch auch „Wahrheit, Prinzip, Doktrin“, und meint ein alles durchdringendes Weltprinzip, eine Kraft oder Energie, der Urgrund von allem, was existiert und das miteinander verwoben ist. Der Mensch könne über das dào lernen, indem er die Natur beobachte und indem er sich von seinen Sinnen abwende und der Stille zukehre. Als die Zhōu-Dynastie zerfiel, gab es kritische Denker, die gängige konfuzianische Vorstellungen von Herrschaft und Gesellschaft sehr skeptisch betrachteten und dem Chaos ein Ende bereiten wollten. Sie wandten sich von der Gesellschaft ab, lebten ein einfaches Leben, zogen sich von allem zurück und setzten den Idealen des Konfuzianismus ein individuelles Leben und Spiritualität entgegen. Ein Mensch, der das Wirken des dào in sich selbst zur Vollendung gebracht hat, wird von ihnen als ein Weiser (shèngrén 聖人) bezeichnet. Zwei Werke informieren uns über die Inhalte des frühen Daoismus und die Prinzipien des dào: das Dàodéjīng 道德經 („Klassiker vom Weg und der Wirkkraft“) und das Zhuāngzǐ 莊子, benannt nach dem Denker Zhuāngzǐ. Das Dàodéjīng wird dem daoistischen Gelehrten Lǎozǐ 老子 zugeschrieben. Außer aus dem Werk selbst, lernen wir über Lǎozǐ und sein Denken nur aus einer kurzen Legende und einige Erwähnungen späterer Geschichtsschreiber wie Sīmǎ Qiān 司馬遷 (145–90 v. u. Z.) sowie aus fiktiven Gesprächen, die Schüler des Konfuzius und Zhuāngzǐ geschrieben haben. Lǎozǐ entwirft im Dàodéjīng ein politisches Modell, bei dem die Gesellschaft in Harmonie mit dem dào sein soll und der Herrscher durch „Nicht-Eingreifen“ (wúwéi 無為) bzw. durch das Vermeiden falscher Handlungen seinen Einfluss nehmen soll. Wesentliche Themen sind einerseits die wechselseitige Bedingtheit aller Werte: Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander. Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.4

Diese Wechselseitigkeit hat zur Folge, dass jede zweckgerichtete Handlung ihre Absicht verfehlt. Ein weiteres Thema ist die Bevorzugung des Nachgebens, der „weichen Handlungen“ gegenüber aggressiver Selbstbehauptung. Dem zweiten wichtigen daoistischen Gelehrten Zhuāngzǐ, nach dem auch das Buch mit seinen gesammelten Aussprüchen und Schriften benannt ist, ging es um die Befreiung des menschlichen Geistes und der Lossagung von gesellschaftlichen Prozessen, um ein freies und glückliches Leben zu haben.

4 Richard Wilhelm, Laotse Tao te king. Texte und Kommentar (Verlag Diederichs, 1919), 5.

5.2 Die Denkschulen

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Zhuāngzǐ betonte die Nützlichkeit des Nutzlosen, er war an Politik nicht interessiert, sondern suchte nach einer philosophischen Begründung für die Stellung des Menschen im Kosmos. Das Zhuāngzǐ ist mitunter sehr unterhaltsam geschrieben, da es phantastische Ideen, Parabeln und fiktive Begegnungen unterschiedlicher Persönlichkeiten und witzige Parodien etwa auf Konfuzius und seine Schüler beinhaltet. Im Dàodéjīng und im Zhuāngzǐ ist der Begriff und das Konzept des dào elementar, um das Wesen der Natur zu beschreiben, ein Wesen, das zwar nie vollständig begriffen werden kann, das es aber dennoch anzustreben gilt. Die Konfuzianer, die in ihren Lehren menschliche Angelegenheiten betonten, verstanden unter dem Begriff dào hingegen eher den moralisch richtigen Weg für die Menschheit. Klassische daoistische Schriften wie das Dàodéjīng und das Zhuāngzǐ wurden ursprünglich philosophisch verstanden, später aber auch in eine religiöse Tradition mit aufgenommen und vor dem Hintergrund religiöser Traditionen ausgelegt und verwendet, ihre Autoren wurden vergöttlicht. Eine ganz scharfe Trennung von Daoismus als Philosophie oder Religion ist folglich schwierig. Liturgische Praktiken und Götter- sowie Dämonenglaube sind Teil des religiösen Daoismus, allerdings nicht Teil des philosophischen Daoismus mit seinen ganz grundlegenden Fragen zum Leben, Sein und dem dào. Schlüsselbegriffe des Daoismus (aber auch für andere Bereiche wie etwa dem Konfuzianismus oder der Medizin), die nur schwer übersetzbar sind und vielleicht am besten in ihrem Original belassen werden sollten, sind dào 道 („Weg“), dé 德 („Wirkkraft“), qì 氣 („Energie“), yīn 陰 und yáng 陽, und wǔxíng 五行 (fünf Wandlungsphasen). Das wichtigste und erste Buch, in dem diese Begriffe in ihrer Bedeutung und Anwendung ausführlich beschrieben sind, ist das Buch der Wandlungen (Yìjīng 易經). Aufgrund seiner philosophischen Bedeutung hat es eine enge Beziehung zum Daoismus. Es ist ein Handbuch zur Wahrsagung, ein philosophisches Werk und Teil der oben genannten Fünf Klassiker der chinesischen Geistesgeschichte. Das Buch der Wandlungen kann man inzwischen auch für den praktischen Alltagsgebrauch in einer sehr modernen Form (d. h. in stark gekürzter und vereinfachter Fassung unter Ausschluss des genauen Entstehungskontextes, des ursprünglichen Gebrauchs und der ausführlichen Bedeutung der Begriffe) bei uns in den Buchhandlungen erwerben. Sogar mit einer Handy-App kann man das Buch der Wandlungen nun befragen und so ganz ohne Scharfgarben oder Orakelknochen Privat-Divination betreiben, um Auskunft über das zukünftige Schicksal, günstige Zeiten oder das richtige Handeln zu gewinnen.

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5 Philosophie im alten China

5.2.4 Mohismus Eine weitere Schule der klassischen chinesischen Philosophie war der Mohismus (mòjiā 墨家), benannt nach Mòzǐ 墨子, eigentlich Mò Dí 墨翟. Er lebte im 5. Jh. v. u. Z. und war ein früher Opponent von Konfuzius. Im Gegensatz zu Konfuzius, der Musik, Rituale und Literatur als Mittel zur moralischen Vervollkommnung respektierte, zweifelte Mò Dí ihren Wert an, sah sie als Zeit- und Ressourcenverschwendung und versuchte, sie mit Nützlicherem zu ersetzen. Daher wird er als Kritiker des „alten Weges“ und Konfuzius als ihr Verteidiger angesehen. Da er als einziger der führenden Denker der Östlichen Zhōu-Zeit wohl nicht von adliger Abstammung war, setzte er sich dafür ein, dass sozialer Aufstieg nicht von Abstammung, sondern von der Befähigung des Einzelnen abhängen sollte, auch wenn es sich hierbei um Bauern, Handwerker oder Händler handelte. Dies war eine Idee, die Xúnzǐ von ihm übernahm. Für Mò Dí war das wichtigste Kriterium für die Bewertung von Handlungen der Herrscher ihr Nutzen für die Allgemeinheit, auch sah er etwa „Familie“ aus einer rein nutzbringenden Perspektive. Der ideale Herrscher sollte zum Wohl aller regieren und seine Handlungen danach ausrichten. Angriffskriege wären folglich nur von Nachteil für die Allgemeinheit. Während Konfuzius eine distanzierte Haltung zu übernatürlichen Wesen und Geistern hatte, hatten für Mò Dí Geister die Funktion, Menschen zu strafen und zu belohnen. Rechtschaffenheit als die wesentliche Tugend diente nach Mò Dí der Stabilität der Gesellschaft und des politischen Systems. Während Konfuzius sagte, dass man die fünf traditionellen Beziehungen auf unterschiedliche Arten pflegen und respektieren müsse, argumentierte Mò Dí, dass grundsätzlich alle Menschen, ob Familie oder nicht, im gleichen Maße respektiert werden sollten, dass für sie gesorgt werden müsse und keine Bevorzugung etwa von Eltern durch ihre Kinder oder unterschiedliche Behandlung stattfinden sollte.

5.2.5 Die Legalisten Eine weitere Denkschule aus der Zeit der Streitenden Reiche ist die der Legalisten. Diese wurden ab der Hàn-Zeit chin. fǎjiā 法家 genannt, Bezug nehmend auf den Begriff fǎ 法 („Gesetz“). Sie stellen das von ihnen entworfene Rechtssystem für die ideale Organisation eines Staates in den Vordergrund ihrer Lehre: das Gesetz, die Methode politischen Handelns (shù 術) und die Macht (shì 势) standen hier im Mittelpunkt. Ihrer Ansicht nach benötigt eine starke Regierung nicht nur entsprechende moralische Eigenschaften des Herrschers und seiner Beamten, sondern insbesondere funktionierende Strukturen, die für alle

5.2 Die Denkschulen

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gelten sollten. Basierend auf ihren Beobachtungen der gesellschaftlichen Realität entwarfen sie ein äußerst strenges System von Anreizen und harten Bestrafungen, das in Gesetzen verankert wurde und vom Herrscher durchgesetzt werden musste. Sie interessierten sich nicht für Kosmologie, Erkenntnistheorie oder individuelle Moral, sondern für die Kontrolle durch den Staat und die Herrschaft über die Untertanen. Der Legalismus war in der Zeit der Streitenden Reiche als Staatsphilosophie sehr attraktiv und wurde zur Staatsideologie des Staates Qín 秦 (Als Kaiserreich 221–206 v. u. Z.) – der ersten Dynastie des chinesischen Kaiserreichs. Der Staatsmann und Reformer Shāng Yāng 商鞅 (ca. 390–338 v. u. Z.) verlangte die Durchsetzung harter Strafen gegen jeden ohne Rücksichtnahme, falls Befehle des Königs missachtet, Verbote und Erlasse nicht befolgt oder Unruhe gestiftet werden würde. Ein effizientes Staatswesen wurde erschaffen: Auf Basis des Regierens durch Gesetz (anstatt des konfuzianistischen Regierens durch Tugend) wurden bestimmte Handlungen mit durchaus harten Strafen, aber auch mit Belohnung belegt. Zahlreiche Durchführungsverordnungen und Normen wurden erlassen und eine effiziente zentrale Verwaltung geschaffen, Grund und Boden wurden neu verteilt, Maße und Gewichte vereinheitlicht und untätige Aristokraten entmachtet. Weiterhin wurde die Bevölkerung in Zehner- und Fünfergruppen eingeteilt, die füreinander haftbar waren. Das Hauptwerk des Legalismus ist das Hán Fēizǐ 韓非子, nach seinem Verfasser Meister Hán Fēi (280–233 v. u. Z.), einem Schüler Xúnzǐs. Im Hán Fēizǐ findet man die ausführlichsten Darstellungen legalistischen Staatsverständnisses. Die Legalisten gingen von einer schlechten Natur des Menschen aus, die es durch Gesetzte und harte Bestrafungen zu formen galt, weil Erziehung im konfuzianischen Sinne dies nicht leisten könne. Hán Fēi nahm bei seinen Überlegungen die Perspektive des Herrschers ein und riet diesem, dass er seinen Untergebenen niemals trauen darf und sie hart, aber gerecht behandeln müsse. Die Legalisten hatten eine autoritäre Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung. Wenn das Gesetz streng eingehalten werden würde, bringe die entstehende Ordnung und Berechenbarkeit für alle einen Nutzen. Traditionen wie Legalismus und Mohismus wurden im Verlauf der chinesischen Geistesgeschichte nicht weiterverfolgt, allerdings wurden Teile von ihnen in den Konfuzianismus und Daoismus mit aufgenommen.

5.2.6 Míngjiā Die míngjiā 名家 („Sophisten“, „Logiker“ oder „Dialektiker“) waren ebenso eine der Hundert Schulen aus der Zeit der Streitenden Reiche. Der Name míngjiā

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5 Philosophie im alten China

bedeutet „Schule der Namen“, denn die Philosophen dieser Denkschule dachten über logische Probleme wie etwa Existenz, Wirklichkeit, Raum, Zeit, Wissen und Wahrheit, Weltverständnis und dessen sprachliche Repräsentation sowie das Verhältnis von Sprache und Denken nach. Es war eine vergleichsweise kleine Schule, die wenig Einfluss auf die intellektuelle Geschichte Chinas nahm, aber es war eine Schule, die sich vordergründig logischer und epistemologischer Probleme widmete. Wichtige Vertreter waren Huì Shī 惠施 (380–305 v. u. Z.) und Gōngsūn Lóng 公孫龍 (geb. 380 v. u. Z.). Die míngjiā wurden auch xíngmíngjiā 形名家 („Schule der Form und Namen“) genannt, ihre Vertreter kurz biànzhě 辯者 (die „Debattierer“). Nur Teile Ihrer Worte und Texte sind erhalten, so finden sich auch ihre Ideen und Gedanken in Erzählungen u. a. des Zhuāngzǐ, Xúnzǐ oder Hán Fēizǐ wieder. Die beiden berühmtesten Traktate des Gōngsūn Lóng etwa sind Kritiken an Gleichheit und Verschiedenheit: 1. bái mǎ fēi mǎ 白馬非馬, „Ein weißes Pferd ist kein Pferd“ (da „Pferd“ der Kategorie Tier und „weiß“ der Kategorie Farbe zugeordnet ist, passt „weißes Pferd“ nicht zur Kategorie Pferd) und 2. jiān bái shí èr 堅白石二, „ein harter weißer Stein sind zwei Dinge“ (da Härte nicht mit dem Auge erfasst werden kann, das nur das Weiß erfassen kann). Die Denker der míngjiā befassten sich ausführlich mit analytischem Denken über kontextabhängige Unterschiede von Begriffsbedeutungen und darüber, wie Wörter und Phrasen in der Sprache funktionieren. Bei ihren Opponenten erweckten Vertreter der míngjiā den Eindruck, sie würden nur um des Diskutierens Willen existieren. In Kapitel 33 des Zhuāngzǐ lesen wir die Kritik, dass Huì Shī und Gōngsūn Lóng des Diskutierens nie müde geworden seien, dass sie irritieren und stören wollten, dass sie jeden argumentativ schlagen wollten, aber die Herzen dennoch nicht erreichen konnten – sie hätten kein wahrhaftiges Können besessen.

5.3 Philosophie oder Religion? Eine scharfe und klare Trennung zwischen Philosophie und Religion gibt es in China nicht und man sollte hier die engen Verbindungen und zudem auch unterschiedliche chinesische Denktraditionen mit ihren eigenen Schwerpunktsetzungen immer im Hinterkopf behalten. Beispielsweise werden die daoistischen Schriften wie Dàodéjīng und Zhuāngzǐ einem philosophischen Daoismus zugeordnet, Schulen, die ab dem 2. Jh. u. Z. aufkamen, eher dem religiösen Daoismus. Fest steht in Bezug auf die sogenannten Drei Lehren Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus, dass es dem Konfuzianismus gelang, eine Art Staatsorthodoxie zu etablieren, während Daoismus und Buddhismus eher als Religion behandelt werden. Oft wird die Frage gestellt, ob denn der Konfuzianismus nun eine Religion oder eine Philosophie sei.

5.5 Begriffe

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Der Neo-Konfuzianismus nimmt zudem auch daoistische und buddhistische Gedanken mit auf, sodass bei einer derartigen Vermischung noch weniger allgemeingültige Aussagen über eine eindeutige Zuordnung einer dieser Lehren zu Philosophie oder Religion getroffen werden sollte. Wenn im Zentrum einer Untersuchung allerdings tatsächlich die Darstellung des philosophischen oder religiösen Charakters einer Denkschule steht, dann ist vorab eine genaue Definition von Philosophie oder Religion in diesem Zusammenhang unumgänglich, und zwar mit den chinesischen Begrifflichkeiten und in Abgrenzung zu dem eigenen Verständnis von Religion und Philosophie, das auf den chinesischen Kontext übertragen wird, um eine Einordnung durchzuführen. Zudem müssen bei dieser Diskussion Themen wie „Religionsphilosophie“, „religiöse Philosophie“, „Übertragung westlicher religiöser und philosophischer Begriffe und Kontexte auf andere Denktraditionen“ und so weiter berücksichtigt werden. Auch muss hierbei begründet werden, ob und inwiefern der Gebrauch westlicher Begriffe und Kategorien für das Verständnis klassischer chinesischer Denkschulen überhaupt sinnvoll sind und ob bzw. was wir lernen, wenn wir in unseren Erklärungsansätzen so, d. h. unter Verwendung unserer Begrifflichkeiten, vorgehen.

5.4 Fazit Die geistigen Grundlagen der chinesischen Zivilisation wurden in der östlichen Zhōu-Dynastie (770–265 v. u. Z.) gelegt, einer Zeit, die von politischer Zersplitterung und moralischer Krise geprägt war. Vertreter unterschiedlicher Denkrichtungen traten als politische Berater auf und erörterten die Grundprinzipien der menschlichen Gesellschaft sowie der natürlichen Ordnung und legten mit ihren philosophischen Abhandlungen Grundlagen für kommende intellektuelle Debatten. Inhalte, Form und Texte dieser Debatten erfuhren bis in die Gegenwart zahlreiche Veränderungen, sodass die klassische chinesische Philosophie und ihre Schulen die gegenwärtigen Philosophien zwar mitformten, aber dennoch als ein eigener Gegenstand behandelt werden sollten.

5.5 Begriffe Dàodéjīng – Das wesentliche Werk des Daoismus, eine Sammlung von Spruchkapiteln, der Legende nach von Lǎozǐ Fünf Beziehungen – konfuzianisch geprägte gesellschaftliche Ordnungsverhältnisse zwischen Vater – Sohn; Herrscher – Untertan; Ehemann – Ehefrau, Älterer Bruder – Jüngerer Bruder, Freund – Freund

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5 Philosophie im alten China

Fünf Kardinaltugenden – Nach konfuzianischer Lehre soll der Mensch nach Vervollkommnung streben, zur Orientierung dienen die fünf Tugenden Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Sittlichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit Fünf Klassiker – Fünf Werke der klassischen chinesischen Literatur, die den klassischen Kanon des Konfuzianismus bilden: Das Buch der Wandlungen, das Buch der Lieder, das Buch der Urkunden, das Buch der Riten, die Frühlings- und Herbstannalen Himmelsmandat – Ein Konzept, das die Legitimation einer Herrschaft durch den Himmel beschreibt: Der Himmel schützt die Autorität des rechtmäßigen Herrschers, während ein unrechtmäßiger Herrscher das Himmelsmandat verlieren würde (was sich etwa durch einbrechende Katastrophen, Dürren, Fluten ankündigen würde) Lúnyǔ – Gesammelte Aussprüche des Konfuzius Neo-Konfuzianismus– Entstand während der Sòng-Dynastie, hat seinen Ursprung im Konfuzianismus, weist zudem starke Einflüsse aus Buddhismus und Daoismus auf. Er war ab der Sòng-Dynastie eine einflussreiche Geistesströmung in China Soziale Pflichten – Loyalität, kindliche Pietät und Wahrung von Anstand und Sitte sind sozialen Pflichten, die sich aus den fünf Kardinaltugenden ergebenZeit der Hundert Schulen – Die Bezeichnung für zahlreiche verschiedene Denkrichtungen und ihre Vertreter von der Zeit der Frühling- und Herbstperiode und Zeit der Streitenden Reiche bis zur frühen Hàn-Dynastie

5.6 Vorschläge zur Vertiefung Cheng, Chung-ying und Nicholas Bunnin (Hrsg.). Contemporary Chinese Philosophy. Malden: Blackwell, 2002. Ivanhoe, Philip J. und Bryan W. van Norden (Hrsg.). Readings in Classical Chinese Philosophy. Indianapolis: Hackett Publishing Company, 2005. Lai, Karyn L., An Introduction to Chinese Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, [2008] 2017. Roetz, Heiner und Hubert Schleichert. Klassische chinesische Philosophie: Eine Einführung. Frankfurt am Main: Klostermann, 2009. Van Ess, Hans. „Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie.“ In Sinologie und Chinastudien. Eine Einführung, herausgegeben von Stefan Kramer, 73–83. Tübingen: Narr, 2013.

5.7 Transferaufgaben

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5.7 Transferaufgaben 5.7.1 Chinesische Philosophie für Europäer? Gehen Sie in ein Zeitschriftengeschäft und suchen Sie nach Beiträgen, die sich inhaltlich auf die chinesische Philosophie berufen. Welche Informationen werden den Leser*innen vermittelt? In welcher (sprachlichen/visuellen) Form werden diese Bezüge wiedergegeben bzw. aufbereitet? Stellen Sie dar, in welchen Kontexten Rückgriff auf chinesische Philosophie genommen wird (Achtsamkeit? Meditation? Sport?).

5.7.2 Gegenwärtige chinesische Philosophen Wer ist Tu Wei-ming (Dù Wéimíng 杜维明) und welche philosophische Schule vertritt er? Recherchieren Sie seine Ansichten zum Konfuzianismus im Zusammenhang mit Glück, Harmonie, Humanismus und „asiatischen Werten“.

5.7.3 Entwicklungen einer philosophischen Denkrichtung Welche groben Entwicklungsstufen und Ausdifferenzierungen lassen sich für „den“ Konfuzianismus ermitteln? Recherchieren Sie ausgehend von den „alten“ Denkern die inhaltliche Formierung einer konfuzianischen Tradition, die Umbrüche und Formen des Wiederauflebens bis zum Ende der Kaiserzeit. Welche Entwicklungen und Schwerpunkte gibt es zudem seit dem 19. Jahrhundert?

6 Religionswissenschaftliche Chinastudien Merle Schatz Zusammenfassung: Dieses Kapitel stellt exemplarisch Themen und Zugänge religionswissenschaftlicher Chinaforschung vor. Religionswissenschaftliche Chinaforschung erfreut sich zahlreicher, umfangreicher Publikationen mit detaillierten Beschreibungen der einzelnen Religionen, in sowohl gegenwärtiger als auch historischer Perspektive. Das vorliegende Kapitel nennt eingangs die wichtigsten Religionen im heutigen China. An einem konkreten Beispiel wird dann gezeigt, wie Fragen für den möglichen hier ausgewählten Forschungszugang „Religion als ein kulturelles System“ aussehen könnten.

6.1 Religionsforschung Religionsforschung erforscht Religionen mit unterschiedlichen Perspektiven oder Ansätzen, ganz abhängig davon, welche Fragen gestellt werden. Meist ist es eine Kombination der Einzeldisziplinen und die Ergänzung um eine vergleichende Perspektive. Religiöse Texte etwa können aus einer philologischen Perspektive heraus untersucht werden, wenn der Schwerpunkt auf dem theoretischen Ausdruck der Texte oder einer speziellen Sprache des Textes an sich liegt. Wenn Religion in ihrem historischen Zeitkontext und ihren historischen Entwicklungslinien untersucht wird, wäre dies ein historischer Ansatz und den Geschichtswissenschaften zuzuordnen. Wenn aber beispielsweise die sozialen Organisationsformen von Religion quantitativ und qualitativ erforscht werden, wäre ein soziologischer Ansatz erforderlich. Religionsforschung, die eine ethnologische Perspektive einnimmt, kann Religion als ein kulturelles System untersuchen. Der amerikanische Religionswissenschaftler Christian Jochim schlägt in Bezug auf die Arbeiten von Joachim Wach,1 der vergleichend zu Aspekten der Religionssoziologie arbeitete, folgende drei Ansatzpunkte für

1 Joachim Wach, The Comparative Study of Religions (New York: Columbia University Press, 1958). Danksagung: Herzlichen Dank gilt Philip Clart für seine wertvollen Hinweise zu diesem Kapitel, das teilweise auf Ausführungen eines Vortrags, den er im Rahmen unserer Veranstaltung hielt, aufbaut. https://doi.org/10.1515/9783110665024-007

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

eine systematische Religionsforschung vor2: 1. den praktischen Ansatz, der sich mit religiösen Handlungen beschäftigt, 2. den sozialen Ansatz, der beispielsweise die Organisation von Religion, aber auch religiöse Organisationen untersucht, und 3. einen theoretischen Ansatz, der sich mit den Ideen einer Religion beschäftigt. Beispielsweise kann so ein ausgewähltes Ritual, das man in einem buddhistischen Kloster in China beobachtet, systematisch untersucht werden. Wobei es nicht darum geht, diese drei Ansatzpunkte streng getrennt voneinander zu sehen. Vielmehr sind es drei zu erarbeitende Aspekte ein und desselben Phänomens. Für die wissenschaftliche Untersuchung ist eine derartige Trennung, die ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen und Fragestellungen mit sich bringt, aber empfehlenswert, da so konkrete Daten ermittelt werden können und ein systematischer Vergleich mit anderen ähnlich gelagerten religiösen Ritualen möglich ist. Zudem können Diskussionen über ein Thema thematisch konkreter und damit zielführender geführt werden, da beachtet wird, welcher Art die Argumente sind und ob eine etwaige Vermischung der drei Ebenen nicht vielleicht zu einem Unverständnis führt oder gar hinderlich ist im Diskussionsprozess.

6.2 Religionen in China In China gibt es unterschiedliche Religionen und religiöse Gemeinschaften. Einige sind staatlich anerkannt, andere werden toleriert und wieder andere sind gänzlich unerwünscht. In diesem Abschnitt soll auf die Wichtigsten kurz eingegangen werden. Für eine vertiefende Lektüre zu diesem sehr umfangreichen Thema finden sich am Ende des Kapitels weiterführende Literaturverzeichnisse.3 Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus zählen zu den sogenannten Drei Lehren (sān jiào 三教). Konfuzianismus und Daoismus sind in China selbst entstanden. Der Buddhismus kam als dritte große Lehre von außen hinzu, das heißt in diesem Fall aus Indien. Neben diesen drei Lehren sind auch das Christentum und der Islam in China vertreten. Aktuell gibt es fünf offiziell anerkannte Religionen in China: Daoismus, Buddhismus, Islam, protestantisches Christentum und katholisches Christentum. Konfuzianismus wird eher als ein soziales sowie ethisches philosophisches System betrachtet

2 Christian Jochim, Chinese Religions: A Cultural Perspective (New Jersey: Prentice-Hall, 1986), 16 f. 3 Für eine übersichtliche Einführung in das Thema: Philip Clart, Die Religionen Chinas (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009).

6.2 Religionen in China

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und zählt offiziell nicht zu den Religionen.4 Es gibt zudem zahlreiche nicht registrierte christliche Gemeindekirchen, sogenannte Hauskirchen, die in der VR China mal toleriert und mal unterdrückt werden und die oftmals gesellschaftliche Funktionen in ihrem direkten Umfeld oder ihrer Gemeinde mittragen. Nicht offiziell anerkannt ist der Volksglaube, bei dem Ahnenverehrung und die Verehrung lokaler Gottheiten im Zentrum stehen. Neue religiöse Bewegungen, etwa Fǎlún gōng 法輪功, sind streng kontrolliert, verboten und werden unterdrückt. Dies zeigt, dass organisierte Religiosität, wenn sie sich außerhalb anerkannter Institutionen befindet und wie im Falle Fǎlún gōng Proteste ihrer Mitglieder organisiert, vom Staat nicht erwünscht ist. Die fünf anerkannten Religionen verfügen in der Volksrepublik über staatliche Dachorganisationen: Die Chinesische Buddhistische Vereinigung, die Chinesische Daoistische Vereinigung, die Katholische Patriotische Vereinigung Chinas, die Chinesische Islamische Vereinigung und die Chinesische Protestantenvereinigung. Unter anderem versucht die chinesische Regierung zu beobachten, ob und in welchem Maße vom Ausland Einfluss über religiöse Gemeinschaften genommen wird.

6.2.1 Die „Drei Lehren“ (sān jiào 三教) Im Konfuzianismus mit seinem Ideal von sozialer Harmonie ging es immer um die individuelle Kultivierung und um die soziale Gestaltung der Gesellschaft. Durch Tugendhaftigkeit stellt der Weise soziale Ordnung her und hält kosmische Prozesse in Einklang. Wenn Fluten, Erdbeben und andere Naturkatastrophen ausblieben, wenn die Ernten gut ausfielen, dann zeugte dies von der Herrschaftslegitimation durch den Himmel. Zudem wurde der Konfuzianismus über viele Jahrhunderte Teil der Staatsideologie, seine Schriften waren wesentlicher Teil der Beamtenprüfungen. Die gegenwärtige chinesische Regierung bezieht sich immer wieder auf eine Interpretation der Lehren des Konfuzius, um ihr Handeln nach einer „harmonischen Gesellschaft“ zu legitimieren.

4 Der chinesische Soziologe Yáng Qìngkūn 楊慶堃 (auch C. K. Yang, 1911–1999) nannte den Konfuzianismus eine „diffuse Religion“, da seine Institutionen keine Kirchen waren, sondern die Gesellschaft, Familien, Schulen und der Staat. Seine Priester waren keine liturgischen Spezialisten, sondern Eltern, Lehrer oder Beamte. Der Konfuzianismus war also eher ein Teil des Sozialgefüges. In: Religion in Chinese Society (Berkeley: University of California Press. 1961), 20–21.

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

Die daoistischen Schriften Dàodéjīng 道德經 und Zhuāngzǐ 莊子 werden dem sogenannten philosophischen Daoismus zugeordnet.5 Die daoistischen Schulen, die ab dem 2. Jahrhundert u. Z. in China auftraten, werden hingegen dem religiösen Daoismus zugeordnet. Der deutsche Sinologe Philip Clart weist darauf hin, dass „man in der traditionellen chinesischen Kultur fremde Konzepte wie ‚Religion‘ und ‚Philosophie‘ vermeidet und statt dessen die Kontinuitäten und Brüche zwischen verschiedenen Phänomenen untersucht, die unter dem Dach eines weit gefassten Daoismusbegriffs versammelt werden“.6 Auf die Debatte, inwieweit es sich bei Konfuzianismus und Daoismus um Religionen und/oder Philosophien handelt, wird hier nicht näher eingegangen. Der Konfuzianismus wurde, wie der Daoismus, bereits im Kapitel 5 über Philosophie im alten China beschrieben. Daher wird im Folgenden der Buddhismus als dritte der „Drei Lehren“ vorgestellt. Der Buddhismus entstand in Indien und gilt daher in China als eine Fremdreligion, die aber so stark Teil der chinesischen Kultur geworden ist, dass manch einer meint, er sei ursprünglich eine chinesische Religion. Die Buddhist*innen berufen sich auf die Lehren des Siddhartha Gautama (ca. 563–483 v. u. Z., umstritten), der als historischer Buddha bezeichnet wird. „Buddha“ (wörtlich „Erwachter“) ist ein Titel, der sich auf ein Erlebnis bezieht, das bodhi („Erwachen“) genannt wird und eine fundamental befreiende Einsicht in die Grundtatsachen allen Lebens bedeutet. Nach der buddhistischen Lehre befinden sich alle unerleuchteten Wesen in einem endlosen leidvollen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt (Samsara). Ziel der buddhistischen Praxis ist, aus diesem Kreislauf des Leidens herauszutreten. Grundlage der buddhistischen Theorie und Praxis sind die sogenannten Vier Edlen Wahrheiten: 1. Das Leben ist Leiden. 2. Dieses Leid wird durch die drei Grundübel Gier, Hass und Verblendung verursacht. 3. Leid kann durch die Vermeidung der Grundübel nicht entstehen. 4. Das Mittel zur Vermeidung von Leid ist in den Übungen des Achtfachen Pfades zu finden: Rechte Erkenntnis, rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechte Übung, rechte Achtsamkeit und rechte Meditation. Wann genau der Buddhismus nach China kam, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Über die Seidenstraße gab es schon früh Kontakte nach Zentralasien und Indien. Der aus Indien stammende Buddhismus wurde durch buddhistische

5 Zu den Inhalten von Daoismus und Konfuzianismus siehe Kapitel 5 „Philosophie im alten China“. 6 Philip Clart, „Religionen und Religionspolitik in China: Historische Grundlagen und aktuelle Perspektiven,“ in Länderbericht China, hrsg. Doris Fischer et al. (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2014), 611.

6.2 Religionen in China

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Mönche dem chinesischen Umfeld gut eingepasst, wobei hier regionale Unterschiede im Laufe der Zeit zu verzeichnen sind und man kaum von einer homogenen Entwicklung des Buddhismus in China sprechen kann. Erste Erwähnungen buddhistischer Gemeinden nennen die Zeit um 50 u. Z., im zweiten Jahrhundert nahm der Buddhismus verstärkt Einfluss auf das chinesische Geistesleben und im 4. Jahrhundert begannen größer angelegte Übersetzungstätigkeiten buddhistischer Schriften. Parallel zur geistigen Entfaltung des Daoismus verbreitete sich der Buddhismus in der Zeit vom 3.–6. Jahrhundert immer weiter in China und bildete unterschiedliche Schulen aus, die alle der Richtung „Großes Fahrzeug“ bzw. „Großer Weg“ (Mahayana) zuzuordnen sind. Das Mahayana ist eine der großen Hauptströmungen im Buddhismus. Im Zentrum des Mahayana stehen die Werte Mitgefühl und Weisheit. Der Weg des bodhisattva, der geprägt war von selbstlosen, mitfühlenden Handlungen (eine Geschichte erzählt davon, wie er sich aus Mitgefühl einer Tigerin zum Fraß vorwarf, weil sie am Verhungern war und ihren Kindern keine Milch mehr geben konnte) und zahlreichen Entbehrungen, ist das Vorbild für alle Praktizierenden. Die Lehre des Buddha übte mit dem Karma-Konzept und der Vorstellung von der Alleinverantwortung des Individuums für seine Erlösung wichtige Einflüsse auf die Religionswelt in China aus. In intellektueller Auseinandersetzung mit Daoismus und Konfuzianismus definierten chinesische Mönche und Nonnen den Buddhismus neu. Sie missionierten, indem sie buddhistische Inhalte über Bilder und Geschichten dem ungebildeten Publikum nahebrachten. Der Buddhismus veränderte so auch die Vorstellungswelt der Menschen. So wird etwa die Entstehung des sogenannten Geisterfestes (zhōngyuánjié 中元節) in Zusammenhang mit der Geschichte von Mùlián 目連 gebracht, der versuchte, seine Mutter aus der Unterwelt zu retten und die schlimmsten Strafen dafür erduldete.7 Das Geisterfest ist ein Volksfest in China und ein wichtiges buddhistisches Fest. Nach dem Volksglauben kommen Geister und Seelen der Toten aus der Unterwelt auf die Erde. Die Menschen stellen bei dem Fest Speisen vor den Häusern auf, um die hungrigen Geister der qualvollen Unterwelt zu speisen, oder sie verbrennen sogenanntes Höllengeld als Opfergabe für die Geister. Papierboote und Laternen werden ins Wasser gelassen, um den Geistern und Seelen die Richtung zu weisen. Die Jenseitsvorstellungen wurden durch den Buddhismus stark geformt. Eine lang bestehende liturgische Dominanz des Buddhismus im Bereich der Toten- und Begräbnisriten wurde begründet.8 7 David Johnson, „Mulian Rescues His Mother“, in From 1600 through the Twentieth Century. Sources of Chinese Tradition, II, hrsg. Theodore DeBary (New York: Columbia University Press, 2000), 93–104. 8 Clart. „Religionen und Religionspolitik in China,“ 615.

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

Die Táng-Dynastie (618–907) bot aufgrund der Reichseinigung unter einer starken Zentralregierung sehr gute Entwicklungsbedingungen in den kulturellen, künstlerischen, wirtschaftlichen und religiösen Bereichen. Religionen wie Christentum, Islam, Judentum und Manichäismus fanden Eingang nach China. Auch für die Entwicklung sowie Verbreitung des Buddhismus stellt die Táng-Dynastie einen Höhepunkt dar, nicht zuletzt aufgrund einer konkurrierenden Position, die er gegenüber den anderen Religionen in China einnahm.9 Die offene kosmopolitische Stimmung der Táng-Dynastie ließ buddhistische Klöster zu einem festen Bestandteil des religiösen Lebens in China werden. Buddhistische Mönche wurden nach Indien geschickt, um Schriften zu beschaffen, die dann ins Chinesische übertragen wurden. Die Klöster waren zudem wichtige Wirtschaftsfaktoren, da sie meist über große Ländereien verfügten, und mit den Erträgen gute Geschäfte machten sowie Kreditgeschäfte unterhielten. Sie unterhielten auch Schulen, Herbergen und dienten als intellektuelle Zentren. Aber die Geschichte des Buddhismus in der Táng-Dynastie nahm zum Ende der Dynastie hin eine Wendung. Der Buddhismus wurde von Opponenten als etwas Fremdartiges wahrgenommen und die in finanzielle Schwierigkeiten gekommene Regierung sah die Wirtschaftskraft der Klöster als Konkurrenz. Unterdrückungsmaßnahmen gegen den Buddhismus und andere fremde Religionen setzten ein. Die amerikanische Chinahistorikerin Patricia Buckley Ebrey berichtet, dass bis hinein in das Jahr 845 u. Z., in dem die Verfolgungen schließlich eingestellt wurden, rund eine Viertelmillion Mönche und Nonnen ihre Klöster verlassen mussten. Etwa 150.000 Sklavenarbeiter*innen wurden buddhistischem Zugriff entzogen und über 4.000 Klöster und 40.000 Kapellen zerstört oder profaniert.10 Die revolutionären Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hatten maßgeblichen Einfluss auf den Buddhismus auf dem chinesischen Festland. Die von Máo Zédōng 毛澤東 (1893–1976) ausgerufene Kulturrevolution (1965–1976) zielte auf die Zerstörung der Symbole und Organisationen religiöser Traditionen Chinas ab. Zahlreiche Klöster wurden vernichtet, öffentliche Religionsausübung wurde verboten, Mönche und Nonnen vertrieben oder umgebracht. Mit der Öffnung Chinas 1978 verfolgte die Kommunistische Partei Chinas eine tolerantere Umgangsweise mit den religiösen Strömungen im Land. Im Zusammenhang mit der Neugründung der Chinesischen Buddhistischen Vereinigung etwa wurden buddhistische Klöster und Tempel wiederaufgebaut, die Zahl der Mönche und Nonnen

9 Ausführlich zu Buddhismus in der Táng-Zeit siehe Philip Clart, Die Religionen Chinas (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 89 ff. 10 Patricia Buckley Ebrey, China (Frankfurt, New York: Campus Verlag, 1996), 126.

6.2 Religionen in China

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wuchs erneut an und der Buddhismus verbreitete sich wieder verstärkt in der Bevölkerung. Im Westen ist besonders der Chán 禪-Buddhismus bekannt, den meisten ist er allerdings eher unter dem japanischen Namen Zen-Buddhismus geläufig. Der Begriff Chán kann mit „Meditation“ übersetzt werden. Das Shàolín-Kloster (Shàolín sì 少林寺) in der Provinz Hénán ist zum Stammkloster des Chán-Buddhismus geworden. Hier wird, genauso wie in zahlreichen daoistischen Klöstern, neben der buddhistischen Ausbildung auch spezielle Kampfkunst praktiziert, die auch als Teil meditativer Praxis verstanden wird.

6.2.2 Christentum Erste Spuren des Christentums in China werden auf der sogenannten Nestorianischen Stele genannt, die von der Religionsgemeinschaft der Nestorianer*innen im Jahre 781 in der Nähe der heutigen Stadt Xi‘an aufgestellt wurde. Hier ist vermerkt, dass die christliche Lehre des Nestorius im Jahr 635 in China ankam. Im 9. Jahrhundert war das Christentum Verfolgungen ausgesetzt, wohl im Zuge der Unterdrückung buddhistischer Mönche und Nonnen und der Zerstörung ihrer Klöster, die man nicht recht von den christlichen unterscheiden konnte oder wollte. Später, unter der Mongolen-Herrschaft (1279–1368), reisten unter anderem Franziskaner an den Hof des Großkhans. Einerseits, um zu missionieren, andererseits, um in Erfahrung zu bringen, wer die „aus der Hölle entsprungenen“ Reiternomaden waren und was sie wollten. Auch hoffte man, Verbündete gegen die Muslime zu gewinnen, mit denen man während der Kreuzzüge im Streit lag. Die Mongolen waren zwar allen Religionen gegenüber offen und aufgeschlossen, hatten aber kein Interesse an Bündnissen oder Festlegungen auf eine Religion. Nach der Mongolenherrschaft wurde das Christentum in China eher bedeutungslos, sodass im Grunde erst mit den Jesuiten und anderen katholischen Orden vom 16.–18. Jahrhundert eine neue Phase der Missionierung einsetzte. Der China-Missionar Matteo Ricci (1552–1610) und auch spätere Jesuiten versuchten, über sogenannte Akkulturations-Strategien das Christentum in China nicht als absolut fremd erscheinen zu lassen, sondern genuin chinesisch. So erlernten die Jesuiten die chinesische Sprache, fertigten Übersetzungen biblischer Texte an, erschufen christliche Gemälde, die Merkmale der chinesischen Kultur aufwiesen und trugen chinesische Kleidung. Ricci fand in konfuzianischen Klassikern Textstellen, an denen sich christliche Lehre anknüpfen ließ. Konfuzius konnte so als ein Vorläufer christlichen Gedankenguts interpretiert werden. Die Jesuiten versuchten also heilsgeschichtliche Übereinstimmungen zu finden, um erfolgreicher missionieren zu können. Aufgrund ihrer mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

waren die Jesuiten gern gesehen am Kaiserhof. Aber ihr Ziel eines exklusiven Religionsstatus erreichten sie nicht. Im sogenannten Ritenstreit im 18. Jahrhundert wurden dann die grundsätzlichen Unterschiede und Widersprüche zwischen Christentum und der chinesischen Kultur diskutiert, es ging hierbei auch um die Zulässigkeit der Durchführung traditioneller chinesischer Praktiken durch katholische Konvertit*innen. Die Verehrung der Ahnen und Konfuzius wurde von den Befürwortern als kulturelle und nicht religiöse Praktik angesehen. Die Gegner sahen darin allerdings Götzendienst. Insgesamt war der christliche Missionserfolg in China begrenzt. Im 19. Jahrhundert gab es einen erneuten Missionsschub, der eng mit einem kulturellen Überlegenheitsgefühl verbunden war. Protestantische und katholische Schulen sowie Universitäten wurden gegründet, eine Anpassung an die inzwischen als rückständig angesehene chinesische Kultur wurde nicht mehr angestrebt. Vielmehr wurde zum Ziel, Chines*innen für die Leitung von christlichen Institutionen auszubilden.11 Während der späteren Kulturrevolution wurde auch gegen das Christentum vorgegangen, Kirchen wurden zu Lagerhallen umfunktioniert und viele Christ*innen sahen sich gezwungen, im Untergrund in sogenannten Hauskirchen Gottesdienst zu feiern. Seit den 80er Jahren agieren Christ*innen allerdings wieder erfolgreicher in der VR China. Sowohl staatlich gestützt im institutionalisierten Rahmen der Katholishen Patriotischen Vereinigung Chinas und der Chinesischen Protestantenvereinigung, als auch in den inoffiziellen zahlreichen Hauskirchen vermitteln Gemeinden christlichen Glauben, dienen als soziale Netzwerke und nehmen eine immer wichtigere soziale Rolle innerhalb der chinesischen Gesellschaft ein.

6.2.3 Islam Der Islam als eine weitere anerkannte Religion Chinas kam mit Händlern über die Seidenstraße aus Zentralasien etwa zur Zeit der Táng-Dynastie nach China. Arabische und persische Kaufleute ließen sich in China nieder und behielten ihren Glauben bei. Heutzutage kann die Zahl der Muslim*innen in China im Gegensatz zu denen der Katholik*innen und Protestant*innen relativ genau bestimmt werden, weil sie als Nationalität, als Huí (Huízú 回族), registriert sind. Neben den Huí gibt es aber noch andere ethnische Minderheiten, die sich zum Islam bekennen, etwa die Uighur*innen, Kasach*innen, Kirgis*innen und Usbek*innen. Die Geschichte der Verwurzelung des Islam in China ist komplex. In der mongolischen Yuán-Dynastie hatten Arabisch und persische Sprachen sprechende

11 Ausführlicher hierzu: Clart. „Religionen und Religionspolitik in China,“ 607–640.

6.3 Religion in China als kulturelles System

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Muslim*innen gesellschaftliche Privilegien und viele von ihnen standen in den Diensten der Mongol*innen, die sich das Wissen der Handwerker*innen und Kaufleute, aber auch die Fähigkeiten der Übersetzer*innen zu Nutzen machten. In der Míng- und Qīng-Dynastie war der Islam auch präsent. Die muslimische Gemeinschaft in China ist weder ethnisch noch religiös homogen und unterschiedliche islamische Schulen wurden praktiziert und gelehrt. Genauso wie das Christentum schaffte der Islam es nicht, ein zum Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus ebenbürtiger Bestandteil der chinesischen Religionsgeschichte zu werden. Zu unterschiedlich waren auch hier theologische Inhalte und Ansprüche an einen bestimmten Lebensstil, den die Religion einforderte. Die religiöse Erneuerung der 80er und 90er Jahre hat islamischen Gruppierungen wie etwa dem Sufismus genützt. Zudem dienten die muslimischen Gemeinden vor allem im Autonomen Gebiet Níngxià als Vermittler zu Institutionen und Staaten des Nahen Ostens, die in Industrie und militärische Aufrüstung der VR China investierten.12 In der VR China leben heute mindestens zwanzig Millionen Muslim*innen, etwa die Hälfte wird den chinesischsprachigen Huí zugerechnet, der Rest neun anderen muslimischen Minderheiten, etwa den turksprachigen Uighur*innen.13 In Nordwestchina stellen Muslim*innen nach wie vor die Bevölkerungsmehrheit. Immer wieder wird von Unterdrückung der Uighur*innen durch die chinesische Regierung berichtet.

6.3 Religion in China als kulturelles System Die Möglichkeit, Religionen in der VR China zu erforschen, hängt wie bei jedem Forschungsgegenstand auch von der Möglichkeit ab, überhaupt Zugang zu Daten zu erhalten. In Bezug auf China heißt dies im Wesentlichen, Zugang zu den religiösen Stätten zu erhalten – es sei denn, wir beschränken die Forschung auf philologische Textarbeiten mit Material, das in Archiven und Bibliotheken außerhalb der VR China zugänglich ist. Nach 1949 entwickelte der festlandchinesische Staat gegenüber etablierten Religionen eine zunehmend feindselige Einstellung. Insbesondere während der Kulturrevolution wurden zahlreiche Moscheen, Tempel, Kirchen, kulturelle Monumente, Genealogien und Bücher systematisch zerstört. Forschung war im Grunde unmöglich. Erst in den 1980er Jahren kam es mit dem

12 Françoise Aubin, „Islam,“ in Das Große Chinalexikon, hrsg. Brunhild Staiger et al. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Primus Verlag, 2008), 349–352. 13 Clart, Die Religionen Chinas, 171.

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

Wiederaufleben von Religion und der Öffnung der Volksrepublik auch zur Wiederaufnahme von Religionsforschung in und über China. Die Erforschung von religiösen Aktivitäten oder Organisationen in China als ein kulturelles System wird thematisch der ethnologischen Religionsforschung zugeordnet: Religion spielt im Prozess der Ausdifferenzierung der Teilbereiche von Kultur eine interessante Rolle, da durch ihren Einfluss bestimmte Regelungen entstehen, die sie von anderen Teilbereichen der Kultur unterscheiden. Diese Regelungen etablieren soziale Systeme und spiegeln sie, selbst zu einem eigenständigen Bereich kultureller Praktiken werdend, wider. Ein weites Feld religionswissenschaftlicher Chinastudien bilden daher Fragen zu Religion, Glauben, Glaubenssystemen und religiösen Ritualen. Diese werden vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ordnung, Globalisierung, Modernität oder sozialen Netzwerken untersucht. Religion wird dabei oft als ein wichtiger Teil der Identität einer Person oder Gruppe dargestellt. Es gibt seit etwa den 1980er Jahren Ethnolog*innen, Volkskundler*innen als auch Religionswissenschaftler*innen, die über Rituale, Tempel und Tempelfeste forschen. Insgesamt ist in den letzten Jahren ein enormer Anstieg von Forschungsarbeiten zu verzeichnen, die Fragestellungen zur Religion mit solchen aus dem Bereich von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft verknüpfen. Aus der breiten Auswahl sollen einige der aktuelleren genannt werden: Dean und Zheng etwa beschreiben den hohen Stellenwert der Tempel als lebendige kulturelle Zentren, in denen kapitalistische und nationale Interessen unter Beibehaltung lokaler kultureller Differenzen ausgehandelt würden.14 Das Christentum und lokale christliche Kirchen, aber auch Hauskirchen haben eine wachsende Bedeutung als Teil von Netzwerken erlangt. Im Bereich der Buddhismus-Forschung untersucht Gareth Fisher neue buddhistische Bewegungen im gegenwärtigen Peking im Kontext von Globalisierung und damit verbundenem kulturellen Wandel. Religiöse Rituale werden im Zusammenhang mit Ereignissen wie Geburt, Heirat, Tod, Festivitäten oder Pilgerreisen untersucht.15 In diesem Kontext werden zudem Geschlechterrollen, regionale Unterschiede, ethnische Identitäten und Klassenunterschiede, das Wiederaufleben und die Kommerzialisierung von Religion, Religion in ihrem Verhältnis zur Staatsideologie, religiöse Netzwerke von Migrant*innen sowie der religiöse Gebrauch digitaler Medien erforscht. Dan Smyer Yu etwa widmet sich in seiner Arbeit dem gegenwärtigen tibetischen Buddhismus in den Provinzen Sìchuān und Qīnghǎi und analysiert

14 Kenneth Dean und Zhenman Zheng, Ritual Alliances of the Putian Plains: Vol. 1: Historical Introduction to the Return of the Gods. Vol 2: A Survey of Village Temples and Ritual Activities (Leiden: Brill, 2010). 15 Gareth Fisher, „Religion as Repertoire: Resourcing the Past in a Beijing Buddhist Temple,“ Modern China 38 (2012): 346–376.

6.3 Religion in China als kulturelles System

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diese im Zusammenhang mit kultureller Identität, Staatsideologie und populären Vorstellungen über tibetisch-buddhistische Spiritualität.16 Das Wiederaufleben des tibetischen Buddhismus im heutigen China steht nach seiner Überzeugung in enger Beziehung mit Globalisierung, Modernität, Religionspolitik und Marktwirtschaft. Adam Yuet Chau untersucht anhand des Schwarzen-DrachenkönigTempels im Norden der Provinz Shǎnxī, inwieweit Religiosität und die Aktivitäten lokaler Eliten zu einem Wiederaufleben religiöser Aktivitäten beigetragen haben.17 Am Beispiel eines Dorfes in der Provinz Guǎngdōng untersucht PuiLam Law den Zusammenhang von volksreligiösen Praktiken mit patrilinearen Geschlechterverhältnissen.18 Mayfair Yang dagegen berichtet vom Verlust religiös motivierter Umweltvorstellungen in China als vermeintliche Mitauslöser für die Hungerkatastrophe nach dem „Großen Sprung“ in den späten 1950er Jahren, über die damalige Abholzung der Wälder und die zunehmende Wasser- und Luftverschmutzung seit den 1980er Jahren.19 Sinologische Religionsforschung erforscht also ganz unterschiedliche Aspekte von Religionen oder unterschiedliche Aspekte im Zusammenhang mit Religionen, die in China praktiziert wurden oder werden. Die Forschungsansätze bedienen sich philologischer, geschichtswissenschaftlicher, ethnologischer oder auch soziologischer Ansätze und Theorien. Am Beispiel des buddhistischen Shàolín-Klosters soll im Folgenden skizziert werden, wie etwaige Fragestellungen und Themeneingrenzungen sinologischer Religionsforschung hier aussehen könnten.20 Wie andere buddhistische und daoistische Tempel und Klöster Chinas war auch das bei der Stadt Dēngfēng in der Provinz Hénán gelegene Shàolín-Kloster nach der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ beinahe vollkommen zerstört worden. Dèng Xiǎopíngs Reformprogramm leitete eine allmähliche ideologische Liberalisierung ein. Die chinesische Regierung erwartete zunehmend von allen Religionsgemeinschaften, einen Beitrag zur ökonomischen Modernisierung des

16 Dan Smyer Yu, Spread of Tibetan Buddhism in China. Charisma, Money, Enlightenment (London: Routledge, 2011). 17 Adam Yuet Chau, „Hosting Funerals and Temple Festivals: Folk Event Productions in Rural China,“ in Asian Anthropology 3 (2004): 39–70; „The Politics of Legitimation and the Revival of Popular Religion in Shaanbei, North-Central China,“ in Modern China 31, 2 (2005): 236–278. 18 Pui-Lam Law, Marriage, Gender, and Sex in a Contemporary Chinese Village (New York: Sharpe, 2004). 19 Mayfair Mei-Hui Yang, Chinese Religiosities: Afflictions of Modernity and State Formation (Berkeley: University of California Press, 2008). 20 Auszug aus dem aktuellen Forschungsprojekt „Kulturalisierung – Inwertsetzung – Säkularisierung am Beispiel des Shaolin Chan Buddhismus und seiner Künste“ von Martin Ramstedt und Merle Schatz.

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

Landes zu leisten. Zugleich begann sie den Buddhismus als Teil der Hànchinesischen Zivilisation zu positionieren, nicht zuletzt, um die Beziehungen mit anderen buddhistischen Ländern zu fördern. Die chinesische Regierung erhoffte sich von diesen Beziehungen vor allem, dass chinesisch-stämmige Buddhist*innen in anderen asiatischen Ländern in China investieren bzw. als religiöse Tourist*innen das wirtschaftliche Wachstum des Landes ankurbeln würden. Diesen Erwartungen von staatlicher Seite stand die Tatsache gegenüber, dass die im Zuge der kommunistischen Landreformen der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts vollzogenen Enteignungen der buddhistischen Klöster und Tempel ab den achtziger Jahren in der Regel nicht wieder rückgängig gemacht wurden. Das bedeutete, dass diese zu ihrer Wiederbelebung nicht mehr auf Einkünfte von ihren früheren Ländereien zurückgreifen konnten. Sie mussten sich daher auf andere wirtschaftliche Strategien verlegen, um unter den neuen Verhältnissen gedeihen zu können. Beim Shàolín-Kloster stellten sich kurz nach dem Erscheinen des Filmes Shàolín sì („Shaolin-Tempel)“ im Jahre 1982 jährliche Besucher*innenzahlen in Millionenhöhe ein. Ein Jahr später erklärte die chinesische Regierung den gesamten Sōngshān-Berg, einschließlich des Shàolín-Klosters, als einen von sechsunddreißig Nationalparks der Volksrepublik China. Als 1987 Shì Yǒngxìn 釋永信 (geb. 1965) die Leitung des Klosters übernahm, begann er, die Kampfkünste des Klosters und seine Kalligrafietradition einem breiteren nationalen und internationalen Publikum vorzustellen. Der wachsende Bekanntheitsgrad des Shàolín-Klosters führte zu häufiger Plagiierung, sodass sich Unternehmen im Handelsregister unter Bezeichnungen wie „Shàolín-Tempel“ oder „Shàolín-Boxen“ eingetragen haben, um von dem guten Ruf zu profitieren. 2010 erkannte die UNESCO das Shàolín-Kloster als Weltkulturerbe an, und zwar als Teil der „Historischen Monumente von Dengfeng“. Zu diesen Monumenten gehört neben dem Shàolín-Kloster die horizontale Zhōugōng-Sonnenuhr des Gaocheng-Observatoriums. In dem offiziellen Begründungsnarrativ der UNESCO ist das Shàolín-Kloster also als historisches Kulturdenkmal von Bedeutung. Die offizielle Anerkennung als Welterbe beinhaltet nun aber denkmalpflegerische Auflagen sowie Vorgaben, was die Tourismusentwicklung anbelangt. In diesem säkularen Bezugsrahmen scheinen religiöse buddhistische Kriterien wie Abgeschiedenheit und Stille geschwächt. Kritische Stimmen behaupteten nun, das Kloster sei ein reiner Wirtschaftsfaktor und habe nichts mehr mit buddhistischen Inhalten zu tun. Chinawissenschaftliche Religionsforschung kann, wie dieses kurz umrissene Beispiel eines buddhistischen Klosters in China zeigt, ganz unterschiedliche Fragen stellen und methodische Zugänge für ihre Beantwortung heranziehen, beispielsweise 1. die philologische Analyse der Kloster-Lehrtexte, 2. eine Analyse durchgeführter Rituale und religiöser Handlungen im Kloster oder als Präsentation

6.5 Begriffe

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des Klosters, 3. die Stellung des Klosters als Wirtschaftsfaktor und seine spezifischen ökonomischen Strategien, 4. die Bedeutung des Klosters für die soziale, geistige und wirtschaftliche Entwicklung der Region, 5. die Bedeutung des Klosters als Global Player, 6. die Lebensgeschichte eines Mönchs, der in dem Kloster aufgewachsen ist und sich nun den Herausforderungen stellen muss, die das Kloster in seinen unterschiedlichen Funktionen erfüllt, aber auch Themen wie etwa 7. Kloster-Architektur und religiöser Symbolismus können durchaus Gegenstand religionswissenschaftlicher Chinaforschung sein. Diese Themenbereiche, je nach Forschungsfokus, können auch kombiniert werden, da einzelne Aspekte in engem Zusammenhang miteinander stehen.

6.4 Fazit Sinologische Religionsforschung erforscht unterschiedliche Aspekte von Religionen, die in China praktiziert wurden oder werden. So beschäftigt sie sich etwa mit Fragen zum Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus, mit Volksreligion, mit neuen indigenen religiösen Bewegungen, mit Ahnenverehrung oder mit „importierten Religionen“ wie Christentum oder Islam. Die möglichen Forschungsansätze bedienen sich je nach Fragestellung unter anderem philologischer, geschichtswissenschaftlicher, ethnologischer oder auch soziologischer Ansätze und Theorien. Religionswissenschaftliche Chinaforschung trägt so zum Verständnis des geistigen und gesellschaftlichen Lebens im historischen und gegenwärtigen China bei.

6.5 Begriffe Akkulturation – Strategie über inhaltliche und äußerliche Übereinstimmungen Gemeinsamkeit zu erzeugen, um so einfacher missionieren zu können Die Drei Lehren – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus Karma – „Wirken“, „Tat“: Ein spirituelles Konzept von Ursache und Wirkung, nach dem jede geistige und physische Handlung im gegenwärtigen oder zukünftigen Leben eine Folge hat Matteo Ricci– Angehöriger des Jesuitenordens, missionierte in China Nestorianismus– Eine christliche Glaubensgemeinschaft Samsara– Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt

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6 Religionswissenschaftliche Chinastudien

6.6 Vorschläge zur Vertiefung Amelung, Iwo und Thomas Schreijäck (Hrsg.). Religionen und gesellschaftlicher Wandel in China. München: Iudicium, 2012. Chau, Adam Yuet. Religion in Contemporary China. Revitilization and Innovation. London, New York: Routledge, 2010. Clart, Philip. Die Religionen Chinas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. Goossaert, Vincent und David A. Palmer. The Religious Question in Modern China. Chicago: University of Chicago Press, 2011. Yang, Fenggang und Graeme Lang. Social Scientific Studies of Religion in China. Methodology, Theories, and Findings. Leiden: Brill, 2011.

6.7 Transferaufgaben 6.7.1 Ansatzpunkte für Ritual-Analyse Denken Sie an ein Bestattungsritual in Deutschland. Analysieren Sie diese nach den drei Ansatzpunkten von Joachim Wach. Versuchen Sie dann herauszufinden, ob sich christliche Bestattungsrituale in Deutschland von christlichen Bestattungsritualen in China unterscheiden.

6.7.2 Buddhistische Lehre Welche buddhistischen Schulen bildeten sich in China und welche sind gegenwärtig vertreten? Gibt es so etwas wie modernen Buddhismus? Was genau meint Lamaismus und was ist der Zusammenhang zum Buddhismus?

6.7.3 Religion und Politik Immer wieder kommt es in Deutschland zu Debatten, die Fragen zu Religion aufwerfen, etwa, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Gibt es ähnliche Debatten, die religiöse, politische und nationale Fragen thematisieren, auch in China? Wie sehen diese aus, wie werden sie kontextualisiert? Nennen Sie Beispiele.

7 Sprachwissenschaften und Sinologie Merle Schatz Zusammenfassung: Allgemeine und angewandte Sprachwissenschaften untersuchen die Bildung, Entwicklung und Struktur von Sprache sowie den Sprachgebrauch. Linguistische Analysen können folglich ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Dieses Kapitel stellt am Beispiel des Sprachgebrauchs der Mongol*innen der Autonomen Region Innere Mongolei das Thema Kontaktlinguistik vor. Anhand einer exemplarischen linguistischen Analyse wird gezeigt, wie die Sprachpraxis bei zweisprachigen Mongol*innen aussieht. Diese Sprechergruppe lebt in einem engen Kontakt mit Chines*innen und unterliegt zudem als Teil der chinesischen Gesellschaft auch den Regeln der Sprachpolitik Chinas.

7.1 Sprachwissenschaft Die Sprache ist die wohl wichtigste Form zur Kommunikation zwischen Menschen. Die Sprachwissenschaften zählen zu den Geisteswissenschaften und beschäftigen sich mit der menschlichen Sprache. Sie erforschen Entstehung, Herkunft und Entwicklung von Sprachen, die Bestandteile und Einheiten von Sprachen, die Anwendung von Sprache (zum Beispiel Kommunikation oder Wahrnehmung), Rhetorik, Semantik, Phonetik und Pragmatik sowie Sprachvergleich und Sprachsysteme. Zentrale Fragen der Sprachwissenschaften sind zudem, wie Kommunikation funktioniert und aus welchen Gründen Menschen kommunizieren (vgl. Kapitel 11). Für Sprachwissenschaft wird der Begriff Linguistik oft synonym gebraucht. Die Sprachwissenschaften sind interdisziplinär ausgerichtet und arbeiten eng mit anderen Fachbereichen zusammen. Um etwa zu erforschen, wie Sprachstörungen entstehen und behandelt werden können, bedient sich die Sprachwissenschaft Kenntnissen der kognitiven Psychologie, um regionale Sprachentwicklungen Chinas zu beschreiben, bedient man sich der Geografie und Geschichte. Andere sprachwissenschaftliche Forschungen beschäftigen sich mit den pädagogischen und kommunikationstheoretischen Aspekten des Sprechens und dieses mitunter kulturvergleichend.

https://doi.org/10.1515/9783110665024-008

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7 Sprachwissenschaften und Sinologie

7.1.1 Allgemeine Sprachwissenschaft Unterschieden wird zwischen allgemeiner und angewandter Sprachwissenschaft: Die allgemeine Sprachwissenschaft untersucht die Strukturen der Sprache, wie beispielsweise die Lautung oder die Gestaltung des Satzes und des Wortes. Phonetik untersucht die konkrete lautliche Seite des Kommunikationsvorgangs. Auch wird gefragt, wie die Laute vom Sprecher produziert werden, d. h. welche Organe in welcher Weise an der Bildung von Lauten beteiligt sind. Phonologie beschäftigt sich mit den bedeutungsunterscheidenden Sprachlauten, den Phonemen. Morphologie beschäftigt sich mit den Erscheinungsformen und der Struktur von Wörtern, also wie die Wörter gebildet werden. Die Grundeinheit der Morphologie sind die Morpheme – die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache, die nicht weiter zerlegt werden können, ohne dass ihre Bedeutung verloren geht. Syntax ist die Lehre vom Bau der Sätze einer Sprache. Der Satz ist als kleinster Bestandteil der Rede, bzw. des Textes, die Grundeinheit, die mit Hilfe verschiedener linguistischer Modelle analysiert wird. Semantik untersucht die Bedeutung(en) sprachlicher Ausdrücke. Sie ist die Bedeutungslehre. Die Lexikologie ist ein Teil der Semantik, der sich mit der Erforschung und Beschreibung des Wortschatzes einer Sprache beschäftigt. Mögliche linguistische Fragestellungen an einen Satz könnten wie folgt aussehen: Beispielsatz: Xuéxí Hànyǔ hěn yǒuyìsi 學習漢語很有意思. „Chinesisch zu lernen, ist sehr interessant.“ Frage eins: Aus welcher Sprache kommt der Satz? Für die Beantwortung solcher Fragen ist die Allgemeine Sprachwissenschaft zuständig. Die Beschreibung einer Sprache, einschließlich der Analyse von Sätzen wie dem Beispielsatz, obliegt der deskriptiven Linguistik, also der beschreibenden Sprachwissenschaft. Frage zwei: Was bedeutet der Satz? Mit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke befasst sich die Semantik, also die Bedeutungslehre. Frage drei: Wie wird das ausgesprochen? Die Beantwortung dieser Frage ist Angelegenheit der Phonetik, der Wissenschaft von den Sprachlauten. Mit der Frage, welche Laute in einer Sprache funktionell, also bedeutungsunterscheidend sind, befasst sich die Phonologie, die Lehre von den Lautsystemen. Frage vier: Wie wird dieser Satz geschrieben? Mit der Frage der Schriftsysteme befasst sich die Graphemik. Frage fünf: Aus welchen Wörtern besteht der Beispielsatz? Mit der Gruppierung der Wörter einer Sprache befasst sich die Lexikologie.

7.2 Kontaktlinguistik und Sprachkontakt

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Frage sechs: Wie ist dieser Satz aufgebaut? Mit der Frage, wie die Wortformen einer Sprache gebaut sind, befasst sich die Morphologie, mit der Frage dagegen, wie die komplexeren Ausdrücke bis hin zu Sätzen gebaut sind, die Syntax. Diese sechs Beispielfragen verdeutlichen, dass für ihre Beantwortung unterschiedliche theoretische Felder geöffnet werden. Hier ist es nun notwendig, die entsprechenden Theorien zu recherchieren, um die Beantwortung der Fragen in den richtigen Rahmen zu setzen und um sie anhand chinesischer Beispiele zu erproben.

7.1.2 Angewandte Sprachwissenschaft Andere mögliche sprachwissenschaftliche Fragen sind dem Bereich der praktischen Anwendung von Sprache zugeordnet, der angewandten Sprachwissenschaft. Mit der Frage, was für Sprechakte man mit einer Äußerung in einer passenden Sprechsituation ausführen kann, befasst sich die angewandte Sprachwissenschaft. Sie analysiert Sprachgebrauch in verschiedenen Bereichen, wie z. B. Computerlinguistik, Wirtschaftskommunikation, interkulturelle Kommunikation, öffentliche/mediale Kommunikation, Psycho- und Neurolinguistik oder Soziolinguistik. Forschungsabhängig werden etwa Zusammenhänge zwischen Sprache und Recht, Sprache und Kultur, Sprache und Identität, Sprache und Gesellschaft sowie Sprache und Handlung untersucht. Die angewandte Sprachwissenschaft ist also die Beschäftigung mit den verschiedensten Umsetzungen, Funktionen und Bedeutungsgehalten von Sprache. Im Folgenden soll auf das Thema Sprachkontakt am Beispiel der Sprachsituation in der Inneren Mongolei, VR China, näher eingegangen werden. Ziel ist zu zeigen, wie eine linguistische Analyse hier exemplarisch aussehen könnte.

7.2 Kontaktlinguistik und Sprachkontakt Eine Trennung zwischen Kontaktlinguistik und Soziolinguistik aufgrund ähnlicher Problemstellungen zu den Themen Sprachwechsel, Sprachverlust, Sprachpolitik, Sprachkonflikt ist mitunter unscharf. Kontaktlinguistik nimmt schwerpunktmäßig eher sprachliche Phänomene in den Fokus der Analyse, Soziolinguistik eher soziale, ökonomische, politische Bedingungen im Sprachprozess. Beide Forschungsansätze aber stehen in einem engen Zusammenhang. Sprachkontakt ist die Koexistenz zweier oder mehrerer Sprachen innerhalb einer Sprachgemeinschaft, deren Sprecher*innen diese Sprachen alternierend

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7 Sprachwissenschaften und Sinologie

verwenden.1 Mitglieder der mongolischen Minderheit in der Inneren Mongolei in China benutzen beispielsweise sowohl Chinesisch als auch Mongolisch. Die Autonome Region Innere Mongolei hat laut Volkszählung von 2010 eine Bevölkerung von etwa 25 Millionen Menschen.2 Die Bevölkerungsverteilung liegt bei ca. 80 % Hàn-Chines*innen, 17 % Mongol*innen und 3 % weiterer Nationalitäten wie Mandschus, Hui, Evenk*innen und Koreaner*innen. Die offiziellen Sprachen sind Mandarin-Chinesisch und Mongolisch, letzteres geschrieben in der uighuro-mongolischen Schrift. Die bilingualen Mongol*innen vermischen beim Sprechen Mongolisch und Chinesisch. Der gegenwärtige Sprachgebrauch der Mongol*innen in der Inneren Mongolei steht also in engem Zusammenhang mit der Kontaktsituation zwischen Mongol*innen und Chines*innen in diesem Gebiet. Insbesondere ab der Qīng-Dynastie (1644–1912) kam es zu starken Besiedlungen durch Hàn-Chines*innen auf mongolischen Gebieten der heutigen Inneren Mongolei und folglich zu vermehrten (Sprach-) Kontakten zwischen Sprechern beider Gruppen. In der Sprachkontaktforschung werden die am Kontakt beteiligten Sprachen einer Region untersucht. Das Sprechen mehrerer Sprachen in einer Gruppe kann diese Sprachen verändern, und somit ist Sprachkontakt die wechselseitige Beeinflussung der verwendeten Sprachen: Einfluss der Erstsprache (oder dominanten Sprache) auf die Zweitsprache und umgekehrt. Als Erstsprache wird die Muttersprache bezeichnet, als Zweitsprache die Sprache, die zusätzlich erworben wird. Mongolisch ist für zahlreiche Mongol*innen in der Inneren Mongolei die Erstsprache und Chinesisch die Zweitsprache. Wie stark der Druck der einen Sprache auf die andere ist, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie beispielsweise von der Anzahl der Sprecher, der Pflege der Sprachen im Alltagsgebrauch, der Sprachpolitik des Landes oder auch, in welchen Funktionen Sprache verwendet wird (Diglossie).

7.2.1 Was bedeutet Diglossie? Mandarin (Pǔtōnghuà 普通話), die Sprache der Hàn-Chines*innen, ist die offizielle Sprache in China, welcher von der Regierung mit den Marktöffnungs- und Modernisierungsbewegungen in den späten 1970er Jahren immer größerer Stellenwert zugesprochen wurde. Es ist die Sprache, die in allen öffentlichen 1 Claudia Riehl, Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (Tübingen: Narr, 2004), 11. 2 Population Cencus Office under the State Council, „Tabulation on Nationalities of 2010 Population Census of China,“ zugegriffen am 20. Mai 2019, http://www.stats.gov.cn/english/sta tisticaldata/censusdata/rkpc2010/indexch.htm.

7.2 Kontaktlinguistik und Sprachkontakt

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Einrichtungen gesprochen und in den Medien verwendet wird. Die offiziell anerkannten Minderheitensprachen (und chinesischen Regiolekte) wurden dem Status der Hàn-Sprache untergeordnet. Diglossie bedeutet, dass der Sprachgebrauch auf bestimmte Bereiche verteilt ist bzw. in einer bestimmten festgelegten Funktion verwendet wird. Grundsätzlich wird zwischen einer High-Variety (H-Varietät) und einer Low-Variety (L-Varietät) der Sprachen unterschieden. H-Varietät bedeutet, dass die Sprache in formellen Funktionen benutzt und in Institutionen gelehrt wird, bei der L-Varietät wird sie in informellen Situationen gebraucht. Die H-Varietät genießt höheres Prestige als die L-Varietät, die oftmals die Sprache der Familie und die Muttersprache ist. Die H-Varietät wird später erworben, typischerweise in der Schule, und sie reguliert den Zugang zu höheren gesellschaftlichen Funktionen. Übertragen auf die Situation in der Inneren Mongolei bedeutet dies, dass Chinesisch die Sprache mit der H-Varietät ist, also die offizielle Sprache, die in Schulen, Universitäten, Ämtern etc. verwendet wird. Die Minderheiten Chinas und ihre Sprachen unterliegen dem Gesetz für regionale nationale Autonomie. Demnach werden ihre kulturellen Gewohnheiten und Sprachen gefördert und geschützt. Daher gibt es auch in der Inneren Mongolei mongolische Kindergärten und Schulen. Chinesisch wird jedoch zunehmend als Folge der sozio-ökonomischen Mobilität als Alltagssprache angewendet und eingefordert. Mongolisch, die Sprache mit der L-Varietät, wird in den Familien und unter Freund*innen oder in Situationen, in denen nur Mongol*innen untereinander kommunizieren (wollen), verwendet und entwickelt sich so zunehmend zu einer Lokal- und Familiensprache, die nicht für eine Kommunikation in ihrem chinesischen Umfeld geeignet ist. Aufgrund der hohen Zahl chinesischer Sprecher*innen und der DiglossieSituation ist die chinesische Sprache in der Inneren Mongolei sehr dominant. Diese Dominanz verursacht einen Druck auf den Sprachgebrauch, mit dem sich die mongolische Minderheit auseinandersetzen muss und der Einfluss auf den Sprachkontakt hat: Die Intensität des Kontaktes erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Sprachen miteinander vermischt werden. Ebenso werden Sprachverlust-Erscheinungen beschrieben. Humphrey und Sneath stellten fest, dass 23 % der Mongol*innen in der Inneren Mongolei kein Mongolisch mehr beherrschen.3 Neben Sprachverlust kommt es aber auch zu Bilinguismus, d. h. Zweisprachigkeit. Sprecher*innen zweier Sprachen wechseln mitunter zwischen den Sprachen im

3 Caroline Humphrey und David Sneath, The End of Nomadism. Society, State, and the Environment in Inner Asia (Durham, NC: Duke University Press, 1999), 23.

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7 Sprachwissenschaften und Sinologie

alltäglichen Gebrauch bewusst oder unbewusst hin und her, das nennt man Code-Switching.

7.2.2 Code-Switching Wenn die Sprachen, die miteinander in Kontakt stehen, in sprachlichen Äußerungen gemischt auftreten, spricht man vom Code-Switching, dem Wechsel von einer Sprache in die andere. Das Wort Code steht hier für Sprache oder Varietät. Code-Switching findet man in mehrsprachigen Gesellschaften, aber auch in Fach und Jugendsprachen oder Soziolekten. Man spricht vom Code-Switching, wenn es sich bei dem Sprachwechsel um ganze Phrasen oder Teilsätze handelt, aber auch dann, wenn nur ein Wort in der anderen Sprache ad-hoc geäußert wird, etwa wenn ein mongolischer Satz beendet wird mit dem Chinesischen „duì bù duì 對不對“: „Stimmt´s?“. Das Wechseln der Sprachen erfolgt nach keinen festen Regeln und ist immer wieder sprecherabhängig. Es bieten sich viele Stellen an, etwa nach Satzende, nach Teilsätzen, nach so genannten „Auslöserwörtern“ (trigger words). AdhocWörter können an jeder Stelle im Satz auftauchen, die Motivationen für den Wechsel sind unterschiedlich. Das folgende Beispiel aus einer Unterhaltung zwischen bilingualen Mongol*innen zeigt den Wechsel zwischen Chinesisch und Mongolisch (oder umgekehrt): Či ene oroi máng 忙 bu 不? Bist du heute Abend beschäftigt? Der Sprecher dieses Satzes beginnt auf Mongolisch „Ci ene oroi“, wörtlich „Du heute Abend“, und beendet den Satz auf Chinesisch. Interessant an dieser Konstruktion ist, dass die verkürzte Frageform máng bu 忙不 hervorragend in die mongolische Satzkonstruktion passt. Im Mongolischen steht die Negation nach dem Prädikat. In chinesischer Umgangssprache wird máng bu máng aus praktischen Gründen auf máng bu verkürzt. Dies kommt in diesem Fall der mongolischen Satzstruktur sehr entgegen. Beim Codeswitchen müssen zwei Arten des Gebrauchs der chinesischen Sprache unterschieden werden. Zum einen der, bei dem das Chinesische „richtig”, also mit entsprechender Intonation gesprochen wird, und zum anderen der, bei dem es zu lautlichen Veränderungen des Chinesischen kommt. Zu diesen Veränderungen kommt es immer dann, wenn die chinesischen Wörter der eigenen mongolischen Aussprache und Grammatik angepasst werden und Neuwortschöpfungen, „Sinismen“, entstehen.4 Man spricht hierbei von Transferenz.

4 Merle Schatz, Sprache und Identität der Mongolen Chinas heute (Köln: Köppe, 2014), 76–114.

7.2 Kontaktlinguistik und Sprachkontakt

103

7.2.3 Transferenz Der australische Linguist Michael Clyne (1939–2010) definierte Transfer-Erscheinungen wie folgt: Tranference is employed for the process of bringing over any items, features or rules from one language to another, and for the results of this process. Any instance of transference is a transfer.5 (Kursiv im Original)

Transfer-Erscheinungen können auf verschiedenen Ebenen einer Sprache stattfinden: Auf dem Gebiet der Lexik, in der Phonologie, Morphologie und Syntax. Wir kennen Transfererscheinungen auch aus der eigenen Sprache, etwa wenn wir sagen: „Es war ein schlechter Film, und ich habe dann umgeswitcht.“ Das englische Verb to switch wird hier in die deutsche Grammatik eingepasst. Derartige Phänomene lassen sich auch bei der Vermischung der mongolischen und chinesischen Sprache von bilingualen Mongol*innen in der Inneren Mongolei beobachten. Zwei weitere Beispiele sollen die Transferprozesse veranschaulichen: Der Wortschatz einer Sprache ist am ehesten von Transfer-Erscheinungen betroffen. Sprachminderheiten passen sich oft ihrer Umwelt an und übernehmen aus unterschiedlichsten Gründen Begriffe, beispielsweise wenn sie im eigenen Wortschatz nicht vorhanden sind.6 Auch Wörter, die wiederholt im Alltag auftreten, wie technische Begriffe für Neuerungen, Verwaltungseinheiten, geografische Bezeichnungen, Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände oder Redewendungen werden übernommen. Häufig sind die Übernahmen zufällig. Beispiel eins für Transfer im Bereich der Lexik: 我們喝點兒 sütei cai. wǒmen 我們 hē 喝 diǎnr 點兒 sütei cai. Wir trinken etwas Milchtee. Dieser Satz wird in chinesischer Sprache begonnen, für das mongolische Getränk Milchtee wird allerdings der mongolische Begriff benutzt statt der chinesischen Übersetzung, die năichá 奶茶 lautet. Beispiel zwei für Transfer im Bereich der Phonologie: Či gonjua ocin-a uu? [Gehst Du in den Park?]

5 Michael Clyne, Community Languages. The Australian Experience (Cambridge, 1991), 160. 6 Claudia Riehl, Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (Tübingen: Narr, 2004).

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7 Sprachwissenschaften und Sinologie

Das chinesische Wort gōngyuán 公園 wird mongolisch ausgesprochen und zu einem tonlosen gonǰua und ist somit für Chinesen nicht mehr verständlich, aber für bilinguale Mongolen, da es ihrer mongolischen Ausdrucksweise entspricht. Eine linguistische Untersuchung von Sprachkontakterscheinungen analysiert und beschreibt also genau die sprachlichen Phänomene, die entstehen, wenn Sprachen in einem engen Kontakt miteinander stehen. Ähnliche Beispiele beobachten wir auch bei chinesisch-tibetischen und chinesisch-koreanischen Sprachkontakten. In einem nächsten Schritt kann dieser besondere Sprachgebrauch weiter kontextualisiert werden. Die Soziolinguistik würde darauf aufbauend beispielsweise Fragen zu einem Zusammenhang von Sprachgebrauch und Identität stellen.

7.3 Sprachpolitik in China In dem Unterkapitel 2.1 zu Diglossie wurde beschrieben, in welchem Zusammenhang Sprachpraxis und der funktionelle Gebrauch von Sprache in China stehen. Dies hat Auswirkungen auf den Stellenwert und die Pflege einer Sprache. Wie sieht nun der legale Status von Minderheitensprachen in China aus? Nach der chinesischen Verfassung sind alle 56 Nationalitäten Chinas gleich und genießen den gleichen Status. Die Rechtsprechung bezüglich der Minderheiten-Sprachen in China ist eindeutig unterstützend: Gemäß der Konstitution von 1982 haben die Menschen jeder Nationalität die Freiheit, ihre eigenen gesprochenen und geschriebenen Sprachen zu benutzen und zu entwickeln. Regierungen der Autonomen Gebiete müssen die gesprochenen und geschriebenen Sprachen beim allgemeinen Gebrauch in den Einrichtungen anwenden, das kulturelle Erbe der Nationalitäten schützen und fördern.7 Die Kader der Autonomen Gebiete sind offiziell verantwortlich für Bildung, Kultur, und in manchen Gegenden auch für die Administration. Sie müssen sich die Sprache und Schrift der Minderheit „ihrer Region” aneignen. Dennoch wird in vielen Städten und Regionen in öffentlichen Einrichtungen fast nur noch Chinesisch gesprochen, und es sind die Mongol*innen, die sich eine chinesische Sprachkompetenz aneignen, und nicht etwa umgekehrt. Das gegenwärtige Sprachgesetz bezieht sich nur noch auf den Gebrauch und die Verbreitung des Chinesischen und des vereinfachten chinesischen Schriftsystems: „The

7 National People’s Congress 1982, Article 4; 121. http://english.gov.cn/archive/laws_regula tions/2014/08/23/content_281474982987458.htm

7.3 Sprachpolitik in China

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state promotes the nationwide use of Putonghua (common speech based on Beijing pronunciation)“ (National People’ s Congress 1982, Article 19,8 das chinesische Original lautet Guójiā tuīguǎng quánguó tōngyòng de pǔtōnghuà 国家推广全 国通用的普通话, es fehlt hier also die Erläuterung, was pǔtōnghuà ist). Praktisch gesehen sind die Autonomen Gebiete primär dazu angehalten, die Sprache der Gruppe, die der Region zugeordnet ist, zu pflegen, d. h. Mongolisch in der Inneren Mongolei, Tibetisch in Tibet und so weiter. Außerhalb dieser Gebiete liegt die Zuständigkeit für Angelegenheiten der Minderheiten bei der Nationalen Kommission, die dort, wo Minderheiten vermehrt leben, Zweigstellen unterhält. Die lokale Regierung unterstützt in diesen Gebieten kulturelle Handlungen der Minderheiten wie Feste, folkloristische Aktivitäten und lokale Handwerke. Viel weniger Beachtung hingegen wird dem Bildungssektor Sprache und dem Spracherhalt geschenkt. Da lokale Kader meist sinisiert sind und die Sprache der Minderheit, sogar wenn sie ihr angehören, nicht beherrschen, konzentrieren sie sich auch mehr auf die wirtschaftliche als auf sprachkulturelle Entwicklung der Region. Der tatsächliche Grad der Autonomie der so genannten Autonomen Regionen/Präfekturen/Bezirke hängt daher weniger mit dem formellen Gesetz der nationalen regionalen Autonomie von 1984 zusammen, als mit der regionalen finanziellen und kulturellen Situation sowie der Alltagspraxis auf lokaler Ebene. Beispielsweise hängt die finanzielle Lage der Inneren Mongolei von staatlichen Minen, staatlicher Metallindustrie und staatlichen Subventionen ab, folglich ist ihre Autonomie durch deren Einflussnahme begrenzt. Die Autonomie der Inneren Mongolei ist seit den 1990er Jahren aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen immer schwächer. Der Sprachverlust bei den Mongol*innen in der Inneren Mongolei ist ein Hinweis auf eine „Entpolitisierung“ und „Deterritorialisierung“. Das Ergebnis hiervon wird als ein Entschwinden von ethnischen Gruppen in einen multikulturellen chinesischen Staat diskutiert.9 In Bezug auf Hongkong, um nur ein weiteres regionales Beispiel aus dem chinesischssprachigen Raum zu nennen, sind Sprachgebrauch, Sprachbildung und Sprachpolitik ebenso sehr kontroverse und komplexe Themen, entlang derer Machtverhältnisse ausgehandelt werden.10

8 National People’s Congress 1982, Article 19. http://english.gov.cn/archive/laws_regula tions/2014/08/23/content_281474982987458.htm 9 Uradyn E. Bulag, „Mongolian Ethnicity and Linguistic Anxiety in China“, American Anthropologist 105, Nr. 4 (2003): 753–763. 10 Vgl. Anita Y.K. Poon, „Language Policy of Hong Kong: Its impact on language education and language use in post-handover Hang Kong”, Journal of Taiwan Normal University: Humanities & Social Sciences 49, Nr. 1 (2004): 53–74.

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7 Sprachwissenschaften und Sinologie

7.4 Fazit Sprachwissenschaft ist die Wissenschaft von der Sprache und untersucht Sprachstrukturen, Sprachfunktionen und Sprechakte. Neben einer möglichen reinen linguistischen Analyse stehen Untersuchungen zum Sprachgebrauch und Fragen der Identität, Kultur oder Gesellschaftspolitik ebenso im Fokus der Analyse. Es bestehen enge Verbindungen zu anderen Disziplinen. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen öffnen folglich ein sehr breites Forschungsfeld und liefern zahlreiche Ansätze, um Chinaforschung ausgehend von linguistischen Analysen betreiben zu können.

7.5 Begriffe Diglossie – Funktionelle Differenzierung (nebst unterschiedlicher sozialer Wertung) von Sprache in einer zweisprachigen Gesellschaft Innere Mongolei – Eine der fünf autonomen Regionen Chinas Kontaktlinguistik – Sprachwissenschaftliche Erforschung von Sprache, Sprachgebrauch und Sprecher, die im sozialen Kontakt miteinander stehen. Pǔtōnghuà – Modernes Standardchinesisch basierend auf Mandarin, Amtssprache Chinas Sprechakt(theorie) – Sprache betrachtet nicht nur als Äußerung, sondern als „Handlung“, etwa Befehle, Wünsche, Kritiken, die immer selbst eine Handlung sind und auch Handlungen auslösen. Uighuro-Mongolisch – Neben Chinesisch die zweite offizielle Schrift in der Inneren Mongolei

7.6 Vorschläge zur Vertiefung Chen, Ping. Modern Chinese: History and Sociolinguistics. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2008. DeFrancis, John. Die chinesische Sprache. Fakten und Mythen. Collectanea Serica. Sankt Augustin: Institut Monumenta Serica, 2011. Riehl, Claudia M. Riehl. Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen: Narr, 2009. Sybesma, Rint (Hrsg.). Encyclopedia of Chinese Language and Linguistics. Leiden: Brill, 2017. Zhou, Minglang und Sun Hongkai (Hrsg.). Language Policy in the People’s Republic of China. Theory and Practice since 1949. New York: Springer, 2004.

7.7 Transferaufgaben

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7.7 Transferaufgaben 7.7.1 Code-Switching auch in der eigenen Sprache? Nennen Sie aus ihrem eigenen Sprachgebrauch Beispiele für Code-Switching und Transferenz. Diskutieren Sie, ob ein verstärkter Gebrauch von Anglizismen im Deutschen eine Tendenz für Sprachverlust andeuten könnte.

7.7.2 Sprachvielfalt und Sprachgebrauch in China Diskutieren Sie, ob und in wie fern Sprachvielfalt und Sprachpolitik in China miteinander vereinbar sind. Stellen Sie hierbei den Slogan „ein Land, ein Traum“, das Gesetz „Schutz nationaler Minderheiten und ihrer Gewohnheiten“, den zusammengelegten Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für „Tourismus und Kultur“ und den staatlichen Auftrag der „wirtschaftlichen Entwicklung“ mit in den Kontext ihrer Überlegungen.

7.7.3 Chinesische Sprachen Recherchieren Sie, welche chinesischen Sprachen es gibt, ob sie noch im Gebrauch sind und wenn ja, von wem sie gesprochen werden. Sind auch verschiedene chinesische Schriften in Gebrauch?

8 Chinastudien und Ethnologie Merle Schatz Zusammenfassung: Nach einer kurzen Einführung in die Disziplin Ethnologie und dem kulturell Fremden als einen Forschungsgegenstand werden unterschiedliche Themenfelder der ethnologischen Chinaforschung sowie Entwicklungen des Fachs Ethnologie in China exemplarisch vorgestellt.

8.1 Ethnologie Ethnologie ist eine beschreibende, reflexive, vergleichende und praktische Wissenschaft. Sie ist laut Definition des deutschen Ethnologen Karl Heinz Kohl „die Wissenschaft vom kulturell Fremden“1 und untersucht die damit verbundenen dynamischen Prozesse. Das ethnologische Arbeiten beruht auf empirischen Daten, die durch eine direkte Teilnahme in ausgesuchten sozialen Umfeldern, durch Beobachtungen und Befragungen ermittelt werden und mit Theorien für ihre Beschreibung und Erklärung verbunden werden. Ethnologische Forschung stellt zudem auch immer eigene kulturelle Vorannahmen und damit verbundene Begriffe, Theorien und Methoden in Frage, sodass auch Phänomene und Lebensgewohnheiten „der eigenen Kultur“ reflektiert werden. Fremd bedeutet nicht immer eine Verortung in anderen Gesellschaften oder Räumen dieser Welt, sondern fremd ist immer eine Perspektive, ein Blick auf etwas anderes, Unbekanntes. Fremd kann uns auch vieles sein, was unsere Mitmenschen tun oder sagen. Die Ethnologie beschäftigt sich aber nicht nur mit dem, was Menschen tun, sondern auch mit dem, was sie denken, wünschen und hoffen. Im Erkenntnisprozess werden dann auch eigene kulturelle Grenzen definiert und überschritten: Wenn wir in China kulinarische Gewohnheiten im Zusammenhang mit Hochzeitsfeiern beobachten, vergleichen wir dies ganz unwillkürlich mit dem, was wir von unseren Hochzeitstraditionen kennen und stellen fest, dass sich einiges ähnelt und sich andere Dinge unterscheiden. So gewinnt man unweigerlich einen neuen Blick auf das Eigene, das dann womöglich kritisch hinterfragt wird. Ethnologische Interpretationen gehen davon aus, dass Menschen im Handlungsprozess ihre Welt deuten und somit unterschiedliche Bedeutungen hervorbringen und unterschiedliche Formen von Sinn schaffen. Dies ist ein Ergebnis der eigenen Fachentwicklung: Das Denken in

1 Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung (München: C. H. Beck, 3. Auflage, 1993), 2012. https://doi.org/10.1515/9783110665024-009

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8 Chinastudien und Ethnologie

Kategorien von primitiven, traditionalen, in sich geschlossenen oder modernen Kulturen wurde in der ethnologischen Forschung überwunden. Die Ethnologie wurde in den 1960er Jahren „kulturell gewendet“, man spricht vom sogenannten „cultural turn“.2 Begriffliche Vorannahmen vom Eigenen und Fremden und den ethnologischen Beobachter*innen als etwaigen Konstrukteuren dieser Kategorien wurden damals erstmals problematisiert. Ein neuer Schwerpunkt entwickelte sich dabei in der Erforschung von Alltagskulturen. Es rückten verstärkt symbolische Ordnungen, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge als Bedingungen für ein Verständnis von „Kultur“ in den Fokus. Sie bezogen sich auf ein breit gefächertes Themengebiet und beschäftigten sich z. B. mit Dörfern, Städten, Geschlechtern, Konsum, Religion, Migrant*innen oder ethnischen Minderheiten. Diese innerdisziplinären Entwicklungen fanden ihren Niederschlag ebenso in der ethnologischen Chinaforschung. Das ethnologische Interesse verschob sich auch hier von Inselbevölkerungen oder abgelegenen und begrenzten Gemeinschaften als „geschlossene Kulturen“ hin zu umfassenderen, heterogenen, städtischen und politisch aktiven Gesellschaften. Dem US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz etwa folgend, wurde dabei ein semiotischer Kulturbegriff vertreten: Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen.3

Nach Geertz muss jede Kultur wie ein Text gelesen werden, dessen Urheber sämtliche Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft sind. Ausprägungsarten von Wertesystemen oder kulturellen Praktiken wurden nun vermehrt unter bestimmten sozialen Bedingungen untersucht und interpretiert. In seinem Werk Welt in Stücken fordert er, die Wandlungsprozesse von politischen, sozialen und kulturellen Identitäten zu beobachten.4 Das Spektrum der Untersuchung reicht von der Identitätsanalyse neu entstandener ethnischer oder religiöser Bewegungen bis hin zu transnationalen Identitäten, etwa in Diasporagemeinschaften. Auch Studien zu Grenzen, Grenzregionen und kulturellen Grenzüberschreitungen sind

2 Der Begriff beschreibt den Paradigmenwechsel in den Sozial- und Geisteswissenschaften, mit dem Ziel einen alten Kulturbegriff durch einen neuen, anthropologischen Kulturbegriff zu ersetzen, der die gesamten menschlichen Arbeits- und Lebensformen umfasst. 3 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983), 9. 4 Clifford Geertz, Welt in Stücken. Kultur und Politik des 20. Jahrhunderts (Wien: Passagen Verlag, 1996).

8.2 Methoden der Ethnologie

111

hier zu nennen. Kultur bezeichnet nunmehr die Gesamtheit der Praktiken, mit denen Wissen, Macht und Identität hergestellt wird. Die Frage nach ethnischer Differenz zielt dabei auch immer unmittelbar auf den Begriff der Kultur in konkreten sozialen Kontexten und auf die mit ihm verknüpften Kommunikationsund Machtbildungsprozesse ab. „Kultur“ ist ein abstrakter Begriff, der ganz unterschiedlich mit Interpretationen, Definitionen und Inhalten gefüllt wird. Daher gibt es zahlreiche Definitionen von Kultur sowie unzählige Debatten zum Kulturbegriff, bei denen meist die drei Kategorien Institution, Idee und Praxis durcheinandergeworfen werden. Hier ist zu beachten, dass klargestellt werden muss, auf welcher dieser drei Ebenen ein Problem diskutiert wird, also (a) Kultur als eine Institution, (b) Kultur im Zusammenhang mit Werten und Ideen oder (c) Kultur und die damit verbundenen Praktiken. Eine Vorstellung von unterschiedlichen Kulturtheorien kann im vorliegenden Kapitel nicht erfolgen, empfehlenswert für eine erste Orientierung sind die Ausführungen bei Nünning5 und Heidemann.6 Das ethnologische Arbeiten beruht auf empirischen Daten, die durch eine direkte Teilnahme in ausgesuchten sozialen Umfeldern, durch Beobachtungen und Befragungen ermittelt werden und mit Theorien für ihre Beschreibung und Erklärung verbunden werden.

8.2 Methoden der Ethnologie Ethnografische Methoden haben zum Ziel, Daten zu erheben, aufzubereiten und zu deuten. Üblicherweise werden Daten zu einem festgelegten Forschungsprojekt während einer sogenannten Feldforschung erhoben. Die Feldforschung, das heißt Forschung in einem ausgesuchten Untersuchungsfeld, etwa einer Familie, einem Stadtviertel, einer Organisation, einem Unterricht oder einer spezifischen sozialen Situation, ist immer professionell und gut geplant. Die Lokalität ist genau bestimmt, die Forschungsfragen stehen fest, es gibt ein gut geplantes Programm, um Daten zu sammeln. Unterschiedliche Methoden kommen hierbei zum Einsatz: Die teilnehmende Beobachtung, bei der die Ethnolog*innen beispielsweise an einem Ritual oder Fest tatsächlich auch teilnehmen, also eine soziale Rolle einnehmen, und gleichzeitig ihre Beobachtungen machen. Auch gibt es verschiedene Formen des Interviews (strukturierte, halbstrukturierte, offene Interviews), um

5 Nünning, Ansgar u. Vera (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaften (Stuttgart und Weimer: J.B. Metzler, 2008). 6 Frank Heidemann, Ethnologie (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), 2011.

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8 Chinastudien und Ethnologie

Daten und Informationen zu bekommen. Zudem werden Daten auch über die Sichtung, Beschreibung und Deutung von archivierten Quellen, Bild- und Tonaufnahmen gewonnen. Inhaltlich richten sich ethnografische Methoden zumeist auf die Erfassung von Sinngebungen und Bedeutungszusammenhängen im Alltagsleben vor dem Hintergrund der Forschungsfrage. Die Datenauswertung und Theoriebildung beginnt bereits in der Forschungsphase. Da Ethnograf*innen in besonderer Weise selbst als Erhebungs- und Analyseinstrument fungieren, verlangt ethnografische Forschung im gesamten Verlauf bis zur Darstellung in schriftlicher Form eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand, den Informanten und der eigenen Position, d. h. es muss immer mitgedacht werden, ob sich etwa Antworten oder Verhaltensweisen der Informant*innen vielleicht durch die Fragen oder die Anwesenheit der Ethnolog*innen verändern und das Ergebnis beeinflussen. Ethnolog*innen sind mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ihren Wertevorstellungen, politischen Einstellungen, gesundheitlichen Voraussetzungen und so weiter Teil des Projektes und färben die Forschung immer mit. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, um effektiv und direkt Forschung in China betreiben zu können, ist die Sprachkompetenz. Ansonsten ist man auf Übersetzer*innen angewiesen, allerdings geht bei Übersetzungen und bei Kommunikation mit einer Zwischenperson immer Inhalt verloren. Zudem ist es schwieriger, ein direktes Vertrauensverhältnis mit den Informanten aufzubauen. Dass eine Feldforschung so klappt, wie sie geplant ist, ist nie gewährleistet. Politische Umbrüche, Krankheitsfälle, der Unwillen oder die Unmöglichkeit der Informant*innen zu sprechen oder sprachliche Hürden sind nur einige Beispiele, die zum Nicht-Gelingen beitragen oder die eine Feldforschung in eine ganz andere Richtung als geplant laufen lassen können. Auch muss man gegebenenfalls die Sicherheit der Informant*innen berücksichtigen. Aufmerksamkeit und Flexibilität ist bei der Produktion ethnografischer Daten und Texte immer geboten.

8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung Mit der Einleitung der chinesischen Reformpolitik Ende 1978 lebte die ethnologische Forschung in China auf. Auch besaßen nun ausländische Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, ins Land zu reisen, um eigene Feldforschung zu betreiben. Die ethnologischen Untersuchungen in China davor, d. h. in den 1960er und 1970er Jahren, beschränkten sich überwiegend auf ländliche Regionen. Dabei wurde beispielsweise beobachtet, dass hier soziale und wirtschaftliche Lebensbedingungen von den Folgen der massiven Landflucht und

8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung

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Urbanisierung nicht unberührt geblieben sind. Die Konsequenzen, die solche Migrationsbewegungen sowohl für die ländlichen Regionen als auch für die urbanen Zentren besaßen, rückten damit in den Forschungsfokus. Die chinesische Regierung musste beispielsweise mit etwa 100 Millionen Binnenmigrant*innen (oft als „Wanderarbeiter*innen“ bezeichnet) umgehen, die ihre Heimat verlassen haben, um in den Städten zu arbeiten. Migrant*innen, die sich nicht registrieren ließen, besaßen kein Wohnrecht, kein Recht auf eine Ausbildung für ihre Kinder und keine Möglichkeit eine Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. In Städten wie Beijing oder Shanghai gibt es heutzutage große Migrationsgemeinschaften und teils großflächige illegale Wohnniederlassungen. Migrant*innen liefern in diesen Städten einen maßgeblichen Beitrag in der Bauund Fertigungsindustrie. In der Regel sind sie schlecht bezahlt, arbeiten in arbeitsintensiven Sektoren meist mit langen Überstunden, sind unsicheren Arbeitsbedingungen ausgesetzt und erfahren Diskriminierung oder Belästigung durch die Arbeitgeber*innen.7 Ethnologische Forschung untersucht beispielsweise die sich wandelnden Arbeitsbedingungen und Lohnverhältnisse der Binnenmigrant*innen, Wohnaspekte, Behördenkommunikation, die Entwicklung von Kindern vor dem Hintergrund institutioneller Strukturen wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern aber auch ihre soziale Einbindung in Form von Sportund Freizeitangeboten.8 Wanderungsbewegungen sprengen seit jeher den gewohnten Rahmen von Raum, sozialer Ordnung und Kultur. Migrant*innen leben überwiegend in großer Ferne zu ihrer ursprünglichen Heimat und damit in einem Zwischenraum zwischen angestammter und angenommener Kultur, zu denen sie unterschiedliche Beziehungen unterhalten können. Eine Selbstverständlichkeit von sozialer Rolle, kultureller Orientierung und lokaler Verortung entfällt hier. Vor dem Hintergrund von Migrationsstudien ist der ethnologische Diskurs seit den l970er Jahren zunehmend durch eine konstruktivistische und antiessentialistische Sicht auf Kultur bestimmt worden. Einflussreich war dabei vor allem das von Fredrik Barth bereits 1969 verfasste Werk Ethnic Groups and Boundaries.9 Barth argumentiert, dass Kulturen durch Prozesse der Abgrenzung definiert seien. Sie ließen sich nicht von innen heraus fassen, sondern nur im Vergleich mit anderen Kulturen. Die Abgrenzung der Gruppen voneinander erfolge dabei dadurch, dass sie vor

7 Vgl. Ran Liu, Spatial Mobility of Migrant Workers in Beijing, China (Basel: Springer, 2015). 8 China Labour Bulletin, „Migrant Workers and Their Children,” zuletzt aktualisiert im Mai 2019, zugegriffen am 19.05.2019, https://clb.org.hk/content/migrant-workers-and-theirchildren. 9 Fredrik Barth, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference (Oslo, Universitets forlaget, 1969).

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8 Chinastudien und Ethnologie

allem Symbole einsetzten, die sich für die Differenzmarkierung eignen. Diese Symbole können situativ herangezogen werden, um etwa Sprache, religiöse Rituale, Kleidung, Schmuck oder kulinarische Gewohnheiten zu untersuchen und somit Kultur und deren Abgrenzung zum anderen zu definieren. Pierre Bourdieu (1930–2002)10 und später Johannes Fabian (geb. 1937)11 kritisierten, dass Ethnologen mit ihren Beschreibungen von kulturellen Kategorien diese selber erst hervorgebracht hätten. Auch das Konzept der ethnografischen Repräsentation wurde zunehmend kritisch betrachtet, da ein Sprechen über etwas nie eine reine Beschreibung sein kann, sondern immer auch ein Sprechen für etwas ist, das immer auch Machtzuschreibungen impliziert. So hat bereits die Auswahl des Feldforschungsgegenstandes Einfluss auf seine Konstruktion, da mit dem spezifischen Blick eine Eingrenzung des Forschungsobjekts vorgegeben und bestimmte Erwartungshaltungen impliziert sind. Ebenso wurde die Konstruktion von Kollektivsubjekten wie „die Chinesen“ kritisch hinterfragt, da mit derartigen Begriffen ein homogenes, zeitloses und einstimmiges Bild von „der chinesischen Kultur“ oder dem „chinesischen Denken“ geschaffen werden würde. Die ethnologischen Studien zum Leben in chinesischen Großstädten haben seit den 1980er Jahren ihr Themenfeld stetig erweitert: Erforscht werden etwa die materielle und symbolische Bedeutung von Lebensmitteln und Ernährung als Form der Differenzierung. Beispielsweise werden seit den letzten 15 Jahren Milchprodukte von Chines*innen zunehmend konsumiert und mit Blick auf westliche Ernährungsgewohnheiten positiv wahrgenommen. Mit Blick aber auf die Mongol*innen, die sogenannte weiße Speisen in verschiedenen Formen (Käse, Milchgetränke, Butter etc.) traditionell herstellen und seit jeher konsumieren, werden diese Produkte negativ wahrgenommen. Kulturelle Abgrenzung und Differenz wird hier entlang von Konsumgewohnheiten konstruiert.12 Smartphones und soziale Medien wie etwa der Instant-Messaging-Dienst WeChat sind in der VR China nicht mehr wegzudenken, sie sind Bestandteil einer neuen Alltagskultur. Die Menschen bezahlen so Mieten, Strom- und Restaurant-Rechnungen, scannen QR-Codes, um sich Fahrräder zu leihen oder um sich über Konsumgüter und Freizeitangebote zu informieren, vereinbaren Arzttermine, kaufen Flug- und Zugtickets oder bearbeiten wichtige Formulare. Diese Medien verändern das Alltagsleben und die Kommunikationsformen sowohl der

10 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976). 11 Johannes Fabian, Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object (New York: Columbia University Press, 1983). 12 Merle Schatz, „We Don’t Eat That Stuff”, in Food and Identity in Central Asia, hrsg. Aida Alymbaeva (Halle and Zurich: CASCA. Center for Anthropological Studies on Central Asia, 2016/2017), 14–20.

8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung

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Jugend, aber auch der älteren Generationen und Menschen in abgelegenen ländlichen Regionen. Diese haben nunmehr Möglichkeiten, Einsamkeit entgegenzuwirken, beispielweise durch Videoanrufe mit ihren Kindern, die mitunter in anderen Regionen des Landes leben und arbeiten. Kritisch wird aber auch in China der massive Gebrauch digitaler Medien gesehen. Als „kopfsenkende Gruppe“ (dītóuzú 低頭族), im Englischen smartphone addicts, werden Personen bezeichnet, die sich überwiegend auf ihre Smartphones, Notebooks oder Computer konzentrieren. Phubbing, von phone (Telefon) und to snub (brüskieren), bezeichnet in diesem Zusammenhang das Phänomen, dass sich Menschen mit ihrem Smartphone beschäftigen, während die Freunde, mit denen sie gerade zusammen sind, deswegen vernachlässigt werden. Fahren wir in Beijing mit der Metro, wirkt das Bild von hunderten schweigenden Menschen, die versunken auf ihr Smartphone schauen, unter Umständen skurril. Die Geschlechterforschung mit ihren zahlreichen Themen (siehe Kapitel 9) ist ebenso ein Forschungsgegenstand der Ethnologie. Um ein Beispiel aufzugreifen: Die 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik, die 2016 von einer Zwei-Kind-Politik abgelöst wurde, hat dazu geführt, dass Familien die Entscheidungsmöglichkeiten über die Anzahl ihrer Kinder fast vollständig an den Staat abtreten mussten. Die geschlechtliche Bevölkerungsstruktur veränderte sich im Zuge der Ein-Kind-Politik auch dadurch, dass mit ihr die Bemühungen um den einen männlichen Nachkommen bei den meisten Familien zusätzlich verstärkt wurden. Li und Peng beschreiben, dass der Mangel an Frauen besonders in wohlhabenderen Ostprovinzen bereits in den l990er Jahren erheblich gewesen sei.13 Der Frauenmangel führte insbesondere in den Großstädten zu Phänomenen wie Heiratsmärkten, Speed-DatingVeranstaltungen und Hilfegruppen, in denen Männer lernen sollten, sich dem zunehmend unbekannten weiblichen Geschlecht „erfolgreich“ zu nähern. Im Zusammenhang mit der Ein-Kind-Politik werden in anderen Arbeiten die nachlassende Pflege der Eltern und Älteren in den Familien und die Veränderungen in den Familienbeziehungen im Allgemeinen problematisiert.14 Genauso sind sogenannte leftover women, d. h. gut ausgebildete, emanzipierte Chinesinnen, die eine Karriere verfolgen, ein Alter über Dreißig haben und deswegen unverheiratet sind,

13 Yongping Li und Xihe Peng, „Age and Age Structures,“ in: The Changing Population of China, hrsg. Xizhe Peng und Zhigang Guo (Oxford: Blackwell, 2000). 14 Vanessa Fong, Only Hope: Gaming of Age Under China’s One-Child Policy (Stanford: Stanford University Press, 2004). Auch Hong Zhang, „From Resisting to ‘Embracing’? The OneChild Policy: Under-standing New Fertility Trends in a Central Chinese Village,“ The China Quarterly 192 (2007): 855–875; Hong Zhang, „The New Realities of Aging in Contemporary China: Coping with the Decline of Family Gare,“ in Cultural Context of Aging: World-Wide Perspective, hrsg. Jay Sokolovsky (Westport: Greenwood Publishing Group, 2009), 196–215.

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8 Chinastudien und Ethnologie

zu einem Forschungsgegenstand über gesellschaftliche Herausforderungen mit etwaigen kulturellen Besonderheiten im gegenwärtigen China geworden. Ein weiteres ethnologisches Themenfeld ist Konsumkultur: Die wirtschaftlichen Reformen in China haben seit den 1980er Jahren das Konsumverhalten der ländlichen und städtischen Bevölkerung beeinflusst. Es war ein enormer Kaufkraftanstieg zu verzeichnen, zudem veränderte sich das Kaufverhalten mit der Verfügbarkeit in- und ausländischer Produkte nachhaltig. In den 1980er Jahren waren es vor allem die Fernsehgeräte, Stereoanlagen, Waschmaschinen und Kühlschränke, mit denen Modernität und Fortschritt sowie ein attraktiver Lebensstandard verbunden wurde. In den 1990er Jahren kamen Motorräder, Autos, Computer, Markenkleidung, Beauty-Artikel und Mobilfunkgeräte hinzu. Die Konsumgüter für den häuslichen Gebrauch wurden vielfältiger, zudem stiegen auch die Ausgaben für Freizeit-Aktivitäten und Restaurantbesuche.15 Soziale Funktionen und soziale Praktiken von Konsum lassen sich an Mode, Shopping, Reise- und Freizeitverhalten, Lifestyle, Computer, Handy, Kinderbetreuung und Spielzeug beschreiben. Kulturelle Zuschreibungen können untersucht werden, etwa wenn gefragt wird, warum sich Hello Kitty in China größerer Beliebtheit als Barbie erfreut. Argumentiert wird hier mit der Vertrautheit des runden Porzellan-Gesichts, dessen Mund im Gegensatz zu dem amerikanisch empfundenen, weißen Gesicht der Barbie kaum sichtbar ist. Ein anderes Beispiel ist Starbucks: Derzeit gibt es 3.600 Filialen in über 150 Städten Chinas, obwohl China doch eigentlich eher mit Teekultur und weniger mit Kaffee in Verbindung gebracht wird. Genauso wie bei Fast-Food-Ketten, etwa McDonald’s oder Kentucky Fried Chicken, gibt es ein wachsendes Mittelklassepublikum in China, das sich über den Konsum mit Attributen wie modern, jung und global identifiziert und damit das zunehmend breite Spektrum von Kulturen in China gestaltet.16

8.3.1 Ethnologie in China In den 1980er Jahren lebte auch in China selbst die kulturanthropologische Forschung auf. Im Ausland ausgebildete chinesische Anthropologen hatten sich, etwa in der Arbeit über ethnische Minderheiten, zwar schon in den 1930er Jahren

15 Jakob Klein, „Changing Tastes in Guangzhou: Restaurant Writings in the Late 1990s,“ Consuming China. Approaches to Cultural Change in Contemporary China, hrsg. K. Latham, S. Thompson und J. Klein (London: Routledge, 2006), 104–120. 16 Tom Doctoroff, What Chinese Want. Culture, Communism, and China´s Modern Consumer (New York: Palgrave Macmillan, 2012).

8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung

117

mit Fragen der Gesellschafts- und Kulturanthropologie (shèhuì wénhuà rénlèixué 社會文化人類學) sowie Ethnologie (mínzúxué 民族學) befasst. Diese ersten eigenständigen Anfänge wurden allerdings nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 schon bald wieder erstickt. In der Regierungszeit Máo Zédōngs konzentrierte sich die Forschung weitestgehend auf stalinistisch geprägte ethnologische Methoden bei der Beschreibung ethnischer Minderheiten: Ethnografische Beobachtungen wurden hierbei auf die politische Funktion reduziert, Feldforschungsdaten zur Bestätigung der marxistischen Annahmen sozialer Evolution zu generieren. Im selben Zeitraum hatten indes nur wenige ausländische Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, eigene Feldforschungen in China zu betreiben. Während die chinesischen Wissenschaften in der Zeit der Kulturrevolution zwischen 1965 und 1976 nahezu vollständig brachlagen, waren die „westlichen“ Chinaforschungen in dieser Zeit entweder auf die in Hongkong erlangten Informationen angewiesen oder beschränkten sich gar vollständig auf in Bibliotheken verfügbares historisches Quellenmaterial. Die Forschungsbedingungen in China besserten sich mit Einleitung der Reformpolitik in den 1980er Jahren. Die „Chinese Anthropological Association“ wurde 1980 gegründet. Nur wenig später wurden ethnologische Abteilungen an der Zhongshan-Universität (1981) und der XiamenUniversität (1984) eingerichtet. In den 1990er Jahren konnten sich neuere ethnologische Forschungsprogramme etablieren, so etwa an der Yunnan-Universität in Kunming und der Tsinghua-Universität in Beijing. An diesen Institutionen arbeiten seitdem vor allem im Ausland ausgebildete chinesische Wissenschaftler. In den Fokus ethnologischer Forschungen rückten nun zunehmend die Auswirkungen sozialer und intellektueller Verwüstungen in der Herrschaftszeit Máo Zédōngs und Fragestellungen zu Fortschritt und Modernität. Einen weiteren Schwerpunkt in der ethnologischen Chinaforschung bilden Analysen zu den revolutionären chinesischen Kampagnen zwischen 1949 und 1976. Eades z. B. hat die Geschichte von Dörfern in der wechselhaften Geschichte der VR China nachgezeichnet und den Umgang der Dorfbewohner mit den politischen Veränderungen in jenen drei Jahrzehnten untersucht.17 Anhand dieser und anderer Untersuchungen dieses Bereichs kann eingeschätzt werden, inwiefern die revolutionären Vorgänge der 1950er Jahre einen historischen Bruch herbeigeführt und Veränderungen gegenüber bereits existierenden Vorstellungen von Verwandtschaft, Gemeinschaft, Geschlecht und Arbeit gezeitigt haben.

17 J. S. Eades, „The Emerging Socio Cultural Anthropology of Emerging China,“ in The SAGE Handbook of Social Anthropology, hrsg. Richard Fardon et al. (Los Angeles: Sage, 2012), 405–421.

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8 Chinastudien und Ethnologie

8.3.2 Nationale Minderheiten In den 1980er Jahren wurden die Forschungen zu nationalen Minderheiten (mínzú 民族) Chinas wieder aufgenommen. Grundlage für die Definition der „nationalen Minderheiten“ war ein bereits in den 1950er Jahren durchgeführtes Klassifizierungsprojekt der chinesischen Regierung, in dem Sprache als ein wesentliches Kriterium für die Bestimmung und Zuordnung „ethnischer“ Gruppen fungiert hatte. In diesem Projekt, das innerhalb eines halben Jahres konzipiert, durchgeführt und abgeschlossen werden sollte, wurden neben der Mehrheitsgruppe der Hàn-Chinesen die bis dahin über vierhundert bekannten Gruppen neu sortiert und einander zugeordnet, sodass am Ende 56 nationale Gruppen bestimmt waren.18 Gruppen, die ebenso offiziell anerkannt werden wollten, wurden einer dieser Gruppen zugeordnet. Einige von ihnen versuchen bis heute eine offizielle Anerkennung als eigenständige Gruppe zu erwirken. Ein weiteres zentrales Forschungsthema stellen die Vereinheitlichungen und Diversifizierungen zwischen der Gruppe der Hàn und weiteren nationalen Minderheiten dar. Mitglieder der Yí 彝-Nationalität z. B. haben nie angezweifelt, ein Teil der chinesischen Kultur zu sein. Vielmehr verweisen sie auf ihren Beitrag zur sogenannten chinesischen Zivilisation, der viel größer sei, als ihr Minderheiten-Status annehmen ließe. Frühe Kalendersysteme, ein erstes Schriftsystem, das die Vorfahren der Yí besaßen, oder auch die direkte Abstammung der ersten Siedler*innen in Yúnnán werden hier als Rechtfertigung zivilisatorischer – chinesischer – Errungenschaften angeführt.19 Bei den Diskussionen darüber, wer den Yí und wer den Tibeter*innen zuzuordnen ist, haben die meisten Wissenschaftler*innen die staatlich vorgegebene Einteilung in nationale Minderheiten unkritisch übernommen. Klar indes ist, dass auch diese Einteilung, bei der die zu bestimmenden Gruppen nicht erforscht, sondern vorgegebenen Kategorien zugeordnet werden, nicht mehr als ein politisches Konstrukt darstellt.20 Dru Gladney hat diesbezüglich einen kritisch hinterfragenden Diskurs eingeleitet und am Beispiel der Gruppe der Huí gezeigt, wie sich deren lokale Identitäten mit ihren diversen Ortswechseln und im Wandel der Zeit verändert haben.21 Das Ziel derartiger Forschungsarbeiten

18 Thomas Mullaney, Coming to Terms with the Nation: Ethnic Classification in Modem China (Berkeley: University of California Press, 2011). 19 Stevan Harell, „The Anthropology of Reform and the Reform of Anthropology: Anthropological Narratives of Recovery and Progress in China,“ in Annual Review of Anthropology 30 (2001): 139–161 20 Thomas Mullaney, Coming to Terms with the Nation: Ethnic Classification in Modem China (Berkeley: University of California Press, 2011). 21 Dru Gladney, Muslim Chinese (Cambridge: Harvard University Press, 1991).

8.3 Themenfelder ethnologischer Chinaforschung

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besteht darin, die Problematik der bis heute gültigen Kategorien aufzuzeigen und ihren ausschließlich diskursiven Charakter zu entlarven. Dasselbe trifft auf den touristischen Bereich zu, in dessen Kontext in China ganze Minderheitenstädte errichtet und als Themenparks der touristischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, um, ergänzt durch eine intensive Medieninszenierung, ausgewählte nationale Minderheiten folkloristisch zu präsentieren. Das homogene, in sich abgeschlossene Bild nationaler Minderheiten tritt nicht nur den Betrachter*innen, sondern auch den Mitgliedern der Minderheiten selbst als zunehmend „echt“ und „wahr“ entgegen. Die tatsächlichen Beziehungsstrukturen innerhalb solcher Gruppen und in ihrer Beziehung zu den Hàn-Chinesen stellen sich allerdings komplexer dar, als es ihre folkloristische Aufbereitung kommuniziert. Als Teil der chinesischen Gesellschaft geht es z. B. den Mongol*innen der Inneren Mongolei in China darum, ihre ethnische Identität in Abgrenzung zu „den Chines*innen“, zudem ihre „bessere mongolische Identität“ in Abgrenzung zu den Mongol*innen im Staat Mongolei zu vermitteln. Dass sie dabei sowohl eine chinesische als auch eine mongolische kulturelle Symbolik verwenden, hat inzwischen sichtbar zu einer Hybridisierung der beteiligten Kulturen selbst geführt.22 Khan hat diesbezüglich die Prozesse bei der Übernahme der Selbstbeschreibungen pastoraler Mongol*innen durch Innermongol*innen dargestellt und gezeigt, wie weitreichend die Konsequenzen dieser Aneignung etwa für die dabei gänzlich ausgeblendeten mongolischen Bauern und Städter seien, die in Wirklichkeit jenseits ihrer Stigmatisierung typisch städtischen Berufen und Lebensweisen nachgehen.23 Andere Arbeiten über Ethnizität und Identität sind unter diesen Umständen vor allem darum bemüht, einem derart auflebenden Kulturessentialismus durch spezifischere Feldforschungsdaten entgegenzuwirken. Dautcher z. B. hat Alltagspraktiken uighurischer Männer zur Bestätigung ihrer sowohl maskulinen als auch ethnisch uighurischen Selbstverständnisse dargestellt.24 Die Annahme, die Hàn seien eine homogene Gruppe, scheint vor dem Hintergrund ihrer regionalen Verteilung und aufgrund ihres Kontakts mit den jeweiligen regionalen Minderheiten ohnehin nicht haltbar. Die Heterogenität der Hàn-Chinesen ist allerdings noch nicht ausreichend untersucht worden. Deren Rolle in Studien über Minderheiten beschränkt sich vielmehr meist auf diejenige als homogenes Gegenstück. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Kriterien verbindlich

22 Merle Schatz, Sprache und Identität der Mongolen Chinas heute (Köln: Köppe, 2014). 23 Almaz Khan, „Who are the Mongols?“ in Negotiating Ethnicities in China and Taiwan, hrsg. Melissa Brown (Berkeley: Institute of East Asian Studies, 1996), 125–159. 24 Jay Dautcher, Down a Narrow Road: Identity and Masculinity in a Uyghur Community in Xinjiang China (Cambridge: Harvard University Press, 2009).

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8 Chinastudien und Ethnologie

herangezogen werden können, um die ethnische und kulturelle Identität all derjenigen, die sich als Chines*innen oder als eine nationale Minderheit Chinas bezeichnen, bestimmen zu können. Möglicherweise könnten heterogene und dynamische Beschreibungen die etwaigen Merkmale einer Gruppe besser darstellen als es mit festgeschriebenen Kategorien und der damit verbundenen Eingrenzung auf dieselben möglich ist. Dann würde beispielsweise nicht vornehmlich die Relevanz der Sprache für die mongolische Identität der Innermongol*innen untersucht werden, sondern eher der Gebrauch von Sprache im Zusammenhang mit mongolischen Identitätskonstruktionen. Der Fokus verschiebt sich damit auf ein dynamisches Handlungs- und Beziehungssystem der Akteur*innen, in dem „Sprache“ nur situationsabhängig relevant sein kann und kein ausschließliches Merkmal ethnischer oder nationaler Identität darstellt. Die hier exemplarisch ausgewählten Themen deuten nur grob an, dass die ethnologische Chinaforschung außerordentlich breit aufgestellt ist und sowohl von Sinolog*innen als auch von Ethnolog*innen, die China als ihre Feldforschungsregion ausgewählt haben, praktiziert wird.

8.4 Fazit Ethnologie ist eine beschreibende, theoretisch orientierte und vergleichende Kultur- und Sozialwissenschaft, deren Ziel es ist, komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilbereichen kultureller Dynamik und sozialer Praxis vor allem aus der Sicht der Akteure zu verstehen. Die hierfür relevanten Daten werden mittels langfristiger Feldforschungen, teilnehmenden Beobachtung und Befragungen gewonnen. Ethnolog*innen und ethnologisch arbeitende Sinolog*innen bedienen sich sowohl hermeneutischer (deutend-verstehender) als auch analytischer (erklärend-begründender) Theorien und Methoden. Die Möglichkeiten der zu bearbeitenden Themen und Fragen in der ethnologischen Chinaforschung sind dank der sozialen und kulturellen Diversität Chinas überaus vielfältig.

8.5 Begriffe Diaspora – Nationale oder ethnische Gemeinschaften, die nicht in ihrer Heimat leben Feldforschung – Forschung über Gruppen oder Kulturen in deren Lebensraum unter Teilnahme am Alltagsleben. Empirische Daten werden mittels Beobachtungen und Befragungen gewonnen

8.7 Transferaufgaben

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Nationale Minderheiten – In China gibt es derzeit 56 sogenannte mínzú 民族, der Begriff kann mit „Volk“, „Nation“, „Nationalität“ übersetzt werden. Unterschieden wird die Nationalität der Hàn von den anderen 55 Nationalitäten, die als nationale Minderheiten (shǎoshù mínzú 少数民族) bezeichnet werden, da sie der Gruppe der Hàn zahlenmäßig unterlegen sind Teilnehmende Beobachtung – Persönliche Teilnahme der Forscher*in am sozialen Leben oder den Interaktionen der Personen, die erforscht werden sollen. Die unmittelbaren Erfahrungen ermöglichen erweiterten Zugang zu Daten, die durch Befragungen allein nicht zur Verfügung stünden

8.6 Vorschläge zur Vertiefung Boer, Roland. „The State and Minority Nationalities (Ethnic Groups) in China.“ In The Palgrave Handbook of Ethnicity, herausgegeben von Steven Ratuva, 97–130. Singapur: Palgrave Macmillan, 1992. Heidemann, Frank. Ethnologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. Höllmann, Thomas. „Selbst- und Fremdwahrnehmung bei den ethnischen Minderheiten Chinas.“ Paideuma 53 (2007): 27–51. Perry, Elizabeth und Mark Selden (Hrsg.). Chinese Society: Change, Conflict and Resistance. Abingdon, Oxon: Routledge, 2010. Zang, Xiaowei (Hrsg.). Understanding Chinese Society. Abingdon, Oxon: Routledge, 2016.

8.7 Transferaufgaben 8.7.1 Ethnologische Methode Beschreiben Sie, welche wesentlichen Merkmale die teilnehmende Beobachtung auszeichnen. Überlegen Sie, wie eine teilnehmende Beobachtung zu einem bestimmten Thema in ihrem Heimatort/Studienort aussehen könnte und was hierfür alles geplant werden muss.

8.7.2 Kulinaristik und China-Image Gehen Sie in ein „China-Restaurant“. Beschreiben Sie, mit welchen Symbolen, Begriffen, Speisen oder architektonischen Mitteln ein China-Image kreiert wird. Fragen Sie das Personal, was in deren Augen typisch Chinesisch ist und ob das Restaurant diesem Bild entspricht.

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8 Chinastudien und Ethnologie

8.7.3 Museen und Wissen Besuchen Sie die China-Abteilung in einem Museum, online im Internet oder über einen Ausstellungskatalog. Mit was für Objekten und entlang welchen historischen, politischen oder wirtschaftlichen Linien wird Wissen im Zusammenhang mit China vermittelt. Recherchieren Sie nun für einen Vergleich einen Internetauftritt eines chinesischen Museums. Identifizieren Sie hier Themen und Objekte entlang derer ein Wissen über China vermittelt wird. Problematisieren Sie das Thema Museum im Zusammenhang mit „Konstruktion des Fremden“.

9 Gender Studies und China Thorben Pelzer Zusammenfassung: In diesem Kapitel geht es um die Bedeutung des Körpers für die Gesellschaft und Kultur. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Sektor der Sexualität als Dreh- und Angelpunkt unseres biologischen Wesens. Auf Basis von Diskursanalyse und Geschlechtertheorien wird in die Arbeitsweise und in die Forschungsfragen der Geschlechterstudien und im Speziellen der Queerstudien eingeführt. Es werden Beispielansätze gegeben, zu hinterfragen, wie chinesische Körper konstruiert werden und in welchem Spannungsfeld sie stehen.

9.1 Der Körper: Ein kulturelles Gut Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, sich in den Geisteswissenschaften mit Körpern zu beschäftigen. Schließlich sind Körper doch real, physisch erfassbar, gehören dem Reich der Biologie und der Medizin an. Doch beim näheren Betrachten sind Körper auch außerhalb der Naturwissenschaften von Interesse. Sie sind Teil unserer Kulturen, unseres täglichen Zusammenlebens, beeinflussen unser Handeln und sind Teil politischer Debatten. Verführen die Massenmedien zur Magersucht oder verursacht Werbung für Fast-Food-Restaurants Übergewicht? Wiegt das „Recht auf Leben“ mehr für die schwangere Frau oder für den ungeborenen Embryo in ihrer Gebärmutter? Welchen Diskriminierungen sind Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Krankheiten und ihres Geschlechts ausgesetzt? Die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Körper entstand als Forschungsdisziplin ab den 1960er Jahren und hat ihre Wurzeln in der politischen Frauenbewegung. Sie ist daher historisch betrachtet mit der Erscheinung des Feminismus verbunden. Anders als in der Öffentlichkeit oft fehlverstanden, bedeutet Feminismus nicht die Erhöhung des weiblichen Körpers, sondern lediglich den Willen zur Überwindung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Das Gegenteil von Feminismus ist also schlicht der Sexismus, das heißt die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts. Eine bekannte Feministin in Europa war zum Beispiel die englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft (1759–1797), die in ihrer Verteidigung der Rechte der Frau 1792 argumentierte, die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern seien nicht biologischer Natur, sondern

https://doi.org/10.1515/9783110665024-010

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9 Gender Studies und China

beruhten auf unterschiedlichen Chancen durch ungleiche Erziehung und Bildung.1 Auch in China, so kann argumentiert werden, gab es eine feministische Tradition. Wie im vormodernen Europa nahm der Feminismus aber auch im vormodernen China eine abgeschlagene Außenseiterrolle ein: Die vormodernen Gesellschaften in Europa und in China können eindeutig als Patriarchat analysiert werden. Das heißt, die Gesellschaften waren grundlegend sexistisch organisiert und privilegierten in allen Belangen (z. B. Familienrecht, Berufsausübung, Selbstverwirklichung) Personen des männlichen Geschlechts. Die Anarchistin Héyīn Zhèn 何殷震 (ca. 1884–ca. 1920) problematisierte in ihren Traktaten die Abhängigkeit der chinesischen Frau. Ihre Unselbstständigkeit beruhe auf wirtschaftlichen Faktoren und sei auch durch politische Reformen und individuelle sexuelle Entfaltung nicht zu überwinden.2 Sie und ihre Gefährt*innen zeigten feministische Vordenker in der chinesischen Tradition auf. So habe sich schon der Philosoph Lǐ Zhì 李贄 (1527–1602) gegen die Grundströmung seiner Zeit gewendet. Er habe argumentiert, jeder Mensch trage graduell Elemente beider Geschlechter in sich und Vorstellungen von „richtig und falsch“ seien nicht naturgegeben, sondern menschlichen Ursprungs.3 Ähnlich habe sich der Philosoph Táng Zhēn 唐甄 (1630–1704) antikchinesischer Quellen bemüht, um aufzuzeigen, dass geschlechterspezifische Ungleichheiten zwischen Eheleuten und deren Nachkommen „falsch“ seien.4

9.1.1 Sexuelle Orientierungen und Geschlechteridentitäten Die heutige Forschung der Geschlechterstudien (auch im Deutschen häufig englisch belassen: Gender studies) beschränkt sich nicht mehr auf die Belange der Frau. Im Wesentlichen sind zwei Komplexe, mit denen sich die Geschlechterstudien befassen, zu unterscheiden: Sexuelle Orientierungen und Geschlechteridentitäten (zusammen bilden sie das Akronym SOGI).

1 Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman: With Strictures on Political and Moral Subjects (Boston: Thomas and Andrews, 1792). 2 z. B. in Héyīn Zhèn 何殷震 alias Zhènshù 震述, „Nǚzǐ jiěfàng wèntí. 女子解放問題“ [Die Problematik der Emanzipation der Frau], Tiānyì bào 天義報 7, 8–10 (1907): 5–14, 1–6. 3 Bùgòngchóu 不公仇, „Lǐ Zhuówú xiānsheng xuéshuō. 李卓吾先生學說“ [Die Lehre des Lǐ Zhuówú = Lǐ Zhì], Tiānyì bào 天義報 1 (1907): 17–22. 4 Yàgōng 亞公, „Táng Zhùwàn xiānsheng xuéshuō. 唐鑄萬先生學說“ [Die Lehre des Táng Zhùwàn = Táng Zhēn], Tiānyì bào 天義報 2 (1907): 23–28.

9.1 Der Körper: Ein kulturelles Gut

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Sexuelle Orientierungen sind die Präferenzen von Personen bei der Verwirklichung ihres sexuellen Verlangens. Das berühmteste Gegensatzpaar entstand 1869 durch den ungarischen Journalisten Karl-Maria Kertbeny (1824–1882): Er erfand die Begriffe „Heterosexualität“ und „Homosexualität“ und prägte damit die Selbstund Fremdwahrnehmung für viele folgende Generationen. Heute erleben wir, dass sich das Verständnis von Sexualität wieder aus dieser Zweipoligkeit löst: Menschen identifizieren sich zum Beispiel als graduell bisexuell (Empfindungen für Frauen und Männer) oder pansexuell (Empfindungen für Personen ohne Rücksicht auf die Geschlechtsidentität), oder auch als asexuell (ohne sexuelles Verlangen). Anders als die sexuelle Orientierung meint die Geschlechteridentität Praktiken des eigenen Selbst. Neben den Geschlechtern „Frau“ und „Mann“, die vermutlich so alt sind wie unsere Zivilisationen, existieren auch graduelle Abstufungen (z. B. maskulin erscheinende „Butch“-Frauen), Grenzüberschreitungen (wortwörtlich transgender, früher missverständlich als Transsexualität bezeichnet), sowie Menschen, die biologisch bedingt keinem Geschlecht zugeordnet werden können (intergeschlechtliche Menschen) oder die eine solche Zuordnung aus ihrem eigenen Empfinden ablehnen (genderqueer). Aus der Zeit der frühen Sexologie, deren Erbe die Begriffe „Heterosexualität“ und „Homosexualität“ sind, stammt auch die Vorstellung, Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung seien essentiell miteinander verbunden. Männer sahen sich zum Beispiel eher dem Verdacht ausgesetzt, „homosexuell“ zu sein, wenn sie gleichzeitig ein „feminines“ Erscheinungsbild mit sich brachten. Sowohl Menschen mit abweichenden sexuellen Orientierungen, als auch Menschen mit abweichenden Geschlechteridentitäten wurden von der modernen westlichen Gesellschaft als „pervers“ empfunden; ähnlich galten sie in der Volksrepublik China als „Rowdys“ (liúmáng 流氓). Daher bildeten sie im 20. Jahrhundert eine gemeinsame Subkultur, aus der sich seit Ende der 1960er die politische LGBTBewegung (lesbian, gay, bisexual, transgender) speist. In den Geschlechterstudien bildet die Geschlechteridentität dagegen eine von den sexuellen Orientierungen losgelöste, eigenständige analytische Kategorie.

9.1.2 Wer und was bestimmt das Geschlecht? Die meisten Formen des Sexismus beruhen auf „essentialistischen“ Annahmen: Sie gehen davon aus, dass den Geschlechtern bestimmte Qualitäten naturgegeben seien. So war eine Begründung für das Universitätsverbot für Frauen in Europa, Frauen würden über geringere Gehirnkapazitäten als Männer verfügen, denn ihre naturgegebene Rolle beschränke sich auf Geburt und Erziehung von Kindern. Für die chinesische Oberschicht blieb folgender Satz aus dem Buch

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9 Gender Studies und China

der Wandlungen (Yìjīng 易經, 9. Jh. v. u. Z.?) bis in die Moderne das Ideal: „Der angemessene Platz der Frau ist das Häusliche, der angemessene Platz des Mannes das Außerhäusliche.“5 Aber auch eine Reihe von Feministinnen bedienten sich im politischen Rahmen essentialistischer Argumentationen, zum Beispiel wenn sie Frauen als naturgegeben friedfertiger und damit als natürliche Verbündete des Pazifismus darstellten.6 Die französische Philosophin Simone de Beauvoir (1908–1986) ist dagegen für eine Prämisse bekannt, die sie 1949 dem zweiten Teil ihres Buchs Das andere Geschlecht voranstellte: „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“7 Ihrer These, die Unterschiede zwischen den zwei uns im Alltag begegnenden Geschlechtern Frau und Mann seien sozial begründet, hätte der Sexologe John William Money (1921–2006) sicherlich zugestimmt. Er differenzierte zwischen zwei Kategorien, die wir im Deutschen beide als „Geschlecht“ bezeichnen, denen im Englischen aber unterschiedliche Wörter zugewiesen sind. Das biologische Geschlecht (engl. sex, chin. shēngwù xìngbié 生物性別) sei uns von Geburt an als Status zugewiesen. Das soziale Geschlecht (engl. gender, chin. shè huì xìngbié 社會性別) sei dagegen Resultat einer aktiven Handlung. Er verstand darunter Dinge, die eine Person sagt oder tut, um sich selbst auszuweisen als jemand, der oder die den Status als Mann oder Junge, als Frau oder Mädchen hat.8

Die Annahme eines sozialen Geschlechts erfolgt bereits im Kindesalter. Entsprechend sozialer Konventionen werden unsere Erziehungsberechtigten angehalten, jenen Kindern, auf deren Geburtsurkunde das Geschlecht „weiblich“ vermerkt ist, Puppen oder eine Miniaturküche zum Spielen zu geben. Kindern, auf deren Geburtsurkunde das Geschlecht „männlich“ vermerkt ist, erhalten dagegen als Spielzeuge häufiger Autos oder Waffenimitate. Halten wir uns nicht an unsere Stereotype, fordern wir gesellschaftliche Erwartungshaltungen heraus. Es ist gut vorstellbar, dass ein Kind mit männlichen Geschlechtsmerkmalen in seiner Naivität zunächst keine Einwände dagegen äußern würde,

5 [Übersetzung durch den Autor.] Yìjīng 易經, Jiārén 家人 1. 6 z. B. Emma Goldmann, „The Tragedy of Womens’s Emancipation,“ Mother Earth 1, Nr. 1 (1906): 9–18. 7 Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe II: L’expérience vécue (Paris: Gallimard, [1949] 1990), 8. 8 [Übersetzung durch den Autor.] John Money, Joan G. Hampson und John Hampson, „An Examination of Some Basic Sexual Concepts: The Evidence of Human Hermaphroditism,“ Bulletin of The Johns Hopkins Hospital 97, Nr. 4 (1955): 301–319.

9.1 Der Körper: Ein kulturelles Gut

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einen weiblichen Vornamen zu tragen, einen Rock anzuziehen und von seinen Eltern geschminkt zu werden. Da wir jedoch tagtäglich in Werbeanzeigen, Kinofilmen oder auf dem Schulhof mit Rollenmodellen konfrontiert werden, werden wir entweder selbst oder zumindest Teile unserer Mitmenschen Unbehagen aufbringen, wenn wir den Erwartungshaltungen unseres Geschlechts nicht entsprechen. In den Geschlechterstudien sprechen wir von „Performanz“: Eine Person verhält sich (vernachlässigbare biologische Unterschiede ausgenommen) nicht feminin, weil sie eine Frau ist, sondern wird als Frau wahrgenommen, weil sie sich feminin verhält. Ihr Umfeld nimmt sie sprachlich als Frau wahr und impliziert damit eine Erwartungshaltung, der in der Regel zu großen Teilen entsprochen wird.9 Dabei sind auch diese Erwartungshaltungen an unsere Kultur und unsere Zeit gebunden und demnach veränderbar. So ist zum Beispiel die Emanzipation der Frau, etwa ihre Berufstätigkeit oder ihre Berechtigung, an demokratischen Wahlen teilzunehmen, eine gesellschaftliche Normativität, die vor 150 Jahren noch zu großem Unbehagen geführt hätte. Die Philosophin Judith Butler (geb. 1956) führte die Erkenntnis der Konstruktion des sozialen Geschlechts noch einen Schritt weiter. In ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter stellte sie 1990 fest, dass auch das biologische Geschlecht entsprechend gesellschaftlich festgelegter Kriterien definiert sei und nicht, wie anhand des Adjektivs „biologisch“ zu vermuten wäre, eine naturgegebene Kategorie darstelle. Das Geschlecht richte sich nicht im Nachgang an objektive Realitäten wie primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen, Chromosomen oder Gehirnstrukturen. Sie schreibt: [. . .] die ursprüngliche Identität, nach der das soziale Geschlecht sich kleidet, ist eine Imitation ohne Vorbild. Um deutlicher zu werden, handelt es sich um eine Herstellung, bei der die Idee eines Vorbilds produziert wird als Effekt und Konsequenz der Imitation selbst.10

Butlers Vorstellung nach haben wir als Gesellschaft zunächst gelernt, in den Verhaltens- und Verantwortlichkeitskategorien von „Frau“ und „Mann“ zu leben. Erst auf diesen gesellschaftlichen Konventionen fußend, würden wir im Entbindungssaal beginnen, unseren Neugeborenen eines von genau zwei sozialen Geschlechtern als biologisches Geschlecht zuzuweisen. Die Geschlechtszuordnung beinhaltet

9 Für einführende Erläuterungen zum Thema Performanz und Geschlechterstudien, vgl. Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung (Dresden: Junius, 2002), insb. 71–78; Gill Jagger, Judith Butler. Sexual Politics, Social Change and the Power of the Performative (New York: Routledge, 2008), insb. 89–114. 10 [Übersetzung durch den Autor.] Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (New York, London: Routledge, [1990] 2010), 196.

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9 Gender Studies und China

problematischere Vorannahmen, als uns im Alltag bewusst ist. Eine in unserer geschlechterbezogenen Sprache unsichtbare Kategorie ist beispielsweise jene der Intergeschlechtlichkeit. An ihr wird deutlich, dass die verschiedenen Merkmale, nach denen wir biologische Geschlechter zuweisen, in der Natur weniger geordnet auftreten, als in unserer Sprache abgebildet: Eine Person kann beispielsweise außenliegend Geschlechtsmerkmale aufweisen, die wir mit einer Frau verbinden, aber gleichzeitig innenliegend Organe besitzen, die wir mit Männern verknüpfen. Neben den Chromosomenpaarungen XX und XY existieren noch eine Vielzahl weiterer Kombinationen, beispielsweise XXX, XXY oder XXYY, für die wir in unserer Sprache weder ein eigenes biologisches Geschlecht, noch soziale Verhaltensmuster vorgesehen haben.

9.2 Der Körper als Diskurs Nachdem wir herausgestellt haben, dass die Kategorien und Bedeutungen von Geschlechtern und Sexualitäten gesellschaftlich bestimmt und wandelbar sind, soll das nächste Kapitel darlegen, welche Modelle und Methoden wir uns zu Nutze machen können, um mit dieser Erkenntnis zu arbeiten. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Teil einer Analytischen Philosophie, deren Schwerpunkt im Bereich der Logik und Sprache lag. In seinem 1918 vollendetem Erstlingswerk Tractatus logico philosophicus analysierte Wittgenstein die Form der Sprache im Verhältnis zur Welt. Eine der Aussagen, zu die er in seiner Betrachtung gelangt, ist die folgende: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“11 Anders ausgedrückt: Unsere Welt setze sich nicht zusammen aus den Dingen, die faktisch existieren und die wir theoretisch wahrnehmen können, sondern aus den Aussagen, die wir über unsere Grammatik und unsere Vokabeln über eben diese Dinge tätigen können. Wittgenstein war damit einer der frühen Vorreiter eines neuen Paradigmas in den Sozial- und Kulturwissenschaften, das wir die „linguistische Wende“ nennen: Eine Entwicklung, die den Fokus geistes- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen auf die Sprache legte. Das Weltbild vieler früher Aufklärer*innen, die ihre Gesellschaft ab dem 17. Jahrhundert von Mystik und Aberglauben befreien wollten, war „positivistisch“: Für sie bestand die Welt aus physikalischen Objekten, die Naturgesetzen gehorchen. Alles, was wahr war, war demnach objektiv beobachtbar. Während

11 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-philosophicus (London: Routledge & Kegan Paul, [1922] 1960), 148.

9.2 Der Körper als Diskurs

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Naturwissenschaftler*innen dieser Vorstellung auch heute noch grundsätzlich zustimmen würden, beruhen die Geisteswissenschaften heute größtenteils auf Annahmen, die wir Sozialkonstruktivismus nennen: Konventionen wie die gesellschaftliche Schicht, die Zugehörigkeit zu Netzwerken, die Bedeutung von Ritualen, Vorstellungen von Gut und Böse, oder der Wert unseres Abiturzeugnisses existieren nicht in der objektiv wahrnehmbaren Natur, sondern entspringen unserem sozialen Miteinander und beeinflussen dieses zugleich. Grundlegende Kategorien, in denen wir tagtäglich denken und unter deren Einfluss wir handeln – wie Ethnie, Krankheit, Eigentum oder Geschlecht – stellen demnach keine überhistorischen Wahrheiten dar, sondern beruhen auf einer zeitlich und räumlich begrenzten gesellschaftlichen Übereinkunft, die sich auch in unserer Sprache niederschlägt.

9.2.1 Soziale Konstruktion der Sexualität Einer der einflussreichsten Philosophen, die diese Grundannahme auf konkrete historische Fälle anwandten, war Michel Foucault (1926–1984). Er und andere Poststrukturalist*innen gaben der linguistischen Wende eine praktische Komponente: Sie untersuchten, wie Sprache und Handlung miteinander in Verbindung stehen. Der Diskurs ist bei Foucault ein in der Sprache aufscheinendes Verständnis von Wirklichkeit einer jeweiligen Kultur und Epoche.12 In Foucaults eigenen Worten ging es ihm [. . .] darum, aufzuzeigen, durch welche Verknüpfungen eine Zusammensetzung an Praktiken [. . .] es ermöglichte, dass etwas Nichtexistentes (Wahnsinn, Krankheit, Kriminalität, Sexualität et cetera) doch zu etwas Existentem wird.13

Die Sprache, die das Verständnis von der Wirklichkeit bildet, sei begrenzt und wandelbar. Die zu einer jeweiligen Zeit zur Verfügung stehenden Aussagen bilden das sogenannte „Dispositif“. Da es zum Beispiel in der Vormoderne nicht möglich gewesen sei, von psychischen Erkrankungen mit dem heutigen Vokabular und den damit verknüpften Vorstellungen zu sprechen, seien psychische Erkrankungen in der subjektiven Wahrnehmung der damaligen Menschen anders aufgefasst worden als heute. Leuten, denen wir heute klinische Krankheiten attestieren, seien einst als „Dorftrottel“ oder „Hofnarren“ 12 Eine knappe Einführung in sein Verständnis des Begriffs „Diskurs“ bietet Foucault in Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses (Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein, 1977). 13 [Übersetzung durch den Autor.] Michel Foucault, Naissance de la biopolitique: Cours au collège de France (1978–1979), (Paris: Gallimard, 2004), 21.

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9 Gender Studies und China

wahrgenommen worden – ohne unser modernes Bestreben, ihren Geisteszustand zurück in die „Normalität“ zu überführen. Viele Elemente unseres Lebens sind so alltäglich, dass wir sie für physikalisch existent und zeitlos erachten, obwohl ihre Wahrnehmung tatsächlich vom Dispositif unserer Kultur und unserer Epoche abhängig ist. Häufig diskutierte Beispiele hierfür sind die oben besprochenen Kategorien sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität. Foucault widmete sich in seinem letzten, unvollendeten Werk einer mehrbändigen Geschichte der Sexualität (ab 1976, auf Deutsch als Sexualität und Wahrheit erschienen). Im ersten Band wendete er seine Methode der „Diskursanalyse“ auf das Konzept der Homosexualität an. Er argumentierte, Geschlechtsverkehr zwischen männlichen Personen sei in der Vormoderne nicht mit einer unumkehrbaren Identität (jener des modernen homosexuellen Mannes), sondern nur als sündhafte Handlung (jene des gleichgeschlechtlichen Akts an sich) verstanden worden. Er schrieb: „Der Sodomit war jemand Rückfälliges, der Homosexuelle ist jetzt eine Spezies.“14 Erst mit dem sexologischen Diskurs, welcher Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Einführung des Begriffs „Homosexualität“ mit sich brachte, sei es möglich geworden, dass sich Menschen kollektiv mit einer nicht-normativen Sexualität identifizierten. Der Literaturhistoriker David M. Halperin (geb. 1952) schrieb dementsprechend auch von lediglich „Einhundert Jahren der Homosexualität“.15 Doch gerade die Pathologisierung des Andersseins sollte nach einer langen Stigmatisierung schließlich im darauffolgenden zwanzigsten Jahrhundert eine Massenbewegung ermöglichen, deren emanzipatorische Ziele bis heute nicht vollständig Realisierung erfahren haben. Erst das Verständnis über die historische Dynamik des sexuellen Diskurses macht es möglich, geschichtliche Zusammenhänge zu verstehen. In populärwissenschaftlichen Publikationen wird beispielsweise häufig von der „homosexuellen Dichterin“ Sappho (630–580 v. u. Z.) gesprochen, oder päderastische Praktiken, Sexarbeit und situativer Geschlechtsverkehr im alten China werden als Beweis für eine gesellschaftliche Akzeptanz „der Homosexualität“ verstanden. Dabei sollten wir uns bewusstmachen, dass die antiken Chines*innen über ein anderes Vokabular (das heißt ein anderes Dispositif) verfügten, als wir dies gegenwärtig tun. Männern der chinesischen Oberschicht beispielsweise war es zwar in manchen Epochen erlaubt, Knaben zu penetrieren – doch sie identifizierten sich nicht mit ihrem Lebensstil, durften nicht selbst penetriert werden, und waren angehalten, mit einer Frau eine Familie zu zeugen. Eine

14 [Übersetzung durch den Autor.] Michel Foucault, Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir (Paris: Gallimard, 1976), 59. 15 David M. Halperin, One Hundred Years of Homosexuality: And Other Essays on Greek Love (New York, London: Routledge, 1990).

9.2 Der Körper als Diskurs

131

Gleichsetzung ihrer Praktiken mit dem heutigen Diskurs der Homosexualität ist demnach sehr missverständlich. Chinawissenschaftler*innen sollten daher nicht versuchen, uns heute bekannte Sexualitäten in historischen Zeiträumen ausfindig zu machen. Es ist stattdessen hilfreich, sich zunächst damit zu befassen, welche Sexualitäten in welchen Zeiträumen existierten und wie diese gesellschaftlich verstanden wurden. Während interkulturelle Vergleiche ein hilfreiches wissenschaftliches Mittel darstellen, sollten Diskurse nicht undifferenziert gleichgesetzt werden. Beispielsweise ist der Diskurs der Kurtisanen in der chinesischen Kaiserzeit ein anderer als der Diskurs westlicher Sexarbeiterinnen. Der Diskurs von „Empfindung und Verlangen“ (qíngyù 情慾) der Qīng-Zeit hat Anknüpfungspunkte zu jenem der romantischen Liebe, besitzt aber eine andere Komplexität.16 Der Ausdruck tóngzhì 同志, ein gegenwärtiger chinesischer Sammelbegriff für nicht-normative Sexualitäten, wurde in der Vergangenheit mit „homosexuell“ übersetzt, ist damit in der Tiefe aber nicht identisch, da er auch andere sexuelle Orientierungen und sogar Geschlechteridentitäten mit einschließt.

9.2.2 Überschneidung von Körpermerkmalen Ein Untersuchungsfeld der Geschlechterstudien ist die sogenannte Intersektionalität. Diese meint die Überschneidung von verschiedenen, jeweils mit Bedeutung aufgeladenen Körpermerkmalen und die damit einhergehende Überlappung und Wechselwirkung verschiedener Diskriminierungen. Mit diesem Modell lassen sich Körper differenzierter untersuchen. Beispielsweise könnte eine Forschungsarbeit zu dem Ergebnis gekommen sein, dass lesbische Frauen in vielen Gesellschaften diskriminiert werden, und eine andere Untersuchung zu dem Schluss, dass chinesische Frauen ebenfalls benachteiligt werden. Eine intersektionale Analyse könnte darauf aufbauend aufzeigen, dass Personen mit allen drei Körpermerkmalen, also lesbisch (sexuelle Orientierung), weiblich (Geschlechteridentität) und chinesisch (ethnische Zugehörigkeit) mit anderen Konflikten konfrontiert sind als lesbische, aber weiße Frauen oder chinesische, aber heterosexuelle Frauen, und so die ersten beiden Forschungen weiter ausdifferenzieren.

16 Vgl. Haiyan Lee, Revolution of the Heart: A Genealogy of Love in China, 1900–1950 (Stanford: Standford University Press, 2007).

132

9 Gender Studies und China

9.2.3 Kontrolle über den Körper Aus der sprachlichen Realität, die lediglich zwei klar unterscheidbare Geschlechter vorsieht, erwachsen Praktiken, welche diese Realität herstellen sollen. In Deutschland war es noch bis 2013 gesetzliche Pflicht, einem Neugeborenen entweder das weibliche oder das männliche Geschlecht zuzuweisen. Die Körper der intergeschlechtlichen Neugeborenen wurden dementsprechend in Operationen nachträglich angeglichen, um unseren optischen Vorstellungen von Frau und Mann gerecht zu werden. Diese Praktiken sind Beispiel dessen, was Foucault Biopolitik nannte: Die Anwendung und Auswirkung politischer Macht bezogen auf das menschliche Leben und den Körper. Ein Beispiel für Biopolitik aus der chinesischen Geschichte war die Pflicht für Männer in der Zeit der mandschurischen Herrschaft, einen Zopf zu tragen, ein anderes die staatlich geförderte Erwartungshaltung, dass chinesische Witwen enthaltsam leben müssten. Ein jüngeres Beispiel für biopolitische Gesetzgebung war die Ein-Kind-Politik der Volksrepublik China, bis sie 2016 aufgehoben wurde.

9.3 Geschlechterstudien über China Das Schreiben über Geschlechter oder Sexualitäten alleine bedeutet strenggenommen noch nicht das Betreiben von Geschlechterstudien: Soziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaften beschrieben die Rolle der Frau bereits lange vor der Geburt der Geschlechterstudien als eigenständige Disziplin. Erst die Analyse der Bedeutung von Geschlechtern oder Sexualitäten benötigt die Modelle und Methoden der Geschlechterstudien.

9.3.1 Geschlechterkonflikte und chinesische Traditionen In der Geschichte und Gegenwart Chinas finden sich viele Anhaltspunkte, die eine differenziertere Beschäftigung mit den chinesischen Verständnissen von Geschlechtern und Sexualitäten interessant erscheinen lassen. Solche Fälle bilden etwa die kaiserzeitlichen Eunuchen, welche ihre Männlichkeit aufgeben mussten, um in der verbotenen Stadt zu dienen, oder die Kaiserin Wǔ Zétiān 武則 天 (625–705), welche von 690–705 in nomine als männlicher Kaiser regierte. Als das Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten 2015 die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnete, begründete der Richter Anthony Kennedy (geb. 1936) sein Urteil unter anderem mit einem Rückgriff auf die chinesische Geistesgeschichte: „Konfuzius lehrte, die Ehe sei das Fundament des

9.3 Geschlechterstudien über China

133

Regierungswesens.“17 Dass ein US-amerikanischer Richter sich einem Philosophen einer anderen Kultur bediente und dessen Lehren womöglich aus dem Zusammenhang gerissen habe, sorgte in der chinesischen Öffentlichkeit für Diskussionen. So verwies der Konfuzianer und Philosophieprofessor Zēng Yì 曾 亦 (geb. 1969) auf den Stellenwert des familiären Nachwuchses im Konfuzianismus und antwortete, es sei „offensichtlich, dass der Konfuzianismus nicht mit der Homoehe in Einklang zu bringen“ sei.18 Ein Argument gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in China war damit jenes kulturell chinesische Erbe, welches die in der Volksrepublik regierende Partei noch bis in die Siebzigerjahre hinein vehement bekämpft hatte. Die Etablierung und Deutung von Begriffen ist Äußerung von Macht. Für chinesische Sicherheitsbehörden steht der Begriff des Feminismus daher im Verdacht, politische Institutionen des Staats zu hinterfragen. Dementsprechend wurde das durch eine globale Bewegung gegen sexuelle Belästigungen im Alltag und im Berufsleben popularisierte Kürzel „#metoo“ 2018 in die Zensurliste des sozialen Netzwerks Xīnlàng Wēibó 新浪微博 aufgenommen. Als 2015 fünf selbsterklärte Feministinnen in Beijing verhaftet und für einen Monat ohne Anklage in Untersuchungshaft gehalten wurden, schien der Verdachtsmoment ebenfalls durch eine gedankliche Verknüpfung zwischen feministischer Aktion und staatlichen Dissens begründet gewesen zu sein. Diskurse von Geschlecht und Sexualität beeinflussen also nicht nur die Gesellschaft, sondern sind gleichzeitig beeinflussbarer Gegenstand gesellschaftlicher Akteur*innen. Feministische Kreise der chinesischen Zivilgesellschaft besetzten etwa Männertoiletten, um gegen eine zu geringe Anzahl öffentlicher Frauentoiletten zu protestieren,19 oder setzen sich in einer anderen Aktion für die Installation von Unisex-Toiletten zur Sichtbarmachung anderer Geschlechtsidentitäten ein.20 Mit dem gleichen Ziel machte

17 [Übersetzung durch den Autor.] Supreme Court of the United States: Obergefell et al. v. Hodges, Director, Ohio Department of Health, et al. 2014: 3. Zugegriffen am 30. Juli 2018. http://www.supremecourt.gov/opinions/14pdf/14-556_3204.pdf. 18 Zēng, Yì 曾亦. „Rújiā xuézhě zhènggào Měiguó zuìgaō fǎshǔ: Qǐng bùyào qūjiě Kǒngzǐ: 儒家学者正告美国最高法书:请不要曲解孔子.“ [Konfuzianischer Philosoph zu oberstem USRichter: Bitte stellen Sie Konfuzius nicht falsch dar] The Paper 澎湃新闻, 27.06.2015. Zugegriffen am 30. Juli 2018. http://www.thepaper.cn/newsDetail_forward_1346017. 19 Te-ping Chen, „Men’s Bathroom ‘Occupied’ in Protest Over China Toilet Inequity,“ The Wall Street Journal, 21.02.2017. Zugegriffen am 23. März 2019. https://blogs.wsj.com/chinareal time/2012/02/21/mens-bathroom-occupied-in-protest-over-china-toilet-iniquity/. 20 Jiang Jie, „All Gender Toilets Promoted in Beijing,“ People’s Daily, 15.06.2016. Zugegriffen am 23. März 2019. http://en.people.cn/n3/2016/0615/c90000-9072588.html.

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9 Gender Studies und China

beispielsweise in Taiwan die Aktivist*in Hiker Chiu (Qiū Àizhī 丘爱芝, geb. 1966) ihre Intergeschlechtlichkeit öffentlich.21 Auch in Kreisen chinesischsprachiger Bürgerrechtler*innen herrscht Uneinigkeit, ob aus dem Westen stammende Diskurse ohne kulturelle Anpassungen zu übernehmen seien. So wird beispielsweise in Hinblick auf das Akronym LGBT auf den indigenen tóngzhì-Begriff hingewiesen. Der Ausdruck tóngzhì meinte ursprünglich die in vielen sozialistischen Ländern übliche Anredeform „Genosse“ beziehungsweise „Genossin“, erfuhr aber in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Umdeutung und ist heute ein Sammelbegriff sexueller Minderheiten. Da tóngzhì sowohl Sexualitäten als auch Geschlechter aller Art meinen kann, schwingt mit dem Begriff auch eine andere sexuelle Taxonomie (eine andere „Ordnung der Dinge“) mit. Damit ist die Erfahrung der Menschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit diesem Dispositif sozialisiert wurden, eine andere, als jene der jungen Chines*innen, die heute während ihrer Identitätsbildung zusätzlich mit westlichen Diskursen konfrontiert werden. Das Dispositif hat Auswirkungen auf die Wirkkraft biopolitischer Maßnahmen: Chinesische Männer, die sich selbst zwar in einem Doppelleben als „Genosse“ anreden lassen, sich aber gleichzeitig als Familienvater in einer heterosexuellen Verbindung begreifen, sind beispielsweise schwieriger für Aufklärungskampagnen gegen den sexuellen Übertragungsweg des HI-Virus greifbar als jene chinesischen Männer, die sich durch ihre im westlichen Sinn „homosexuelle“ Identität auch sprachlich als Teil einer Risikogruppe verstehen. Vorstellungen dessen, was eine Frau sei, wie sie sich zu verhalten habe und was ihre Rechte sind, sind ebenso angreifbar wie Konzepte von Familie oder Sexualität. Während auf der legalen Ebene Veränderungen scheinbar schlagartig geschehen – etwa 1950 die Abschaffung der Polygamie – steht im Hintergrund die Austragung längerfristiger gesellschaftlicher Konflikte auf praktischer und sprachlicher Ebene. Die Analyse dieser Spannungsfelder kann Thema geschlechterforschender Arbeiten sein.

9.3.2 Sinologie und queere Theorie Die Sinologie befasste sich zwar schon früh mit Geschlechterfragen, bedient sich jedoch erst seit ein paar Jahrzehnten den methodologischen Grundlagen

21 Hiker Chiu, „Taiwan. Valentine’s Day for Intersex Activist Hiker,“ Amnesty International, 14.02.2018. Zugegriffen am 23. März 2019. https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/ 2018/02/pride-and-prejudice-valentines-day-lgbti-activists-taiwan/.

9.3 Geschlechterstudien über China

135

der Geschlechterstudien. So handelte es sich 1961 bei der Pionierarbeit Sexual Life in Ancient China des niederländischen Kriminalautors Robert van Gulik (1910–1967) noch um eine historische Quellensammlung exotisch anmutender Textpassagen chinesischer Klassiker. Der Historiker Bret Hinsch (geb. 1962) veröffentlichte 1990 mit seinen Passions of the Cut Sleeve einen Überblick über gleichgeschlechtliche Handlungen in der chinesischen Vormoderne, fasste diese aber ohne Rücksicht auf Diskurse undifferenziert als „homosexuelle Tradition“ zusammen. So konnte sich das Bild einer angeblich einst sexuell offenen chinesischen Kultur etablieren. Erst in den letzten zwanzig Jahren ermöglichte die Spezialisierung einiger Sinolog*innen auf Geschlechterfragen eine kritischere Auseinandersetzung mit den chinesischen Kulturen. Als Beispiele sind hier etwa die Untersuchungen von Petrus Liu und Hongwei Bao zu nennen, die sich mit der Politisierung sexuell abweichender Körper auf Taiwan und dem chinesischen Festland beschäftigten.22 Sie untersuchen die Frage, welche Rolle politisch sozialistische und wirtschaftlich neoliberale Ordnungen in der eigenen Identitätsfindung im Verhältnis zur Staatsmacht gespielt haben und spielen. Howard Chiang wiederum analysierte in seiner Arbeit kulturgeschichtliche Brüche und Kontinuitäten zwischen dem traditionellen Diskurs der Eunuchen und dem modernen Diskurs der Transsexualität.23 Auch das Konzept der Intersektionalität findet sich in sinologischer Forschung wieder, etwa indem stereotypische Verknüpfungen zwischen Hautfarben und HIV-infizierten Körpern in China herausgearbeitet wurden, oder indem Machtverhältnisse in sexuellen Verbindungen zwischen Chines*innen und Nicht-Chines*innen analysiert wurden.24 In Angesicht der sozialen Konstruktion von Sexualität und Geschlecht stellt sich die Frage, zu welchem Grad in der westlichen Gesellschaft erarbeitete Kategorien und damit verknüpfte Vorstellungen auf chinesische Gesellschaften übertragbar sind. Kontrovers wird diskutiert, ob die Aufweichung geschlechtlicher Rollen und die Übernahme sexueller Kategorien wie Hetero-, Homo- und Bisexualität in China Anzeichen einer universell gültigen gesellschaftlichen

22 Petrus Liu, Queer Marxism in Two Chinas (Durham: Duke University Press, 2015); Hongwei Bao, Queer Comrades. Gay Identity and Tongzhi Activism in Postsocialist China (Kopenhagen: NIAS Press, 2018). 23 Howard Chiang, After Eunuchs. Science, Medicine, and the Transformation of Sex in Modern China (New York: Columbia University Press, 2018). 24 Johanna Hood, HIV/AIDS, Health and the Media in China. Imagined Immunity through Racialized Disease (London, New York: Routledge, [2011] 2013); Kenneth Chan, „Rice Sticking Together. Cultural Nationalist Logic and the Cinematic Representations of Gay Asian-Caucasian Relationships and Desire,“ Discourse 28, Nr. 2/3 (2006): 178–196.

136

9 Gender Studies und China

Entwicklung darstellen, oder als hegemoniale Einflüsse westlicher Kulturen gedeutet werden sollten. Ein möglicher Ausweg aus einem Teil der Probleme, die sich bei der Betrachtung von sich kulturell unterscheidender Diskurse über Geschlechter und Sexualitäten ergeben, ist der Begriff queer (kù’ér 酷兒). Dieser ist ein Sammelbegriff diverser, vom Normativen abweichender Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und Lebensweisen und nicht an konkrete Ausformulierungen dieser gebunden. Die neue Disziplin der Queerstudien ist jener der Geschlechterstudien entsprungen. Sie widmet sich unter dieser Prämisse einer Fülle von Handlungsweisen und Identitäten. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestehende gesellschaftliche Institutionen und ihre Funktionen, wie jene der Familie zur Sicherung der Fortpflanzung, herausfordern und dadurch neue (existierende oder erst in Zukunft zu erdenkende) Realitäten kreieren. Queertheoretiker beziehen sich dabei oft auf oben genannten Michel Foucault. Dieser hatte argumentiert, dass über Diskurse der sexuellen Befreiung Machtverhältnisse nicht aufgehoben, sondern nur neugestaltet werden würden.25 Alte Identitäten würden durch neue ersetzt werden, die den komplexen, graduellen Eindrücken des Menschen und seinem Körper (Ethnie, Nationalität, Alter, Gesundheit und Verfasstheit, sexuelle Orientierung, Geschlechteridentität) wieder nicht gerecht werden. Deswegen ist der Begriff „queer“ absichtlich nicht ausdefiniert. In der queeren Theorie werden also Taxonomien, mit denen wir Geschlechteridentitäten und sexuelle Orientierungen kategorisieren, nicht vorweggenommen. Indem wir die von uns beobachteten Praktiken nicht bereits vorweg in uns bekannte Kategorien einteilen, können wir unseren Quellen vorbehaltloser begegnen. Verbindungen müssen nicht mehr entweder freundschaftlich oder romantisch sein, Praktiken müssen nicht mehr entweder feminin oder maskulin sein, Identitäten müssen nicht mehr entweder normal oder pervers sein.26 Auf diese Weise kann auch die enge Freundschaft zweier Frauen oder die Hypermaskulinität eines heterosexuellen Mannes zum Forschungsgegenstand queerer Geschlechterforschung werden. Eine neue Generation junger Sinolog*innen sieht hier eine Parallele zwischen den Konzepten „queer“ und „Chinesischsein“

25 Foucault, Histoire de la sexualité I, insb. 205–208. 26 Bzgl. des fließenden Übergangs zwischen Freundschaft, Homoerotik und Homosexualität, vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire (New York: Columbia University Press, 1985); David M. Halperin, How to Do the History of Homosexuality (Chicago, London: University of Chicago Press, 2002).

9.5 Begriffe

137

(vgl. Kapitel 3.3), die ähnlich graduell und schwer fassbar sind, und regt deshalb zur Zusammenarbeit der beiden Disziplinen an.27

9.4 Fazit Geschlecht und Sexualität sind mögliche Objektive, durch die wir chinabezogene Forschung betreiben können. Den Annahmen des Sozialkonstruktivismus zufolge sind Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität des Menschen wandelbar. Das bedeutet, dass wir unsere eigenen Konzeptionen nicht als gegeben annehmen sollten, wenn wir Diskurse analysieren. Die Bedeutungen chinesischer Körper sind Teil eines politisch-kulturellen Spannungsfeldes und Ergebnis eines Prozesses, der nie abgeschlossen ist.

9.5 Begriffe Biologisches Geschlecht (sex) – Geschlechteridentität, die als auf biologischen Merkmalen beruhend verstanden wird Biopolitik – Anwendung und Auswirkung politischer Macht bezogen auf das menschliche Leben und den Körper Diskurs – Das in der Sprache aufscheinende Verständnis von Wirklichkeit einer jeweiligen Kultur oder Epoche Feminismus – Streben nach Gleichberechtigung der Geschlechter Intersektionalität – Gemeinsame Betrachtung und Beeinflussung von verschiedenen Kategorien des Körpers wie Hautfarbe, Gesundheit, Geschlechteridentität, sexuelle Orientierung Patriarchat – Sexistische Gesellschaftsordnung, die Männer privilegiert queer – Vom Normativen abweichende Praxis des Körpers Sexismus – Diskriminierung aufgrund des Geschlechts Soziales Geschlecht (gender) – Geschlechteridentität, die auf der Wahrnehmung sozialer Verhaltensmuster beruht Sozialkonstruktivismus – Soziologische Theorie, die besagt, dass gesellschaftliches Handeln und Wissen zur Ausformung der Realität beitragen

27 Vgl. Ari Larissa Heinrich, „‘A Volatile Alliance.’ Queer Sinophone Synergies across Literature, Film, and Culture,“ in Queer Sinophone Cultures, hrsg. Howard Chiang und Ari Larissa Heinrich (New York, London: Routledge, 2014), 3–16; Howard Chiang und Alvin K. Wong, „Asia is Burning. Queer Asia as Critique,“ Culture, Theory and Critique 58 (2017): 121–126. doi: 10.1080/14735784.2017.1294839.

138

9 Gender Studies und China

9.6 Vorschläge zur Vertiefung Barlow, Tani E. The Question of Women in Chinese Feminism. Durham, London: Duke University Press, 2004. Chiang, Howard (Hrsg.). Sexuality in China. Histories of Power and Pleasure. Seattle: University of Washington Press, 2018. Frey Steffen, Therese. Gender. Stuttgart: Reclam, 2017. Kortendiek, Beate, Birgit Riegraf und Katja Sabisch (Hrsg.). Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer VS, 2018. doi:1007/978-3-658-12500-4. McLelland, Mark and Vera Mackie (Hrsg.). Routledge Handbook of Sexuality Studies in East Asia. New York, London: Routledge, 2014.

9.7 Transferaufgaben 9.7.1 Ordnungen der Dinge In seinem Werk Die Ordnung der Dinge (1966) erörterte Foucault, wie Ordnungen unsere Vorstellung der Dinge beeinflussen und zeigte die Willkürlichkeit, die diesen Ordnungen zugrunde liegt, auf. Er zitierte dabei den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986), welcher als Gedankenexperiment eine fiktive Ordnung („Taxonomie“) der Tierwelt erstellte, die er einer obskuren (und ebenfalls fiktiven) chinesischen Enzyklopädie entnommen habe. Betrachten Sie seine Taxonomie der Tiere. Wie würde diese Ordnung unser Leben beeinflussen, wenn sie gesellschaftlich anerkannt wäre? Können Sie in Ihrem Alltag weitere Beispiele für etablierte Ordnungen ausfindig machen, zu denen es denkbare Alternativen gibt? 1. Tiere, die dem Kaiser gehören 2. einbalsamierte Tiere 3. gezähmte 4. Milchschweine 5. Sirenen 6. Fabeltiere 7. herrenlose Hunde 8. in diese Gruppierung gehörende 9. die sich wie Tolle gebärden 10. die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind 11. und so weiter 12. die den Wasserkrug zerbrochen haben 13. die von Weitem wie Fliegen aussehen

9.7 Transferaufgaben

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9.7.2 Die Stellung der Frau Informieren Sie sich wahlweise über Huā Mùlán 花木蘭 (angeblich 5. Jh.) Wǔ Zétiān 武則天 (625–705), oder Tsai Ing-wen (Cài Yīngwén 蔡英文, geb. 1956). Beschreiben Sie, wie die von Ihnen gewählte Person den chinesischen Geschlechterdiskurs ihrer Zeit herausgefordert hat.

9.7.3 Biopolitik ist überall Überlegen Sie sich weitere historische oder gegenwärtige Beispiele, in denen staatliche Institutionen Macht über die Körper ihrer Bürger*innen ausgeübt haben oder ausüben. Versuchen Sie, zumindest ein Beispiel für Biopolitik aus einer chinesischen Kultur zu finden.

10 Soziologie und Chinastudien Merle Schatz und Peter Ludes Zusammenfassung: Dieses Kapitel führt in Fragestellungen und theoretische Modelle soziologischen Arbeitens mit unterschiedlichen China-Beispielen ein. Soziologisches Arbeiten beschäftigt sich mit Bedingungen und Auswirkungen menschlichen Zusammenlebens, in diesem Fall in Bezug auf China. Am Beispiel des Meldesystems in China wird dies etwas ausführlicher zum Ende des Kapitels vorgestellt.

10.1 Soziologie Der Begriff „Soziologie“ setzt sich zusammen aus lat. socius (Gefährte, Mitmensch) und griech. logos (Wahrheit, Lehre, Wissenschaft). Der chinesische Begriff für Soziologie lautet shèhuìxué 社会学 „die Lehre von der Gesellschaft“. Die Soziologie gehört zu den Sozialwissenschaften, wie etwa auch die Wirtschaftswissenschaften, die Politikwissenschaft, die Sozialpsychologie und die Sozialanthropologie. Verbunden sind diese Disziplinen durch ihren gemeinsamen Untersuchungsgegenstand: die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens. Jede dieser sozialwissenschaftlichen Disziplinen hat ihren eigenen Fokus, geht mit spezifischen Methoden vor und setzt sich eigene Erkenntnisziele. In der Allgemeinen Soziologie werden die grundlegenden Begriffe, Methoden und Theorien erarbeitet, um soziale Prozesse besser zu verstehen und erklären. In speziellen Soziologien werden z. B. Familie und Gruppe, Arbeit und Beruf, Institutionen und Organisationen, Politik, Religion, Sport, Medien und Wirtschaft untersucht. Aber was genau interessiert Soziolog*innen dabei? Vereinfacht gesagt das Handeln von Menschen im Kontext weit reichender und generationenübergreifender Netzwerke, beispielsweise, dass einige Menschen in China westliche Medizin in den Apotheken kaufen und andere wiederum in extra ausgewiesenen Apotheken für traditionelle chinesische Medizin ihre Medizinpäckchen mischen lassen, oder dass Mütter auf Heiratsmärkten für ihre noch unverheirateten Töchter werben und dass junge chinesische Männer sich in Nachbarländern Ehefrauen suchen, oder dass junge Menschen in Beijing Cafés und Bars mit amerikanischen und europäischen kulinarischen Angeboten eröffnen und andere wiederum lokale traditionelle Familienbetriebe fortführen. Welche langfristigen Traditionen, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsstrukturen wirken warum fort? Welche

https://doi.org/10.1515/9783110665024-011

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10 Soziologie und Chinastudien

Machtbeziehungen und Zwänge dominieren? Die Liste der Beobachtungen, Regelungen und Statistiken mit Bezug auf China erscheint endlos, doch das alleinige Auflisten dieser Daten ist noch nicht Soziologie. Soziologischer wird es, wenn man nach den damit verbundenen, für den einzelnen Menschen meist undurchschaubaren langfristigen sozialen Prozessen fragt: Warum kaufen die einen westliche Medizin und die anderen die chinesische? Warum gibt es Heiratsmärkte? Wieso wird eine Bar in China nach europäischem oder amerikanischem Vorbild ausgestattet? Es wird also immer nach den Ursachen, Verlaufsmustern und Folgen menschlichen Handelns und sozialer Verflechtungen gefragt. Soziolog*innen verwenden für die Beschreibung und Erklärung der untersuchten Probleme bestimmte Begriffe und Methoden. Machtverhältnisse, Gruppe, Klassengegensätze, Kapital, Institution, Organisation, Rolle, Struktur, Prozess oder Gesellschaft sind typische Begriffe soziologischer Analysen, Diagnosen und Theorien. Wichtige Figurationen (d. h. soziale Beziehungsgeflechte) menschlichen Zusammenlebens wie etwa Familie, Geschlechterbeziehungen, Alter, soziale Herkunft, soziale Ungleichheit, Politik, Wirtschaft, Religion, Erziehung, Gesundheit und Massenmedien werden selbstverständlich auch mit besonderem Bezug auf die Entwicklung Chinas erforscht. Spannend sind hier nicht nur die einzelnen Beschreibungen, sondern auch die Vergleiche, die zu mehr oder weniger ähnlichen sozialen Prozessen etwa in Deutschland gezogen werden können. Hierbei stellt sich u. a. die Frage, ob sich die soziologischen Theorien, die für die Beschreibungen und Erklärungen sozialer Prozesse in Frankreich, Deutschland oder den USA erarbeitet wurden, auch auf die meist wesentlich anderen Entwicklungsmuster z. B. in Brasilien, Russland, Indien, China oder Südafrika, also die sogenannten BRICS-Staaten, übertragen lassen.

10.1.1 Modernisierung Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie als eigener Fachwissenschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Herausforderungen der Modernisierung. Die immer stärkere Flucht aus ländlichen Gebieten in Städte, die enorme Verringerung der Anzahl der Personen, die in der Landwirtschaft tätig waren, und der Anstieg der Industrie-Arbeiterschaft, danach in der Dienstleistung und in bessere (Aus-) Bildung voraussetzenden Berufszweigen, der Kampf gegen den Adel und Könige, die Bildung von Gewerkschaften und Parteien, die Einrichtung von Parlamenten und die allmähliche Durchsetzung eines freien, gleichen und geheimen Wahlrechts waren Kennzeichen eines lang andauernden Prozesses der teilweisen Verstädterung, Industrialisierung und nie ganz gesicherten Demokratisierung (vgl. Kapitel 13).

10.1 Soziologie

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Die Durchsetzung rechtmäßig überprüfbarer Regelungen konstituierte nicht nur in staatlichen Institutionen, sondern allen Organisationen gemeinsam mit der Gewaltenteilung, eine allmähliche Durchsetzung von Rechtsstaaten, die durch Steuern finanziert werden. Diese Verrechtlichung wurde notwendigerweise ergänzt durch eine zunehmende Monopolisierung des legalen Einsatzes physischer Gewalt durch Militär und Polizei, aber auch durch weniger kontrollierte Geheimdienste. Zugleich differenzierten sich Politik, Wirtschaft, Familie, Wissenschaft und Massenmedien immer mehr voneinander aus. Sie werden geregelt durch Macht (und Gesetze), Geld, Liebe, methodologisch überprüfbare Wahrheitsansprüche und öffentlich generierte Aufmerksamkeit. Mit diesen meist nationalen Staatenbildungen und -verfestigungen mit lokalen, föderalen und zentralen Institutionen entwickelten sich besondere Erziehungsregeln, die in Kindergärten, Schulen, Berufsordnungen, Straßenverkehrs-, Arbeits- und Umweltschutzgeboten kanonisiert wurden. Auch Regelungen für wissenschaftliche Forschung und Lehre, internationale Verträge, Massen- und Netzwerkmedien gewannen immer mehr an Bedeutung. Diese weisen seit Jahrzehnten zunehmend weit, häufig, verbindlich und intensiv über nationalstaatliche Kommunikationsräume hinaus. Alle genannten Teilprozesse der Modernisierung wie 1. Verstädterung bzw. Urbanisierung, 2. Industrialisierung, 3. Demokratisierung und der Kampf um gleiche Rechte für Frauen und soziale Minderheiten, 4. Herausbildung von Rechtsstaaten und Bürokratisierung (besonders von Max Weber untersucht), 5. Monopolisierung der Steuererhebung und des Einsatzes physischer Gewalt (besonders von Norbert Elias erklärt), 6. Alphabetisierung und staatliche Regelungen für Schulen, Berufe, Umwelt und Medien, 7. funktionale Differenzierung und 8. durch weltweite Kommunikationsnetze voran getriebene Internationalisierungen und Globalisierungen trugen zu weiterhin ungesicherten und ambivalenten, oft aber friedlicheren, (selbst-)kontrollierteren Verhaltensstandards und -weisen und Persönlichkeitsstrukturen bei als in früheren Jahrhunderten. Norbert Elias (1897–1990) untersuchte diese „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ in seinem zweibändigen Werk Über den Prozeß der Zivilisation von 1939, das seither in viele Sprachen, auch ins Chinesische, übersetzt wurde.1 Diese verschiedenen Teilprozesse umfassender langfristiger Modernisierung, Differenzierung, Integration und Zivilisierung erfolgten in den verschiedenen Überlebenseinheiten Westeuropas und Nordamerikas in den letzten Jahrhunderten des

1 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (Zwei Bände, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1976).

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10 Soziologie und Chinastudien

vorigen Jahrtausends meist früher und schneller als in anderen Teilen der Welt, zugleich aber auch in sehr unterschiedlichen Verlaufsmustern. Immer gab und gibt es Modernisierungs- und Globalisierungsgewinner*innen und verlierer*innen. Aus Verteilungskämpfen entstanden mörderische ökonomische, soziale und existenzielle Ungleichheiten2 – bei insgesamt feststellbaren Verbesserungen der Lebenschancen weltweit.3 Die zuvor genannten Prozesse verliefen, oft beschleunigt, als mehr oder weniger durchschaute Vernetzungen von individuellen oder Gruppen-Entscheidungen, mit großenteils unklaren Zielen und unbeabsichtigten (Neben-) Wirkungen. Insgesamt waren alle diese Prozesse ungeplant, lassen aber je spezifische Teilstrukturen und Gesamtrichtungen erkennen. Aber auch fast vollständig unerkannte und nicht planbare Entwicklungen waren entscheidende Verstärker oder Hemmnisse von Industrialisierung oder Demokratisierung: Demografische Veränderungen, Ernte- und Hungerkatastrophen oder Epidemien wie die Cholera kamen erst im vorigen Jahrhundert allmählich teilweise in den Steuerungsspielraum menschlicher Organisationen und staatlicher Instanzen.

10.1.2 Der soziologische Blick Soziolog*innen konzentrieren sich auf soziale Handlungen und Prozesse. Hierdurch sollen traditionale, affektuelle, zweck- und wertrationale Motive und Generationen übergreifende Verhaltensmuster und Institutionen rekonstruiert, verstanden und erklärt werden; ebenso wie kulturelle Unterschiede und Konflikte, politische, ökonomische oder andere soziale Figurationen von Menschen in langfristigen Prozessen. All dies geschieht in den wichtigsten sozialen Systemen Politik, Wirtschaft, Familie, Kultur und sie verbindenden Medien der Kommunikation. Soziologische Forschung kombiniert Daten aus sehr verschiedenen Gebieten, Statistiken, Gesetze, informelle Regelungen, Schulbücher, Medieninhalte und Lebenserinnerungen oder Umfragen, um diese systematisch unter den Aspekten langfristiger Prozesse oder kurzfristiger Motive aufzubereiten. So werden die „Selbstbeobachtungen“ und Zeitdiagnosen moderner Gesellschaften über journalistische Nachrichten und Reportagen hinaus erweitert. Damit sollen auch Ursachen und Nutznießer*innen extremer sozialer und ökonomischer

2 Göran Therborn, The Killing Fields of Inequality (Cambridge: Polity, 2013). Peter Philipps, Giants. The Global Power Elite (New York: Seven Stories Press, 2018). 3 „Human Development Reports,“ UNESCO, zugegriffen am 27. November 2018, http://www.hdr.undp.org/en.

10.1 Soziologie

145

Ungleichheiten aufgedeckt werden. Denn Lobbyist*innen großer Unternehmen beeinflussen Gesetze und Wahlen durch professionelle Strategien, die nur durch distanziertere sozialwissenschaftliche Untersuchungen entlarvt werden können.4 Eine weitere Aufgabe der Soziologie besteht zudem in der Vermittlung von Wissen über soziale Situationen, in denen oft unhinterfragte, „selbstverständliche Sichtweisen“ vorherrschen. So erscheint es als selbstverständlich, in der sogenannten „interkulturellen Vorbereitung“ von Mitarbeiter*innen für ihren Auslandseinsatz in einem deutsch-chinesischen Joint Venture in China, über Konfuzius und seine Lehren zu unterrichten. Betrachtet man allerdings den Lebens- und Arbeitsalltag der Mitarbeiter*innen in China, wundert man sich über derartige inhaltliche Prioritäten. „Selbstverständlich“ ist eben nur eine alltägliche Perspektive, die genaueren Untersuchungen nicht standhält und die Gefahr birgt, Propaganda, Public Relations, Selbstdarstellungen oder Fake-News nicht mehr zu hinterfragen, sie blind anzunehmen und weiterzutragen. Soziologische Forschung kann solche Ideologie und Utopien überprüfen und zu neuem, kritischem Bewusstsein beitragen. Die Soziologie teilt mit anderen Sozialwissenschaften das Ziel, soziale Handlungen und Prozesse zu verstehen und zu erklären. Aber soziologische Forschung ist nicht so klar wie andere Sozialwissenschaften auf einen engeren Gegenstandsbereich festgelegt. Das wird durch einen Vergleich mit der Volkswirtschaftslehre deutlich, die v. a. soziales Handeln auf Märkten untersucht. Ihre Ausgangsfrage ist beispielsweise, wie Angebot und Nachfrage auf einem Markt zu einem bestimmten Preis tendieren. Die Soziologie aber untersucht soziales Handeln auf Märkten genauso wie soziales Handeln in Politik, Bildung, Wissenschaft, Religion oder im privaten Leben. Bestimmte Menschen verhandeln nämlich nicht nur Preise bzw. sind einfach gezwungen, Preise für Grundnahrungsmittel oder Mietwohnungen stumm leidend zu akzeptieren und bezahlen. Sie arbeiten und leben auch in Institutionen oder „privaten Lebensformen“ zusammen, in denen sie sich mit Des-/Orientierungs- und Ex-/ Kommunikationsmitteln persönlicher Verständigung über Grundlagen und Kriterien für Wahrheit, Vertrauen, Angst, Freundschaft, Liebe oder Macht auseinandersetzen. Bei einer derartigen Vielfalt von Konkurrenzkämpfen kann es nicht „die eine“ soziologische Theorie geben, die alles beschreibt und erklärt. Denn die sogenannten sozialen Medien formatieren auch bisher als

4 Vgl. „Project Censored,“ zugegriffen am 27. November 2018, www.projectcensored.org; Peter Ludes, Brutalisierung und Banalisierung. Asoziale und soziale Netze (Wiesbaden: Springer VS, 2018).

146

10 Soziologie und Chinastudien

„asozial“ angesehene Verhaltensweisen, oft voller Hass gegen die „anderen“ und im Dienst profitorientierter Aufmerksamkeitsmaximierung. Es entwickelten sich verschiedene soziologische Theorien oder Ansätze zur Erforschung, Beschreibung und Erklärung sozialer und asozialer Verhaltensweisen wie etwa Handlungs- und Systemtheorien, symbolischer Interaktionismus und Theorien der rationalen Wahl, Konflikt- und Integrationstheorien oder (Ent-)Zivilisierungstheorien. Viele Lebensbereiche erfordern jeweils besondere Erklärungen und Theorien. Es stellt sich im Anschluss die Frage, ob und wie sich diese Beobachtungen, Daten und Theorien zwischen vielen Lebensbereichen und unterschiedlichen regionalen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Konfigurationen historisch vergleichen lassen. Lassen sich in Westeuropa und Nordamerika entwickelte soziologische Theorien, die durch die Verstädterung, Industrialisierung, (Ent-) Demokratisierung, Bürokratisierung und (Ent-)Zivilisierung menschlichen Zusammenwirkens in den letzten Jahrhunderten begründet wurden, z. B. auf soziale Entwicklungen in China anwenden? Inwieweit Chinas Fortschritte beispielsweise in sozialer Kontrolle durch ein historisch einmalig umfangreiches Überwachungssystem die zuvor genannten Prozesse transformieren werden und neuere Entwicklungen künstlicher Intelligenz bisherige Regelungen industrieller Produktion oder staatlich organisierter Erziehung und Sicherheit vor Gewalt, Hunger und Krankheit fundamental verändern werden, gehört zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben soziologischer Forschung. Immer wird es hierbei auch um die Hinterfragung von Privilegien und Machtausübung gehen, die Aufdeckung von Zwängen, die tatsächlich ausgeübte Gewalt und historisch neuartige Kriegsgefahren.

10.2 Soziologische Theorien Soziologische Theorien gründen in zahlreichen empirischen Untersuchungen und ziehen hieraus allgemeinere Schlussfolgerungen, wie soziales Handeln motiviert ist, warum viele Menschen sich typischerweise gemäß beobachtbaren Konventionen entscheiden und wie sich hieraus soziale Netzwerke wechselseitiger Abhängigkeiten und Ergänzungen über Generationen hinweg bilden. Es gibt beispielsweise Theorien, die menschliches Verhalten, dessen Gründe den Beteiligten oft nur teilweise einsichtig sind und bewusste soziale – also auf andere Menschen bezogene – Handlungen betonen: In Talcott Parsons’ (1902–1979) Theorie zu Handlungen in sozialen Systemen haben Rollen und Normen ebenso wie Funktionen wesentliche Aufgaben der Anpassung, Zielverwirklichung, Integration und Aufrechterhaltung latent verbindlicher

10.2 Soziologische Theorien

147

Verhaltensmuster.5 Jürgen Habermas’ (geb. 1929) Theorie kommunikativen Handelns hat verständigungsorientiertes Handeln und Diskursfähigkeit als Schwerpunkt.6 Innerhalb der sogenannten Systemtheorien berücksichtigen die Theorien komplexer Systeme, symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und der sozialen Evolution von Niklas Luhmann (1927–1998) die historische Entwicklung von Gesellschaftsstruktur und Semantik, die funktionale Ausdifferenzierung von Politik, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Familie oder Kunst und Sport als Hauptmerkmale der Modernisierung.7 Die Prozess- und Figurationssoziologie von Norbert Elias verbindet Untersuchungen langfristiger sozialer Prozesse mit sehr detaillierten Beispielen für konkrete Verhaltensänderungen: Scham- und Peinlichkeitsschwellen, zeitliche Orientierungen und Machtverhältnisse werden immer in generationenübergreifenden langfristigen Figurationen einer Vielzahl interdependenter Netzwerke untersucht. „Figurationen“ bezeichnen wechselseitig abhängige Menschen, oft unterschiedlicher Generationen, die über Konventionen und Zwänge aufeinander angewiesen sind. Hierbei dominieren immer einige Gruppierungen gegenüber anderen, sodass wir von asymmetrischen Machtverhältnissen sprechen. Schäfers und Rosa bieten ausführlichere Übersichten über soziologischen Theorien und ihre wichtigsten Vertreter.8 Drei Theorierichtungen werden dem folgend hier besonders vorgestellt: Funktionalismus, Konfliktansatz und symbolischer Interaktionismus.

10.2.1 Funktionalismus Der Funktionalismus untersucht, welche gesellschaftlichen Aufgaben beispielsweise die Politik, Wirtschaft, Familie oder die Religion haben. Warum etwa ist es in Beijing möglich, binnen weniger Jahre ein großangelegtes Flughafenprojekt zu planen, entsprechend durchzuführen und fertigzustellen – und in Berlin

5 Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers (New York: McGraw Hill, 1937). 6 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981). 7 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984). 8 Bernhard Schäfers, Einführung in die Soziologie (Wiesbaden: Springer VS, 2016) und Hartmut Rosa, David Strecker und Andrea Kottmann, Soziologische Theorien (Konstanz und München: UniTaschenbücher, 2018).

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10 Soziologie und Chinastudien

nicht? Wenn zum Beispiel eine Kommission, ein Parlament oder ein Unternehmen ein Bauvorhaben planen, dann muss dieses nicht unbedingt für alle auch von Vorteil sein. Deshalb werden in demokratischen Rechtsstaaten größere Bauvorhaben in öffentlichen Verfahren überprüft. Auch sich weiter verschärfende Sicherheitsanforderungen können hier erhebliche Kostensteigerungen und Zeitverzögerungen begründen. So ist zum Beispiel die Sprachpolitik Chinas, die das Mandarin-Chinesisch an oberste Stelle der Sprachhierarchie stellt, für den Erhalt eines ganz bestimmten kulturellen Images Chinas von einem hohen politischen Nutzen für die herrschende Gruppe. Diejenigen, die eine andere offiziell anerkannte Sprache in China zur Muttersprache haben, etwa das Mongolische bei den Mongol*innen in der Autonomen Region Innere Mongolei in China, sind hier benachteiligt, weil sie entweder zwei Sprachen erlernen müssen oder nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben in ihrem chinesischen Umfeld teilhaben können, wenn sie nur ihre Muttersprache sprechen.

10.2.2 Konfliktansatz Welche Gruppen stehen sich gegenüber und welche Interessenkonflikte bestehen? Konflikte gibt es immer dann, wenn Macht ausgeübt wird. Zum Beispiel zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen etwa bei der Aushandlung von Arbeitsbedingungen, wie bei dem taiwanischen Elektronik-Hersteller Foxconn, Produzent des iPads von Apple in Shēnzhèn, der eine Serie von Suiziden unter seinen Arbeiter*innen hervorrief.9 Andere Interessenskonflikte bestehen beispielsweise zwischen Jugendlichen und ihren Eltern, Frauen und Männern, Armen und Reichen, zwischen unterschiedlichen Bewohner*innen einer Region, die jeweils Anspruch auf das Land erheben (etwa in der Inneren Mongolei, wo Landnahme durch Hàn-Chinesen regelmäßig zu Konflikten mit dort lebenden Mongol*innen führt),10 oder zwischen Gruppen, die sich wichtige natürliche Ressourcen wie Erdöl, Gas oder Wasser teilen müssen, um nur einige zu nennen. Konflikte gibt es

9 Brian Merchant, The One Device: The Secret History of the iPhone (New York: Back Bay Books, Litte, Brown and Company, 2017). Zitiert in Brian Merchant, „Life and Death in Apple´s Forbidden City,” The Guardian, 18. Juni 2017, zugegriffen am 23 März 2019, https://www.theguardian.com/technology/2017/jun/18/foxconn-life-deathforbidden-city-longhua-suicide-apple-iphone-brian-merchant-one-device-extract. 10 Sabine Engel, ‚Das ist unser Leben: Ohne Heimat, Land und Nahrung.‘ Bergbau in der Inneren Mongolei und das Ende des Nomadentums. (Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen: Gesellschaft für bedrohte Völker, 2015).

10.2 Soziologische Theorien

149

also immer aufgrund von Klassen- oder Gruppen- und Interessengegensätzen, Ansprüchen und Privilegien und prägen die Interaktionen und Vorstellungen. Diese Dynamiken können friedlich oder gewaltsam verlaufen.11

10.2.3 Symbolischer Interaktionismus Soziale Entwicklungen eröffnen immer wieder Ereignisse, in denen Menschen nach traditionellen Konventionen irrationale oder innovative Entscheidungen treffen und damit zu ganz neuen Dynamiken sozialer Handlungen sowie Interaktionen beitragen und den Lauf der Geschichte ändern. Die Ideen, Wünsche, Gedanken und Gefühle dieser Menschen dürfen also bei der Erforschung sozialen Handelns nicht vernachlässigt werden, da sie ihrerseits Handlungen motivieren. Spezifisch außergewöhnliche Situationen und gesellschaftliche Umbrüche fördern neuartige Motivationen und soziale Bindungen, die bisher dominierende Regelungen und Machtverhältnisse infrage stellen, gefährden oder umstürzen. Man denke etwa an ein Erlebnis des chinesischen Schriftstellers Lǔ Xùn zur Zeit seines Medizinstudiums in Japan, als er von Lehrern Fotografien über aktuelle Ereignisse gezeigt bekam: Ich hatte wunderbare Träume, dachte mir, daß ich nach erfolgreich abgeschlossenen Studien nach China zurückkehren und Kranke, [. . .], von ihren Leiden erlösen würde. [. . .] Einmal erschienen auf den Dias plötzlich viele Chinesen, von denen ich doch so lange getrennt gewesen war. In der Mitte stand einer, dem die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, um ihn herum lungerte eine Menge von Menschen. Er war von kräftigem Körperbau, hatte aber einen offenkundig abgestumpften Gesichtsausdruck. Den Erklärungen zufolge hatte der Gefesselte für die Russen Militärspionage betrieben. Zur Abschreckung sollte ihm öffentlich von der japanischen Armee der Kopf abgehackt werden, doch die Umstehenden waren nur gekommen, um mit Kennermiene ein Schauspiel zu würdigen. Noch vor Ende des Studienjahres war ich nach Tokio abgereist, denn nach diesem Erlebnis hatte ich den Eindruck, die Medizin sei keineswegs so wichtig. Wenn die gesamte Bevölkerung eines schwachen Landes, so gesund und kräftig sie auch sein mochte, zu nichts anderem nütze war, denn als Material und Zuschauer eines völlig sinnlosen Schauspiels zu dienen, so sind in diesem Fall Krankheit oder Tod nicht unbedingt als großes Unglück anzusehen. Unsere wichtigste Aufgabe sei es also, ihre Ideen zu verändern. Und da ich damals überzeugt war, die Künste taugten dazu am ehesten, beschloss ich, die Bewegung für Literatur und Kunst zu unterstützen.12

11 Hierzu Stefan Kramer und Peter Ludes (Hrsg.), Collective Myths and Decivilizing Processes (Münster, Berlin, Wien, Zürich und London: Lit, 2019). 12 Lu Xun, Applaus (Zürich: Unionsverlag, 1999), 10.

150

10 Soziologie und Chinastudien

Lǔ Xùn wurde in der Folge zu einem einflussreichen Schriftsteller und zu einem Hauptvertreter der Neuen-Kultur-Bewegung der 1910er und 1920er Jahre in China. Der Symbolische Interaktionismus macht die Funktionalisten oder Konflikttheoretiker darauf aufmerksam, dass (ihre) Konzentration auf Strukturmodelle nicht ausreicht, um „soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich zu erklären“.13 Hierbei gilt es auch, persönliche Umbrüche zu erklären, die zu revolutionären Veränderungen beitragen können.14

10.3 Soziologische Chinaforschung Soziologische Chinaforschung unterscheidet nach der Sinologin Bettina Gransow drei Schwerpunkte: 1. „Soziologie in China“, 2. „Soziologie Chinas“ und 3. „chinesische Soziologie“.15 Die „Soziologie in China“ bezeichnet die institutionell verankerte Soziologie in China, etwa als Fach an Universitäten oder Forschungsinstitutionen. „Soziologie Chinas“ bezieht sich auf westliche Chinaforschung, die soziologische Methoden und Modelle verwendet, um soziale Handlungen, Prozesse oder Institutionen Chinas zu untersuchen. „Chinesische Soziologie“ meint die Forderungen chinesischer Soziolog*innen, Soziologie zu sinisieren. Erste Übersetzungen und Rezeptionen ausländischer soziologischer Werke kennzeichneten das soziologische Arbeiten in China zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Theorien der sozialen Evolution und zu sozialen Problemen standen im Vordergrund des Interesses. Die Etablierung einer akademischen Soziologie etwa an der Yenching-Universität oder der Tsinghua-Universität in Beijing war eng mit dem Wirken protestantischer Missionare verbunden. Empirische Forschung wurde verstärkt zwischen 1927 und 1935 betrieben, besonders die Dorfstudien nahmen ab 1932 zu. Chinesische Soziologen nutzten ausländische Theorien, um soziale Entwicklungen in China zu beschreiben und zu erklären. Mit dem Kriegsausbruch 1937 konnte an zahlreichen Universitäten die Arbeit nicht weiterverfolgt werden.

13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie (Berlin: Zweitausendeins, 2005), 1920. 14 Peter Ludes, „Distorted Knowledge and Repressive Power,“ in Media, Ideology, and Hegemony, hrsg. Coban Savas (Leiden: Brill, 2018), 125–142. 15 Zur Unterscheidung eines westlichen und eines chinesischen Wissenschaftsfelds „Soziologie Chinas“ siehe Bettina Gransow, „Soziologische Chinastudien und chinesische Soziologie im globalen Kontext: Geteiltes Wissen – unterschiedliche Forschungsperspektiven?,“ Asien 144 (2017): 119–134. Zahlreiche weitere Ausführungen hier folgen Gransow.

10.3 Soziologische Chinaforschung

151

Universitäten im entfernteren Landesinneren wie in den Städten Chengdu, Chongqing und Kunming, die weniger ausländischem Einfluss unterlagen, wurden zu neuen Orten soziologischer Forschung. Nach dem 2. Weltkrieg entstanden auf Taiwan und in Hongkong, also außerhalb des Festlandes, weitere Forschungszentren für chinesische Soziologie. Gransow berichtet, dass die Soziologie auf Taiwan bis in die 70er Jahre durch eine Dominanz von Problemstellungen, Methoden und Theorien der amerikanischen Soziologie gekennzeichnet war und erst später ein Prozess der Indigenisierung der Soziologie einsetzte, an dem sich Soziolog*innen aus Hongkong, den USA und in den späteren 80er Jahren auch aus der VR China beteiligten.16 Auf dem Festland blieben in den Jahren 1956/57 Bestrebungen, das Fach Soziologie wiederzubeleben, wie etwa durch Fèi Xiàotōng 费孝通 (1910– 2005), der für Studien zu ethnologischen Minderheiten bekannt wurde, erfolglos. Als akademische Disziplin blieb das Fach bis Ende der 70er Jahre verboten, was sich mit der Öffnung Chinas änderte. Mit der Gründung der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und der Einrichtung soziologischer Studiengänge wurde die Soziologie dann wieder in der akademischen Welt verankert. Westliche soziologische Bücher und Fachartikel wurden unter strengen Zensurauflagen übersetzt. Der Schwerpunkt soziologischer Forschung in den 80er und 90er Jahren lag auf empirischen Untersuchungen. Gransow unterteilt diese in drei große Forschungsbereiche17: 1. Organisation und Governance: Hier wird die Machtverteilung innerhalb der Regierung erforscht, insbesondere das Verhältnis von Zentralregierung zu Lokalregierungen sowie zu städtischen Gemeinden und Dörfern. 2. Schichtung und Mobilität: Hier werden Strukturen der Ungleichheit (Einkommen, Macht, berufliches Ansehen), sowie Formen der Ungleichheit (individuell, strukturell oder in Form von Netzwerken) untersucht. 3. Familie und Leben(sverhältnisse): Hier werden Ehe, Familie und die Veränderungen in der Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern angesichts des demografischen Wandels untersucht. Soziologische Chinaforschung konzentriert sich aber auch auf Fragen zur Beschäftigung, Jugendkriminalität, Wohnungsnot, zu Familienethik, sozialer Sicherung, städtischer Armut und Binnenmigration. Im Folgenden soll das chinesische Meldesystem, hùkǒu zhìdù 戶口制度, als Gegenstand soziologischer Forschung kurz vorgestellt werden. 16 Bettina Grasnow, „Soziologie,“ in Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hrsg. Brunhild Staiger (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), 695–696. 17 Gransow, „Soziologische Chinastudien“: 125.

152

10 Soziologie und Chinastudien

Mit dem 1958 in seiner jetzigen Form eingeführten hùkǒu-System wurde ein Bevölkerungsregister erstellt, mit dem a) für die Bürger ihr Wohnsitz in einer bestimmten Stadt oder einem bestimmten Dorf sowie b) der Berufsstand, unterteilt in Agrarbevölkerung und Stadtbevölkerung, festgelegt wurden. Die Stadtbewohner konnten in Staats- und städtischen Kollektivbetrieben arbeiten, alle anderen wurden automatisch zur Agrarbevölkerung gezählt. Diese Aufteilung beruhte auf der Überzeugung, dass die Landbewohner*innen Teilhaber am ländlichen Kollektiveigentum waren und sich damit versorgen konnten. Dies aber galt nicht für die städtische Bevölkerung und damit hatte diese Gruppe Anspruch auf Waren, die vom Staat zugeteilt wurden. Ländliche Haushalte hatten in der Folge Anspruch auf ein Stück Land, städtische Haushalte erhielten das Anrecht auf einen Arbeitsplatz, auf subventionierten Wohnraum, auf Zugang zu städtischen Bildungseinrichtungen und auf die Einbindung in ein System der Kranken- und Altersversorgung. Das hùkǒu-System war also ein Instrument zur Regulierung des Zugangs zu öffentlichen Gütern, Berechtigungen, Subventionen und anderen Privilegien, seit den 90er Jahren allerdings in einem Umfeld, das durch den Wettbewerb der Städte und ihr unternehmerisches Handeln geprägt ist. Eine wesentliche Folge dieser Einteilung war die Einschränkung der Mobilität und damit ein wirksames Mittel zur Verhinderung von Migration. Bauern konnten nicht in die Städte abwandern, da sie dort nicht registriert waren und so keine Unterstützung erhielten. Das hùkǒu-System erfüllte im Wesentlichen vier Funktionen18: 1. Einwohnermeldesystem 2. Grundlage für die Zuweisung von Ressourcen und Subventionen an ausgewählte Bevölkerungsgruppen 3. Kontrolle der Binnenmigration und Vermeidung von Slumbildung in chinesischen Großstädten 4. System der Überwachung und sozialen Kontrolle ausgewählter Zielgruppen, die in Verdacht standen, die politische Stabilität zu gefährden. Migrant*innen ohne Einkünfte, ohne Unterkunft und ohne Papiere konnten von der Straße weg in Abschiebehaft genommen werden. Das hùkǒu-System führte im Laufe der Zeit zu einem starken Stadt-Land-Gefälle, das im Grunde bis heute besteht. Ende der 1980er und im Laufe der 90er Jahre verlor es an Bedeutung: Die Folgen des Wirtschaftswachstums haben zu einer

18 Bettina Gransow, „Binnenmigration in China – Chance oder Falle?,“ Kurzdossier Bundeszentrale für politische Bildung, 4. Dezember 2012. Zugegriffen am 25. November 2018. http://www.bpb.de/ge sellschaft/migration/kurzdossiers/151241/binnenmigration-in-china. Hierzu auch: Jason Young, China’s Hukou System: Markets, Migrants and Institutional Change (New York: Palgrave Macmillian, 2013).

10.4 Fazit

153

grundlegenden Veränderung der Mobilität der Bevölkerung geführt. Die bisherige strenge Wohnsitzkontrolle und erzwungene Immobilität passte nicht mehr zu der Tatsache, dass in den prosperierenden Regionen an Chinas Küste ein großer Bedarf an Arbeitskräften bestand. Daher wurde ländlichen Arbeitnehmern gestattet, in den Städten vorübergehend Arbeit aufzunehmen. In den 1990er Jahren zogen also jährlich Millionen Wanderarbeiter*innen auf Suche nach Arbeit in städtische Ballungsräume. Die Zahl der Migrant*innen, die in größeren Städten ohne oder mit befristeter Genehmigung lebten, wurde 1998 auf 70 bis 120 Millionen geschätzt.19 Aber der allmähliche, freiere Umgang ist de facto immer noch begrenzt. Bauern können nur in Ausnahmefällen legal in großen Städten wohnen, permanente Wohnortswechsel sind also nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Während, um Zuwanderungen zu steuern, die Migrant*innen auch in die kleineren Städte gelenkt werden sollen, verfügen diese Städte allerdings nicht über die nötigen Ressourcen, um wirksame Anreize auszuüben. Umgekehrt sind große Städte nicht bereit, die notwendigen Folgekosten für eine große Zahl an Zuwanderern zu übernehmen, weil sie hierdurch ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt sehen. Diese Städte zeigen wenig Neigung, ihre Besitzstände zu teilen und stehen inzwischen aufgrund ihrer zunehmenden Verschuldung auch finanziell immer mehr unter Druck. Soziologische Chinaforschung kann in Bezug auf das Thema hùkǒu folglich ganz unterschiedliche Forschungsfragen stellen und in diesem Zusammenhang Aspekte erforschen wie Binnenmigration, soziale Ungleichheit, soziale Unzufriedenheit, Wohnraum, Bildungschancen, Familienformen oder Rollenbilder und Arbeitsteilung.

10.4 Fazit Soziologische Chinaforschung untersucht und erklärt Voraussetzungen, Abläufe und Auswirkungen sozialen Handelns von Menschen in China oder von Chines*innen in anderen Regionen der Welt. Zahlreiche soziologische Theorien kommen hierbei zum Einsatz, da es eine Vielzahl gesellschaftlicher Phänomene gibt, die ganz unterschiedlich erklärt werden können. Chinas strukturelle und soziale Ungleichheiten, rapide wirtschaftliche Veränderungen, mit im Vergleich zum Westen historisch einzigartigen kulturellen Hintergründen und neuartigen

19 Christiansen Flemming, „Bauern,“ in Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hrsg. Brunhild Staiger (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), 71.

154

10 Soziologie und Chinastudien

Beschleunigungen ökonomischer Wachstumsraten stellen alle traditionellen soziologischen Theorien vor neue Herausforderungen. Diese können nur im Dialog chinesischer Soziologie mit frag-würdigen universellen Theorien sozialer Entwicklungen gemeistert werden. Dadurch sind Begriffe, Methoden und Theorien globalisierender soziologischer Theorien in generationenübergreifenden Figurationen zu erarbeiten.

10.5 Begriffe Binnenmigration – Migrationsbewegung innerhalb einer festgelegten Region oder eines Staates Chinesische Soziologie – die Forderungen chinesischer Soziologen, Soziologie zu sinisieren hùkǒu – Meldesystem in China, Wohnsitzkontrolle Soziologie in China – die institutionell verankerte Soziologie in China Soziologie Chinas – westliche Chinaforschung, die soziologische Methoden und Modelle auf China anwendet

10.6 Vorschläge zur Vertiefung Alpermann, Björn, Birgit Herrmann und Eva Wieland (Hrsg.). Aspekte des sozialen Wandels in China: Familie, Bildung, Arbeit, Identität. Wiesbaden: Springer VS, 2018. Jacka, Tamara. Contemporary China Society and Social Change. Cambridge: Cambridge University Press, 2013. King, Ambrose Y. C. Chinese Society and Politics. Hongkong: The Chinese University Press, 2018. Kramer, Stefan. „China’s Social Valorization System, guoxue, and the Individual Selfcultivation Narrative.“ In Collective Myths and Decivilizing Processes, herausgegeben von Stefan Kramer und Peter Ludes. Münster, Berlin, Wien, Zürich und London: Lit, 2019. Xin, Ru, Lu Xueyi, Li Peilin et al. Society of China: Analysis and Forecast. Beijing: Social Sciences Academic Press, 2012.

10.7 Transferaufgaben 10.7.1 Heiratsmärkte in China Was sind Heiratsmärkte in China? Überlegen Sie, warum es diese überhaupt gibt und auf welche sozialen Veränderungen sie verweisen.

10.7 Transferaufgaben

155

10.7.2 Arbeitslosigkeit in China Wie geht der chinesische Staat mit Arbeitslosigkeit um? Welche Möglichkeiten für soziale und finanzielle Absicherungen haben Arbeitnehmer*innen in China? Gibt es hier ein Stadt-Land-Gefälle?

10.7.3 Soziale Bevölkerungskontrolle? Problematisieren Sie das sogenannte soziale Punktesystem (shèhuì xìnyòng tǐxì 社會信用體系) in der VR China. Inwiefern beeinflusst es das Leben der Menschen? Hat es Einfluss auf bisherige soziale Handlungsweisen? Für wen ist es wann und warum relevant?

11 Kommunikation und Medien in China Thorben Pelzer Zusammenfassung: In diesem Kapitel werden zunächst theoretische Grundlagen der Kommunikation durch ausgewählte Methoden und Modelle des Fachs vorgestellt und mit Beispielen aus dem chinesischen Kontext erörtert. Daraufhin wird die Kommunikation in die Praxis überführt, indem ausgewählte Begriffe der Medienstudien erklärt und ebenfalls mit chinesischen Beispielen begleitet werden.

11.1 Die Kraft der Worte und Bilder Der chinesische Künstler und Dissident Ài Wèiwèi 艾未未 (geb. 1957) wird mit folgender Aussage zitiert: „Der Vorsitzende Máo war der erste Twitter-Nutzer der Welt. All seine Zitate bewegen sich innerhalb von 140 Zeichen.“1 Tatsächlich gelang es Máo Zédōng 毛澤東 (1893–1976), während der Hochphase der Kulturrevolution, der sogenannten Rotgardisten-Phase (1966–1969), Millionen junger Menschen mit prägnanten Slogans und seiner in Buchform herausgegebenen Worte des Vorsitzenden (1965) für Agitationen und Straßenkämpfe zu mobilisieren, ohne sie je ernsthaft zu bewaffnen. Die Macht der Medien wurde natürlich schon lange vor Máo entdeckt. Das Werkzeug der Propaganda wurde spätestens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unter faschistischen und leninistischen Regimes perfektioniert, aber schon Pharao Ramses II. (ca. 1303–1213 v. u. Z.) soll seiner Bevölkerung den Ausgang der Schlacht von Kadesh (1274 v. u. Z.) verfälscht überliefert haben, um seinen Rückzug zu verheimlichen.2 Durch die allumfassende Durchdringung der Massenmedien und der Zunahme gezielter Desinformation (sogenannter Fake-News) sind wir uns heute bewusst, welchen Stellenwert die Art und Weise der Kommunikation und ihre mediatisierten Formen neben den eigentlichen Geschehnissen selbst besitzt. Grund genug, uns in diesem Kapitel mit dem Komplex aus Kommunikation und Medien genauer zu beschäftigen.

1 [Übersetzung durch den Autor.] Global Times. „The Bold and the Beautiful.,“ 26.11.2009. Zugegriffen am 29. Juli 2018. http://www.globaltimes.cn/special/2009-11/488006_2.html. 2 „Propaganda Served Egypt Four Thousand Years Ago,“ The Science News-Letter 37, Nr. 2 (1940): 30. https://doi.org/10.1515/9783110665024-012

158

11 Kommunikation und Medien in China

11.2 Kommunikationstheorien Um uns den Kommunikationstheorien zu nähern, müssen wir zunächst auf die Grundlagen der Semiotik, einer Teildisziplin der Sprachwissenschaften, zurückgreifen. Aus der Semiotik stammt das Konzept des Signifikanten (des Zeichens) und des Signifikats (der Bedeutung). Der Signifikant ist das Zeichen, mit dem ich einen von mir gemeinten Begriff ausdrücken kann. Beispielsweise kann ich das Wort „Haus“ aussprechen oder ein Haus aufmalen. Das Signifikat, also die abstrakte Idee „Haus“, kann ich ohne Signifikanten weder verbal noch schriftlich fixieren. Ich kann, beispielsweise wenn mein Gegenüber meine Sprache nicht versteht, mit meinem Finger auf ein bestimmtes Haus zeigen, aber wenn ich nicht ein konkretes Haus, sondern die Idee „Haus“ allgemein meine, bin ich auf ein vorher festgelegtes Zeichen angewiesen. Kommunikation funktioniert also nur, wenn wir das Signifikat in ein signifikantes Zeichen übertragen. Im Folgenden werden drei verschiedene Formen von Signifikanten vorgestellt.

11.2.1 Ikone, Indizes und Symbole Der US-amerikanische Logiker Charles Sanders Peirce (1839–1914) teilte Zeichen in drei Kategorien3: 1. Ikone – Zeichen, die dem physikalischen Signifikat visuell ähneln, wie beispielsweise jedes Foto, die meisten Zeichnungen und auch minimalistischere Abbildungen, solange sie sich klar am Originalgegenstand orientieren und diesen deutlich erkennen lassen; 2. Indizes – Zeichen, die durch eine gedankliche Verknüpfung das Signifikat implizieren, ohne dieses direkt zu repräsentieren, wie beispielsweise eine Abbildung von Rauch, um eigentlich „Feuer“ zu meinen, oder der in Öl liegende Fisch, der auf dem Chlorreiniger „Umweltgefährlichkeit“ repräsentiert; 3. Symbole – Zeichen ohne Verwandtschaft zwischen Signifikant und Signifikat; hier muss die Bedeutung kulturell erlernt werden; wie beispielsweise das Venussymbol ♀ für das weibliche Geschlecht oder die rote Flagge mit fünf goldenen Sternen für die Volksrepublik China. Unser Alltagsleben ist gefüllt von dieser dritten Kategorie, denn nur sie erlaubt uns, abstrakte Gedanken zu verschriftlichen. Seien es Handgesten oder sämtliche Worte, die über das Lautmalerische hinausgehen: Die zwischenmenschliche Kommunikation fußt auf festgelegten Symbolen. Für Chinawissenschaftler*innen ist diese Kategorisierung nicht nur aus allgemeiner kommunikationswissenschaftlicher Sicht interessant, sondern auch,

3 Charles S. Peirce, „What is a Sign?,“ in Collected Papers: Elements of Logic, hrsg. Charles Hartshorne und Paul Weiss (Cambridge: Harvard University Press, 1932), 281–302.

11.2 Kommunikationstheorien

159

weil sie deutlich macht, dass chinesische Schriftzeichen keine „Hieroglyphenschrift“ oder „Bilderschrift“ darstellen. Die Kommunikation durch chinesische Schrift erfolgt fast ausschließlich über Symbole und nur zu einem sehr geringen Anteil über Ikone und Indizes. Selbst die wenigen echten Piktogramme der chinesischen Schrift, wie beispielsweise „Sonne“ 日 oder „Berg“ 山 sind wohl zu abstrahiert, um sie ohne Vorwissen als Ikone wahrzunehmen. Ohne Sozialisierung ist es auch nicht möglich, zu wissen, welches der beiden Zeichen三 und 川 für „drei“ und welches für „Fluss“ steht. Ohnehin haben 97 Prozent der chinesischen Zeichen nie direkt ein Bild oder eine Idee gemeint, sondern sind zusammengesetzt aus Informationen zum Wortfeld und zur groben Aussprache. So ist beispielsweise das Zeichen für „Mutter“ 媽 dem Wortfeld „Frau“ 女 (linke Seite des Schriftzeichens) zugehörig und wird ähnlich wie das Zeichen „Pferd“ 馬 (rechte Seite des Schriftzeichens) ausgesprochen; das Zeichen für „bitten“ 請 gehört zum Wortfeld „sprechen“ 言 (linke Seite des Schriftzeichens) und wird ähnlich dem Wort „blau“ 青 (rechte Seite des Schriftzeichens) ausgesprochen. Bei der Vorstellung der durch einen angeblichen „Bildercharakter“ erwirkten universellen Verständlichkeit der chinesischen Schrift handelt es sich um einen Mythos. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns Wörter anschauen, die aus mehreren Zeichen bestehen: Dass die Zeichenfolge „Sonne-Essen“ 日食 „Sonnenfinsternis“ bedeutet oder die Zeichenfolge „Stern-Spanne-Sonne“ 星期日 für „Sonntag“ steht, geht aus dem Verständnis der einzelnen Zeichen alleine nicht hervor. Auch die Tatsache, dass manche „chinesische“ Zeichen nur in ausgewiesenen Sprachen existieren, zeigt, dass es sich nicht um universell verständliche Zeichen handeln kann. Das Zeichen 冇 („hat nicht“) gibt es zum Beispiel nur im Kantonesischen (móuh), („dünn“) dagegen nur im Sichuanesischen (nang1). Das Zeichen das Zeichen 畓 („Reisfeld“) gibt es nur im Koreanischen (dap) und das Zeichen („menschliche Person“) nur im Vietnamesischen (người, ngài). Auch die Grammatik eines Satzes ist von der Sprache bestimmt und nicht von der Anwesenheit chinesischer ta̱ʔ21 shanghainesisch Zeichen (z. B. 啲 dī/dīt kantonesisch für Genitiv Plural, für Lokativ). Die chinesische Schrift besteht also aus Symbolen, denn sie ist von der erlernten Interpretation des Lesenden abhängig, ganz ähnlich wie dies bei Wörtern der Fall ist, die in Alphabetschrift geschrieben werden.

11.2.2 Senden und Empfangen Im folgenden Abschnitt wollen wir uns genauer ansehen, wie Symbole übertragen und verstanden werden. Das Kommunikationsmodell der beiden Mathematiker Claude Shannon (1916–2001) und Warren Weaver (1894–1978) beschreibt

160

11 Kommunikation und Medien in China

die grundlegenden Komponenten der Kommunikation.4 Aufgrund seiner vergleichsweise geringen Komplexität wurde es nach seiner ersten Formulierung 1948 von diversen Kommunikationswissenschaftlern erweitert, modifiziert oder durch gänzlich neue Modelle ersetzt. Wegen seiner Simplizität eignet es sich aber auch heute noch als Einstiegsmodell, um den Prozess der Kommunikation zu abstrahieren.

Empfangende Person

Sendende Person

Sendegerät

Kanal

Empfangsgerät

Störung

Das Modell impliziert als Beginn der Kommunikation die Absicht einer sendenden Person, eine Botschaft an eine empfangende Person zu senden. Da das Modell vor dem Hintergrund nonverbaler, maschinenunterstützter Kommunikation entstanden ist, geht das Modell davon aus, dass diese Botschaft zunächst durch ein Sendegerät kodiert wird. Im Falle einer Nachricht über einen Instant-Messenger wäre das zunächst die Verschriftlichung der Botschaft. Sie weicht von den ursprünglichen Gedanken oder einer mündlichen Überlieferung zwingend ab: Sie ist zum Beispiel ökonomischer formuliert und enthält keine Information zur Intonation.5 Auf die Verschriftlichung folgt eine zweite, technologische Kodierung, das heißt die Umwandlung in binäre Zeichenfolgen, welche über einen Kanal oder eine Kette an Kanälen – Drahtlosnetzwerke, Glasfaserkabel, Satelliten, et cetera – an die empfangende Person geschickt werden. Deren Empfangsgerät dekodiert die

4 Claude Shannon und Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication (Urbana, Chicago: University of Illinois Press, 1963). 5 Die begrenzte Möglichkeit, eine sarkastische Aussage zu verschriftlichen, ist heute als „Poes Gesetz“ bekannt; die Einführung eines „Ironiezeichens“ wurde bereits im 19. Jahrhundert gefordert.

11.2 Kommunikationstheorien

161

Nachricht zunächst auf der technologischen Ebene, bevor die empfangende Person die gesendete Nachricht interpretieren kann. Beim individuellen Dekodieren kann es zu Missverständnissen kommen, etwa wenn die Nachricht unpräzise formuliert wurde oder die Symbole des Senders in der Kultur der empfangenden Person anders verstanden werden oder gänzlich unbekannt sind. So wird in der thailändischen Internetkommunikation die Emotion „Lachen“ als Anreihung der Ziffer „5“ (ausgesprochen hâa) dargestellt, in Südkorea dagegen als Anreihung des Buchstaben „k“ (lautmalerisch für das Geräusch des Kicherns) und in vielen westlichen Kulturen wiederum durch das Akronym „lol“ (laughing out loud). Der Rezeptionstheoretiker Stuart Hall (1932–2014) wies darauf hin, dass sich gesendete Nachrichten im Prozess des Dekodierens unterschiedlich entfalten können, je nachdem welchen kulturellen Hintergrund, welche Aufgeschlossenheit und welche Lebenserfahrungen die empfangende Person mit sich bringt.6 Obwohl die sendende Person erheblichen Einfluss auf die Nachricht hat, dessen Urheber*in sie ist, ist also auch die Rezeption ein wesentlicher Teil der Kommunikation. Bei modernen Theaterstücken mag es die Intention der Autor*innen sein, dass die Zuschauer*innen zu einer eigenen, individuellen Interpretation gelangen. Bei anderen Nachrichten, etwa bei Propaganda oder bei dringenden Warnhinweisen, liegt es dagegen im Interesse der sendenden Person, der empfangenden Person möglichst wenig Freiraum für die Dekodierung zu überlassen.

11.2.3 Störungen Shannon und Weaver diskutierten in ihrem Modell auch die Möglichkeit einer Störung (noise) des Kanals, also eine unvollständige oder inkorrekte Übertragung der Nachricht nach erfolgter Kodierung und vor der anschließenden Dekodierung. Während Shannon und Weaver vorrangig von technischen Problemen ausgingen (deswegen noise im Sinne des Rauschens analoger Radios und Telefone), werden Kanalstörungen im digitalen Zeitalter größtenteils durch menschlichen Einfluss verursacht. Das naheliegende Beispiel für die Volksrepublik China ist die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit durch Zensurmaßnahmen. Hier sind insbesondere Maßnahmen zur Zensur des Internets zu nennen, die gebündelt als „Great Firewall of China“ Bekanntheit erlangt haben. Hierbei werden durch eine Mischung aus IP-Sperren, DNS-, URL- und

6 Stuart Hall, „Encoding/Decoding,“ in Culture, Media, Language, hrsg. Stuart Hall et al. (New York, London: Routledge, [1980] 2005), 117–27.

162

11 Kommunikation und Medien in China

Paket-Filtern, gezielten Verbindungsabbrüchen und Lauschangriffen regierungskritische Inhalte erfolgreich abgefangen. Sollten politisch unerwünschte Nachrichten den Empfangskanal dennoch passieren, werden diese durch das massenhafte Veröffentlichen regierungskonformer Kommentare trivialisiert. Für diese sogenannte „Meinungsaggregation“ werden staatliche Internetkommentator*innen (wǎngluò pínglùn yuán 網絡評論員) beschäftigt, die die Meinung in den sozialen Netzwerken beeinflussen sollen. Die Administration für Radio und Fernsehen (NRTA, ehemals SARFT), seit 2018 direkt dem Staatsrat unterstellt, ist ebenfalls für die Kontrolle der Massenmedien zuständig und kann regierungskritische oder als moralisch deviant empfundene Publikationen teilzensieren oder gänzlich verbieten.

11.3 Mediale Wirkkraft Nachdem wir uns einen theoretischen Überblick über den Akt der Kommunikation verschafft haben, soll es im Folgenden darum gehen, diese Erkenntnisse auf die Wirkweise der modernen Massenmedien, insbesondere der popkulturellen Erzeugnisse, anzuwenden. Dazu muss unser Modell schrittweise erweitert werden: Wer produziert eine Information, bevor sie von der sendenden Person verschickt wird? Welchen Einfluss hat die empfangende Person – das Publikum – auf den Inhalt der empfangenden Nachricht? Welche breitere Wirkkraft entfaltet die Nachricht nach dem Empfang?

11.3.1 Produktion Wir nehmen kulturelle Produktionen im Alltag oft als nationale Produktionen wahr. Der Spielfilm heute Abend ist ein „französischer film noir“, die Tickets für nächste Woche sind für eine „chinesische Oper“, und das Videospiel, das wir gestern gespielt haben, war „typisch japanisch“. Die Zuordnungen fußen auf ganz unterschiedlichen Kriterien: Es kann sich beispielsweise um den Standort des Produktionsbüros handeln, oder um die Einreihung in eine kulturelle Tradition, die mit einem Land verbunden wird. Es kommt auch vor, dass einzelne „Genies“ als hauptsächliche Urheber*innen der Produktion angesehen werden und als sogenannter auteur (französisch für „Autor*in“) die gesellschaftliche Wahrnehmung der Nationalität eines Kulturprodukts mitbeeinflussen. Wir müssen uns dabei bewusstwerden, dass diese nationalen Zuordnungen von der Gesellschaft konstruiert werden: Insbesondere aufwendigere Produktionen finden längst nicht mehr innerhalb der Grenzen einer einzelnen Nation statt,

11.3 Mediale Wirkkraft

163

sondern sind transnational, das heißt die Produzent*innen arbeiten an verschiedenen Standorten und bewegen ihre Güter über Landesgrenzen hinweg. So gehört es zur Logik der Globalisierung, dass arbeitsintensive Produktionsteile an vergütungsgünstigere Produktionsstätten abgegeben werden (sogenanntes Outsourcing). So entstehen weite Teile der als „japanisch“ wahrgenommenen Animationsfilme in Südkorea und der VR China, bevor sie von einem in Japan ansässigen Studio fertiggestellt werden. Westeuropäische Filmstudios drehen Szenen, die intensiven Gebrauch von Statist*innen machen, im günstigeren Osteuropa. Auch was den kreativen Prozess anbetrifft, lässt sich die Idee einzelner nationaler auteurs eigentlich nicht mehr rechtfertigen: Ist der Spielfilm Brokeback Mountain (2005) gemäß der Nationalität des Regisseurs Ang Lee (Lǐ Ān 李安, geb. 1954) taiwanisch, oder angesichts der übrigen kreativ beteiligten Personen US-amerikanisch? Ist das Videospiel PlayerUnknown’s Battlegrounds (2017) gemäß der Nationalität des Chefdesigners Brendan Greene (geb. 1976) irisch, oder gemäß der Nationalität der übrigen kreativ beteiligten Personen südkoreanisch? Gerade weil die Verknüpfung kultureller Güter mit Nationen im globalen Zeitalter konstruiert und oftmals willkürlich ist, eignen sich diese Assoziationen für akademische Betrachtungen. Wir können etwa untersuchen, wie sich die Wahrnehmung dessen, was „chinesische“ Musik ausmacht, mit den Jahrzehnten gewandelt hat, oder versuchen, die Idee eines „chinesischen“ Kinos historisch nachzuvollziehen. Dabei können wir versuchen nachzuweisen, durch welche externen und internen Produzent*innen die kulturellen Identitäten geprägt wurden.

11.3.2 Publikum Wie im obigen Kapitel über das Kommunikationsmodell Shannons und Weavers besprochen, erfolgt die Interpretation einer Nachricht erst nach Ankunft bei der empfangenden Person. Es lässt sich deswegen argumentieren, dass ein kulturelles Produkt nicht durch die Produzierenden fertiggestellt wird, sondern erst nach der Vermarktung, Verbreitung und der anschließenden Rezeption durch die Konsumierenden eine endgültige Bedeutung zugesprochen bekommt. Im popkulturellen Kontext ist der Komplex „Anime/Comics/Games“ (abgekürzt ACG) ein besonders offensichtliches Beispiel. Während sich die drei Medien in ihrer Mach- und Lesart wesentlich unterscheiden, neigen sie gemeinsam dazu, dass sich ein erheblicher Anteil der Konsument*innen nicht mit dem Betrachten, Lesen und Spielen der eigentlichen Produkte zufriedenstellt, sondern den Konsum in breitere Aktivitäten überführt. Als Fandom werden soziale

164

11 Kommunikation und Medien in China

Gruppen bezeichnet, die ihre Zugehörigkeit primär nicht über eine weltanschauliche Überzeugung, gesellschaftliche Schicht, Alter, Geschlecht oder Beruf definieren, sondern durch das Ausleben der Begeisterung für ein popkulturelles Gut. Durch ihr Feedback gestalten sie das Medium mit: Sie übersetzen Untertitel für Animationsfilme, veranstalten Tagungen (sogenannte conventions), tanzen die Choreografien ihrer Lieblings-Musikgruppen in der Öffentlichkeit nach und leisten unbezahlte Werbung. Obwohl sich Fandoms durch ihren popkulturellen Konsum definieren, können wir auch weitere Gemeinsamkeiten beobachten. So könnte uns eine Verknüpfung aus Medien- und Geschlechtertheorien helfen, zu ergründen, wieso Fans mancher Genres von Videospielen tendenziell männlich sind und wie die Urheber*innen dieser Spiele entweder in einer Feedbackschleife die Erwartungshaltungen des vorhandenen Publikums reproduzieren, oder aber mit dem Ziel der Markterweiterung versuchen, ihre Inhalte für Frauen ansprechender zu gestalten. Ein anderes Analysebeispiel wären die ursprünglich aus Japan stammenden, aber auch in chinesischsprachigen Ländern produzierten und breit rezipierten Boys-Love-Manga (BL). Es handelt sich hier um ein Genre gezeichneter Geschichten, die als wesentliches Merkmal gleichgeschlechtliches Verlangen zwischen männlichen Protagonisten zum Inhalt haben, deren Fandom aber zum Großteil aus Frauen besteht. Kulturwissenschaftler*innen haben argumentiert, dass es sich bei der Objektifizierung des männlichen Körpers um eine Umkehrung der in den Massenmedien verbreiteten Sexualisierung des weiblichen Körpers durch das subkulturelle, weibliche Publikum handeln könnte.7 Gemäß den Wünschen des weiblichen Publikums setzen die Geschichten zudem großenteils nicht auf eine realitätsgetreue Darstellung gleichgeschlechtlicher Verbindungen, sondern auf eine idealisierte, naive Romantik. Das weibliche Publikum gestaltet das Medium also, gemäß den Gesetzen des freien Markts, durch seinen Konsum aktiv mit. Ein letztes Beispiel ist das in der Volksrepublik China in den 2010er Jahren popularisierte Schönheitsideal des „jungen Frischfleischs“ (xiǎoxiānròu 小鮮肉), einer umgangssprachlichen Bezeichnung für prominente männliche Sänger und Schauspieler im jungen Erwachsenenalter. Dieser populär gewordene Idealtyp des gepflegten, androgynen Jünglings, der seine weiblichen Fans nicht zuletzt

7 z. B. Fran Martin, „Girls Who Love Boys’ Love: Japanese Homoerotic Manga as Transnational Taiwan Culture,“ Inter-Asia Cultural Studies, Nr. 3 (2012): 365–383. doi:10.1080/ 14649373.2012.689707.

11.3 Mediale Wirkkraft

165

durch sein zurückhaltendes, bedachtes Auftreten überzeugen soll, zeigt, dass das konsumierende, immer öfter weibliche Publikum der modernen Massenmedien die Macht besitzt, gesellschaftliche Geschlechterrollen neu zu definieren.

11.3.3 Soft Power Als der Politologe Joseph Nye (geb. 1937) 1990 verschiedene Formen politischer Macht analysierte, führte er die Unterscheidung zwischen Hard Power („harter Macht“) und Soft Power („weicher Macht“) in den akademischen Diskurs ein.8 Als Hard Power versteht Nye im Groben die Institutionen der traditionellen politischen Landschaft: Militär, Diplomatie, Wirtschaft. Unter Soft Power versteht er dagegen die durch die Massenmedien neu gewonnenen Methoden der politischen Machtausübung, das heißt Kultur, Propaganda, Ideologie. Ein historisches Beispiel von Soft Power ist der 1955 durch den US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower (1890–1969) begonnene „Wettlauf ins All“: Die Erhabenheit der liberalen Marktwirtschaft der USA oder die der sozialistischen Planwirtschaft der Sowjetunion sollte nicht in einem drohenden Nuklearkrieg unter Beweis gestellt werden, sondern durch technische Errungenschaften – der erste künstliche Satellit, der erste Mensch im All, die erste Landung auf dem Mond. Nebst technologischen Innovationen begründete sich die ideologische Strahlkraft der USA im Ausland vor allem in der Popkultur: Spielfilme lieferten ein idealistisches Bild des „Amerikanischen Traums“, Marken wie Coca-Cola und McDonalds wurden exportiert und ab den 1980ern prägte der Fernsehsender MTV Musikgeschmack und Mode einer Generation. Auch die Regierung der Volksrepublik China versucht, ihre Außenwahrnehmung durch Soft Power zu verbessern. Als „Panda-Diplomatie“ wird die Strategie bezeichnet, einheimische Pandabären an ausländische Zoos zu verschenken oder zu verleihen. Angela Merkel (geb. 1954) nahm zum Beispiel 2017 zwei Pandabären für den Berliner Zoo in Empfang und ließ sich zusammen mit den Tieren und Generalsekretär Xí Jìnpíng 習近平 (geb. 1953) fotografieren.9 Die bei derartigen Veranstaltungen entstehenden Bilder erzeugen Sympathien bei einem internationalen Publikum und bessern so das Image der Volksrepublik auf. Die Panda-Diplomatie ist somit ein aktives Beispiel für Framing („Einrahmen“): Die öffentlichkeitswirksame Einbettung der Realität in einen

8 Joseph S. Nye, Bound to Lead: The Changing Nature of American Power (New York: Basic Books, 1990). 9 Deutsche Welle. „Panda Diplomacy: Chancellor Angela Merkel Meets Meng Meng and Jiao Qing,“ 05. Juli 2017. Zugegriffen am 31. Juli 2018. https://p.dw.com/p/2fyDV.

166

11 Kommunikation und Medien in China

betonenden Deutungskontext. Der Begriff Framing enthält dabei keine Wertung über Korrektheit oder Angemessenheit der hergestellten Assoziationen. Neben der oben genannten Zusammenbringung von niedlichen Pandabären und festlandchinesischer Politik ist ein weiteres Beispiel für Framing in den Medien etwa die bildliche Untermalung von Berichten über die Immunkrankheit HIV/ AIDS mit der schwarzen Bevölkerung in Afrika. Auch die einen kausalen Zusammenhang implizierende Verknüpfung von Islam und Terrorismus oder die Bezeichnung industriestaatlicher Unternehmungen in Entwicklungsländern als „Entwicklungshilfe“ sind Beispiele für Framing. Für aufstrebende Nachbarstaaten der Volksrepublik kann Soft Power ein Mittel darstellen, sich gegen eine erheblich mächtigere wirtschaftliche Kraft zu behaupten. Insbesondere den sogenannten Tigerstaaten, die in den 1980ern für ihr rasantes Wirtschaftswachstum bekannt wurden und zu denen neben Südkorea mit Singapur, der Republik China auf Taiwan und der Sonderverwaltungszone Hongkong drei chinesischsprachige Gebiete zählen, gelingt es durch ihre Popkultur weiterhin medialen Einfluss auf die VR China auszuüben. Die politischen Implikationen müssen dabei differenziert betrachtet werden: So boykottierten festlandchinesische Konsument*innen 2015 die taiwanische Sängerin Chou Tzuyu (Zhōu Zǐyú 周子瑜, geb. 1999), nachdem diese mit einer Taiwanflagge fotografiert wurde – denn die Taiwanflagge wird als Symbol des Separatismus verstanden. Ihre südkoreanische Produktionsfirma beugte sich dem Boykott und ließ die Sängerin eine öffentliche Entschuldigung verlesen. Diese Kapitulation wiederum führte einem Forschungsinstitut zufolge unmittelbar zu einem Zuwachs von 1,34 Millionen Stimmen für die taiwanische Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen (Cài Yīngwén 蔡英文, geb. 1956), welche in jenem Jahr distanziertere Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik versprach.10 Eine interessante Vermengung der Sektoren Hard Power und Soft Power bildete das von 2016 bis 2017 andauernde diplomatische Zerwürfnis zwischen der Volksrepublik China und Südkorea. Die Regierungen der USA und Südkoreas planten die Installation eines Raketenabwehrsystems (THAAD) auf dem Gelände eines Golfklubs in der Nähe der südkoreanischen Stadt Daegu. Der Außenminister der VR China protestierte gegen dieses Vorhaben.11 Offensichtlich

10 Minnie Chan und Samuel Chan, „Teen Pop Star Chou Tzu-yu’s Apology for Waving Taiwan Flag Swayed Young Voters for DPP,“ South China Morning Post, 17. Januar 2016. Zugegriffen am 31. Juli 2018. https://www.scmp.com/news/china/policies-politics/article/1902195/teenpop-star-chou-tzu-yus-apology-waving-taiwan-flag. 11 Reuters. „China Cites Concerns on U.S. Missile Defense System in South Korea.,“ 26.02.2016. Zugegriffen am 31. Juli 2018. https://www.reuters.com/article/us-usa-china-northkorea/china-cites-concerns-on-u-s-missile-defense-system-in-south-korea-idUSKCN0VY2C9.

11.5 Begriffe

167

als Antwort auf diese Auseinandersetzung, die dem Sektor Hard Power zuzuordnen ist, begann die VR China im September 2016 mit der Durchsetzung sogenannter „Südkorea-Begrenzungs-Richtlinien“ (Xiàn Hán lìng 限韓令). Das Verbot von Auftritten südkoreanischer Künstler*innen vor größerem festlandchinesischem Publikum und der Beschränkung von Investments südkoreanischer Unterhaltungsfirmen hatte Folgen für die südkoreanische Wirtschaft; die Aktien der Branchenriesen YG Entertainment und SM Entertainment erreichten ein Jahrestief mit Verlusten von jeweils etwa 50 Prozent.12

11.4 Fazit In diesem Kapitel haben wir einen Bogen von der theoretischen Wirkweise von Kommunikation hin zu den praktischen Konsequenzen gesponnen, die Kommunikation in Form moderner Massenmedien entfaltet. In einem Jahrhundert, in dem konventionelle Kriege selten werden, bildet die Soft Power ein wichtiges Mittel zwischenstaatlicher Interaktion. Daher sind Medien wie Popmusik, Filme und Videospiele nicht nur für sich genommen als kreative Werke analysierbar, sondern im Zusammenhang mit Urheberschaft und Publikum auch als Gegenstand größerer Gesamtanalysen wissenschaftlich relevant. Chinawissenschaftler*innen sollten keine Angst davor haben, Massenmedien außerhalb der „hohen Kunst“ als Forschungsgegenstand zu behandeln, denn sie können uns einen ganz eigenen Blickwinkel für die Analyse einer Region verschaffen.

11.5 Begriffe Fandom – Subkultur, die ihr Zusammengehörigkeitsgefühl durch ein gemeinsames Freizeitinteresse begründet Framing – Öffentlichkeitswirksame Einbettung der Realität in einen betonenden Deutungskontext Hard Power – Politische Machtausübung durch wirtschaftliche Anreize oder militärische Bedrohung Ikon – Zeichen, das dem physikalischen Signifikat visuell ähnelt Index – (Plural: Indizes) Zeichen, das durch eine Korrelation das Signifikat

12 Jin-hai Park, „Korea-China Dispute Chips Away at K-pop Stars’ Wealth,“ The Korea Times, 06. Februar 2017. Zugegriffen am 31. Juli 2018. http://www.koreatimes.co.kr/www/art/2017/ 02/682_223367.html.

168

11 Kommunikation und Medien in China

impliziert, ohne dieses direkt zu repräsentieren Soft Power – Politische Machtausübung durch kulturelle oder ideologische Attraktivität Symbol – Zeichen ohne Verwandtschaft zwischen Signifikant und Signifikat; Bedeutung muss kulturell erlernt werden Tigerstaaten – Sammelbegriff für Hongkong, die Republik China auf Taiwan, Singapur und Südkorea, die in den 1980ern für ihr rasantes Wirtschaftswachstum bekannt wurden Transnationalität – Überschreitung nationaler Grenzen durch Prozesse in der Bevölkerung

11.6 Vorschläge zur Vertiefung Beck, Klaus. Kommunikationswissenschaft. Konstanz, München: UVK, [2007] 2017. Chua, Beng Huat. Structure, Audience, and Soft Power in East Asian Pop Culture. Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012. Durham, Meenakshi G. und Douglas M. Kellner (Hrsg.) Media and Cultural Studies: KeyWorks, Revised Edition. Malden, Oxford, Carlton: Blackwell, [2001] 2006. Rawnsley, Gary D. und Ming-yeh T. Rawnsley (Hrsg.). Routledge Handbook of Chinese Media. New York: Routledge, 2015. Voci, Paola und Luo Hui (Hrsg.). Screening China’s Soft Power. Oxon, New York: Routledge, 2018.

11.7 Transferaufgaben 11.7.1 Mehr Ikone, Indizes und Symbole Ordnen Sie die folgenden Zeichen einer der drei Kategorien Ikon, Index oder Symbol zu. Fahrrad-Abbildung auf Verkehrsschildern Totenkopf Drucker-Zeichen in Computerprogrammen Buchstabe „a“ Ziffer „2“ Straßenbahn-Zeichen (weißes „S“ auf grünem Kreis) Rote Ampel Bundesadler „Speichern“-Zeichen (Diskette) in Computerprogrammen Davidstern Roter Kreis mit diagonalem roten Strich („Verbot“)

11.7 Transferaufgaben

169

Gelbes Dreieck mit „Blitz“-Zeichen (Starkstromwarnung) Swastika in weißem Kreis auf rotem Viereck (Zeichen des Nationalsozialismus) Auf schwarzem Dreieck liegende Auto-Abbildung in rotem Dreieck („Steigung“) Stab mit zwei Schlangen und zwei Flügeln (Hermesstab)

11.7.2 Den Ereignissen einen Rahmen geben Finden Sie weitere Beispiele für „Framing“ in modernen Massenmedien.

11.7.3 Sinophone Soft Power Sind Sie durch Ihren Medienkonsum bereits in Kontakt mit festlandchinesischer, taiwanischer, singapurischer oder Hongkonger Popkultur getreten? Welche Personen und Produkte kennen Sie? Wie schätzen Sie die Durchdringung in der europäischen Öffentlichkeit ein?

12 Wirtschaften in China Thorben Pelzer Zusammenfassung: Dieses Kapitel führt in die Grundlagen der Wirtschaft und ihrer Analyse ein. Wichtige Wirtschaftssysteme und Wirtschaftsformen werden erklärt und innerhalb der wirtschaftshistorischen Chinaforschung verortet. Abschließend werden einige bekannte ökonomische Entwicklungen Chinas erörtert und die wirtschaftliche Stellung der chinesischen Welt heute diskutiert.

12.1 Warum Wirtschaften? Der Begriff „Wirtschaft“ mutet abstrakt und konkret zugleich an. Schließlich können wir uns alle die Aufgaben und Problemstellungen vorstellen, mit denen die Betreiber*innen einer wortwörtlichen Wirtschaft, also einer Gaststätte, täglich konfrontiert sind. Doch ist die „Wirtschaft“ gleichzeitig so komplex, dass sie eine Wissenschaft mit vielen Unterdisziplinen bildet. Das Fachwort für die Wirtschaftswissenschaften, „Ökonomie“, meinte ursprünglich die Verwaltung oder Verteilung (altgriechisch nómos) des Haushalts (oîkos). Ähnlich, allerdings explizit auf staatlicher und nicht auf privater Ebene, meint die chinesische Entsprechung jīngjì 經濟 die Verwaltung (antikchinesische Bedeutung von jīng) der Länder zur Entlastung (jì) der Bevölkerung.1 Wir können uns dem Aufgabenfeld der Wirtschaft am ehesten nähern, wenn wir uns überlegen, wieso eine solche Verwaltung nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig ist. Grundsätzlich werden für die Produktion jeglicher Art von Gütern drei Dinge benötigt: Arbeit, Boden und Kapital (die sogenannten Produktionsfaktoren). Alle drei Faktoren sind nur verknappt vorhanden, haben also ihren Preis. Für die Arbeit fällt Lohn an; für den Boden eine Form von Grundrente. Für geliehenes Kapital– das bedeutet Geld zur Investition und Sachmittel wie Maschinen, Werkzeuge und Gebäude– muss Zins gezahlt werden. Prägnant ausgedrückt bedeutet

1 Der gemeinsame Gebrauch der Verben jīng und jì findet sich bereits im Bàopǔzǐ 抱朴子 (4. Jh. u. Z.). Die moderne Verwendung als Übersetzung der Disziplin „Ökonomie“ geht dagegen auf das 19. Jahrhundert zurück und begann in Japan. Danksagung: Herzlichen Dank gilt Elisabeth Kaske für ihre wertvollen Hinweise zu diesem Kapitel sowie für ihren wirtschaftshistorischen Vortrag im Rahmen unserer Veranstaltung. https://doi.org/10.1515/9783110665024-013

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12 Wirtschaften in China

Wirtschaften, mit diesen beschränkt verfügbaren Produktionsfaktoren möglichst rational hauszuhalten. Die Wirtschaftswissenschaften beschäftigen sich mit der Wirkweise der Wirtschaft. Während im Deutschen sowohl die Volkswirtschaftslehre als auch die Betriebswirtschaftslehre als Wirtschaftswissenschaften verstanden werden, ist die Trennung im Englischen deutlicher (economics und business administration). Dieses Kapitel bezieht sich auf die Volkswirtschaft. Ein detailliertes Studium der Volkswirtschaft beinhaltet unter anderem Methoden der Statistik, Modelle des Marktes, der Lieferketten und der Löhne, sowie der Wirkweise des Geldsystems und der Besteuerung. Diese Einführung kann keine Einsichten in diese hochkomplexen Themen geben, sondern beschränkt sich stattdessen auf grundlegende volkswirtschaftliche Thematiken aus Sicht chinawissenschaftlicher Forschung. Das Kapitel soll also vorranging jene Studierenden ansprechen, deren Studium keine ausgiebige Beschäftigung mit Wirtschaft vorsieht, und sie dazu einladen, den wirtschaftlichen Sektor in ihren Fragestellungen dennoch im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu berücksichtigen.

12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme Verschiedene Wirtschaftsformen unterscheiden sich wesentlich in Eigentum und Verwaltung der Produktion. In welchem Abhängigkeitsverhältnis wird die Arbeit verrichtet (Sklaverei, Leibeigenschaft, Vertragsarbeit)? Gehören Boden und Kapital der Allgemeinheit (dem Staat), der gesamten Belegschaft (Genossenschaften, Syndikaten), oder einzelnen Individuen (Grundbesitzer*innen, Kapitaleigentümer*innen)? Wer entscheidet, was produziert wird (der freie Markt über Angebot und Nachfrage, ein zentraler Fünf-Jahres-Plan)? Wem steht der Profit zu (den Arbeitnehmer*innen, den Arbeitgeber*innen, dem Staat)?

12.2.1 Die Übertragbarkeit von Modellen Die wirtschaftliche Ordnung ist für die Analyse von der politischen Ordnung zu unterscheiden. Zwar entsteht durch die historische Vielzahl totalitär oder autoritär geführter Planwirtschaften auf der einen Seite und dem Konzept der „liberalen Marktwirtschaft“ auf der anderen Seite die Vorstellung eines zwingenden Miteinandergehens wirtschaftlicher und politischer Systeme. Selbstverständlich beeinflussen sich die wirtschaftlichen und politischen Sektoren gegenseitig und müssen aufeinander reagieren. Jedoch sind politische Herrschaftsformen und ökonomische Modi in der Theorie größtenteils kombinierbar und zumindest

12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme

173

teilweise historisch belegt (z. B. diktatorisch regierte Marktwirtschaft Augusto Pinochets in Chile, 1973–1990; demokratische Sozialismen in Lateinamerika, Anfang 21. Jh.). Die in Folge vorgestellten Wirtschaftsordnungen entspringen in der Regel der Beobachtung von historischen Erscheinungsformen in Europa und einer anschließenden Abstrahierung. Wirtschaftsordnungen müssen sich in der Realität nicht gegenseitig ausschließen, sondern können auch als Mischformen existieren. Sie können nie schablonenhaft, sondern immer nur annäherungsweise auf konkrete Beispiele, wie hier auf chinesische Kontexte, angewandt werden. Im interkulturellen Vergleich können Parallelentwicklungen aufgezeigt werden oder regionale Eigenarten wissenschaftlich fundiert erklärt werden. Ein Beispiel für die Problematik in der Übertragbarkeit von europäischen Wirtschaftsmodellen auf China ist der Feudalismus. Aus dem europäischen Kontext kennen wir den Feudalismus als mittelalterliche Wirtschaftsform, bei der partiell organisierte Lehnsherren über Land und Produktionskräfte verfügen. Nicht nur in Europa, sondern auch in China bekam das Adjektiv „feudal“ (chin. fēngjiàn 封建), von Aufklärung und Sozialismus geprägt, eine wissenschaftlich ungenaue, allumfassendere Bedeutung von „rückständig“. Obwohl sich zur Zeit der maoistischen Landreformen hunderttausende ehemalige Großgrundbesitzer und deren Familien dem Verdacht des „Feudalismus“ ausgesetzt sahen, bleibt es eine wirtschaftshistorische Streitfrage, ob und wie der Begriff des Feudalismus auf die chinesische Geschichte anwendbar ist.2 Die Frage der Übertragbarkeit der Annahmen, die für den europäischen Feudalismus getätigt wurden, ist eine über einhundert Jahre alte Debatte in der Sinologie und in der chinesischen Wirtschaftsgeschichte. Marxisten mit Chinabezug setzten den Beginn des Feudalismus mal zur Zeit der Hàn-Dynastie (ab 2. Jh. v. u. Z.), mal erst in der späten Táng-Zeit (9. Jh. u. Z.) an. Doch schon in der westlichen Zhōu-Zeit (ca. 1046–771 v. u. Z.) übte der Herrscherklan seine Macht über die eroberten Ostgebiete nicht zentral aus, sondern verlieh Land und Arbeitskräfte an Lokalherrscher, womit diese den europäischen Lehnsherren nahekamen.3

2 Auseinandersetzungen mit dem Thema finden sich unter anderem bei Joseph R. Levenson und Franz Schurmann, China. An Interpretive History. From the Beginnings to the Fall of Han (Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1969), 34–40; zur Historiografie Chinas vgl. auch Kapitel 3 dieses Buchs. 3 Vgl. dazu diverse Arbeiten von Arif Dirlik, z. B. „The Universalisation of a Concept. ‘Feudalism’ to ‘Feudalism’ in Chinese Marxist Historiography,“ The Journal of Peasant Studies 12, Nr. 2–3 (1985), 197–227. doi: 10.1080/03066158508438268; vgl. auch Charles Holcombe, „Was Medieval China Medieval? (Post-Han to Mid-Tang),“ in A Companion to Chinese History, hrsg. Michael Szonyi (Oxford et al.: John Wiley & Sons, 2017), 106–117.

174

12 Wirtschaften in China

Ähnliche Uneinigkeit herrscht hinsichtlich des Endes des Feudalismus in China. Für die Kaiserzeit im ersten Jahrtausend u. Z. gilt, dass hier zwar feudalistische Phänomene beobachtet werden können, sich aber gleichzeitig ein Großteil der Landbevölkerung des chinesischen Kerngebiets nicht in feudalen Abhängigkeitsverhältnissen befand.4 Es zeigt sich also die Schwierigkeit, durch die westliche Geschichtsbetrachtung geprägte Begriffe auf China anzuwenden. Oftmals ist dies nur in relativen Vergleichen und graduell möglich. Auf der einen Seite kann die Anwendung westlicher Begriffe zu einer undifferenzierten Betrachtung nichtwestlicher Ökonomie führen und dazu verleiten, Wirtschaftsgeschichte als einem universellen Pfad und „natürlichen Gesetzen“ folgend aufzufassen. Auf der anderen Seite ist die Alternative, neue Modelle zur historischen Beschreibung einzuführen, ebenfalls problematisch. So führte das marxistische Konzept einer spezifisch „asiatischen Produktionsweise“ (AMP) zur undifferenzierten Vorstellung, ausbleibender wirtschaftlicher Fortschritt sei tief in ostasiatischen Gesellschaftsstrukturen verwurzelt.5

12.2.2 Die Rolle des Staatlichen Betrachten wir die Genese der frühen Staaten in der Region China, so gelangen wir schnell zu der Erkenntnis, dass die Herausbildung politischer Strukturen (Paläste, Verwandtschaftsbeziehungen, soziale Stratifikation und Hierarchien) unweigerlich mit dem wirtschaftlichen Sektor verknüpft war. Archäologische Ausgrabungen zeigen den Grad der Diversifizierung und Spezialisierung der Arbeit, etwa anhand antiker Werkstätten und Abbaugebieten. Grabbeigaben geben Aufschluss über die geografischen Ausmaße der frühzeitlichen Warenzirkulation. Schriftzeugnisse geben Auskunft über die Abhängigkeitsverhältnisse der Arbeit, etwa über das Ausmaß von Zwangsarbeit (Sklaverei oder Corvée und andere Frondienste).6

4 In der Mongolei und in Tibet hielten sich feudale Strukturen bis in das zwanzigste Jahrhundert. Für die Mongolei, vgl. Academician Sh. Natsagdorj, „The Economic Basis of Feudalism in Mongolia,“ Modern Asia Studies 1, Nr. 3 (1967): 265–281; für Tibet, vgl. Melvyn C. Goldstein, „Reexamining Choice, Dependency and Command in the Tibetan Social System. ‘Tax Appendages’ and Other Landless Serfs,“ The Tibet Journal 11, Nr. 4 (1986): 79–112 und die in den Folgejahren zwischen Goldstein und Beatrice D. Miller ausgetragene Debatte in ebenjener Zeitschrift. 5 Vgl. Rebecca E. Karl, The Magic of Concepts. History and the Economic in Twentieth-Century China (Durham, London: Duke University Press, 2017), 40–72. 6 Einstiegswerke, welche die vorkaiserliche politisch-ökonomische Staatengenese in China darstellen, sind etwa Liu Li und Xingcan Chen, The Archaeology of China. From the Late

12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme

175

Für den frühen Wohlstand war ein gewisser Grad öffentlicher Verwaltung also notwendig. Im Verlauf der chinesischen Geschichte war das Maß der staatlichen Steuerung dabei sehr unterschiedlich und zudem abhängig vom jeweiligen Wirtschaftssektor. Die Zwangsarbeit und das Staatsmonopol auf Salz und Bergbau waren wichtige Pfeiler früher Imperien wie dem Qín-Reich (221–206 v. u. Z.) und der frühen Hàn-Zeit (206 v. u. Z.–23 u. Z.).7 Die Zentralbürokratie des Sòng-Staats (960–1279) war effizient genug organisiert, um die Wirtschaft des Landes weitflächig zu besteuern, Ländereien und Haushalte zu verwalten und staatliche Infrastrukturprojekte mittels unfreier Arbeit anzuweisen. Während die darauffolgenden Jahrhunderte von einer Tendenz zu Dezentralisierung und Deregulierung geprägt waren, wurde die Rolle des Staats für die Wirtschaft im zwanzigsten Jahrhundert wieder zentral und zeitweise totalitär. 12.2.2.1 Planwirtschaftliche Theorie Die historisch einflussreichste Alternative zu einer deregulierten Marktwirtschaft ist die der Zentralverwaltungswirtschaft. Unpräzise wird diese auch als „Sozialismus“ bezeichnet, stellt aber eigentlich nur einen wichtigen Zweig des Sozialismus aus wirtschaftlicher Perspektive dar. Anders als etwa beim Syndikalismus, einer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts populären Ausprägung des Sozialismus, bei dem die Belegschaft einer Produktionsstätte selbst über den Einsatz der Produktionsmittel verfügt, entscheiden bei der Zentralverwaltungswirtschaft staatliche Institutionen, die in der Theorie die Öffentlichkeit repräsentieren, zentral über das zu produzierende Angebot. Wie oben aufgeführt, griffen chinesische Staaten schon in der Antike in die Wirtschaft ein, doch fand dieses Wirtschaftssystem als moderne Ideologie erst im zwanzigsten Jahrhundert seine Ausformulierung und radikale Verwirklichung. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts wurden eine ganze Reihe von Staaten – insbesondere Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution (1917) und

Paleolithic to the Early Bronze Age (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2012) und Feng Li, Early China. A Social and Cultural History (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2013). 7 Die hier genannte Zeitspanne umfasst das planwirtschaftliche Interregnum Wáng Mǎngs (9–23), welches strenggenommen nicht Teil der Hàn-Dynastie ist. Die „Debatte über das Salz und Eisen“ (Yán tiě lùn 鹽鐵論) wurde im ersten Jahrhundert v. u. Z. am Kaiserhof der Hàn geführt. Legistische „Modernisten“ setzten sich für eine starke Rolle des Staats und eine Aufrechterhaltung der Monopole ein, während als konfuzianisch geltende „Reformer“ eine Deregulierung der Wirtschaft propagierten. Vgl. Huan Kuan, Yantie Lun. Die Debatte über Salz und Eisen (Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 2002).

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12 Wirtschaften in China

die Volksrepublik China ab 1949 – zu modernen Zentralverwaltungswirtschaften umgeformt. Die Ideale der Planwirtschaft, die sich insbesondere auf Karl Marx (1818–1883) und Lenin (Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870–1924) beziehen, wurden dabei unterschiedlich interpretiert und an reale Gegebenheiten angepasst – so auch durch den chinesischen Machthaber Máo Zédōng 毛澤東 (1893–1976). Der nach ihm benannte Maoismus, die führende Ideologie der Volksrepublik China von 1949 bis 1978, war eine auf dem Marxismus-Leninismus aufbauende Doktrin, in der die ursprünglich angedachte Führungsrolle des Industrieproletariats durch die Klasse der Bäuerinnen und Bauern ergänzt wurde. Die angestrebte Verwirklichung einer klassenlosen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verliefe nach Máo kontinuierlich, aber sprunghaft und ohne politischen Führungsanspruch der Kommunistischen Internationale bzw. der Sowjetunion. In der Theorie waren in der modernen Zentralverwaltungswirtschaft marktwirtschaftliche Mechanismen vollständig der zentralen Steuerung durch den Staat untergeordnet. So wurden Unternehmen in der chinesischen Volksrepublik verstaatlicht sowie Landwirtschaften umverteilt und kollektiviert. Ab 1953 bestimmten durch die Regierung festgelegte „Fünf-Jahres-Pläne“ (wǔnián jìhuà 五年計劃) die Produktion und das angepeilte Wirtschaftswachstum. In der Praxis wechselten sich striktere Formen der Zentralverwaltungswirtschaft aber mit Phasen der moderaten Marktliberalisierung ab. Etwa folgte auf den russischen Kriegskommunismus (1918–1921) die sowjetische „Neue ökonomische Politik“ (NEP, 1921–1928). Auch auf den chinesischen „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1961) folgten Jahre der gemäßigten Marktliberalisierung (1961–1965), bevor nach der Kulturrevolution (1965–1976) Ende 1978 endgültig eine Marktöffnung eingeläutet wurde. 12.2.2.2 Die Rolle des Staatlichen heute Unter anderem weil sich Zentralverwaltungswirtschaften in internationaler Konkurrenz zu Marktwirtschaften behaupten mussten, kollabierten sie Ende des letzten Jahrhunderts zu größten Teilen.8 Staaten wie die VR China oder der Vietnam, die weiterhin von Parteien mit marxistisch-leninistischen Geltungsanspruch regiert werden, operieren heute in der Regel in Form eines sogenannten Staatskapitalismus. Das bedeutet, dass die Wirtschaft zwar weiterhin unter zentralem Einfluss steht, der Staat aber selbst, einem marktwirtschaftlichen Unternehmen

8 Zudem herrscht laut der Dependenztheorie das Problem hierarchischer Abhängigkeiten zwischen Entwicklungsländern und sich entwickelnden (in der Vergangenheit oft planwirtschaftlich geführten) Ländern, welches ein „Aufholen“ (eine sogenannte nachholende Entwicklung) letzterer unmöglich mache.

12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme

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ähnelnd, kapitalistischer Logik folgt. Ab Ende 1978 wurden in der VR China schrittweise marktwirtschaftliche Entwicklungen auf der Graswurzel-Ebene toleriert und internationales Wirtschaften durch rechtliche Reformen und die Errichtung von deutlich weniger rigide kontrollierten „Sonderwirtschaftszonen“ (special economic zones, SEZs) erleichtert, aber gleichzeitig weiterhin inländische und staatseigene Konzerne protegiert. Landwirtschaftliche Erzeugnisse dürfen seitdem wieder profitorientiert auf Märkten verkauft werden, staatseigene Betriebe (state-owned enterprises, SOEs) dürfen profit- und expansionsorientiert wirtschaften und sich international betätigen. Seit 1992 wird diese scheinbar widersprüchliche Wirtschaftsform offiziell als „Sozialistische Marktwirtschaft“ (shèhuìzhǔyì shìchǎng jīngjì 社會主義市場經濟) bezeichnet. In der Folge sind die Fünf-Jahres-Pläne 2006 weniger expliziten „Fünf-Jahres-Richtlinien“ (wǔnián guīhuà 五年規劃) gewichen. Nachdem sich der festlandchinesische Markt zunächst auch für ausländische Unternehmen bzw. Joint Ventures öffnete (z. B. 1984 Shanghai Volkswagen) und die VR China 2001 Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) wurde, verfolgt die Regierung spätestens seit der von 2002 bis 2012 andauernden Amtszeit Hú Jǐntāos 胡錦濤 (geb. 1942) wieder einen staatskapitalistischeren Kurs, bei dem staatliche Unternehmen durch Konjunkturprogramme und Subventionen protegiert werden. Gleichzeitig wurde seit 2003 eine Vielzahl von Freihandelsabkommen geschlossen, darunter 2010 mit dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN); ein Abkommen mit Südkorea und Japan wird diskutiert.

12.2.3 Die Rolle des Marktes Der Begriff „Kapitalismus“ ist, genau wie der Begriff „freie Marktwirtschaft“, ideologisch konnotiert. Beide Termini meinen in der Regel das gleiche Wirtschaftssystem, wobei der erste Begriff marktkritischer und der zweite Begriff marktfreundlicher verstanden werden kann. Hier soll er möglichst analytisch für die private Aneignung der Produktionsmittel mit dem Ziel der Gewinnakkumulation stehen. Die Entstehung des Kapitalismus wird unterschiedlich datiert. Grob kann von einer Formationszeit vom 16.–18. Jahrhundert gesprochen werden, bevor sich der Kapitalismus zunächst im industriellen England etablierte und dann im Laufe des 19. Jahrhunderts global ausbreitete.9

9 Es ist eine Eigenart des Kapitalismus, dass keine zufriedenstellende und disziplinübergreifend konsensfähige Definition und historische Herleitung des Begriffs existiert. Eine Möglichkeit bietet z. B. Jürgen Kocka, „What Does Capitalism Mean?,“ in Capitalism. A Short History (Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2016), 1–24.

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12 Wirtschaften in China

Während das Konzept des Kapitalismus auf der Untersuchung westlicher Entwicklungen basiert, versuchten marxistische Ökonomen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Parallelentwicklungen in China auszumachen.10 Solche sogenannten „Keime des Kapitalismus“ (zīběnzhǔyì méngyá 資本主義萌芽) seien beginnend mit dem 16. Jahrhundert ein interregionaler Warenverkehr mit Seide und Porzellan, eine Spezialisierung von Produktionsstätten, das Aufkommen anteilsbasierter Unternehmen und ein sich ausbreitendendes Gildensystem. Auch die sinologische Wirtschaftsforschung hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren ausgiebig mit diesen vormodernen Marktmechanismen beschäftigt, spricht hier aber meist neutraler von „Kommerzialisierung“. 12.2.3.1 Marktwirtschaftliche Theorie Theorisiert wurde die Marktwirtschaft maßgeblich durch den schottischen Ökonom Adam Smith (ca. 1723–1790). Er argumentierte zum Beispiel, die Spezialisierung und Teilung der Arbeit würde zu allgemeinem Wohlstand führen und nutzte die Metapher der „unsichtbaren Hand“, um zu verdeutlichen, dass die Marktmechanismen eigenständig zur Erhöhung des nationalen Reichtums führen würden.11 Diese Vorstellung findet seit den späten 1970ern im sogenannten Neoliberalismus seinen Höhepunkt (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen politikwissenschaftlichen Theorie, vgl. Kapitel 13). Die Verfechter*innen dieser zunächst in den USA und dem Vereinten Königreich adoptierten Wirtschaftsphilosophie gehen davon aus, dass sich ein freier Markt ohne staatlichen Einfluss selbst regulieren könne und ordnen Steuerungsmechanismen und Wohlfahrt der freien Wirtschaft unter. Sprechen wir von Kapitalismus, meinen wir im seltensten Fall eine vollständig entfesselte freie Marktwirtschaft. Selbst in Staaten, die der Privatwirtschaft traditionell viel Freiheit gewähren – etwa die USA oder Neuseeland – existieren staatliche Schutzmechanismen, die beispielsweise Monopole verhindern sollen oder dem kapitalarmen Teil der Bevölkerung Grundsicherungen zur Verfügung stellen. Während die spätere festlandchinesische Historiografie die Republikzeit (1912–1949) als Hochphase des Kapitalismus in China betrachtete, sollte einschrän-

10 Eine Darstellung der historiografischen Bemühungen zum „Kapitalismus“ in China findet sich in Timothy Brook, „Capitalism and the Writing of Modern History in China,“ in China and Historical Capitalism. Genealogies of Sinological Knowledge, hrsg. Timothy Brook und Gregory Blue (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1999), 110–157. 11 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (London: W. Strahan and T. Cadell, 1776).

12.2 Grundlegende Wirtschaftssysteme

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kend angemerkt werden, dass es sich bei der republikzeitlichen Wirtschaftsform um einen sogenannten Korporatismus handelte.12 Unternehmen operierten zwar wie marktwirtschaftliche Konzerne, waren aber staatlich „inkorporiert“, das heißt sie wurden von der Regierung protegiert oder sogar aufgebaut. Auf Taiwan wurde diese enge Verflechtung zwischen Einparteienstaat und Wirtschaft nach 1949 fortgesetzt, weshalb die dort bis 1996 diktatorisch regierende Nationalistische Partei (Guómíndǎng 國民黨) mit einem Vermögen von knapp 770 Millionen Euro bis heute die reichste Partei der Welt darstellt.13 Der Kapitalismus setzt zwingend ein stetig ansteigendes Wirtschaftswachstum voraus. Da jedoch die benötigte Arbeitsleistung durch gesteigerte Effizienz und Automatisierung mit steigendem Wirtschaftswachstum abnimmt, sowie endliche Ressourcen aufgebraucht werden (Ende der Erdölreserven; Verknappung von bewohnbarem und bearbeitbarem Land und Klimamigration als Folgen der Zerstörung des Ökosystems), steht in Frage, ob ein anhaltendes Wirtschaftswachstum durch Kreativität alleine langfristig gewährleistet werden kann. Dementsprechend prognostizierte schon 1972 der Think-Tank „Club of Rome“ in seiner einflussreichen Studie Die Grenzen des Wachstums einen baldigen Kollaps der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.14 Angetrieben von der Weltwirtschaftskrise ab 2007 hat die Kapitalismuskritik in akademischen und publizistischen Kreisen erneut eine Wiederkehr erfahren.15 Teilweise wird deshalb zwischen einer wirtschaftswissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die den Kapitalismus als gegeben beschreibt („Wirtschaftsgeschichte“) und einer kritischen Hinterfragung des Kapitalismus durch die Geisteswissenschaften („Kapitalismusgeschichte“) unterschieden.16

12 Zur Verflechtung von Staat und Wirtschaft, vgl. Parks Coble, The Shanghai Capitalists and the Nationalist Government, 1927–1937 (Cambridge: Harvard University Asia Center, [1975] 1986). 13 Chung Li-hua und Jason Pa, „KMT Is Again ‘World’s Richest Party’,“ Taipei Times, 24.07.2014. Zugriffen am 24. März 2019. http://www.taipeitimes.com/News/taiwan/archives/ 2014/07/24/2003595820. 14 Donella Meadows, Dennis Meadows, Jørgen Randers und William W. Berehens III., Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972). 15 Zum Bestseller wurde Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century (Cambridge: Harvard University Press, 2014). 16 Eric Hilt, „Economic History, Historical Analysis, and the ‘New History of Capitalism’,“ The Journal of Economic History 77, Nr. 2 (2017): 511–536, doi: 10.1017/S002205071700016X.

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12.2.3.2 Die Rolle des Marktes heute Betrachten wir die chinesische Welt heute, so stellen wir fest, dass sie sich – was die wirtschaftlichen, nicht die politischen Gesichtspunkte anbetrifft – in das neoliberale Netz der Weltwirtschaft integriert hat. Alle Staaten, deren Bevölkerung mehrheitlich kulturell oder sprachlich chinesisch sind, sind Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), inklusive der völkerrechtlich nicht anerkannten Regierung auf Taiwan.17 Sowohl das politisch liberale Taiwan als auch das politisch autoritäre Singapur bedienen sich auf der wirtschaftlichen Ebene dem System einer Marktwirtschaft. Sie befinden sich im weltweiten Vergleich des Bruttoindustrieprodukts auf dem 23. und 39. Rang.18 Taiwans Exportwirtschaft setzt auf Halbleiter; taiwanische Privatunternehmen wie die Elektronikzulieferer Foxconn (Fùshìkāng 富士康) und Quanta (Guǎngdá 廣達) oder die Computerhersteller Acer (Hóngjī 宏碁) und Asus (Huáshuò 華碩) sind international bekannt. Die Volksrepublik China wiederum löste sich ab 1978 schrittweise von der Zentralverwaltungswirtschaft, indem sie Sonderwirtschaftszonen errichtete, den Handel mit Immobilien und Agrarland liberalisierte und die Gründung privater Unternehmen tolerierte. International bekannte Privatunternehmen mit Sitz in der VR China sind etwa das Telekommunikationsunternehmen Huawei (Huáwéi 華為),19 die Internetfirmen JD (Jīngdōng 京東) und Suning (Sūníng 蘇寧) oder der Elektronikhersteller Oppo (Ōupò 歐珀). Die neue Stellung des Privaten in der festlandchinesischen Wirtschaft steht in Wechselwirkung mit demografischen Entwicklungen. Für das Jahr 2018 weist das festlandchinesische Statistikamt aus, dass das Durchschnittseinkommen auf dem Land etwa ein Drittel des städtischen Einkommens beträgt; gleichzeitig verdient das oberste Fünftel der Bevölkerung im Schnitt fast elf Mal mehr als das untere Fünftel.20 Die wachsende soziale Ungleichheit hat zur Entstehung neuer sozialer Schichten geführt, wie den häufig prekär beschäftigten und schlecht abgesicherten

17 Die Republik China auf Taiwan ist zwar Mitglied der WTO, aber seit 1980 nicht mehr souveränes Mitglied des Internationalen Währungsfonds (IMF). 18 „The World Factbook. GDP (Purchasing Power Parity), 2017 Est.,” CIA, zugegriffen am 22. Dezember 2018, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/ 2001rank.html. 19 Die privatwirtschaftliche Organisationsform eines Unternehmens gibt keinen Aufschluss über mögliche persönliche, ideologische oder strukturelle Verbindungen zu Regierung oder Partei. Dem Unternehmen Huawei wird insbesondere durch die US-Regierung eine Staatsnähe unterstellt. 20 „China Statistical Yearbook 2018,“ National Bureau of Statistics in China, zugegriffen am 22. Dezember 2018, http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2018/indexeh.htm.

12.3 Wirtschaftliche Untersuchungsfelder: Eine Auswahl

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Binnenmigrant*innen auf der einen Seite und den privilegierten „Kindern der Neureichen“ (fù’èrdài 富二代) auf der anderen.

12.3 Wirtschaftliche Untersuchungsfelder: Eine Auswahl Wie für jede Disziplin gilt, dass sich für die Bearbeitung unterschiedlicher Forschungsfragen unterschiedliche Perspektiven und Methoden anbieten. Im Folgenden soll eine kleine Auswahl an möglichen Untersuchungsfeldern wirtschaftlicher Forschung über China gegeben und mit Beispielen veranschaulicht werden. Durch die Kontextualisierung der Wirtschaft in andere Felder, insbesondere der Kultur und Gesellschaftsstruktur, wird zudem deutlich, dass auch Sinolog*innen ohne expliziten wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund wirtschaftliche Fragestellungen in ihre Forschung miteinbeziehen können.

12.3.1 Produktionsketten und Warenzirkulation: Beispiel Seidenstraßen Ein methodischer Ansatz, der sich gerade in der neueren wirtschaftsanalytischen Literatur findet, ist der Fokus auf Produktionsketten und -wege. Dadurch können die globalen Ausmaße des modernen Kapitalismus, beispielsweise die notwendige Infrastruktur und die Ausbeutung von Arbeitskräften und Rohstoffen, anhand von Fallstudien demonstriert werden.21 Das wohl berühmteste Netz an Handelswegen in der chinesischen Geschichte ist die sogenannte Seidenstraße. Sprechen wir von der Seidenstraße, meinen wir eigentlich ein umfangreiches, aber loses und inoffizielles, landläufiges und maritimes Handelsnetz zwischen dem chinesischen Kernland, Zentral-, Südost- und Südasien, Arabien, Ostafrika und dem Mittelmeerraum, welches sich im ersten Jahrtausend herausbildete. Der Begriff „Seidenstraße“ ist eine in der nachträglichen Betrachtung durch den deutschen Geografen Ferdinand von

21 Eine einflussreiche Monografie dieser Forschungsmethode ist Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History (New York: Alfred A. Knopf, 2014). Sinologische Arbeiten, die sich auf eine Ware konzentrieren, sind etwa Keiko Nagase-Reimer, hrsg. Copper in the Early Modern Sino-Japanese Trade (Leiden, Boston: Brill, 2015) oder Hailian Chen, Zinc for Coin and Brass. Bureaucrats, Merchants, Artisans, and Mining Laborers in Qing China, ca. 1680s–1830s (Leiden, Boston: Brill, 2018).

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12 Wirtschaften in China

Richthofen (1833–1905) entstandene Metapher für die internationale Zirkulation von Waren, meint also nicht ausschließlich den Handel mit Seide. Um dies zu verdeutlichen, spricht auch der britische Globalhistoriker Peter Frankopan (geb. 1971) von „Seidenstraßen“ im Plural und meint damit sowohl Warenkreisläufe von Gold und Silber, als auch den Transfer von Kulturen und Ideen wie die des Christentums und der Sklaverei.22 Die Hochphase der Seidenstraße wird für China meist mit der „kosmopolitischen“ Táng-Zeit (618–907) verbunden. Zu dieser Zeit verkehrten im zentralasiatischen Tarimbecken Handelnde unterschiedlichster Kulturen, Sprachen und Religionen. Mit der florierenden Weltwirtschaft kam es auch zum Austausch von Wissens- und Glaubensvorstellungen. So breitete sich im achten Jahrhundert beispielsweise eine Prägung des Christentums (Nestorianismus) bis in die chinesische Hauptstadt Xi’an aus und auch die Ausbreitung des Buddhismus zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert steht mit den Handelskontakten zwischen China, Zentralasien und Indien über die Seidenstraßen in Verbindung. Im 13. Jahrhundert beherrschten und befriedeten die Mongolen die Seidenstraße (pax mongolica); ein Jahrhundert später konnte sich der „Schwarze Tod“ über die regen Handelskontakte bis nach Europa ausbreiten. Als „Neue Seidenstraße“ wird seit 2013 ein großangelegtes Entwicklungsprojekt der Regierung der Volksrepublik China bezeichnet.23 Die offiziell als „Belt and Road Initiative“ (BRI; chinesische Kurzform Yīdài yīlù 一帶一路) firmierende Unternehmung soll, je nach Schätzung und Definition, mehrere Billionen USDollar kosten und den Handel zwischen der Volksrepublik und anderen eurasischen Nationen durch eine verbesserte Infrastruktur erleichtern. Finanziert werden unter anderem Bahnstrecken, Flughäfen, Schiffshäfen, Gas- und Ölleitungen und Güterumschlagsplätze. Das wirtschaftliche Infrastrukturprojekt wird durch Handelsabkommen, Tourismusinitiativen, sowie Bildungs- und Kulturaustausch unterstützt. Benachbarte Entwicklungsländer sind teilweise auf die chinesischen Investitionen angewiesen. Staaten, die sich der „neuen Seidenstraße“ anschließen, werden auf vielfältige Weise in einen chinesischen Wirtschafts- und Kulturraum integriert; beispielsweise durch das Sattelitensystem Běidǒu 北斗, mit welchem die VR China den BRI-Staaten eine Alternative zur US-amerikanischen GPS-Ortung anbietet. Das Unterfangen könnte insgesamt dazu dienen, eine sinozentrische Wirtschaftsordnung (vgl. Kapitel 13) wiederherzustellen. In den Anrainerstaaten, die von den festlandchinesischen Investitionen profitieren, wird daher auch Kritik geäußert. Der malaysische Premierminister Mahathir bin

22 Peter Frankopan, The Silk Roads: A New History of the World (London: Bloomsbury, 2015). 23 Vgl. hierzu auch die Einführung des Begriffs „Framing“ in Kapitel 11.

12.3 Wirtschaftliche Untersuchungsfelder: Eine Auswahl

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Mohamad (geb. 1925) bezeichnete die Freihandelsbestrebungen der BRI als „eine neue Version des Kolonialismus“.24

12.3.2 Institutionen: Beispiel Rentenökonomie Ein weiteres Untersuchungsfeld der Wirtschaftswissenschaft ist die Neue Institutionenökonomik (NIÖ), welche auch in der chinabezogenen Wirtschaftsgeschichte eine wichtige Rolle spielt. Hier liegt der Fokus nicht wie oben auf den Waren, sondern auf den unterschiedlichen Institutionen, die einen Einfluss auf die Wirtschaft ausüben. Als Institutionen werden hier gesellschaftliche und gesetzliche Regeln verstanden. Beispielsweise stellt sich institutionsbezogene Forschung die Frage, welchen Einfluss das Familiensystem und damit verbundene gesellschaftliche Werte auf die Art und Weise der Wirtschaft und der Unternehmensstruktur haben.25 Damit verbunden ist zum Beispiel die Analyse von in China verbreiteten verwandtschaftsbezogenen Kreditvereinen (biāohuì 標會) als Alternative zu Bankkrediten,26 oder die Rolle von Tempeln und Klöstern für die Ausformung marktwirtschaftlicher Praktiken oder als Veranstaltungsort lokaler Crowdfunding-Initiativen.27 Auch der Einfluss von Rechtsprechung, Rechtssicherheit und Eigentumsrecht auf die Form von Unternehmung und Arbeit ist Teil chinabezogener wirtschaftshistorischer und angrenzender soziologischer Forschung.28

24 Wen, Philip, „Mahathir Says China Will Sympathize with Malaysia’s Problems,“ Reuters, 20. August 2018, zugegriffen am 11. Oktober 2018, https://www.reuters.com/article/us-chinamalaysia-trade/mahathir-says-china-will-sympathize-with-malaysias-problems-idUSKCN 1L5070. 25 Eine auf Familienstrukturen basierte Unternehmensführung ist dabei kein chinesischer Sonderfall, vgl. Christof Dejung, „Worldwide Ties. The Role of Family Business in Global Trade in the Nineteenth and Twentieth Centuries,“ Business History 55, Nr. 6 (2013): 1001–1018, doi:10.1080/00076791.2012.744585. 26 Im Englischsprachigen abgekürzt RoSCA (Rotating savings and credit association). Vgl. z. B. Biliang Hu, „Active Informal Financing in Rural China. A Case Study of Rotating Savings and Credit Associations in a Chinese Village,“ in Rural Finance and Credit Infrastructure in China, hrsg. OECD (Paris: OECD, 2004), 237–255. 27 Mayfair Mei-hui Yang, Re-enchanting Modernity in China. Ritual Economy & Religious Civil Society in Wenzhou (Durham: Duke University Press, 2019); Lizhou Hao, „Crowdfunding and the Family Temple Economy,“ Max Planck Institute Real Eurasia, 12. Januar 2017, zugegriffen am 22. Dezember 2018, http://www.eth.mpg.de/4311046/blog_2017_01_12_01. 28 z. B. Madeleine Zelin, Jonathan K. Ocko und Robert Gardella, hrsg. Contract and Property in Early Modern China (Stanford: Stanford University Press, 2004); Christine Moll-Murata, „Legal Conflicts Concerning Wage Payment in Eighteenth and Nineteenth Century China. The Baxian

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12 Wirtschaften in China

In der wissenschaftlichen Beschreibung von Wirtschaftsabläufen gibt es ähnlich wie in den Politikwissenschaften die Tendenz, Entscheidungen und Handlungen auf Institutionen (bspw. Staaten, Unternehmen, Organisationen) zurückzuführen. Dabei fußt aber auch die Wirtschaft letzten Endes auf der Interaktion einer unüberblickbaren Zahl von Individuen. Auf einer Mikroebene können wir beispielsweise beschreiben, mit welchen Absichten und unter welchen Zwängen Unternehmer*innen ihre Entscheidungen treffen, oder aufgrund welcher Anreize wirtschaftlich benachteiligte Menschen eine Wirtschaftsform tragen. Wir könnten zum Beispiel die Frage stellen, ob wir Gründe für eine Misswirtschaft in China in der Interaktion zwischen Individuen finden können. In der chinesischen Kaiserzeit übte die gesellschaftliche Schicht der Gentry (shēnshì 紳士), die ihren Status in der Regel durch Beamtenprüfungen erwarben, denen die Anstellung in der Staatsbürokratie offenstand und die oftmals Land besaßen, eine Wirtschaftsform aus, die als Rentenökonomie bezeichnet werden kann. Das Wort „Rente“ meint hier Einkommen ohne entsprechende Gegenleistung. Bei einer Rentenökonomie handelt es sich um eine Wirtschaft, bei der die Knappheit des Angebots zur Maximierung des individuellen Wohlstands in Form von solchen Renten genutzt wird. Das Phänomen einer Rentenökonomie steht nicht im Widerspruch zu anderen Wirtschaftsformen. Rentenökonomien können in einer Zentralverwaltungswirtschaft ebenso entstehen wie in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen. Im kaiserlichen China galt das Verteilen und Erhalten von „Geschenken“ zur Absegnung unternehmerischer Interessen nicht als illegitime Korruption, sondern war integraler, quasi-legitimer Bestandteil der bürokratischen Verwaltung.29 Diese auf soziale Netzwerke und gegenseitige Verpflichtungen oder Gefälligkeiten (guānxi 關係) basierte Ordnung war nicht produktiv, da ein hoher Anteil des Kapitals als Renten benötigt wurde und nicht in die Produktion fließen konnte. Im Übrigen wird das Erbe der Rentenökonomie auch für das Scheitern der Parlamentsarbeit der ersten chinesischen Republik (1912–1928) verantwortlich gemacht30 und findet seinen Überrest im erklärten Ziel der bis heute andauernden

Cases,“ in Metals, Monies, and Markets in Early Modern Societies. East Asian and Global Perspectives. Vol. 2., hrsg. Jane Kate Leonard und Ulrich Theobald (Leiden: Brill, 2015), 265–306. 29 Einführend mit weiterführender Literatur, vgl. Joseph C. H. Chai, An Economic History of Modern China (Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, 2011), 50–62. 30 Die Rentenkultur der kaiserzeitlichen Gentry wurde teilweise in die politische Kultur des neuen Parlamentarismus übernommen, wodurch dieser korrumpiert wurde; vgl. Andrew J. Nathan, Peking Politics, 1918–1923: Factionalism and the Failure of Constitutionalism (Michigan: University of Michigan Press, 1998).

12.3 Wirtschaftliche Untersuchungsfelder: Eine Auswahl

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Anti-Korruptions-Kampagnen der Volksrepublik China.31 Auch hier entsteht der Volkswirtschaft Schaden, indem Politiker*innen und Beschäftigte der Staatskonzerne Gelder als Renten aus dem eigentlichen Wirtschaftskreislauf entfernen. Während das rentenfokussierte Verhalten wirtschaftlicher Akteure als ein Grund für das Ausbleiben einer profitorientierten Marktwirtschaft gesehen wurde, sollen es konträr dazu in den 1970ern Individuen gewesen sein, die durch ihr Handeln abseits staatlicher Regeln eine marktwirtschaftliche Reform „von unten“ herbeigeführt hätten. Die Stadt Wenzhou im Südosten der Provinz Zhejiang wurde zu dieser Zeit für seine inoffiziellen, geduldeten Privatbetriebe bekannt und ist heute ein Weltzentrum des Schuhhandels.32 Die Wirtschaft wird also nicht nur durch den Staat geregelt, sondern obliegt teilweise sich der staatlichen Kontrolle entziehenden Dynamiken, die durch die Bevölkerung beeinflusst werden können.

12.3.3 Globalgeschichtlicher Vergleich: Beispiel Große Divergenz Stellen wir uns die Frage, warum Wirtschaftsformen existieren und unter welchen Voraussetzungen sie sich etablieren, bedarf es der Analyse anderer Lebensbereiche. Abhängigkeiten bestehen etwa zwischen der Geschichte der Wirtschaft, der Politik und der Technik. Beispielsweise wird heute weltweit darüber debattiert, wie der Staat (Politik) auf eine Verkleinerung des Arbeitsmarkts (Wirtschaft) aufgrund der Automatisierung von Arbeitsprozessen (Technik) reagieren soll. Im Folgenden soll als Beispiel der Verflechtung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine mögliche Verknüpfung zwischen Industrialisierung und Kapitalismus aufgezeigt werden. Die Frage, weshalb Industrialisierung und Kapitalismus zuerst in Europa und nicht in China auftraten, war das wohl lebhafteste Forschungsthema der chinabezogenen Wirtschaftsgeschichte der Jahrtausendwende. Die „Weizenkornlegende“ erfreut sich sowohl in Kinder- und Märchenbüchern, als auch in Mathematik-Lehrwerken großer Beliebtheit. Der Legende nach habe der König dem legendären Erfinder des Schachspiels, Sissa ibn Dahir

31 Untersuchungen zur Rentenökonomie der VR China finden sich in Tak-wing Ngo und Yongping Wu, hrsg. Rent Seeking in China (London, New York: Routledge, 2009); weitere Ausführungen zur Korruption in Festlandchina vgl. Kjeld Erik Brødsgaard, hrsg. Critical Readings on the Chinese Communist Party (Leiden, Boston: Brill, 2017), 1181–1287. 32 Vgl. Kristen Parris, „Local Initiative and National Reform: The Wenzhou Model of Development,“ The China Quarterly 134, Nr. 242 (1993): 242–263, doi:10.1017/s0305741000029672.

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12 Wirtschaften in China

(angeblich 3. oder 4. Jh. u. Z.), zum Dank Weizenkörner versprochen, deren Anzahl er für jedes Schachfeld verdoppeln würde. Das Lehrbeispiel demonstriert die Dimensionen des exponentiellen Wachstums: Während die Weizenkörner anfangs noch überschaubar von 2 auf 4, 8, 16, 32 und 64 Körner anwachsen, wären es auf dem letzten Feld schließlich mehrere Trillionen Körner. Der britische Wirtschaftstheoretiker Thomas Robert Malthus (1766–1834) erklärte, das Bevölkerungswachstum verliefe auf eine solche exponentielle Art und Weise. Das Problem sei, dass sich die Steigerung der Nahrungsproduktion nur nach arithmetischen Mitteln entwickele, dem schachbrettartigen Anstieg der Bevölkerung also nicht nachkommen könne. Im Malthusianismus folgt darauf die Konsequenz, dass das Bevölkerungswachstum durch Hunger, Kriege und Seuchen („malthusische Katastrophen“), aber auch durch Sexualmoral und Eheinstitution künstlich eingeschränkt werde. Betrachten wir die weltweite Bevölkerungsentwicklung, so stellen wir fest, dass diese seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr den Regeln des Malthusianismus folgt, sondern jetzt tatsächlich exponentiell verläuft. Die Aufhebung der malthusischen Wachstumshemmnisse ist zeitlich mit der Industriellen Revolution verbunden. Da die Aufhebung der Wachstumshemmnisse zunächst nur in Europa stattfand, sprechen Wirtschaftshistoriker*innen von der „großen Divergenz“: Dem Prozess, durch den die „westliche Welt“ für die kommenden zwei Jahrhunderte eine wirtschaftliche Führungsposition beanspruchen konnte und mit dem die ehemalige ökonomische Dominanz der chinesischen Kaiserreiche mittelfristig beendet wurde. Bis heute sind Wirtschaftshistoriker*innen zu keinem Einverständnis darüber gelangt, wie die „große Divergenz“ zu erklären sei. Es existiert eine große Bandbreite an Erklärungsversuchen, von denen hier nur einige wenige stellvertretend vorgestellt werden sollen. Für den US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz (geb. 1958), der den Begriff der „großen Divergenz“ in seinem gleichnamigen Buch prägte, führte die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents ab 1492 zur Behebung der Ressourcenknappheit in Europa (etwa die Waldrodung zur Generierung von Brennholz).33 Für den deutsch-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Andre Gunder Frank (1929–2005) spielte zudem die Ausbeutung der Silbervorkommen in den amerikanischen Kolonien eine Rolle, da die europäischen Staaten erst durch ihren Silberexport für den durch China dominierten Welthandel

33 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the World Economy (Princeton: Princeton University Press, 2000).

12.4 Fazit

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relevant wurden und diesen im Anschluss dominieren konnten.34 Pomeranz und der chinesische Wirtschaftshistoriker Roy Bin Wong (Wáng Guóbīn 王國斌, geb. 1949) weisen zudem darauf hin, dass Großbritannien über leichter zugängliche Kohlevorkommen verfügte als China.35 Während zum Abbau der tiefgelegenen Kohle in China technische Innovationen nötig waren – die kohleabhängige industrielle Revolution also quasi vor dem Kohleabbau selbst hätte geschehen müssen – war die Kohle in Großbritannien leichter erreichbar und bereits vor der Erfindung des Motors als Heizmittel relevant. Zudem habe es wesentliche institutionelle Unterschiede zwischen Europa und China gegeben: Europa sei politisch fragmentierter als China gewesen.36 Durch den zwischenstaatlichen Wettbewerb habe es in Europa eher den Zwang zur Innovation gegeben, während in China die Sicherung des status quo im Vordergrund gestanden habe. In keinem der Erklärungsansätze geht es um kulturessentialistische Betrachtungen, also die Vorstellung, dass Menschen in Europa wesens- oder kulturbedingt technologisch „erfinderischer“ oder wirtschaftlich „versierter“ gewesen seien, sondern um den Versuch der Erklärung, durch welche Zwänge und Notwendigkeiten es zu dem messbaren Phänomen der „großen Divergenz“ gekommen ist. Globalgeschichtliche Vergleiche können sich also dazu eignen, wirtschaftliche Dynamiken besser zu erklären.

12.4 Fazit Vertikal betrachtet ist die Wirtschaftsforschung tiefgründig und facettenreich: Sie bedient sich spezialisierten Methoden und Modellen, um jeweils ganz bestimmte Untersuchungsfelder zu analysieren. Horizontal betrachtet ist die Beschäftigung mit der Wirtschaft eng an andere Disziplinen gebunden: Historische Prozesse lassen sich mit Blick auf die wirtschaftlichen Dynamiken besser erklären; die Wirtschaft wiederum lässt sich nur unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, technischer und kultureller Veränderungen vollständig erfassen. Die Beschäftigung mit wirtschaftlichen Modellen und Methoden ist also auch außerhalb der eigentlichen Wirtschaftswissenschaften relevant.

34 Andre Gunder Frank, ReORIENT. Global Economy in the Asian Age (Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1998). 35 Bin R. Wong, China Transformed. Historical Change and the Limits of European Experience (Ithaca: Cornell University Press, 1997). 36 Ebenda.

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12 Wirtschaften in China

12.5 Begriffe Die große Divergenz – Prozess, in welchem sich die „westliche Welt“ zeitlich vor anderen Regionen von wirtschaftlichen Wachstumshemmnissen abkoppelte Feudalismus – Partiell organisierte Verfügung über Land und Produktionskräfte durch Lehnsherren Kapitalismus – Private Aneignung der Produktionsmittel mit dem Ziel der Gewinnakkumulation Maoismus – Auf dem Marxismus-Leninismus aufbauende Doktrin, in der die führende Rolle des Industrieproletariats durch die Klasse der Bäuerinnen und Bauern ergänzt wird. Die Verwirklichung einer klassenlosen Wirtschaftsordnung verlaufe kontinuierlich, aber sprunghaft, und ohne Führungsanspruch der Kommunistischen Internationalen bzw. der Sowjetunion Malthusianismus – Vorstellung, dass das Bevölkerungswachstum exponentiell verlaufe, das Wachstum der Lebensmittelproduktion aber nicht Rentenökonomie – Wirtschaftsform, bei der die Knappheit des Angebots zur Maximierung des individuellen Wohlstands in Form von Renten (d. h. Einkommen ohne entsprechende Gegenleistung) genutzt wird Seidenstraße – Mit Beginn des 1. Jt. u. Z. entstandenes Netz an landläufigen und maritimen Handelswegen zwischen dem chinesischen Kernland, Zentral-, Südost- und Südasien, Arabien, Ostafrika und dem Mittelmeerraum

12.6 Vorschläge zur Vertiefung Chow, Gregory C. und Dwight H. Perkins. Routledge Handbook of the Chinese Economy. Oxon, New York: Routledge, 2015. Dillon, Michael (Hrsg.). Key Papers on Chinese Economic History Since 1949. Boston, Leiden: Brill, 2017. Frankopan, Peter. The Silk Roads: A New History of the World. London: Bloomsbury, 2015. Glahn, Richard v. The Economic History of China: From Antiquity to the Nineteenth Century. Cambridge: Cambridge University Press, 2016. Thielscher, Christian. Wirtschaftswissenschaften verstehen. Eine Einführung in ökonomisches Denken. Wiesbaden: Springer, 2014.

12.7 Transferaufgaben 12.7.1 Warenzirkulation Recherchieren Sie die Verbreitungswege der Aubergine, der Nudel oder des Tees. Diskutieren Sie Fragen der Originalität und der Zubereitungsformen im

12.7 Transferaufgaben

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Zusammenhang mit den Teilbereichen Handelsware, Kaufleute, Konsumierende und Orte des Konsums.

12.7.2 Zentralverwaltungswirtschaft heute Ein Artefakt der festlandchinesischen Zentralverwaltungswirtschaft sind die auch heute noch ausgegebenen Fünf-Jahres-Richtlinien. Informieren Sie sich über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Schwerpunkte und Zielsetzungen der aktuellen Fünf-Jahres-Richtlinie der Volksrepublik China und berichten Sie.

12.7.3 Alte und neue Seidenstraßen? Informieren Sie sich über die Verläufe der Seidenstraßen und die Schätze von Dunhuang und Turfan (uighurisch Turpan). Welche Ländereien waren durch das Handelsnetz verbunden? Recherchieren und spekulieren Sie, welche Güter, Technologien und kulturellen Ideen durch die Seidenstraßen transportiert wurden. Informieren Sie sich über die Transportwege der „Belt and Road Initiative“ (BRI). Konzentrieren Sie sich dabei wahlweise auf das Teilprojekt „Silk Road Economic Belt“ (SRB, chin. sīchóu zhī lù jīngjì dài 絲綢之路經濟帶), „21st Century Maritime Silk Road“ (MSR, chin. 21 shìjì hǎishàng sīchóu zhī lù 21世紀海上絲綢之路) oder „Ice Silk Road“ (chin. bīng shàng sīchóu zhī lù 冰上絲綢之路). Tragen Sie die Handelswege anschließend im Plenum auf einer Karte zusammen.

13 China als Teil der politischen Welt Thorben Pelzer Zusammenfassung: Dieses Kapitel befasst sich mit Chinas Stellung in der Welt. Im ersten Teil werden Theorie und Praxis der sinozentrischen Weltordnung und des damit verbundenen Tributsystems erörtert. Der zweite Teil befasst sich mit politikwissenschaftlichen Theorien der Modernisierung und Demokratisierung. Mögliche Zusammenhänge zwischen den beiden Phänomenen werden diskutiert, um sie auf einen chinesischen Kontext anzuwenden.

13.1 Politologische Modelle Dieses Kapitel handelt von der Position Chinas in größeren, weltpolitischen Ordnungen. Um den Fragen nachzugehen, in welchen Formen sich die Stellung Chinas geäußert hat und wie sich regionale und globale Ordnungen im Laufe der Geschichte verändert haben, müssen wir uns zunächst überlegen, mit welchem politikwissenschaftlichen Ansatz wir unsere Untersuchung am besten durchführen können. Zwei der populärsten Ansätze, um internationale Beziehungen zu beschreiben, sind der Neorealismus und der Neoliberalismus. Der Neorealismus zeichnet sich dadurch aus, dass er zwischenstaatliche Interaktionen als konkurrierendes Streben nach Macht versteht. Jeder Staat handele letztlich rational und zwangsweise im Sinne seiner eigenen Interessen und zur Sicherung seines eigenen Überlebens. Der Neoliberalismus (hier nicht als Wirtschaftsordnung, sondern als politologisches Modell zu verstehen) untersucht sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Institutionen und geht davon aus, dass Institutionen zwar miteinander kooperieren, dabei aber letztlich immer zielorientiert die Maximierung ihrer absoluten Gewinne beabsichtigen. Sowohl Neorealismus als auch Neoliberalismus zeichnen sich dadurch aus, dass sie Staaten vereinfacht als einheitliche und natürliche Gebilde verstehen. Sie stehen damit in Widerspruch zu vielen der in den vergangenen Kapiteln besprochenen geisteswissenschaftlichen Modelle, die davon ausgehen, dass komplexe Ordnungen wie „Staat“ und „Region“ nicht naturgegeben sind, sondern von der Gesellschaft immer wieder neu definiert werden können. Da wir bei unserem Forschungsthema davon ausgehen müssen, dass sich die Kategorien, in welchen die politische „Welt“ gedacht wurde, immer wieder verändert haben, sollten wir also ein politikwissenschaftliches Modell wählen, welches diesen fluktuierenden Bedeutungen gerecht wird und erklären kann, https://doi.org/10.1515/9783110665024-014

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13 China als Teil der politischen Welt

unter welchen Absichten und Umständen staatliche und regionale Räume neu konstituiert wurden. Schließlich können wir nicht voraussetzen, dass Konzepte wie Staat, Souveränität oder Hegemonie in der chinesischen Vormoderne existierten und auf die gleiche Art und Weise verstanden wurden, wie sie in Europa nach dem Westfälischen Frieden (1648) etabliert wurden und wie sie sowohl für realistische und liberale Theorien, als auch für das moderne Völkerrecht praktisch Grundvoraussetzung sind. Ein Ansatz, der sich daher anbietet, ist der (politikwissenschaftliche) Konstruktivismus: Er setzt einen Schwerpunkt auf die Beobachtung, dass politische Institutionen und Beziehungen nicht naturgegeben sind oder der unbedingten Konsequenz politischer Zwänge entspringen, sondern durch gesellschaftliche Konventionen dynamisch geformt und verändert werden.

13.2 Reich der Mitte: Mythos und Praxis Die Herrscher des alten Chinas sahen sich durch ein Mandat des Himmels (tiānmìng 天命) legitimiert, über „alles unter dem Himmel“ (tiānxià 天下) zu regieren und verstanden ihren Herrschaftsraum somit als Zentrum der Welt. Diese Sinozentrismus genannte, kulturchauvinistische Weltanschauung sorgte dafür, dass Nachbarstaaten dazu angehalten wurden, dem „Reich der Mitte“ in ungleichen diplomatischen Verhältnissen Tribut (cháogòng 朝貢) zu zollen. In regelmäßigen, festgelegten zeitlichen Abständen sollten alle angeschlossenen Vasallen diplomatische Gesandtschaften an den jeweiligen Kaiserhof entsenden. Im Gegenzug für die Tributzahlungen erhielten die Diplomaten sogenannte Geschenke, welche die Untergebenheit der Vasallen festigen sollten. Ein Siegel aus dem Jahr 57 etwa, im Auftrag des chinesischen Guāngwǔ-Kaisers (5 v. u. Z.–57 u. Z.) als Geschenk für einen proto-japanischen Lokalkönig gefertigt, trägt den Stempel „König von Na in Wa unter der Hàn-Dynastie“.1 Nicht nur demonstriert das Siegel die über die eigenen Landesgrenzen reichende Hegemonialstellung der chinesischen Hàn-Dynastie. Die gewählten chinesischen Schriftzeichen für das Land Na und das Inselarchipel Wa tragen die Bedeutung „Sklave“ (奴) und „Zwerg“ (委 bzw. 倭) und fixieren die Unterlegenheit des Vasallen damit auf der Bedeutungsebene der Zeichen noch einmal zusätzlich.

1 Für eine weiterführende Analyse der sino-japanischen Beziehungen, vgl. Joshua A. Fogel, Articulating the Sinosphere. Sino-Japanese Relations in Space and Time (Cambridge, London: Harvard University Press, 2009).

13.2 Reich der Mitte: Mythos und Praxis

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13.2.1 Peripherien Es war der in diesem Buch bereits mehrfach genannte Sinologe Fairbank, der das chinesische Verständnis der politisch-kulturellen Welt zur Veranschaulichung in drei Zonen unterteilte.2 Die sinische Zone, zu der er Korea, Vietnam, das frühere Inselreich Ryūkyū und Japan zählte; die inner-asiatische Zone, für die er die Mongolei, Tibet und Zentralasien nannte; sowie die äußere Zone, für die er als Beispiele Russland, das heute philippinische Inselarchipel Sulu, Portugal, Holland und England listete. Die sinische Zone ist am ehesten als „kulturell chinesisch“ zu verstehen. Die Strahlkraft der frühen chinesischen Dynastien, insbesondere der Táng (618–907), reichte aus, um diese Zivilisationen nachhaltig zu prägen. Zusammen mit dem chinesischen Kerngebiet bilden diese Länder die sogenannte Sinosphäre. Sie waren einst durch ein gemeinsames Schriftsystem (die chinesischen Zeichen) und durch gemeinsame Denk- und Glaubenssysteme (Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus) geprägt. Dabei ist anzumerken, dass chinesische Institutionen zwar auf den japanischen Inselarchipel, auf die koreanische Halbinsel und in den heutigen Vietnam exportiert wurden, aber trotz der Integration in eine kulturell chinesische Sphäre auch die Bewohner*innen dieser Länder nie als vollwertig „chinesisch“ anerkannt wurden. Blicken wir statt in den Osten in den Norden und Westen Chinas, finden wir eine Vielzahl von Kulturen, welche die chinesischen Institutionen nicht im selben Maß adoptiert haben, wie dies für die oben aufgeführten Länder der Fall gewesen ist. Die Menschen sprachen hier vorranging turko-mongolische und tungusische Sprachen und lebten nomadisch oder semi-nomadisch. Die Kulturen dieser innerasiatischen Zone gaben ihren Lebensstil nicht in derselben Absolutheit zu Gunsten der chinesischen Zivilisation auf, wie dies für die sinische Zone behauptet werden kann, sondern integrierten nur ausgewählte Elemente der chinesischen Kultur. Zur Abwehr von Invasionen einiger dieser Länder, insbesondere dem Xiōngnú-Konglomerat (3. Jh. v. u. Z.–1. Jh. u. Z.) und dem Xiānbēi-Staat (1.–3. Jh.), wurden frühe Formen der Großen Mauer errichtet. Trotzdem kam es auch zwischen den chinesischen Kaiserreichen und dem angrenzenden Westen zur Aufnahme langfristiger diplomatischer Beziehungen und zu einem regen Kulturaustausch, wie im nächsten Unterkapitel näher geschildert werden wird.

2 John King Fairbank, „A Preliminary Framework,“ in The Chinese World Order: Traditional China’s Foreign Relations, hrsg. John K. Fairbank (Cambridge: Harvard University Press, 1968), 1–14.

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13 China als Teil der politischen Welt

Die traditionelle chinesische Historiografie schaffte eine Vielzahl von „Nichtchinas“, die in der Vergangenheit auf dem Boden der Region China stattgefunden hatten. Schon in vorkaiserlichen Quellen ist von den „vier Barbarenstämmen“ (sìyí 四夷) die Rede, mit denen jene Menschengruppen bezeichnet wurden, die sich vom kulturell chinesischen Horizont ausgehend in den vier Himmelsrichtungen ausgebreitet hätten. Durch die Ausbreitung des kernchinesischen Gebiets selbst und durch die Integration der Nachbarstaaten in das chinesische Tributsystem verschoben sich die Grenzen des „Barbarischen“ immer weiter in die Ferne: Als äußere Zone verstand Fairbank Länder, bei denen sich keine Verbindungen zur chinesischen Kultur herstellen ließen und zu denen erst mit Anbruch der frühen Neuzeit sehr zweckmäßige diplomatische Beziehungen hergestellt werden konnten.

13.2.2 Kerngebiete Die Gliederung der sinozentrischen Weltordnung in die oben genannten drei Sphären verschweigt die kulturell pluralistische Zusammensetzung des chinesischen Kerngebiets selbst. Durch Eroberungszüge, Massenmigrationen und geografische Besonderheiten begründeten und verschoben sich in der Geschichte kontinuierlich ethnische Grenzen und definierten das, was als „chinesisch“ gilt, und das, was „barbarisch“ sei, immer wieder neu. Die Definition dessen, was „chinesisch“ sei, erfolgte schon in der frühen chinesischen Geschichtsschreibung über Ausschließung: Chinesisch war das, was nicht barbarisch war, sondern in den kulturellen Raum der „Reiche der Zentralebene“ (Zhōngyuán guó 中原國, kurz Zhōngguó 中國: Der heutige Name Chinas) integriert worden war. Hier existieren Parallelen zu den Beobachtungen der critical whiteness studies („Kritische Weißsein-Studien“): Das Merkmal des Weißseins ist es, nicht nicht-wei ß zu sein. Im Laufe der Zeit können ethnonationale Gruppen ihre Zugehörigkeit wechseln. Ein prominentes Beispiel sind die irischen und jüdischen Migrant*innen in den USA, die noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein durch Weiße diskriminiert und nur graduell selbst als Weiße wahrgenommen wurden. Umgekehrt wurden die Métis in Kanada zunächst nicht als indigene Gruppe kategorisiert und erreichten erst 1982 eine Anerkennung als Aborigines. Der Status der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit einer Mehrheitsethnie und damit die Definition derselbigen ist also wandelbar. Weite Teile des Südens Chinas galten in früherer Historiografie als „barbarisch“, doch werden heute auch kulturelle Gruppen wie die Kantones*innen und Hakka, die gegenüber den nördlichen Hochchines*innen (Hàn) abweichende Bräuche und Sprachen gebrauchen, selbst als Hàn

13.2 Reich der Mitte: Mythos und Praxis

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kategorisiert.3 Auf der einen Seite gab es im chinesischen Raum eine Vielzahl von Ethnien, etwa die Khitan oder die Tangut*innen, die im Lauf der Geschichte nach Eroberungszügen komplett in anderen Ethnien aufgegangen und verschwunden sind. Auf der anderen Seite wurden im zwanzigsten Jahrhundert Ethnonationalitäten in neue Gruppen wie die Zhuàng in der Provinz Guangxi kategorisiert.4 Während einzelne Dynastien, wie die Tuòbá Wèi (386–534), die Liáo (907–1125) und die Yuán (1279–1368), als Fremdherrschaften gelten, da ihre Herrscherklans innerasiatischer Herkunft waren, ist die Frage nach dem Fremdcharakter bei anderen Dynastien schwieriger zu beantworten. Die Táng etwa, neben den Hàn (206 v. u. Z.–220 u. Z.), den Sòng (960–1279) und den Míng (1368–1644) eine der vier großen „hochchinesischen“ Dynastien per se, hatten turkische Wurzeln. In ihre Herrschaftszeit fällt zudem die Blütezeit der Seidenstraße und damit die Integration vormals „barbarischer“ modischer Elemente und die Schaffung neuer kosmopolitischer Handelszentren im innerasiatischen Tarimbecken, die der normativen Vorstellung eines chinesischen Kerngebiets als Mittelpunkt der Welt nur schwer zu entsprechen vermögen. Ohnehin sollte bei dem sinozentrischen Weltbild und dem damit verbundenen Tributsystem klar zwischen Theorie und Praxis unterschieden werden. Schon die chinesische Hàn-Dynastie etwa musste das Xiōngnú-Konglomerat als offiziell ebenbürtig anerkennen und ihm sogar Tribut in Form von Prinzessinnen zollen. Zudem wird das Tributsystem heute von einigen Sinolog*innen als größtenteils symbolisch verstanden. Zwar hätten die Nachbarstaaten dem chinesischen Hof Tribut in Form von Geschenken zollen und so ihre Unterwerfung zeigen müssen. Da sie aber so Zugang zum chinesischen Wirtschaftsraum bekamen und sie an langen Phasen des internationalen Friedens teilhaben konnten, hätten die chinesischen Vasallen letztlich mehr vom Tributsystem profitiert als der Hegemon China selbst. Während die Theorie also ein Ungleichgewicht in Richtung des „Reichs der Mitte“ erwarten lässt, hätten in der Praxis auch die angeschlossenen Nachbarn profitiert.5

3 Für die Diskussion einer kantonesischen Ethno-Nationalität, vgl. Kevin Carrico, „Recentering China. The Cantonese in and beyond the Han,“ in Critical Han Studies. The History, Representation, and Identity of China’s Majority, hrsg. Thomas S. Mullaney et al. (Berkeley et al.: University of California Press, 2012), 23–44. 4 Vgl. Katherine Palmer Kaup, Creating the Zhuang. Ethnic Politics in China (Boulder: Lynne Rienner, 2000); vgl. auch Thomas S. Mullaney, Coming to Terms with the Nation. Ethnic Classification in Modern China (Berkeley et al.: University of California Press, 2011). 5 John M. Hobson, „A Non-Eurocentric Global History of Asia,“ in Routledge Handbook of Asian Regionalism, hrsg. Mark Beeson und Richard Stubbs (London, New York: Routledge, 2012), 50–51.

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13 China als Teil der politischen Welt

13.3 Internationale Beziehungen nach dem Sinozentrismus Die mandschurische Qīng-Dynastie geriet im 19. Jahrhundert in einen technologischen und wirtschaftlichen Rückstand, der eine politische und gesellschaftliche Krise auslöste, von der sich die Kaisermonarchie nie wieder langfristig erholen konnte. Als sich der britische Handelsreisende George Maccartney (1737–1806) im Jahr 1792 in einer Petition an den QiánlóngKaiser (1711–1799) wandte, welche unter anderem die Öffnung chinesischer Häfen zur Erleichterung des Handels zum Ziel hatte, schrieb der mandschurische Kaiser als Antwort an den britischen König George III. (1738–1820) noch: [. . .] Bislang führten alle europäischen Nationen, einschließlich der barbarischen Händler Eures Landes, ihren Handel mit dem Himmelreich über Guangzhou aus. So ist es über viele Jahre gewesen, obwohl das Himmelsreich über alle Dinge in ergiebigstem Überfluss verfügt und es ihm an keinem Produkt in seinen Grenzen mangelt. [. . .] Die Trennung von Chinesen und Barbaren ist so streng wie möglich, und das Ersinnen Eures Botschafters, die Barbaren sollten die Freiheit zugesprochen bekommen, ihre Religion in vollster Freiheit zu verbreiten, ist zutiefst unangemessen. [. . .] [. . .] Sollten Eure Schiffe anlegen, so wird Euren Kaufleuten mit Sicherheit niemals erlaubt werden, an Land zu gehen und sich niederzulassen, und sie werden stattdessen mit sofortiger Wirkung des Landes verwiesen werden. Unter diesen Umständen werden sich Eure barbarischen Kaufleute einer langen Reise umsonst ausgesetzt haben. Behauptet nicht, Ihr wäret nicht rechtzeitig gewarnt worden! [. . .]6

Global- und Wirtschaftshistoriker*innen sind sich uneinig, wie lange der Sinozentrismus tatsächlich das faktische Weltsystem gewesen ist. Folgen wir dem Wirtschaftshistoriker und Soziologen Andre Gunder Frank (1929–2005), so ist die Antwort des Qiánlóng-Kaisers weniger vermessen, als sie im ersten Moment wirken mag. Erst im achtzehnten Jahrhundert habe die Hegemonie der westlichen Kolonialmächte, insbesondere des imperialistischen britischen Weltreichs, jene der chinesischen Kaiserreiche abgelöst.7 Wie dem auch sei: Aus der konstruktivistischen Perspektive zeigen die diplomatischen Fauxpas der Briten und der Mandschu jedenfalls, dass sich unterschiedliche Vorstellungen von Zentrum und

6 [Übersetzung durch den Autor.] Edmund Backhouse und John O. P. Bland, Annals & Memoirs of the Court of Peking: From the 16th to the 20th Century (Boston, New York: Houghton Mifflin Company, 1914), 326–331. 7 Andre G. Frank, ReORIENT: Global Economy in the Asian Age (Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1998).

13.3 Internationale Beziehungen nach dem Sinozentrismus

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Peripherie, von Hegemonie und seiner rituellen bzw. vertraglichen Praxis unvereinbar gegenüberstanden. Ein halbes Jahrhundert später fand dieser Widerspruch sein Ende: Nach dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) und dem resultierenden Vertrag von Nanjing (1842) wurde Großbritannien die Öffnung von Vertragshäfen, Pachtgebiete und Extraterritorialität (d. h. heimische Gerichtsbarkeit) zugesprochen. In einer Vielzahl folgender ungleicher Verträge zogen andere europäische Imperialmächte nach und sicherten sich ähnliche Rechte und Ansprüche. In der sinologischen Geschichtsschreibung wurde die Zeit zwischen 1842 und 1911 deswegen oft als „Semikolonialismus“ bezeichnet. Der Trend geht heute wieder hin zu einer differenzierten Betrachtungsweise, da es dem Qīng-Reich trotz der ungleichen Verträge und der emotional empfunden Erniedrigung gelang, als Souverän zu agieren und die Stellung als regionale Supermacht nicht vollständig aufzugeben.8 Ganz egal, wie die Bewertung der ungleichen Verträge im Detail ausfällt: Die Zeit des Sinozentrismus war auch zu Ende, weil sich die chinesischen Nachbarländer nach und nach aus dem traditionellen Tributsystem lösten und versuchten, sich in das westliche System internationaler Politik zu integrieren. Das japanische Kaiserreich etwa verfolgte nach seiner ab 1868 einsetzenden raschen Modernisierung selbst imperialistische Ambitionen und kolonialisierte oder annektierte mit Taiwan (1895), Korea (1910) und der Mandschurei (1932) vormals durch die Qīng-Dynastie beanspruchte Gebiete. Während chinesische Positionen bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles (1919) offiziell noch kein Gehör fanden und auch der durch die junge Republik China mitbegründete Völkerbund (1920–1946) keine universell akzeptierte politische Ordnung hervorbringen konnte, existieren durch die Vereinten Nationen (ab 1945) heute völkerrechtliche Regularien und Institutionen, die weitgehend globale Anerkennung genießen und welche die alten Kategorien des sinozentrischen Tributsystems endgültig obsolet machen.

13.3.1 Das Ende der Geschichte? Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, schien dies in den Augen vieler Beobachter*innen wie der symbolische Abschluss eines jahrzehntelangen Konflikts zwischen den konkurrierenden Ideologien des Liberalismus und des

8 z. B. Benjamin A. Elman, On Their Own Terms: Science in China 1550–1900 (Cambridge, London: Harvard University Press, 2005).

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Kommunismus zu sein. Dieser Konflikt hatte spätestens mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 die Bühne der internationalen Beziehungen erreicht und war kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs ab 1947 in den sogenannten „Kalten Krieg“ übergegangen, der entgegen seines Namens diverse heiße Phasen und Stellvertreterkriege mit insgesamt mehreren Millionen Toten erlebte. Nachdem die Volksrepublik China bereits seit 1978 schrittweise marktwirtschaftliche Reformen eingeführt hatte, sollte die Sowjetunion nach den Perestroika-Reformen der 1980er schließlich 1991 endgültig kollabieren. Unter dem Eindruck, dass der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Zentralverwaltungswirtschaft aufgelöst worden sei und auf langer Sicht keine neue Konkurrenz zum Modell der liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratie des Westens erwartbar wäre, postulierte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (geb. 1952) im Jahr 1989: Der Niedergang des Marxismus-Leninismus, zunächst in China und dann in der Sowjetunion, wird seinen Tod als lebendige Ideologie von welthistorischer Signifikanz bedeuten. Denn, auch wenn es noch einige isolierte, wahrhaftige Gläubige an Orten wie Managua, P’yŏngyang oder Cambridge, Massachusetts gibt, unterminiert die Tatsache, dass es keinen einzigen großen Staat gibt, in dem er eine anhaltende Rolle spielt, vollständig seine Anmaßung, die Avantgarde der Menschheitsgeschichte darzustellen. Und der Tod dieser Ideologie bedeutet eine ansteigende „gemeinsame Vermarktlichung“ der internationalen Beziehungen, sowie die Minderung der Wahrscheinlichkeit von großflächigen Konflikten zwischen Staaten.9

Im Sinne einer hegelianischen Geschichtsphilosophie ist Geschichte immer eine Entwicklung von Thesen und Antithesen zu neuen Synthesen. Durch das Aufbrauchen aller denkbaren Antithesen zur liberalen Marktwirtschaft sah Fukuyama das „Ende der Geschichte“ bereits in vorstellbarer Ferne. Seine Theorie ist eine der Konvergenz, das heißt, die Kulturen und Systeme der Welt würden sich letztlich annähern und einigen. Er stellte Überlegungen an, wie für den „letzten Menschen“ in einer Zeit von Weltfrieden und vollständiger Befriedigung aller Bedürfnisse der Sport eine der letzten möglichen Beschäftigungen darstellen könnte. Spätere weltpolitische Entwicklungen, wie die Infragestellung der US-amerikanischen hegemonialen Ordnung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die Weltwirtschafts- und Schuldenkrise ab 2007, oder die Beständigkeit und Renaissance der eigentlich längst dem Untergang geweiht geschienenen kommunistischen Partei in der Volksrepublik China, stellen die Plausibilität der These in Frage.

9 [Übersetzung durch den Autor.] Francis Fukuyama, „The End of History?“ The National Interest 16 (1989): 18.

13.3 Internationale Beziehungen nach dem Sinozentrismus

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In der Volksrepublik war es dem gemäßigten Lager unter Führung Dèng Xiǎopíngs 鄧小平 (1904–1997) nach Máos Tod 1976 gelungen, die bereits länger anvisierten „vier Modernisierungen“ (sìge xiàndàihuà 四個現代化) auf den Gebieten Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung sowie Wissenschaft und Technik durch Einführung wirtschaftlicher Reformen voranzutreiben. Den Zeitgeist nutzte der Dissident Wèi Jīngshēng 魏京生 (geb. 1950), um 1978 an der Beijinger „Mauer der Demokratie“ in Form eines Wandplakats noch eine „fünfte Modernisierung“ zu fordern: Jene der Demokratisierung. Trotz des Verabschiedens einer neuen Verfassung 1982, welche in der Theorie allerhand bürgerliche Freiheiten, darunter die Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, garantierte, blieb eine Demokratisierung nach westlich-liberalem Verständnis de facto aus. Die letzte größere Demokratiebewegung (1986–1989) führte noch zu offen ausgetragenen innerparteilichen Debatten, wurde aber schließlich am 4. Juni 1989 mit dem Tiān’ānmén-Massaker (offiziell nur „Vorfall vom 4. Juni“, liùsì shìjiàn 六四 事件), bei dem die Volksbefreiungsarmee die Hauptstadt vom protestierenden Volk ‚befreite‘, durch die Staatsführung niedergeschlagen. Das staatskapitalistische System der Volksrepublik, welches offiziell „Sozialismus chinesischer Prägung“ genannt wird, konnte sich während der asiatischen Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre behaupten und wird heute als „China-Modell“ oder „Beijinger Konsens“ als mögliche Alternative zur neoliberalen Wirtschaftsordnung diskutiert. Fukuyamas „Ende der Geschichte“ erscheint uns damit heute nicht mehr so naheliegend wie zum Zeitpunkt seiner Formulierung.

13.3.2 These 1: Modernisierung als Universalprinzip Um zu verstehen, weshalb die Volksrepublik China trotz der kontinuierlichen Modernisierungsbestrebungen keine liberale Demokratie hervorgebracht hat, sollten wir uns zunächst gängige Modernisierungstheorien anschauen und auf die Volksrepublik anwenden. Prominente Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Begriff und dem Prozess der Modernisierung auseinandersetzten, waren Max Weber (1864–1920) und Talcott Parsons (1902–1979).10 Als wichtige Merkmale einer modernen Gesellschaft gelten die Anwendung der wissenschaftlichen Methode, die Industrialisierung, die soziale Mobilität (das heißt die Möglichkeit des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs),

10 Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,“ Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 20, Nr. 1 (1904): 1–54; Talcott Parsons, „Evolutionary Universals in Society,“ American Sociological Review 29, Nr. 3 (1964): 339–357.

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13 China als Teil der politischen Welt

sowie die Säkularisierung (die Trennung von Kirche und Staat und der Rückgang der Relevanz des Glaubens für die politischen Prozesse). Sowohl im Alltag wie auch in der wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff der Modernisierung aber oft schwammig verwendet und meint eigentlich die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Tatsächlich spielt die Wirtschaft eine entscheidende Rolle für die Modernisierung einer Gesellschaft: In den gängigen Modernisierungstheorien ist es die wirtschaftlich erstarkte Mittelschicht, welche den Motor der Modernisierung darstellt. Für die Oberschicht bestünde kein Bedarf für gesellschaftliche Veränderungen, da diese bereits Macht innehabe. Der Unterschicht wiederum fehle es an Freizeit und Bildung, um aktiv zu werden, womit nur die Mittelschicht als möglicher Impulsgeber verbliebe. Der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset (1922–2006) begründete so einen kausalen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung: Der Anstieg des Einkommens, das Anheben des Bildungsniveaus, die soziale Mobilität und die Wertschätzung individueller Freiheiten würden unweigerlich dazu führen, dass die Bevölkerung aktiv für eine Demokratisierung eintrete.11 Wollen wir diese Gedanken auf die Volksrepublik anwenden, stellen wir fest, dass die Grundlagen der Modernisierung, welche in der Folge eine Demokratisierung hervorbringen soll, gegeben sind, aber es keine Anzeichen dafür gibt, dass das Machtmonopol der kommunistischen Partei in ernsthafter Gefahr sein könnte. Unser Fall der Volksrepublik China scheint mit den zuvor genannten Thesen im Widerspruch zu stehen. Deshalb finden sich westliche Modernisierungstheorien, die den Anspruch auf universelle Anwendbarkeit hegen, dem Verdacht des Eurozentrismus ausgesetzt. Das bedeutet in diesem Fall, dass allgemeingütige Aussagen getätigt werden, ohne mögliche Differenzen im interkulturellen Vergleich mit anderen Regionen, etwa der des „globalen Südens“, zu berücksichtigen.

13.3.3 These 2: Modernisierung im Plural Als Kritik eurozentrischer Modernisierungstheorien entwickelte der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) seine These der multiplen Modernen (in der offiziellen Übersetzung ungenau „Vielfalt der Moderne“).12 Eisenstadt hielt die „westliche“ Moderne nur für eine von mehreren möglichen 11 Seymour M. Lipset, „Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy,“ The American Political Science Review 53, Nr. 1 (1959): 69–105. doi:10.2307/ 1951731. 12 Shmuel N. Eisenstadt, „Multiple Modernities,“ Daedalus 129, Nr. 1 (2000): 1–29.

13.3 Internationale Beziehungen nach dem Sinozentrismus

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Formen der Modernisierung. Für ihn lief die Weltgeschichte also zumindest mittelfristig nicht, wie bei Fukuyama, konvergent (auf einen übergreifenden kulturell-gesellschaftlichen Konsens gerichtet), sondern divergent: Die Kulturen würden voneinander abweichend bleiben und ihre Widersprüche nicht auflösen. Die weltpolitische Lage des frühen 21. Jahrhunderts begründet die Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für solche Konzepte. Statt einer Aufhebung der politischen und kulturellen Pole West und Ost mit dem Ende des Kalten Kriegs erleben wir eine Diversifizierung der Kulturen und die Wiederkehr alter Regionalmächte. Als Antwort auf Fukuyamas „Ende der Geschichte“ veröffentlichte dessen ehemaliger Lehrer, der Politikwissenschaftler Samuel Phillips Huntington (1927–2008) deshalb seine streitbare, in der akademischen Welt kontrovers diskutierte Hypothese des „Kampfes der Kulturen“.13 In ihr ordnet er die Staaten der Erde in acht verschiedene sogenannte Kulturkreise. Jeder Kulturkreis würde über einen bestimmten Kanon von Werten verfügen, der mit dem Wertekanon anderer Kulturkreise kollidiere. Huntingtons Hypothese ist also eine Spielart des Kulturrelativismus: Ethische Begriffe und gesellschaftliche Kategorien seien nicht universell gültig, sondern in ihrer Anwendbarkeit kulturell und regional eingeschränkt. Der Vorwurf des Kulturrelativismus kann dabei ähnlich kritisch verstanden werden wie der oben aufgeführte Vorwurf des Eurozentrismus. Schließlich können extreme Formen des Kulturrelativismus dazu führen, dass „der chinesischen Kultur“ der Zugang zum individualistischen Denken oder zum Konzept der Menschenrechte abgesprochen wird.14 Der Politikwissenschaftler Jie Chen bedient sich indirekt der Idee multipler Modernen, wenn er von „Kontingenz“ spricht, um zu begründen, weshalb sich die Mittelschicht der Volksrepublik China zum Großteil nicht aktiv für eine Demokratisierung einsetze.15 Für ihn gibt es zwar eine Verbindung zwischen Modernisierung und Demokratisierung, diese verlaufe

13 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster, 1996). 14 Der Linguist Chad D. Hansen beispielsweise sprach in seiner Monografie Language and Logic in Ancient China (Michigan: University of Michigan Press, 1983) der chinesisch sprechenden Bevölkerung aufgrund der chinesischen Grammatik ab, abstrakte Gedanken bilden und das Individuum abseits einer Gesamtheit denken zu können. Altkanzler Helmut Schmidt stellte die Existenz universeller Menschenrechte lebenslang in Frage und sympathisierte mit den festlandchinesischen Machtinhabern Dèng Xiǎopíng und Xí Jìnpíng. Mit anderen ehemaligen Staatsmännern, darunter dem autoritär regierenden singapurischen Premierminister Lee Kuan Yew, konzipierte er 1997 die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ als Alternative zum Konzept der Menschenrechte. 15 Jie Chen, A Middle Class Without Democracy: Economic Growth and the Prospects for Democratization in China (Oxford: Oxford University Press, 2013).

202

13 China als Teil der politischen Welt

aber dynamisch. Der Eintritt der Demokratisierung sei abhängig von kontingenten Faktoren wie dem Maß der Abhängigkeit der Mittelschicht von staatlichen Strukturen und Institutionen, vom wirtschaftlichen Wohlstand der Mittelschicht, dem Grad der Fragmentierung der Mittelschicht, sowie der Angst vor politischer Instabilität. In diesem Erklärungsmodell begründet sich die bislang ausbleibende Demokratisierung Chinas nicht durch kulturell bedingte Eigenarten, sondern durch empirische (nachweisbare oder falsifizierbare) Faktoren. Schließlich bleibt es diskussionswürdig, ob der Verweis auf angebliche kulturelle Eigenarten eine fehlende Demokratisierung wirklich erklärt, oder ob ein solches Erklärungsmuster nicht viel eher die antidemokratische Rhetorik einer Staatsführung reproduziert und so zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

13.4 Fazit Die chinesischen Kaiserdynastien, in ihrer Zusammensetzung selbst ein Ergebnis von Einflüssen verschiedener Politiken und Kulturen, beriefen sich auf das „Mandat des Himmels“, um ihre Herrschaft über das „Reich der Mitte“ zu legitimieren. Durch das Tributsystem wurden andere Länder in unterschiedlichen Maßen in das hegemoniale System des Sinozentrismus eingebunden. Das vormoderne Tributsystem wich ab dem 19. Jahrhundert nach und nach einer modernen Staatenordnung, die in der heutigen Anerkennung ebenbürtiger Souveränität aller Mitgliedsländer der Vereinten Nationen mündete. Während sich die Volksrepublik China diesem völkerrechtlichen Konsens der Moderne angeschlossen hat, hat sie sich in anderen Punkten, die mit der Moderne verknüpft werden, bislang anders entwickelt als ein Großteil der Staaten dieser Erde. Hier ist die fehlende Demokratisierung zu nennen, die eigentlich Teil der traditionellen Modernisierungstheorien ist.

13.5 Begriffe Äußere Zone – Bei Fairbank die Zone jener Staaten, die erst sehr spät und nur teilweise in das sinozentrische Weltbild integriert werden konnten Divergenz – Phänomen des Auseinanderstrebens Ende der Geschichte – Vollständige Aufhebung bzw. Synthese aller weltpolitischen Widersprüche Eurozentrismus – Ideologische Beurteilung inner- und außereuropäischer Gesellschaften nach europäischen Vorstellungen

13.7 Transferaufgaben

203

Hegemonie – Politische, wirtschaftliche und/oder militärische Überlegenheit eines Staats oder einer vergleichbaren Institution Innerasiatische Zone – Bei Fairbank die Zone jener Staaten, die zwar im langfristigen kulturellen Austausch mit den chinesischen Dynastien standen, dabei aber größere Teile ihrer Institutionen behalten haben Konvergenz – Phänomen des Sich-Aufeinander-zu-Entwickelns von zwei oder mehreren Ausgangszuständen auf einen gemeinsamen Endzustand hin Kulturrelativismus – Vorstellung der kulturell eingeschränkten Anwendbarkeit von ethischen Begriffen und gesellschaftlichen Kategorien Sinische Zone – Bei Fairbank die Zone jener Staaten, die maßgeblich von der chinesischen Zivilisation und ihren Institutionen geprägt wurden Sinozentrismus – Hegemonialstellung der chinesischen Kultur

13.6 Vorschläge zur Vertiefung Beeson, Mark und Richard Stubbs (Hrsg.). Routledge Handbook of Asian Regionalism. London, New York: Routledge, 2012. Harnisch, Sebastian, Sebastian Bersick und Jörn-Carsten Gottwald (Hrsg.). China’s International Roles. New York, Oxon: Routledge, 2016. Lohse-Friedrich, Kerstin und Sebastian Heilmann (Hrsg.) Volksrepublik China. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2018. Noesselt, Nele. Chinesische Politik. Nationale und globale Dimensionen. Baden-Baden: Nomos, 2016. Tuschhoff, Christian. Internationale Beziehungen. Konstanz, München: UVK, 2015.

13.7 Transferaufgaben 13.7.1 China in der Welt von morgen Napoleon Bonaparte (1769–1821) wird seit knapp zweihundert Jahren fälschlicherweise folgendes Zitat in diversen Variationen in den Mund gelegt: „China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, verrückt er die Welt!“ Diskutieren Sie die Stellung der Volksrepublik China in der heutigen Welt. Welche Unterschiede gibt es zwischen der kaiserzeitlichen Hegemonie und der heutigen Regional- oder Weltmacht VR China? Lassen sich auch heute Formen eines Sinozentrismus feststellen?

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13 China als Teil der politischen Welt

13.7.2 Kulturpolitik heute? Informieren Sie sich über Repressionen gegen ethnische Minderheiten in der VR China, unter anderem die sogenannten Umerziehungslager (zàijiàoyù yíng 再教育營) in der autonomen Provinz Xinjiang, die während der Regierungszeit Xí Jìnpíngs eröffnet wurden. Welche Rückschlüsse lassen diese Maßnahmen auf aktuelle Sinisierungspolitiken zu? Welcher Begriff des „Chinesischseins“ liegt hier zu Grunde?

13.7.3 Demokratie in China? Altkanzler Helmut Schmidt (1918–2015) war zu Lebzeiten für seine Sympathie für die Politik Dèng Xiǎopíngs und Xí Jìnpíngs bekannt. Er urteilte unter anderem, Konfuzius tauge „wenig für ein Verständnis der individuellen Rechte, wie sie den westlichen Demokratien zugrunde liegen“ und erklärte: „Die Chinesen [. . .] sind nicht bereit, die Demokratie zu übernehmen“.16 Stellen Sie wahlweise die Lánfāng-Republik (1777–1884), die Běiyáng-Regierung (1912–1928) oder das demokratische Taiwan (ab 1996) vor und diskutieren Sie mit Helmut Schmidt und Ihren Kommiliton*innen die Frage einer chinesischen Moderne und einer chinesischen Demokratie.

16 In Naß, Matthias, „Wie chinesisch wird die Welt?“, Die Zeit 37 (2012), diskutiert in Pamperrien, Sabine, „Die China-Versteher und ihre demokratischen Feinde,“ Deutschlandfunk, veröffentlicht am 10.03.2013, abgerufen am 13. Januar 2019, https://www.deutschlandfunk.de/die-chinaversteher-und-ihre-demokratischen-feinde.1184.de.html?dram:article_id=239834.

14 China als Wissenschaft Thorben Pelzer Zusammenfassung: Dieses Kapitel dient als wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Einführung in die sinologische Disziplin als solche. Geschichte, Positionierung und Herausforderungen des Fachs Sinologie werden diskutiert.

14.1 Über die Wissenschaft reflektieren In den vergangenen dreizehn Kapiteln haben wir uns mit einer Vielzahl verschiedener Disziplinen beschäftigt. Auf deren Modellen und Methoden kann die Sinologie zugreifen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten. Mit Abschluss unseres methodischen Überblicks soll sich dieses Kapitel dagegen explizit mit Aspekten des Fachs Sinologie als Wissenschaft an sich beschäftigen. Die wissenschaftliche Analyse einer Wissenschaft ist Teildisziplin der Soziologie. Die sogenannte Wissenschaftssoziologie betrachtet ein Forschungsfeld unter verschiedenen Teilaspekten. Zum Beispiel stellt sie sich die Frage, welche Kontinuitäten und Brüche eine Forschungstradition zu verzeichnen hat. So hat der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) dargestellt, wie Paradigmenwechsel einzelne Forschungsfelder revolutionierten1: Beispielsweise die Evolutionstheorie (1859) die Biologie, die Relativitätstheorie (1916) die Physik oder die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) die Wirtschaftswissenschaften. Haben wir solche Paradigmenwechsel herausragenden „Genies“ wie Leonardo da Vinci (1452–1519) und James Watt (1736–1819) zu verdanken oder waren sie viel mehr unausweichliche Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungen und Ergebnis kollektiver Forschung in Wissenschaftsnetzwerken? Wie sind solche Forschungsnetzwerke organisiert – durch institutionalisierte Einrichtungen wie Universitäten oder in losen peer groups? Rezipieren sich die Forscher*innen nur in ihrem direkten Forschungsumfeld oder auch transnational und disziplinenübergreifend? Wie beeinflussen sich die akademische und die politische Welt gegenseitig – ist die Wissenschaft wirklich frei? Gibt es einen Auftrag der Forschung gegenüber der Öffentlichkeit? Existiert eine Pflicht zur Aufklärung und zur verständlichen Sprache oder gar

1 Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago: University of Chicago Press, 1962). https://doi.org/10.1515/9783110665024-015

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14 China als Wissenschaft

eine Pflicht zur Geheimhaltung, zum Beispiel bei der Entdeckung von Gefahrenstoffen? Dies sind nur einige der Fragen, die sich die Wissenschaftssoziologie stellt.

14.2 Geschichte der Chinastudien Im Folgenden soll ein historischer Überblick über die Fachgeschichte der Sinologie gegeben werden. Darauf aufbauend soll der Schwerpunkt auf die Frage nach aktuellen Herausforderungen der Disziplin gelegt werden, um Ausgangspunkte für eine eigenständige Reflektion mit diesem Fach zu schaffen.

14.2.1 Entwicklung in Ostasien Die Sinologie, im Sinne der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Kulturen der Region China, besitzt viele Anfänge. Am schwierigsten zu bestimmen ist ihr Anfang in China selbst. Schließlich ist es für uns naheliegender, sich explizit mit dem Fremden zu beschäftigen, als mit der eigenen Kultur: So ist uns die Germanistik in Deutschland nicht als regionalwissenschaftliche Auseinandersetzung mit „dem Deutschen“ bekannt, sondern als Sprach- und Literaturwissenschaft. An den chinesischen Universitäten finden Forschungen zu chinesischer Kunstgeschichte, Linguistik, Philosophie oder Wirtschaftsgeschichte dementsprechend an den gleichnamigen Fakultäten statt, und nicht übergeordnet an einer gesonderten „sinologischen“ Institution. In China formte sich im 17. Jahrhundert mit der „Evidenzschule“ (kǎozhèng 考證), eine philologische Forschungstradition, die überlieferte klassische Texte kritisch analysierte.2 Dadurch entstanden die sogenannten Hànstudien (Hànxué 漢學), die sich bemühten, eine authentische „chinesische“ Antike der namensgebenden Hàn-Dynastie (206 v. u. Z.–220 u. Z.) zu rekonstruieren. Das abstrakte Bewusstsein der Intellektuellen für die eigene Kultur wurde im 19. Jahrhundert durch die Beschäftigung mit dem „Fremden“, also mit dem „Westen“, geschärft: Das ausgelobte Motto war „China für die Substanz, der Westen für die Praxis“ (Zhōngtǐ Xīyòng 中體西用).3 So erwuchs aus der Tradition der Hànstudien 2 Ein Standardwerk zur „Evidenzschule“ ist Benjamin A. Elman, From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China (Cambridge: Harvard University Press, 1984). 3 Vgl. einführend Zhitian Luo, Shifts of Power. Modern Chinese Thought and Society (Leiden, Boston: Brill, 2014), 25–31.

14.2 Geschichte der Chinastudien

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schließlich Ende des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung mit der chinesischen „Nationalessenz“ (guócuì 國粹), d. h. der Versuch der Rekonstruktion und Präservation eines angeblich essentiell chinesischen Kulturerbes.4 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte andererseits die kritische Geschichtswissenschaft des „Zweifelns an der Antike“ (yígǔ 疑古) ein, welche den Wahrheitsgehalt der textlichen Überlieferungen hinterfragte und auch ausländische Sinolog*innen beeinflusste. Während Auseinandersetzungen mit der Region China durch chinesische Akademiker*innen als „Landeskunde“ (guóxué 國學) betitelt werden, wird die ausländische Sinologie mit „Hànstudien“ (Hànxué 漢學) übersetzt. Anders als bei den oben genannten historischen Hànstudien, die ihren Namen durch die Hàn-Dynastie erhielten, liegt hier der Fokus auf der gleichnamigen Mehrheitsethnie. Diese thematische Beschränkung auf die Hàn-Ethnie spiegelt sich nicht im eigentlich viel größeren Forschungsfeld der heutigen Sinologie wider, weshalb die Alternativübersetzung Zhōngguóxué 中國學 („Chinastudien“) existiert. In Japan, einem der bis heute wichtigsten Forschungsländer der Sinologie, hat die Beschäftigung mit China eine lange Geschichte. Das Nachvollziehen chinesischer Kulturen und Institutionen war schon in der Táng-Zeit (618–907) ein wichtiges Anliegen japanischer Gelehrter, denn das chinesische Festland war eine Quelle für gesellschaftliche Innovationen wie Herrschaftsinstitutionen, Schriftverkehr und Buddhismus. In der Edo-Zeit (1603–1868) konkurrierten in Japan die Chinastudien (kangaku 漢學) mit den Hollandstudien (rangaku 蘭學) und den Landes- oder Japanstudien (kokugaku 國學) in einem nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch ideologischem Kampf um die Gunst der intellektuellen Kräfte.

14.2.2 Entwicklung in Europa In Europa beginnt die neuzeitliche Beschäftigung mit China mit den katholischjesuitischen Missionaren, die das Land ab dem 16. Jahrhundert bereisten. Zum Ziel der Glaubensverbreitung studierten sie die kulturellen Gegebenheiten und lernten, nicht zuletzt zur Übersetzung der heiligen Schriften des Katholizismus, die chinesische Schriftsprache. Der italienische Jesuit Matteo Ricci (1552–1610) wurde schließlich an den Hof des Wànlì-Kaisers (1572–1620) berufen, wo er im Astronomie- und Kalenderwesen arbeitete. Der flämische Jesuit Ferdinand Verbiest (1623–1688) wirkte als Mathematiker und Astronom am Hof des Kāngxī-Kaisers

4 Für mehr Informationen zur Schule der „Nationalessenz“, vgl. die Schriften von Tze-ki Hon, u. a. Tze-ki Hon, Revolution as Restoration. Guocui xuebao and China’s Path to Modernity, 1905–1911 (Leiden: Brill, 2013).

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14 China als Wissenschaft

(1654–1722) und sorgte dort als Übersetzer und Erfinder für technologische Innovationen. Gelehrte der (frühen) Aufklärung wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) oder Voltaire (1694–1778) waren fasziniert von einer fremden Kultur, die sie nur sehr unkonkret aus Erzählungen wie jenen des venezianischen Handelsreisenden Marco Polos (1254–1324) kannten, zu der sie aber keinen direkten Zugang hatten. Durch ihr mangelndes Wissen war es ihnen möglich, China als ideales Gegenbild des Abendlandes zu stilisieren. Leibniz etwa bezeichnete China als ein moralisch überlegenes „Europa des Ostens“.5 Zu dieser Zeit ging es aber, der mangelnden Quellenlage und der Vielzahl weiterer Interessensgebiete der Universalgelehrten geschuldet, noch um eine Anhäufung von (vorgeblichem) Faktenwissen über ein fernes Land und noch nicht um eine differenzierte, analytische bzw. empirische Wissenschaft nach modernen Standards. Dies sollte sich Ende des 19. Jahrhunderts langsam ändern. In diese Zeit fällt zum Beispiel das Wirken der britischen Sinologen Thomas Francis Wade (1818–1895) und Herbert Giles (1845–1935), die sich zu Lebzeiten mit der chinesischen Sprache und Übersetzungen auseinandersetzten, heute aber vorranging für das nach ihnen benannte Wade-Giles-Transkriptionssystem bekannt sind. Ähnlich wie zur Zeit der katholischen Jesuiten, bildeten um die Wende zum 20. Jahrhundert protestantische Missionare einen wichtigen Teil der europäischen Sinologie. So gab beispielsweise der australische Missionar Robert Henry Mathews (1877–1970) 1931 ein chinesisch-englisches Wörterbuch heraus, welches bis heute von Sinolog*innen konsultiert wird und umgangssprachlich als „Mathews“ betitelt wird. Der Missionar Richard Wilhelm (1873–1930) brachte mit seinen Übersetzungen Werke wie das Buch der Wandlungen (Yìjīng 易經), das Lǎozǐ 老子 oder das Lúnyǔ 論語 nicht nur der akademischen Welt, sondern einem breiten, populärwissenschaftlich orientierten, deutschsprachigen Publikum näher. Im deutschsprachigen Raum nahm die Sinologie früh einen sprachwissenschaftlichen, das heißt linguistischen und philologischen Schwerpunkt ein. Viele der frühen Sinologen interessierten sich für die chinesische Schriftsprache und antikchinesische Klassiker. Der Sinologe Hans Georg Conon von der Gabelentz (1840–1893) etwa, der 1878 an der Universität Leipzig den ersten Lehrstuhl für fernöstliche Sprachen in Deutschland bekleidete, war an der Funktionsweise diverser Sprachfamilien Ostasiens interessiert und schrieb 1881 die erste deutschsprachige Chinesische Grammatik. Zur Jahrhundertwende stand die europäische Sinologie immer noch am Anfang ihrer akademischen Karriere: Der Verdienst Wilhelms, die chinesische Texttradition einer deutschsprachigen Öffentlichkeit

5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Novissima Sinica historiam nostri temporis illustrata (s.i., 1697), 2.

14.2 Geschichte der Chinastudien

209

als ebenbürtig näherzubringen, ist unumstritten, gleichzeitig gelten seine Übersetzungen heute als ungenau. Gabelentz wiederrum wurde schon zu Lebzeiten für seinen oberflächlichen Zugang zu seinem Forschungsthema attackiert. Im nächsten Schritt geht es daher um die Ausdifferenzierung der Sinologie in Unterdisziplinen, durch welche das Fach an wissenschaftlicher Schärfe gewann. Schauen wir uns die heutigen Lehrstühle der Ostasienwissenschaften an, haben wir es nicht mehr, wie es noch Gabelentz zugemutet wurde, mit einer allumfassenden Professur zu tun, die alle ostasiatischen Sprachen gleichzeitig erforschen soll. Stattdessen haben wir Lehrstühle, die sich spezialisiert auf chinesische Geschichte, Literatur, Politik oder Rechtswissenschaften konzentrieren. Die Inhaber*innen dieser Lehrstühle wiederum forschen nicht mehr zu jedem erdenklichen Thema, welches der Zuweisung ihrer Professur entsprechen würde, sondern haben sich noch viel weiter auf einzelne Fragestellungen, Zeitabschnitte und Themenkomplexe fokussiert. Diese Entwicklung liegt nicht nur an einem erhöhten Anspruch an die wissenschaftliche Fundiertheit, sondern auch an einer verbesserten Quellenverfügbarkeit, sowohl was den sprachlichen Zugang, als auch was die materielle Beschaffung betrifft. Dieser erneute Schub der Professionalisierung, der Mitte des 20. Jahrhundert stattfand, brachte eine Fülle komplexer Forschungsarbeiten hervor: In Frankreich erforschte etwa der Soziologe Marcel Granet (1884–1940) die Gesellschaftsstrukturen vormoderner chinesischer Gesellschaften.6 Dem schwedischen Linguisten Bernhard Karlgren (1889–1978) gelang es anhand von Reimwörterbüchern, vormoderne Stufen der chinesischen Sprache zu rekonstruieren.7 Der bereits im Kapitel zur chinesischen Historiografie genannte deutsch-amerikanische Soziologe Karl August Wittfogel (1896–1988) wiederum analysierte die Entstehungsmechanismen politischer, insbesondere despotischer, Gesellschaftsstrukturen im interkulturellen Vergleich.8 In dieser Zeit entstanden auch detaillierte Geschichtsüberblicke, die bis heute von den Verlagen regelmäßig neu herausgegeben und auch von einem nichtsinologischen Publikum gelesen werden. Im deutschsprachigen Bereich ist das etwa die 1932–1952 erschienende fünfbändige Geschichte des Chinesischen Reiches des Hamburger Historikers Otto Franke (1863–1946), im französischsprachigen Bereich 1972 Die chinesische Welt (Le monde chinois) von

6 U. a. in Marcel Granet, La Civilisation Chinoise [Die Chinesische Zivilisation] (Paris: La renaissance du livre, 1929). 7 Bereits in seiner Doktorarbeit, vgl. Klas Bernhard Johannes Karlgren, „Etudes sur la Phonologie Chinoise [Studien zur Chinesischen Phonologie],“ Inauguraldissertation, Universität Uppsala, 1915. 8 Karl August Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power (New Haven, London: Yale University Press, 1957).

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14 China als Wissenschaft

Jacques Gernet (1921–2018), und im Englischsprachigen der bereits vielfach genannte John K. Fairbank 1992 mit seiner New History und ab 1978 mit der von ihm herausgegebenen mehrbändigen Cambridge History of China.

14.2.3 Gegenwärtige Positionierung Das Vermächtnis der frühen deutschsprachigen Sinologie ist bis heute in vielen Universitätscurricula beobachtbar. Die Sinologie wird im Grundlagenstudium oftmals nicht – wie wir es in diesem Buch tun – als chinawissenschaftliche Regionalwissenschaft verstanden, dessen disziplinenübergreifendes Potential genutzt werden kann, sondern bleibt seinen philologischen Wurzeln verhaftet. Ein wissenschaftliches Studium der Sinologie ohne das Erlernen des Antikchinesischen und dem Übersetzen alter Texte ist kaum vorstellbar. Immer wieder neu konzipierte Studiengänge, die sich etwa einem Schwerpunkt der Wirtschaft, der Rechtslehre oder des Übersetzens verschreiben, zeigen allerdings eine kontinuierliche Neuorientierung der Disziplin. Phänomene sind neben dem Aufgehen der traditionellen Sinologie in chinabezogene Methodenfächer oder in Verbundstudiengänge auch die Errichtung praxisorientierter „Chinazentren“ in Deutschland.9 Die Entwicklungen zeigen, dass der kritische Umgang mit China nicht mehr ausschließlich Inhalt eines sinologischen „Orchideenfachs“ ist, sondern immer häufiger eine gleichberechtige Auseinandersetzung mit der Region stattfindet. China ist dabei nicht mehr ausschließlich Domäne der Sinolog*innen, da heute beispielsweise auch an ethnologischen oder soziologischen Instituten Chinaforschung stattfindet. Dennoch kann die Existenz von Fakultäten und Instituten für Asien- oder Orientstudien als Erbe des Orientialismus in den Geisteswissenschaften angesehen werden: Schließlich ist es mitunter schwierig zu begründen, wieso die Geschichte Europas und Nordamerikas (überwiegend „weißer“ Kontinente) an Lehrstühlen für Geschichte unterrichtet wird, Geschichte Chinas dagegen, zumindest in der Tiefe, an Lehrstühle der Sinologie ausgelagert wird. Zwar sind historische Seminare heutzutage angehalten, globalgeschichtliche Inhalte zu vermitteln; die Überwindung der eurozentrischen Tradition klassischer Geisteswissenschaften bleibt aber ein längerfristiges Projekt. Im Ausland, insbesondere durch chinesischstämmige Forscher*innen außerhalb der VR China, ist der Trend zu beobachten, die Chinawissenschaften

9 Im Februar 2019 konstituierte sich der „Verbund der Chinazentren an deutschen Hochschulen“ bestehend aus den Chinazentren in Berlin, Dresden, Kiel und Tübingen.

14.3 Herausforderungen der Chinastudien

211

strategisch vom politischen Raum der Volksrepublik abzukoppeln. In sogenannten Sinophonstudien wird statt einer Region das Chinesischsprachige als solches in den Vordergrund gestellt. Chinesischsprachigen Gemeinschaften außerhalb des chinesischen Kerngebiets, etwa in Singapur oder Taiwan, wird mehr Beachtung geschenkt, aber auch die Rolle von Auslandchines*innen in den USA kann Teil einer Vorlesung über chinesische Geschichte werden. Ein zweiter, mitunter verbundener Trend ist jener der interasiatischen Kulturstudien. Hier werden die kulturellen Grenzen zwischen den einzelnen Gebieten Asiens kritisch hinterfragt und regionsübergreifende Phänomene aufgezeigt. In beiden Fällen wird implizit in Frage gestellt, in wieweit sich die kulturellgeografische Festlegung der Sinologie – eine Grundannahme aller Regionalwissenschaften – überhaupt eignet, um wissenschaftliche Fragestellungen zu beantworten. Die Ostasien- und Orientwissenschaften sind also im Prozess, ihren orientalistischen Hintergrund zu überwinden und ihre Fachkenntnisse in anderen Disziplinen einzubringen.

14.3 Herausforderungen der Chinastudien Im vorhergegangenen Kapitel haben wir uns mit der Geschichte der Sinologie als Wissenschaft beschäftigt und uns die Frage gestellt, welchen Platz die Chinaforschung an Universitäten einnehmen kann. Im Folgenden sollen Herausforderungen der Chinastudien innerhalb des wissenschaftssoziologischen Spannungsfelds „Wissenschaft und Öffentlichkeit“ diskutiert werden. Wie sind diese beiden Felder miteinander verknüpft und welchen Einfluss nehmen sie aufeinander?

14.3.1 Öffentliche Wahrnehmung Werden in den Nachrichten universitäre Expert*innen zu tagespolitischen Themen gefragt, so ist die Aufgabenteilung eigentlich naheliegend: Zur britischen Wirtschaft werden Wirtschaftswissenschaftler*innen einbestellt, zur Zukunft der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Parteienforscher*innen, und zur Verleihung des Friedensnobelpreises an eine italienische Aktivistin vielleicht Friedensforscher*innen. Eher unüblich wäre es, zu den oben genannten Themen jeweils Angehörige der Anglistik, der Germanistik und der Romanistik einzuladen. Bei chinabezogenen Themen verhält sich das oft anders: Zu den aktuellsten Entwicklungen in den chinesischen Gesellschaften sollen häufig

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14 China als Wissenschaft

Sinolog*innen Stellung beziehen, die der westlichen Öffentlichkeit das vorgeblich „fremde Land“ und einen angeblich „chinesischen“ Blick auf aktuelle Ereignisse erklären sollen. Das öffentliche Interesse an den Chinawissenschaften ist also ein ganz besonderes, denn ihre Praktizierenden werden von der Außenwelt politisch wahrgenommen. Über die Angemessenheit der Politisierung herrscht Uneinigkeit: Die klassische Haltung in den Wissenschaften ist es, dass diese nicht politisch sein dürften, da die empirische Nachweisbarkeit wissenschaftlicher Aussagen nicht gebunden an ideologische Anschauungen sein könnte.10 Kaum jemand hat die Politisierung der Chinastudien dagegen so explizit bejaht wie der deutsche Sinologie Heiner Roetz: Es sei schwierig, „sinologische Felder zu benennen, die nicht in der einen oder anderen Weise politisch besetzt oder besetzbar sind und damit im öffentlichen Raum relevant werden“; es ergebe sich eine „kulturvermittelnde Rolle“ und eine „Öffentlichkeitsverpflichtung der Sinologie“.11 Vor der ab 1978 einsetzenden Reformzeit standen Studierende der Chinawissenschaften im Verdacht, die Wahl ihres Studienfachs könnte mit einem Interesse am Maoismus in Verbindung stehen. In den Vereinigten Staaten gerieten zur Zeit der angeblichen „Roten Gefahr“ (1947–1957) ausgewählte Autor*innen der Sinologie und anderer Ostasienwissenschaften unter staatliche Beobachtung. Der deutsch-amerikanische Sinologe und Soziologe Karl August Wittfogel denunzierte in dieser Zeit vor einem US-Ausschuss den Japanologen Egerton Herbert Norman (1909–1957) als Kommunisten, worauf dieser letztlich durch einen Suizid starb. Die mangelnde Distanz und ideologische Nähe zum Forschungsgegenstand, hier der chinesischen Gesellschaft und Kultur, ist aber ein bereits länger anhaltender Vorwurf. Dahinter steht die Annahme, die langfristige Beschäftigung mit einem Kulturkreis würde Sympathien für diesen entstehen lassen und zur Übernahme von Denkprozessen führen, die eine kritische Beschäftigung mit der Region unterminierten. Dieses Phänomen ist älter als die „rote Gefahr“. So schrieb der Sinologe Wolfgang Franke (1912–2007) etwa von einer Forschungsreise in China nach Hause: Ich bin nun in gewisser Weise besonders ‚sinisiert‘, weil ich auf der einen Seite mich schon lange Jahre mit China beschäftigt hatte und auf der anderen Seite auch meiner Wesensart nach hier sehr gut herpasse [. . .] [Es ist ein Bestandteil meines Wesens], der mich

10 Dem entgegen steht die allgemeine Skepsis, ob Geisteswissenschaften überhaupt eine universelle „Wahrheit“ hervorbringen können. Da Poststrukturalist*innen wie Michel Foucault die Existenz einer singulären „Wahrheit“ ablehnen, halten sie auch den Gegenbegriff der „Ideologie“ für nicht ergiebig. 11 Heiner Roetz, „Philologie und Öffentlichkeit. Überlegungen zur sinologischen Hermeneutik,“ Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 26 (2002): 90, 106–107.

14.3 Herausforderungen der Chinastudien

213

befähigte, mich hier in China [. . .] so einzuleben und zuhause zu fühlen, wie es nur ziemlich wenigen Europäern möglich ist.12

Auf der einen Seite erscheint es notwendig, sich einen sprachlichen und kulturellen Zugang zum Land zu verschaffen, um nicht zu uninformierten und oberflächlichen Ergebnissen zu gelangen. Auf der anderen Seite könnten ein allzu überschwängliches Verhältnis zur „chinesischen Kultur“ Zweifel an der Unabhängigkeit und Seriosität der Forschung aufkommen lassen. Neben der Frage nach der politischen Vereinnahmung spielen auch die Problemstellungen der ethnologischen und sozialwissenschaftlichen „teilnehmenden Beobachtung“ eine Rolle, d. h. hier den Vorteil der eigenen Chinakompetenz mit einer unvoreingenommenen Analyse zu vereinbaren. Konträr zum oben aufgeführten Bild einer linksgerichteten Sinologie läuft die Kritik an einer angeblich imperialistischen Tradition der Chinastudien, die marxistische Sinolog*innen in den USA ausgemacht haben wollen. Die Regionalwissenschaften seien das Erbe nachrichtendienstlicher Bestrebungen des Kalten Krieges. Während diesem seien Informationen über Drittländer für politische Zwecke gesammelt worden. Der implizierte Kolonialismus sei von führenden Sinologen gezielt verschwiegen worden.13 Nachdem wir die öffentliche Wahrnehmung der Sinologie unter Zuhilfenahme historischer Beispiele diskutiert haben, soll das Spannungsfeld aus Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit im nächsten Kapitel vor dem Hintergrund aktueller Kontroversen weiter problematisiert werden.

14.3.2 Einflussnahmen, Finanzierung und Selbstzensur Die Post-Reformzeit der Volksrepublik China (ab 2012) zeichnet sich durch eine Schwächung der staatlichen Strukturen zu Gunsten einer Stärkung der parteilichen Institutionen aus. Das Primat der kommunistischen Partei wird unter anderem durch erhöhte Zensurbestrebungen, dem Ausbau totalitärer Überwachungsmaßnahmen und der Neuerrichtung ideologischer Umerziehungslager in den Grenzregionen gesichert. Das Einflussgebiet der Partei endet dabei nicht

12 Wolfgang Franke, Im Banne Chinas. Autobiographie eines Sinologen 1912–1950, 2. bearb. Aufl. (Dortmund: Projekt Verlag, 1997), 109. 13 Tani E Barlow, „Colonialism’s Career in Postwar China Studies,“ [Die Karriere des Kolonialismus in den Chinastudien der Nachkriegszeit] in Formations of Colonial Modernity in East Asia, hrsg. Tani E. Barlow (Durham: Duke University Press, 1997), 373–411. doi:10.1215/ 9780822399117–013.

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14 China als Wissenschaft

an der Staatsgrenze der Volksrepublik, sondern erstreckt sich graduell auch in chinabezogene Einrichtungen im Ausland. Einen Anker der staatlichen Kulturvermittlung bilden die Konfuzius-Institute, von denen seit 2004 hunderte Standpunkte eingerichtet wurden. Sie sind organisationstechnisch dem Büro für chinesische Sprachbildung (Hànbàn 漢辦) unterstellt, welches mit dem chinesischen Bildungsministerium (MoE) assoziiert ist; im Führungsgremium sitzen aber auch andere Vertreter*innen, die sich etwa aus dem Staatsrat, dem Außenministerium und dem Propagandabüro speisen. Die Konfuzius-Institute hegen den Anspruch, kulturelle, sprachliche und akademische Veranstaltungen durchzuführen, sowie Beziehungen zu vermitteln. Sie sind damit in ihrer Funktion mit den Goethe-Institutionen der Bundesrepublik Deutschland oder den British Councils des Vereinten Königreichs vergleichbar. Ein Unterschied ist, dass sie direkt an ausländische Bildungseinrichtungen, in der Regel Universitäten, angeschlossen sind und durch diese Inkorporation einen oftmals direkteren Zugang zu Angestellten und Studierenden herstellen können. Aufgrund der institutionellen Verankerung wurden die Konfuzius-Institute in der Vergangenheit von Chinawissenschaftlern als „Trojanisches Pferd“ oder „Chinesisches U-Boot“ bezeichnet.14 Dennoch ist eine Vielzahl sinologischer Einrichtungen weltweit in die finanzielle Abhängigkeit der Konfuzius-Institute geraten, indem letztere etwa den Sprachunterricht stellen, Stipendien ausschreiben, Workshops und Publikationen finanzieren, oder, wie an der Universität Göttingen, für die vollständige Besoldung einer Professur aufkommen.15 Einmal eröffnete Konfuzius-Institute werden nur selten wieder geschlossen: Die Pennsylvania State-Universität, die Universität Chicago, und die Universität Stockholm schlossen ihre Konfuzius-Institute mit dem Verweis, dass die Einrichtungen den Grundsatz der Forschungsfreiheit verletzten. Auch die Universität Leiden verlängerte ihren Vertrag mit den Konfuzius-Instituten nicht. Zusätzlich geschlossen wurde das Institut an der kanadischen McMaster-Universität, da das Berufsverbot für Mitglieder der Glaubensgemeinschaft Fǎlún gōng 法輪功 gegen Bestimmungen zur Religionsfreiheit verstieß.16 Im deutschsprachigen Raum

14 James F. Paradise, „China and International Harmony. The Role of Confucius Institutes in Bolstering Beijing’s Soft Power,“ Asian Survey 49, Nr. 4 (2009): 647–669, doi: AS.2009.49.4.647; Kai Strittmatter, „Das Schweigen der China-Kenner,“ Süddeutsche Zeitung, 10. Dezember 2010. 15 „Volksrepublik China stiftet erstmals Professuren in Deutschland,“ Georg-August-Universit ät Göttingen, veröffentlicht am 14. Oktober 2009, zugegriffen am 28. November 2018, https:// www.uni-goettingen.de/en/3240.html?archive=true&archive_source=presse&archive_id=3373. 16 Samantha Craggs, „McMaster Cuts Chinese Institute, Worried by Discrimination,“ Canadian Broadcasting Corporation, veröffentlicht am 11. Februar 2013, zuletzt modifiziert am 12. Februar 2013, zugegriffen am 23. Dezember 2018.

14.3 Herausforderungen der Chinastudien

215

wurden, womöglich auch aufgrund des Drucks zur Anwerbung von Drittmitteln, bislang keine Schließungen öffentlich diskutiert. Dennoch werden die Institute auch hierzulande nach dem sogenannten Braga-Vorfall von 2014 kritischer betrachtet: Damals zensierte das Konfuzius-Institut auf einer Tagung der europäischen Sinologie-Vereinigung (EACS) Seiten des bereits gedruckten Programmhefts, die den Namen einer taiwanischen Stiftung erwähnten.17 In den meisten Fällen wird das Sagbare in den Chinawissenschaften aber nicht aktiv zensiert, sondern durch die Beteiligten selbst eingeschränkt. 2018 zogen beispielsweise zwei westliche Sinologen ihre Artikel aus der wissenschaftlichen Zeitschrift The China Quarterly zurück, da in derselben Ausgabe ein Artikel über Kontrollmaßnahmen der festlandchinesischen Regierung gegen Minderheiten der Provinz Xinjiang erscheinen sollte. Da die Autoren nicht in einem Rahmen mit dem regierungskritischen Text publizieren wollten, konnte letztlich das gesamte Journal wegen mangelnder Artikelanzahl nicht gedruckt werden.18 In Interviews begründen US-Forscher*innen ihre Selbstzensur mit der Sorge vor Entzug der Einreiseerlaubnis; mit Zweifel an Bewerbungsaussichten an Universitäten, die finanziell von chinesischen Studierenden und Austauschprogrammen abhängig sind; sowie mit Angst vor politischer Verfolgung der an Feldforschungen beteiligten chinesischen Informant*innen oder der in der VR China lebenden Familienmitglieder der Forscher*innen.19 Forschungsanträge zu kontroversen Themen werden oftmals gar nicht erst gestellt, da die Chancen auf Bewilligung von Drittmittelgeldern und eine anschließende Realisierung als gering eingeschätzt werden.20 Die Sorgen der Wissenschaftler*innen beeinflussen nicht nur die Forschung, sondern auch Unterrichtsinhalte, Netzwerke und Panels. Für Chinawissenschaftler*innen kann eine kritische Auseinandersetzung mit der politischen Führung der Volksrepublik zwar tatsächlich negative Auswirkungen für den Zugang zum Forschungsfeld haben. So wurde dem Bochumer Sinologen Helmut Martin (1940–1999) die Einreise in die Volksrepublik lebenslang verwehrt, nachdem dieser Kontakt zu 17 Ein Presseecho findet sich auf den Seiten der EACS: „The ‘Braga Incident’ – Timeline with Links to Articles and Comments,“ European Association for Chinese Studies, veröffentlicht 31. August 2014, zugegriffen am 23. Dezember 2018, http://chinesestudies.eu/?p=609. 18 Phila Siu, „What’s the ‘Dirty Secret’ of Western Academics Who Self-censor Work on China?,“ South China Morning Post, veröffentlicht am 21. April 2018, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://www.scmp.com/week-asia/politics/article/2142643/whats-dirty-secret-westernacademics-who-self-censor-work-china. 19 Anastasya Lloyd-Damnjanovic, A Preliminary Study of PRC Political Influence and Interference Activities in American Higher Education (Washington, D.C.: Wilson Center, 2018): 64–66, 72–75. 20 Ebenda: 66–68.

216

14 China als Wissenschaft

chinesischen Dissident*innen suchte. Gleichzeitig gibt es aber auch Chinawissenschaftler*innen, die Forschung zu politischem Dissens betreiben und in der Vergangenheit dennoch schadlos in die Volksrepublik einreisen konnten.21 Innerhalb der Volksrepublik China ist das Sagbare in den Chinastudien ohnehin eingeschränkt. Zum einem sind chinesische Sinolog*innen zur Selbstzensur angehalten, denn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sensiblen Themen, etwa dem Komplex der Menschenwürde oder der Kulturrevolution, kann zu Unterrichts- und Publikationsverboten führen.22 Aber auch ausländische wissenschaftliche Verlage setzen aus finanziellen Interessen auf Selbstzensur in der Volksrepublik China: So lässt seit 2017 der Springer Nature-Verlag (nicht mit dem gleichnamigen deutschen Boulevardverlag zu verwechseln) für chinesische Leser*innen nur noch den Zugriff auf politisch ungefährliche Publikationen zu. Im gleichen Jahr blockierte auch die Cambridge University Press den Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln, die sensible Themen besprechen, revidierte seine Entscheidung aber nach Boykott-Aufrufen ausländischer Wissenschaftler*innen.23 Der britische Verlag Taylor and Francis importiert seit 2018 achtzig kritische Journale nicht mehr in die Volksrepublik.24 Kritische Forschungsarbeiten, etwa zu sozialer Ungleichheit, werden zwar auch weiterhin in

21 Zum Beispiel zeigt sich der durch seine harsche Kritik am festlandchinesischen Regime bekannte niederländische Historiker Frank Dikötter (geb. 1961) im Interview überrascht, dass ihm Einreisegenehmigungen gewährt wurden: Fionnuala McHugh, „What Drives Frank Dikötter, Chronicler of China’s Insanity?,“ South China Morning Post, veröffentlicht am 23. Juni 2016, modifiziert am 25. Juni 2016, zugegriffen am 23. Dezember 2018, https://www.scmp.com/maga zines/post-magazine/long-reads/article/1979870/what-drives-frank-dikotter-chronicler-chinas. 22 Für Beispiele, vgl. Raymond Li, „Seven Subjects Off Limits for Teaching, Chinese Universities Told,“ South China Morning Post, veröffentlicht am 10. Mai 2013, aktualisiert am 29. August 2013, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://www.scmp.com/news/china/article/ 1234453/seven-subjects-limits-teaching-chinese-universities-told; Human Rights Watch, World Report 2018. Events of 2017 (USA: Human Rights Watch, 2017): 142; Siu-san Wong et al., „Chinese Lecturer Fired For Raising Presidential Term-Limit in Class,“ Radio Free Asia, veröffentlicht am 21. Mai 2018, zugegriffen am 13. Januar 2019. 23 Sarah Zheng, „Cambridge University Press Reverses Block on Banned Articles on China, Decides Not to Kowtow to Beijing,“ South China Morning Post, veröffentlicht am 21. August 2017, aktualisiert am 22. August 2017, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://www.scmp. com/news/china/policies-politics/article/2107695/cambridge-university-press-reversesdecision-block. 24 Christian Shepherd, „British Publisher Pulls Academic Journals from China after Government Complaint,“ Reuters, veröffentlicht am 24. Dezember 2018, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://www.reuters.com/article/us-china-censorship/british-publisher-pulls-academicjournals-from-china-after-government-complaint-idUSKCN1ON0IY.

14.3 Herausforderungen der Chinastudien

217

der VR China veröffentlicht, doch kann aufgrund der Zensur von Quellen und Sekundärliteratur allgemein nicht von akademischer Freiheit gesprochen werden. Auch Studierende stehen zunehmend unter dem Einfluss der chinesischen Partei. Im Ausland haben sich Zellen der kommunistischen Partei Chinas gegründet, die über chinesische Studierende wachen und Anzeichen einer parteikritischen Haltung melden.25 Die Zellen organisieren auch Aktionen gegen Dozierende, die das politische System der Volksrepublik in ihrem Unterricht kritisch besprechen oder Taiwan als souveränen Staat darstellen.26 In den letzten Jahren ist zudem eine gestiegene geheimdienstliche Einflussnahme auf die einheimischen Studierenden der Gastländer zu beobachten. Das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz warnt, dass das chinesische Ministerium für Staatssicherheit aktiv versuche, chinabezogene Studierende und Dozierende als Informant*innen anzuwerben. Der Kontaktaufbau erfolge dabei in der Regel nicht mehr klassisch auf Konferenzen, sondern unter einem Vorwand über die sozialen Netzwerke im Internet. Studierenden werde beispielsweise angeboten, gegen finanzielle Entschädigung Übersetzungen anzufertigen oder Artikel zu schreiben, um nach einer Festigung der Beziehungen in weiteren Schritten eine Bewerbung an politischen Institutionen und die Beschaffung geheimdienstlich relevanter Informationen finanziell zu entlohnen. Nach Angaben des deutschen Verfassungsschutzes sei es alleine über die Karriereplattform LinkedIn zu einer fünfstelligen Zahl von Kontaktaufnahmen gekommen. Betroffene seien später vor deutschen Gerichten wegen Spionage angeklagt und verurteilt worden.27

25 Stephanie Saul, „On Campuses Far From China, Still Under Beijing’s Watchful Eye,“ The New York Times, veröffentlicht am 4. Mai 2017, zugegriffen am 13. Januar 2019, https:// www.nytimes.com/2017/05/04/us/chinese-students-western-campuses-china-influence. html; Bethany Allen-Ebrahimian, „China’s Long Arm Reaches into American Campuses,“ Foreign Policy, veröffentlicht am 7. März 2018, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://foreignpo licy.com/2018/03/07/chinas-long-arm-reaches-into-american-campuses-chinese-students-scholars -association-university-communist-party/; Lloyd-Damnjanovic: 75–77. 26 Vgl. z. B. Gwyneth Ho, „Why Australian Universities Have Upset Chinese Students,“ BBC, veröffentlicht am 5. September 2017, zugegriffen am 13. Januar 2019, https://www.bbc.com/ news/world-australia-41104634. Für eine detaillierte Diskussion, vgl. Clive Hamilton, Silent Invasion. China’s Influence in Australia (Melbourne: Hardie Grant, 2018). Der ursprüngliche Verleger Allen & Unwin zog den Publikationsvertrag aufgrund Angst vor „Angriffen aus Peking“ zurück. 27 „Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Visier chinesischer Geheimdienste,“ Bundesamt für Verfassungsschutz, Pressemitteilung, April 2016, zugegriffen am 29. Juli 2018, https://www.verfassungsschutz.de/download/faltblatt-2016-04-studierendegeheimdienst-china.pdf.

218

14 China als Wissenschaft

Insgesamt hat dieses Unterkapitel gezeigt, dass sich die Chinastudien als Wissenschaft einer Diskussion um potentielle Einflussnahmen und Selbstzensur nicht verschließen können. Zur Ausbildung neuer Sinolog*innen gehört daher das Bewusstsein, sich in einem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und Öffentlichkeit und Politik auf der anderen Seite zu befinden. Der Umgang mit dieser Situation ist gleichzeitig Aufgabe der Individuen als auch der Disziplin insgesamt.

14.4 Fazit Der wissenschaftliche Umgang mit der Region und den Kulturen Chinas ist historisch gewachsen und reicht bis vor die Entstehung der eigentlichen Disziplin der Sinologie. Während die Sinologie gerade in Europa zunächst stark philologisch geprägt war, ist sie heute zu einer Regionalwissenschaft geworden, die sich den Methoden unterschiedlichster Fächer und Disziplinen bedient. Entwicklungen im Ausland lassen erwarten, dass Chinakompetenz zukünftig nicht mehr ausschließlich an ostasiatischen Instituten zu finden sein wird, sondern auch Bestandteil anderer Fächer werden wird. Während die Frage nach der Politisierung der Sinologie, also ihrer Funktion für die Öffentlichkeit, Gegenstand von Diskussionen und unterschiedlichen Betrachtungen bleiben wird, ist umgekehrt nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Sinologie selbst längst Gegenstand der Politik geworden ist. Die Zukunft der Chinastudien hängt damit nicht nur von ihrer zukünftigen thematischen Ausrichtung ab, sondern auch davon, wie sie auf institutioneller Ebene mit den Interessen verschiedener politischer Handlungsträger umgeht.

14.5 Begriffe Hànstudien – (Hànxué 漢學) Ursprünglich eine philologische Tradition in China, später eine Übersetzung für die (ausländische) Sinologie Konfuzius-Institut – Staatliche Bildungsorganisationen im Ausland, die der Verbreitung chinesischer Kultur und Sprache dienen sollen Landeskunde – ( guóxué 國學) Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem jeweils eigenen Land, d. h. in diesem Fall mit China Sinologie – Wissenschaftliche Disziplin der Chinastudien, heute vermehrt den Regionalwissenschaften zugeordnet

14.7 Transferaufgaben

219

14.6 Vorschläge zur Vertiefung Clart, Philip und Steffi Richter (Hrsg.). Perspektiven der China- und Japanforschung gestern und heute: 100 Jahre Ostasiatisches Institut an der Universität Leipzig. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2016. Kramer, Stefan (Hrsg.). Sinologie und Chinastudien. Eine Einführung. Tübingen: Narr, 2013. Lloyd-Damnjanovic, Anastasya. A Preliminary Study of PRC Political Influence and Interference Activities in American Higher Education. Washington, D.C.: Wilson Center, 2018. Maasen, Sabine, Mario Kaiser, Martin Reinhart und Barbara Sutter (Hrsg.). Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, 2002. doi: 10.1007/978-3-531-18918-5_1. Roetz, Heiner. „Die Chinawissenschaften und die chinesischen Dissidenten: Wer betreibt die 'Komplizenschaft mit der Macht'?“ Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 35 (2011): 47–79.

14.7 Transferaufgaben 14.7.1 Koryphäen ihrer Zunft Listen Sie die im Text genannten (Proto-)Sinologen auf und notieren Sie sich stichwortartig, wofür sie bekannt geworden sind. 14.7.2 Chinastudien vor Ort Recherchieren Sie die Geschichte der Chinastudien an Ihrer Universität. Welche Lehrstuhlinhaber*innen hat es gegeben und was waren ihre Forschungsschwerpunkte? Welche Anknüpfungspunkte zu anderen Disziplinen und welche Relevanz für gesellschaftliche Fragestellungen ergeben oder ergaben sich aus den Forschungsbereichen und einzelnen Forschungsprojekten?

14.7.3 Die Rolle der Sinologie Sollte die Sinologie rein akademisch arbeiten oder auch in der Öffentlichkeit kulturvermittelnd tätig werden? Ist sie berechtigt oder gar in der Pflicht, zu tagespolitischen Themen öffentlich Stellung zu beziehen? Welche Rolle sollte die Sinologie als Wissenschaft Ihrer Meinung nach einnehmen?

Anhang

222

Zeittafel

Zeittafel Dynastische Periodisierung Angebliche Xià-Dynastie (ca. – v. u. Z.) Shāng-Dynastie (ca. – v. u. Z.)

Marxistische Politische Periodisierung Periodisierung (Garnet) –

Sklavenhaltergesellschaft

Archaische Palastgesellschaft

Zhōu-Dynastie (ca. – v. u. Z.)

Fürstenstaat

Qín-Dynastie (– v. u. Z.)

Zentralstaat

Hàn-Dynastie ( v. u. Z.– u. Z.)

Dezentraler Feudalismus

Sechs Dynastien (–)

Expansion, Aufstieg der Gentry Sino-barbarische Aristokratie

Suí-Dynastie (–) Wiedervereinigung, Aristokratenreich im Übergang zur Mandarinenherrschaft

Táng-Dynastie (–) Fünf Dynastien (–) Sòng-Dynastie (–) Yuán-Dynastie (–)

Chinesische „Renaissance“ Bürokratischer Mongolenherrschaft Feudalismus

Míng-Dynastie (–)

Autokratie Aufgeklärtes Despotentum

Qīng-Dynastie (–)

Rezession, gescheiterte Modernisierungen

Republikzeit (–)

Kapitalismus

„Gedemütigtes“ China

Volksrepublik seit 

Sozialismus

Volksrepublik

Idee für dieses Schaubild: Lee, Angela A. „Periodization and Historical Patterns in Chinese History: Approaches to Historical Thinking Skills in AP World History.“ Education About Asia 21, Nr. 1 (2016): 62–65.

https://doi.org/10.1515/9783110665024-016

Zeittafel

Sozio-ökonomische Periodisierung (Elvin)

Meilensteine

 v. u. Z. – Èrlǐtou: Zentralisierte Bronzekultur –

Frühe Reiche, Beständige Landwirtschaft

 v. u. Z. – Späte Shāng: Hegemonialsystem, Schrift

 v. u. Z. – Reichseinigung: Standardisierung, graduelle Kulturgenese

Fragmentierung, Sino-barbarische Synthese

 – Staatlich regulierte Landverteilung (jūntián)

Staatliche Verwaltung des Landbesitzes

 – Institutionalisierung der Palastprüfungen

Grundherrschaft, Mittelalterliche Revolutionen in den Bereichen Landwirtschaft, Wassertransport, Geld, Kredit, Markt, Wissenschaft und Technik Roheisen-Produktion, Schießpulver, ökonomische Abschließung, Öffnung und Niedergang

Gilden, Kommerzialisierung

Ab  – Táng-Sòng-Übergang: Aristokratie zu Autokratie, Protonationalisierung

 – Annexion Chinas durch die Mongolei Ab  – Silberhandel: Neue Flüsse am Weltmarkt  – Mandschu-Reich erobert Beijing  – Ende Opiumkrieg: Machtgewinn des Westens – – Xīnhài-Revolution: Ende des Kaisertums



 – Ausrufung der Volksrepublik China

223

Leitfäden 1 Leitfaden zur Formatierung und zur Typografie 1.1 Formatierung – Dozent*innen-Vorgabe zu Schriftart, Schriftgröße, Seitenrändern und Zeilenumbruch beachten. Gewöhnlich Schriftgröße 12 pt; Zeilenabstand 1,5 Zeilen; Rand 2,5 cm links, 2,5 cm rechts, 2 cm oben und unten – Fließtext immer im Blocksatz – Eingeschaltete Silbentrennung vermeidet große Lücken – Seitenzählung beginnt erst nach dem Frontmatter – Hyperlinks deaktivieren – Blockzitate (Zitate, die sich über mindestens drei Zeilen erstecken) einschieben und Schriftgröße verkleinern – Werke, die im Fließtext Erwähnung finden, folgen in ihrem Format dem gewählten bibliografischen Stil (d. h. in der Regel Monografien kursiv, Artikelnamen in Anführungszeichen): „Auf dem Musikalbum Tin Drum diskutiert das Lied „Visions of China“ chinesische Nationalismen zur Zeit des Maoismus.“ – Grafische Abbildungen benötigen Urheber- und Quellenverweise – Bilddateien sollten über genügend Bildpunkte (Richtwert 300 dpi) verfügen – Keine doppelten Umbrüche zur Trennung von Absätzen; stattdessen Einschübe und Zeilenabstände nutzen – Wird die Prüfung digital versendet, sollte die Datei, wenn nicht anders verlangt, als PDF vorliegen. Sowohl Dateiname als auch Email-Betreff sollten sinnvoll benannt werden (Prüfungsart, Nachname der*s Studierenden, Veranstaltungstitel, Jahresangabe)

1.2 Typografie – Anführungszeichen besitzen im Deutschen die Serifenform 99/66 („ . . . “), im Englischen die Serifenform 66/99 (“ . . . ”). Es zählt hierbei die Metasprache Ihrer Arbeit, nicht die Sprache des zitierten Texts – Halbe Anführungszeichen (‚ . . . ‘ bzw. ‘ . . . ’) für Anführungszeichen innerhalb von Zitaten („Nach der Urteilsverkündung rief sie, Revolution sei ‚kein Verbrechen‘“) und für originäre Betonungen und Begriffe („hierzu möchte ich den Begriff des ‚Starbucks-Effekts‘, welcher die Kausalität zwischen Immobilienpreisen und angrenzenden Cafés beschreiben soll, neu in die Forschung einführen“) https://doi.org/10.1515/9783110665024-017

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Leitfäden

– Kommas stehen im Englischen im Zitat, im Deutschen außerhalb des Zitats („She said: ‘I don’t think so,’ then she sat down” versus „Sie sagte: ‚Ich denke nicht‘, dann setzte sie sich“). – Apostroph (d’Azur), Akzent/Akut (é, steht nie als „´“ alleine) und öffnende halbe Anführungszeichen (‘) unterscheiden – Possessives „s“ engl. mit Apostroph, aber im Deutschen ohne („Johanna’s gift“ vs. „Johannas Geschenk“) – Zahlen bis zwölf und alle Zehner ausschreiben (z. B. „zwölf Erdnüsse“), ansonsten als arabische Ziffern wiedergeben (z. B. „13 Walnüsse“) – Drei Punkte zur Auslassung sind ein eigenes Zeichen (Strg + Alt + .): „ . . . “ – Leerzeichen nicht vergessen; doppelte Leerzeichen vermeiden – Es kann unter Umständen sinnvoll sein, Begriffe zusätzlich in anderen Schriftsystemen darzustellen (z. B. chinesische Zeichen). Vorrang haben aber immer die unerlässlichen Transkriptionen in das Schriftsystem der wissenschaftlichen Arbeit (i. d. R. Hanyu Pinyin) – Viertelgeviertstrich (-) für Wortzusammensetzungen („Apple-Computer“, „H-Milch“) – Halbgeviertstrich (–) für Spannen der Zeit („1990–1992“), des Raums („Shanghai–Peking“) oder abstrakt („Seite 21–42“, „Schillerstraße 2–4“), sowie im Englischen für Gegensätze („black–white“) – Geviertstrich (––) für Parenthesen im Englischen („the election—which I thought would finally bring peace—just let to even more chaos“) – Doppelgeviertstrich (––––) für Auslassungen (z. B. doppelte Autor*innennennung in der Bibliografie) – Fremdsprachige Begriffe werden kursiv geschrieben, aber nicht, wenn es sich um Personennamen, Orte oder bereits lexikalisierte Begriffe handelt („Li Lianjie, geboren in Beijing, praktiziert Kung-Fu, auch wǔshù genannt“)

2 Leitfaden zum Wissenschaftlichen Stil 1.

2.

Vermeiden Sie zu lange Zitate. Binden Sie Zitate durch indirekte Rede in den Kontext Ihres Aufsatzes ein. Zitieren Sie nur, wenn Sie einen Mehrgewinn durch den genauen Wortlaut des Originals erwarten. Zitieren Sie eine Primärquelle nicht aus der Sekundärliteratur, wenn diese dort weder in der Originalsprache, noch in der Sprache Ihrer Arbeit erhalten ist, sondern in eine dritte Sprache übersetzt wurde. Vermeiden Sie Euphemismen. Überlegen Sie, ob Formulierungen wie „Trostfrauen“ oder „Zwischenfall vom 4. Juni“ politisch motiviert sein könnten und einer akademischen Betrachtung daher nicht gerecht werden.

Leitfäden

3.

4.

5.

6.

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12.

13.

14.

15.

227

Vermeiden Sie journalistischen Stil. Eine akademische Arbeit ist keine Reportage. Statt des Stilmittels der historischen Gegenwart nutzen Sie die korrekte Zeitform, in der Regel das Präteritum. Vermeiden Sie literarischen Stil. Akademische Texte fesseln den Leser nicht durch Spannungsaufbau und Ausschmückungen, sondern durch eine präzise Analyse des Forschungsgegenstandes. Vermeiden Sie unpräzise Verben. Alle Prozesse können „entstehen“, „gemacht“ oder „getan“ werden. Verwenden Sie stattdessen Verben, die Aufschluss über die Art der Handlung geben. Vermeiden Sie nicht quantifizierbare Adjektive. Angaben wie „lange“, „früher“, „viel“ oder „extrem“ sind unpräzise und nicht objektiv nachvollziehbar. Verwenden Sie stattdessen konkrete Maßangaben. Vermeiden Sie unnötigen Fachjargon. Wissenschaft lebt von der Teilhabe. Verwenden Sie nur so viele Fachwörter wie nötig und schreiben Sie so verständlich wie möglich, damit Ihr Text zugänglich bleibt. Vermeiden Sie Umgangssprache. Ein seriöser Stil verleiht Ihrem Text Autorität. Obwohl viele Fremdwörter inzwischen lexikalisiert sind, sollten Sie eine „TV-Show“ lieber als „Fernsehsendung“ bezeichnen. Vermeiden Sie Passiv. Jede Handlung besitzt eine*n Urheber*in. Machen Sie diese*n zum Subjekt. Achtung: „Die Politiker“, „die Wirtschaft“, „man“, „China“, „es“ etc. sind zu abstrakt, um Handlungsträger zu sein. Vermeiden Sie den unbedachten Umgang mit soziopolitisch konnotierten Begriffen. Schreiben Sie geschlechtergerecht und überprüfen Sie die Konnotation von Begriffen wie „Indianer“ oder „Dritte Welt“. Vermeiden Sie undifferenzierte Aussagen. Neue Universalgesetze werden Sie selten finden. Statt generalisierende Aussagen über „die Chinesen“ zu treffen, differenzieren Sie und schränken Sie ein. Vermeiden Sie Anachronismen. Überlegen Sie sich, welche Kategorien und Begriffe Sie auf historische Gegebenheiten anwenden können. In der Antike gab es weder den Nationalstaat noch die Psychiatrie. Vermeiden Sie hinkende Vergleiche und Kategorienfehler. Verknüpfen Sie nur Wörter eines Wortfelds. Verläuft die Geschichte wirklich „von der Antike bis zur Demokratie“, sind Menschen wirklich „männlich oder homosexuell“? Vermeiden Sie das Verheimlichen angrenzender Forschung. Statt die Leser*innen durch vermeintliche Originalität zu beeindrucken, können Sie sie besser durch Offenlegung Ihrer Belesenheit überzeugen. Vermeiden Sie Plagiate. Belegen Sie nicht nur Zitate, sondern auch Gedankengänge, die Sie aufgreifen und weiterverarbeiten. Plagiate können zur Exmatrikulation führen.

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Leitfäden

3 Leitfaden zur Chicaco-Zitation (CMOS) 3.1 Monografien – Autor-Jahr-Zitierweise: (Smith 2016, 315–60) – Fußnoten-Zitierweise, erste Nennung: Zadie Smith, Swing Time (New York: Penguin Press, 2016), 315–16. – Fußnoten-Zitierweise, folgende Nennungen: Smith, Swing Time, 320. – Bibliografie: Smith, Zadie. Swing Time. New York: Penguin Press, 2016.

3.2 Aufsatz – Autor-Jahr-Zitierweise: (Keng, Lin und Orazem 2017, 9–10) – Fußnoten-Zitierweise, erste Nennung: Shao-Hsun Keng, Chun-Hung Lin und Peter F. Orazem, „Expanding College Access in Taiwan, 1978–2014: Effects on Graduate Quality and Income Inequality,“ Journal of Human Capital 11, Nr. 1 (2017): 9–10, https://doi.org/10. 1086/690235. – Fußnoten-Zitierweise, folgende Nennungen: Keng, Lin und Orazem, „Expanding College Access,“ 23. – Bibliografie: Keng, Shao-Hsun, Chun-Hung Lin und Peter F. Orazem. „Expanding College Access in Taiwan, 1978–2014: Effects on Graduate Quality and Income Inequality.“ Journal of Human Capital 11, Nr. 1 (2017): 1–34. https://doi.org/ 10.1086/690235.

3.3 Kapitel in einem Sammelband – Autor-Jahr-Zitierweise: (Thoreau 2016, 177–78) – Fußnoten-Zitierweise, erste Nennung: Henry David Thoreau, „Walking,“ in The Making of the American Essay, hrsg. John D’Agata (Minneapolis: Graywolf Press, 2016), 177–78.

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– Fußnoten-Zitierweise, folgende Nennungen: Thoreau, „Walking,“ 182. – Bibliografie: Thoreau, Henry David. „Walking.“ In The Making of the American Essay, herausgegeben von John D’Agata, 167–95. Minneapolis: Graywolf Press, 2016.

3.4 Webseite Quellen werden nur als Webseiten zitiert, wenn sie keinem anderen Quellentyp angehören. Meistens sind Webseiten Primärquellen: Sie wollen zum Beispiel in einer Arbeit untersuchen, wie sich Institute online präsentieren. Nur selten sind Webseiten Sekundärliteratur. Online-Enzyklopädien sollten Sie nicht zitieren, sondern stattdessen auf entsprechende wissenschaftliche Literatur zurückgreifen. Verwertbare Literatur, die Sie online finden, sind in aller Regel keine Webseiten im eigentlichen Sinne, sondern hochgeladene Monografien, wissenschaftliche Aufsätze oder Zeitungsartikel. Diese dürfen Sie nicht als einfache Webseite zitieren, sondern müssen den Zitierstil wählen, der zu dem jeweiligen Quellentyp passt. – Autor-Jahr-Zitierweise: (Universität Leipzig 2017) – Fußnoten-Zitierweise, erste Nennung: „Institutsgeschichte der Leipziger Sinologie,“ Universität Leipzig, zuletzt aktualisiert am 5. Dezember 2017, zugegriffen am 1. Mai 2018, http://sinolo gie.gko.uni-leipzig.de/institut/geschichte. – Fußnoten-Zitierweise, folgende Nennungen: „Institutsgeschichte.“ – Bibliografie: Universität Leipzig. „Institutsgeschichte der Leipziger Sinologie.“ Zuletzt aktualisiert am 5. Dezember 2017, zugegriffen am 1. Mai 2018. http://sinolo gie.gko.uni-leipzig.de/institut/geschichte

3.5 Weiterführende Literatur Dieser Leitfaden behandelt nur die häufigsten Zitationsfälle. Weitere Fälle und Beispiele finden Sie unter http://chicagomanualofstyle.org/tools_citationguide. html, ausführlich im gedruckten Chicago Manual of Style oder kürzer in A Manual for Writers of Research Papers, Theses, and Dissertations.

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Leitfäden

3.6 Chinesische Quellenangaben – Name und Vorname des Autors werden erst in latinisierter Form, dann in Chinesisch angegeben. – Chinesische Namen in Chinesischer Schrift: Der Nachname wird nicht mit Komma getrennt. – Der Titel des Werkes wird erst in lateinischer Umschrift, dann in Chinesisch angegeben. In eckigen Klammern folgt die Übersetzung des Titels in die Sprache der Arbeit (deutsch oder englisch). Der Name des Journals wird nicht mit einer Übersetzung versehen. – Verlagsort und Verlag werden nur in lateinischer Umschrift angegeben.

3.6.1 Monografie Hao, Chunwen 郝春文. Tang houqi wudai Songchu Dunhuang sengni de shehui shenghuo 唐后期五代宋初敦煌僧尼的社会生活 [Das Sozialleben der Mönche und Nonnen in Dunhuang zur Zeit der späten Tang, der Fünf Dynastien und der frühen Song]. Beijing: Zhongguo shehui kexue chubanshe, 1998.

3.6.2 Kapitel in einem Sammelband Du, Weisheng 杜伟生. „Dunhuang yishu yongzhi gaikuang ji qianxi“ 敦煌遗书用 纸概况及浅析 [Analyse und Beschreibung der Papiernutzung in den DunhuangManuskripten]. In Rongshe yu chuangxin: guoji Dunhuang xiangmu diliuci huiyi lunwenji 融攝与创新: 国际敦煌项目第六次会议论文集 [Tradition und Innovation. Tagungsband der sechsten Konferenz des internationalen DunhuangProjekts], herausgegeben von Lin Shitian 林世田 und Alastair Morrison, 67–84. Beijing: Beijing tushuguan chubanshe, 2007.

3.6.3 Aufsatz Hua, Linfu 华林甫. „Qingdai yilai Sanxia diqu shuihan zaihai de chubu yanjiu“ 清代以来三峡地区水旱灾害的初步研究 [Präliminäre Studie zu Fluten und Ebben in der Drei-Schluchten-Region seit der Qing-Dynastie]. Zhongguo shehui kexue 中 国社会科学 1 (1999): 168–79.

Leitfäden

231

3.6.4 Beispiel Webseite Staatsrat der VR China 国务院. „Quanmian zhengque lijie shehuizhuyi xinnongcun jianshe“ 全面正确理解社会主义新农村建设 [Die Errichtung sozialistischer neuer Dörfer vollständig und korrekt verstehen]. Zuletzt aktualisiert am 15. März 2006, zugegriffen am 10. August 2011. http://www.gov.cn/node_11140/ 2006–03/15/content_227640.htm.

4 Umschriftstabelle Hanyu Pinyin/ Wade-Giles 4.1 Anlaute Hanyu Pinyin

Wade-Giles

b

p

p

p’

d

t

t

t’

g

k

k

k’

z

ts

zi

tzu

c

ts’

ci

tz’u

zh/j

ch

ch/q

ch’

x

hs

r

j

232

Leitfäden

4.2 Auslaute Hanyu Pinyin

Wade-Giles

-ie

-ieh

-ian

-ien

-ong

-ung

yun

yün

-e (Silbenende)

-eh

-e (nach k/g)

-o

ye

yeh

yan

yen

you

yu

yu



kui

k’uei

gui

kuei

-ue/-üe

-üeh

-i (zh/ch/r/sh)

-ih

yi (alleinstehend)

i

si

ssu

-uan

-uan/-üan

er

erh

-uo* *nach d/t/n/l/ zh/ch/sh/r/z/c/s

-o* *nach t/t’/n/l /ch/ch’/j/ts/ ts’/s

Leitfäden

233

4.3 Töne Hanyu Pinyin

Wade-Giles

ā

a

á

a

ǎ

a

à

a

a

a

4.4 Silbentrennung Hanyu Pinyin

Wade-Giles

Dèng Xiǎopíng

Teng Hsiao-p’ing

5 Leitfaden für Präsentationen 5.1 Vermeiden Sie das Auftreten technischer Probleme – Vorbereitung: Benötigen Sie einen Computer oder genügt das Mitbringen eines USB-Sticks? Falls Sie einen eigenen Computer mitbringen müssen: Sind die im Seminarraum vorhandenen Videokabel mit Ihrem Computer kompatibel (VGA/DVI/HDMI/DisplayPort)? Öffnen Sie Ihre Präsentation vor Beginn des Unterrichts. – Kompatibilität: Speichern Sie Ihre Präsentation in dem gängigsten Format (Microsoft PowerPoint, nicht OpenOffice o. ä.) sowie sicherheitshalber zusätzlich als PDF-Datei. 5.2 Respektieren Sie Ihr Publikum – Vortragsstil: Freien Vorträgen lässt sich einfacher folgen als Vorlesungen. Ein freier Vortragsstil zeigt, dass Sie sich in Ihrem Thema souverän

234









Leitfäden

bewegen können. Zudem neigen vorformulierte Notizen zu einem schriftsprachlichen Stil und langen Sätzen, denen nur schwer zu folgen ist. Blickrichtung: Sorgen Sie dafür, dass sich alle Zuhörer*innen angesprochen fühlen. Richten Sie ihren Blick regelmäßig auf das Publikum, fokussieren Sie sich dabei aber nicht durchgängig auf eine Person. Es kann hilfreich sein, sich im Raum zu bewegen. Informationen: Ihr Publikum besteht nicht aus Expert*innen. Überlegen Sie sich, welches Wissen Sie voraussetzen können und erklären Sie Hintergrundinformationen und Fachterme. Zeitplanung: Respektieren Sie den vorher festgelegten Zeitrahmen. Halten Sie Ihren Vortrag zu Hause Probe und prüfen Sie die Zeit. Halten Sie während Ihres Vortrags Ihre Referatsstruktur im Hinterkopf, um bei Zeitnot einen Teil des Mittelteils überspringen zu können, statt abgebrochen zu werden und Ihr Ergebnis nicht mehr vortragen zu können. Publikumsfragen: Versuchen Sie, Fragen präzise zu beantworten und fehlende Kenntnisse einzuräumen. Missbrauchen Sie Ihre Antwortzeit nicht für eine Fortsetzung Ihres Vortrags. Lassen Sie Ihre letzte Folie mit den Ergebnissen geöffnet, um dem Publikum Orientierung zu bieten.

5.3 Folien sollen den Vortrag unterstützen, statt von ihm abzulenken – Übersichtlichkeit: Beschränken Sie sich auf Ihren Folien auf wichtige Stichworte und Ihren Vortrag unterstützende Abbildungen. Auf keinen Fall sollten Ihre Folien ein ausformuliertes Transkript Ihres Vortrags darstellen. – Lesbarkeit: Ihre Folien sollten gut lesbar sein; hohe Kontrastwerte und eine große Schriftgröße sind dabei hilfreich. Das Bildschirmformat 16:9 ist heutzutage Standard. – Neutralität: Vermeiden Sie „Spielereien“ wie aufwendige Folienübergänge und sonstige Animationen. Die Wahl einer gewöhnlichen Schriftart verringert das Risiko von Darstellungsfehlern. – Korrektheit: Überprüfen Sie die Sprache auf Ihren Folien; nichts lenkt Zuhörer*innen mehr ab als Rechtschreib- und Grammatikfehler. – Thesenpapier: Formulieren Sie stichwortartig die wichtigsten Inhalte, Erkenntnisse und Quellen Ihres Vortrags. Drucken Sie das maximal eine Seite lange Handout in hinreichender Menge aus.

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Register Aberglaube 128 Abendland 143, 208 Aborigines 194 Acer 宏碁 180 ACG 163 Afrika 166 Afrikanistik 40 Ài, Wèiwèi 艾未未 157 Akademie der Sozialwissenschaften 151 Akkulturation 95 Aksai Chin 13 Akteur*innen 38, 45, 120, 133 Allgemeine Sprachwissenschaft 98 Alltagssprache 101 Alphabetisierung 143 Altertum 50, 53 Amerikanischer Traum 165 Ämter 73 Analecta siehe Lúnyǔ Analyse 26, 31, 36 f., 41, 44, 49, 58–60, 64, 94, 96–99, 106, 131 f., 134, 167, 171 f., 183 Andere, das siehe Other Angebot und Nachfrage 145, 172 Angewandte Sprachwissenschaft 99 Angst 10, 62, 145, 167, 202, 215, 217 Anthologie 52 Antijapanische Bewegung 54 Antike 22, 175, 206 f. Arabien 6, 90, 181, 188 Arbeit 27, 60, 92, 116 f., 135, 141, 150, 153 f., 171 f., 174 f., 178, 183 – Arbeitsbedingungen 113, 148 Arithmetik 186 Archäologie 32 Archiv 199, 248 ASEAN 177 Asiatische Werte 12 Astrologie 52 Astronomie 52, 207 Asus 華碩 180 Aufklärung 61, 173, 205, 208 Aufzeichnungen des Historiographen siehe Shǐjì https://doi.org/10.1515/9783110665024-019

Äußere Zone 193 f., 202 Authentizität 24 auteur 162 Autobiografie 25 Autonome Regionen 100 Autoritarismus 172, 201 Autororientierte Theorie 58 Ballade 50 Bao, Hongwei 235 Barbaren 194–196, 223 f. Barbie 116 Bauern 76, 119, 152 f., 176, 188 Beamtenkandidat siehe Beamtenprüfung Beamtenprüfung 52, 85, 184, 223 Beamtentum 72, 76 Beauvoir, Simone de 126, 235 Bedeutungslehre 98 Befragung 109, 111, 120 f. Begründungsnarrativ 94 Běi, Dǎo 北岛 56 Běidǒu 北斗 182 Beijinger Konsens 199 Běiyáng siehe China, Republik Belletristik 31, 56 Belt and Road Initiative siehe Neue Seidenstraße Bengalen 11 Bergbau 148, 175, 238 siehe auch Kohle Bernheim, Ernst 22 Bewässerung siehe Wasser Bewegung des 4. Mai 54, 64 biànzhě 辯者 78 Bilderschrift siehe Piktogramm Bildung 3, 72, 97 f., 104, 124, 142, 145, 200 – Bildungschancen 153 – Bildungsministerium 214 Bilinguismus 101 Binäre Opposition 7 bin Mohamad, Mahathir 182 Binnenmigration 151–154 Biologie 123, 205 Biomedizin 11, 27, 75, 123, 141, 149 Biopolitik 132, 137, 139

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Register

Blog 56 Bodhisattva 87 Bonaparte, Napoleon 203 border siehe Grenze Bowie, David 5, 17 Boys-Love-Manga 164 Brasilien 142 BRICS-Staaten 142 siehe auch Brasilien; China; Indien; Globaler Süden; Russland; Südafrika British Council 214 Bruder Jakob 34 Bronzegeräte 22 Buch der Dokumente siehe Buch der Urkunden Buch der Lieder 51, 71, 73, 80 Buch der Riten 73, 80 Buch der Urkunden 71, 73, 80 Buch der Wandlungen 27, 73, 75, 80, 126, 208 Buddhismus 67, 73, 78, 80, 84, 86–96, 182, 193, 207 – Chán 禪-Buddhismus siehe Zen – Tibetischer Buddhismus 65 Bürokratie 21, 37, 175, 184, 222 – Bürokratisierung 143, 146 Butler, Judith 127 Cambridge University Press 216 Carlyle, Thomas 37 f. Chauvinismus 7, 43, 45, 192 Chen, Jie 201 Chiang, Howard 135, 138 China siehe auch Nationalität; Sinozentrismus – China Dream siehe China, Traum – Chinakompetenz 21, 213, 218 – China-Modell 199 – China proper 14 – Chinatown 15, 45 – China-zentrischer Ansatz 41 – Chinesischsein 45, 47, 136 – Chinesischer Traum 12, 27 – Chinesische Zivilisation 37 – Greater China 14, 15 f. – Hochchinesisch 43 siehe auch Hàn – Republik China 13 f., 54, 166, 168, 180, 197, 204

– Reich der Mitte 192 f., 195, 202 – Südchina 51 – Übersee-Chines*in 44 – Volksrepublik China 9 f., 12–15, 36, 40, 44, 55, 94, 117, 125, 132, 158, 161, 164–166, 176, 180, 182, 185, 189, 198–203, 213 f., 216, 223 China Quarterly, The 215 Chiu, Hiker 丘爱芝 134 Cholera 144 Christentum 11, 84, 88–92, 95 Chromosomen 127 f. Chronik 69 – Chronologie 33 Chǔcí 楚辭 51 Chūnqiū 春秋 siehe Frühlings- und Herbstannalen cí 辭-Gedichte 51 f. Club of Rome 179 Code-Switching 102, 107 Cohen, Paul A. 41 Columbus, Christopher 38 Coca-Cola 165 Computer 115 f., 226, 233 Corvée 174 Crowdfunding 183 Cultural turn 110 dǎdǎo Kǒngjiādiàn 打倒孔家店 62 Daegu 166 Dämonen 75 dào 道 75 Dàodéjīng 道德經 74, 86 Daoismus 67, 74–75, 77–80, 84, 86 f., 91, 95, 193 siehe auch dào 道 da Vinci, Leonardo 205 Dàxué 大學 73 dàyǎ 大雅 51 dé 德 75 Demografie 14 Demokratie 9, 54, 198 f., 204, 227 – Demokratisierung 142–144, 146, 191, 199–202 Dèng Xiǎopíng 鄧小平 93, 199, 201, 204, 233 Denkschule 76, 78, 79 Dependenz 176 Deterritorialisierung 105

Register

Deutschland 47, 96, 132, 142, 206, 208, 210, 214 Dezentralisierung 175 Dialektiker siehe míngjiā Diaspora 110, 120 Dichtung 23, 50–53, 56 Die Drei Reiche 54, 64 Die Gesänge der Chǔ siehe Chǔcí Die Räuber vom Liang-Shan-Moor 54, 64 Die Reise nach Westen 54, 64 Diglossie 100 f., 104, 106 Dikötter, Frank 38 f., 216 Dīng, Líng 丁玲 55, 60, 65 Diplomatie 165 – Panda-Diplomatie 165 Diskriminierung 113, 123, 137 Diskurs 113, 118, 128–131, 135, 137, 165 Dispositif 129 f., 134 dītóuzú 低頭族 115 Divergenz 185–188, 202 Diversifizierung 174, 201 Divination 75 Dominanz 87, 101, 151, 186 Dorf 152 – Dorfstudien 150 Drama 50 f., 54 – Dramatik 50 – Yuán-Drama 50 Drei Lehren 78, 84–86, 95 Drogen 39 Droysen, Johann Gustav 22 Druckgrafik 23 Dù, Fǔ 杜甫 52 Dynastie 14, 19, 21 f., 32 f., 42 f., 50–54, 69, 70, 73 f., 79 f., 88 – Dynastiegeschichte 33, 35, 45, 52, 64 – Hàn 22, 27, 51 f., 73, 80, 173, 175, 192, 195, 206, 222 – Liáo siehe Khitan – Míng 53 f., 73 – Östliche Zhōu 69 – Qín 42, 51, 69, 222 – Qīng 31, 42 f., 53, 91, 100 – Shāng 33, 51, 222 f. – Sòng 33, 51–54, 80, 222 – Südliche und Nördliche 51 f. – Suí 73, 222

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– Táng 51–54, 64, 88, 90 – Tuòbá Wèi 195 – Westliche Hàn 52 – Westliche Zhōu 51, 173 – Xià 33, 222 – Yuán 21, 50 f., 53, 73, 89 f., 162, 195, 222 – Zhōu 33, 51, 68 f., 70 f., 73 f., 76, 79 EACS 215 Echtheit 24 Edle, der siehe jūnzǐ Ehe 132 f., 151, 186 siehe auch Hochzeit; Polygamie Eigentum 129, 172 Ein-Kind-Politik 115, 132 Einparteienstaat 179 Eisenhower, Dwight D. 165 Eisenstadt, Shmuel N. 200 Elias, Norbert 143, 147 Elite 37, 57, 61 Elvin, Mark 37 Email 56, 225 Emanzipation 54, 60, 127 Empirie 120, 150, 202, 208, 212 England siehe Vereinigtes Königreich Ende der Geschichte 197–199, 201 f. Epidemien 144 Epik 50 Erbfolge 69 Erdöl 148 Erfundene Tradition 10, 15 Erhaltungszustand 24 Erinnerung 24, 26 Ernte 144 Erstsprache 100 Erzählung 20 f., 33, 55, 60 Essentialismus siehe Kulturessentialismus Ethnizität 119 Ethnografie 111 f., 117 Ethnologie 1, 42, 109–111, 114–117, 120, 132 Europa 9, 67, 123 siehe auch Westen – Eurozentrismus 200–202 – Westeuropa 146 Evidenzschule 206 Examen 54 Exotisierung 12 Exzeptionalismus 12

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Fachsprache 7 f. Fairbank, John King 32, 41, 210 fǎjiā 法家 siehe Legalismus Fake-News 145–157 Fǎlún gōng 法輪功 214, 85 Fandom 163 f., 167 Familie 71, 76, 101, 111, 130, 134, 136, 141–144, 147, 151 – Familiengeschichte 20 – Familienrecht 124 – Familiensystem 183 Fèi, Xiàotōng 费孝通 151 Feldforschung 111 f., 120 Feminismus 123 f., 137 Feminität 127, 136 fēng 風 51 Festland 13, 35, 88, 135, 151, 207 Festlied 51 Feudalismus 35 f., 173 f., 188, 222 Figuration 142, 144, 147, 154 Film 5, 103, 162 Flucht 20, 142 Flugblatt 23 Folklore 119 Forschungsstätte 22 Fotografie 23, 149 Foucault, Michel 129 f., 132, 136, 138, 212 Foxconn 富士康 148, 180 Fragestellung 5, 23, 26, 28, 95 Framing 165–167, 169 Frank, Andre Gunder 186, 196 Franke, Otto 209 Franke, Wolfgang 212 Frankfurter Schule 7 Frankopan, Peter 182, 188 Franziskaner 89 Frauenliteratur 56 Freihandel 183 Fremde, das siehe Other Fremdreligion 86 Freundschaft 68, 136, 145 frontier 14 siehe auch Grenze Frühlings- und Herbstannalen 51, 73, 80 fù’èrdài 富二代 181 fù 賦-Dichtung 51 Fukuyama, Francis 198 Fünf konfuzianische Beziehungen 71, 79

Fünf Klassiker 73, 75, 80 Fünf-Jahres-Plan 172, 189 Fünf-Jahres-Richtlinie siehe Fünf-Jahres-Plan Fünfte Modernisierung siehe Vier Modernisierungen Fünf Wandlungsphasen 75 Funktionalismus 147, 150 Gabelentz, Hans Georg Conon von der 208 Gattung, literarische 53 gaze 8 Geister 76, 87 Geistesgeschichte 75, 77, 80, 132 Geld 143, 171, 223 Gefahr 34, 39, 145, 200 – Gelbe Gefahr 10 – Rote Gefahr 212 Gemälde 23, 89 gender siehe Geschlecht; transgender Generation 136, 165 Geografie 27, 97 Gernet, Jacques 210 Gesammelte Worte siehe Lúnyǔ Gesang 53 Geschichte vom Westzimmer 53 Geschichte – Geschichte von unten 38 – Geschichtserzählung 22 – Geschichtsschreibung 23, 28 f., 31, 33, 36 f., 39 f., 45, 52, 179, 194, 197 – Geschichtswerk 52, 64 – Globalgeschichte 39 f. – Kulturgeschichte 39, 59 – Mikrogeschichte 40 – Sozialgeschichte 37–39 Geschlecht 115, 117, 123, 125–129, 132 f., 135, 137, 158, 164 – Biologisches Geschlecht 127 f., 137 – Geschlechteridentität 124 f., 130 f., 136 f. – Geschlechterrolle 92, 136, 165 – Geschlechtsmerkmal 126–128, – Geschlechtsverkehr siehe Sex – Soziales Geschlecht 137 Gesetz 25, 76 f., 89, 101, 104 f, 107, 110, 132, 143–145, 160, 164, 174, 227 Gesundheit 136, 137, 142 – Gesundheitsversorgung 113

Register

Getreidepreis 22 Gewalt 143, 146 Gewaltenteilung 143 Gewohnheit 51, 101, 107, 109, 114 Gě, Zháoguāng 葛兆光 46 Genossenschaft 172 Gentry 184, 222 Gilde 178, 223 Giles, Herbert 208, 231–233 Glaubwürdigkeit 19, 25 Gleichheit 61 siehe auch Ungleichheit Globaler Süden 200 siehe auch BRICSStaaten, 142 Global Player 95 Globalisierung 92 f., 143 f., 163 Goethe-Institut 214 Gold 182 Gōng‘ān pài 公安派 54 Gōngsūn, Lóng 公孫龍 78 Governance 151 Gräber 19 – Grabbeilage 22 Granet, Marcel 37, 209 Graswurzel siehe Zivilgesellschaft Greater China siehe China, Greater Great Firewall of China 161 f. Greene, Brendan 163 Grenze 11, 14, 33, 39, 109 f., 128, 162 f., 168, 179, 192, 194, 196, 211, 214 Große Lernen, Das siehe Dáxué Große Divergenz, die 185 f., 188 „Großer Sprung nach vorn“ 176 Großkhan 89 Grundbesitz 172 f. guānxi 關係 184 guócuì 國粹 siehe Nationalessenz Gulik, Robert van 135 Guómíndǎng 國民黨 179 guóxué 國學 154, 207, 218 Habermas, Jürgen 147 Hakka 194 Halperin, David M. 130, 136 Hàn 漢 (Ethnie) 43 – Hànstudien 206 f., 218 – Hànzentrismus 44 f. Hànbàn 漢辦 214

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Hán Fēizǐ 韓非子 77 f. siehe auch Legalismus Handel 180, 182, 196 siehe auch Kaufleute Handwerker 76, 91 Handy 13, 75, 115 f. Hard Power 165–167 Harmonie 67, 74, 81, 85 Harmonische Gesellschaft 12, 71 Hauskirche 85, 90, 92 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 8 f., 35, 198 Hegemonie 8, 192, 196 f., 203 Heimat 14, 113, 120 f., 148 Held*in 56 Hello Kitty 116 Herkunft 23, 59, 65, 97, 142, 195 Hermeneutik 58 f., 212 Herrschaftsabfolge 19 Heterogenität 110, 119 f. Héyīn, Zhèn 124 héxié shèhuì 和諧社會 siehe Harmonische Gesellschaft Hierarchie 148, 174 High-Variety 101 Himmel 80, 85, 192, 194, 196, 202 Himmelsmandat 72, 80, 192, 202 Hinsch, Bret 135 Historischer Blick 21 Historischer Materialismus 35 f., 45 HIV/AIDS 135, 166 Hobsbawm, Eric 10 Hochzeit 109 siehe auch Ehe Hof-Dichtung 52 Hollandstudien 207 Höllengeld 87 Homogenisierung 12 Homosexualität siehe Sexualität, Homo Hongkong 14 f., 56, 105, 117, 151, 154, 166, 168, 177 Hónglóumèng 紅樓夢 siehe Traum der roten Kammer Huā, Mùlán 花木蘭 139 Huawei 華為 180 Hú, Jǐntāo 胡錦濤 177 Hú, Shì 胡適 55, 62 Huì, Shī 惠施 78 Huí 回 43, 90 f., 100, 118 hùkǒu 戶口-System 151–154 Humanität 62, 71

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Hundert Schulen 70, 77, 80 siehe auch Daoismus; Konfuzianismus; Legalismus; míngjiā; Mohismus Hunger 25, 87, 93, 144, 146, 186 Huntington, Samuel Phillips 201 Hybridisierung 119 Hymne 51 ibn Dahir, Sissa 185 Identität 39, 43, 92 f., 99, 102, 104, 106, 110 f., 118–120, 124, 127, 130, 134–137, 154, 163 Ideologie 36, 41, 60, 77, 85, 92, 93, 145, 165, 175 f., 197 f., 212 siehe auch Staat, Ideologie Ikon 158 f., 167 f. Index 22, 100, 167 f., 180 Impact–Response-Modell 41 Imperialismus 35 Imperium 12, 43 f. Indien 84, 86, 88, 142, 182 Individualität 54 Individuum 5, 7, 63, 71, 87, 201 Industrie 16, 91, 105, 113, 142, 146, 166, 176, 186–188, 199 – Industrialisierung 36, 56, 142–144, 146, 185, 199 Informant*in 112, 215, 217 Infrastruktur 19, 175, 181 f. Innerasiatische Zone 193, 203 Intention 19, 24–26, 49, 58, 161 Interessenkonflikt 148 Intergeschlechtlichkeit 128, 134 Interkulturalität 99, 131 – Interkulturelle Kommunikation 99 Internationale, Kommunistische 176, 188 Internationalisierung 22, 143 Internet 2, 56, 122, 161 f., 180, 217 – Internetquellen 24 – Internetzensur siehe Great Firewall of China Intersektionalität 131, 135, 137 Intertextualität 58 Interview 111, 215 f. Islam 84 f., 88 f., 95 f., 166 siehe auch Moschee Isolation 56

Jahrbuch 22 Japan 11 f., 17, 41, 54, 68, 89, 149, 162–164, 171, 177, 181, 192 f., 197, 207, 212, 219 siehe auch Antijapanische Bewegung; Sino-japanischer Krieg; Wa JD 京東 180 Jesuiten 89 f., 95, 208 Jesus von Nazareth 10 jīngjì 經濟 171 Jīnpíngméi 金瓶梅 54 Jīntiān 今天 56 Joint Venture 145, 177 Judentum 88 Jugend 55, 60 f., 115 – Jugendkriminalität 151 – Jugendliteratur 56 jūnzǐ 君子 72 Jurchen 40 Kader 104 f. Kaiser 132, 138, 196, 219 – Guāngwǔ 192 – Kāngxī 207 – Qiánlóng 196 – Wànlì 207 Kaiserliche Akademie 73 Kaiserreich 14, 33, 77, 197 Kalender 118, 207 Kalligrafie 51 Kampagne 64, 117, 134, 185 Kampfkunst 56, 89, 94 – Kampfkunstromane 56 Kanada 194 kangaku 漢學 207 Kanon 34, 67, 80, 143, 201 Kantones*in 194 Kapital 142, 171 f., 184 Kapitalismus 35, 176–179, 181, 185, 188, 198 f., 222 – Keime des Kapitalismus 178 Kardinaltugend 62, 71, 80 Karikatur 23 Karlgren, Bernhard 209 Karma 87, 95 Katholizismus 207 kǎozhèng 考證 siehe Evidenzschule Kaufleute 42, 90 f., 189, 196

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Kennedy, Anthony 132 Kentucky Fried Chicken 116 Kertbeny, Karl-Maria 125 Kerngebiet 42, 174, 193–195, 211 Khitan 14, 40, 195, 203 Kinder 12, 63, 76, 87, 113, 115 f., 125 f., 151, 181 – Kindergarten 101, 113, 143 – Kinderliteratur 56 f., 185 – Kindespietät 71 Kirche 6, 85, 90–92, 200 Klasse 35, 55, 92, 116, 142, 149, 176, 188 Klassifizierung 118 Klassische Schriftsprache 55, 61 Kleidung 10, 22, 23, 89, 114, 116 Kloster 84, 88 f., 93–95, 183 Kodierung 160 f. Koguryŏ 44 Kohle 187 siehe auch Bergbau Kollektiv 6, 9, 20, 56, 63, 114, 130, 152, 176, 205 Kolonialismus 5, 7 f., 15, 38, 183, 197, 213 – Kultureller Kolonialismus 8 Kommentarliteratur 24, 73 Kommerzialisierung 56, 92, 178, 223 Kommunikationstheorie 158 Kommunismus 12, 176, 198 Kommunistische Partei Chinas 54 f., 88, 217 Komödie 50 Konflikt 35, 63, 99, 131 f., 134, 144, 146, 147 f., 150, 197 f. Konfliktansatz 147 f. Konfuzianismus 10, 20, 62, 67 f., 70 f., 73–75, 77–81, 84 –87, 91, 95, 133, 193 siehe auch Neokonfuzianismus – Konfuzianische Tradition 54 Konfuzius 62, 70–76, 80, 85, 89 f., 132 f., 145, 204, 214 f., 218 Konfuzius-Institut 214 f., 218 Kǒng, Qiū 孔丘 siehe Konfuzius Konsum 17, 110, 114, 116, 163–166, 169, 189 Kontextorientierte Theorien 59 Kontingenz 201 Kontrolle 37, 77, 132, 146, 152–155, 162, 185 Konvergenz 198, 203 Korea 14, 44, 65, 100, 104, 159, 166 f., 193, 197 siehe auch Koguryŏ; Parhae

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– Südkorea 44, 161, 163, 166–168, 177 Körper 20, 63, 123, 125, 127–129, 131 f., 135–137, 139, 149, 164 Korporatismus 179 Korruption 5, 184 f. Kosmologie 77 Kosmopolitismus 88, 182, 195 Krankheit 112, 123, 129, 146, 149, 166 siehe auch Epidemie; HIV/AIDS Kreditverein 183 Krieg 34, 46, 52, 69, 76, 146, 150, 167, 186, 198, 213 – Kalter Krieg 198, 201, 213 – Kreuzzüge 89 – Kriegskommunismus 176 – Nuklearkrieg 165 – Opiumkrieg 197, 223 – Pazifikkrieg 12 – Sino-japanischer Krieg 181, 192 – Zweiter Weltkrieg 151, 198 Kritische Theorie 7 Küche 6, 126 siehe auch Lebensmittel Kuhn, Thomas Samuel 205 Kulinaristik 121 Kultur siehe auch Revolution, Kultur – Alltagskultur 110, 114 – Kampf der Kulturen 207 – Kulturelle Praktiken 59, 110 – Kulturelles Erbe 104, 133 – Kulturessentialismus 13, 119 – Kulturgeschichte 39, 59 – Kulturkreis 201, 212 – Kulturpolitik 204 – Kulturrelativismus 201, 203 – Kulturstudien 5, 7, 211 – Kulturtheorie 111 – Kulturvergleich 97 – Hochländer-Kultur 10 – Lesekultur 59 – Popkultur 162–166, 169 Kunst 10 f., 23, 51, 55 f., 61, 69 f., 89, 93 f., 147, 149, 167, 206 – Kunsthandwerk 27 – Kunstwerk 26 Künstliche Intelligenz 146 Kurtisane 131 Kurzgeschichte 50, 60 f.

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Landbevölkerung 38, 174 Landflucht 112 Landwirtschaft 56, 142, 176 f., 199, 223 Lánfāng-Republik 204 Lǎozǐ 老子 74, 79, 208 siehe auch Dàodéjīng Laporte, Dominique 39 Lebensmittel 114, 188 siehe auch Küche Lee, Ang 李安 163 Lee, Kuan Yew 李光耀 12, 201 Leibeigenschaft 172 Lévi-Strauss, Claude 38 Levy, Marion J. 37 Leftover women 115 Legalismus 68, 76 f. Legende 50, 74, 79, 185 Lenin 35, 157, 176, 188 f. siehe auch Marxismus Leserorientierte Theorie 58 Lexikologie 98 LGBT 125, 134 Lǐ, Bái 李白 52, 64 Lǐ, Guāngyào 李光耀 siehe Lee, Kuan Yew Lǐ, Hòuzhǔ 李後主 53 LinkedIn 217 Lǐ, Zhì 李贄 124 lǐ 禮 siehe Kardinaltugend; Riten Lǐjì 禮記 siehe Buch der Riten Liberalisierung 93, 176 Liebe 12, 54, 68, 71, 131, 143, 145 Lifestyle 116 Linguistik 97 f., 206 – Computerlinguistik 98 – Kontaktlinguistik 97, 101, 103, 106 – Neurolinguistik 98 – Soziolinguistik 98, 104 Linguistische Wende 128 f. Lipset, Seymour Martin 200 Literatur 23 f., 33, 49–61, 63 f., 73, 76, 80, 136 f., 149, 181, 184, 200, 209, 217, 226, 229 – Literarische Revolution 54, 61 – Literarische Strömung 50 – Literaturgeschichte 49–51, 53–55, 57, 63 f. – Literaturtheorie 49, 52, 57–61, 64 liúmáng 流氓 125

Liu, Petrus 135 Lobbyismus 145 Logiker siehe míngjiā Lohn 113, 171 f. Lokalchronik 22 Lokalität 111 longue durée 40 Low-Variety 101 Loyalität 21, 71, 80 Lǔ 魯 70 Lǔ Xùn 魯迅 55 Luhmann, Noklas 147 Luftverschmutzung 93 Lúnyǔ 論語 71, 73, 80, 208 Lyrik 50, 52, 55, 58 Macau 14 f., 56 Maccartney, George 196 Malthusianismus 186, 188 Malthus, Thomas Robert 186 Märchen 50, 185 Macht 5, 7–10, 19, 27, 32, 34, 69, 72, 76, 105, 111, 114, 132 f., 135–137, 139, 142 f., 145–149, 151, 157, 165, 167 f., 173, 176, 191, 196 f., 200 f., 203, 219, 223 siehe auch Hard Power; Soft Power Mahayana 87 Mahnmal 52 Malaysia 14, 183 Mandarin 100, 106, 148, 222 Mandat des Himmels siehe Himmelsmandat Mandschurei 14, 42, 44, 197 Manichäismus 88 Maoismus 176, 188, 212, 225 Máo Zédōng 毛澤東 55, 64, 88, 117, 157, 176 Markt 145, 164, 172, 177 f., 180, 185, 223 – Marktwirtschaft 56, 93, 165, 172 f., 175–180, 183, 185, 198 siehe auch Kapitalismus Martin, Helmut 215 Marx, Karl 9, 35 f., 176 Marxismus 35, 38, 176, 188, 198 Maskulinität 136 Massenmedien 123, 142 f., 157, 162, 164 f., 167, 169 Maß und Mitte siehe Zhōngyōng Mathematik 27, 159, 185, 207

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Mathews, Robert Henry 208 Mauer 193, 197, 199 siehe auch The Great Wall – Berliner Mauer 197 – Mauer der Demokratie 199 Mǎwángduī 馬王堆 27 Mayflower 38 McDonald’s 116 Meditation 81, 86, 89 Medizin siehe Biomedizin Metanarrativ 37 Metaphysik 68 Methodologischer Nationalismus siehe Nationalismus, methodologischer Métis 194 Musik 17, 23, 27, 52 f., 70, 73, 76, 163–165, 167, 225 ménglóngshī 朦胧诗 siehe Obskure Dichtung Menschenfresser 62 f. Menschenrecht 61, 201 Menzius 孟子 71–73 Merkel, Angela 165 Migrant*in 92, 110, 113, 152 f., 181, 194 Migrationsbewegung 14, 113, 154 Migrationsstudien 113 Milch 87, 103, 114, 138, 226 Militär 31, 37, 41, 46, 69, 91, 143, 149, 165, 167, 203 Mimik 53 Minderheiten 38, 43 f., 47, 65, 90 f., 101, 103–105, 107, 110, 116–119, 121, 134, 143, 151, 204, 215 – Minderheitensprachen 101, 103 f. – Ethno-nationale Minderheiten 34, 38, 43, 47, 90 f., 101, 104–107, 116, 118–121, 204 míngjiā 名家 77 f. mínzú 民族 siehe Minderheiten, ethnonationale mínzúxué 民族學 117 Missionar 10, 16, 70, 89, 150, 207 f. Mittelalter 38, 46, 50, 173, 223 Mittelmeer 12, 181, 188 Mizoguchi, Yūzō 41 f. Mò Dí 墨翟 siehe Mòzǐ Mò Yán 莫言 57 Mobilität siehe Soziale Mobilität

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Mode 116, 165 Moderne 52, 126, 200–202, 204 – Modernisierung 22, 35, 93, 100, 142–144, 147, 191, 197, 199–202, 222 siehe auch Vier Modernisierungen – Multiple Modernen 200 Mohismus 76 f. mòjiā 墨家 siehe Mohismus Mönch 87–89, 95, 230 Money, John William 126 Mongolei 14, 42, 97, 99–101, 103, 105 f., 119, 148, 174, 193, 223 siehe auch Provinz, Innere Mongolei – Mongolenherrschaft siehe Dynastie, Yuán – Turko-Mongolen 193 Monopol 143, 175, 178, 200 Moral 39, 61, 63, 77, 124 Morphem 98 Morphologie 98 f., 103 Moschee 91 siehe auch Islam Motiv 6, 9, 12, 17, 60, 144 Mòzǐ 墨子 76 MTV 165 Mùlián 目連 87 Mündliche Überlieferung 19, 160 Münzen 23 Museum 122 Muslime siehe Islam Muttersprache 100 f., 148 Mythologie 33, 51 f. Nachtgedanken siehe Yè sī 52 Nachwelt 22 Nahrungsmittel 103, 145 siehe auch Küche; Kulinaristik Nánběicháo 南北朝 siehe Dynastie, Südliche und Nördliche Narbenliteratur 56 Narrativ 31, 35, 38–40, 45, 118, 154 siehe auch Begründungsnarrativ; Metanarrativ Nation 13, 22, 39, 46, 121, 162, 39 Nationale Minderheit siehe Minderheiten, ethno-nationale Nationalessenz 207 Nationalismus 43 – Methodologischer Nationalismus 39 f., 46 Nationalistische Partei siehe Guómíndǎng

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Nationalität 43 f., 47, 90, 100, 104, 118, 121, 136, 162 f., 168, 194 siehe auch Minderheiten, ethno-nationale Nationalstaat 7, 13, 46, 143, 227 Neokonfuzianismus 73 Neoliberalismus 178, 191 Neorealismus 191 Nestorianismus 95, 182 Nestorius 89 Netzwerk 90, 92, 129, 133, 141, 143, 146 f., 151, 160, 162, 184, 205, 215, 217 Neue Institutionenökonomik 183 Neue Jugend 55, 60 f. Neue Kulturbewegung 54, 63 Neue ökonomische Politik 176 Neue Seidenstraße 19, 27, 182, 189 Neuseeland 178 Neuzeit 50, 194, 207 New Criticism 59 New Historicism 59 New Qing History 43 Nietzsche, Friedrich 39 Nixon, Richard 9 Nobelpreis 11, 56, 211 noise 161 Nomadentum 38, 101, 148, 193 – Reiternomade 89 – Semi-Nomadentum 193 Nordamerika 143, 146, 210 Nordost-Projekt 44 Norman, Egerton Herbert 212 Normativität 127 Nye, Joseph 165 Objektivität 23 Obskure Dichtung 56 Okakura, Kakuzō 11, 12 Ökosystem 179 Opfergabe 87 Oppo 歐珀 180 One Belt One Road siehe Neue Seidenstraße Orakelknochen 22, 28, 75 Orchideenfach 210 Orient 6, 8, 15 Orientalismus 8, 11 f., 12, 15

Ostturkestan 14, 42 siehe auch Provinz, Xinjiang Other 8, 15, 114, 126 – Othering 8, 15 Palast 174, 222 Palastprüfung siehe Beamtenprüfung Panasianismus 11 f., 15 Pansexualität siehe Sexualität, PanParadigma 41, 128 Parhae 44 Parlament 142, 148, 184 Parsons, Talcott 146 f., 199 Partei 35 f., 54 f., 88, 133, 142, 176, 179 f., 198, 200, 211, 213, 217 siehe auch Guómíndǎng; Kommunistische Partei Chinas – Parteipolitik 55 – Parteiprogramm 23, 25 Patriarchat 124, 145 pax mongolica 182 Pazifismus 126 peer group 205 Peirce, Charles Sanders 158 Peking siehe Stadt, Beijing Performanz 127 Periodisierung 21 f., 33 f., 36 f., 64, 222 f. Peripherie 42, 193, 197 Pflaumenblüte in der goldenen Vase siehe Jīnpíngméi Phänomenologie 59 Phonem 98 Phonetik 97 f. Phubbing 115 Piktogramm 159 Pilgerreise 92 Pinochet, Augusto 173 Pisa, Rustichello da 24 Planwirtschaft 165, 172, 175 f., 189 pòhuài 破壞 62 Polizei 26, 143 Polo, Marco 24, 208 Polygamie 134 Pomeranz, Kenneth 186 f. Portugal 193 Porzellan 10, 116, 178 Pragmatik 97

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Prestige 101 Produktion 35 f., 57 f., 69, 112, 146, 162 f., 166, 171–178, 181, 184, 186, 188, 223 Produktionsfaktor 171 f. Profit 146, 172, 177, 185 Propaganda 36, 55, 145, 157, 161, 165, 214 Prosa 53 Protestantismus 84 f., 90, 150, 199, 216 Provinz 40, 54, 70, 89, 92, 93, 115, 185, 195, 204, 215 siehe auch Mandschurei; Hongkong; Macau; Taiwan; Tibet – Guangdong 93 – Guangxi 195 – Henan 89, 93 – Hubei 54 – Innere Mongolei 97, 100, 106, 148 – Ningxia 91 – Qinghai 92 – Shandong 70 – Shanxi 93 – Sichuan 92, 159 – Xinjiang 14, 42, 119, 204, 215 siehe auch Ostturkestan – Yunnan 42, 117 f. – Zhejiang 185 Public Relations 145 pǔtōnghuà 普通話 siehe Mandarin qì 氣 75 Qīnghuá-Universität siehe Universität, Tsinghua qíngyù 情慾 131 Quanta 廣達 180 qǔ-Drama 51, 53 queer 123, 125, 134–137 Quelle 21, 23–26, 28, 112, 117, 124, 135 f., 194, 207–209, 217 – Schriftquellen 23 – Quellenedition 24 – Quellenkritik 19, 21, 23–26, 28 – Quellenstudium 21 Ramses II. 157 Ranger, Terence 10 Rasse 12, 39 Ratgeber 2, 69, 72 Recht 20, 61, 72, 99, 113, 123, 134, 143, 197, 204

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– Rechtlichkeit 62 – Rechtsquellen 23 – Rechtsstaat 143, 148 Redewendung 103 Reform 20, 93 f., 112, 116–118, 124, 173, 175, 177, 185, 198 f., 212 f. – Perestroika 198 Reise 24, 54, 64, 116, 196 – Reisebericht 23–25 – Reiseliteratur 56 Relativitätstheorie 205 rén 仁 siehe Kardinaltugend Rente 171, 184 f., 188 Rentenökonomie 183–185, 188 Republikzeit 55, 178 f., 222 Revolution 11, 22, 31 f., 35–38, 54–56, 61, 131, 150, 186 f., 205, 207, 223, 225 siehe auch Tàipíng – Kulturrevolution 32, 55 f., 64, 88, 90 f., 93, 117, 157, 176, 216 – Oktoberrevolution 175, 198 Rezeptionsästhetik 59 Rezipient 26, 49, 58 Rezitation 53 Rhapsodie 51 Rhetorik 97, 202 Ricci, Matteo 89, 95, 207 Richthofen, Ferdinand von 182 Riten 52, 70–73, 80, 87, 90 Ritual 7, 70, 76, 84, 92, 94, 96, 111, 114, 129, 183 Roetz, Heiner 80, 212, 219 Roman 23, 50, 54, 56, 64 – Ritterroman 24 RoSCA siehe Kreditverein rújiā 儒家 siehe Konfuzianismus rújiào 儒教 siehe Konfuzianismus Russland 142, 175, 193 siehe auch Sowjetunion rúxué 儒学 siehe Konfuzianismus Ryūkyū 193 Sage 117 Said, Edward 8, 11 Säkularisierung 93, 200 Samsara 86, 95 sān jiào 三教 siehe Drei Lehren

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Sānguó yǎnyì 三國演義 siehe Die Drei Reiche Sappho 130 Schamanische Gesänge 51 Schmidt, Helmut 201, 204 Schmuck 22, 23, 114 Schriftsprache 55, 207 f., 234 Schwarzer Tod 182 Seele 87 Sehnsuchtsliteratur 56 Seide 178, 182 Seidenstraße 19, 27, 42, 86, 90, 181 f., 188, 195 siehe auch Neue Seidenstraße Semantik 97 f., 147 Semiotik 58 f., 158 Sex 39, 93 siehe auch Geschlecht Sexismus 123, 125, 137 Sexualität 39, 123, 125, 128–137 – Asexualität 125 – Bisexualität 125 – Heterosexualität 125, 131, 134, 136 – Homosexualität 125, 130 f., 134–136, 227 – Pansexualität 125 Sexuelle Orientierung 124 f., 130 f., 136 f. Shāng, Yāng 商鞅 77 shānghén wénxué 傷痕文學 56 Shannon, Claude 159–161, 163 Shaolin-Kloster 89, 93 f. shèhuì wénhuà rénlèixué 社會文化人類 學 117 shèhuì xìnyòng tǐxì 社會信用體系 siehe Soziales Punktesystem shèhuìxué 社会学 141 shèngrén 聖人 72, 74 shī 詩-Gedichte 51 shì 势 76 Shǐjì 史記 33, 52, 64 Shījīng 詩經 siehe Buch der Lieder shù 術 76 Shuǐhǔ Zhuàn 水滸傳 siehe Die Räuber vom Liang-Shan-Moor Shūjīng 書經 siehe Buch der Urkunden Sibirien 14 sì dà míngzhù 四大名著siehe Vier Klassische Romane Sicherheit 112, 133, 146, 148, 183, 217 Siddhartha Gautama 86

Siedlungspolitik 100 Signifikant 158, 168 Signifikat 158, 167 f. Silber 182, 186, 223 Sīmǎ, Qiān 司馬遷 52, 64, 74 Sīmǎ, Xiāngrú 司馬相如 51 Singapur 12, 56, 121, 166, 168 f., 180, 201, 211 Sinische Zone 193, 203 Sinismus 102 Sinophonität 44, 46 Sinosphäre 193 Sinozentrismus 182, 191 f., 194–197, 199, 201–203 Sìshū 四書 siehe Vier Bücher Sitten 71 sìyí 四夷 siehe Barbaren Skandinavistik 40 Sklaverei 172, 174, 182 Shih, Shu-mei 史書美 44 Smartphone siehe Handy SM Entertainment 167 Smith, Adam 178 Sodomie 130 SOE (state-owned enterprises) 177 Soft Power 165–169, 214 Sonderwirtschaftszone 177, 180 Sōngshān 嵩山 94 Sophisten siehe míngjiā Souveränität 192, 202 Sowjetunion 36, 165, 176, 188, 198 Sozialanthropologie 141 Soziale Medien 114 Soziale Mobilität 199 f. Soziale Pflichten 71, 80 Soziale Schicht 25, 180 Soziales Punktesystem 155 Sozialisation 59 Sozialismus 169, 173, 175, 199, 222 Sozialistische Marktwirtschaft 177 Sozialistischer Realismus 55 Sozialkonstruktivismus 129, 137 Sozialpsychologie 141 Spiegel, Der 5 Spiritualität 74, 93 Sport 81, 113, 141, 147, 198 Sprechakt 99, 106

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Sprache 49, 50, 53, 56, 61, 78, 83, 89, 97–107, 118 – Sprachgebrauch 44, 56, 97, 99–101, 104–107 – Sprachkonflikt 99 – Sprachkontakt 99–101, 103 f., 106 – Sprachpolitik 97, 99 f., 104 f., 107, 148 – Sprachpraxis 97, 104 – Sprachstörung 97 – Sprachsystem 97 – Sprachvergleich 97 – Sprachverlust 99, 101, 105, 107 – Sprachvielfalt 107 Springer Nature 216 Staat 40, 69, 70, 77, 91 – Staatliche Ordnung 69 – Staatsideologie 77, 85, 92 f. – Staatsministerium 54 Stadt 13, 17, 31, 70, 89, 93, 132, 152, 155 – Beijing 14, 44, 57, 92, 105, 113, 115, 117, 133, 141, 147, 150, 199, 214, 216 f., 223, 226 siehe auch Beijinger Konsens – Berlin 147, 165 siehe auch Mauer, Berliner – Dengfeng 93 f. – Gaocheng 94 – Großstadt 114 f., 152 – Guangzhou 116, 196 – Kunming 117, 151 – Nanjing 31 f., 197 – New York 14 – Shenzhen 148 – Stadtviertel 111 – Wenzhou 185 – Xi’an 182 Statistik 22, 142, 144, 172, 180 Steuer 22, 72, 143 f., 172, 175 Stereotyp 6, 8–11, 15, 126, 135 Stratifikation 174 Strukturalismus 59 Studentenprotest 64 Sū, Dōngpō 蘇東坡 53 Sū, Shì 蘇軾 53 Südafrika 142 Südasien 181, 188 Südostasien 177 Südostchinesisches Meer 13 Sufismus 91

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Suizid 148, 212 Sulu 193 Suning 蘇寧 180 Sun, Yat-sen 孫中山 43 Sūn, Zhōngshān 孫中山 siehe Sun, Yat-sen Suōfēi Nǚshì de Rìjì 莎菲女士的日記 siehe Tagebuch des Fräulein Sophie Symbol 166, 168 Symbolischer Interaktionismus 146 f., 149 Symbolismus 95 Syndikat 172 Syntax 98 f., 103 Synthese 35, 202, 223 Systemtheorie 146, 147 Tagebuch des Fräulein Sophie 55, 60 Tagebuch eines Verrückten 60, 61 Tageszeitung 22 Tangut 195 Tàipíng 31 f. Taiwan 13–15, 42, 56, 134 f., 151, 166, 168, 179 f., 197, 204, 211, 217, 228 Táng, Zhēn 唐甄 124 Tanz 53 Taxonomie 134, 138 Taylor and Francis 216 TCM siehe Traditionelle Chinesische Medizin Technische Entwicklung 50 Teilnehmende Beobachtung 111, 121 Teilreich 21 Tempel 88, 91–94 – Tempelfest 92 Têng, Ssu-yü 鄧嗣禹 41 Terroranschläge vom 11. September 2001 198 Terrorismus 21, 166 Testament 23 Textorientierte Theorie 58 THAAD 166 Thai 161 Ṭhākura, Ravīndranātha 11 Theater 53 f., 161 The Great Wall 5 Tiān’ānmén-Massaker 199 tiānxià 天下 192

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Tibet 11, 14, 36, 42 f., 65, 92 f., 104–105, 118, 193 Tigerstaat 166, 168 Toilette 133 Tonaufnahme 23, 112 tóngzhì 同志 131 siehe auch queer Tourismus 94, 107, 182 Tradition 10, 11, 15, 22 f., 34, 40, 45, 51, 62, 75, 81, 124, 135, 162, 206, 210, 213, 218, 230 siehe auch Erfundene Tradition Traditionelle Chinesische Medizin 11, 141 Tragikomödie 50 Tragödie 50 Traktat 23, 33, 52, 78, 124 Transfer-Erscheinungen 103 Transferenz 102 f., 107 Transgender 125 Transkription 208, 226 Transnationalität 168 Traum 27, 54, 64, 107 siehe auch Amerikanischer Traum; China, Traum Trauma 56 Traum der Roten Kammer 54, 64 Tribut 191 f., 194 f., 197, 202 trigger words 102 Tropen 6, 16 f. Tsai, Ing-wen 蔡英文 139, 166 Tsinghua-Universität siehe Universität, Tsinghua Tugend 62, 71 f., 76 f., 80 Tuva 42 Twitter 157 Überlieferung 19, 22–24, 32, 45 f., 71 f., 157, 160, 260 f. Überrest 22 f., 184 Überwachung 152 siehe auch Kontrolle Uighur*innen 14, 90 f. Umerziehungslager 204, 213 Umgangssprache 55, 61, 102, 227 Umweltschutz 143 UN siehe Vereinte Nationen Ungleichheit 123 f., 142, 144 f., 151, 153, 180, 216 Universität 5, 34, 90, 107, 117, 125, 150 f., 205 f., 208, 210 f., 214 f. – Chicago 214

– Göttingen 214 – Harvard 34 – Leiden 214 – McMaster 214 – Pennsylvania State 214 – Stockholm 214 – Tsinghua 117, 150 – Xiamen 117 – Yenching 150 – Yunnan 117 f. – Zhongshan 43 Urbanisierung 113, 142 f., 146 Urkunde 25 Urgeschichte 32, 46 USA 38, 142, 151, 165 f., 178, 194, 211, 213, 216 Utopie 145 Vasallen 192, 195 Vereinte Nationen 13, 197, 202 Verbiest, Ferdinand 207 Verbotene Stadt 132 Vereinigtes Königreich 178 Verfassung 24 f., 104, 199 – Verfassungstheorie 21 Verfolgung 20, 55, 88 f., 215 Verortung 13 f., 42, 109, 113 Verstädterung siehe Urbanisierung Vertrag 19, 23, 25, 143, 197, 214, 217 – Versailler Vertrag 64 Vertrauen 145 Verwaltung 77, 171 f., 175, 184, 223 Videospiel 162 f. Vielvölkerstaat 14 Vier Bücher 73 Vier Edle Wahrheiten 86 Vier klassische Romane 54, 64 Vier Modernisierungen 199 Vietnam 176, 193 Volk 8, 54 f., 61, 72, 121, 148, 199 – Randvolk 42 – Volksbildung 55, 61 – Volksfest 87 – Volksglaube 85, 87 – Volkslied 51 Völkerbund 197 Völkerrecht 192

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Volksrepublik China siehe China, Volksrepublik Volkswagen 177 Volkswirtschaftslehre 145, 172 Vorfall vom 4. Juni siehe Tiān’ānménMassaker Vormoderne 129 f., 135, 192, 202, 209 Voltaire 208 Wa 192 Wade, Thomas Francis 208 Wahlrecht 142 Wanderarbeiter*in 113, 153 siehe auch Binnenmigration Wanderungsbewegung siehe Binnenmigration Wang, Gungwu 王賡武 44 wǎngluò pínglùn yuán 網絡評論員 siehe Great Firewall of China Wáng, Mǎng 王莽 52 Warenzirkulation 174, 181, 188 Wasser 37, 52, 87, 93, 148 Watt, James 205 Weaver, Warren 159 f. Weber, Max 110, 143, 199 WeChat 114 Weg siehe dào Wēibó 微博 133 Wèi, Jīngshēng 魏京生 199 Weltwirtschafts- und Schuldenkrise 198 Weißsein 194 Weiße Speisen 114 Weise, der siehe shèngrén Weizenkornlegende 185 Welthandelsorganisation 177, 180 Weltliteratur 56 wénxīn diāolóng 文心雕龍 52 Wénxuǎn 文選 52 Werte 12, 70 siehe auch Asiatische Werte Westen, der 8, 11 f., 15, 41, 54, 62, 64, 89, 134, 153, 193, 198, 206, 223 siehe auch Europa Westfälischer Frieden 192 Wettlauf ins All 165 White, Hayden 31 Wilhelm, Richard 208 Wirtschaftskommunikation 99

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Wirtschaftspolitik 21 Wittfogel, Karl August 37, 209, 212 Wittgenstein, Ludwig 128 Wǔ, Zétiān 武則天 132, 139 Wohnraum 152 f. Wohnrecht 113 Wollstonecraft, Mary 123 Wong, Roy Bin 187 wúwéi 無為 74 wǔxíng 五行 siehe Fünf Wandlungsphasen Xiàn Hán lìng 限韓令 167 xiǎoxiānròu 小鮮肉 164 Xià-Shāng-Zhōu-Chronologie-Projekt 33 Xiānbēi 193 xiǎorén 小人 72 xiǎoyǎ 小雅 51 xiào 孝 siehe Kinder, Pietät Xí, Jìnpíng 習近平 165, 201, 204 Xīn wénhuà yùndòng 新文化運動 siehe Neue Kulturbewegung xìn 信 siehe Kardinaltugend xíngmíngjiā 形名家 siehe míngjiā Xīnqīngnián 新青年 siehe Neue Jugend Xiōngnú 193, 195 Xīxiāngjì 西廂記 siehe Geschichte vom Westzimmer Xīyóujì 西遊記 siehe Die Reise nach Westen Xúnzǐ 荀子 71 f., 76–78 yáng 陽 75 Yè sī 夜思 52 f. YG Entertainment 167 Yí 彝 118 yì 義 siehe Kardinaltugend Yìjīng 易經 siehe Buch der Wandlungen yīn 陰 75 yuèfǔ 樂府 52 f. zájù 雜劇 53 Zeit der Hundert Schulen siehe Hundert Schulen Zeit der Streitenden Reiche 51, 69, 76 f., 80 Zeitzeug*in 21 Zen 89, 93 siehe auch Buddhismus Zēng, Yì 曾亦 133

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Zentralasien 86, 90, 182, 193 Zentralebene siehe China Zentralverwaltungswirtschaft siehe Planwirtschaft zhéxué 哲学 68 zhì 智 siehe Kardinaltugend zhōng 忠 71 Zhōngguó mèng 中國夢 siehe China, Traum Zhōngguóxué 中國學 207 Zhōngtǐ Xīyòng 中體西用 206 Zhōngyōng 中庸 73 zhōngyuánjié 中元節 87

Zhōu, Zǐyú 周子瑜 166 Zhū, Xī 朱熹 73 siehe auch Neokonfuzianismus Zhuāngzǐ 莊子 74, 86 siehe auch Daoismus Zins 171 Zivilgesellschaft 133, 177 Zivilisation 10, 33, 37, 70, 79, 94, 118, 143, 193, 203 Zōu, Róng 鄒容 43 Zwei-Kind-Politik 115 Zweisprachigkeit 101 Zweitsprache 100