Einführung, Kommentar, Indices - Введение, комментарии, индексы, Bd. 2 9783641310790

Als Paleja bezeichnet man ein Genre von Anthologien zur alttestamentlichen Geschichte. Die Paleja-Literatur erzählt die

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German Pages 812 [810] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Die Kurze Chronographische Paleja im Kontext von Paleja-Literatur und Chronographie
2. Quellen und Paralleltexte
3. Die Zeitstrukturen der Kurzen Chronographischen Paleja zwischen Chronographie und Zahlenmystik
4 Rezeption der Kurzen Chronographischen Paleja
5 Editionsprinzipen
Kurze Chronographische Paleja. Kommentar
Part 1
Part 2
Part 3
Anhang. Beschreibung der Handschriften D und V
Verzeichnis der zitierten Literatur
Stellenregister
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Einführung, Kommentar, Indices - Введение, комментарии, индексы, Bd. 2
 9783641310790

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Die Kurze Chronographische Paleja Краткая Хронографическая Палея Herausgegeben von Christfried Böttrich und Evgenij G. Vodolazkin

BAND

2

Dieter Fahl, Sabine Fahl und Christfried Böttrich unter Mitarbeit von Michail Šibaev und Ivan Christov

Die Kurze Chronographische Paleja Einführung, Kommentar, Indices Дитер Фаль, Сабине Фаль и Христфрид Бёттрих при участии Михаила Шибаева и Ивана Христова

Краткая Хронографическая Палея Введение, комментарии, индексы

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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlagmotiv: Hs Nr. 551 aus der Sammlung des Iosifo-Volokolamskij-Klosters, Russische Staatsbibliothek zu Moskau (vor 1561), in dieser Edition Sigel V, Folium 1 ISBN 978-3-641-31079-0 www.gtvh.de

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Inhalt Einleitung  .............................................................................................................................. 1 1

Die Kurze Chronographische Paleja im Kontext von Paleja-Literatur und Chronographie  ...................................... 3

2 Quellen und Paralleltexte  .....................................................................................  6 2.1 Tolkovaja Paleja und Palaea Historica  ....................................................................  6 2.2 Biblische Bücher  ..................................................................................................... 13 2.3 Chronographie  ........................................................................................................ 15 2.3.1 Georgius Monachus, Johannes Malalas und die aus deren Chroniken schöpfende Nestorchronik  ....................................... 15 2.3.2 Ps.-Eustathius von Antiochia  .................................................................................. 18 2.3.3 Georgius Syncellus  ................................................................................................. 20 2.3.4 Georgius Cedrenus  .................................................................................................. 21 2.3.5 Kurzchroniken  ........................................................................................................ 21 2.3.5.1 Die Chronographia brevis des Nicephorus  ............................................................. 22 2.3.5.2 Die Kurzchronik des Petros von Alexandria  ........................................................... 23 2.3.5.3 Kirchenslavische Kurzchroniken  ............................................................................ 24 2.4 Das kirchenslavische Synaxarion  ........................................................................... 32 2.5 Chronographische Daten aus weiteren Quellen  ...................................................... 36 2.6 Paralleltexte in altrussischen Chronografy  ............................................................. 39 2.7 Exkurs: Hypothetische Quellen  .............................................................................. 44 3 3.1 3.2

Die Zeitstrukturen der Kurzen Chronographischen Paleja zwischen Chronographie und Zahlenmystik  .......................................... 46 Fortlaufende Daten: absolute Jahreszahlen, Jahresabstände, Generationen  ............................................ 48 Zyklische Daten: Indiktion, Mond- und Sonnenzyklus, vrucělěto  ...................................................... 75

4 Rezeption der Kurzen Chronographischen Paleja  ............................................ 85 4.1 Handschriftenüberlieferung  .................................................................................... 85 4.1.1 Sigel der Handschriften  .......................................................................................... 86 4.1.2 Russische Nationalbibliothek zu St. Petersburg, Sammlung M. P. Pogodin, Nr. 1434 (Sigel P)  ........................................................ 87 4.1.3 Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, Nr. 24.5.8 (Sigel B)  .................................................................... 91 4.1.4 Russische Staatsbibliothek zu Moskau, Sammlung S. O. Dolgov (f. 92), Nr. 1 (Sigel D)  .................................................... 92

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VI 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2

Russische Staatsbibliothek zu Moskau, Sammlung des Iosifo-Volokolamskij-Klosters (f. 113), Nr. 551 (Sigel V)  ................................................................................................... 94 Russische Nationalbibliothek zu St. Petersburg, Sammlung M. P. Pogodin, Nr. 1436 (Sigel K)  ...................................................... 100 Russische Nationalbibliothek zu St. Petersburg, F.IV.603 (Sigel L)  ................................................................................................. 102 Rückschlüsse auf Entstehung und Überlieferung der Kurzen Chronographischen Paleja  ................................................................. 103 Weitere Rezeptionsspuren  ..................................................................................... 105

5 Editionsprinzipien  ............................................................................................... 107 5.1 Textband  ................................................................................................................ 107 5.2 Kommentarband  .................................................................................................... 110 Kurze Chronographische Paleja Kommentar  .........................................................................................................................  111 Anhang: Beschreibung der Handschriften D und V Michail Alekseevič Šibaev  .................................................................................................... 697 1 Российская государственная библиотека, Научно-исследовательский отдел рукописей, Собрание С. О. Долгова (ф. 92), № 1 (Sigel D)  ................................................. 698 2 Российская государственная библиотека Научно-исследовательский отдел рукописей, Собрание Иосифо-Волоколамского монастыря (ф. 113), № 551 (Sigel V)  .................................................................................................... 700 Verzeichnis der zitierten Literatur  ................................................................................... 707 Stellenregister  ..................................................................................................................... 757 Biblische Schriften  ............................................................................................................... 758 Altes Testament  ..................................................................................................... 758 Neues Testament  ................................................................................................... 780 Jüdische Schriften  ................................................................................................................ 783 Qumranschriften  ................................................................................................... 783 Josephus Flavius  ................................................................................................... 783 Rabbinische Schriften  ........................................................................................... 784 Apokryphen und Pseudepigraphen  ...................................................................................... 785 Alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen  .......................................... 785 Neutestamentliche Apokryphen  ............................................................................ 787 Apostolische Väter  ............................................................................................................... 788

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VII Väterliteratur (einschließlich spuria)  ................................................................................... 788 Historiographie und Chronographie (einschließlich Palaea/Paleja-Literatur)  ............................................................................... 791 Kurzchroniken  ...................................................................................................... 796 Kurzchroniken vor altrussischen Lokalchroniken  ....................................... 796 Hagiographische Literatur  ................................................................................................... 797 Liturgische Literatur, Hymnographie, geistliche Volksdichtung  ......................................... 798 Homiletische Literatur  ......................................................................................................... 799 Konzilsakten  ........................................................................................................................ 800 Weitere Schriften  .................................................................................................................. 800

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Einleitung

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Εἰ οὖν παύεται γένεσις καὶ φθορά, οὐκέτι χρόνοι, οὐδὲ ἀριθμοὶ βραχύτατοι, οὐδὲ κύκλος ἑβδομάδων, δι᾿ ἡμερῶν ταυτότητος ἀλλασσόμενος καὶ τροχοῦ δίκην ἐπὶ τὸν αὐτὸν τόπον εἱλισσόμενος. Wenn nun Werden und Vergehen nicht aufhören, so auch nicht die Zeiten, auch nicht die kleinsten Zahlen, auch nicht der Wochenkreis, der in Gleichheit der Tage wechselt und sich gleich einem Rad zur gleichen Stelle hin im Kreise dreht. Ephraem der Syrer

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1. Die Kurze Chronographische Paleja im Kontext von Paleja-Literatur und Chronographie Die KP steht an der Grenze, an welcher die Paleja-Literatur, ein Zweig der europäischen Historienbibeln, ins chronographische Genre hinüberwächst. Um die Vielfalt, die beim Gebrauch der Termini Chronik, Chronogaf, Annalen etc. bis in die jüngste Zeit herrscht1, hier nicht durch weitere Definitionen zu vermehren, benutzen wir im Folgenden die in der Slavistik übliche Terminologie.2 Der Oberbegriff der Chronikliteratur umfasst dabei - die großen Weltchroniken griechischen Ursprungs, die von der Schöpfung bis in die Gegenwart ihres Autors bzw. Kompilators reichen - die so genannten Chronografen (russ.: chronografy), kirchenslavische Neukompilationen, die von der Schöpfung meist ebenfalls nur bis in die byzantinische Zeit reichen3 - die Annalen (russ.: letopis’), welche Lokalgeschichte verzeichnen, zu Beginn häufig mit einem kurzen Überblick über die Weltgeschichte verknüpft. Hinzu kommen die Kurzchroniken (auch supputationes oder einfach Listen genannt), tabellenähnliche Übersichten über die Chronologie heilsgeschichtlich relevanter Daten.4 Mit den Chronografy aufs engste verbunden ist die Paleja-Literatur, denn dort wird ebenfalls Weltgeschichte erzählt. Allerdings bilden bei der Palaea/Paleja – von Παλαιὰ διαθήκη (Altes Testament) – zunächst alttestamentliche Stoffe von der Weltschöpfung bis zur Königsgeschichte den Schwerpunkt; diese wird nicht nur aus biblischen und außerbiblischen Quellen kompiliert, sondern auch ausgelegt bzw. kommentiert. Zahlreiche apokryphe, zum Teil nur noch hier erhaltene Überlieferungen fließen ein. Unter den Chronografy stehen besonders der Troickij Chronograf (zwischen dem 13. Jh. und dem Anfang des 15. Jh.s) und der Letopisec Ellinskij i Rimskij der zweiten Redaktion (im Folgenden: LER, wohl frühes 15. Jh.) in einem engen, noch nicht restlos geklärten Verwandtschaftsverhältnis zur KP. Angeregt durch die so genannte Palaea Historica (im Folgenden: HP, russisch: Istoričeskaja Paleja, abgekürzt IP), eine parabiblisch-exegetische Kompilation, die früh aus dem Griechischen ins Kirchenslavische übersetzt wurde, entwickelte sich in Nordrussland vom 13. bis zum 15. Jh. ein ganzes Paleja-Genre. Zuerst entstand die Tolkovaja Paleja (Palaea Interpretata, im Folgenden: TP), aus deren Verbindung mit chronographischen Texten dann die beiden Hauptzweige der Chronografičeskaja Paleja (Palaea Chronographica) hervorgingen: die Polnaja Chronografičeskaja Paleja (Vollständige Chronographische Paleja, im Folgenden: PP) und die

1 Vgl. etwa den Versuch einer Neubestimmung bei Burgess, Kulikowski 2013, 8–62. 2 Vgl. Tvorogov 1975, 8–9, Vodolazkin 2000a, 22–25. 3 Notizen am Schluss erwähnen oft die Taufe Bulgeriens und der Rusʼ und schaffen so einen Anschluss an die Lokalgeschichte. 4 Wir benutzen den Begriff Kurzchronik ausschließlich in diesem Sinne, um eine Verwechslung mit den so genannten Kleinchroniken, die lokale Ereignisse über einen kurzen Zeitraum dokumentieren (vgl. die Edition von Schreiner 1975–1979), zu vermeiden.

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Einleitung

Kratkaja Chronografičeskaja Paleja (Kurze Chronographische Paleja, im Folgenden: KP).1 Sie alle haben im Alten Testament ihren Ausgangs- und Haftpunkt, sind aber dennoch mit dem Begriff „re-witten bible“ nur unzureichend bezeichnet.2 Die KP, kompiliert im ersten Drittel des 15. Jh.s, erzählt die Weltgeschichte im Überblick, von der Schöpfung bis zu Romanos I. Lakapenos (gest. 944). Mit diesem Kaiser endet die Chronik des Georgius Monachus (Hamartolus-Chronik), die neben der TP die Hauptquelle der KP bildete. Die Lokalgeschichte spielt für die Darstellung der Heilsgeschichte3 in der KP noch keine Rolle. Systematisch wird die Lokalchronographie in Russland mit der Weltchronik erst vom 16. Jh. an verbunden – d. h. nach dem Fall von Konstantinopel, der dazu führte, dass sich die Rusʼ auch in die zentralen heilsgeschichtlichen Abläufe der Weltgeschichte unmittelbar einbezogen sah.4 Bis dahin waren es in erster Linie Kurzchroniken, die, eingefügt in die Annalen, die Lokalgeschichte mit der Heilsgeschichte des Kosmos verbanden. Der Kompilator der KP 5 benutzte ausschließlich Texte, die bereits in slavischer Übersetzung vorlagen. Er verkürzte sie radikal, teils zu Bausteinen von Einzelsätzen oder sogar Teilsätzen, und setzte sie neu zu einem eigenen Text zusammen. Dabei entwickelte er spezifische, stark am chronographischen Genre orientierte Formen der Geschichtspräsentation, die seine Auswahlkriterien maßgeblich beeinflussten.6 Der Titel der KP „Wort aus der Paleja, welches sind die kostbarsten Stellen, abgeschrieben in Kürze vom Anfang der Schöpfung an“ (Слово от Палеи, еже суть очи, списаны вкратце от начала твари) kündigt das Konzept recht genau an: Als maßgebliche Quelle dient zunächst die „Paleja“, konkret die TP, für die Zeit nach Salomo, die dort nicht mehr behandelt wird, die kirchenslavische Übersetzung der Hamartolus-Chronik. Daraus und aus ergänzend herangezogener Literatur wird „abgeschrieben“ (tatsächlich, soweit irgend möglich, wörtlich), was sich an Wesentlichem für die Weltgeschichte ereignet hat. Diese erscheint als Kontinuum, das mit der Schöpfung beginnt und offenbar auf die Vollendung am Jüngsten Tage zusteuert. Das erwartete Ende der Welt wird in der KP nicht thematisiert, bleibt aber, v. a. anhand der 1 Allgemeine Bibliographien und Lexikon-Einträge zur Paleja-Literatur: O. V. Tvorogov, Artikel „Палея Толковая“ in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 285–288; ders., Artikel „Палея историческая“ in: Slovar’ knižnikov II. 2, 1989, 160–161, Nachträge in II. 3, 2012, 310; ders., Artikel „Палея хронографическая“, in: Slovar’ knižnikov II. 2, 1989, 161–162, Nachträge in II. 3, 2012, 310–311; Trifunović 1990, 231–232; Hannick 1993; Thomson 1998, 870–873 und 882–981; Miltenova 2003; Alekseev 2006; Böttrich 2007; Orlov 2007; ders. 2009; Mil’kov 2017, 73–93 (z. Z. die umfangreichste Bibliographie, aber teils fehlerhaft, v. a. bei den Annotationen); zu den einzelnen Apokryphen und Pseudepigraphen, die in der Palaea/Paleja-Literatur erscheinen, auch DiTommaso 2001. 2 Vgl. Adler 2013, 586. 3 Der Begriff Heilsgeschichte wird in der heutigen Theologie kontrovers diskutiert; vgl. Reinmuth 2003 (v. a. zur Krise des Begriffs) sowie Frey, Krauter, Lichtenberger 2009 (im Bemühen um seine theologische Rehabilitierung). Das Weltbild in der altrussischen Chronographie im Allgemeinen und der KP im Besonderen indes lässt sich mit diesem Terminus treffend bezeichnen (vgl. Vodolazkin 2000a, 16–18), so dass wir nicht darauf verzichten. 4 Vgl. Vodolazkin 2006b, 234. 5 Wir sprechen hier und im Folgenden vom Kompilator der KP vereinfachend im Singular, obwohl aus dem Text nicht eindeutig hervorgeht, dass ihn eine Person erarbeitet hat. Aufgrund von Strukturmerkmalen, die sich durch den gesamten Text ziehen – unten unter 3. exemplarisch an den Zeitstrukturen dargestellt –, ist die ordnende Hand einer Person anzunehmen. Dies schließt jedoch die Beteiligung weiterer Mitarbeiter nicht aus. 6 In wie starkem Maße die Form, in der Geschichte präsentiert wird, den Inhalt chronographischer Texte modelliert, zeigt etwa Wahlgren 2015 am Beispiel der Frage, was Symeon Logotheta aus Theophanes Confessor herausfilterte.

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1 Die KP im Kontext von Paleja-Literatur und Chronographie

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Zeitangaben, immer im Blickfeld. Die Auswahl und Gewichtung der Ereignisse ist deutlich an dem Streben nach der Darstellung des kontinuierlichen Ablaufs orientiert. Ausgewählt werden tatsächlich „in Kürze“ nur die очи, wörtlich: die „Augen“, hier im Sinne von „Perlen“, „kostbarsten Stellen“.1 Dabei erscheint alles, was das Ordnen des Geschichtsablaufs erlaubt, in überschaubaren Proportionen und wird mit ähnlicher Knappkeit behandelt – keineswegs eine Selbstverständlichkeit im zeitgenössischen Kontext, wenn man bedenkt, dass ein etwa gleichzeitig und wohl sogar in der gleichen Gegend entstandener Chronograf, der Letopisec Ellinskij i Rimskij der zweiten Redaktion, in seine Darstellung der Weltgeschichte neben kurzen Überblicksartikeln lange Narrative wie die ganze Alexandreis des Ps.-Kallisthenes und das ausführliche Marienleben des Mönchs Epiphanius 2 zu integrieren vermochte.3 Im Sinne dieses Konzepts der KP wird die aus der TP übernommene typologische Exegese radikal reduziert (aber nicht vollständig übersprungen) und die Polemik gegen das Judentum aus derselben Quelle fast gänzlich ausgelassen. Auch exegetische Passagen aus der Hamartolus-Chronik fallen weg. Bei den Listen von Heiligen, die der Zeit des jeweiligen Herrschers zugeordnet werden, ist der Kompilator hingegen erkennbarerweise auf Vollständigkeit bedacht.4 Die Heiligen garantieren ebenso wie die Abfolge der Herrscher das Kontinuum der Weltgeschichte, die nach altrussischer Auffassung ungebrochen als Heilsgeschichte zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang ist eine Besonderheit der KP zu erwähnen: Ihr Kompilator zeigte ein in der kirchenslavischen Chronographie einmaliges Interesse an unterschiedlichen Formen der genauen Datierung von Ereignissen. Wir widmen den Zeitstrukturen in der KP einen separaten Abschnitt.5 Die vorliegende Edition der KP war als Teil eines größeren Gemeinschaftsprojekts geplant, bei welchem von mehreren Forschergruppen die gesamte byzantinisch-slavische Palaea/ Paleja-Tradition im Kontext der europäischen Historienbibeln untersucht und die zugehörigen Texte kritisch ediert werden sollten. Bedauerlicherweise scheiterte dieses Vorhaben an Finanzierungsproblemen, so dass nun allein der Teil davon erscheinen kann, der in den Rahmen eines finanzierbaren Projekts passte. In wie hohem Maße das eingehende Studium aller Paleja-Zweige zum Erhellen der komplexen Überlieferungszusammenhänge gerade parabiblischer Texte beiträgt, wurde exemplarisch an der apokryphen „Leiter Jakobs“ in einer gesonderten Publikation dargestellt.6

1 Die „Augen“ im Titel verbinden das Werk mit der IP, vgl. unten unter 2.1. 2 Er wirkte im 9. Jh. im Kloster τῶν Καλλιστράτου in Konstantinopel. 3 Vgl. Vodolazkin 2006b, 235. Zum Letopisec Ellinskij i Rimskij vgl. unten unter 2.6. 4 Zu den Heiligen-Listen vgl. unten unter 2.4. 5 Vgl. unten unter 3. 6 Fahl, Böttrich 2015.

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Einleitung

2. Quellen und Paralleltexte Dank einer Reihe von Studien, die im 19. Jh. einsetzten und bis in die Gegenwart fortgeführt werden, sind die meisten direkten Quellen der KP bereits ermittelt.1 Einige weitere konnten im Laufe der Untersuchungen für die vorliegende Edition gefunden werden. Da die KP ausschließlich aus Texten kompiliert wurde, die in kirchenslavischer Sprache vorlagen und zum größten Teil der Übersetzungsliteratur angehören, stehen im Hintergrund der direkten Quellen in fast allen Fällen indirekte – zunächst die jeweiligen Originale der slavischen Übersetzungen, welche ihrerseits meist aus weiteren Quellen geschöpft haben. Diese Kette kann nur selten bis zu ihrem frühesten Glied zurückverfolgt werden. Gelegentlich fehlen auch noch Zwischenglieder.2 Unser Anliegen war es, in den Kommentaren möglichst vollständig die direkten Quellen und deren fremdsprachige (meist griechische) Vorlagen nachzuweisen. Die hier folgende Übersicht soll die Orientierung darin erleichtern, Hauptüberlieferungsstränge zeigen und die Arbeitsweise des KP-Kompilators mit seinen Quellen vorstellen, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Quellenregister bietet alle ermittelten Quellen und Parallelstellen.

2.1 Tolkovaja Paleja und Palaea Historica Der Anfangsteil der KP von der Schöpfung bis zu den Vorbereitungen zum Tempelbau unter Salomo (KP 1 – 21. 1, insgesamt etwa 44 % des KP-Textes) fußt in erster Linie auf der TP. Da dieses Hauptwerk der slavischen Paleja-Literatur noch immer etliche Rätsel aufgibt, soll es hier etwas ausführlicher als die übrigen KP-Quellen vorgestellt werden. Der Titel „Толковая Палея“, der aus der handschriftlichen Überlieferung stammt, ordnet das Werk der exegetischen Literatur zu; er bedeutet wörtlich „Kommentiertes/Ausgelegtes Altes Testament“. Tatsächlich ist die TP eine Darstellung der alttestamentlichen Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zu König Salomo, erzählt entlang den biblischen Büchern Genesis, Exodus, Leviticus (nur am Rande), Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter, Rut und 1. bis 3. Könige. Dorthinein verwoben sind u. a. Auszüge aus den Quaestiones des Theodoret von Cyrus zum Oktateuch, aus der Christlichen Topographie des Cosmas Indicopleustes, den Hexaemera des bulgarischen Exarchen Ioann und des Severian von Gabala, der Scala Paradisi des Johannes Sinaiticus, dem Physiologus, aus Homilien von Ephraem dem Syrer und (Ps.-) Johannes Chrysostomus, aus den Chroniken des Georgius Monachus, Johannes Malalas, Georgius Cedrenus und Ps.-Eustathius, dem Chronographikon syntomon des Nicephorus, sowie aus etlichen Apokyphen und Pseudepigraphen, darunter die Apokalypse Abrahams, die Geschichte 1 Meilensteine in der Forschung setzten hier Tichonravov 1863; 1898; Uspenskij 1876; Porfir’ev 1877; Ždanov 1881; Michajlov 1895–1896; 1895a; 1912; 1927; 1928; Istrin 1898a; 1903; I–IV (1905–1906); 1906, 131–139; Adrianova (= Adrianova-Peretc) 1909/1910; Tvorogov 1974; 1975; de Santos Otero I–II (1978 und 1981) und 1989; Vodolazkin 1990; 1996; 1999; 2000a; 2000b; 2001; 2004a; 2007b; 2009; 2011; 2014b; Alekseev 1993b; 2006; Slavova 2002. 2 So konnten wir beispielsweise zwar die enge Beziehung der apokryphen KP-Erzählung über den Tod Esaus (KP 7. 6) zu Jub nachweisen, nicht aber den Weg, den ihre kirchenslavische Überlieferung genommen hat (vgl. den Kommentar zu diesem KP-Abschnitt).

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.1 Tolkovaja Paleja und Palaea Historica

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Melchisedeks des Ps.-Athanasius, die Leiter Jakobs, die Testamente der zwölf Patriarchen und apokryphe Mose-Überlieferungen.1 Die meisten dieser Quellen sind auch in den TP-Auszügen der KP noch erkennbar. Neben der Ausrichtung am Ablauf der alttestamentlichen Geschichte bildet die Gestaltung in Form eines Dialogs mit einem fiktiven Juden das entscheidende Strukturmerkmal der TP. Sie erweist sich damit als Teil der slav. Adversus-Judaeos-Literatur, die in der Tradition der Kirchenväter steht und typologische Exegese in erster Linie als Nachweis für die Vollendung des Judentums im Christentum betreibt.2 Während in den narrativen Passagen die Quellen teils wörtlich, teils zusammenfassend referiert werden, ohne dass sich eine eigene Theologie des Autors 3 daraus ablesen ließe 4, wird in seinen Kommentaren, die an den fiktiven jüdischen Gesprächspartner gerichtet sind, zwar gleichfalls die Väterliteratur benutzt, aber oftmals auch eine eigene (teils auf kirchenslavischen Fehlübersetzungen beruhende) Argumentation entwickelt 5, stets gelenkt von einem symbolisch-theologisch-hermeneutischen Interesse 6: Der Jude möge verstehen, dass vom Beginn der Welt an – also gerade auch in den an seine Vorväter und höchsten Autoritäten gerichteten Offenbarungen – Christus als der Erlöser verkündet worden sei und dass seit dessen Kommen die Christen Gottes auserwähltes Volk seien und nicht mehr die Juden. Seit dem 19. Jh. wurde immer wieder versucht, hinter den TP-Kommentaren Kontroversen mit realen jüdischen Gegnern in der Rusʼ auszumachen.7 In Auseinandersetzung mit diesen 1 Erste Zusammenstellungen der Quellen vgl. bei Uspenskij 1876 und Ždanov 1881. Einflüsse von Ioanns Hexaemeron auf die TP (und in späteren altruss. Hexaemeron-Hss auch umgekehrt) untersuchte Barankova 1982. Slavova 1991, 64–66, sammelte die Hexaemeron-Zitate der TP nochmals im Zusammenhang mit ihrem Versuch, den altbulgarischen Ursprung der TP zu beweisen. Slavova 2000 stellte in eben diesem Bestreben die bislang umfangreichste Liste von Quellen der TP zusammen. Auf S. 113–167 gibt sie die alttestamentlichen Zitate der TP an. Ebd., 168–259, bietet sie Sammlungen der TP-Stellen aus folgenden Quellen: Ioann Exarch (Hexaemeron), Johannes von Damascus (Dogmatik), Ps.-Caesarius Nazianzenus, Cosmas Indicopleustes, Theodoret von Cyrus (Quaestiones zum Pentateuch), Chronicon Paschale, Chronik des Johannes Malalas, Chronik des Georgius Monachus, Chronik des Georgius Syncellus, Chronographikon syntomon des Nicephorus, Ausführliche Vita des Konstantin-Kirill, Ephraem der Syrer (Paraenesis), Physiologus, Epiphanius (De gemmis). Anschließend (ebd., 260–269) behandelt sie kurz folgende Apokryphen und Pseudepigraphen der TP: die Testamente der zwölf Patriarchen, die Leiter Jakobs, die Apokalypse Abrahams sowie kurze apokryphe Erzählungen über Abel, Set, Henoch, Noach und die Flut, den Götzendienst unter Serug und Nahor. Einzelne Quellen sind zudem bei Mil’kov, Poljanskij 2002 angegeben. Ausführliche Studien zu den Quellen der TP stehen noch aus; keineswegs alle sind ermittelt. 2 Vgl. Pereswetoff-Morath 2002 und als Kritik zu dieser Arbeit Vodolazkin 2004c sowie die bei beiden Autoren angegebene Literatur. Grundlegend vgl. Schreckenberg 1991; 1994; 1999. 3 Ob ein Kompilator bzw. Autor oder mehrere an der TP gearbeitet haben, wird im Text nicht gesagt. Einige Forscher, letztens I. V. Dergačeva, stellten Indizien dafür zusammen, dass es sich um eine einzelne Person gehandelt habe (vgl. Dergačeva 2014 und die dort angegebene Literatur). Weil in solchen Untersuchungen jedoch oft der Eigenanteil an der theologischen Argumentation stark überbewertet zu sein scheint, ist es für eine definitive Aussage in dieser Frage wohl noch zu früh. (Vgl. unten zur fehlenden kritischen Edition des Textes, die dafür unerlässlich wäre.) 4 Die Quellen aus verschiedenen, teils einander widersprechenden theologischen Schulen werden in der TP unkritisch referiert und aneinander gereiht. Milʼkov 2017, der zu diesem Ergebnis kommt, versucht dennoch in derselben Arbeit, eine eigene Theologie der TP zu konstruieren. 5 Von den wenigen in die KP übernommenen TP-Kommentaren bildet der zum Segen des Mose über den Stamm Levi dafür ein anschauliches Beispiel (vgl. den Kommentar zu KP 11. 9,8 und 11. 9,11). 6 So schon Tichonravov 1898, 159–160. Petkov 2019 versucht nachzuweisen, dass die Quellenauswahl der TP mit diesem Ziel einen Schwerpunkt auf apokalyptische Texte aus der frühjüdischen Tradition legt. 7 Ein Beispiel aus jüngerer Zeit findet sich im Einleitungsartikel von V. Kožinov zu Kamčatnov 2002 auf S. 7.

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Einleitung

Thesen führte E. G. Vodolazkin den Nachweis, dass die TP hier in der Tradition der AdversusJudaeos-Literatur rein apologetisch ausgerichtet ist und christliche, keineswegs aber jüdische Leser als Zielgruppe anspricht.1 Sie setzt damit eine Linie fort, die schon im griechischen Ausgangstext des Genres, der HP, begann.2 Nicht nur polemische, sondern auch enzyklopädische Funktion wird der TP bis in die jüngste Forschung hinein unterstellt.3 Da das Sammeln aller verfügbaren Informationen rund um ein Thema zu den Charakteristika mittelalterlicher Literatur im Allgemeinen und altrussischer im Besonderen gehörte, ist diese Behauptung nicht von vornherein abwegig. Sie führt jedoch auf ein falsches Gleis, wenn dieses enzyklopädische Wesen des Textes funktional gedeutet wird. Stellt die TP etwa umfangreiches Material zur Kosmologie, zur Erschaffung von Pflanzen, Tieren und Menschen zusammen, so dient dies nicht der naturwissenschaftlichen Bildung des Lesers, sondern in erster Linie der Betrachtung und Verherrlichung des Schöpfungswunders. Von diesem aber ist zuerst zu berichten, denn es bildet den Anfang der Heilsgeschichte. (Schon das Einbeziehen von phantastischen Geschöpfen aus dem Physiologus, die auch einem altrussischen Leser nie begegnen konnten, lässt den Gedanken an ein naturwissenschaftliches Interesse als entscheidende Motivation des Autors zweifelhaft erscheinen.) 4 Das Füllhorn in der TP gesammelten Wissens wurde allerdings später sehr wohl in enzyklopädische Sammelbände ausgegossen: Kleine und große Auszüge aus der TP – gerade aus den „naturwissenschaftlichen“ Abschnitten, die das Sechstagewerk erläutern – fanden vom 14. und

1 Vgl. Vodolazkin 2000a, 109–119. Die differenzierte Benutzung der altrussischer bzw. kirchenslavischer Lexeme, die Juden bezeichnen, untersuchte Griščenko 2011 für die TP statistisch. 2 Vgl. unten im vorliegenden Abschnitt. 3 Vgl. z. B. schon im Titel der Arbeit von Mil’kov 2017; ähnlich trotz klarer Beschreibung der exegetischen Verfahren in der TP auch Gromov 2014, 12. 4 Der Ursprung für die unselige Wiederkehr der Behauptung, die TP sei eine Enzyklopädie, ist wohl in O. V. Tvorogovs Artikel „Палея Толковая“ in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 285–288, hier S. 286, zu suchen, wo es heißt: „In der P bildet die biblische Erzählung von der Erschaffung der Welt und des Menschen und von der Geschichte des Menschengeschlechts den Gegenstand umfangreicher theologischer Erörterungen: polemischer, an ‚den Juden‘ gerichteter Lehrreden, Erklärungen zum symbolischen Sinn vieler alttestamentlicher Ereignisse als Vor-Bilder der kommenden neutestamentlichen. In etlichen Fällen wird die ‚historische‘ Erzählung durch ‚naturwissenschaftliche‘ Erörterungen unterbrochen. All dies verleiht der P Universalität, macht sie zu einer Art Enzyklopädie sowohl theologischen Wissens als auch mittelalterlicher Vorstellungen von der Weltordnung.“ (Übers. S. Fahl). Unter den Bedingungen der sowjetischen Zeit (Tvorogovs Artikel erschien 1987, war also gewiss schon vor der Perestrojka zum Druck gegangen) muss diese Darstellung als präzise und korrekt gelten. Der Artikel bietet das damals mögliche Maximum an Information über ein oder sogar das Hauptwerk altruss. theologischer Literatur. Zu bedenken bleibt, dass zur selben Zeit sogar der höchste Autorität genießende Leiter der Abteilung Altrussische Literatur am Institut für Russische Literatur (Puschkinhaus) der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad, D. S. Lichačev, es nicht vermochte, die TP für die Aufnahme in die 12bändige Anthologie altruss. Literatur „Памятники литературы Древней Руси“ durchzusetzen und noch am Ende des 20. Jh.s nicht am Telefon über die Details reden wollte. (Vgl. Michalʼskij 2014, 4.) Theologische Literatur blieb lange ein Tabuthema. Auch Ende der 80er Jahre durfte beispielsweise das Wort „Vita“ noch nicht in einem Dissertationsprojekt vorkommen, es musste „Erzählung über“ heißen. Die frühen Arbeiten von O. V. Tvorogov zu den Chronografy und zur Paleja-Literatur sind daher umso höher zu schätzen, aber stets auch im Hinblick darauf genau zu lesen, dass sie unter Zensurbedingungen und praktisch ohne Zugang zu theologischer Forschungsliteratur geschrieben wurden. Bezüglich der TP bedeutet dies: Es ist an der Zeit, die „Enzyklopädie“ ad acta zu legen.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.1 Tolkovaja Paleja und Palaea Historica

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15. Jh. an den Weg in die großen Wissensspeicher der Zlataja Matica und des Zlatoust ebenso wie in kurzgefasste Sborniki enzyklopädischen Inhalts.1 Bis im Jahre 1499 die so genannte Gennadij-Bibel erschien, war die Bibel im Kirchenslavischen nicht als ein Buch im Umlauf. Es lagen bis dahin nicht einmal alle alttestamentlichen Bücher übersetzt vor (etliche wurden erst für diese Unternehmung des Novgoroder Erzbischofs Gennadij ins Ksl. übersetzt), und die vorhandenen waren in erster Linie in Gestalt der Parömienbücher verbreitet, welche die Lesungen des Kirchenjahres enthielten, keineswegs aber den vollständigen Text.2 Einen Überblick über die alttestamentliche Geschichte bot die TP, die mit ihrem „kommentierten“ Text von der Genesis bis zu den Königsbüchern die Funktion des fehlenden AT weitgehend übernahm. In ihrer literarisch durchgearbeiteten Struktur des umfangreichen Materials bildet die TP ein einzigartiges Meisterwerk der frühen ostslavischen Literatur.3 Bis heute sind etwa 30 Hss der TP bekannt.4 Sie stammen aus der Zeit vom 14. bis zum 19. Jh. und zeugen von der weiten Verbreitung, die das Werk einst genossen haben muss. Ob es in Bulgarien oder in der Rusʼ entstand, wurde kontrovers diskutiert, bis A. V. Michajlov die Zitate der TP aus dem Büchern Genesis und Rut untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass sie meist in der späten altrussischen Redaktion des 13. Jh.s benutzt wurden.5 Danach galt der (nord-)russische Ursprung der TP als sicher, bis sich T. Slavova erneut darum bemühte, die bulgarische Herkunft zu beweisen.6 Ihre Versuche, zu diesem Zwecke die Untersuchungen Michajlovs zu widerlegen und die Geschichte der kirchenslavischen Genesis-Redaktionen neu zu schreiben, halten jedoch einer genaueren Prüfung nicht stand.7 Den nordwestrussischen Ursprung der TP im 13. Jh. stützen auch die Forschungen von A. Ju. Kozlova, die v. a. die beiden ältesten Hss ausführlich beschrieb und untersuchte: die TP aus Kolomna aus dem Jahre 1406 – Russische Staatsbibliothek zu Moskau, Sammlung der Dreifaltigkeits-Sergij-Lavra (fond 304), Nr. 38 – sowie die älteste heute bekannte TP-Hs, die wohl aus dem dritten Viertel des 14. Jh.s stammt: Russische Nationalbibliothek zu St. Petersburg, Sammlung der Petersburger Geistlichen Akademie, A. I / 119 (größerer Teil, ursprünglich im Aleksandr-Nevskij-Kloster), und Russisches Staatsarchiv für alte Akten (RGADA) zu Moskau, Sammlung der Synodaldruckerei (fond 381), Nr. 53 (kleinerer Teil). Kozlova fand sowohl in der letztgenannten aus dem Raum Novgorod-Pskov stammenden Hs als auch in der von südrussischen Zügen geprägten Hs aus 1 Vodolazkin 1999b verfolgt einige dieser Wege und stellt dabei frühere Annahmen richtig, die einen umgekehrten Überlieferungsweg postulierten. Da die TP-Kommentare in den Sammlungen fehlen, hatte bereits V. M. Istrin vermutet, ein ihm bekanntes Fragment aus einem Sbornik sei Quelle der TP gewesen. Vodolazkin weist hingegen, anknüpfend an Vorarbeiten von Karneev 1900 und Rystenko 1908, mit Hilfe textkritischer Studien nach, dass die TP-Kommentare bei der Übernahme in die Sborniki getilgt wurden. 2 Vgl. etwa Alekseev 2010. Zu den ersten Sammlungen ausschließlich biblischer Bücher in einem Band (vom 14. Jh. an) vgl. bei Thomson 1998, 648–651. 3 So etwa Thomson 1998, 870–871. 4 Vgl. die bislang ausführlichste Hss-Liste bei Slavova 2002, 27–33; eine wichtige Ergänzung zu einer wiederentdeckten serbischen Hs bei Novalija 2008, 20–23. Zu weiteren Hss-Listen und den Schwierigkeiten, die sich aus ihren Abweichungen untereinander ergeben, vgl. Fahl, Böttrich 2015, 18, FN 107. 5 Vgl. Michajlov 1895; 1896; 1927; 1928. 6 Vgl. Slavova 1991; 1994; 2002, passim. 7 Vgl. etwa Thomson 1998, 872–873; Vodolazkin 2007b, 10–14. In den Kommentaren zur vorliegenden KPEdition weisen wir gelegentlich auf Unstimmigkeiten in Slavovas Quellenstudien hin, wo die KP aus der TP alttestamentliche Zitate übernimmt (vgl. z. B. den Kommentar zu KP 17,40).

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Kolomna phonetische sowie lexikalische Merkmale, die (wohl über mehrere Zwischenetappen) auf demselben altrussischen Protographen der TP beruhen, welches deutliche nordwestrussische Dialektmerkmale in seiner Sprache aufwies.1 Der Raum Novgorod erscheint damit als Ursprungsgebiet der TP. Verbreitet war sie fast ausschließlich in der Rusʼ; bislang ist nur eine nichtrussische TP-Hs bekannt, eine serbischen Kopie, die im 17. Jh. für das Athos-Kloster Hilandar nach einer russischen Vorlage angefertigt wurde.2 Eine der beiden von A. Ju. Kozlova bislang am ausführlichsten beschriebenen Hss, die TP aus Kolomna von 1406, bildete den Grundtext für die noch immer einzige kritische TP-Edition, vorgelegt von den Schülern N. S. Tichnonravovs in den Jahren 1892 und 1896.3 Die älteste TPHs aus der Aleksandr-Nevskij-Lavra wurde dort teilweise im Apparat berücksichtigt, ebenso sieben weitere, heute teils verschollene TP-Hss. Die Edition des Grundtextes ist meist zuverlässig, zudem leicht nachprüfbar, da die TP von Kolomna im Internet als Faksimile zugänglich ist.4 Umfang und Gestaltung des Apparats hingegen können gegenwärtigen Ansprüchen nicht genügen, so dass eine Neudedition sehnlich erwartet wurde, als A. Kamčatnov im Jahre 2002 seine TP-Ausgabe veröffentlichte.5 Leider entschied er sich dafür, einen „integralen“ Text herzustellen, d. h. aus Varianten nicht nachgewiesener Provenienz eine eigene kirchenslavische Fassung, die ihm am sinnvollsten erschien, zusammenzuschreiben und diese dann in einem neurussischen Paralleltext zu spiegeln. Die Varianten für den Editionstext wurden nicht nur ohne jeden Nachweis, sondern oftmals auch ohne erkennbaren Grund ausgewählt. Einen Apparat gibt es nicht. Beigegeben sind die Miniaturen aus einer Hs der PP (!), die 1477 in Pskov geschrieben wurde 6. Ergebnis ist eine Leseausgabe, die das Werk popularisiert. Möglicherweise begrenzt für historische Forschungen verwendbar, bietet sie für literaturhistorische oder philologische Untersuchungen keine verlässliche Grundlage. Zudem zeigen die Kommentare 7, wie wenig philologische Sachkenntnis die Mitarbeiter an der Ausgabe einbrachten. Eine wissenschaftliche Edition der TP bleibt also nach wie vor ein dringendes Desiderat. Ein Anfang ist freilich gemacht: Erste diplomatische Teileditionen sind erschienen.8 Und das wahrscheinlich als Fortsetzung der TP konzipierte Proročestvo Solomona („Die

1 Vgl. Kozlova 2007; 2014. 2 Vgl. Novalija 2008; 2019. 3 Zitiert als TP I und II. 4 http://old.stsl.ru/manuscripts/medium.php?col=1&manuscript=038&pagefile=038-0001 (Zugriff: 13. 05. 2019). 5 Kamčatnov 2002. 6 Staatliches Historisches Museum zu Moskau, Synodal-Sammlung, Nr. 210 (Teiledition im Faksimile von P. P. Novickij: Polnaja Chronografičeskaja Paleja 1892). Zur PP vgl. unten unter 2.6. 7 Mil’kov, Poljanskij 2002. 8 Auszüge aus der TP nach der Hs Nr. 620 aus der Sammlung Barsov des Staatlichen Historischen Museums zu Moskau sowie ein folium aus Hs Nr. 653/71 der Solovki-Sammlung der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg veröffentlichten A. M. Kamčatnov (Text und neuruss. Übersetzung) und G. S. Barankova, A. M. Kamčatnov, V. V. Mil’kov, S. M. Poljanskij, R. A. Simonov (Kommentar) bei Gromov, Mil’kov 2000, 114–204 (Auszug aus dem kommentierten Schöpfungsbericht), und nochmals Mil’kov, Poljanskij 2009, 167–369 (zwei längere Auszüge aus dem kommentierten Schöpfungsbericht, der erste größtenteils identisch mit demjenigen in der zuvor genannten Publikation, sowie Testament des Levi: Edition mit Varianten nach den Editionen des 19. Jh.s von TP und PP, neuruss. Übersetzung und Kommentar).

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.1 Tolkovaja Paleja und Palaea Historica

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Prophezeiung Salomos“) aus dem 13. Jh. edierten E. G. Vodolazkin und T. R. Rudi kritisch nach allen bekannten fünf Hss.1 Als Quelle der KP diente die TP wahrscheinlich in Gestalt des so genannten Kirillo-Belozerskij-Typus, der bereits die Apokalypse Abrahams und einige weitere Zusätze gegenüber der ältesten TP-Fassung aufnahm, sonst jedoch weitestgehend den gleichen Text enthält. Benannt wurde diese, von N. S. Tichnonravov als selbständige TP-Redaktion betrachtete Hss-Gruppe 2 nach ihrem Hauptvertreter, Nr. 68/1145 aus der Kirillo-Belozerskij-Sammlung der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg (15. Jh.).3 Da dieser TP-Typus in seinen Zusätzen zum Text der Kolomna-Gruppe nicht ediert ist 4 und auch nicht im Rahmen unseres KP-Editionsvorhabens ediert werden konnte, mussten Abhängigkeitsverhältnisse der KP von der TP in unseren Kommentaren hilfsweise anhand der TP-Edition der Schüler Tichonravovs sichtbar gemacht werden. Welche Abschnitte etwa im Bereich der Abraham-Geschichte direkt aus dem Kirillo-Belozerskij-Typus der TP übernommen wurden, muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben; wir weisen dort lediglich die inhaltlich parallelen Auszüge aus der separat edierten Apokalypse Abrahams 5 nach. Insgesamt lässt sich anhand des systematisch geführten Vergleichs der KP mit der TP der Kolomna-Gruppe feststellen, dass die Hauptquelle der KP in ihrem Anfangsteil stets in Gestalt wörtlich übernommener Fragmente benutzt wurde. Die „Nahtstellen“ – sowohl zwischen den TP-Fragmenten als auch zwischen Fragmenten aus der TP und aus weiteren Quellen – liegen dabei häufig, jedoch nicht immer an der Satzgrenze, wobei minimales Justieren der Syntax 6 in der Regel ausreichte, um einen verständlichen Text zu konstituieren. Selten kommt es zu Kürzungen, die den ursprünglichen Sinn verdunkeln oder entstellen 7; diese Fälle zeigen besonders klar, dass die KP aus der TP schöpft und nicht etwa umgekehrt.8 Der früheste Vertreter der Literaturgattung, die in TP, PP und KP ausgebaut wurde, ist die griechisch-byzantinische Palaea Historica (HP). Wenngleich die TP kaum direkt von deren Wortlaut abhängig zu sein scheint, bildete der kirchenslavische Text der HP, die Istoričeskaja Paleja (IP), wohl das Muster, welchem die TP in ihrer Grundstruktur folgte. Die HP, die wohl im 9. Jh. im byzantinischen Raum entstand 9, stellt eine anonyme Nacherzählung von biblischen Geschichten dar. Sie setzt mit der Schöpfung der Welt ein und reicht bis 1 Vodolazkin 2000a, 315–378, Anhang 4; zu diesem Text vgl. ebd., 232–246. 2 Vgl. Tichonravov 1898, Anhang, 114–122. 3 Derselbe TP-Typus lag wenige Jahrzehnte früher ebenfalls im Raum Novgorod der Kompilation der PP zugrunde, siehe unten unter 2.6. 4 Die TP-Edition der Schüler Tichonravovs von 1892/1896 (TP I–II) berücksichtigt die Hs 68/1145 aus der Kirillo-Belozerskij-Sammlung teilweise im Variantenapparat, jedoch nur an den Parallelstellen zur TP des Kolomna-Typus, die der Edition zugrunde liegt. Kamčatnovs „integraler“ Text kennt sie nicht. 5 Nach den Editionen bei Rubinkiewicz 1987; Philonenko-Sayar, Philonenko 1981 und 1982. 6 Vgl. z. B. den Kommentar zum Satzanfang von KP 7. 7,5. 7 Vgl. z. B. den Kommentar zum Satzanfang von KP 7. 7,1. 8 Zu den Kontroversen in der Forschung in Bezug auf die Abhängigkeit der einzelnen Paleja-Formen untereinander siehe unten unter 2.6 im Zusammenhang mit den Ausführungen zur PP. 9 Vgl. Adler 2013, 588–589. Niehoff-Panagiotidis 2019 versucht anhand sprachlicher Merkmale eine Eingrenzung auf den großsyrischen Raum als Entstehungsgebiet.

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zur Volkszählung des Königs David. Hinzu kommen Geschichten von König Usija, Tobit, von Daniel in der Löwengrube und dem Propheten Habakuk. Der Autor hat aus Quellen verschiedener Genres geschöpft, so der patristischen, exegetischen und liturgischen Tradition, auch aus der byzantinischen historiographischen Literatur. Eng mit dem Großen Bußkanon des Andreas von Kreta verbunden, erscheinen hier etwa umfangreiche Teile des Jubiläenbuches, auch der Antiquitates des Josephus, dann wieder die biblischen Oden, die auch für die KP eine große Rolle spielen.1 Zudem zeichnet sich das Werk durch extensiven Gebrauch und weitgehende Adaption von zahlreichen pseudepigraphen und legendarischen Traditionen, größtenteils jüdischen Ursprungs, aus.2 Dementsprechend enthält die HP Versionen von bekannten Apokryphen bzw. Pseudepigraphen: der Assumptio Mosis, der Erzählung von Jannes und Jambres, der Geschichte Melchisedeks u. a. Solche Bezüge auf literarische Traditionen, die noch über das Mittelalter hinaus kontinuierlich in den christlichen wie auch in den jüdischen Religionsgemeinschaften fortlebten, verbinden die HP auch mit späteren Werken wie der narrativen Schrift Sefer ha-Jaschar („Buch des Aufrechten“, wohl 12. Jh.) 3. Der Einfluss der HP auf die jüngere populäre griechisch-byzantinische Literatur und Kultur war beträchtlich. Er zeigt sich in Werken wie der Kosmogennesis des Georgios Chumnos (Ende des 15. Jh.) 4 oder der Palaia te kai Nea Diatheke, die der Priester Ioannikios Kartanos in den 30er Jahren des 16. Jh.s in einem venezianischen Gefängnis schrieb 5. Schon im 10. Jh. finden sich in der byzantinischen Malerei und Buchillumination Spuren, die von HP-Erzählungen inspiriert wurden.6 Der Text von HP und IP ist ähnlich schwer zugänglich wie derjenige der TP; denn auch hier fehlen noch kritische Editionen. Für die griechische HP liegt noch immer nur die Ausgabe von A. Vasilʼev aus dem Jahre 1893 7 vor; an einer Neuedition arbeitet W. Adler, der bereits eine englische Übersetzung publizierte.8 Ihm sind gegenwärtig mehr als 20 Hss der HP bekannt.9 Der griechische Text wurde wohl vom 12. Jh. an insgesamt dreimal ins Bulgarisch- bzw. Serbisch-Kirchenslavische übersetzt 10, und auch diese Übersetzungen sind nur teilweise ediert: A. Popov veröffentlichte 1881 die mittelbulgarische Übersetzung nach einer ostslavischen

1 Vgl. Adler 2015. Die Erkenntnis von W. Adler, dass es sich bei der HP ursprünglich um einen Kommentar zu dem Großen Bußkanon des Andreas von Kreta handeln könnte, klingt ebd., v. a. S. 21 und 39, bereits an. Ausführlicher dazu und zu den liturgisch-hymnographischen Quellen der HP vgl. Adler 2019. 2 Zu jüdischen Quellen vgl. grundlegend: Flusser 1971. Mit dieser Arbeit setzten die Studien zur HP eigentlich erst ein, nachdem A. Vasilʼev mit seiner editio princeps auf den Text aufmerksam gemacht hatte (Vassiliev 1893) und er bei James 1897, 156–157, kurz erwähnt worden war. 3 Textedition: Genot-Bismuth 1984. 4 Vgl. Böttrich 2007, 308–309, und die dort angegebene Literatur. Speziell zum Abraham-Zyklus in HP, Kosmogennesis und ksl. Sammelbänden vgl. Badalanova, Miltenova 1996; Miltenova 2006; Vitkovskij, Vitkovskaja 2018. 5 Vgl. Giannouli 2007, 96, und die dort angegebene Literatur. 6 Vgl. Stichel 1974. 7 Vassiliev 1893. A. Vasilʼev kannte damals nur zwei Hs des griech. Textes. 8 Adler 2013. 9 Vgl. Adler 2019. Niehoff-Panagiotidis 2019 berichtet, auch Dean Sakel (Istanbul) habe Material für eine Ausgabe vorbereitet und zähle mehr als fünfzig Handschriften und Handschriftenfragmente. 10 Zu den drei ksl. Übersetzungen vgl. Reinhart 2007. Ebd., 61–65, eine ausführliche Bibliographie.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.1 TP und HP; 2.2 Biblische Bücher

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Hs mit Varianten nach zwei weiteren 1, die deren weite Verbreitung im ostslavischen Raum 2 nur unzureichend spiegeln; M. Skowronek gab 2016 die erste serbisch-kirchenslavische Übersetzung aus dem 14. Jh. nach 8 Hss heraus 3; die zweite serbisch-kirchenslavische Übersetzung (15. Jh.?) ist nur in einer Hs bekannt und blieb bislang unediert. Die slavischen Übersetzungen der HP vermittelten insbesondere nicht separat übersetzte Texte wie die Antiquitates und das Buch der Jubiläen in die Slavia Orthodoxa. Darüber hinaus waren die wenigen in der IP enthaltenen direkten Ansprachen, die einen fiktiven jüdischen Gesprächspartner zur Buße aufrufen 4, möglicherweise einer der Ausgangspunkte für die später in der TP ausgebaute apologetische Dialogform, in der fast alle berichteten Ereignisse in einem Gespräch mit einem fiktiven Juden gedeutet und als Argumente zu dessen Buße und Bekehrung herangezogen werden. Die HP, im Griech. zweifellos auch ein der politischen Stabilisierung dienendes Werk, kann u. a. in dieser Funktion zur Übersetzung ins Kirchenslavische ausgewählt worden sein.5 Bis in die rumänische Literatur drang die HP durch Vermittlung des Slavischen vor.6 Dass der KP-Kompilator die IP kannte, erweist bereits der von ihm gewählte Titel seines Werkes: Die „очи палейныя“ (die „kostbarsten Stellen des Alten Testaments“, wörtlich seine „Augen“) erscheinen häufig im Titel von ostslavischen Hss der IP in der ältesten, mittelbulgarischen Übersetzung.7 Parallelstellen der KP zur IP werden, v. a. wo die KP vom Text der TP abweicht, in den Kommentaren zur vorliegenden Edition regelmäßig verzeichnet.

2.2 Biblische Bücher Einzelstücke entnimmt die KP direkt dem slavischen Bibeltext, der natürlich bereits beim Abfassen aller anderen Quellen, darunter auch TP und HP, eine große Rolle gespielt hatte. Vor allem sind hier die Bücher des Oktateuch zu nennen, die zu den ältesten ksl. Bibelübersetzungen vom Beginn des 10. Jh.s zählen,8 sowie die wahrscheinlich jüngeren, jedoch zu Beginn 1 Istoričeskaja Paleja 1881. Die Datierung dieser Übersetzung ist umstritten, sie schwankt zwischen dem 10./11. und dem 13. Jh., vgl. Skowronek in IP serb., 24–25. 2 Vgl. die Liste von insgesamt 20 Hss für diese früheste Übersetzung bei Reinhart 2007, 60. Zu der Übersetzung und ihrer Überlieferungsgeschichte vgl. auch Sumnikova 1969. Auf der schmalen Materialbasis der griech. Edition von Vassiliev 1893 und der slav. von Popov 1881 unternahm R. Stankov lexikalische Studien und versuchte, ein Glossar zur IP zu erstellen (Stankov 1994). Das Ergebnis verdeutlicht v. a., dass für weitere Untersuchungen kritische Editionen unerlässlich sind. 3 Zitiert als IP serb. 4 Vgl. dazu ebd., 27. 5 Die HP passt in den Kreis jener Werke, welche gemäß dem von G. Podskalsky 1972 geprägten Begriff die „byzantinische Reichseschatologie“ vermitteln. Vgl. auch Biliarsky 2010. 6 Vgl. Turdeanu 1964; Moraru, Moraru 2001 (Edition nach den beiden überlieferten Hss aus dem 17. Jh., umfangreiche Untersuchungen sowie ein altrumänisch-neurumänisches Glossar). 7 Vgl. Sumnikova 1969, 27. Als Beispiel für eine IP-Hs mit diesem Titel führen Milʼkov, Poljanskij 2009, 407, das Ms 359 aus der Rumjancev-Sammlung der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau (16. Jh.) an. Sie behaupten in ihrem Kommentar (ebd.), der Kompilator der KP habe mit der Wahl dieses Titels sein eigenes Werk grundlos mit der IP identifiziert. U. E. weckt der KP-Titel eine beabsichtigte Assoziation zur IP und gibt zugleich erste Auskunft über das Konzept der KP (vgl. oben unter 1). 8 Vgl. Thomson 1998, 728–754.

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des 15. Jh.s ebenfalls bereits jahrhundertelang vorliegenden Übersetzungen der Königsbücher.1 Für den Bereich, in welchem sich die KP hauptsächlich auf die TP als Quelle stützt, sind die bei Slavova 2002 gesammelten Bibelzitate der TP aufschlussreich. In ihrem Umfeld lassen die eigenen Ergänzungen des KP-Kompilators nach dem Text der biblischen Bücher aufscheinen, wo er Bibelzitate als solche erkannte und zu vervollständigen strebte. Ein Beispiel zeigt etwa KP 8. 2,17–21: Der Ausgangstext der TP deutet hier die Geschichte von Josef im Gefängnis nur an, um sie für typologische Ausführungen heranzuziehen; der KP-Kompilator verzichtet wie gewöhnlich ganz auf die typologische Exegese und hebt statt dessen den Faden der Erzählung durch eine Einfügung nach Gen 40– 41 verständlicher heraus. Da eine kritische Edition des gesamten kirchenslavischen Bibeltextes noch immer aussteht, sind die zu Beginn des 20. Jh.s von A. V. Michajlov und in jüngster Zeit von T. L. Vilkul unternommenen Ausgaben der Bücher Genesis 2, Exodus 3, Josua4 und Rut 5 von besonders hohem Wert für die Textgeschichte der chronographischen Kompilationen. Der fortlaufende Text des Oktateuch ist in drei Redaktionen überliefert: der südslavischen (ca. 10 Hss), der chronographischen (5 Hss) und der altrussischen (ca. 20 Hss). Die altrussische Redaktion lässt sich ihrerseits in drei Fassungen gliedern, und zwar eine frühe, eine späte, die Varianten aus dem ParömienText 6 integriert hat, und eine späte mit hebräischen Glossen.7 Was A. V. Michajlov bereits für die Benutzung der Bücher Genesis und Rut in der TP festgestellt hatte 8, bestätigt sich dabei auch für die Zitate der KP aus den alttestamentlichen Büchern, soweit sie in den genannten kritischen Editionen vorliegen: Verwendet wurde meist die späte russische Redaktion (nach T. Vilkuls Klassifikation die zweite altrussische), die auf das 13. Jh. zurückgeht, und zwar in der Regel nicht die Parömien-Fassung, sondern der fortlaufende Text.9 Ein Beispiel für die Übernahme eines größeren alttestamentlichen Fragments in die KP bietet KP 1. 3,31– 40, wo der TP-Bericht über die Nachkommen des Kain durch ein Zitat von Gen 4,16 –23 ersetzt wurde. Unsere Kommentare zur KP-Edition geben die Bibelzitate vollständig an; im Register sind sie nochmals aufgelistet. Durch Beibehalten oder Wechsel der Schriftart im deutschen Editionstext wird ablesbar, ob ein Fragment bereits in der Hauptquelle der KP im jeweiligen Abschnitt enthalten war oder nicht. 1 Vgl. ebd., 754–776. 2 Michajlov I–IV; Michajlov 1912. 3 Vilkul 2015; Pičchadze 1998. 4 Vilkul 2017. 5 Michajlov 1908. 6 Das Parömienbuch umfasste die nach dem Kirchenjahr geordneten gottesdienstlichen Lesungen aus dem Alten Testament (vgl. Onasch 1981, 297). Neben dem fortlaufenden (vollständigen) Text waren die biblischen Bücher in dieser Parömien-Fassung sowie in kommentierten Fassungen im Umlauf. 7 Die Klassifizierung der Redaktionen folgt Vilkul 2015, 12–18. T. L. Vilkul hat dort anhand ihrer Studien zum Buch Exodus die bis dahin bestehende Einteilung in eine frühe, eine späte und eine dazwischen stehende altruss. Redaktion präzisiert, indem sie die „Zwischenstufe“ als chronographische Redaktion beschrieb. Die Bezeichnung ist allerdings insofern irreführend, als durchaus nicht alle altruss. Chronografy dieser Redaktion des Oktateuch folgen, sondern nur die frühesten, die Hss des so genannten Judejskij Chronograf. Die KP und die Chronografy in ihrem näheren Umfeld benutzten diese Redaktion kaum. 8 Vgl. Michajlov 1895; 1896; 1927; 1928. 9 Einzelnachweise werden im Kommentar zur vorliegenden Edition geführt.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.3 Chronographie

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2.3 Chronographie 2.3.1 Georgius Monachus, Johannes Malalas und die aus deren Chroniken schöpfende Nestorchronik Hauptquelle der KP für die Zeit, die von der TP nicht mehr behandelt wird, d. h., von Salomo bis zu den byzantinischen Kaisern, ist die Chronik des Georgius Monachus, genannt Hamartolus (Mitte des 9. Jh.s) 1, in slavischer Übersetzung. Schon die TP hatte aus dieser Quelle geschöpft.2 Da die Übersetzung der Hamartolus-Chronik der gesamten Chronographie in der Slavia Orthodoxa zugrunde lag und ihr inhaltliches und strukturelles Muster bildete, ist ihr eine Fülle von Forschungsliteratur gewidmet.3 Dennoch besteht weder Einigkeit über die Zeit der Übersetzung (10. oder 11. Jh.) noch über ihren Ort (Bulgarien oder Kiever Rusʼ). Von der vollständigen kirchenslavischen Hamartolus-Übersetzung sind zwei Redaktionen bekannt, die beide, allerdings in unterschiedlichem Grade, in V. M. Istrins von 1920 bis 1930 erschienener Edition 4 berücksichtigt wurden: Von der ersten Redaktion kannte Istrin nur eine Hs; seither wurden noch zwei weitere entdeckt, die bislang unediert geblieben sind. Für die KP-Tradition ist jedoch glücklicherweise in erster Linie die zweite, jüngere Redaktion relevant, die in Istrins Tradition die Sigel S (für summa, also alle anderen Hss, die Istrin kannte) trägt.5 Redaktion S erwies sich in fast allen Fällen als Vorlage der Varianten in der KP.6 Dennoch sind in der KP und den mit ihr verwandten chronographischen Kompilationen auch einzelne Varianten der ältesten Redaktion bezeugt, so dass O. V. Tvorogov zu dem Schluss kam, bei der so genannten chronographischen Redaktion des slavischen Hamartolus-Textes handle es sich wahrscheinlich um eine Zwischenstufe zwischen der ältesten Redaktion und S.7 Der kirchenslavische Hamartolus umfasst über die Chronik des Georgius Monachus hinaus eine Übersetzung des so genannten Hamartolus continuatus 8, der in direktem Zusammenhang mit der Logothetenchronik steht: Verschiedene Autoren schrieben die Chronik der byzantinischen Zeit, die zunächst nur bis zum Herrschaftsbeginn Michaels III. und seiner Mutter Theodora 1 Referenzedition ist für den griech. Text noch immer die Ausgabe von C. de Boor aus dem Jahre 1904, die wir im Nachdruck als Hamartolus griech. 1978 heranziehen, hilfsweise die von E. von Muralt 1859. 2 Textvergleiche an Hamartolus-Stellen, die sich in TP und KP überschneiden, stellte Istrin 1924 an. Er kam zu dem Ergebnis, dass die KP oftmals die primären Varianten des ksl. Hamartolus-Textes bewahrt, wo die TP bereits sekundäre zeigt, aber auch umgekehrt. Dennoch ist auch in den betreffenden Abschnitten von einer Abhängigkeit der KP von der TP auszugehen; möglicherweise wurde der Text jedoch am ksl. Hamartolus revidiert. 3 Vgl. die Bibliographien bei Vodolazkin 2000a (in den Fußnoten, v. a. zu S. 163–185); Tvorogov, O. V., im Artikel: „Хроника Георгия Амартола‟, in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 467–470; Vilkul 2016, 676–677. 4 Wir benutzen die Ausgabe im Nachdruck: Hamartolus slav. 1972. 5 Vgl. Vodolazkin 1990 und 1992; Anisimova 2009; Vilkul 2015a, 72–73. 6 Die von Anisimova 2009 vorgenommene Gliederung der Redaktion S in Untergruppen konnten wir, da diese in Istrins Edition nicht unterschieden wurden, für die KP-Überlieferung nicht berücksichtigen. 7 Vgl. Tvorogov 1975, 99–110; sein Stemma vgl. in Tvorogov 2001, 146. Eine spätere bulg.- oder serb.-ksl. Übersetzung der Hamartolus-Chronik aus dem 14. Jh. hat für die KP keine Rolle gespielt. (Faksimile-Edition nach Hs 148 aus der Synodalsammlung des Staatlichen Historischen Museums zu Moskau aus den Jahren 1385/1386: Letovnik 1878–1881; weitere Literatur dazu bei Trifunović 1990, 366–368.) 8 Wir benutzen diesen eingeführten Terminus, obwohl er von S. Wahlgren in seiner kritischen Edition Symeon Magister et Logotheta 2006, 49*, FN 25, als fehlerhaft bezeichnet wird, da er von der Auffassung ausgeht, die Logothetenchronik sei als Fortsetzung der Hamartolus-Chronik konzipiert gewesen.

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im Jahre 842 n. Chr. geführt worden war, über Georgius Monachus hinaus fort. Die für die slavische Tradition entscheidende „Fortsetzung“ verfasste im 10. Jh. Symeon Logotheta, dessen Weltchronik von der Schöpfung bis zum Tode des Kaisers Romanos Lakapenos im Jahre 948 reicht.1 Die Textgrundlage für den kirchenslavischen Hamartolus continuatus wurde von V. M. Istrin den Hss-Befunden entsprechend als Schluss seiner Ausgabe kritisch ediert, während für den griechischen Text nach wie vor eine kritische Ausgabe der zugrundeliegenden Redaktion des Logothetentextes fehlt. S. Wahlgrens kritische Edition des griechischen Textes, Symeon Magister et Logotheta 2006, berücksichtigt diese von ihm als Redaktion B bezeichnete Überlieferungslinie nur am Rande; hier liegt der Schwerpunkt auf dem sog. griechischen Urtext (Redaktion A). Eine diplomatische Editionen der entsprechenden Auszüge aus der B-Hs Vaticanus 153 (13. Jh.) von V. M. Istrin aus dem Jahre 1922 leistet notdürftigen Ersatz. Bei Vergleichen mit der griechischen Übersetzungsvorlage im Bereich des für die KP benutzten ksl. Hamartolus continuatus greifen wir in den Kommentaren hilfsweise auf diese Ausgabe zurück. Ebenso bietet bislang nur Istrins Ausgabe von Fragmenten einer weiteren B-Hs, Cod. Hist. gr. 40 der ÖNB (11. Jh.), Orientierung an Stellen, wo der ksl. Hamartolus und mit ihm die KP schon in früheren Kapiteln auf der Redaktion B des Logothetentextes beruht.2 Übrigens hat nicht allein Redaktion B des Logothetentextes im Kirchenslavischen weitergewirkt. Die spätere, mittelbulgarische Übersetzung aus dem 14. Jh. – ediert von Sreznevskij 1905, Reprint: 1971 – beruht auf einer Fassung der ersten, nicht interpolierten griechischen Redaktion 3, die P. V. Kuzenkov als vollständiger ansieht als die von Wahlgren seiner Edition als Haupttext zugrunde gelegte Münchener Hs 4. Mindestens diese Übersetzung 5 hätte wohl doch mit Gewinn in den Apparat aufgenommen werden können. Leider enthält dieser gar keine Varianten aus den slavischen Übersetzungen. Die KP übernimmt die meisten Stücke ihres chronographischen Teils aus dem kirchenslavischen Hamartolus in der zweiten Redaktion der ältesten Übersetzung. Der Kompilator verfährt dabei ebenso wie bei den Auszügen aus der TP, die das Hauptmaterial für den ersten KP-Teil bereitgestellt haben: Er entnimmt in erster Linie, was den kontinuierlichen Ablauf der Ereignisse sichtbar macht, nämlich Herrschernamen und Regierungszeiten sowie die markantesten Ereignisse für die jeweilige Regierungszeit, in den meisten Fällen parallel zum Text in der PP 6. In dieses Grundgerüst 7 werden Zusätze aus anderen Quellen eingepasst, etwa die nach dem Synaxarion erstellten Listen von Heiligen zur Zeit des betreffenden Herrschers 8. 1 Zu der ungeklärten Frage nach der Identität des Symeon Logotheta mit dem bekannten Verfasser des Menologions Symeon Metaphrastes sowie zu Datierungsfragen der Logothetenchronik vgl. die Prolegomena von S. Wahlgren in Symeon Magister et Logotheta 2006, 3*–8*. 2 Reprint: Hamartolus slav. 1972, II, 3–73. Zu den Hss vgl. Symeon Magister et Logotheta 2006, 41*–42*, 44*. 3 Hss-Gruppe χ, vgl. Symeon Magister et Logotheta 2006, 54*–62*. 4 Monacensis gr. 218, Sigel T bei Wahlgren. Vgl. Vinogradov, Kuzenkov 2014, 11–12. 5 Bei Wahlgren Sigel Sl2, bei Kuzenkov Sigel Sl1, erhalten in Hs F.IV Nr. 307 der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg aus dem Jahre 1637. 6 Vgl. unten unter 2.6. 7 Zu Abweichungen vom Hamartolus-Text in der Formulierung beim Beginn einer neuen Herrschaft im Zusammenhang mit dem Einführen absoluter Jahreszahlen vgl. unten unter 3.1, S. 74–75. 8 Dazu vgl. unten unter 2.4.

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Umgekehrt dient im ersten Teil der KP, wo die TP den Löwenanteil des Textes ausmacht und deren Struktur die KP meist bis in die Syntax hinein dominiert, der slavische Hamartolus als „Reservoir“ für kleinere und größere Ergänzungen. So wurde beispielsweise im Abschnitt KP 20. 4 über Davids Königsherrschaft und seine Helden der TP-Text allem Anschein nach anhand des Hamartolus-Textes revidiert; der Name von Abels Schwester Asuama nach dem kirchenslavischen Hamartolus in KP 1. 3,13 neben ihren Namen Devera (Debora) nach der slavischen Übersetzung der Apokalypse des Ps.-Methodius gesetzt; in KP 3,7 ein Satz über die Weigerung des Eber, am Turmbau zu Babel mitzuwirken, aus Hamartolus übernommen.1 Die Chronik des Johannes Malalas steuerte im Bereich der chronographischen Fortschreibung des Textes über die Zeit des Salomo hinaus etliche Fragmente zur KP-Kompilation bei. Der griechische Text, entstanden im 6. Jh.2, ist in altbulgarischer Zeit, wahrscheinlich noch im 10. Jh., ins Ksl. übersetzt worden. Fragmentarisch ist diese Übersetzung in Chronografy überliefert.3 V. M. Istrin sammelte die Stücke und edierte sie abschnittsweise zwischen 1897 und 1914.4 Die Auszüge der KP aus Malalas sind oft kurz und werden in Hamartolus-Fragmente eingefügt, wobei es gelegentlich – wie etwa in dem Bericht über die Rückkehr der Juden unter Kyros (KP 24. 4,3–5) – zu syntaktischen Brüchen kommt. Doch werden auch längere Abschnitte entlehnt (meist in gleicher oder ähnlicher Gestalt wie in der PP). So behandelt KP 29. 1 die Zeit von den legendären Anfängen Roms bis zu Tarquinius gänzlich auf der Grundlage des 7. Buches der Malalas-Chronik; KP 29. 2 besteht aus wechselnden Fragmenten, die Buch 9 der Malalas-Chronik und Buch 8 der Hamartolus-Chronik entstammen; auch KP 29. 4 greift auf Auszüge aus Malalas und Hamartolus zurück, KP 29. 6,3 – 29. 7,2 wieder fast ausschließlich auf Malalas-Fragmente aus Buch 10; KP 29. 9 bis 29. 11 nutzen Einzelstellen aus dem 10. Buch der Malalas-Chronik im Bericht über die Zeit des Tiberius und des Claudius. Später finden sich nur noch einzelne Bezüge. Hier wie schon bei den KP-Zitaten aus dem slavischen Hamartolus-Text ist die von O. V. Tvorogov erstellte Übersicht über die von ihm ermittelten chronographischen Quellen von KP und PP, gegliedert nach Einzelfragmenten, äußerst hilfreich.5 Wir verweisen jeweils zu Beginn eines KP-Abschnitts im Kommentar zum chronographischen Teil der KP neben den Quellen auch auf die Stelle nach Tvorogovs Übersicht. Schon die Povestʼ Vremennych Let („Erzählung von den vergangenen Jahren“) 6 – so lautet der Titel der deutsch besser als Nestorchonik bekannten ältesten russischen Chronik aus dem 1 Vgl. die Kommentare zu den angegebenen Stellen. Im Kommentar werden grundsätzlich alle Hamartolus-Zitate nachgewiesen. 2 Vgl. Malalas griech. 2000; Malalas dts. 2009. 3 Vgl. Tvorogov, O. V., Artikel: „Хроника Иоанна Малалы‟, in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 471–474, und die dort angegebene Literatur; Vilkul 2015a, 74–76. Einen der Haupt-Überlieferungswege bildet der so genannte Letopisec Ellinskij i Rimskij (vgl. unten unter 2.6). 4 Zusammen erschien der ksl. Malalas-Text nach Istrins Edition faksimiliert als Malalas slav. 1994. 5 Tvorogov 1975, 239–262. 6 Im Kommentar zur vorliegenden Edition zitieren wir den Text dieser altrussischen Chronik nach der kritischen Ausgabe von L. Müller (Nestorchronik I–IV), deutsch gelegentlich auch nach der Übersetzung von H. Graßhoff, D. Freydank und G. Sturm (Radziwiłł-Chronik 1986).

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12. Jh.1 – nahm eine Reihe von Entlehnungen aus der Hamartolus- und der Malalas-Chronik in ihre der Welt- bzw. Heilsgeschichte gewidmeten Passagen auf, v. a. in die so genannte Rede des Philosophen, eine Art Schnellkurs in christlicher Weltdeutung, durch welchen ein byzantinischer Gelehrter hier den Kiever Fürsten Vladimir auf die Annahme des Christentums vorbereitet. Spätere Lokalchroniken, gerade auch in Novgorod, schöpfen daraus ebenso wie gelegentlich auch die KP. Aus der Fülle von Studien zum Thema sei hier nur auf die von T. Vilkul 2 verwiesen, woraus sich die weitere Bibliographie erschließt; dort auch eine Zusammenschau der Gründe, welche die gelegentlich noch aufflackernde These von einer Abhängigkeit der Nestorchronik von der TP (und einem entsprechend hohen Alter der TP) widerlegen. Aus der Nestorchronik stammen beispielsweise in die KP übernommene TP-Zitate in KP 1. 1,38 zur Einsetzung des Erzengels Michael in die Funktion, die vor dem Engelsturz Satanael innehatte, oder in KP 1. 1,59 über den Lobpreis Gottes durch Adam im Paradiese gemeinsam mit den Engeln im Himmel. KP 1. 2,12 zeigt ein Beispiel für eine Erweiterung des TP-Textes mit Hilfe der Nestorchronik: Der KP-Kompilator fügt aus der Povestʼ Vremennych Let das Motiv des Teufels ein, das ihn zum Verursachen des Sündenfalls trieb: Es war der Neid auf die Ehre, die der Mensch genoss. Auch in KP 2. 1,11–12 dient ein Einschub in den TP-Text nach der Nestorchronik zugleich der moralischen Wertung und dem anschaulicheren Erzählen: Noach wird von den Leuten verspottet, weil er an der Arche baut.

2.3.2 Ps.-Eustathius von Antiochia Eine wichtige Quelle der KP, die schon V. M. Istrin ermittelte, ist seitdem gänzlich in Vergessenheit geraten: Im Jahr 1900 entdeckte der russische Gelehrte auf der Suche nach griechischen Parallelen zu kirchenslavischen Chroniktexten den Codex grec Nr. 1336 der Französischen Nationalbibliothek zu Paris (11. Jh.).3 Er enthält, der kurzen Handschriftenbeschreibung bei Omont 1888, 16, zufolge, auf den ff 9–111 eine anonyme alttestamentliche Chronik, welcher der Anfang fehlt („anonymi historia V. Testamenti, initio mutila“). Istrin erkannte darin den genauen Paralleltext zu verschiedenen, teils umfangreichen Fragmenten aus kirchenslavischen historiographischen Werken, darunter die KP, die PP sowie die slavische Fassung der Chronik des Georgius Syncellus, die erheblich von der griechischen abweicht. In zwei St. Petersburger Fachzeitschriften veröffentlichte Istrin seine Erkenntnisse 4; doch sie wurden bislang weder von der Byzantinistik noch von der Slavistik genutzt. Über die Provenienz des Chroniktextes zur Weltgeschichte von der Schöpfung bis zu Alexander dem Großen in Cod. grec Nr. 1336 war V. M. Istrin nichts bekannt. Erst P. Odorico identifizierte das Werk, ohne Istrins Arbeiten zu kennen, kürzlich als Chronik des Ps.-Eustathius 1 Zur Problematik der deutschen Titel-Übersetzung vgl. Nestorchronik IV, S. VII–VIII und 1, FN 2–4. Wir bleiben um der besseren Wiedererkennbarkeit willen im Folgenden bei dem Titel Nestorchronik. 2 Vilkul 2016. 3 Seit November 2015 ist die Hs auf Initiative unserer Arbeitsgruppe nach einem Mikrofilm digitalisiert auf der Website der BnF zugänglich unter gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10722877z. 4 Istrin 1903, 411–412; Istrin II.

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von Antiochia und versah es mit dem Titel Χρονικὴ ἱστορία (so die Textbezeichnung in einer Marginalie auf f 9, wo die Chronik nach einer Lücke von einer Seite mitten in der Einleitung ohne Titel einsetzt).1 Bis dahin kannte man den Text des Ps.-Eustathius nur in erheblich geringerem Umfang, nämlich in dem Teil von der Erschaffung der Welt bis zu Josua. Dieser Anfang ist unter der eher irreführenden Bezeichnung eines Kommentars zum Hexaemeron durch Leo Allatius im Jahre 1629 ediert worden.2 Er stieß aufgrund seines kompilativen Charakters auf wenig Interesse; denn man suchte zunächst „originelle“ byzantinische Werke, dieses aber besteht fast gänzlich aus Zitaten, zu einem Großteil den Homilien zum Hexaemeron Basiliusʼ des Großen entnommen (am Beginn des Textes), auch dem Physiologus und zahlreichen anderen patristischen und jüdisch-hellenistischen Quellen, insbesondere Philo und Flavius Josephus (wobei für die orthodoxen Slaven wiederum v. a. die Vermittlung von Stoffen aus den nicht separat übersetzten Antiquitates von Bedeutung war). Die Quellen dieses Chronik-Teils suchte F. Zoepfl äußerst sorgfältig auf, doch maß auch er der Chronik keinen besonderen Wert zu.3 Die Attribuierung an Eustathius von Antiochia (1. Hälfte des 4. Jh.s) entstammt einigen der von Allatius für seine Edition benutzten Manuskripte. Die Autorschaft des Eustathius, bereits seit langem angezweifelt, konnte Zoepfl klar widerlegen 4, so dass der Text nicht in die vollständige Werkausgabe des Patriarchen von Antiochia5 aufgenommen wurde. Das Werk erhielt die Nr. 3393 in der Clavis Patrum graecorum unter den spuria des Eustathius von Antiochia, wo es noch immer den Titel Commentarius in Hexaemeron trägt 6, der gleichfalls von Allatius einigen Hss der Chronik entnommen worden war: εἰς τὴν ἑξαήμερον ὑπόμνημα („Denkschrift über das Sechstagewerk“). Zur Datierung gibt es nur die bei Zoepfl gesammelten Anhaltspunkte aus den benutzten Quellen, die auf eine Zeit nicht vor dem 5. Jh. weisen. Die Datenbank Pinakes des Institut de recherche et dʼhistoire des textes beim CNRS nennt gegenwärtig 26 Hss des Werkes.7 Die Fortsetzung der Ps.-Eustathius-Chronik über die Zeit von Josua hinaus bis zu Alexander dem Großen scheint nur in Cod. grec 1336 belegt zu sein; am ausführlichsten beschrieb V. M. Istrin den Inhalt des Werkes.8 Für die Geschichte der kirchenslavischen Literatur ist eine offenbar verloren gegangene Übersetzung der Ps.-Eustathius-Chronik gerade auch in dem griechisch so wenig bezeugten Teil bedeutsam geworden. Welchen Umfang diese Übersetzung hatte, ist unbekannt. Mit Sicherheit können wir für die KP bereits sagen, dass die von Istrin ermittelten Fragmente nicht die einzigen waren.9 In unseren Kommentaren weisen wir alle Ps.-Eustathius-Zitate der KP nach, die wir gefunden haben, und führen den griechischen Paralleltext nach Cod. grec 1336 vollständig an 10; Parallelstellen im ersten Teil zu der Edition in 1 Vgl. Odorico 2014a, 779; 2014b, 382–383. 2 Vgl. den Nachdruck dieser bis heute einzigen Edition in PG 18, 703–794. 3 Vgl. Zoepfl 1927. 4 Vgl. Zoepfl 1927,16–17. 5 Declerck 2002. 6 Geerard 1974, Nr. 3393. 7 https://pinakes.irht.cnrs.fr/notices/oeuvre/1536/ (Zugriff: 21. 05. 2019). 8 Istrin 1903, 401–406. 9 Einen ersten Überblick zu den Ps.-Eustathius-Zitaten in der KP vgl. bei Fahl 2019. 10 Zu den Editionsprinzipien vgl. unten unter 5.2.

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PG 18 werden genannt. Insbesondere in den Kapiteln über Mose, die Chronologie der Richterzeit, David und Salomo (KP 9 und 19–21) konzentrieren sich in der KP die Entlehnungen aus Ps.-Eustathius. In ihrer griechischen Überlieferung ist die Ps.-Eustathius-Chronik eng mit der Chronik des Symeon Magister et Logotheta verbunden: Zum Umfeld von deren Tradition gehört das so genannten Chronicon Ambrosianum, das von der Schöpfungsgeschichte bis zu Julius Caesar mit der Logothetenchronik übereinstimmt, danach aber eine eher kirchenhistorische Richtung nimmt. Ihren Namen erhielt diese Chronik nach dem Codex Ambrosianus gr. D34 sup. (früher V424) aus dem 10./11. Jh., von welchem die heute bekannten 10 weiteren Hss abhängen. Ms Ambrosianus gr. D34 sup. enthält auch den ältesten Zeugen der Ps.-Eustathius-Chronik.1 Aus der Chronik des Ps.-Eustathius haben nicht allein slav. Chronisten geschöpft, sondern beispielsweise schon Georgius Monachus.2 Eine kritische Edition und zuverlässige Datierung des Ps.-Eustathius-Textes sowie eine systematische Zusammenstellung und Untersuchung seiner slavischen Spuren wären sehr zu wünschen, um die Stellung dieser Chronik in der byzantinisch-slavischen historiographischen Tradition bestimmen und das Werk darüber hinaus in die Historiographie der Spätantike einordnen zu können.

2.3.3 Georgius Syncellus Während die Ps.-Eustathius-Fragmente in erstaunlich genauer, meist wörtlicher kirchenslavischer Übersetzung in die KP eingingen, stehen die KP-Abschnitte, die auf der Ecloga chronographica des Georgius Syncellus (gest. nach 810) zu fußen scheinen, meist in weniger enger Beziehung zum griechischen Originaltext 3, und in noch geringerem Maße sind sie mit dem so genannten slavischen Syncellus verbunden, der ohnehin aus dem griechischen Syncellus nur Teile seines Bestandes bezog.4 Dementsprechend bleibt der offenbar indirekte Vermittlungsweg, den diese KP-Stücke genommen haben, ungeklärt. (Sie haben genaue Entsprechungen in der PP, teils auch im Troickij Chronograf, entstammen also gewiss einer gemeinsamen Quelle.) Etliche konnten erst im Laufe unserer Untersuchungen auf Syncellus-Stellen zurückgeführt werden, so etwa KP 29. 9,3–5 und 7 über die Bekehrung des Tiberius durch Pilatus und den Tod von Herodiasʼ Tochter oder einige Sätze aus Anfang und Schluss von KP 29. 16 über die Eroberung Jerusalems durch Titus.5 Auch alle weiteren indirekt auf Syncellus beruhenden KP-Stellen, für die keine andere Quelle ermittelt wurde, sind in den Kommentaren angegeben. 1 Vgl. Symeon Magister et Logotheta 2006, 47*–49*, mit Literatur; Odorico 2014b, 377, FN 9. 2 Teile dieses Überlieferungsstranges finden sich auch in der KP, vgl. z. B. den Kommentar zu KP 30. 15,23–27. 3 Referenztext ist die kritische Edition von A. A. Mosshammer (Syncellus griech. 1984). 4 A. M. Totomanova, die den Text des ksl. Syncellus nach drei der vier bekannten Hss edierte und kommentierte, belegt darin alle Entsprechungen zum griech. Syncellus und sucht im Übrigen v. a. direkte Auszüge aus der Chronik des Julius Africanus nachzuweisen (Syncellus slav. 2007). Die oben erwähnte Arbeit von Istrin 1903, welcher wörtlich übernommene Ps.-Eustathius-Fragmente im ksl. Syncellus angibt, erscheint bei Totomanova zwar im Literaturverzeichnis, wird aber nicht rezipiert. 5 Vgl. die entsprechenden PP- und KP-Fragmente 154–155 und 175, 179 bei Tvorogov 1975, 246 und 247, für welche dort keine Quelle genannt ist.

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Indirekt aus Syncellus stammen zudem Entlehungen, die durch die Hamartolus-Chronik vermittelt Eingang in die KP fanden – wie z. B. die Erzählung über den Feldzug des Darius gegen Jerusalem zur Zeit des Serubbabel (KP 24. 9,1–3).

2.3.4 Georgius Cedrenus Das Historiarum Compendium, die historiographische Kompilation des Geogrius Cedrenus (Mitte des 11. bis Anfang des 12. Jh.s) 1, ist nicht als Ganzes ins Kirchenslavische übersetzt worden. Auszüge daraus müssen jedoch mindestens in Parömienbüchern vorhanden gewesen sein; denn die KP beruft sich bei einem ihrer in den TP-Text eingefügten Cedrenus-Zitate direkt auf einen Parimejnik als Quelle (KP 9. 4,12). An zwei Stellen fungiert Cedrenus als Vermittler eines weiteren nicht insgesamt ins Kirchenslavische übersetzten Schlüsselwerkes, nämlich des Jubiläenbuches: In KP 9. 2,18–21 und 9. 3,4–5 wird Cedrenus über die Zeit von Moses Jugend zitiert (zum Ertränken der Kinder von Israel in Ägypten, das tausendfach durch das Ertrinken der Männer des Pharao im Roten Meer gerächt worden sei, und zu dem Unterricht, den der junge Mose in der Wüste durch den Engel Gabriel genoss). In KP 9. 4,2–12 wird der TP-Text um ein längeres Cedrenus-Zitat über Mose als Heerführer der Ägypter gegen die Äthiopier erweitert. Dieser Abschnitt geht u. a. auf die kirchenslavisch nicht vorliegenden Antiquitates des Josephus zurück, übermittelt also wie die vorgenannten Fragmente auf indirektem Wege frühjüdische Traditionen.2 Auf Cedrenus können auch weitere kleine Zusätze zur Mose-Geschichte der TP und zur Geschichte der Patriarchen zurückgehen, z. B. der chronologische Einschub KP 7. 7,4 über das Alter des Levi zu der Zeit, als Jakob seinen Schwiegervater Laban verließ.3

2.3.5 Kurzchroniken Kurzchroniken erfassen neben biblischen Ereignissen wie Schöpfung, Sintflut, Exodus, Geburt und Auferstehung Jesu hauptsächlich Patriarchen- und Herrscherlisten. Sie reichen oft bis in die byzantinische Zeit, wobei sie auch die Daten der sieben Ökumenischen Konzile enthalten.4 In der Rus’ kursierte schon früh die dem Patriarchen Nicephorus I. von Konstantinopel zugeschriebene Chronographia brevis („Chronographikon syntomon“) aus dem 9. Jh., die in mehreren Redaktionen bearbeitet und erweitert wurde. Die ksl. Kurzchroniken mit der Übersicht über die Weltgeschichte in Zahlen entstanden wohl am Ende des 12. oder zu Beginn des

1 Im Anschluss an die Ausgabe von I. Bekker von 1838 und 1839 (Bekker I–II) steht seit 2016 L. Tartaglias neue kritische Edition zur Verfügung (Tartaglia I–II). Um des leichteren Auffindens willen geben wir Stellen nach beiden Ausgaben an. 2 Zu den KP-Quellen im Bereich der Mose-Geschichte, darunter auch Georgius Cedrenus, vgl. Fahl, Fahl 2020a und die dort angegebene Literatur. 3 Im Bereich des Hamartolus cont. gibt es viele Parallelen zur Chronik des Symeon Magister et Logotheta bei Georgius Cedrenus, die jedoch, soweit wir gesehen haben, für die ksl. Tradition keine Rolle gespielt haben. 4 Vgl. Varona 2018.

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13. Jh.s.1 Übersetzt wurden sie offenbar mehrfach aus unterschiedlichen byzantinischen Vorlagen, die direkt oder indirekt mit dem Chronographikon syntomon zusammenhängen, letztlich aber auf dem Ausbau der bereits von Ptolemaeus zusammengestellten astronomischen, chronologischen und geographischen Tabellen beruhen. Als Bestandteile größerer ksl. Werke erscheinen Kurzchroniken beispielsweise in altrussischen Annalen, aber schon im 13. Jh. auch in Texten, die am Rande des chronographischen Genres stehen, wie z. B. im Proročestvo Solomona (nach E. G. Vodolazkin als Fortsetzung der TP konzipiert) 2 oder sogar gänzlich außerhalb der Chronographie wie in der Vita des Fürsten Aleksandr Nevskij 3. Das konkrete Vorbild der KP aus dem Genre der kirchenslavischen Kurzchroniken ist nicht ermittelt, und solange die griechischen Kurzchroniken nicht kritisch ediert und untersucht sind, kann man auch die Geschichte der kirchenslavischen nur fragmentarisch betrachten.4

2.3.5.1 Die Chronographia brevis des Nicephorus Für das chronologische Gerüst, das der KP zugrunde liegt, war die kirchenslavische Übersetzung der Chronographia brevis („Chronographikon syntomon“) aus dem 9. Jh.5 von großer Bedeutung, die wie im Griechischen unter dem Namen des Patriarchen Nicephorus I. von Konstantinopel verbreitet war. Im griechischen Text unterschied C. de Boor zwei Redaktionen (N und N´).6 Die in vielen Hss überlieferte slavische Übersetzung folgt der ersten Redaktion N und durchlief ihrerseits eine Entwicklung von mehreren Redaktionen, innerhalb derer sich weitere Fassungen unterscheiden lassen.7 In der russischen Chronographie sind jedoch schon seit Langem auch Spuren der Redaktion N´ gefunden worden, von der keine ksl. Hss bekannt sind; auch die KP zeigt Daten, die auf diese Redaktion zurückgehen – meist vermittelt über die TP.8 Auch für die nicht mehr von der TP, sondern in erster Linie von Hamartolus slav. abhängige chronographische Fortsetzung von KP und PP war das Chronographikon syntomon des Nicephorus von Belang, so bei den Angaben zu Konstantin dem Großen und zu den Abständen zwischen den Ökumenischen Konzilen, wo die KP aus der zweiten, erweiterten Redaktion des 1 Vgl. Piotrovskaja 1998, 58. 2 Vgl. Vodolazkin 2000a, 232–246; Textedition ebd., 315–378; Kurzchronik darin: 353–354. 3 Zu dieser bemerkenswerten Kurzchronik, die ohne Zahlen auskommt, vgl. Piotrovskaja 1998, 53–54. 4 Zur Bedeutung solcher chronologischer Übersichten für die byz. Chronographie und Chronistik vgl. Varona 2018, die auch einen Überblick über vorhandene Editionen bietet; erste Systematisierungen und Untersuchungen der griech. Kurzchroniken bei Samodurova 1962 und 1967. Zu ksl. Übersetzungen und ihrer Rezeption vgl. Piotrovskaja 1998, 52–63, und die dort angegebene Literatur. Andere systematische Untersuchungen zu ksl. Kurzchroniken gibt es nicht. 5 Vgl. Kraus 2005. 6 Vgl. Nicephorus griech. 1880, 80. 7 Vertreter aller von ihr ermittelten Fassungen edierte Piotrovskaja 1998. 8 Einzelne Daten aus der Redaktion N´ fand in der Nestorchronik erstmals Šachmatov 1904; 1940, 64 (unter den posthum veröffentlichen Arbeiten); weitere in der KP vgl. Vodolazkin 1996, 28–29 und 33–34. Über die TP tradiert ist z. B. das Jahr 3324 als Geburtsjahr Abrahams (KP 5,20) und der Abstand von 1082 Jahren von der Sinflut bis zu Abraham (KP 6. 14,8). Genaueres vgl. unten unter 3.1.

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slavischen Nicephorus (in Hss vom 13. Jh. an nachgewiesen) zitiert, in welche eine Übersicht über die Chronologie der Konzile unter dem Titel Разумъ 7 съборъ („Erkenntnis [= γνῶσις] der 7 Konzile“) aufgenommen worden war.1 Die Angaben zu den Abständen zwischen den Konzilen in dieser kirchenslavischen Nicephorus-Redaktion dienten als Basis für das Errechnen der absoluten Jahreszahlen in der KP, die sich auf die Konzile beziehen.2 Unser Kommentar zum KP-Text verweist häufig auf diese zweite, erweiterte Redaktion der slavischen Übersetzung als Grundlage für in die KP übernommene Daten. Bereits E. K. Piotrovskaja stellte eine ganze Reihe von Angaben zusammen, die in dieser Redaktion mit KP bzw. PP übereinstimmen.3 Sie hatte noch keine Informationen über die Entstehungszeit von KP und PP und war entsprechend zurückhaltend, was eine direkte Entlehnung betrifft. Heute, da das höhere Alter der zweiten Redaktion von Nicephorus slav. gegenüber KP und PP zweifelsfrei feststeht 4, kann man durchaus davon ausgehen, dass der kirchenslavische Nicephorus diesen chronographischen Kompilationen als direkte Quelle gedient haben könnte. Da die gleichen Daten jedoch in vielen verschiedenen kirchenslavischen Kurzchroniken auftauchen 5, ist hierzu weiterhin keine eindeutige Aussage möglich.

2.3.5.2 Die Kurzchronik des Petros von Alexandria Kleinere Fragmente aus byzantinischen Kurzchroniken wurden durch Florilegien bei den orthodoxen Slaven verbreitet und gerieten – möglicherweise auf dem Wege über die PP – auch in die Hände des Kompilators der KP. Dazu gehört ein Einsprengsel in den TP-Text, dessen Herkunft bislang als ungeklärt galt: KP 1. 3,1 berichtet über die Zeit nach der Austreibung der Voreltern aus dem Paradies, dass sich Adam gegenüber dem Paradiese auf einer Insel niedergelassen habe, welche Afrurěi heißt. Verschiedene kirchenslavische Paralleltexte, darunter auch die PP, enthalten diese Angabe in Verbindung mit einem zweiten, in der KP erst etwas später eingefügten Satz (KP 1. 3,51) über das Begräbnis Adams durch Engel am Mittelpunkt der Erde, und zwar in Golgota. Dabei schwankt der Name von Adams Insel zwischen den Formen Афулис(ъ), Афули(и), Афѵлии, Афилии, Афрулеи und Афрурѣи. Zum ersten Mal wird diese Auskunft über Anfang und Ende von Adams Erdenleben kirchenslavische greifbar in Ms 74 der Sammlung des Scaliger Instituts an der Universitätsbibliothek zu Leiden, f 144v,8–14, einer Sammelhandschrift aus dem 13. Jh., die wahrscheinlich sehr frühe Übersetzungen noch aus kyrillomethodianischer Zeit tradiert und den Beginn der ksl. Apophthegmata-Überlieferungen markiert.6 Ein entsprechender Bericht über eine Insel Adams namens Athulias bzw. Athulis und über das Begräbnis des Urvaters steht, größtenteils wörtlich mit der 1 Vgl. Vodolazkin 1996, 29–30, mit weiterführender Literatur. 2 Vgl. unten unter 3.1, S. 72–73. 3 Vgl. Piotrovskaja 1998, 40–43. 4 Zur Datierung des PP-Protographs auf das ausgehende 14. Jh. vgl. unten unter 2.6; zur Datierung der KP auf das erste Drittel des 15. Jh.s vgl. unten unter 4.1.8. 5 Vgl. unten unter 2.3.5.3. 6 Vgl. Veder 1973. Ausführliche Untersuchungen und Textedition: Veder 1973–1981.

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kirchenslavischen Wiedergabe übereinstimmend, in einer noch wenig beachteten griechischen Kurzchronik unter dem Autorennamen eines Petros von Alexandria. Sie wurde nach einer Hs aus dem 10. Jh. von Z. G. Samodurova veröffentlicht.1 Über die Person des Petros weiß man wenig. Die Überschrift in dem einzigen erhaltenen Manuskript seiner Kurzchronik nennt ihn einen orthodoxen Christen aus Alexandria. Z. G. Samodurova hat den Text untersucht und herausgefunden, dass er stilistisch dem lakonischen Chronographikon syntomon des Nicephorus nahesteht. Sie datiert die Kurzchronik des Petros mit Vorsicht auf die Zeit um das Jahr 1000.2 Etwas abweichende Hypothesen vertreten M. V. Krivov und A. Karpozēlos.3 Eine vollständige Übersetzung der Chronik ins Ksl. ist nicht bekannt; das von uns identifizierte Fragment ist bislang die einzige slavische Spur der Chronik, die sicher nachgewiesen werden konnte. Die Insel Adams behandelt Petros übrigens in seinem Abschnitt über den Norden, und Parallelen darin zur Geographie des Claudius Ptolemaeus VII 5,12–15 legen den Verdacht sehr nahe, dass mit Athulias / Athulis die Insel Thule gemeint ist.4 Am Beispiel des kleinen Petros-Ausschnitts über Adam, der nur zwei Sätze umfasst und in der kirchenslavischen Tradition sonst, soweit wir gesehen haben, immer ein Ganzes geblieben ist, erweist sich die Arbeitsweise des KP-Kompilators besonders deutlich: Selbst ein so winziges Fragment wird nochmals geteilt, um seine Bestandteile an den chronologisch genau passenden Stellen einzusetzen: nach der Austreibung aus dem Paradies und nach Adams Tod. Hier genügt es nicht, mit R. G. Collingwood von Geschichte zu sprechen, die nur „mit Schere und Klebstoff“ 5 geschrieben wurde; beim Kompilieren der KP jedenfalls stimmt das Bild erst, wenn man sich noch eine Pinzette dazu vorstellt.

2.3.5.3 Kirchenslavische Kurzchroniken Ein sehr frühes Beispiel für die eigene Arbeit eines slavischen Autors mit chronographischen Quellen ist die historische Kompilation Istorikii za Boga vkratce („Historie zu Gottes in Kürze“). Sie ist nur in einer Hs bekannt (Ms 262 der Synodalsammlung am Staatlichen Historischen Museum zu Moskau, aus der Zeit zwischen 1150 und 1200). Dort schließt diese Kurzchronik an das Evangelien-Homiliar (Učitelʼnoe Evangelie / „Lehr-Evangeliar“) des Bischofs Konstantin von Preslav (10. Jh.) an. Daher schreibt man ihm die Istorikii oftmals zu, zumal Konstantin, ein Schüler des Slavenapostels Methodius, auch durch Übersetzungen aus dem 1 Samodurova 1961, 180–197, edierte die einzige erhalten gebliebene Hs aus der Rara-Abteilung in der Bibliothek der Staatlichen Lomonosov-Universität zu Moskau. Eine Handschriftenbeschreibung vgl. ebd., 153–154; darauf folgt eine Untersuchung der Kurzchronik. Einen Nachdruck des betreffenden Abschnitts bietet Karpozēlos 2002, 562–563, eine kommentierte Übersetzung der gesamten Chronik ins Russ. unternahm Krivov 2016. 2 Vgl. Samodurova 1961, 180. 3 Krivov 2016, 228–229, tendiert zu einer früheren Datierung ins 9. Jh.; Karpozelos 2002, 560–561, erklärt die Datierung ebenfalls für unsicher und hält sogar für möglich, dass der Großteil schon im 6. Jh. geschrieben wurde und der Rest (die Chronik reicht bis zum Jahr 912) später ergänzt worden sein könnte. 4 Ausführlich dazu vgl. Fahl, Fahl 2020b; zusammenfassend die Kommentare zu KP 1. 3,1. 5 „scissors-and-paste history“, Collingwood 1946, 257–282 u. ö., später auf altruss. Literatur angewendet bei Vodolazkin 2004c, 199.

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Griechischen und seine eigenen, stark an Johannes Chrysostomus angelehnte Homilien hervorgetreten ist; er muss ein belesener Mann gewesen sein.1 Nachgewiesen ist seine Autorschaft für die Istorikii jedoch nicht.2 Die Daten dieser Kurzchronik stimmen zu einem Großteil mit dem Chronicon Paschale überein. Den Text edierte und untersuchte V. N. Zlatarski.3 Einen Überblick über das chronologische System der Istorikii bietet A. Vaillant 4; es hat sich v. a. auf südslav. Kurzchroniken ausgewirkt. Die KP greift mindestens bei einem ihrer Daten zu Alexander dem Großen möglicherweise direkt oder indirekt auf die Überlieferung der Istorikii za Boga vkratce zurück, außerdem bei einer Rechnung, die das Jahr 5505 für Christi Geburt voraussetzt.5 Der Čisloslovesnik (der „Zahlenkundige“), wohl ein südslavische Übersetzung aus dem Griechischen, enthält eine zusammenfassende Datenliste (Kurzchronik) der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Himmelfahrt (mit Ausblick auf die Wiederkunft Christi). Eine Textedition nach einer Hs in einem Sammelband des 13. Jh. aus dem Raum Novgorod 6 unternahm H. Wątróbska.7 Die Jahresangaben in dieser sehr knappen Übersicht entsprechen im Wesentlichen denjenigen aus der griechischen Kurzchronik, die dem Hamartolus-Text beigegeben ist.8 Einige Bezüge zur Paleja-Literatur (hauptsächlich TP und PP) betrachtete exemplarisch E. G. Vodolazkin.9 Die KP stimmt mit dem Čisloslovesnik überein bei - der Erschaffung Adams am 25. März (KP 1. 1,52) - dem Jahr 2242 für die Flut (KP 2. 1,17) 10 - allen absoluten Daten (Tag, Jahr, Stunde) zu Geburt, Taufe, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt Christi sowie zu Pfingsten in KP 29. 4 und 29. 7.11 Kurzchroniken von der Art des Čisloslovesnik, die im Griechischen Ψῆφος ἐτῶν („Jahresrechnung“) heißt, erscheinen mehrfach als Bestandteile altrussischer Texte. Das wohl früheste solche Zeugnis bietet ein Werk des ersten namentlich bekannten Komputisten in der Rusʼ. Er hieß Kirik (Kerykos) und lebte als Diakon und Domestikos (Chorleiter) des Novgoroder AntonijKlosters in der ersten Hälfte des 12. Jh.s, noch zur Zeit des Klostergründers Antonij Rimljanin 1 Zu der dort Konstantin von Preslav attribuierten Kurzchronik vgl. die bei Podskalsky 2000, 473–474, angegebene Literatur; zu Leben und Werk Konstantins ebd., 185–187, sowie Kuev 2003. Auch Kuev zweifelt nicht daran, dass die Kurzchronik Konstantin zuzuschreiben sei. 2 Vgl. Veder 1999, 7, und die dort angegebene Literatur. 3 Zlatarski 1923. 4 Vaillant 1947/48. 5 Vgl. unten unter 3.2, S. 84. 6 Ms Q.p.I.18 der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg. 7 Wątróbska 1987, 149–150. 8 Vgl. Hamartolus griech. 1978, II, 804. 9 Vodolazkin 2014b, 191–194. 10 Diese Zahl stand in vielen Quellen fest, so bei Nicephorus, Hamartolus, Syncellus, Symeon Magister, Cedrenus, in der Nestorchronik und der an den griech. Hamartolus-Text angeschlossenen Kurzchronik. 11 Nur die Geburtsstunde Jesu ist in KP 29. 4,3 die 7. Nachtstunde, während der Čisloslovesnik von der 7. Stunde des Tages spricht. Zu den einzelnen Daten vgl. unten unter 3.1.

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(Antonius der Römer, gest. 1147). Neben einer erotapokritischen Abhandlung hat Kirik ein Werk zu den Grundlagen der Paschalienberechnungen hinterlassen. Es trägt die Überschrift „Belehrung des Kirik, Diakon und Domestikos des Novgoroder Antonij-Klosters, durch welche man die Zahlen aller Jahre kennen kann“ und ist im Text auf das Jahr 6644 (1136) datiert – das Jahr, welches in der Geschichte Novgorods die entscheidende Wende zur Unabhängigkeit von Kiev mit sich brachte. (Gehörte das eigenständige Berechnen des Osterdatums zu den Kennzeichen der neu erlangten Selbständigkeit?) Drei von vier erhaltenen Hss dieses Traktats sind um eine Kurzchronik von der erwähnten Sorte ergänzt. Diese Kurzchronik weicht deutlich von Nicephorus ab und folgt offenbar einem anderen byzantinischen Muster, wie E. K. Piotrovskaja feststellte.1 Einige Daten aus Kiriks Kurzchronik trifft man in der KP wieder; markant stechen darunter die 279 Jahre von Christi Auferstehung und Himmelfahrt bis zum Herrschaftsbeginn Konstantins I. hervor.2 Dem im Raum Novgorod arbeitenden KP-Kompilator dürfte demnach ein Exemplar von Kiriks Traktat oder eine Arbeit in dessen Tradition zur Verfügung gestanden haben. Dieser Gedanke liegt umso näher, als beim Kompilieren der KP eine Person mit ungewöhnlich großem Interesse an komputistischen Fragen am Werke war.3 Ähnliches lässt sich von der Kurzchronik sagen, die unter dem Jahr 852 nach der Mitteilung über den Herrschaftsbeginn des byzantinischen Kaisers Michael III. in die Nestorchronik aufgenommen wurde. Auch sie stimmt nur teilweise mit Nicephorus überein 4, und auch ihre Daten finden sich an einigen KP-Stellen, allerdings wurden diese in die KP wohl nicht aus der Nestorchronik, sondern direkt aus der TP übernommen, die ihrerseits aus der Nestorchronik schöpfte.5 Mehrfach verbinden Kurzchroniken in russischen Lokalchroniken die Weltgeschichte in Daten mit der frühen russischen Geschichte. Aus dem Raum Novgorod-Pskov sind einige solche „Vorgeschichten“ überliefert, die nicht nur räumlich in besonders engen Beziehungen zur KP stehen: Sie sind in der Ersten und Dritten Pskover Chronik, in der Chronik des Avraamka und im Vladimirskij Letopisec enthalten. Diese Teile der Chroniken wurden von der Forschung bisher vernachlässigt, da sich sowohl das historische als auch das philologische Interesse zunächst auf die lokalen Besonderheiten der Werke konzentrierte. Die Pskover Chroniken sind von der zweiten Hälfte des 15. Jh.s an nachweisbar, also erst etwas später als die KP. Das darin verarbeitete Material dürfte jedoch teilweise erheblich älter 1 Zu Person und Werk des Kirik vgl. den Artikel „Кирик Новгородец“ von E. K. Piotrovskaja in Slovar’ knižnikov I, 1987, 215–217, sowie speziell zu der Kurzchronik bei Kirik: Piotrovskaja 1998, 54–58 (ebd., 55–56, eine Textedition), und die dort angegebene weiterführende Literatur. 2 Hierzu und zu weiteren Übereinstimmungen vgl. unten unter 3.1. 3 Dazu vgl. unten unter 3.2. 4 Vgl. Piotrovskaja 1998, 58–59. L. Müller verweist in diesem Zusammenhang auf die griech. Kurzchronik am Schluss der Edition von Hamartolus griech. II, 1978, 804; vgl. Nestorchronik IV, 17, FN 6. 5 Zu diesen, teils mit Redaktion N´ des Chronographikon syntomon korrespondierenden Zahlen, etwa dem Jahr 3324 als Geburtsjahr Abrahams (KP 5,20) oder dem Abstand von 1082 Jahren von der Sinflut bis zu Abraham (KP 6. 14,8), vgl. unten unter 3.1.

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sein1, und bei der Kurzchronik, die in der Ersten Pskover Chronik (15. Jh.) 2 und in der Dritten (16. Jh.) 3 der Regionalgeschichte vorangeht, greifen beide auf eine ältere Quelle zurück, die wiederum teils deutlich von anderen Kurzchroniken – bei Nicephorus, in der Istorikii za Boga vkratce, bei Kirik oder in der Nestorchronik – abweicht. Die Beziehungen der Pskover Chroniken untereinander, vorläufig noch weitgehend ungeklärt 4, sind für die Frage nach der enthaltenen Kurzchronik von untergeordneter Bedeutung. Aufgebaut ist diese Kurzchronik wie folgt: 1. Übersicht über die Schöpfungstage als Abbild der Weltzeit (mit Angaben zu Daten und Wochentagen der Schöpfung, der Stunde für die Erschaffung Adams sowie von Sonnenund Mondzyklus, teils abweichend von den entsprechenden KP-Daten, so wird Adam nach den Pskover Chroniken am 23. März geschaffen, nicht am 25.) 2. Jahre zwischen Hauptereignissen bzw. -personen der alttestamentlichen Geschichte bis zu Christi Geburt 3. Generationen zwischen Hauptereignissen bzw. -personen der alttestamentlichen Geschichte bis zu Christi Geburt 4. Jahre zwischen einer Reihe alttestamentlicher Propheten und Christi Geburt 5. Daten zu Christus nach Jahr, Monat, Tag, Wochentag und Stunde (bis zu Pfingsten) 6. Jahre von Christi Auferstehung bis zum Herrschaftsbeginn Konstantins I., Jahre bis zum 1. Ökumenischen Konzil, Teilnehmerzahl, Thema, Jahre bis zum Tod Konstantins, Konstantins Nachfolger 7. Jahre zwischen den Ökumenischen Konzilen, herrschende Kaiser, Teilnehmerzahlen, Themen 8. Jahre vom Siebenten Konzil bis zur Übersetzung der Bücher ins Slav. durch Kirill 9. Jahre zwischen Adam und Christus, zwischen Christus und Michael III., Michael III. und der Taufe Bulgariens, der Taufe Bulgariens und der Übersetzung der Bücher, der Übersetzung der Bücher und der Taufe der Rusʼ, Letzteres nochmals nach den Herrschaftszeiten der einzelnen Fürsten der Rusʼ Die KP schöpft, wie wir unten in Abschnitt 3 darstellen, mehrfach aus der gleichen Quelle. Die Varianten in der Kurzchronik zwischen der Ersten und Dritten Pskover Chronik, die an den dort erwähnten Stellen gelegentlich zutage treten, sind meist durch Kopierfehler zu erklären.

1 Vgl. den Artikel „Летописи Псковские“ von V. I. Ochotnikova in Slovar’ knižnikov II. 2, 1989, 27–30, und die dort sowie im Ergänzungsband II. 3, 2012, 257–259, angegebene Literatur. 2 Nachdruck der Textedition mit einleitender Untersuchung von A. N. Nasonov aus dem Jahr 1941 mit einem Vorwort von B. M. Kloss von 2003: PSRL 5.1; darin die Kurzchronik von der Erschaffung der Welt bis zur Taufe der Rusʼ: S. 5–8. 3 Nachdruck der Textedition mit einleitender Untersuchung von A. N. Nasonov aus dem Jahr 1955: PSRL 5.2, 3–8 und 70–290; darin die Kurzchronik von der Erschaffung der Welt bis zur Taufe der Rusʼ: S. 70–72. 4 Vgl. das Vorwort von B. M. Kloss zu PSRL 5.1.

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Der Anfang der beiden Pskover Chroniken gehört samt seiner Kurzchronik zu ihrem ersten, offenbar aus Novgorod stammenden Teil. Seine Daten sind fast identisch mit denen in einer der Übersichten in der so genannten Letopisʼ Avraamki („Chronik des Avraamka“).1 Die Chronik des Avraamka 2 wurde 1495 in Smolensk geschrieben, damals zum Staat Litauen gehörig, verarbeitet aber viel Material aus dem Novgoroder Raum. Zu Beginn erscheinen gleich mehrere Kurzchroniken mit teils stark voneinander abweichenden Daten nacheinander, ohne dass ihre Angaben aufeinander bezogen oder die Texte verwoben worden wären. Insofern gibt diese Chronik einen guten Einblick in die Art, in welcher man mit dieser Textsorte umgehen konnte – auch noch deutlich nach der Entstehungszeit der KP. Hier eine Übersicht: 1. Der Text beginnt mit Schöpfung und Sündenfall und wird dann mit einer Genealogie von Noach bis zu Abraham fortgesetzt, die mit der Summe der Jahre und Generationen von Noach bis zu Abraham und wiederum von Adam bis zu Abraham endet.3 2. Dann setzt die Geschichte nach anderen Quellen mit Abraham neu ein, wobei die Jahresrechnung nicht mit der vorherigen übereinstimmt, und wird mit narrativen Einsprengseln bis in die byz. Zeit weitergeführt, Jahreszählungen erscheinen dabei nur abschnittsweise. Der Bericht über Rom und Byzanz wächst hinüber in zwei antilateinische Traktate, zwischen welche der Bericht über die Taufe Bulgariens und der Rusʼ eingeschoben ist. Dieser Teil trägt bereits den Charakter einer kurzgefassten Weltchronik.4 3. Es folgt erneut eine Kurzchronik mit Jahresrechnungen von Adam über die Hauptereignisse und -personen des Alten Testaments bis zu Christi Geburt und den sieben Ökumenischen Konzilen.5 4. Daran schließt sich die Rechnung von Adam bis zu Christus nach Generationen an, gefolgt von dem Stammbaum Jesu.6 5. Auch hier werden die Jahre zwischen einer Reihe alttestamentlicher Propheten und Christi Geburt angegeben.7 6. Genaue Daten sind zum Leben der Gottesmutter und Jesu genannt, nach Jahr, Monat, Tag, Wochentag und Stunde (vor der Datierung von Pfingsten erscheint ein ausführlicher Einschub zur Unterscheidung zwischen Jakobus, dem Herrenbruder, und dem Apostel Jakobus, dem Sohn des Zebedäus).8 7. Nach einem weiteren Einschub über die Schaffung des griechischen Alphabets und die 1 Zu den für die KP relevanten Parallelstellen zwischen den Pskover Chroniken und der Chronik des Avraamka vgl. unten unter 3. 2 Vgl. den Artikel „Авраамка“ von Ja. S. Lurʼe in Slovar’ knižnikov II. 1, 1988, 5–6, und die dort sowie im Ergänzungsband II. 3, 2012, 5, angegebene Literatur. Nachdruck der Textedition mit einleitender Untersuchung von A. F. Byčkov und K. N. Bestužev-Rjumin aus dem Jahr 1889 mit einem Vorwort von B. M. Kloss von 2000: PSRL 16; darin die Kurzchroniken: Sp. 1–33. 3 PSRL 16, Sp. 1–5. 4 PSRL 16, Sp. 5–28. 5 PSRL 16, Sp. 28–29. 6 PSRL 16, Sp. 29–30. 7 PSRL 16, Sp. 30. 8 PSRL 16, Sp. 30–33.

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Septuaginta-Übersetzung endet die Kurzchronik mit den Jahresabständen zwischen dem Siebenten Ökumenischen Konzil und der Übersetzung der Bücher ins Ksl. durch Kirill, zwischen der Übersetzung der Bücher und der Taufe der Rusʼ und schließlich zwischen Adam und der Taufe der Rusʼ.1 Etliche Übereinstimmungen der KP mit Elementen dieser Gruppe von Kurzchroniken bei Avraamka sind unten unter 3 benannt. Sie führen zu der Frage, ob Avraamka die KP vielleicht als Quelle herangezogen haben könnte. Der in unserer Liste unter 2. erwähnte Teil von Avraamkas einleitenden Daten zur Weltgeschichte enthält ein bemerkenswertes Fragment, das über die Abhängigkeitsverhältnisse von KP und Chronik des Avraamka Auskunft gibt: Es handelt sich um ein Hamartolus-Zitat: Hamartolus slav. 1972, I, 176,25 – 177,8, entsprechend Hamartolus griech. 1978, I, 250,19 – 251,9, mit einer Übersicht über Zeit und Zahl der Könige in Jerusalem von David bis Zedekia und einen Katalog der unter diesen Königen wirkenden Propheten.2 Den Schluss der KP bildet eine chronographische Übersicht, von welcher am Schluss des vorliegenden Einleitungsabschnitts noch die Rede sein wird. Sie endet mit dem gleichen HamartolusFragment 3, das jedoch an mehreren Stellen in allen KP-Hss charakteristische Textverderbnisse aufweist,4 die Avraamka nicht kennt. Daraus ergibt sich erstens, dass die Chronik des Avraamka, obwohl jünger, an dieser Stelle nicht von der KP abhängen kann, und zweitens, dass das betreffende Hamartolus-Fragment offenbar als Bestandteil von Kurzchroniken kursierte. Auch in der Hss-Tradition der KP selbst findet sich die Chronik des Avraamka wieder, und zwar in Hs V, wo im Anschluss an die KP zunächst eine Kurzchronik steht 5 und danach umfangreiche Auszüge aus der Chronik des Avraamka wiedergegeben sind.6 Der Vladimirskij Letopisec (16. Jh.) 7 hat Moskauer und Novgoroder Material verwertet. Auch er stellt der russischen Geschichte eine Kurzchronik voran, die mit Adam beginnt und mit der Taufe der Rusʼ endet. Diese Kurzchronik kann als Beispiel für eine erweiterte Form des Genres gelten: Die auch in den beiden Pskover Chroniken enthaltenen Daten sind um Angaben zum Leben der Gottesmutter und weiterer biblischer Gestalten und nachbiblischer Herrscher vermehrt; die Daten zu den Propheten dagegen fehlen. Im Gegensatz zur Chronik des Avraamka sind hier die unterschiedlichen Quellen entstammenden Informationen bereits zu einem einheitlichen Text geformt. Parallelen zur KP-Chronologie führen wir unten in Anschnitt 3 an.

1 PSRL 16, Sp. 33. 2 PSRL 16, Sp. 14,26–39. 3 KP 31,20 –28. 4 Vgl. die Kommentare zu KP 31,22.23.24.25; zu KP 31,27 unter dem Eintrag und nach Isus Sedekěja, Iereměja sowie zu KP 31,28 unter dem Stichwort herrschten. 5 Vgl. die Edition dieses Textes im Anhang von Band 1 der vorliegenden Ausgabe. 6 Die Auszüge aus der Chronik des Avraamka stehen in Hs V auf f 213r bis 249v und wurden von B. M. Kloss als solche identifiziert, vgl. Vodolazkin 2004a, 172. Zum Inhalt von Hs V über die KP hinaus vgl. unten unter 4.1.5. 7 Nachdruck der Textedition mit einleitender Untersuchung von A. N. Nasonov aus dem Jahr 1965 mit einem Vorwort von O. L. Novikova von 2009: PSRL 30, V–IX und 7–146; darin die Kurzchronik von der Erschaffung der Welt bis zur Taufe der Rusʼ: 8–12.

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Die KP selbst endet mit der schon erwähnten chronographischen Übersicht (KP 31), die ebenfalls als Kurzchronik beschrieben werden kann. Sie beginnt mit dem Abstand zwischen Adam und Noach in Jahren und bricht in allen vier bis zum Schluss bekannten Hss der KP nach dem besagten Hamartolus-Fragment über die Könige Judas nach David und die Propheten zu deren Zeit ab. Eingeschoben ist ein Fragment, das uns in anderen Kurzchroniken nicht begegnet ist. Es handelt nach Ps.-Methodius von einem vierten Noach-Sohn namens Munt.1 Weitere Kurzchroniken stehen in unmittelbarer kodikologischer Beziehung zur Paleja-Literatur: Der Schreiber der KP-Hs V muss sich besonders mit Chronikliteratur beschäftigt haben. Im Bereich der chronographischen Fortsetzung der KP hatte er Zugang zu Varianten, die dem slavischen Hamartolus-Text näher stehen als die sonst in der KP benutzten.2 Und die Hs V enthält auch als einzige KP-Hs noch eine Fortsetzung der chronographischen Berechnungen am Schluss, die dem Genre der Kurzchroniken zugeordnet werden kann. Wir edieren diese Kurzchronik (Kürzel: KC-V) im Anhang zu Band 1 der vorliegenden KP-Ausgabe. Sie setzt ein mit einer Liste von Jahresangaben zwischen einer Reihe alttestamentlicher Propheten und Christi Geburt (entsprechend Punkt 4 der Kurzchroniken in den Pskover Chroniken); dann folgt die Angabe über die Dauer von Israels Exil in Ägypten; anschließend wird die Zeit von Christi Himmelfahrt bis zu Michael III. in Daten abgehandelt, wobei die Konziliengeschichte den Schwerpunkt bildet. Auch die Überlieferung anderer Paleja-Texte ist eng mit der Tradition der Kurzchroniken verbunden; so erscheint am Schluss der PP-Hs Pogodin Nr. 1435 der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg (Ende des 15. Jh.s), die wir als PP-Referenztext heranziehen 3, ebenfalls eine Kurzchronik (f 452r – 453r), die denjenigen vor den beiden Pskover Chroniken gleicht. Am Anfang stimmt sie wörtlich mit der chronographischen Übersicht in KP 31 überein. Eine andere Kurzchronik (mit z. T. stark von der KP abweichenden Daten, aber beispielsweise mit übereinstimmender Angabe der Wochentage für die Weltschöpfung) bildet den Schluss eines Sammelbandes aus dem Dreieinigkeits-Hypatius-Kloster in Kostroma, der wohl zwischen 1498 und 1502 geschrieben wurde und neben etlichen anderen Texten auch Paleja-Auszüge enthält: Ms 214/225, f. 558, op. 2 im Staatsarchiv des Bezirks Kostroma.4 Beim Kompilieren der KP wurden folgende Angaben wahrscheinlich aus einer Kurzchronik (oder aus mehreren) entnommen und minutiös, teils in Einheiten von nur ein bis zwei Wörtern, in den jeweiligen Ausgangstext eingepasst: 1 Vgl. den einleitenden Kommentar zu KP 31 sowie die einzelnen Kommentare zu 31,6–14. 2 Vgl. z. B. die Bemerkungen zu den Korrekturen in Hs V im Apparat zu KP 30. 13,4; 30. 14,15 und 30. 14,20 der vorliegenden Edition, Bd. 1. 3 Vgl. unten unter 2.6. 4 Vgl. Begunov 1984, 167–169 (Einführung) und 169–173 (Edition der Kurzchronik). Dort werden an eine Übersicht von Adam bis zu Michael III. und der Taufe Bulgariens eine Reihe von Nachrichten über die ersten russ. Fürsten angeschlossen. Dann folgt in Anlehnung an die Nestorchronik der Bericht von Vladimirs Prüfung der verschiedenen Religionen, der hauptsächlich aus einer stark erweiterten Fassung der sog. Rede des Philosophen besteht. Darin wird über jeden Schöpfungstag ausführlich Auskunft gegeben, wobei apokyphe Überlieferungen reichlich mit einfließen. Dann nimmt Vladimir das Christentum an (in einem Satz berichtet), und es folgt nur noch eine Aufzählung der russ. Fürsten von Rjurik bis zu Dmitrij Ivanovič (Mitregent von Ivan III. von 1498 bis 1502).

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- die Wochentage für die Schöpfungstage sowie Datum und Sonnen- und Mondzyklus bei der Erschaffung Adams - der zeitliche Abstand zwischen Adam und der Sintflut (Generationen und Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen der Sintflut und dem Turmbau zu Babylon bzw. der Sprachenteilung (Generationen und Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen Adam, dem Turmbau bzw. der Sprachenteilung und einem Datum der Abrahamsgeschichte (Generationen und Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen einem Datum der Abrahamsgeschichte und Mose bzw. dem Auszug aus Ägypten (Generationen, möglicherweise auch Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Herrschaftsbeginn von einem der ersten drei Könige Israels (Generationen, möglicherweise auch Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen einem der ersten drei Könige Israels und der babylonischen Gefangenschaft (Generationen, möglicherweise auch Jahre) - der zeitliche Abstand zwischen den Gründungsdaten der Städte Jerusalem, Rom, Byzanz und Babylon1 - der zeitliche Abstand zwischen Ijob, Daniel, Elia, Alexander dem Großen und Christi Geburt - der zeitliche Abstand zwischen der babylonischen Gefangenschaft und Alexander dem Großen - die Namen der Mütter der Könige von Juda (beginnend nach dem Bericht über die Königin Atalja in KP 22. 1,22 bis 22. 3) 2 - die Daten zu Christi Geburt, Taufe, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt sowie zu Pfingsten (mit Datum, Wochentag und Stunde) und möglicherweise auch die Daten zu Geburt, Tempelgang, Verkündigung und Tod der Gottesmutter (übereinstimmend mit der Marien-Vita des Epiphanius) - relative Daten zum Leben Konstantins des Großen - die zeitlichen Abstände, wichtigsten Teilnehmer und Themen der sieben Ökumenischen Konzile

1 Vgl. KP 31,17–19. 2 Dass Kurzchroniken besonderes Interesse an der Genealogie und damit auch an den Müttern bedeutender Figuren der Heilsgeschichte zeigen konnten, erweist sich z. B. bei der Patriarchenliste in der Chronik des Petros von Alexandria (vgl. Samodurova 1961, 180–181, 187–188,3) und in der auf Eusebius fußenden Pariser Redaktion der Ekloge historikon (Cod. grec 854 der BnF, 13. Jh., Cramer 1839, 168–174). Diese Quellen nennen in ihrer Genealogie der Patriarchen durchgehend nicht nur den Namen des jeweiligen Vaters, sondern auch den der Mutter (vgl. Samodurova 1990, 245, wir geben die drei Quellen hier nach dieser Untersuchung an). In ihrem Versuch der Rekonstruktion einer „Ur-Kurzchronik“, die etlichen von ihr untersuchten Texten zugrunde gelegen haben könnte, nimmt Z. G. Samodurova (ebd.) auch die Liste der Patriarchenmütter als Bestandteil dieser „Ur-Kurzchronik“ an. Bei aller Skepsis gegenüber derartigen Rekonstruktionsversuchen sind doch die nachgewiesenen Listen ein Beleg für das Vorhandensein entsprechender Bausteine in Kurzchroniken.

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2.4 Das kirchenslavische Synaxarion Über die PP bemerkte V. M. Istrin einmal fast nebenbei, von der Herrschaft des Tiberius an habe sie neben dem kirchenslavischen Hamartolus-Text regelmäßig eine weitere Quelle herangezogen, nämlich „Aufzählungen christlicher Märtyrer“.1 Bei einer systematischen Untersuchung der entsprechenden Zusätze zum Chroniktext der KP stellte sich heraus, dass sie noch erheblich stärker als die PP das Bestreben zeigt, nicht nur Märtyrer, sondern generell Heilige, deren Lebens- oder Todeszeit sich einem in der Chronik erwähnten Herrscher zuordnen lässt, beim Behandeln von dessen Zeit mit aufzuführen. Wie die PP beginnt die KP diese Zusätze mit Longinus, dem Hauptmann beim Kreuz Christi.2 Eine entsprechende nach Herrschern geordnete Heiligenliste muss den Kompilatoren von KP, PP und LER vorgelegen haben. Der KP-Text steht bei ihrer Benutzung in der Regel dem LER-Text näher als der PP, welche die jeweilige Aufzählung oft abkürzt.3 Allerdings sind die Listen in LER gelegentlich verderbt, gelegentlich aber auch etwas ausführlicher, während die KP meist die ursprünglichen Varianten erkennen lässt. In zwei Fällen, auf die bereits O. V. Tvorogov hinwies, ist die Liste in LER ausführlicher als die der KP. 4 Nur ausnahmsweise fällt die Aufzählung in LER kürzer aus als in der KP, etwa an der KP 29. 17,19 entsprechenden Stelle. Als separater Text wurde eine solche Liste im Ksl. bislang nicht nachgewiesen. Sehr frühe griechische oder lateinische Beispiele für chronologisch geordnete Heiligenlisten sind nicht gesichert.5 Das lat. Mittelalter bietet immerhin mindestens zwei Fälle: In der Mitte des 8. Jh.s wird im Kalendarium Köln DB 83-2 eine Verbindung astronomischer und komputistischer Zeiterfassung mit einer chronologisch geordneten Heiligenliste wohl erstmals greifbar.6 Für die spätere Zeit haben wir erst wieder ein Beispiel aus dem Süditalien des 13. Jh.s gefunden, und zwar in einem Werk, das thematisch noch breiter angelegt war als die Paleja-Literatur: Der Abt Gregor des apulischen Klosters Montesacro vollendete in den 30er Jahres des 13. Jh.s eine Enzyklopädie in Versen (De hominum deificatione), die sämtliche ihm zugänglichen Wissensbereiche abdeckte. Sie listet parallel zu den jeweiligen Päpsten und Kaisern auch die Märtyrer auf, die zu deren Zeit für ihren Glauben das Leben ließen, daneben übrigens auch die Häresiarchen der jeweiligen Zeit.7 Mit den Listen in der KP sind diese Texte jedoch nicht genetisch verwandt. Unsere Analyse der Heiligenlisten in der KP ergab, dass sie vom kirchenslavischen Synaxarion, dem so genannten Prólog, abhängen. Der Prólog, in seiner Grundform ein aus dem 1 Vgl. Istrin I, 185. 2 Vgl. KP 29. 9,1. 3 Das beobachtete bereits Istrin 1906, 138. 4 Vgl. Tvorogov 1975, 72–73 und 143. 5 Wir danken Ekkehard Mühlenberg, Göttingen, für zwei Hinweise in diesem Zusammenhang: Erstens war möglicherweise das nicht erhaltene Martyrologium, welches Konstantin I. in Auftrag gegeben haben soll, chronologisch geordnet (darauf deuten die beiden Widmungsbriefe zum Martyrologium Hieronymianum hin, vgl. Acta Sanctorum, Novembris II. 2, 1 und 2). Und zweitens entdeckte E. Mühlenberg, dass ein gleichartiges Martyrologium im Brief Gregors I. an Eulogius I. von Alexandria erwähnt wird, allerdings in einer abschlägigen Antwort Gregors: Auf eine entsprechende Anfrage des Eulogius erklärt er, ihm sei nichts Derartiges bekannt (vgl. MGH, Epp. 2, 28–29). 6 Vgl. Englisch 2002, Anhang 3, 142–154. 7 Vgl. Pabst 2002, Buch VII, 1370–1783 (in der Inhaltsübersicht: S. 230, in der Textedition: S. 914–924).

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Griechischen übersetztes Synaxarion mit Kurzviten der Heiligen für jeden Tag des Kirchenjahres, war zum liturgischen Gebrauch bestimmt und folgte selbstverständlich keiner linearen chronologischen Ordnung, sondern dem Kalender.1 Die nach Herrschern geordnete Liste ist, wie bereits mitgeteilt, einzeln noch nicht gefunden worden, lässt sich aber aus dem KP-Text rekonstruieren. Im Kommentar zu den jeweiligen KP-Stellen, die sich von KP 29. 9 bis 30. 28 erstrecken, weisen wir die Quellentexte aus Editionen von kirchenslavischen Synaxarien nach. Charakteristische Überlieferungsfehler, die wir dabei im Einzelnen benennen, zeigen zweifelsfrei an, dass das Synaxarion in der ältesten, noch nicht erweiterten Redaktion, wie es V. B. Krys’ko und seine Arbeitsgruppe für die erste Hälfte des Kirchenjahres publizierten 2, der Liste zugrunde lag. Diese erste Redaktion ist in Hss vom 12./13. Jh. an nachgewiesen und stellt die Übersetzung einer griechischen Vorlage aus dem 10./11. Jh. dar. Diese ist mit süditalienischen Traditionen verbunden und wurde offenbar im griechischen Gottesdienst auf dem Gebiet der Ochrider Eparchie benutzt. Dort entstand nach A. M. Pentkovskij im 11. Jh. auch die slavische Übersetzung, die bald den Weg in die Rusʼ fand.3 Die meisten heute erhaltenen Hss dieses ältesten kirchenslavischen Synaxars stammen aus dem Raum Novgorod-Pskov 4, waren also gerade dort zu Hause, wo die Paleja-Literatur zur Blüte gelangte und wo auch die KP entstand. Hier nur drei Beispiele dafür, dass tatsächlich das kirchenslavische und nicht etwa das griechische Synaxarion der für die KP benutzten Heiligenliste zugrunde lag: 5 In KP 29. 17,12 erhält Antipas einen neuen Bischofssitz, nämlich Amasia, aufgrund eines Schreibfehlers für Pergamon in der kirchenslavischen Prólog-Überlieferung. In KP 29. 17,20 wird Martin von Tours anstelle des Kaisers Gratian (so im griechischen Synaxarion, das den Ausgangstext bildete) dem Kaiser Trajan zugeordnet (so aufgrund der graphischen Ähnlichkeit in einem Teil der kirchenslavischen Synaxarientradition). In KP 29. 18,6 erhielt der Hieromärtyrer Eleutherius von Rom einen Vater namens Sidor oder Sir aufgrund eines verlesenen Prólog-Eintrags, der berichtet hatte, er sei сиръ отца („verwaist“, d. h. „ohne Vater“) großgeworden. Häufig sind die slavischen Genitiv-Formen der Namen aus den Synaxarien-Einträgen in die Liste übernommen worden, so dass weniger bekannte männliche Heilige in der KP mit Namensformen auftauchen, die weiblich scheinen. (Vgl. u. v. a. Eudoksěja und Makar’ja in KP 29. 17,19). Da zuweilen auch der Hamartolus-Text Märtyrer oder Heilige zur Zeit der behandelten Kaiser erwähnt, kollidieren die Listen nach Hamartolus slav. und nach der Heiligensliste, die nach dem Prólog erstellt wurde, ab und an. Ein Beispiel findet sich in KP 29. 17,19, wo Simeon, der 1 Zu der Bezeichnung des ganzen Textes als Prólog nach dem im griech. Ausgangstext am Anfang stehenden πρόλογος sowie zur Abgrenzung des Begriffs, der auch für spätere ksl., stark um verschiedene erbauliche Textsorten erweiterte Redaktionen bestehen blieb, vgl. Krys’ko 2010, V–VI. Streng genommen ist nur die älteste, noch nicht erweiterte ksl. Redaktion ein reines Synaxarion; Prólog dagegen nennt man – aufgrund des Befunds in der Hss-Tradition auch in der Wissenschaftssprache – nicht nur dieses frühe Synaxar, sondern auch die auf seiner Basis angereicherten späteren Sammelwerke. 2 Krys’ko 2010 und 2011. 3 Vgl. Pentkovskij 2011. Eine Analyse der Übersetzung vgl. bei Prokopenko 2011а. 4 Zur Textüberlieferung vgl. Prokopenko 2011b. 5 Details vgl. in den jeweiligen Kommentaren.

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zweite Bischof von Jerusalem, offenbar in beiden Listen enthalten war. KP, PP und LER gehen je unterschiedlich an das Problem heran.1 Im selben KP-Satz gerieten durch einen Segmentierungsfehler auch die beiden Gnostiker Basilides und Menander (Menandros), die bei Georgius Monachus an entsprechender Stelle als Häresiarchen verzeichnet sind, unter die Märtyrer.2 Für die Zeit Konstantins I. wurde in KP 30. 2 in analoger Weise die Hamartolus-Liste von Teilnehmern am 1. Ökumenischen Konzil anhand des Prólogs erweitert. Innerhalb der KP-Listen zur Zeit eines Kaisers erscheinen regelmäßig zuerst die im Hamartolus-Text aufgezählten Heiligen, anschließend, der kalendarischen Ordnung des Prólog gemäß, die weiteren, in deren Kurzvita dort der Name des betreffenden Kaisers zu finden war. Am deutlichsten lässt sich diese kalendarische Abfolge bei Abschnitten zu besonders christenfeindlichen Herrschern feststellen, mit deren Namen viele Martyrien verbunden sind, vgl. z. B. die Liste der Märtyrer unter Diokletian und Maximian in KP 29. 24,6. Jemand muss den Prólog systematisch von September bis August nach Kaisernamen in den Kurzviten durchforstet und die Namen der Heiligen (es sind nicht ausschließlich Märtyrer verzeichnet, obgleich diese aus naheliegenden Gründen in der frühen Zeit des Christentums überwiegen) aus den zugehörigen Einträgen in eine Liste zu dem jeweiligen Kaiser geschrieben haben. Die KP greift auch außerhalb solcher Listen auf den Prólog zurück. Darauf verwies bereits V. M. Istrin, der den Bericht in KP 22. 4,5–7, als weitgehend wörtlich aus dem Prólog-Eintrag über das Martyrium der drei Jünglinge im Feuerofen unter dem 17. Dezember entlehnt erkannte.3 S. A. Davydova fand weitere Prólog-Spuren in LER, und zwar in Narrativen, die letztlich auf Georgius Monachus und auf den Sinajskij Paterik (das „Paterikon vom Sinai“) zurückgehen. Die Redaktion dieser Fragmente im Prólog unterscheidet sich von derjenigen in den Ausgangstexten, so dass Davydova nachweisen konnte, wie beim Zusammenstellen der entsprechenden Stellen in LER Korrekturen anhand der Prólog-Redaktion vorgenommen wurden.4 Davydovas Untersuchungsergebnisse lassen darauf schließen, dass das ohnehin aus dem täglichen liturgischen Gebrauch vertraute Synaxarion zum direkten Quellenmaterial in den Kreisen gehörte, in welchen KP und LER kompiliert wurden, und auch die fragliche, nach Herrschern geordnete Liste von Heiligen in diesen Kreisen zusammengestellt worden sein könnte. Auch hier kann der kirchenslavische Hamartolus-Text mit seinen kurzen Heiligenlisten den Ausgangspunkt gebildet haben, zu welchen systematisch entlang dem Kalender im Prólog die noch fehlenden Heiligen ergänzt wurden.5 Schon der Troickij Chronograf 6, der höchstwahrscheinlich älter als PP, KP und LER ist, hat Fragmente aus dem Prólog übernommen. O. V. Tvorogov berichtet von einer solchen nahezu 1 Vgl. den Kommentar zur Stelle. 2 Vgl. den Kommentar zur Stelle. 3 Vgl. Istrin 1906, 136–137. 4 Vgl. Davydova 1999. 5 Vodolazkin 2000b, 320, erklärt, der Sofijskij Chronograf, eine knappe chronographische Kompilation, die v. a. Material aus Malalas und Hamartolus verarbeitet, habe regelmäßig die Namen der Märtyrer aufgeführt, die mit der Zeit der jeweiligen Kaiser verbunden gewesen seien. Dies ist nicht als Hinweis darauf misszuverstehen, der Kompilator habe mit der in KP, PP und LER benutzten Heiligenliste gearbeitet. Der Sofijskij Chronograf enthält ausschließlich die (meist vollständig) aus dem ksl. Hamartolus-Text übernommenen Aufzählungen von Heiligen. 6 Vgl. unten unter 2.6.

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wörtlichen Entlehnung, nämlich der Kurzvita eines „Darufа“ aus einem Prólog-Eintrag unter dem 16. Februar.1 Gemeint ist mit dem verderbten Namen der syrische Bischof Maruthas, dem die Sammlung von Reliquien (aus der Verfolgung unter Schapur II.) in Mairferqat und die Umbenennung der Stadt in Martyropolis zugeschrieben wird.2 Ähnlich wie für die nach Kaisern geordnete Heiligenliste diente der Prólog auch als Quelle für den Großteil der Daten in einer weiteren Liste. Bereits im Abschnitt über die Kurzchroniken wurde mehrfach eine Liste von alttestamentlichen Propheten erwähnt, die jeweils angibt, wieviele Jahre vor Christus der Prophet wirkte. Ijob, Mose, David, Samuel, Salomo, Elia, Jeremia, Ezechiel, Haggai und Sacharja werden dort nach den Jahresabständen zu Christus geordnet. Die meisten Jahresangaben entstammen den Synaxarien-Eintragungen zu den jeweiligen Propheten. Diese Liste steht im Hintergrund einiger der Daten in der KP.3 Schon im Proročestvo Solomona (13. Jh.) findet sich eine ähnliche Liste.4 Die Kurzchronik, die in KP-Hs V direkt an den KP-Text anschließt und die wir im Anhang zur vorliegenden Ausgabe edieren, enthält gleichfalls eine solche Prophetenliste 5, doch weichen einige Namen und Zahlen dort von denjenigen im Proročestvo Solomona ab. Neben den bereits genannten Kurzchroniken, die der Ersten und Dritten Pskover Chronik, dem Vladimirskij Letopisec und der Chronik des Avraamka vorangehen, zeigt die Kurzchronik in der KP-Hs V eine besonders enge Verwandtschaft zu einer weiteren Kurzchronik, die den Rogožskij Letopisec, eine Lokalchronik von Tver’ aus der Mitte des 15. Jh.s, einleitet.6 In beiden folgen die Fragmente zu den alttestamentlichen Propheten und zu den Ökumenischen Konzilen direkt aufeinander. Der Rogožskij Letopisec greift auch sonst weitgehend auf Novgoroder Quellen zurück. Wieder erweisen sich die Kurzchroniken als wesentliche Vermittler historischer Datensammlungen. Wer wann wo die Daten aus dem Prólog extrahierte, die in der Heiligenliste und der Prophetenliste gesammelt sind, wissen wir nicht. Beide Listen können nicht älter sein als die älteste kirchenslavische Synaxarien-Redaktion, der die Daten entstammen und die A. M. Pentkovskij und L. V. Prokopenko auf das 11. Jh. datieren 7. Die gesicherte Benutzung der Daten in Kurzchroniken aus dem Raum Novgorod-Pskov sowie in der ebendort beheimateten Paleja- und Chronograf-Literatur vom frühen 15. Jh an deutet in Verbindung mit den gehäuften Prólog-Hss aus derselben Gegend vom 13. Jh. an darauf hin, dass die Listen als Material für die rege chronographische Tätigkeit dort im 13./14. Jh. angefertigt worden sein können.8 1 Tvorogov 1975, 95. 2 Vgl. O. Hiltbrunner, Artikel „Maruthas“, in: DKP III, Sp. 1060–1061. Den Prólog-Artikel, in welchem Maruthas in einem Großteil der Hss unter dem Namen Darufa erscheint, vgl. bei Krysʼko 2010, 764–767, f 150a,18 – 150c,11; Pavlova, Željazkova 1999, 162, f 144a,17 – 144b,9. 3 Vgl. unten unter 3.1, S. 63–64. 4 Vgl. Vodolazkin 2000a, 355–356. 5 Vgl. den einleitenden Kommentar zu KC-V im Anhang sowie ebd. die einzelnen Kommentare zu KC-V 2. 6 Vgl. PSRL 15, Sp. 8,14 – 9,19. 7 Vgl. Pentkovskij 2011. Eine Analyse der Übersetzung vgl. bei Prokopenko 2011а. 8 Eine systematische Untersuchung der Prólog-Spuren, die in der vorliegenden Edition nachgewiesen sind, auf Varianten aus der Hss-Tradition von Novgorod-Pskov war im Rahmen des KP-Editionsprojekts nicht zu leisten. Es ist wünschenswert, dass die künftige Forschung sich dieser Frage annimmt, um die Provenienz der Listen näher zu bestimmen.

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2.5 Chronographische Daten aus weiteren Quellen Die Apokalypse des Ps.-Methodius, das Werk eines syrischen Mönchs aus dem späten 7. Jh.1, war zuerst unter dem Namen des Bischofs Methodius von Olympus, später unter dem des Bischofs Methodius von Patara verbreitet.2 Übersetzungen ins Griechische, Lateinische und Armenenische verbreiteten den Text in der gesamten christlichen Ökumene.3 Vom 11. Jh. an entstanden kirchenslavische Übersetzungen, die ungemein populär wurden. In der westeuropäischen Wissenschaft ist die enorme Wirkungsgeschichte des Ps.-Methodius im slavisch-orthodoxen Raum bislang kaum wahrgenommen worden: Wie etwa auch bei Dionysius Areopagita, geht man gar zu gern vom eigenen Kulturkreis als dem einzig relevanten aus und bescheinigt auch der Apokalypse des Ps.-Methodius eine Wirkung, die v. a. durch die lateinische Übersetzung und deren Nachfolgeliteratur, etwa in westeuropäischen Volksbüchern, vermittelt worden sei.4 Dabei hatte schon die in Westeuropa freilich fast gar nicht rezipierte Untersuchung und Edition von V. M. Istrin 1897 darauf hingewiesen, dass sogar aus dem südslavischen Raum eine ganze Reihe von Hss erhalten geblieben sind, altrussische gibt es zuhauf. Istrin kannte sechs Hss aus dem 12.–17. Jh. mit der ersten Übersetzung, 10 Hss der zweiten aus dem 14.–18. Jh. und 22 Hss (aus dem 14.–19. Jh.) der von ihm als interpolierte Redaktion bezeichneten erweiterten Fassung der ersten Übersetzung. Weitere Hss wurden um die Wende zum 20. Jh. entdeckt; 15 Hss allein aus dem Besitz des Instituts für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (damals noch Leningrad) aus der Zeit vom 17. bis zum 20. Jh. beschrieb E. V. Litvinova.5 Verschiedene Fassungen, die Elemente beider Übersetzungen enthalten, sind beschrieben worden; eine solche kontaminierte Fassung wurde bereits vom Verfasser der Nestorchronik benutzt.6 Auszüge aus der Apokalypse des Ps.-Methodius wurden von den frühesten altrussischen chronographischen Kompilationen an und später bis weit in die Neuzeit hinein v. a. durch die russischen Altgläubigen in immer neuen Kombinationen benutzt und insbesondere in der so genannnten interpolierten Redaktion weiter tradiert.7 Auch gegenwärtig kann man diese Redaktion z. B. in neurussischer Übersetzung nach einer Hs aus dem 16./17. Jh. auf einer Website der altgläubigen Fedoseevcy (ein Zweig der priesterlosen pomorischen Altritualisten) lesen.8 Diese interpolierte Redaktion entstand laut Istrin durch Bearbeitung der ersten Übersetzung auf russischem Boden, Istrin datiert sie auf das 15. Jh.9 Er 1 Zur Frage der Autorschaft vgl. Bracht 1999, 390–391, insbes. Anm. 38. 2 Beide Zuschreibungen an Märtyrer aus dem 4. Jh. dienten der Darstellung von Ereignissen des 7. Jh.s, v. a. der islamischen Expansion im Nahen Osten, als frühere Prophezeiungen. 3 Vgl. für einen Überblick DiTommaso 2017, mit viel weiterführender Literatur. Die heute gängigen Referenzeditionen sind für den syr. Text Reinink 1993 (mit deutscher Übersetzung) und für den griech. und lat. Aerts, Kortekaas 1998. 4 So etwa Aerts, Kortekaas 1998, 7. 5 Litvinova 1983. 6 Eine Übersicht vgl. bei Thomson 1985. Eine Bibliographie zu Untersuchungen über den Einfluss der Apokalypse des Ps.-Methodius auf die Nestorchronik vgl. bei Isoaho 2015, 77–81. 7 Vgl. den Artikel „Откровение Мефодия Патарского“ von L. A. Dmitriev in Slovar’ knižnikov I, 1987, 283– 285, ausführlicher bei Petkov 2016, 183–201. 8 http://www.staropomor.ru/posl.vrem%285%29/patarskij.html (Zugriff: 05. 12. 2018). 9 Die erste Hss-Liste vgl. bei Istrin 1897, A, 228–230; Interpolationen: ebd., 231–232.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.5 Chronographische Daten aus weiteren Quellen

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edierte diese Redaktion nach Ms 341-721 aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums, f 393– 426, aus dem 16./17. Jh.1 An seiner vorsichtigen Datierung haben die bisherigen Untersuchungen noch nichts geändert. Aus dem KP-Text geht nun deutlich hervor, dass sein Kompilator im ersten Drittel des 15. Jh.s bereits auf die interpolierte Redaktion der Ps.-Methodius-Apokalypse zurückgriff: Die KP benutzt diese Redaktion v. a. im Bereich der Berichte über die Schwestern von Kain und Abel in Kap. 1. 3, über Noach und die Sintflut in Kap. 2 und über Noachs vierten Sohn Munt in der abschließenden chronographischen Übersicht Kap. 31,6–14.2 Damit ergibt sich auch für die von E. G. Vodolazkin analysierte Rohfassung der PP, Ms Barsov 619 3, immerhin die Möglichkeit, dass ihrem Kompilator um 1400 bereits die interpolierte Redaktion der Ps.-Methodius-Apokalypse zur Verfügung stand: Die apokryphe Erzählung über die Maus in der Arche Noach, in deren Gestalt der Teufel fast das Menschengeschlecht ausgerottet hätte, steht in der Fassung, die in diese Redaktion aufgenommen wurde, derjenigen in Barsov 619 in zwei Fragmenten sehr nahe.4 Wahrscheinlicher ist jedoch, da der Text nicht durchgehend übereinstimmt, für Ms Barsov 619 aber das wörtliche Übernehmen der benutzten Texte oder Textausschnitte ebenso typisch ist wie für die KP, dass Ms Barsov 619 und die interpolierte Redaktion der Ps.-Methodius-Apokalypse auf die gleiche Quelle mit dem Apokryphon über die Maus in der Arche zurückgriffen, möglicherweise eine separate Überlieferung, die heute nicht mehr erhalten ist.5 Dass bereits die TP u. a. sowohl aus der Christlichen Topographie des Cosmas Indicopleustes (übersetzt wohl in der Rusʼ am Ende des 12. / Anfang des 13. Jh.s) 6 als auch aus dem Hexaemeron des bulgarischen Exarchen Ioann (9. bis 10. Jh.) geschöpft hat, ist bekannt.7 In recht kleinteiligen Entlehnungen bedient sich die KP nun erneut bei der kirchenslavischen Übersetzung der Christlichen Topographie und bei mehreren Werken des Exarchen Ioann. Übrigens verbindet auch die slavische Hss-Tradition Cosmas mit der Paleja-Literatur. So umfasst die älteste erhaltene slavische Cosmas-Hs (Staatliches Historisches Museum zu Moskau, Sammlung Uvarov, Nr. 566, geschrieben um 1495) neben der Christlichen Topographie u. a. auch die HP und die TP, eine Kurzchronik zum Leben Jesu und die Apokalypse des Ps.-Methodius.8 Ebenso 1 Istrin 1897, B, 115–131. 2 Vgl. die detaillierten Kommentare zu den jeweiligen Abschnitten. 3 Zur PP und der Hs Barsov 619 vgl. unten unter 2.6. 4 Vgl. Vodolazkin 2009, 341–349, und die dort angegebene Literatur zu dem kleinen Apokryphon. In die endgültige Fassung der PP ist es dann nicht übernommen worden, vgl. ebd., 341. 5 Ähnlich ist etwa die separate Überlieferung der apokryphen Leiter Jakobs nicht bewahrt geblieben; im Schutze der Kompilationen, die unterschiedlich damit umgingen, konnte der Text jedoch in verschiedenen Gestalten bis in die Gegenwart tradiert werden. (Vgl. Fahl, Böttrich 2015, 1–33.) 6 Vgl. Jacobs 1979, 192. Zurückhaltender äußert sich E. K. Piotrovskaja über die noch nicht eindeutig klaren Umstände von Zeit und Ort der Übersetzung in ihrem Artikel „‚Христианская топография‘ Козьмы Индикоплова“ in Slovar’ knižnikov I, 1987, 465–467. Die Herausgeber der ältesten ksl. Cosmas-Hs, V. S. Golyšenko und V. F. Dubrovina, schließen sich der Ansicht von Jacobs an (Koz’ma Indikoplov 1997, 7). 7 Vgl. die Untersuchungen von Barankova 1982 und Slavova 1991, 64–66, zu Zitaten der TP aus Ioanns Hexaemeron. 8 Vgl. Koz’ma Indikoplov 1997, 8.

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ist das Hexaemeron des Exarchen Ioann in Sammelbänden gemeinsam mit dem kirchenslavischen Cosmas und auch mit Paleja-Texten anzutreffen.1 Gleich zu Beginn der Schöpfungsgeschichte in der KP, nämlich in Satz 1. 1,3, erscheint ein Beispiel, das den Umgang mit den Werken von Cosmas und Ioann gut illustriert: Die KP erläutert zum ersten Schöpfungstag (Gen 1,1) in einer Aufzählung, was genau unter „Himmel und Erde“ zu verstehen sei, welche am ersten Tage geschaffen wurden: „Es schuf Gott im Anfang am ersten Tage, am Sonntag, 1. den Himmel, 2. die Erde, 3. die Abgründe, 4. die Winde, 5. die Luft, 6. die Wasser, woher ist Schnee, Frost, Eis, Tau, Hagel, Nebel, Finsternis, Reif.“ Der entsprechende TP-Satz ist erheblich kürzer: „Im Anfang schuf Gott, heißt es, Himmel und Erde.“ 2 Die KP-Einschübe in den TP-Text hier entstammen verschiedenen Quellen.3 Zunächst muss aus einer Kurzchronik eingefügt werden, dass der erste Tag der Welt ein Sonntag war. Dann wird nach dem Hexaemeron des Exarchen Ioann (der hier auf Severianus von Gabala zurückgreift) das Schöpfungswerk des ersten Tages konkretisiert: Gott schuf „1. den Himmel, 2. die Erde, 3. die Abgründe, 4. die Winde, 5. die Luft, 6. die Wasser“.4 Die Wasser stellen den Anschluss zur nächsten Quelle her, nämlich Logos 10.43 bei Cosmas (ebenfalls kein „Originaltext“, sondern ein Zitat aus Epiphanius von Salamis, De mensuris et ponderibus 5). Mit Cosmas erklärt die KP nun, welche meteorologischen Phänomene den Wassern zuzuordnen sind: „die Wasser, woher ist Schnee, Frost, Eis, Tau, Hagel“. Die Schnittstelle ist in der KP asyntaktisch, unsere deutsche Übersetzung glättet. Wasser, bei Ioann ein Singular, gleicht hier im Plural dem Cosmas-Text, das anschließende Relativpronomen, bei Cosmas konsequenterweise auch Plural, steht in der KP hingegen im Singular. Wörtlich wäre die KP hier zu übersetzen: „die Wasser, aus welchem ist ... “.6 Nach dem Cosmas-Zitat setzt die KP noch weitere Wetterphänomene hinzu: „Nebel, Finsternis, Reif“. Auch hierfür dürfte es eine Quelle gegeben haben; denn der KP-Zusatz nach Cosmas und Ioann ist wohl aus einem bereits fertigen ähnlichen Satz extrahiert worden. Die PP zitiert diesen anscheinend vollständig; denn sie enthält einen ähnlichen, ausführlicheren Zusatz: „Kälte, Nebel, Finsternis, Tiefe und alle Elemente und Bestandteile der Erde“, was inhaltlich dem bei Ioann (nach Severianus) anschließend Erklärten entspricht, mit „Himmel und Erde“ sei alles gemeint, was diese umfassen. Sollte die KP hier aus der PP geschöpft haben? Wie sich noch zeigen wird, liegt der Verdacht durchaus nicht nur an dieser Stelle nahe. Es ließen sich noch weitere Quellen aufzählen, die punktuell herangezogen wurden. Als abschließendes Beispiel seien zwei KP-Sätze im Zusammenhang mit der Taufe Bulgariens angeführt (KP 30. 27,2–3), die auf den Traktat des Černorizec Chrabr (der Name bzw. das Pseu1 Vgl. die Übersicht über die Hss-Tradition des Hexaemeron des Exarchen in Hex 1998, 15–17. 2 TP I, 1, f 1b,11–13. Dann folgt sogleich der erste umfangreiche apologetische TP-Kommentar. 3 Die einzelnen Stellennachweise vgl. in den Kommentaren zu KP 1. 1,3. 4 Die PP kennt eine Parallele zu dem Teilsatz nach Cosmas und Ioann, vgl. Polnaja Chronografičeskaja Paleja 1892, f 2c,12–19. Die Nummerierung, die PP und KP hier einfügen, ist im Text des Exarchen noch nicht zu finden. 5 Mit einem umfangreicheren Zitat direkt nach diesem Werk beginnt LER; kleinere Stücke verarbeitet schon die Nestorchronik. Vgl. Tvorogov 2001, 7. 6 Die PP in Ms 1435 der Sammlung Pogodin, f 2v,7, setzt wie die KP Wasser im Plural, schließt aber mit einem Relativpronomen an, das nur einen Numerus kennt: отнюдуже / woher. Die PP in Ms 210 der Synodal-Sammlung, f 2c,15–16, setzt Wasser im Singular und schließt mit dem gleichen Relativpronomen an (vgl. die FaksimileEdition: Polnaja Chronografičeskaja Paleja 1892).

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.6 Paralleltexte in altrussischen Chronografy

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donym bedeutet wörtlich „kühner/wackerer Mönch“) O pismenech („Über die Buchstaben“) zurückgehen. Auch die PP enthält einen entsprechenden Passus, doch kann die KP, die ausführlicher zitiert, hier nicht ausschließlich von der PP abhängen.1

2.6 Paralleltexte in altrussischen Chronografy Es waren im Wesentlichen die Hamartolus- und die Malalas-Chronik, die das Gerüst für die altrussischen kompilierten Weltchroniken abgaben, die so genannten Chronografy, zu denen in ihrem zweiten, über den Stoff der TP hinausgehenden Teil auch die KP gehört. Die engste Verwandtschaft verbindet die KP mit zwei Kompilationen, die wahrscheinlich ebenfalls im Raum Novgorod und auch zeitlich nicht allzu weit entfernt entstanden: der Polnaja Chronografičeskaja Paleja (PP) und dem Letopisec Ellinskij i Rimskij in der zweiten Redaktion (LER). Die PP ist ähnlich wie die KP durch Bearbeitung aus der TP hervorgegangen. E. G. Vodolazkin hat diese Kompilation einmal als Zentauren bezeichnet: 2 Die Historienbibel ist auch hier in ein chronographisches Werk hinübergewachsen. Das äußert sich nicht allein in einer den ursprünglichen Umfang mehr als verdoppelnden Fortsetzung, die nun auch die Weltgeschichte nach König Salomo bis zu Romanos I. Lakapenos einbezieht und die weitgehend wörtlich dem chronographischen Teil der KP gleicht, sondern auch in der Aufnahme vieler weiterer Texte und Textfragmente in den Teil zur alttestamentlichen Geschichte. Zugleich wurden die exegetischen Abschnitte stark verkürzt bzw. ganz eliminiert und die Dialogstruktur meist aufgegeben. Wann und auf welche Weise diese Bearbeitung vor sich ging, konnte Vodolazkin in einer Reihe von Untersuchungen demonstrieren.3 Den Schlüssel dazu gab ihm die Hs Nr. 619 aus der Sammlung Barsov des Staatlichen Historischen Museums zu Moskau in die Hand (im Folgenden: Barsov 619). Sie stammt aus den Jahren um 1400 und setzt die Linie fort, die schon im Kirillo-Belozerskij-Typ der TP begonnen hat: Der Text dieses Typs wird um weitere, v. a. apokryphe alttestamentliche Erzählstücke erweitert, einzufügen an Stellen, die in Barsov 619 durch besondere Zeichen markiert sind.4 1 Vgl. den einleitenden Kommentar zu KP 30. 27. Gegenwärtig sind mehr als 100 Hss des kleinen Traktats bekannt, dessen anonymer Autor (vgl. Veder 1999, 8, und die dort angegebene Literatur) sich hinter dem Namen Černorizec Chrabr verbirgt. Die Überlieferung in Sammelbänden verbindet den Traktat zudem mit anderen Quellen der Paleja-Literatur wie dem Hexaemeron des Exarchen Ioann. Vgl. Hex 1998, 15; Veder 1999; Petkanova 2003. Auch eine KP-Hs, nämlich V, enthält den Traktat (vgl. Veder 1999, 20; Vodolazkin 2004a, 172). 2 Vgl. Vodolazkin 2009, 327. 3 Vgl. Vodolazkin 2007b, 2009, 2011 und 2014b. 4 Alekseev 1993b, 2006 argumentierte, die in Barsov 619 vorhandenen und etwa in der TP von Kolomna fehlenden Apokryphen seien nachträglich aus der TP entfernt worden. Durch Vodolazkin 2007b, 2009, 2011 und 2014b ist en détail nachgewiesen worden, dass Barsov 619 im Gegenteil diese Texte systematisch in den TP-Text integriert hat und dass diese erweiterte Fassung die Grundlage für die Entwicklung der PP und auch späterer PalejaKompilationen (Paleja des Mönchs Efrosin, Paleja des Gurij Rukinec) bildete. Auszüge aus Ms Barsov 619 publizierten Kulik, Minov 2016, 239–275 (Noach-Geschichte mit den Zusätzen über die Versuche des Satans, als Maus das Überleben in der Arche zu verhindern: Edition in Paralleltext zu Ps.-Methodius und zu späteren russ. Paleja-Überlieferungen) sowie 283–319 (Leiter Jakobs, Edition in Paralleltext zur PP nach Hs 210 der Synodal-Sammlung am Staatlichen Historischen Museum zu Moskau), jeweils mit englischer Übersetzung und Kommentar.

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Die Datierung von Barsov 619 – nach zwei verschiedenen Untersuchungen jeweils anhand der Wasserzeichen auf den Zeitraum zwischen 1397 und 1407 1 bzw. zwischen 1365 und 1396 2 – beweist, dass die Entstehung der PP bzw. das Aufnehmen einer größeren Gruppe frühjüdischer Apokryphen in den TP-Text in keinerlei Beziehung zur Häresie der so genannten Judaisierenden im späten 15. Jh. gestanden haben kann. Diesen Nachweis führte bereits A. A. Alekseev 3 und widerlegte damit die seit dem 19. Jh. nie ganz aufgegebene gegenteilige These 4. (Die PP, die diese Texte enthält, war vor der Untersuchung von Barsov 619 nur in Handschriften aus der Zeit ab 1477 bekannt 5, was eine solche Verbindung einleuchtend erscheinen ließ.) Einige der beim Kompilieren der PP neu aufgenommenen Texte stammen aus Übersetzungen, die möglicherweise direkt aus dem Hebr. angefertigt wurden.6 Der Erweiterung des Textmaterials aus den Beständen jüdischer Traditionen folgte beim Fertigstellen der PP dann eine deutliche Reduzierung der an einen fiktiven jüdischen Gesprächspartner gerichteten Kommentare. (Dies gilt noch nicht für Barsov 619: Dort bemühte sich der Kompilator, die Anrede an den fiktiven Juden auch in die neu aufgenommenen Abschnitte einzufügen.7 ) Noch eine andere prinzipielle Frage zur Geschichte der Paleja-Literatur konnte durch E. G. Vodolazkins Analyse der Hs Barsov 619 geklärt werden, nämlich die nach dem Abhängigkeitsverhältnis von TP und PP untereinander. Die Kontroverse zweier russischer Gelehrter zu diesem Thema, K. K. Istomin und V. M. Istrin, begann um die Wende zum 20. Jh. und hat die Paleja-Forschung in starkem Maße befruchtet: K. K. Istomin ging davon aus, dass der umfangreichere Text, also die PP, der primäre sein müsse, und hielt dementsprechend die TP für eine Kürzung der PP.8 V. M. Istrin hingegen versuchte zu beweisen, dass die PP durch Erweiterung aus der TP hervorgegangen sei.9 Er stützte diese These, die an die Arbeit N. S. Tichonravovs 10 anknüpfte, v. a. auf einen Vergleich zwischen den Fassungen der Apokalypse Abrahams und der Homilie über den schönen Josef von Ephraem dem Syrer in TP und PP: Die in beiden Paleja-Fassungen übereinstimmenden Passagen aus diesen Texten unterschieden sich von den entsprechenden Passagen in den separaten Überlieferungen der Apokalypse Abrahams und der Homilie. In den über die TP hinausgehenden Teilen hingegen stimmte die PP mit den separaten Traditionen der Texte überein. Istrin erklärte dies mit der Arbeitsweise der beiden Kompilatoren: Der TP-Kompilator behandelte seine Quellen frei und bearbeitete sie für seine Zwecke, der PP-Kompilator aber übernahm wörtlich, was er (in der TP und in den separaten Texten) 1 Vgl. die Hs-Beschreibung bei Levočkin 1983, 76–77, nach der Datierung von T. V. Dianova. 2 Vgl. Alekseev 1993b, 64, nach der Datierung durch den Autor gemeinsam mit E. M. Švarc. 3 Vgl. Alekseev 1993b, 63–65. 4 Vgl. etwa Istrin 1922. 5 Die älteste bis dahin bekannte PP-Hs war Nr. 210 der Synodal-Sammlung am Staatlichen Historischen Museum zu Moskau (vgl. die Teiledition im Faksimile von Novickij: Polnaja Chronografičeskaja Paleja 1892). 6 Vgl. Alekseev 1993b; 2006; 2007 und 2018; Taube 1993; Alexeev 2001; Kulik 2005 und 2011; Bondarʼ 2010 und 2011; Griščenko 2015 und 2018 sowie die bei diesen Autoren angegebene Literatur. 7 Vgl. Vodolazkin 2009, 336–339. 8 Vgl. Istomin 1905–1913; 1906. 9 Vgl. v. a. Istrin I–IV (1905–1906). 10 Tichonravov 1898, 156–170 sowie im Anhang 114–116, hatte drei Paleja-„Redaktionen“ unterschieden, die in folgender Reihenfolge enstanden seien: Die erste bildete die TP, die zweite der so genannte Kirillo-BelozerskijTypus der TP und die dritte die PP.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.6 Paralleltexte in altrussischen Chronografy

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vorfand. Obgleich Istrins Argumente mit Hilfe textkritischer Untersuchungen gut abgesichert waren, schienen die Ansichten Istomins, zeitlich später (1913) noch einmal nachdrücklich vertreten, lange die überzeugenden.1 Erst die detaillierten Untersuchungen von Vodolazkin wiesen anhand der Hs Barsov 619 nach, dass in dieser Hs genau nach der von Istrin beschriebenen Methode das Protograph der PP geschaffen worden war: In den TP-Text, der im Übrigen unverändert blieb, wurden zahlreiche Fragmente neu eingebettet.2 Unsere Arbeit über die apokryphe Leiter Jakobs und ihre Redaktionen in TP und PP bestätigte Vodolazkins Ergebnis und erlaubte damit einen neuen Zugang zur Textgeschichte dieses kleinen Apokryphons.3 Bereits seit den Untersuchungen von V. M. Istrin ist bekannt, dass auch die KP keine gekürzte Fassung der PP sein kann, beide jedoch zu großen Teilen paralleles Material enthalten. Als endgültig geklärt kann dieses Phänomen noch immer nicht gelten, und auch die vorliegende Arbeit vermag nur einen weiteren Schritt zu seiner Klärung hin zu tun. Da die Entstehung der PP anhand der Datierung von Ms Barsov 619 bald nach 1400 anzusetzen ist, dürfte die KP etwas jünger sein.4 Zudem sind beide Kompilationen im Raum Novgorod beheimatet, so dass kaum denkbar erscheint, der Autor der jüngeren könnte die ältere nicht gekannt haben. Die einfachste Erklärung für die vielen wörtlichen Parallelstellen ist demnach eine direkte Entlehnung von PP-Fragmenten durch die KP. Die aufs Detail geradezu versessene Person, als welche wir den KP-Kompilator in den vorangehenden Abschnitten zur Arbeit mit den Quellen kennengelernt haben, kann durchaus auch im KP-Anfangsteil, welcher der TP folgt, den Text anhand der PP verifiziert und ergänzt haben. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte vom Tode Esaus in KP 7. 6, die nicht in der TP enthalten ist, wohl aber in der PP. Sie steht in der KP in einer kaum gekürzten Fassung, die weitestgehend wörtlich dem PP-Text entnommen zu sein scheint. Genau die gleiche Art der behutsamen Kürzung kann man in der KP bei Fragmenten aus der TP und später aus dem slavischen Hamartolus beobachten. Ein anderes Beispiel zeigt sich in KP 8. 2,8, wo von den Verführungskünsten der Frau des Potifar die Rede ist: Die eher seltenen Begriffe мазатися für sich parfümieren / sich salben und монисто für Halsschmuck treten hier gewiss nicht zufällig in gleicher Verbindung auf wie an der Parallelstelle in der PP.5 Von einem systematischen Vergleich von KP und PP auch im ersten, an der TP orientierten Teil ist genauerer Aufschluss über das Abhängigkeitsverhältnis zu erwarten. Eine solche Studie hätte freilich den Rahmen unserer Möglichkeiten gesprengt, weil dafür zuerst zuverlässige kritische Texte der TP, gerade auch in dem für KP und PP bedeutsamen so genannten Kirillo-

1 So wird die PP oder deren Redaktion einzelner Apokryphen bzw. Pseudepigraphen als primär gegenüber der TP dargestellt bei Panajotov 1986 (er datiert die PP vor das Jahr 900!); de Santos Otero 1989, 110, 118 (ähnlich noch: ders. 2011); Taube 1993, 30; Alekseev 1993b, 66–67 (hier sogar mit Blick auf Hs Barsov 619; kritisch dazu vgl. Vodolazkin 2007b, 2009). Istrins These vom Primat der TP vertraten hingegen Thomson 1998, 871 (dort in FN 1263 weitere Literatur), sowie später u. a. Novalija 2008, 10–12, und Soldat 2011, 416, unter Berufung auf Thomson. 2 Vgl. Vodolazkin 2007b; 2009; 2011; 2014b. 3 Auch die bisherige Forschung zur Leiter Jakobs hatte meist die PP-Redaktion als primär und die TP-Redaktion als sekundär betrachtet. Vgl. Fahl, Böttrich 1915, 23–28. 4 Vgl. zur Datierung unten unter 4.1.8. 5 Einzelheiten vgl. in den Kommentaren zu den jeweiligen KP-Stellen.

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Belozerskij-Typus, und der PP angefertigt werden müssten.1 Wir notieren in den Kommentaren jedoch auffällige Parallelen. Bis zu KP 16. 6,39 (über Simsons Ende) zitieren wir den entsprechenden PP-Text der leichteren Zugänglichkeit halber nach der dort mit f 302v abbrechenden Faksimile-Edition der Pskover Paleja aus dem Jahre 1477, Ms Nr. 210 des Sinodalʼnoe sobranie (Sammlung des Heiligen Synod) aus dem Staatlichen Historischen Museum zu Moskau 2, besorgt von P. P. Novickij 1892 3. Danach ziehen wir in Apparat und Kommentaren die PP nach dem nicht edierten Ms Nr. 1435 der Sammlung Pogodin an der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg heran. Diese Handschrift, wohl vom Ende des 15. Jh.s, 4 gilt als maßgeblicher Referenztext für die PP.5 Beginnend mit dem Abschnitt über die Entlassung aus der babylonischen Gefangenschaft (KP 24. 4) ist der Text in KP und PP fast identisch6, so dass wir auch zum besseren Beurteilen sämtliche Varianten der KP, die auch in der PP bezeugt sind, nach der PP Pogodin 1435 ab f 403v,22 bis zum Schluss des Textes im Apparat bzw. Kommentar dokumentieren. Im Kommentar verzeichnen wir von dort an am jeweiligen Abschnittsbeginn folia und Zeilen der Entsprechungen in der PP nach dieser Hs.7 Der so genannte Letopisec Ellinskij i Rimskij erhielt seinen Titel, den einige Hss so enthalten, weil auch dieser Chronograf v. a. aus Hamartolus slav. (= Rimskij Letopisec / Römische Chronik) und Malalas slav. (= Ellinskij Letopisec / Hellenische Chronik) schöpfte. Schon A. Popov unterschied zwei Redaktionen und publizierte Teile daraus.8 Eine kritische Edition der ersten Redaktion, überliefert in vier Hss, einer vom Ende des 15. und drei aus dem 16. Jh., plant D. Peev. Die kritische Edition der zweiten Redaktion, von der neun in zwei Gruppen unterteilbare Hss bekannt sind, unternahm O. V. Tvorogov 1999–2001 9. Die erste Redaktion berichtet nach einem Einführungsteil, der von der Erschaffung der Welt bis zum Fall der Reiche Israel und Juda reicht, von der Weltgeschichte ab Nebukadnezzar bis zu Romanos I. Lakapenos und 1 Immerhin lassen die Pläne von A. Kulik (Jerusalem) zu einer diplomatischen Edition von Ms Barsov 619 hoffen, dass die Grundlagen für solche kritischen Editionen demnächst erweitert werden.. 2 Zu der Hs vgl. die Literatur bei Veder 1999, 17; Slavova 2002, 33, Nr. 1. 3 Polnaja Chronografičeskaja Paleja 1892. Der hohe Stellenwert, den die PP in der Rusʼ genoss, zeigt sich auch darin, dass dieser Hs farbige Miniaturen beigegeben sind (im Faksimile farbig reproduziert); zu dieser Illumination vgl. Protasʼeva 1968. Eine vollständige Edition der PP gibt es bislang nicht. Eine diplomatische Edition einer anderen PP-Hs, der so genannten Paleja von Krechiv (15./16. Jh.), die heute verschollen ist, unternahm in umfangreichen Auszügen I. Franko 1896. Kleinere PP-Fragmente, v. a. einzelne „Apokryphen“, erschienen nach unterschiedlichen Hss in mehreren Sammlungen, u. a. bei Pypin 1862, Tichonravov 1863, Porfirʼev 1877 sowie in Band 3 der Biblioteka literatury Drevnej Rusi, Sankt-Peterburg 1999. 4 Vgl. die Datierung auf 1475–1525 bei Veder 1999, 17. Weitere Literatur bei Slavova 2002, 33, Nr. 2. Wir benutzen die Hs in Form eines digitalisierten Mikrofilms. 5 Vgl. z. B. Tvorogov 1975, 239–260; Vodolazkin 2009, 339. 6 Tvorogov 1975, 239–260, listet den Inhalt der PP in ihrem chronographischen Teil nach Fragmenten gegliedert auf und weist dabei die ihm bekannten Quellen nach. Angeschlossen ist ebd., 260–262, eine ebensolche Aufführung der KP-Fragmente vom Anfang des chronographischen Teils (entspricht KP 22) an bis zur Entlassung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft (entspricht KP 24. 4). 7 Vgl. Tvorogov 1975, 262, wo die separate Aufführung der KP-Fragmente endet, da ab hier, mit Fragment 98 der PP einsetzend, die chronographischen Teile von KP und PP weitestgehend übereinstimmen. Tvorogov setzt die Liste der Fragmente für beide Kompilationen ebd., S. 244–260, gemeinsam fort. 8 Vgl. Popov 1866. 9 Text: LER; Kommentar und Bibliographie: Tvorogov 2001. Zur Bibliographie vgl. auch Orlov 2009, 323–325.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.6 Paralleltexte in altrussischen Chronografy

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widmet v. a. der griechischen Mythologie dabei viel Raum. Die zweite integriert in die gleiche Grundstruktur etliche zusätzliche Texte; so ersetzt sie die Alexandreis des Ps.-Kallisthenes der ersten durch die erweiterte Redaktion, fügt den gesamten Daniel-Kommentar des Hippolytus hinzu, auch die Erzählung von der Einnahme Jerusalems durch Titus, fast vollständig die Guidi-Vita von Konstantin und Helena, die Erzählung vom Bau der Hagia Sophia, zwei Berichte über die posthume Vergebung, die der ikonoklastische Kaiser Theophilos empfing, seitenlange Zitate aus der Gottesmutter-Vita des Epiphanius von Zypern und Auszüge aus etlichen weiteren Quellen. Stärker als die erste Redaktion strukturiert die zweite den Text chronologisch, setzt etwa die einzelnen Artikel rubriziert ab und entnimmt ihren Quellen kleine Mosaiksteine, um sie an chronologisch geeigneter Stelle einzupassen. Am Schluss erscheinen zusätzliche Chronikfragmente: Über die Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 und die Feldzüge der Kiever Fürsten Oleg und Igorʼ gegen Konstantinopel. Der Text schließt mit einer Kaiserliste bis zu Manuel II. Palaiologos (Kaiser ab 1391).1 Die im Folgenden gebrauchte Abkürzung LER bezieht sich nur auf diese zweite Redaktion des Letopisec Ellinskij i Rimskij.2 LER entstand also nach 1391. Terminus ante quem ist 1453; denn in diesem Jahr wurde in Novgorod eine Handschrift der zweiten kirchenslavischen Hamartolus-Redaktion geschrieben, die deutliche Einflüsse von LER zeigt. Da der Text mehrerer LER-Hss zudem von Novgorodismen geprägt ist, kann man vermuten, dass der Chronograf in Novgorod geschaffen wurde, vielleicht in einem ähnlichen monastischen Milieu wie die KP.3 Die Handschriftenüberlieferung von LER setzt um 1480 ein.4 LER stimmt oft wörtlich mit der KP überein; wir vermerken alle Parallelen im Kommentar zu unserer Edition. Eine auffällige Gemeinsamkeit von LER mit der KP besteht in dem Streben nach absoluter Jahreszählung (in LER meist aufgrund von Unsicherheiten bei der Berechnung nicht zu Ende geführt, so dass die Einträge nur mit Въ лѣто / Im Jahre ohne anschließende Jahreszahl beginnen). Ein anderes Beispiel für eine Gemeinsamkeit ist das fast identische Einfügen der oben beschriebenen Heiligen-Aufzählungen in die Abschnitte über die einzelnen Herrscher. E. G. Vodolazkin unternahm einen ersten Versuch nachzuweisen, dass LER u. a. von KP und PP abhängig sei.5 Doch müssen weitere Studien abgewartet werden, ehe sich diese Annahme erhärten lässt. In der späteren Tradition blieb LER jedenfalls eng mit der KP verbunden, was die umgekehrte Übernahme dreier Fragmente aus LER in KP-Hss ab etwa 1500 beweist.6 KP, PP und LER greifen v. a. den ksl. Hamartolus-Text in einer gekürzten Fassung auf, die sehr ähnlich bereits in einem wahrscheinlich etwas älteren Chronograf verwendet wurde. Diesen 1 Vgl. das Vorwort in LER, I–II; Tvorogov, O. V., Artikel: „Летописец Еллинский и Римский‟, in: Slovar’ knižnikov II. 2, 1989, 18–20. Die Kaiserliste stammt aus der dritten Gruppe der zweiten Redaktion des Letopisec vskore (= Übersetzung und Erweiterung von Nicephorus´ Chronographikon syntomon), vgl. Tvorogov 2001, 191–192. Zu dieser für die altrussischen Chronografy bedeutsamen Quelle vgl. oben unter 2.3.5.1, S. 22–23. 2 Wir benutzen sie in der Edition von 1999: LER. 3 Vgl. Tvorogov 2001, 190–193. 4 Vgl. LER, VI–XII. 5 Vgl. Vodolazkin 2000b, 317. 6 KP-Hs D (um 1500) enthält das erste LER-Fragment; KP-Hs V (Mitte des 16. Jh.s), die von D abhängt, zeigt dieses und zwei weitere Fragmente an Stellen, die heute in D fehlen. Vgl. unten unter 4.1.4 und 4.1.5.

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bezeichnet man nach der Herkunft seines ältesten Überlieferungsträgers aus der Bibliothek des Dreieinigkeits-Sergij-Klosters als Troickij Chronograf. Er behandelt die Weltgeschichte von Nebukadnezzar bis zu Romanos I. Lakapenos, danach noch in zwei kurzen Abschnitten den Feldzug der Rusʼ gegen Konstantinopel und die Taufe der Rusʼ. Der Troickij Chronograf entstand wohl vor 1400: Die erwähnte früheste erhaltene Hs (Nr. 728 der Sammlung des Troice-Sergiev-Klosters, Russische Staatsbibliothek zu Moskau) stammt vom Beginn des 15. Jh.s, enthält jedoch bereits sekundäre Varianten gegenüber einer jüngeren, so dass von einer nicht erhaltenen Vorstufe auszugehen ist. Die ksl. Oktateuch-Übersetzung wurde hauptsächlich in der späteren altrussischen Redaktion des 13. Jh.s benutzt, die so genannte Chronographische Alexandreis in der zweiten Redaktion.1 Wo der Troickij Chronograf mit der KP übereinstimmt – v. a. ab KP 22 –, geben wir die Parallelen im Kommentar zur vorliegenden Edition an. Eine späte Hs (aus dem Jahr 1691) von einer weiteren chronographischen Kompilation, die ähnliche Bausteine enthält, entdeckte T. V. Anisimova in einem Sammelband, der aus der Stadt Vladimir stammen soll: Nr. 36, fond 895 (Vladimirskoe sobranie) der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau. Der Text erfasst zu Beginn die Zeit nach Salomo bis Romanos I. Lakapenos, dann folgt eine auch aus anderen russischen Chronografy bekannte Liste der byzantinischen Kaiser nach Romanos I. Lakapenos bis zu Romanos IV. Diogenes (11. Jh.) und schließlich eine kurze Übersicht über die Weltgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zu Salomo.2 Sehr eng ist die KP, wie bereits dargestellt, v. a. in ihrer chronographischen Fortsetzung, also nach dem aus der TP schöpfenden alttestamentlichen Teil, mit LER (vor 1453) und mit der PP (bald nach 1400, s. o.) verwandt. Angesichts vieler, zu großen Teilen wörtlicher Übereinstimmungen zwischen diesen drei chronographischen Werken hat man natürlich nach der gemeinsamen Quelle gesucht, diese aber bislang nur in einer hypothetischen Konstruktion, dem so genannten Chronograf po Velikomu Izloženiju (etwa: „Chronograf der ausführlichen Darlegung“), und zwar in dessen dritter Redaktion, finden können. Zum Hintergrund:

2.7 Exkurs: Hypothetische Quellen Der russische Gelehrte A. A. Šachmatov (1864 –1920) begann um 1900, mit dem Rüstzeug der deutschen Textkritik gewappnet, die altrussische Chronistik neu zu sichten. Er ermittelte den Großteil der heute bekannten griechischen Quellen der Nestorchronik, und er schuf ein System von Vor- und Zwischenstufen der altrussischen Chronik-Überlieferung, die nicht in konkreten Handschriften nachgewiesen sind, sondern nur als Gedankenkonstrukte existieren.3 Dieses System begann sich schon zu seinen Lebzeiten immer weiter zu verzweigen und zu 1 Vgl. Tvorogov, O. V., Artikel: „Хронограф Троицкий‟, in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 478; Troickij Chronograf 1989 (Teiledition mit einführender Studie von O. V. Tvorogov). Zur Datierung vgl. auch Vilkul 2016, 679–681, und die dort angegebene Literatur. 2 Textedition mit einführender Studie: Anisimova 2008. Vgl. unten unter 4.2. 3 Vgl. u. a. Šachmatov 1900, 1904, 1916 sowie die posthum erschienen Arbeiten Šachmatov 1938, 1940.

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2 Quellen und Paralleltexte; 2.7 Exkurs: Hypothetische Quellen

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verkomplizieren. Bis heute wirkt es v. a. in der russischen Altslavistik nach, und etliche Grundpfeiler daraus – wie der so genannte Načal’nyj Svod (deutsch etwa: „die Ur-Kompilation“), eine hypothetische chronographische Sammlung, die Šachmatov in die Mitte der 90er Jahre des 11. Jh.s datierte – werden gelegentlich noch immer so selbstverständlich zitiert wie tatsächlich existente Werke. Allerdings mehrt sich im letzten Jahrzehnt auch die notwendige Kritik.1 Auch auf die Erforschung der altrussischen Weltchroniken, der so genannten Chronografy, wirkte sich die Arbeitsweise des großen Gelehrten A. A. Šachmatov aus: Der erwähnte Chronograf po Velikomu Izloženiju ist eine gleichfalls nicht in Gestalt konkreter Handschriften belegte hypothetische chronographische Kompilation altruss. Provenienz, welche auf byz. Quellen (v. a. Hamartolus- und Malalas-Chronik sowie etlichen nicht identifizierten Quellen) fußt. Dieser Chronograf, dessen Existenz unter Šachmatovs Einfluss zuerst V. M. Istrin postulierte 2, soll seinerseits den russischen Weltchroniken des Mittelalters als Quelle gedient haben. Den Namen Chronograf po Velikomu Izloženiju entnahm Istrin aus der PP, wo damit wahrscheinlich die Hamartolus-Chronik gemeint ist. Man hat mehrere Redaktionen bzw. Überlieferungszweige rekonstruiert: Erste Spuren sollen sich im so genannten Načal’nyj Svod finden, aus welchem laut Šachmatov die Nestorchronik schöpfte, so dass als terminus ante quem die 90er Jahre des 11. Jh.s gelten. Eine weitere Redaktion soll dem Troickij Chronograf zugrunde gelegen haben, eine dritte LER sowie den chronographischen Teilen von KP und PP.3 Gelegentlich scheint der Chronograf po Velikomu Izloženiju in der Forschungsliteratur zu den Weltchroniken eine Art Alibi-Funktion zu übernehmen, wenn es nicht identifizierte Quellen für chronographische Fragmente zu benennen gilt. So stammten etwa die chronologisch geordneten Heiligen-Listen, als deren Quelle wir die früheste Redaktion des kirchenslavischen Synaxars nachweisen konnten 4, die Daten zu den Abständen zwischen den Ökumenischen Konzilen, die aus Kurzchroniken übernommem wurden 5, oder die Angaben zur Taufe Bulgariens, die dem Traktat O pismenech („Über die Buchstaben“) des bulgarischen Mönchs Chrabr entnommen sind 6, solange ihre Quellen unbekannt waren, angeblich aus dieser hypothetischen chronographischen Kompilation.7 Dass diese und viele andere Bausteine über chronographische Texte tradiert wurden, bleibt unbestritten, ebenso die enge Verwandtschaft von KP, PP, LER und Troickij Chronograf. Solange jedoch keine konkrete Hs des Chronograf po Velikomu Izloženiju vorliegt, wird sich die direkte Herkunft von Einzelfragmenten, die in verschiedenen chronographischen Texten anzutreffen sind, angesichts der mehrfach neu zusammengesetzten Textstrukturen mit Hilfe rein hypothetischer Texte kaum klären lassen. 1 Vgl. etwa Prochorov 2010; Vilkul 2015a. 2 Vgl. Istrin III–IV bzw. Istrin 1907, 111–175. 3 Vgl. Tvorogov 1975, 20–24, sowie vom selben Autor den Artikel: „Хронограф по великому изложению‟, in: Slovar’ knižnikov I, 1987, 476–477, und die dort angegebene Literatur; Vodolazkin 2000a, 166–172. Wie die Konzeption des Chronograf po Velikomu Izloženiju sich entwickelt hat, stellt Vilkul 2016, 666–676, anschaulich dar. 4 Vgl. oben unter 2.4. 5 Vgl. oben unter 3.1, S. 72–73. 6 Vgl. den einleitenden Kommentar zu KP 30. 27. 7 Vgl. Tvorogov 1974, 103 und 175; ders. 1975, 72–73 und 143.

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Die Problematik verdeutlicht der bereits erwähnte, von T. V. Anisimova in einem enzyklopädischen Sammelband von 1691 entdeckte chronographische Text. Anisimova bezeichnet ihn im Titel ihres darauf bezogenen Aufsatzes als „besondere Redaktion der KP‟ und im Aufsatz selbst dann als „späte Redaktion des Chronograf po Velikomu Izloženiju‟.1 Dieser kleine Chronograf stimmt keineswegs durchgehend mit KP oder PP überein. Meist kürzere, gelegentlich aber auch längere Auszüge aus dem slavischen Hamartolus-Text unterscheiden die in der Regel ähnliche, jedoch nicht gleiche Kürzung des Hamartolus-Textes darin von den Fassungen in Troickij Chronograf, KP, PP 2 und LER; etliche Fragmente entsprechen der KP, aber wesentliche Bestandteile des KP-Textes fehlen, darunter die genannten, dem Chronograf po Velikomu Izloženiju der dritten Redaktion zugeschriebenen Bausteine: die Stücke aus der nach Herrschern geordneten Heiligen-Liste und das Fragment zur Taufe Bulgariens. Im Kommentar zur vorliegenden Edition sind sämtliche Parallelen zur KP aufgeführt. Bis jetzt gibt es weder einen Nachweis für die Existenz von Handschriften des hypothetischen Chronograf po Velikomu Izloženiju, noch, wie bereits erwähnt, kritische Editionen aller maßgeblichen Texte, die tatsächlich handschriftlich bezeugt sind und auf denen seine Rekonstruktion aufbaut. Nur LER liegt vollständig kritisch ediert vor; der Troickij Chronograf teilweise; die PP gibt es nur in diplomatischen Teil(!)-Editionen des 19. Jh.s; und die KP wird hier auf der Grundlage der editio princeps von Vodolazkin und Rudi erstmals vollständig vorgestellt. Deshalb halten wir es für verfrüht, Aussagen über rekonstruierte Quellen zu treffen, und beschränken uns in unseren Kommentaren ausschließlich auf das möglichst umfangreiche Erfassen von Paralleltexten und gesicherten, wenngleich oft wahrscheinlich indirekten Quellen.3

3. Die Zeitstrukturen der Kurzen Chronographischen Paleja zwischen Chronographie und Zahlenmystik Die christliche Chronographie schreibt die erfasste Zeit ein in das Kontinuum vom biblisch überlieferten Anfang bis zum ebenfalls biblisch antizipierten Ende. Diesem Zweck dienen alle ihre literarischen Strategien und insbesondere die verschiedenen Systeme, mit denen die Zeit gemessen und als Chronologie dargestellt wurde.4 Für die KP gibt uns die Analyse ihrer Zeit1 Anisimova 2008. 2 Hier nur ein kleines Beispiel: An der Parallelstelle zu KP 30. 29,1 enthält der Chronograf bei Anisimova zunächst die gleiche, Caesaren- und Kaiserkrönung des Romanos I. Lakapenos abweichend von Hamartolus slav. zusammenfassende Wendung wie KP, PP und Troickij Chronograf, bewahrt jedoch im gleichen Satz anschließend im Gegensatz zu diesen drei Texten die Angabe aus Hamartolus slav. zu dem Konkurrenten des Romanos, Konstantin VII. Porphyrogennetos: зятемъ / Schwiegersohn. 3 Wie große Vorsicht beim Verweisen auf den hypothetischen Chronograf po Velikomu Izloženiju geboten ist, demonstriert anschaulich T. L. Vilkul in ihrer Arbeit über Beziehungen zwischen der Nestorchronik und den altrussischen Chronografy (Vilkul 2016). Jedenfalls kann sie anhand ihrer Analyse charakteristischer Parallelstellen ausschließen, dass etwa die Nestorchronik von einer Frühform des Chronograf abhängen würde. Anhand des in den chronographischen Kompilationen erfassten Materials datiert sie deren Entstehung vom 13. Jh. an. 4 Vgl. etwa den Konferenzband Isoaho 2015.

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2.7 Exkurs: Hypothetische Quellen; 3 Die Zeitstrukturen der KP

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strukturen den Schlüssel zum Verständnis in die Hand: sowohl das Hauptanliegen des Kompilators als auch seine Arbeitsweise lassen sich daraus erkennen. Innerhalb der kirchenslavischen Literatur erreichen die chronologischen Berechnungen in der KP einen Höhepunkt, der einzigartig blieb. Den Hintergrund bildet die Entstehungszeit der KP: Im 15. Jh. stand das Ende der Welt unmittelbar bevor, wenn es denn nach Ablauf von 7 Zeitaltern eintreten sollte, wovon man im byzantinischen Kulturkreis wie in ganz Europa ausging.1 Aber wann genau? Im Jahre 7000 nach der Erschaffung der Welt (1492 n. Chr.)? Oder schon früher? Später? 2 Wann würde der Antichrist geboren werden? Altrussische Hss des 15. Jh.s sind voll von Spekulationen über das Weltende und seine Vorzeichen, oft verbunden mit als besonders bedrohlich angenommenen Jahreszahlen wie 6935/36 (1427/28 n. Chr.) oder 6967 (1459 n. Chr.), einem Jahr, in welchem der Sonnenzyklus 23 und der Mondzyklus 13 mit denen im Jahr der Passion und Auferstehung Jesu übereinstimmen sollte bzw. das Osterdatum auf den 25. März fiel (das letzte Kyriopascha vor dem Jahr 7000).3 Mit so großer Gewissheit erwartete man das Ende, dass die Ostertafeln nicht über das Jahr 7000 hinaus weitergeführt werden durften.4 Das Berechnen genauer historischer Daten im Vorfeld war also alles andere als ein Selbstzweck. Und wenn solches Berechnen für Gegenwart und Zukunft etwas austragen sollte, so durfte die Vergangenheit keinesfalls Lücken aufweisen. Daraus erklärt sich, dass von Adam über die Patriarchen, die Richter und Könige bis zu den römischen und byzantinischen Kaisern wirklich „alle“ Figuren, die den Lauf der Weltgeschichte zeitlich zu ordnen erlauben, erfasst und mit möglichst präzisen Daten zu ihrer Wirkungszeit versehen werden. Die Weltgeschichte folgt kontinuierlich und konsequent dem Heilsplan Gottes,5 der die Geschichte aller Völker, auch die des eigenen, lenkt. In der KP wird dies etwa sichtbar an Abschnitt 1 Vgl. Podskalsky 1972, 92–94, und die dort zusammengestellte Literatur. 2 Zur Illustration der Unsicherheit vgl. z. B. zwei Briefe aus dem Umfeld des Novgoroder Erzbischofs Gennadij aus den Jahren 1488/89 zum Thema bei Freydank 1999, 206–226. 3 Vgl. eine Zusammenschau und Analyse eschatologischer Notizen in ksl. kalendarischen Hss in Verbindung mit der Enderwartung zum Jahr 7000 bei Romanova 2002, 92–114, ebd. auch eine Auseinandersetzung mit Prochorov 1981, 58–60, der eine Prognose für 6967 wohl irrtümlich Kirill Belozerskij zuschreibt. Sie findet sich u. a. in einer Hs des Kirillo-Belozerskij-Klosters mit den Paschalien des Klostergründers Kirill, aber auch bereits in älteren südslavischen Hss. Die Erwähnung des 23. Jahres im Sonnenzyklus für Passion und Auferstehung Jesu kann sich durch die Benutzung des Syntagma von Matthaios Blastares erklären, der die Passion auf 5539 datiert, ein 23. Jahr im Sonnen- und 10. im Mondzyklus (vgl. Romanova 2002, 104). Vodolazkin 2001, 94, versucht, die Angabe vom 13. Jahr im Mondzyklus und 23. Jahr im Sonnenzyklus auf die alexandrinische Ära und das Jahr 42 n. Chr. zu beziehen, was wohl auf einem Rechenfehler beruht. (Zu den zyklischen Jahresberechnungen der KP vgl. unter 3.2.) 4 Nicht selten enthielten altruss. Paschalien und kalendarische Texte damals in Marginalien neben dem letzten Osterdatum die Weherufe ihrer Schreiber. Literatur zum Thema der Enderwartung aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. in der Rusʼ ist u. a. bei Sacharov 1879, 54–57, und Romanova 2002, 114–117, zusammengestellt. In deutscher Übersetzung vgl. z. B. zwei Briefe, die von der Auseinandersetzung mit dem Problem im Novgoroder Erzbistum zeugen: vom Erzbischof Gennadij von Novgorod an den Bischof Prochor von Saraj aus dem Jahre 1487 (Hauptmann, Stricker 1988, 69–242) und von dem griechischen Gesandten am Moskauer Hof Demetrios Trachaniotes an den Erzbischof von Novgorod Gennadij von 1488/89 (Freydank 1999, 206–212). Zur Fortsetzung der Paschalien nach 1492 n. Chr. vgl. Romanova 2002, 117–129. 5 Die meisten KP-Hss gliedern zusätzlich, indem sie die einzelnen Gruppen von Herrschern marginal durchnummerieren. Zur Darstellung der Weltgeschichte als Kontinuum und ihrer Gliederung mit Hilfe des Durchzählens in der altrussischen wie generell in der mittelalterlichen Chronographie vgl. Vodolazkin 1996, 25–26. Ebd. auch der Hinweis auf die aus Georgius Monachus in die altrussischen Chronografy übernommenen Angaben zu Herrschern und der Dauer ihrer Regierung als Basis der relativen Chronologie sowie vereinzelte, aus anderen Quellen stammende weitere zeitliche Orientierungspunkte, die alternativen Ordnungssystemen folgen (nach Olympiaden, nach Konsuln).

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4. 3, wo schon in der Völkertafel unter den Nachkommen von Noachs Sohn Jafet die Varäger und Slaven auftauchen, die slavische Schriftsprache und etliche Flüsse im slavischen Siedlungsraum aufgenommen werden. Im chronographischen Teil der KP sind die Rus᾽ und die Bulgaren selbstverständlich in den Ablauf der byzantinischen Geschichte integriert (vgl. KP 30. 27,2–3.9–20; 30. 28,9–12; 30. 29,3–11), ohne dass russische Lokalgeschichte separat in den Blick käme. E. G. Vodolazkin hat in einem dreiteiligen umfangreichen Aufsatz die verschiedenen Systeme von chronologischen Berechnungen in der altrussischen Chronographie, darunter auch in der KP, analysiert1: Sie schöpfen aus den Angaben des AT, der Hamartolus-Chronik, dem Chronographikon syntomon des Nicephorus und etlichen weiteren Einzelquellen. Vodolazkin nahm an, dass eine Art Gerüst von absoluten Zahlen als Material von dem Kompilator erstellt und jeweils an den passenden Stellen eingesetzt wurde. Eigentümliche absolute Jahreszahlen, ergänzt um eine Indiktionszählung, die Angabe von Sonnen- und Mondzyklus sowie des Sonntagsbuchstaben nach dem System des „Jahres in der Hand“, die in der KP auftreten, sind auch in der PP und in LER anzutreffen – wenngleich in erheblich geringerem Umfang und mit weitaus weniger Akribie den Einzeleinträgen zugeordnet. (So wird im größten Teil von LER der Zehner und der Einer bei den absoluten Jahreszahlen weggelassen – möglicherweise, weil der Kompilator ihrer Richtigkeit nicht traute.) Vodolazkin verlässt sich bei seinen Analysen noch ganz auf die oben dargestellte Theorie über den hypothetischen Chronograf po Velikomu Izloženiju in der 3. Redaktion als gemeinsame Quelle von KP, PP und LER.2 Ungeachtet dessen haben seine materialreichen, präzisen Beobachtungen für den folgenden Abschnitt unserer Untersuchung die Grundlagen geschaffen.

3.1 Fortlaufende Daten: absolute Jahreszahlen, Jahresabstände, Generationen Anders als die meisten Weltchroniken zuvor beginnt die KP ihre Einträge regelmäßig mit absoluten Jahreszahlen. Die byzantinischen Chroniken, die den slavischen als Vorbilder dienten, folgten bekanntlich der seit der 47. Novelle Justinians gültigen Regel, die Ereignisse nach den Herrschaftjahren des jeweiligen Kaisers, also relativ, zu datieren.3 Dennoch enthalten auch sie einzelne absolute Datierungen heilsgeschichtlich besonders bedeutsamer Ereignisse. Vor allem aber bieten die Kurzchroniken, an denen sich die altrussischen Chronographen orientierten, im Bereich der biblischen Geschichte drei (über das Chronographikon syntomon des Nicephorus auf Julius Africanus zurückgehende) recht stabil überlieferte relative Zahlen, die das Jahr der Schöpfung zum Bezugspunkt haben und daher auch als absolute Jahreszahlen gelten können: „Seit Adam“ seien 2242 Jahre bis zur Sintflut vergangen, 5500 Jahre bis zu Christi Geburt 1 Vodolazkin 1996, 1999 und 2001, im Überblick: Vodolazkin 2000a, 125–161. 2 Vgl. etwa Vodolazkin 2000a, 166–172. 3 Nov. XLVII 1, vgl. Novellae 1972, 284. Dass die altrussischen Lokalchroniken nicht nach diesem Prinzip organisiert sein konnten, sondern absolute Jahreszahlen an den Anfang ihrer Einträge setzten, lässt sich auf das anfängliche Fehlen einer Zentralmacht zurückführen. Vgl. Vodolazkin 2006b, 236–237.

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3 Die Zeitstrukturen der KP; 3.1 Fortlaufende Daten

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und 5533 Jahre bis zu seiner Passion und Auferstehung.1 Mit Hilfe dieser drei Fixpunkte und einer Fülle von teils widersprüchlichen Einzeldaten zur fortlaufenden relativen und absoluten Chronologie aus verschiedenen Quellen baute der Kompilator der KP sein bewundernswertes Daten-Gerüst zusammen. Sucht man in der KP und ihren Jahreszahlen nach der altkirchlichen Ära 2, auf welche sie sich beziehen, wird man schnell feststellen: Es gibt keinen einheitlichen Bezugspunkt. Selbst die Enderwartung in der Umgebung des Kompilators konzentrierte sich zwar auf das Jahr 1492 n. Chr., aber dieses Datum war keineswegs unumstritten 3, und das Jahr 5500 für Christi Geburt erscheint zwar als feste Größe, ist aber mystisch, nicht arithmetisch begründet. Dieser Situation entsprechend, verbinden sich in der KP chronologische Angaben, die auf verschiedenen Systemen und Berechnungsgrundlagen beruhen, ohne dass daraus ein geschlossenes Zeitsystem entstünde. Das mag überraschen angesichts der Akribie, mit der in der KP Daten gesammelt und chronologische Details ausgearbeitet wurden, hat aber gerade in dieser Akribie des Kompilators seine Ursache. Wir werden im Folgenden zunächst die wenigen Daten darstellen, die aufgrund ihrer theologischen Bedeutung Orientierung boten, und anschließend beispielhaft zeigen, wie er mit den Angaben in ihrem Umfeld – ob sie nun dazu passten oder nicht – umging. Gleich zu Beginn des KP-Textes fällt ein Tag ins Auge, der strukturelle und offensichtlich ebenfalls mystische Bedeutung trägt: der 25. März. Für diesen Tag vermerkt die KP die Erschaffung Adams (KP 1. 1,52), später auch die Sintflut (KP 2. 1,17). Dieser lange als Datum des Frühjahrsäquinoctiums angenommene Tag war schon im 4./5. Jh. als Tag der Inkarnation Jesu – Mariä Verkündigung, 9 Monate vor dem schon zuvor in den meisten Kirchen als Geburtstermin etablierten 25. Dezember – festgelegt worden.4 Davon ausgehend, bildete dieses mystische Datum durch das gesamte Mittelalter bis hinein in die Neuzeit den Dreh- und Angelpunkt heilsgeschichtlicher Betrachtungen. Man nahm es als Tag der Weltschöpfung an (alexandrinische Ära), als Tag der Erschaffung Adams, als Tag der Auferstehung Jesu (unter dem Einfluss der alexandrinischen Ära v. a., aber nicht ausschließlich in der Ostkirche) oder seiner Kreuzigung (v. a. im römischen Kulturkreis) und weiterer heilsgeschichtlicher Ereignisse. In der zweiten Hälfte des 4. Jh.s unter den Christen Kleinasiens und in Gallien bis ins 6. Jh. feierte man die Passion und die Auferstehung Christi an einem Festtag: 1 Vgl. z. B. die 3. Pskover Chronik: PSRL 5.2, 71–72; den Vladimirskij Letopisec, PSRL 30, 8 und 10–11; die 1. Pskover Chronik: PSRL 5.1, 5–6 (mit abweichender Zahl zu Christi Geburt vgl. unten S. 68); die Kurzchronik, die zusammen mit dem chronologischen Werk des Kirik von Novgorod überliefert ist: Piotrovskaja 1998, 55 (nur die Jahreszahl zur Flut); den Letopisec des Avraamka: PSRL 16, Sp. 30–31 (mit allen drei Jahreszahlen wie in der KP). Vgl. auch die Nestorchronik mit den Jahreszahlen 2242 und 5500 (Nestorchronik I, Sp. 91 und 102, deutsch vgl. Nestorchronik IV, 110, Satz 141, und 125, Satz 329). Die Basis bildeten die Zahlen 2242, 5500 und 5533 bei Nicephorus (vgl. Nicephorus griech. 1880, 83,14 und 92,5.16; Nicephorus slav., vgl. Piotrovskaja 1998, 122–123, 126–127 u. ö.). 2 Einen Überblick über die Entwicklung der verschiedenen christlichen chronologischen Systeme vom 2. Jh. an bietet mit Schwerpunkt auf den orthodoxen Kirchen Kuzenkov 2014. Zur theologischen Einordnung der byzantinischen Rechnungen in die Situation der Enderwartung vgl. Podskalsky 1972. 3 Vgl. oben, S. 47. 4 Vgl. etwa die liturgiegeschichtliche Arbeit von Vanjukov 2005, v. a. 70–71.

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dem 25. März1, obwohl schon auf dem Ersten Ökumenischen Konzil von Nicaea (325) der bewegliche Ostertermin auf den ersten Sonntag nach dem Frühjahrsäquinoctium (nach dem damals gültigen und in vielen Ostkirchen bis heute benutzten Julianischen Kalender) festgelegt wurde. Die byzantinisch-orthodoxen Kirchen feiern, wenn Mariä Verkündigung und der Ostersonntag zusammenfallen, das besondere Fest des Kyriopascha, wobei spätestens vom 9. Jh. an in Konstantinopel die liturgischen Abläufe beider Feste miteinander verbunden wurden. In kirchenslavischen Hss des 15. Jh.s heißt dieses Fest „das wahre Pascha“.2 Bezugsgröße bleibt dabei die Inkarnation Jesu (liturgisches Fest: Mariä Verkündigung). In den Spuria zu Athanasius dem Großen liest man, Jesus, der „zweite Adam“ (1Kor 15,45.47) sei am 25. März inkarniert worden, um den am 25. März geschaffenen Adam zu erlösen 3, so auch Anastasius von Antiochia (6. Jh.) 4. Laut Hamartolus- und Syncellus-Chronik fand auch Jesu Auferstehung an einem 25. März statt.5 Georgius Monachus stellt an anderer Stelle (im Zusammenhang mit dem Tod des Mose) die Heilsereignisse zusammen, die an einem 25. März geschehen seien: Dies sei der erstgeschaffene Tag, der Tag der Inkarnation Jesu und der Tag seiner Auferstehung.6 Im Marienleben des Epiphanius, Mönch aus dem Kloster τῶν Καλλιστράτου in Konstantinopel (9. Jh.), das eine wichtige Quelle für die KP darstellt (vgl. den Kommentar zu 29. 3 – 29. 4), wird der März – nach byzantinischer Zeitrechnung, die auch im aktuellen Kalender des alten Russland galt, der gewöhnliche Jahresbeginn – als Monat der Schöpfung bezeichnet.7 Dahinter steht Ex 12,2, wo es mit Bezug auf den Nisan als Monat des Pessach-Festes heißt: „Dieser Monat ist für euch der Anfang der Monate, der erste ist er für euch unter den Monaten des Jahres.“8 An einem 25. März kam laut KP 2. 1,17 auch die Sintflut. Diese gilt als Präfiguration des Jüngsten Gerichts (schon in Mt 24,37–39), und so darf man in dieser Datierung wohl ein Indiz dafür sehen, dass auch der KP-Kompilator zu denjenigen gehörte, die mit dem Weltende nicht nur nach Erfüllung von 7000 Jahren nach der Schöpfung rechneten, sondern genau an einem 25. März. 1 Vgl. Mosshammer 2006, FN 58; Weigl 1953. 2 Vgl. den mit Е. Е. М. gezeichneten Artikel „Кириопасха“ in Pravoslavnaja ėnciklopedija 35, 2014, 8–9. 3 Quaestiones ad Antiochum ducem, PG 28, 632B. 4 Sermo II in annuntiationem S. Mariae (PG 89, 1380C – 1385A). 5 Hamartolus griech. 1978, I, 312,4–5; Syncellus griech. 1984, 389,12–13. In Hamartolus slav. I, 217,10–11, ist der Text verderbt; in Syncellus slav. 2007, 138, f 458b,16, steht an entsprechender Stelle der 21. März; die KP datiert die Auferstehung Jesu auf den 1. April (KP 29. 8,4), vgl. unten S. 67–68. Zur Syncellus-Tradition, die hier Annianus folgt, und der mystisch-theologischen Bedeutung des 25. März dort vgl. Adler 1989, 162. 6 Hamartolus slav. I, 102,21–24, entsprechend Hamartolus griech. 1978, I, 129,2–7. 7 Griech. bei Dressel 1843, 21. 8 Romanova 2002, 103, führt weitere Texte an, die der Bedeutung des Monats März besondere Aufmerksamkeit widmen: den Eintrag im Versprólog unter dem 1. März, einen Abschnitt in der Vita des Stefan von Perm, verfasst von Epifanij dem Weisen um 1400, und einen wohl mit diesem Abschnitt verwandten kleinen Traktat in altrussischen Sammelbänden, z. B. in einer Hs aus dem Kirillo-Belozerskij-Kloster. Die beiden letztgenannten Texte sind nachzulesen bei Prochorov 1995, 92–95 (ksl. mit neuruss. Übersetzung), und Prochorov 1981, 62–63 (ksl.). Eine ksl. Redaktion von Epiphaniusʼ Marienleben (Porfir᾽ev 1890, 301) ergänzt diesem Traktat entsprechend eine Aufzählung heilsgeschichtlich relevanter Ereignisse, die im März geschehen seien, darunter die Erschaffung des Menschen, eine andere Redaktion nennt wie Georgius Monachus den 25. März als ersten Schöpfungstag (VMČ, September I, Sp. 367).

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3 Die Zeitstrukturen der KP; 3.1 Fortlaufende Daten

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Auch in Westeuropa konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf den 25. März als Angelpunkt der Weltgeschichte. Beispiele aus dem 13. bis 16. Jh. finden sich bei Kämpfer 1954.1 Selbst dem praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon war diese Form der Datenmystik noch nicht fremd, wie u. a. in seinen Briefen mehrfach festzustellen ist: Er hatte die Daten der Passion Jesu in eine kalendarische Form gebracht, die jedem Tag seine besondere Bedeutung zuwies. Für den 25. März waren dort die Kreuzigung (nicht die Auferstehung) Christi, der sechste Schöpfungstag mit der Erschaffung Adams, der Sündenfall, Noachs Eintritt in die Arche, der Auszug Israels aus Ägypten und die Opferung Isaaks sowie die Inkarnation Jesu verzeichnet. Solche Zusammenstellungen zum jeweiligen Tage betrachtete er regelmäßig bei seiner Morgenandacht.2 Über den Wochentag, den Freitag, ist die Erschaffung Adams in der KP noch zusätzlich mit Christus verknüpft: Die Geburt Christi an einem Freitag verzeichnet KP 29. 4,3, und selbstverständlich wird auch der Wochentag seiner Kreuzigung vermerkt (KP 29. 8,2). Dass Christus an einem Freitag geboren wurde, fand früh Eingang in die Chronographie: Im Chronographen von 354 erscheint diese Angabe bereits lateinisch in einer Liste von Konsuln 3; und in einem griechischen Fragment, als dessen Quelle Hesychius (Hesychius von Milet? Hesychius Hierosolymitanus?) genannt ist, wurde sie auch in eine Redaktion des Chronicon Paschale aufgenommen.4 Kirchenslavisch erscheint sie wohl erstmals im Čisloslovesnik 5 und zieht sich dann durch die kirchenslavischen Kurzchroniken, gerade im Raum Novgorod-Pskov.6 Neben einem jährlich wiederkehrenden Tag – dem 25. März – und einem Wochentag – dem Freitag – steht ein weiterer Fels in der Brandung der KP-Kalkulationen, nämlich die mit ebenso starker mystischer Bedeutung aufgeladene Jahreszahl 5500. Als Geburtsjahr Christi wurde das Jahr 5500 nach der Erschaffung der Welt seit dem frühen 3. Jh. betrachtet. Die Rechnung geht 1 Er zitiert eine Glosse folgenden Inhalts zum Fest Mariä Verkündigung aus einem Plenarium (Zusammenstellung verschiedener, für den Gottesdienst notwendiger Bücher) von 1492, verfasst vermutlich von einem Lübecker Franziskaner: „Es war am 25. März, 1. als Abel sein Opfer darbrachte und ermordet wurde, 2. als Melchisedek Wein und Brot opferte (‚in eyn(re) figuren des hylgen sacramentes‘), 3. als Abraham seinen Sohn Isaak als Opfer darbrachte, 4. als Gott das Volk Israel befreite, 5. als Gott Mensch wurde (‚als wy hueden beghaen‘), 6. als Christus die Vorväter aus der Hölle erlöste und vom Tode auferstand.“ (Kämpfer 1954, 191–192). In einer Fußnote führt Kämpfer ebd. dazu Parallelen aus dem Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (13. Jh.) an – dort gehört auch die Erschaffung Adams in den Kreis der Ereignisse an einem 25. März –, außerdem aus dem „Spegel der mynschliken Behaltnisse“ (Lübeck um 1476). 2 Vgl. Jung 2010, 88–89. Gewiss ist hier auch ein Zusammenhang mit Melanchthons Mitarbeit an dem Tageskalender zu erkennen, den sein Freund Paul Eber 1550 in Wittenberg herausgab, vgl. Mundhenk, DallʼAsta, Hein 2017, 97; Jung 1998, 83, Anm. 267. Schüler Melanchthons führten dessen Art des Tagesgedenkens weiter, speziell auch das zum 25. März, vgl. ebd., 86 und 113, Anm. 431. 3 Chronographus anni 354, 56. 4 Vgl. PG 92, 1058; der gleiche Text erschien separat in PG 93, 1449. 5 Vgl. Wątróbska 1987, 150, f 150v,12. 6 Vgl. die 3. Pskover Chronik: PSRL 5.2, 71; den Vladimirskij Letopisec, PSRL 30, 10; die 1. Pskover Chronik: PSRL 5.1, 6; den Letopisec des Avraamka: PSRL 16, Sp. 30.

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möglicherweise auf Julius Africanus zurück und wurde durch Hippolyt und durch die byzantinischen Chronographen durchgehend weiter tradiert.1 Dass die tatsächlich benutzten Zeitrechnungen mit anderen Zahlen operierten 2, änderte nichts daran, dass das Jahr 5500 in den meisten auch in kirchenslavischer Sprache zugänglichen chronographischen Quellen genannt wurde.3 Dem KP-Kompilator blieb es daher zentraler Orientierungspunkt aller Berechnungen, da die Weltgeschichte für ihn auf den Erlöser ausgerichtet war. Mit diesem Datum und den beiden oben erwähnten darauf bezogenen Jahren 5530 und 5533 für Christi Taufe und Passion endet das Terrain der „sicheren Daten“ für den KP-Kompilator. Sämtliche anderen mussten aus seinen Quellen extrahiert und, soweit möglich, auf ihre Vereinbarkeit geprüft werden. Die Aufgabe, alle verfügbaren Daten zu synchronisieren und in ein einheitliches System zu bringen, war trotz intensiver Studien nicht lösbar, und so fasste der weise und demütige Mann den Entschluss, das Material nicht durch eigenmächtige Eingriffe zu verfälschen, sondern alles ihm nicht ausgeschlossen Scheinende wiederzugeben und die Entscheidung zwischen den jeweils möglichen Varianten späteren Gelehrten zu überlassen. Er enthält sich jeder Bewertung und benennt auch Widersprüche nie explizit, sondern lässt sie höchstens durch das Nebeneinanderstellen unvereinbarer Angaben hervortreten. Oft sind sie aus seinem Text auch gar nicht sofort als solche zu erkennen, weil sie nicht unmittelbar aufeinander folgen.4 Betrachten wir nun einige Beispiele: Eine der wichtigsten, schon im TP-Text benutzten Quellen war die Kurzchronik des Nicephorus (Chronographikon syntomon). Mit der zweiten Fassung der zweiten, erweiterten kirchenslavischen Redaktion des Nicephorus-Textes 5 stimmt die KP in etlichen Daten überein, z. B. in der Datierung des Turmbaus bzw. der Sprachenteilung auf 2772 6 in KP 3,2, die zu der Angabe über das Jahr 3000 in KP 5,19 passt, wobei abweichende Daten aus der TP an anderer Stelle durchaus ebenfalls übernommen werden. So datiert die KP die Sprachenteilung auch auf 2771

1 Zur Verbreitung dieses kanonisch gewordenen Datums vgl. Podskalsky 1972, 92–93. 2 Die alexandrinische Rechnung (Ära des Annianus) setzte die Schöpfung auf den 25. März (!) des Jahres 5492 v. Ch. an, die byzantinische oder römische Rechnung auf den 1. September des Jahres 5508, die protobyzantinische (etwa im Chronicon Paschale vertreten) auf den 1. September 5509. 3 Vgl. über die oben unter 2.3.5.3 genannten Kurzchroniken hinaus z. B. Hamartolus VIII 2 (Hamartolus griech. 1978, I, 300,1 und entsprechend Hamartolus slav. 1972, I, 209,19 – Variante nach Tradition S, der die Paleja-Texte in der Regel folgen); Malalas X 2 (Malalas griech. 2000, 174,36–37, ksl. nur in indirekten Überlieferungen korrekt; Malalas slav. 1994, 260,9 gibt die Variante 502 an); Nicephorus griech. 1880, 92,5; Nicephorus slav.: Piotrovskaja 1998, 130,25.34–40; Čisloslovesnik (Wątróbska 1987, 150, f 150v,10–11). 4 Dieses Verfahren unterscheidet den KP-Kompilator von byzantinischen Kollegen wie Georgius Syncellus, die ihre „Neutralität“ beim Synchronisieren von Angaben aus unterschiedlichen Quellen gerade durch das Herausheben und Gegenüberstellen widersprüchlicher Daten, deren Quellen meist benannt wurden, bewiesen. Vgl. z. B. Adler 1989, 230. 5 So die Klassifikation von Piotrovskaja 1998, die diese Redaktion in Hss vom 13. Jh. an nachweisen kann. 6 Die Zahl ergibt sich aus der 2., erweiterten Red. des ksl. Nicephorus, die den Turmbau auf das 530. Jahr nach der Flut datiert (Piotrovskaja 1998, 129,20) und die Flut auf 2242 (ebd., 129,14, mit Nicephorus griech. 1880, 83,14).

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3 Die Zeitstrukturen der KP; 3.1 Fortlaufende Daten

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(KP 5,4 und 31,16, entsprechend der TP). 1 Vodolazkin vermutete, dass hier und an einigen anderen Stellen die Rechnung der KP „von Adam an“ um ein Jahr niedriger als die absolute Jahreszahl ausfalle, da von Adams Erschaffung im Jahre 1 ausgehend weitergezählt worden sei.2 Doch erklären sich die unterschiedlichen Zahlen eher aus der parallelen Benutzung verschiedener Quellen (hier des slavischen Nicephorus oder eines davon abhängigen Textes und der TP), zumal die Jahreszahlen in der KP an verschiedenen Stellen stehen. Nicht anders liegen die Dinge bei der Datierung der Herrschaft Alexanders von Makedonien. Hier werden sogar unmittelbar nacheinander zwei verschiedene Jahreszahlen in der KP genannt: 5209 (KP 24. 10,9) und 5210 (KP 25. 1,1), wobei die erste Zahl den Zusatz „von Adam“ trägt, so dass man tatsächlich versucht ist anzunehmen, die Rechnung von Adam an sei eine andere als die von der Erschaffung der Welt.3 In Wahrheit liegen jedoch sehr wahrscheinlich auch hier zwei verschiedene Quellen zugrunde, deren Daten der KP-Kompilator nebeneinander anbrachte.4 Die Geburt Abrahams 5 im Jahre 3324 (KP 5,20) geht auf die TP zurück,6 die dabei ihrerseits Redaktion N´ des griechischen Nicephorus folgt.7 Allerdings ist weder in N´ noch in TP oder KP hier von der Geburt Abrahams die Rede, sondern es heißt vage „von Adam bis zu Abraham“ seien es 3324 Jahre gewesen. Aus dem angenommenen Geburtsjahr 3324 wird in KP 6. 14,5 jedoch das Todesjahr Abrahams nach 175 (Gen 25,7) Lebensjahren errechnet: 3499. Vor dem Jahr 3324 erscheint in KP 5,20 noch eine relative Zeitangabe: „Von der Teilung der Sprachen bis zu Avraam aber waren es 501 Jahre“. Die Parallelstelle in der TP spricht von 551 Jahren,8 was mit den Altersangaben der Patriachen im vorhergehenden KP-Kapitel 5 nicht zusammenstimmt: Addiert man das Alter der Vorväter bei der Zeugung ihres jeweils ersten Sohnes, mit dem dann weitergerechnet wird, so kommt man auf eine Summe von 541 Jahren seit Peleg (KP: Falek), dessen Geburt auf das Jahr der Sprachenteilung angesetzt ist. Waren die 10 bis zur TP-Zahl 551 fehlenden Jahre der Grund für den Kompilator, den Zehner in seiner Zahl (vielleicht bis zu einer erhofften Klärung des Problems) auszulassen?

1 In der Edition der Schüler Tichonravovs (TP I, 123, f 62a,8–9) nur mit Mühe aus dem Apparat rekonstruierbar, deutlicher in den Übernahmen in PP und LER (vgl. LER 8, f 11r, und PP, f 66a,3–4 und 15–17, wo in noch engerer Nachbarschaft als in der KP sowohl die Zahl 2771 als auch die 2772 genannt sind, wobei hier die Wendung „von Adam an“ gerade umgekehrt mit der um 1 höheren Zahl verbunden ist). 2 Vodolazkin 1996, 33. 3 So Vodolazkin 1996, 33. 4 Vgl. unten S. 63. 5 Die Daten der Abraham-Geschichte bis zu seiner Übersiedlung nach Kanaan sind ein altes Problem der christlichen Chronologie, vgl. Adler 1989, 188–191. 6 Vgl. TP I, 145, f 73b,22. 7 Zu den Zeitberechungen der KP um Abraham vgl. auch Vodolazkin 1996, 28–29 und 33–34. 8 Vgl. TP I, 145, f 73b,19.

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Einleitung

Möglich ist aber auch ein Lesefehler 1: Die 501, in Buchstabenzahlen f}a (Variante: f$ i a$ / 500 und 1) kann verlesen sein aus fn}a / 551. 2 Die 551 ist um 1 niedriger als die 552 im slavischen Nicephorus der zweiten Redaktion 3, ebenso wie die 529 in KP 5,4 um 1 unter der 530 dort liegt (vgl. die oben erwähnten konkurrierenden Datierungen der Sprachenteilung auf 2772 entsprechend den 530 Jahren von der Flut bis zum Turmbau und auf 2771 entsprechend den 529 Jahren für denselben Zeitabschnitt). Diese um 1 von der zweiten, erweiterten Redaktion des slavischen Nicephorus abweichenden Zahlen erscheinen außer in TP, KP und PP auch in der Novgoroder Kormčaja und in der Nikon-Chronik, waren also gerade im Raum von Novgorod verbreitet, wo die KP entstand.4 Wenn die 501 in KP 5,20 nicht durch einen provisorisch ausgelassenen Zehner, sondern durch einen Lesefehler für 551 entstand, dann ist mit ihrer Hilfe ein alternatives Geburtsjahr von Abraham errechnet worden: Addiert man 501 zu 2772, erhält man 3273. Diese Jahreszahl wird mehreren Berechungen als Abrahams Geburtsjahr zugrunde gelegt. Sie steht in KP 6. 1,1 nach der Überschrift „Über den großen Avraam“, die unmittelbar auf die in KP 5,20 erwähnte Jahreszahl 3324 folgt und dem Bericht über Abrahams Vater Tara vorangeht: Dieser habe nach dem Vorbild seines Vaters begonnen, Götzen herzustellen. Nach den Zahlen der Genealogie in KP 5 wäre Tara im Jahre 3273 erst 19 Jahre alt (und noch lange nicht Abrahams Vater geworden). Eine Quelle, die davon berichtet, dass Tara mit 19 Jahren das Handwerk seines Vaters übernahm, haben wir nicht gefunden. Die KP setzt (nur innerhalb des Abraham-Kapitels) diese Jahreszahl 3273 bei mehreren Daten als Abrahams Geburtsjahr an: 3348 ist Abraham 75 Jahre alt; 3359 ist er 86 Jahre alt; 3372 ist er 99 Jahre alt; 3413 ist Isaak 40 Jahre, Abraham demnach 140 Jahre alt (KP 6. 5,1; 6. 7,2; 6. 8,1; KP 6. 12,1). Die drei letztgenannten Angaben sind schwer erkennbar: Durch das Einfügen der Überschrift 6. 7,1 wird die Altersangabe von 86 Jahren (6. 6,15) von der absoluten Jahreszahl 3359 (6. 7,2) abgetrennt. So entsteht der Eindruck, diese Zahl datiere die in Abschnitt 6. 7 erzählte Beschneidung, während sie tatsächlich auf die zuvor erzählte Geburt Ismaels bezogen ist. Ähnliches geschieht mit der Jahreszahl 3372 in 6. 8,1: Sie leitet die Erzählung von der Erscheinung der Engel bei der Eiche Mamre ein, 1 Wie in griech. Texten sind auch in ksl. die Buchstabenzahlen die am stärksten verwundbaren Stellen, woran selbst ein ausgeprägtes Problembewusstsein der Autoren und Kopisten nichts änderte. Schon im so genannten ksl. Syncellus findet sich eine kleine Abhandlung über das Problem, wie leicht ein fehlender oder hinzugesetzter Strich zu einer falschen Zahl führt (vgl. Syncellus slav 2007, 137, f 458a,20–26). Ein Beispiel aus einer ksl. Kurzchronik für ähnliche Erwägungen gibt Vodolazkin 1996, 32. 2 Ein solcher Lesefehler muss nicht erst dem KP-Kompilator unterlaufen sein. So ist die Zahl 501 im gleichen Zusammenhang auch in einer der Kurzchroniken in der Letopisʼ des Avraamka überliefert (vgl. PSRL 16, 28). 3 Vgl. Piotrovskaja 1998, 129,24. So auch in den nordrussischen Kurzchroniken, vgl. Letopisʼ des Avraamka (PSRL 16, 5); 1. und 3. Novgoroder Chronik (PSRL 5.1, 5; 5.2, 71); Vladimirskij Letopisec (PSRL 30, 8), wobei die Zeit von der Flut bis zur Sprachenteilung in der Chronik des Avraamka und im Vladimirskij Letopisec stärker von Nicephorus slav. abweicht. 4 Vgl. Vodolazkin 1996, 29. Vgl. auch die Zahlen aus der Kurzchronik, die das „Slovo aus dem Alten Gesetz über Melchisedek“ (eine erweiterte Fassung des Ps.-Athanasius-Textes über Melchisedek, zu seiner Überlieferung vgl. Böttrich 2010) einleitet, nach der Hs GIM, Sammlung Uvarov, Nr. 136, aus dem 16. Jh.: 1642 wird Noach geboren, Noach ist 500 Jahre alt bei Geburt des Sem, 100 Jahre Bauzeit brauchte die Arche, 2242 war die Flut, von der Flut bis zur Sprachenteilung und zum Tod Faleks waren es 529 Jahre (vgl. Vodolazkin 2014b, 180–185). Für die Sprachenteilung ist dort 2771 angesetzt (= 2242 + 529), auch weitere TP-Zahlen werden übernommen (vgl. ebd., 189). Zu der Zahl 529 vgl. auch die griech. und ksl. als Buchstabenzahl graphisch ähnliche 525 in der Kurzchronik, die dem griech. Hamartolus-Text beigegeben ist (Hamartolus griech. 1978, II, 804,3), sowie im Čisloslovesnik (Wątróbska 1987, 149, f 149r,20).

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während sie sich zugleich auf die Zeit der Beschneidung zurückbezieht, von der zuvor in 6. 7,6 gesagt wurde, dabei sei Abraham 99 Jahre alt gewesen. Schließlich erscheint die Jahresangabe 3413 in KP 6. 12,1 unmittelbar nach dem Bericht über Saras Tod, so dass sie sich irrtümlich auch statt auf die Brautwerbung und Hochzeit Isaaks auf dieses Ereignis beziehen lässt.1 Die Zahl 3273 selbst, die in der KP als alternatives Geburtsjahr Abrahams behandelt wird, ohne dass sie im Text je eindeutig als solches benannt würde, könnte sich aber auch aus Syncellus slav. erklären. Die entsprechende Stelle, in welcher Syncellus Julius Africanus referiert, lautet: Συνάγεται τοίνυν εἰς τὴν ἐπίβασιν τῆς κατηγγελμένης γῆς Ἀβραὰμ ἀπὸ μὲν τοῦ κατακλυσμοῦ καὶ Νῶε γενεῶν ι´ ἔτη ̗αιε´, ἀπὸ Ἀδὰμ γενεῶν κ´ ἔτη ̗γσοζ´.2 Man zählt nun bis zum Hinaufgehen Abrahams in das verheißene Land von der Flut und Noach an 10 Generationen, 1015 Jahre, von Adam an 20 Generationen, 3277 Jahre. Die Übersetzung in Syncellus slav. ist schwer verständlich: sßberet sã ubo vsêX å obêqania jemlã. å potopa i noä plemenß. ¡8 lêT