Einführung in die Soziologie: Leitthemen, Theorien, Grundbegriffe 9783486790764, 9783486237771

Grundlegendes und einführendes Soziologielehrbuch, im besten Sinne für das Grundstudium geeignet.

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German Pages 168 Year 1998

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Table of contents :
Einleitung
1. Komplexität und Selektion
2. Der Gegenstandsbereich der Soziologie
3. Vielfalt soziologischer Theorien
3.1. Sozialer Wandel
3.2. Bedeutungswandel
3.3. Strategien der Theoriebildung
I. Kapitel: Soziologie der Jahrhundertwende
1. Leitthema der Jahrhundertwende: Rationalisierung
2. Max Weber
2.1. Rationalität und Rationalisierung
2.2. Die Protestantische Ethik
2.3. Soziales Handeln
2.4. Macht und Herrschaft
2.5. Klassen und Stände
2.6. Max Webers Beitrag zur Modernisierung
3. Die entfaltete Moderne
3.1. Die Rationalisierung des Alltags
3.2. Die Rationalisierung der Gesellschaft
II. Kapitel: Soziologie der fünfziger Jahre
1. Leitthema der fünfziger Jahre: Individuum - Gesellschaft - Demokratie
2. Symbolischer Interkationismus
2.1. Bedeutung und Interpretation
2.2. Interaktion
2.3. Identität
2.4. Soziale Rolle
2.5. Gesellschaft
3. Parsons: Theorie sozialer Systeme
3.1. Parsons Strategie der Theoriebildung
3.1.1. Parsons Handlungsbegriff
3.1.2. Systemtheoretische Annahmen
3.2. Das allgemeine Handlungssystem (AGIL-Schema)
3.3. Methodischer Stellenwert des AGIL-Schemas
3.4. Sozialsysteme
3.5. Gesellschaft als Sozialsystem
3.5.1. Interne Differenzierung des Gesellschaftssystems
3.5.2. Integratiosmechanismen des Gesellschaftssystems
3.6. Evolution
3.6.1. Das System der modernen Gesellschaften: Orientierungsalternativen
3.6.2. Das System der modernen Gesellschaften: Gesellschaftliche Differenzierung
4. Gesellschaftliche Entwicklung und Soziologie der 50er Jahre
III. Kapitel: Soziologie der achtziger Jahre
1 Leitthema der achtziger Jahre: Kommunikation
1.1. Entwicklungstendenzen der achtziger Jahre
1.2. Veränderte Darstellungs- und Wahrnehmungsformen von Realität
2. Habermas: Theorie kommunikativen Handelns
2.1. Gesellschaftliche Entwicklung und Rationalisierung
2.1.1. Zweckrationales Handeln
2.1.2. Arbeit und Interaktion
2.1.3. Kommunikatives Handeln
2.2. Lebenswelt und System
2.2.1. Dimensionen der Lebenswelt
2.2.2. Funktionen der Lebenswelt
2.3. Theorie der Moderne
2.3.1. Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt
2.3.2. Die Kolonialisierung der Lebenswelt
3. Luhmann: Kommunikation als Koordinationsmechanismus
3.1. Evolution
3.2. Soziale Systeme
3.3. Kommunikation
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Register
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Einführung in die Soziologie: Leitthemen, Theorien, Grundbegriffe
 9783486790764, 9783486237771

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Lehr- und Handbücher der Soziologie Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Maindok, Einführung in die Soziologie

Einführung in die Soziologie Leitthemen, Theorien, Grundbegriffe

Von Privatdozentin

Dr. Herlinde Maindok

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Maindok, Herlinde: Einführung in die Soziologie : Leitthemen, Theorien, Grundbegriffe / Herlinde Maindok. - München ; Wien : Oldenbourg, 1998 (Lehr- und Handbücher der Soziologie) ISBN 3-486-23777-2

© 1998 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Grafik + Druck, München Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-23777-2

Vorwort Diese Einßhrung in die Soziologie basiert auf einer Vorlesung, die seit einigen Semestern an der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Dortmund veranstaltet wird. Der Bezug auf Studierende der Wirtschaftswissenschaften drückt sich in vielen der im Folgenden zur Illustration ausgewählten Beispiele aus. Eine Einführung, die insbesondere auch auf Nebenfachstudenten der Soziologie gerichtet ist, sollte darüber hinaus aber auch konzeptionell Interessen ihrer Adressatengruppe berücksichtigen: In den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern wird zum Teil sehr konkretes Wissen vermittelt, das auch in der späteren Berufspraxis als notwendiges „Handwerkszeug" vorausgesetzt wird. Was in einer Einführung in die Soziologie vermittelt werden kann, ist zwar weniger konkret, aber nicht weniger praxisrelevant: Der soziologisch angeleitete Blick auf gesellschaftliche Tatbestände unterschiedet sich deutlich von dem der Wirtschaftswissenschaften. Da die Soziologie darüber hinaus eine Reihe verschiedenartiger Sichtweisen auf ihren Gegenstand beinhaltet wird hier nicht lediglich eine alternative Betrachtung sozialer Phänomene vorgestellt. Es soll vielmehr eine Grundlage vermittelt werden, um Situationen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven analysieren und beurteilen zu können. Flexibilität in der Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit ist gerade in Zeiten gesellschaftlichen Wandels eine ebenso praktische wie unverzichtbare Fähigkeit. Die Einbindung dieser Einführung in eine Vorlesung - und entsprechende Übungsgruppen - schlägt sich auch darin nieder, daß hier eine für die deutschsprachige Soziologie bislang eher untypische Form gewählt wurde: Wesentlich ausgeprägter als bei früheren Generationen von Studierenden wird die Wahrnehmung von Realität heute über visuelle Medien vermittelt. An dieser Entwicklung versucht die vorliegende Einführung anzuknüpfen, indem die Darstellung des soziologischen Stoffes im engeren Sinne über Leitthemen strukturiert wird, die sich auch visuell darstellen lassen. Die Möglichkeiten, die bestehen, Videos und Bilder im Rahmen einer Vorlesung oder Übung einzusetzen, müssen hier in der Buchform zunächst einmal auf eine technisch auch handhabbare Form zurückgefahren werden. Von ihrer Strukturierung und Darstellung durchaus experimentell angelegt und von ihrer Einbindung in eine Vorlesung und in Übungsgruppen in beständiger Bewährungsprobe, hält diese Einführung sich Diskussionen offen. Über weitere Anregungen und Kritik würde ich mich freuen.

Herlinde Maindok

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

1. Komplexität und Selektion

5

2. Der Gegenstandsbereich der Soziologie

6

3. Vielfalt soziologischer Theorien 3 .1. Sozialer Wandel 3.2. Bedeutungswandel 3 .3. Strategien der Theoriebildung

8 9 11 15

L Kapitel: Soziologie der Jahrhundertwende

19

1. Leitthema der Jahrhundertwende: Rationalisierung

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2. Max Weber 2.1. Rationalität und Rationalisierung 2.2. Die Protestantische Ethik 2.3. Soziales Handeln 2.4. Macht und Herrschaft 2.5. Klassen und Stände 2.6. Max Webers Beitrag zur Modernisierung

24 24 27 32 37 42 44

3. Die entfaltete Moderne 3.1. Die Rationalisierung des Alltags 3.2. Die Rationalisierung der Gesellschaft

44 44 49

Π. Kapitel: Soziologie der fünfziger Jahre

51

1. Leitthema der fünfziger Jahre: Individuum - Gesellschaft - Demokratie

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2. Symbolischer Interkaüonismus 2.1. Bedeutung und Interpretation 2.2. Interaktion 2.3. Identität 2.4. Soziale Rolle 2.5. Gesellschaft

60 60 64 66 68 72

3. Parsons: Theorie sozialer Systeme 3.1. Parsons Strategie der Theoriebildung 3.1.1. Parsons Handlungsbegriff 3.1.2. Systemtheoretische Annahmen 3.2. Das allgemeine Handlungssystem (AGIL-Schema) 3.3. Methodischer Stellenwert des AGIL-Schemas 3.4. Sozialsysteme 3.5. Gesellschaft als Sozialsystem 3.5.1. Interne Differenzierung des Gesellschaftssystems 3.5.2. Integratiosmechanismen des Gesellschaftssystems

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Vili

Inhaltsverzeichnis 3.6. Evolution 3.6.1. Das System der modernen Gesellschaften: Orientierungsalternativen 3.6.2. Das System der modernen Gesellschaften: Gesellschaftliche Differenzierung 4. Gesellschaftliche Entwicklung und Soziologie der 50er Jahre

IIL Kapitel: Soziologie der achtziger Jahre

99 100 101 104 107

1. Leitthema der achtziger Jahre: Kommunikation 1.1. Entwicklungstendenzen der achtziger Jahre 1.2. Veränderte Darstellungs- und Wahrnehmungsformen von Realität

110 110

2. Habermas: Theorie kommunikativen Handelns 2.1. Gesellschaftliche Entwicklung und Rationalisierung 2.1.1. Zweckrationales Handeln 2.1.2. Arbeit und Interaktion 2.1.3. Kommunikatives Handeln 2.2. Lebenswelt und System 2.2.1. Dimensionen der Lebenswelt 2.2.2. Funktionen der Lebenswelt 2.3. Theorie der Moderne 2.3.1. Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt 2.3.2. Die Kolonialisierung der Lebenswelt

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3. Luhmann: Kommunikation als Koordinationsmechanismus 3 .1. Evolution 3.2. Soziale Systeme 3 .3. Kommunikation

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Abbildungsverzeichnis

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Literatur

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Register

158

EINLEITUNG

Einleitung

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Kein Mensch kommt umhin, sich tagtäglich als Experte für Gesellschaft zu bewähren - und in der Regel gelingt dies auch ohne soziologische Kenntnisse. Welche Einsichten und Erkenntnisse kann die Soziologie anbieten, die über die alltäglichen Vorstellungen hinausgehen, auf deren Basis Gesellschaft praktiziert wird? Daß Gesellschaft funktioniert und daß Einzelne nicht fortlaufend in und an der Gesellschaft scheitern, beruht darauf, daß wir in unserem sozialen Leben Regeln befolgen. Im Alltag stellen diese Regeln sich als „natürliche" Rahmenbedingungen dar, oder als erfolgversprechende Routinen. Dies hat damit zu tun, daß Gesellschaft in der Alltagspraxis notwendigerweise nur ausschnitthaft - bezogen auf spezielle Situationen und konkreten Handlungsbedarf - wahrgenommen wird. Daß der Alltagspraxis Regeln zugrunde liegen, die sich historisch herausgebildet haben und kulturell geprägt sind, wird allenfalls in krisenhaften Situationen deutlich. Die Soziologie versucht nun - über theoretische Erklärungen und über empirische Forschung - dieses Muster, das unser soziales Leben zusammen hält, zu ermitteln. Soziologinnen und Soziologen sind selbst Teil des Gegenstandsbereiches den sie untersuchen, da sie als Gesellschaftsmitglieder eben unausweichlich in gesellschaftliche Prozesse eingebunden sind. Ihren Mitgliedern, so wurde gerade gesagt, erscheint Gesellschaft als etwas „natürliches", dessen Regelhaftigkeit undeutlich bleibt. Über welchen methodischen Ansatz versucht die Soziologie sich aus ihrer Einbindung zu lösen und die für eine wissenschaftliche Analyse notwendige Distanz zu ihrem Gegenstand herzustellen? Zumindest breite und bedeutende Strömungen innerhalb der Soziologie wählen ihren Zugang über eine ethnographische Perspektive. Ethnographen oder Völkerkundler reisten in ferne Länder, um das Leben fremder Völker zu studieren. Als Außenstehenden konnten sich ihnen die Regeln und Besonderheiten der fremden Kulturen besser erschließen als den Mitgliedern der jeweiligen Kulturen selbst. Übertragen auf die Soziologie beinhaltet die ethnographische Perspektive, daß sie sich um Distanz zum alltäglichen Geschehen bemüht und versucht, unsere Gesellschaft vom Standpunkt eines Fremden aus wahrzunehmen, denn für den Fremden ist nichts von all dem, was er beobachtet, selbstverständlich . Da unsere Gesellschaft - anders als Stammesgesellschaften in entlegenen Regionen - schnell aufeinanderfolgenden Wandlungen unterliegt, muß die ethnographische Perspektive mit einer historischen Perspektive einher gehen. Konsequent weitergeführt bedeutet dies, daß auch die Soziologie - da sie ja ein Bestandteil dieser Gesellschaft ist - in ihren historisch-kulturellen Ausprägungen und Wandlungen wahrgenommen wird. Die vorliegende Einführung hat eine Gliederung gewählt, über welche die fachwissenschaftliche Entwicklung auf Prozesse gesellschaftlichen Wandels bezogen wird. Im Rahmen einer zeitlichen Abgrenzung werden verschiedener Soziologien jeweils in drei Dimnsionen vorgestellt: Leitthemen, Theorien und Grundbegriffe. Der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen hier die Entwicklung der Soziologie skizziert wird, reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Eingeleitet wird diese Zeitspanne von der Hochphase der Industrialisierung. In ihrem Zentrum kann von einer - ökonomischen, politischen und kulturellen - Entfaltung der Moderne gesprochen werden und in der Gegenwart schließlich lassen sich diverse Auflösungssymptome der Moderne, eben die Postmoderne, diagnostizieren.

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Einleitung

Zeit

Theorie

Grundbegriffe

JahrhunRationalisiedertwende rung

Max Weber

Rationalität, soziales Handeln, Macht und Herrschaft, Klassen und Stände

Fünfziger Jahre

Symbolischer Interaktionismus

Bedeutung und Interpretation, Interaktion, Identität, soziale Rolle

Talcott Parsons

Handlungssystem, Sozialsystem, Evolution

Jürgen Habermas

Arbeit und Interaktion, kommunikatives Handeln, Lebenswelt und System

Achtziger Jahre

Leitthema

Individuum — Gesellschaft Demokratie

Kommunikation

Niklas Luhmann

Evolution, Soziale Systeme, Kommunikation

Abbildung 1: Aufbau der Einführung Die diesen Zeitabschnitten zugeordneten Leitthemen sind Rationalisierung für die Zeit der Hochindustrialisierung, Individuum - Gesellschaft - Demokratie für die Zeit der entfalteten Moderne und schließlich Kommunikation für die Gegenwart. Diese Leitthemen stehen zunächst für gesellschaftliche Entwicklungen der jeweiligen Phase bzw. dafür, wie diese Entwicklungen thematisch zugespitzt wurden. Neben ihrer allgemeinsten Ausdrucksform als „Zeitgeist" finden diese zeitbezogenen Leitthemen sich aber auch als Leitthema verschiedener Wissenschaften, als Leitthemen der Kunst, der Architektur und sonstiger Lebensäußerungen dieser verschiedenen Phasen wieder. In diesem Sinne lassen sie sich dann auch als Leitthemen der Soziologie ausfindig machen, denn wie alle kulturellen Produkte ist auch die Soziologie - zumindest ein Stück weit - immer zeitgebunden. Dies drückt sich unter anderem darin aus, daß jede Theorie der Gesellschaft verschiedene Aspekte ihres Gegenstandes besonders betont, Erklärungen für eben diese Aspekte sucht, um sie dann theoretisch und begrifflich aufzubereiten. Die Theorien, die hier vorgestellt werden, sind nach ihrer Entstehungszeit gegliedert: Mit einem Abriß der Soziologie Max Webers wird in eine der ersten bedeutsamen Konzeptionen der deutschen Soziologie eingeführt. Die Arbeiten Max Webers sind um die Jahrhundertwende herum entstanden und nahezu alle Soziolo-

Einleitung

5

gen haben Grundannahmen oder zumindest einige der von Weber eingeführten Grundbegriffe in ihre eigenen Arbeiten aufgenommen. Daran an schließen sich der Symbolische Interaktionismus und die Systemtheorie von Talcott Parsons. Beide hatten den Höhepunkt ihrer Verbreitung in den 50er und 60er Jahren dieses Jahrhunderts. Auch sie sind, wie Max Weber, als Anknüpfungspunkt jüngerer Arbeiten in der Soziologie bedeutsam. Schließlich werden die Theorien von zwei zeitgenössischen Soziologen, nämlich die von Habermas und die von Luhmann vorgestellt. Wie dem gerade skizzierten Katalog der verschiedenen Theorien zu entnehmen ist, und wie auch die Verknüpfung von Entwicklung der Soziologie und gesellschaftlicher Entwicklung über Leitthemen nahelegen, werden soziologische Theorien hier ihrer Entstehungszeit folgend eingeführt. Dies sollte allerdings nicht dahingehend mißverstanden werden, daß hier eine Ideengeschichte der Soziologie vorgestellt wird. Zu diesem Zweck wäre die Auswahl zu unvollständig und auch die nachfolgende Darstellung müßte nach anderen Gesichtspunkten organisiert werden. Die chronologische Darstellung soll ausschließlich dazu dienen, den Zusammenhang zwischen Entwicklung der Soziologie und gesellschaftlicher Entwicklung zu veranschaulichen. Die Auswahl soziologischer Grundbegriffe, die hier vorgenommen wird, ergibt sich einerseits aus dem Stellenwert, den sie im Rahmen der Arbeiten der gerade genannten Autoren haben. Andererseits sind diese Grundbegriffe aber auch unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß sie eine zentrale Bedeutung in der Soziologie insgesamt haben. Von daher können diese Grundbegriffe auch als grundlegendes Handwerkszeug innerhalb der Soziologie verstanden werden.

1. Komplexität und Selektion Wenn von der soziologischen Perspektive die Rede ist, handelt es sich um eine bestimmte Art der Wahrnehmung von Realität. Für die Wahrnehmung von Realität stellt sich ganz allgemein - nicht nur in der Soziologie - das Problem von Komplexität und Selektion. Die Welt, als Summe aller möglichen Ereignisse verstanden, kann nicht wahrgenommen werden. Selbst wenn wir von den Ereignissen absehen, die wir aufgrund unserer körperlichen und mentalen Beschaffenheit nicht wahrnehmen können, ist die Summe des Erkennbaren zu groß, um aktiv verarbeitet zu werden. Die „Komplexität der Welt" zwingt uns dazu, immer nur eine kleine Auswahl aus der Summe aller möglichen Ereignisse zu treffen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, um nicht durch Reiz- oder Informationsüberflutung überfordert zu werden. Wenn wir solche Auswahlen oder Selektionen treffen, ist dies nicht zufällig. Es ist uns nicht unbedingt bewußt, daß wir unsere Wahrnehmung beständig über Selektionsstrukturen steuern. Allerdings können wir uns - zumindest im alltäglichen Leben - unsere Selektionsstrukturen relativ leicht vergegenwärtigen: Die Bewohner einer Stadt haben z.B. einen sehr unterschiedlichen Plan ihres Wohnortes im Kopf, je nachdem, ob sie ein eigenes Verkehrsmittel oder den öffentlichen Verkehr benutzen. Die Angehörigen verschiedener Berufe haben berufs-

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Einleitung

spezifische Selektionsstrukturen, anhand derer sie ein und die selbe Situation in unterschiedlicher Weise wahrnehmen und beurteilen. Massenmedien haben unterschiedliche Selektionsstrukturen, - je nachdem, welche Adressatengruppe sie erreichen möchten -, aufgrund derer sie Nachrichten auswählen und darstellen. Welches nun die Selektionsstrukuren der Soziologie sind, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang damit, welches Bild die Soziologie sich von ihrem Gegenstand macht. Die soziologische Denkweise - als eine fachspezifische Selektionsstruktur verstanden - wird am offensichtlichsten in ihrem Begriff von Gesellschaft und - darauf aufbauend - in der soziologischen Theorie.

2. Der Gegenstandsbereich der Soziologie Der Gegenstandsbereich der Soziologie ist Gesellschaft. - Diese Aussage vermittelt eine erste Vorstellung von diesem Fach, die allerdings noch sehr vage bleibt: Da Gesellschaft etwas ist, womit jeder zwangsläufig Erfahrungen macht, hat auch jeder Mensch eine - wie auch immer geartete - Vorstellung von Gesellschaft. Würde man nach dem Zufallsprinzip eine Reihe von Menschen danach befragen, was sie unter Gesellschaft verstehen, würde sich sehr schnell herausstellen, daß es durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft gibt, die auf den ersten Blick alle einigermaßen einleuchtend sind. Ein Fachgebiet wie die Soziologie, deren Gegenstand Gesellschaft ist, schließt zunächst auch an solchen alltäglichen Vorstellungen an. Ein soziologischer Gesellschaftsbegriff unterscheidet sich von alltäglichen Vorstellungen Uber Gesellschaft zunächst einmal dadurch, daß die Soziologie hinterfragt, welche unausgesprochenen - und vielleicht im Alltag auch unbewußten Annahmen in den einen oder anderen Begriff von Gesellschaft eingehen. Sie liefert also nicht lediglich einen beschreibenden Begriff, sondern eine Theorie über ihren Gegenstandsbereich. D.h. nichts anderes, als daß die beschreibenden Komponenten eines Begriffes in Beziehung zueinander gestellt werden, daß Annahmen über den Zusammenhang dieser einzelnen Komponenten formuliert werden und Annahmen darüber, wie diese Komponenten zu gewichten sind. Darüber hinaus muß jede Theorie der Gesellschaft so gefaßt sein, daß sie auch empirisch überprüft werden kann. In einzelnen Begriffen bzw. Annahmen muß also schon die Möglichkeit enthalten sein, Indikatoren zu bilden. Was in der Soziologie in diesem Sinne unter Gesellschaft verstanden wird, und zwar über die Grenzen verschiedener Theorien hinweg, sei zunächst an einer Graphik illustriert: Auf einer Seite der Graphik sind Menschen zu sehen. Dies ist keine besonders originelle Erkenntnis der Soziologie im Vergleich zu alltäglichen Vorstellungen. Die fachwissenschaftliche Perspektive der Soziologie kommt erst dann ins Spiel, wenn geklärt wird, unter welchen Aspekten Menschen betrachtet werden. Der Mensch ist ζ. B. auch ein Teil des Gegenstandsbereiches von Biologie und Medizin. Aber auch da wird er lediglich unter einem bestimmten Aspekt zum Thema, nämlich hinsichtlich seiner biologischen oder körperlichen Gegebenheiten. Ähnliches

Einleitung

7

gilt für die Psychologie. Dort ist der Mensch unter dem Aspekt seiner innerpsychischen Prozesse, seiner Psychodynamik Gegenstand.

Gesellschaft

soziales Handeln

institutionelle Strukturen

Abbildung 2: Gegenstandsbereich der Soziologie

Der besondere Aspekt nun, für den die Soziologie sich interessiert, sind die Handlungen von Menschen. Handeln ist etwas, das sich empirisch beobachten läßt: Es ist ein äußerer Vorgang, der wahrgenommen, beschrieben und aufgezeichnet werden kann. Handeln ist allerdings auch ein Prozeß, der im Menschen beginnt, der eine individuelle Absicht voraussetzt, die nicht ohne weiteres beobachtet werden kann. Damit deutet sich bereits ein erstes methodisches Problem für die Soziologie an, daß sie nämlich einerseits auf objektivierbare Tatbestände bezogen ist, andererseits aber auch auf Komponenten, die zumindest nicht ohne weiteres der Beobachtung zugänglich sind. Handeln ist eine der Komponenten von Gesellschaft. Ein anderes Set von Komponenten, die im Schaubild als Organigramm symbolisiert werden, sind Rahmenbedingungen, innerhalb derer Handlungen stattfinden. Anders als in den Naturwissenschaften, die sich schließlich auch mit Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz befassen, nämlich mit Naturgegebenheiten, befaßt die Soziologie sich mit sozialen Rahmenbedingungen. Dies sind Bedingungen, die für menschliches Handeln, ähnlich wie natürliche Gegebenheiten, als Möglichkeiten und Grenzen wirken, die aber von Menschen selbst geschaffen sind. Beispiele dafür sind Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens wie Familie oder politische Organisationen, Formen des Wirtschaftens, der Arbeitsorganisation, aber auch kulturelle Rahmenbedingungen wie z.B. Gesetze, Sitten oder Lebensstile, und schließlich

8

Einleitung

auch Formen der Naturbeherrschung wie Technik. Wenn soziale oder institutionelle Strukturen, anders als natürliche Gegebenheiten, von Menschen geschaffen worden sind, heißt das, daß ihre Entstehung menschliche Handlungen voraussetzt. Das gleiche gilt für die Aufrechterhaltung sozialer Strukturen. Organisationsformen des Zusammenlebens, des Arbeitens oder auch die Existenz einer bestimmten Kultur ist immer daran gebunden, daß sie von Menschen praktiziert wird. In diesem Sinne ist Gesellschaft immer abhängig davon, daß sie von Menschen aufrechterhalten wird. Dies führt zu einer zentralen Frage der soziologischen Theorie: Wie ist gesellschaftliche Ordnung möglich? Oder negativ gewendet - und das ist vielleicht auch die aktuellere Frage in der Gegenwart: Wie kommen gesellschaftliche Veränderungen oder gar die Auflösung von Gesellschaften zustande?. Die Frage nach gesellschaftlicher Ordnung oder Integration stellt sich nicht nur deshalb, weil soziale Strukturen historische Phänomene und damit veränderbar sind. Sie wird noch dadurch zugespitzt, daß - wenn wir wieder zurückgehen, auf den anderen Teil der Graphik - Handeln immer eine innere Bereitschaft der Akteure voraussetzt und folglich Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet: Handeln kann sowohl im Einklang mit sozialen Strukturen ablaufen, es kann aber auch gegen soziale Strukturen gerichtet sein. Geht man von Handeln und sozialen Strukturen als Bestandteilen von Gesellschaft aus, dann spricht die Frage nach gesellschaftlicher Ordnung, oder gesellschaftlicher Integration zwei Dimensionen an: Soziale Integration als die Bereitschaft der Akteure, im Sinne sozialer Strukturen zu handeln und Systemintegration als Abstimmung der verschiedensten Elemente der sozialen Strukturen untereinander. Während die soziale Integration auf Orientierungen und Einstellungen der Akteure verweist, geht es bei der Systemintegration nicht um motivationale Probleme, sondern darum, wie kompatibel gesellschaftliche Strukturen zueinander sind. Gesellschaftliche Teilbereiche, wie z.B. der Bildungs- und Ausbildungsbereich und Anforderungen der Arbeitswelt müssen aufeinander abgestimmt sein, ebenso die politische Verfassung und die Wirtschaftsordnung.

3. Vielfalt soziologischer Theorien Daß Handeln und soziale Strukturen den Gegenstandsbereich der Soziologie ausmachen, stellt einen schmalen - nicht einmal allseits geteilten - Konsens in diesem Fach dar. Aber selbst dort, wo dieser Konsens nicht geteilt wird, ist das Verhältnis von Handeln und Struktur der Bezugspunkt verschiedener Kontroversen des Faches. Gerade im Unterschied zu anderen Fächern, wie der Ökonomie z.B. fällt auf, daß es in der Soziologie eine Vielzahl an Theorien gibt. Die Soziologie weist folglich kaum eine einheitliche Grundlage auf, sie verfügt kaum über Grundannahmen und Grundbegriffe, die von allen Angehörigen des Faches geteilten werden. Diese für die Soziologie typische Vielfalt an Ansätzen - oder auch aus einer anderen Sicht

Einleitung

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Gesellschaftliche Integration

Soziales Handeln " \

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Sozialintegration

Systemintegration

Abbildung 3: Fragestellung der Soziologie

betrachtete Zerrissenheit des Faches - führt zu einer ganzen Reihe von Problemen: Für diejenigen, die sich mit den Grundlagen des Faches vertraut machen wollen, ergibt sich zunächst einmal die Schwierigkeit, sich einen Überblick im Rahmen dieser Unübersichtlichkeit zu verschaffen. Eine Einführung in die Soziologie bedeutet immer auch, sich mit verschiedenen Sichtweisen auf den Gegenstandsbereich Gesellschaft vertraut zu machen. Für das Fach ergeben sich aus dieser Theorienvielfalt Probleme hinsichtlich der Entwicklung kumulativen Wissens. D. h. eine arbeitsteilige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Gesellschaft - bei der hochspezialisierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ihre verschiedenen Beiträge aufeinander beziehen können, weil eben alle aus der gleichen Perspektive auf Gesellschaft sehen und auch in einer gemeinsamen Sprache sprechen -, ist in der Soziologie kaum möglich. Gleichzeitig ist es aber auch fraglich, ob eine kumulative Entwicklung des Faches überhaupt wünschenswert ist: Berücksichtigt man, daß die Vielfalt soziologischer Theorien sich auch aus der Beschaffenheit des Gegenstandsbereiches Gesellschaft ergibt, dann würde die Entscheidung für die eine oder andere „gültige Lehrmeinung" bedeuten, daß dem Gegenstandsbereich etwas übergestülpt wird, was ihm nicht angemessen ist. Im Folgenden werden einige der Ursachen angeführt, aus denen die Theorienvielfalt in der Soziologie resultiert. Diese Ursachen dienen zugleich auch dazu, den Gegenstandsbereich der Soziologie weiter zu präzisieren.

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Einleitung

3.1. Sozialer Wandel Bereits mit der Einführung des Begriffspaares Handeln und soziale Strukturen wurde deutlich, daß Gesellschaft ein historisches Faktum ist. Daß Gesellschaft sich wandelt ist eine Erfahrung, die jeder im Laufe seines Lebens macht und die über die Lektüre von Romanen, über die Kenntnisnahme historischer Dokumente und ähnlichem noch vertieft werden kann. Es dürfte z.B. allseits bekannt sein, daß bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die Mehrgenerationenfamilie - als Familienverbund und Produktionseinheit unter einem Dach - die typische Familienform war, während mit beginnender Industrialisierung eine Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz stattfand und der traditionelle Familienverband sich zunehmend mehr aufgelöst hat, über die sogenannte Kemfamilie bis heute zu Single-Haushalten. Ebenso bekannt ist, daß sich im Verlauf der gleichen Zeitspanne Lebenspläne von Menschen grundlegend gewandelt haben. Dies wird besonders deutlich bei Frauen: Bis weit in die Zeit der Industrialisierung hinein herrschte die klassische Rollentrennung zwischen Männern und Frauen vor, und Frauen - eigentlich konnten sie gar keinen Lebensplan für sich entwerfen, sondern nur den vorgegebenen einnehmen - führten ein Leben als Hausfrau und Mutter. Verstärkt nach dem zweiten Weltkrieg strebten Frauen einen Lebensplan an, der als drei-Phasen-Modell beschrieben wird: Nach einer kurzen Phase außerhäuslicher Erwerbsarbeit zogen sie sich auf Hausarbeit und auf die Aufgaben als Mutter zurück, um dann, nachdem die Kinder erwachsen waren, wieder eine außerhäußige Erwerbsarbeit anzunehmen. Seit den siebziger Jahren läßt sich die Tendenz beobachten, daß junge Frauen Vereinbarkeitsmodelle für Erwerbsarbeit und Familie suchen.

Abbildung 4: Vom 3-Phasen Modell zu Modellen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Einleitung

11

Ein anders Beispiel für gesellschaftlichen Wandel sind veränderte Muster der Stadtentwicklung: Vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, blieben die Grundflächen der Städte in Zentraleuropa nahezu unverändert, nämlich in den Grenzen ihrer jeweiligen Befestigungsanlagen aus dem Mittelalter. Mit dem Beginn der Industrialisierung, dem massenhaften Zuzug von Landbevölkerung in die Städte etc. dehnten die Städte ihre besiedelte Flächen um ein vielfaches aus. Der mehr oder weniger überschaubare und um ein eindeutiges Zentrum organisierte urbane Raum nahm dabei eine völlig neue Gestalt an. Es bildeten sich um das Zentrum herum Nebenzentren; Wohnquartiere und Arbeitsstätten wurden voneinander geschieden; es entstanden neue und neuartige Transportverbindungen und öffentliche Einrichtungen. Beispiele dieser und ähnlicher Art lassen sich beliebig fortsetzen. Das soziologisch interessante an solchen Veränderungen sind bestimmte Konsequenzen, die mit diesen Wandlungen einhergehen, nämlich Folgeprobleme für die soziale Integration und für die Systemintegration einer Gesellschaft. Was Systemintegration in diesem Zusammenhang bedeuten könnte, läßt sich relativ leicht aus dem Beispiel der Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz extrapolieren: Es müssen z.B. ungeheure Möbilitätsprobleme bewältigt werden, Arbeitsmärkte und ein moderner Typus von Gütermärkten müssen geschaffen werden und die Beziehungen, die früher im Haus über verwandtschaftliche und über nachbarschaftliche Beziehungen geregelt wurden, gilt es nun relativ losgelöst von persönlichen Beziehungen zu regulieren. Während die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten Folgeprobleme für die Systemintegration hervortreten läßt, können am Beispiel der veränderten Lebenspläne von Frauen eher Folgeprobleme für Aspekte der sozialen Integration aufgezeigt werden: Mit dem Drei-Phasen-Modell und mit dem Vereinbarkeitsmodell sind für die Frauen zunächst jeweils unterschiedliche Identitätsmodelle verbunden, nämlich ein stärker über Familienrollen geprägtes Selbstverständnis gegenüber einem Selbstbild, in welchem Familienrollen und Berufsrollen stärker aufeinander abgestimmt werden müssen. Dies wiederum hat Konsequenzen für das Beziehungsgeflecht in der Familie und den Stellenwert, der der Familie zugeschrieben wird. Parallel dazu stellen Frauen, die sich am Drei-Phasen-Modell orientieren, wesentlich höhere Erwartungen an Bildung und Ausbildung, an berufliche Möglichkeiten und an den Arbeitsmarkt, rufen also auch wieder neue Konstellationen auf der Ebene der Systenintegration hervor. 3.2. Bedeutungswandel Im Zusammenhang mit Prozessen sozialen Wandels steht ein weiterer Aspekt, der die Theorienvielfalt in der Soziologie bedingt: Es ändert sich nicht lediglich der Gegenstand, sondern auch die Wahrnehmung des Betrachters. Dies bedeutet zum einen, daß Menschen mit historisch neuartigen Erfahrungen konfrontiert werden, also Dinge erfahren, die zuvor nicht existierten. Zum anderen bedeutet dies aber auch, daß ein und die selben Objekte zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden wahrgenommen werden können.

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Einleitung

Dies soll zunächst einmal an einem Beispiel aus der Malerei illustriert werden: Jean Francois Millet - bekannt als Begründer der Schule von Barbizon - schuf eine Reihe von Bildern, die zu seinen Lebzeiten als skandalös wahrgenommen wurden. Bis auf wenige Kritiker, die in Millets Bild eine entscheidende Entwicklung innerhalb der Malerei erkannten, wurden seine Arbeiten von Zeitgenossen entweder lächerlich gemacht oder mit Empörung aufgenommen. Auf jeden Fall galten sie als Beispiele, in denen gegen die Regeln der Akademie-Malerei und gegen den Publikumsgeschmack der Salons verstoßen und in denen Tabus gebrochen wurden. - Für Millet persönlich hatte dies zur Folge, daß er seine Arbeiten nur zu lächerlich geringen Preisen verkaufen konnte. Erst posthum wurde seine Bedeutung für die Kunstgeschichte allgemein anerkannt und von da ab erlebten auch seine Bilder exponentielle Preissteigerungen. Eines seiner bekanntesten Bilder, Ährenleserinnen (Abb.5) - fertiggestellt und der Öffentlichkeit präsentiert im Jahre 1857 - löste in der gerade erläuterten Weise Empörung und Spott aus. Warum dies so sein konnte, ist für uns heute ist nicht ohne weiteres erkennbar, da wir das Bild auf dem Hintergrund unserer Sehgewohnheiten betrachten. Wer nicht kunsthistorisch besonders versiert ist wird vermuten, daß die Maltechnik der damaligen Malerei entspricht. Das Bild ist realistisch gemalt, die Gegenstände werden weder in geometrische Formen aufgelöst noch finden sich Ansätze zur Abstraktion, die in späteren Jahrzehnten bei Teilen des Publikums wiederum Empörung auslösen sollten. Zwei Dinge an diesem Bild waren für die Betrachter im Jahre 1857 anstößig: Erstens stellt Millet die Landschaft in seinem Bild als Feld dar, das vom Menschen bearbeitet wird. Der abgeerntete Acker ist staubig und trocken. Nur ganz weit hinten am Horizont ist ein grüner Baum zu entdecken. Die Landschaft ist weder lieblich noch dramatisch, sondern eher sachlich dargestellt. In der von der Romantik geprägten Akademie-Malerei wurde hingegen Landschaft immer als idealisierter Raum dargestellt. In dem Bild Chiemseelandschaft mit Regenbogen (Abb. 6) von Eduard Schleich d.Ä. aus dem Jahre 1863 wird scheinbar ein ähnliches Thema aufgenommen wie bei Millet, aber eben doch ganz anders, da den Regeln der Akademie-Malerei verhaftet: In einer parkartigen Landschaft ist ein Feld, von üppigen Bäumen eingerahmt. Über die Zentralperspektive wird die Aufmerksamkeit des Betrachters Uber das Feld hinweg in eine weite Landschaft gelenkt, die mit ihren Wiesen, Gewässern und Bergen auch als allegorische Weltenlandschaft verstanden werden kann. Ein aufziehendes Gewitter und Wolkentürme betonen in pathetischer Weise die Naturgewalten. Der zweite Verstoß Millets gegen die Akademie-Malerei ist der Inhalt des Bildes: Es stellt arbeitende Menschen als eigenständiges Thema dar. Die gebückte Haltung der Ährenleserinnen und ihre groben Hände drücken aus, daß sie eine körperlich beanspruchende Arbeit verrichten. An ihrer einfachen Kleidung wird deutlich, daß dieser Art von Landleben keinerlei Romantik anhaftet. Im Kontrast hierzu wiederum das Gemälde von Schleich: Die Gruppe der Landarbeiter sind Staffage. Hüte und Kleider der Frauen sind kleine Farbtupfer die das Bild auflockern und die Personen - sofern sie überhaupt den Eindruck von Arbeit erwecken - wirken eher malerisch als angestrengt.

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Einleitung

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Daß die Darstellung von arbeitenden Menschen - als eigenständiges Thema eines Bildes - damals tabuisiert war, ist heute nur noch schwer nachvollziehbar. Es ist für uns um so weniger zu verstehen, als Millets Bild schließlich zu einer Zeit entstanden ist, in der die Industrialisierung bereits in vollem Gange war. Insbesondere aus dem Beispiel der Industrialisierung in England kennen wir Berichte darüber, wie unendlich langdauernd und kräftezehrend Arbeit damals für die meisten Menschen war. Arbeit war in der Mitte, bzw. am Ende des 19. Jahrhunderts ein Faktum, das im Vergleich zu heute - da die Körperlichkeit von Arbeit abgenommen hat und ihr zeitlicher Anteil am Leben geschrumpft ist - eigentlich mehr Präsenz und Aufmerksamkeit hätte erwarten lassen. Allem Anschein nach - darauf macht das Beispiel der Rezeption von Millet aufmerksam - hat die menschliche Wahrnehmung eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber realen gesellschaftlichen Entwicklungen. Außerdem nimmt jede Generation ihre eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in einer anderen Weise wahr, als nachfolgende Generationen. Offensichtlich hat jede Generation Themen, die sie favorisiert bzw. ausblendet und damit ihre zeittypische Perspektive auf Gesellschaft. In diesem Sinne hat auch die Soziologie, die um die Jahrhundertwende entstanden ist, ein spezielles Leitthema, das sich von der Soziologie der 50er Jahre bzw. von der Soziologie der Gegenwart unterscheidet. Und dies resultiert nicht lediglich daraus, daß Gesellschaft sich in dieser Zeit beständig gewandelt hat, sondern auch, weil sie aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen wird. 3.3. Strategien der Theoriebildung Sozialer Wandel und Bedeutungswandel sind Bedingungen, die nicht lediglich die Soziologie, sondern auch Entwicklungen in den Human- und Kulturwissenschaften, der Bildenden Kunst, Architektur, Musik und noch in vielen anderen Bereichen betreffen. Eine weitere Bedingung für die Theorienvielfalt in der Soziologie ergibt sich aus Kontroversen innerhalb des Faches selbst. Bereits in der Abgrenzung des Gegenstandsbereiches der Soziologie und in den damit verbundenen Grundannahmen ist die Möglichkeit für unterschiedliche Konstruktionsprinzipien oder Strategien der Theoriebildung angelegt. Gesellschaft, so wurde bereits dargelegt, enthält Komponenten unterschiedlicher Qualität, nämlich Handlungen und soziale Strukturen. In den verschiedenen Strategien der Theoriebildung geht es nun, knapp gesagt, darum, wie gesellschaftliche Integration angemessen erklärt werden kann, welche der Komponenten von Gesellschaft, Handeln und/oder Strukturen gesellschaftliche Integration sicherstellen. Entsprechend der Gegenüberstellung von Handeln und sozialen Strukturen lassen sich Handlungstheorien und Strukturtheorien voneinander abgrenzen. Während die Handlungstheorien eher betonen, daß Gesellschaft immer eine aktive Leistung von Akteuren ist, betonen Strukturtheorien die Tatsache, daß soziale Rahmenbedingungen einzelne Handlungen integrieren und daß über die Kraft sozialer Strukturen überhaupt erst sozialer Zusammenhalt hergestellt wird. Diese Gegenüberstellung von Struktur- und Handlungstheorien ist idealtypisch, insofern keine Theorie der

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jeweils anderen Komponente ihre Bedeutung für gesellschaftliche Integration prinzipiell abspricht. Es ist eher eine Frage der Gewichtung der beiden Komponenten, die dann aber Folgen für die Theoriekonstruktion insgesamt hat.

Handlungstheorien - Betonung individueller Handlungsspielräume subjektorientierte Forschungsmethoden

Strukturtheorien - Funktionslogik sozialer Strukturen - standardisierte Erhebungsverfahren

Reduktionismus: Soziale Phänomene werden über das Wirken nichtsozialer Mechanismen erklärt (ζ. B. religiöse, psychologische oder biologische Annahmen) erklärt

Abbildung 7: Varianten soziologischer Theorie Darüber hinaus enthalten Handlungs- und Strukturtheorien auch jeweils unterschiedliche inhaltliche Annahmen über Gesellschaft. Während Handlungstheorien dazu tendieren, den Individuen viele Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft einzuräumen, entwerfen Strukturtheorien eher ein Bild von Gesellschaft, in dem die Akteure in - teilweise übermächtige - Rahmenbedingungen eingebunden sind. Schließlich noch hat die Entscheidung für den einen oder den anderen Typus von Theorie Folgen für den methodologischen Ansatzpunkt und die Methodenwahl in der Sozialforschung: Wer wie die Handlungstheoretiker die Seite der aktiven Gestaltung der Gesellschaft durch die Individuen betont, bevorzugt für seine Forschung qualitative Verfahren. Der Schwerpunkt dieser Richtung liegt auf der Erforschung der Vorstellungen und Absichten von Individuen, und darauf, wie diese Vorstellungen und Absichten in Handlungen umgesetzt werden. Individuen werden hierbei konsequent als die Produzenten gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden und über entsprechende Untersuchungen soll geklärt werden, in welcher Weise die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit von Handelnden realisiert wird. Dies verlangt offene Erhebungsverfahren, in denen die Beforschten ohne Einschränkung durch ein strukturiertes Instrument zu Wort kommen bzw. beobachtet werden könne: . Eher strukturtheoretisch ausgerichtete Ansätze, in denen die Integrationskraft sozialer Rahmenbedingungen betont wird, sind stärker an der Funktionslogik dieser

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Strukturen als an den Deutungen von Handelnden interessiert. Zur Untersuchung derartiger Regelzusammenhänge sind standardisierte Forschungsinstrumente geeigneter. Die hier skizzierten Theoriestrategien - auf die auch in den folgenden Kapiteln dieses Buches immer wieder Bezug genommen werden wird - haben einen gemeinsamen Bezugspunkt, den sie unterschiedlich gewichten. Sie gehen alle davon aus, daß gesellschaftliche Integration über das Zusammenwirken von Handeln und sozialen Strukturen zustande kommt. In diesem Sinne stehen Handeln und soziale Strukturen im Zentrum ihrer Analyse. Eine weitere Variante der Soziologie - sie sollen hier nur kurz in der Einleitung erwähnt werden, ohne daß sie später ausfuhrlich vorgestellt wird - wählt einen grundsätzlich anderen Zugang zu ihrem Gegenstand. Sie beinhaltet Erklärungsversuche, die unter dem Begriff Reduktionismus zusammengefaßt werden. Die Gemeinsamkeit reduktionistischer Erklärungsansätze - und deren gemeinsame Abgrenzung gegenüber Struktur- und/oder handlungstheoretischen Ansätzen - besteht darin, daß sie das Zustandekommen sozialer Integration auf Erklärungskonzepte anderer Wissenschaften reduzieren. So gab es z.B. in der frühen Soziologie Modelle, die Gesellschaft in Analogie zur klassischen Mechanik verstanden. In der Soziologie der Gegenwart bedient sich der Reduktionismus eher psychologischer Theorien oder verhaltenstheoretischer Modelle. Was die hier für diese Einführung ausgewählten Ansätze grundlegend von jeder Art von Reduktionsmus trennt, ist ihr Anspruch, daß sie Soziales aus Sozialem erklären wollen.

I. KAPITEL SOZIOLOGIE DER JAHRHUNDERTWENDE

20

Soziologie der Jahrhundertwende

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Abbildung 9: Das Sozialsystem

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Sozialsysteme werden von Parsons dadurch charakterisiert, daß sie in erster Linie sozial-interaktionale Probleme zu bewältigen haben. Anders ausgedrückt, müssen sie Handlungen zwischen Individuen koordinieren und sicherstellen, daß eine Konformität zwischen individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Strukturen hergestellt wird. Nach der Seite der handelnden Individuen hin gesehen, muß zu Handlungen motiviert werden, die sowohl affektiv (gefühlsmäßig) wie auch kognitiv (geistig) befürwortet werden: Individuen handeln in einer bestimmten Weise, wenn sie sich davon versprechen, einen wünschenswerten Zustand zu erreichen, und wenn sie zugleich auch von der Richtigkeit oder Angemessenheit einer Handlung überzeugt sind. Der Maßstab dafür, ob etwas wünschenswert ist, ist die innere Bedürfnisstruktur der Individuen. Die Bedürfhisstruktur der Individuen muß von sozialen Systemen insoweit berücksichtigt werden, als Handlungen mit entsprechenden Belohnungen und Strafen verknüpft werden. Die Richtigkeit oder Angemessenheit, die Individuen ihren Handlungen zuschreiben ergibt sich aus gesellschaftlich anerkannten Normen und Werten. - Vgl. Webers Begriff der Herrschaft, als legitimere Form der Machtausübung, die Gehorsam i. S. einer Bereitschaft auf Seiten der Individuen voraussetzt. - Parsons führt nun zwei Elemente an, die innerhalb sozialer Systeme dahingehend wirken, daß sie eine Konformität zwischen individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Erfordernissen herstellen und damit auch die Handlungen verschiedener Akteure koordinieren: Rollen und Institutionen. Rollen beinhalten Erwartungen an Handelnde in bestimmten Situationen, stellen somit Anforderungen der anderen Akteure und der Gesellschaft an Individuen dar. Über Rollen tritt aber nicht nur gleichsam die Gesellschaft an das Individuum heran. Da Rollen im Verlauf der Sozialisation erlernt werden und somit auch zu einem Bestandteil der jeweils eigenen Persönlichkeit werden, wird im Rollenhandeln nicht nur auf äußere Erwartungen reagiert, sondern das Individuum realisiert auch erlernte Wertvorstellungen. - Bei dieser äußerst knappen Darstellung des Rollenbegriffs und der sozialisationstheoretischen Annahmen von Parsons wird hier möglicherweise der Eindruck erweckt, zwischen Parsons und dem Symbolischen Interaktionismus würde es eher Übereinstimmungen als Differenzen geben. Auf die wesentliche Unterschiede dieser beiden Ansätze war bereits oben (2.4.) hingewiesen worden: Parsons unterstellt, daß die Orientierungen der Akteure und die gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie herangetragen werden, weitgehend übereinstimmen. Der Symbolische Interaktionismus betont hingegen, Differenzen, die erstens zwischen den Orientierungen verschiedener Akteure bestehen und zweitens auch zwischen den Orientierungen von Akteuren und institutionalisierten Normen. Während bei Parsons eine mangelnde Übereinstimmung ein Ausdruck unzureichender Institutionalisierung gesellschaftlicher Wertmuster ist oder eine Folge unangemessener Sozialisation der Individuen, wird diese Differenz von den Symbolischen Interaktionisten als eine unvermeidliche Bedingung angesehen, und die zudem genau das Spannungsverhältnis bezeichnet, aus dem heraus Impulse zu sozialem Wandel resultieren. Unter Institutionen versteht Parsons „Systeme von Erwartungsmustern ... (,die HM) so fest in das Handeln eingegangen sind, daß sie ganz selbstverständlich als

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legitim betrachtet werden" 24 . Nach dieser Definition bauen Institutionen in zweierlei Hinsicht auf Rollen auf, nämlich auf Erwartungen, die sich nicht lediglich auf einzelne Situationen beziehen, sondern die miteinander verknüpft sind, um umfassende Bereiche sozialen Lebens, wie z.B. das Verwandtschaftssystem, den Politikbereich, das Arbeitsleben und schließlich die soziale Schichtung abdecken. Schließlich bauen sie darauf auf, daß diese Erwartungen als legitim anerkannt werden. Während Parsons mit dem AGIL-Schema die Dimensionen einer soziologischen Analyse absteckt, eröffnet er mit dem Übergang zum Sozialsystem die Perspektive, aus der heraus innerhalb dieser Dimensionen soziale Tatbestände analysiert werden. Beide Voraussetzungen gehen in seine Theorie von Gesellschaft als Sozialsystem ein.

3.5. Gesellschaft als Sozialsystem Parsons betrachtet Gesellschaften als „die Klasse von Sozialsystemen, die den höchsten Grad an Autarkie (self-sufficiency) als System im Verhältnis zu ihrer Umwelt erreichen." 25 Dies bedeutet, daß Gesellschaft ebenso wie andere Sozialsysteme, wie z.B. Familien, Sportvereine, Unternehmen oder auch eine Übungsgruppe an der Universität in ihrem Kem eine Einheit ist, die Probleme bewältigen muß, die sich aus sozial-interaktionalen Zusammenhängen ergeben. Ihre zentrale Funktion, die sie im Zeitverlauf erfüllen muß, ist die Integration der verschiedenen Elemente, aus denen sie sich zusammensetzt. Was Gesellschaft nach dieser Definition von anderen Sozialsystemen unterscheidet ist, daß das Sozialsystem Gesellschaft innerhalb seiner Grenzen über weit mehr Ressourcen und Möglichkeiten verfügt, um ihren Bestand zu sichern: Familien haben z.B. in der Regel keine eigene Ökonomie, mittels derer sie ihr physisches Überleben sichern können. Sportvereine, Unternehmen und Übungsgruppen an der Universität müssen von außen Mitglieder rekrutieren, da sie - anders als die Gesellschaft - aus sich heraus keine natürlichen Nachkommen hervorbringen. Ebenso verfügt keines der genannten Sozialsysteme über ausreichende Möglichkeiten, um gesellschaftlich anerkannte Werte im Bedarfsfall auch gegen die Absichten ihrer Mitglieder durchzusetzen. Sie haben, anders als das Sozialsystem Gesellschaft, keine oder nur begrenzte Sanktionsmöglichkeiten. Theoristrategisch beinhaltet Parsons Sichtweise von Gesellschaft als Sozialsystem, daß alle Annahmen, die im Zusammenhang mit dem Sozialsystem gemacht wurden, auch auf die Gesellschaft zutreffen: Gesellschaft ist ein System, dessen Kernbereich Prozesse organisiert, die sich aus sozial-interaktionalen Zusammen-

24

Parsons, Talcott (1945) The Present Position and Prospects of Systematic Theory. Zu deutsch: Systematische Theorie in der Soziologie. Gegenwärtiger Stand und Ausblick. In: Ders.: Soziologische Theorie. Neuwied: Luchterhand, 1973, S. 56. 25 Parsons, Talcott (1966) Der Begriff der Gesellschaft: Seine Elemente und ihre Verknüpfungen. In: Ders., Zur Theorie sozialer Systeme. Herausgegeben und eingeleitet von Stefan Jensen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1976, S. 126.

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hängen ergeben. Da Gesellschaften in Austauschbeziehungen mit ihrer Umwelt stehen, müssen sie sich entsprechenden Anforderungen gewachsen zeigen. Dies erreichen sie dadurch, daß iie in ihrem Inneren Leistungsbereiche ausdifferenzieren, die jeweils auf spezielle Umweltanforderungen zugeschnitten sind. Dieser inneren Differenzierung entsprechend, bilden Gesellschaften Funktionen aus, die sie im Zeitverlauf gewährleisten müssen. Wenn Gesellschaft in dieser Weise konzipiert wird, so hat dies eine Konsequenz, die bereits in Parsons Modell des Sozialsystems auffällt: Menschen sind nicht mehr Teil der Gesellschaft, sondern als Persönlichkeitssystem einer der Umweltaspekte von Gesellschaft. Natürlich übersieht auch Parsons nicht, daß Menschen als eine besondere Art von Lebewesen in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Wenn er sie dennoch aus seinem Gesellschaftsmodell ausgrenzt, so vollzieht er damit eine bestimmte Abstraktion. Das, wovon er abstrahiert ist ein Aspekt, der im Symbolischen Interaktionismus besonders betont und hervorgehoben wurde: Der Mensch, der aufgrund seines Bewußtseins und seiner Fähigkeit zur symbolischen Interaktion in der Lage ist, die soziale Realität beständig neu zu schaffen, zu bestätigen, oder zu modifizieren. Bei Parsons haben Aspekte menschlicher Kreativität nur insoweit Platz, als sie institutionalisierte Wertmuster, d.h. eine fest verankerte symbolische Struktur bestätigen, konform mit geltenden gesellschaftlichen Normen handeln. Physisch zwar als komplette Menschen in der Gesellschaft präsent, finden sie aber nur insoweit Eingang in das Gesellschaftssystem, wie ihre Handlungen den Bestand der Gesellschaft aufrechterhalten. Was Parsons hier einfuhrt - und was später von Luhmann noch konsequenter fortgesetzt wird -, ist die Reduktion von Individuen auf ihre Mitgliedschaft in formalen Organisationen, in denen sie nicht als konkrete Personen, sondern nur hinsichtlich eines bestimmten Ausschnittes, nämlich ihrer Mitgliedschaftsrolle entsprechend, handeln. Wie tragfähig und dem Gegenstand angemessen ist nun eine solche Abstraktion? Im Berufsleben, im Verhältnis des Bürgers zum Staat trifft dieses Bild sicher weitgehend zu. Auch in vielen alltäglichen Situationen bewegen wir uns im Rahmen von Systemen und haben keine Möglichkeiten, die dort geltenden Normen unmittelbar umzugestalten. Wir müssen vielmehr zu konformen Handlungen bereit sein, um nicht als Mitglieder eines Systeme ausgeschlossen zu werden bzw. mit Sanktionen belegt zu werden. Als Frage bleibt allerdings bestehen, ob diese Abstraktion auch hinreichend ist, um alle Bereiche von Gesellschaft zu erfassen. Mit dieser Frage wird sich die im Kapitel III. referierte Position von Habermas ausführlicher befassen. 3.5.1. Interne Differenzierung des Gesellschaftssystems Da Parsons Gesellschaft als einen bestimmten Typus des Sozialsystems versteht, entspricht sein Modell von Gesellschaft dem Modell des Sozialsystems. Dies trifft zu, solange er ein theoretisches Konstrukt entwickelt. Gleichzeitig beabsichtigt er allerdings auch, dieses theoretische Konstrukt mit empirisch erfassbaren Gegebenheiten von Gesellschaften zu verknüpfen. D.h., er ordnet Bereiche gesellschaftlicher

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Soziologie

der fünfziger

Jahre

Wirklichkeit und theoretisch angenommene Strukturen und Funktionen einander zu. Bei dieser Verknüpfung von Empirie und analytischen Annahmen orientiert Parsons sich daran, welche spezialisierten Leistungen von real existierenden gesellschaftlichen Teilbereichen erbracht werden können:

L-Funktion

I-Funktion

(Aufrechterhaltung von Wertmustern)

(Integration)

Kultursystem

Gesellschaftliches Gemeinwesen

normativ-kultureller Zusammenhang

sozial-interaktionaler Zusammenhang

Ökonomie

Politik

Organisch-biologischer Zusammenhang

psychisch-motivationaler Zusammenhang

A-Funktion

G-Funktion

(Anpassung)

(Zielerreichung)

Abbildung 9: Gesellschaft als Sozialsystem

Soziologie der fünfziger Jahre

9 5

Den Kernbereich des Sozialsystems Gesellschaft bezeichnet Parsons als das gesellschaftliche Gemeinwesen (societal community). Das gesellschaftliche Gemeinwesen ist auf Probleme bezogen, die sich aus sozial-interaktionalen Zusammenhängen ergeben, und es erfüllt die I-Funktion. Das gesellschaftliche Gemeinwesen kommt seiner Integrationsfiinktion dadurch nach, daß es für die Akteure in der Gesellschaft eine gemeinsame kulturelle Orientierung verbindlich macht, individuelle Handlungen in der Weise integriert, daß sie auf gesellschaftlich geltende Normen und Werte bezogen werden. Wie dies im einzelnen geschieht, wird im folgenden Abschnitt über Integrationsmechanismen des Sozialsystems Gesellschaft ausfuhrlicher behandelt werden. Hier seien nur zwei Etappen dieser Integrationsleistung genannt: Innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft werden erstens gesellschaftliches Werte in Normen übersetzt. Zweitens werden diese Normen in Institutionen verankert und verbindlich gemacht und in Rollen, wo sie als Handlungsanweisungen für Individuen wirken. Das Kultursystem als Subsystem der Gesellschaft bezieht sich auf das Kultursystem als einem Aspekt der Umwelt von Gesellschaft. Durch die Ausdifferenzierung eines Kultursystems innerhalb ihrer Grenzen trägt die Gesellschaft der Tatsache Rechnung, daß Handeln immer in normativ-kulturelle Zusammenhänge eingebunden ist. Hinter dieser Annahme steht die Erfahrung, daß keine Gesellschaft sich auf Dauer aus sich selbst heraus legitimieren kann: Wenn gesellschaftliche Erwartungen an Individuen herangetragen werden und wenn Individuen aufgefordert werden, im Einklang mit diesen gesellschaftlichen Erwartungen zu handeln, dann wird von ihnen verlangt, daß sie Normen befolgen. Dies kann nicht ausschließlich damit begründet werden, daß „Gesellschaft" andernfalls zusammenbricht. - Dieses Phänomen war bereits in Max Webers Herrschaftsbegriff angeklungen. - Um dauerhafte und stabile Bindungen von Gesellschaftsmitgliedern zu gewährleisten, müssen die Normen, denen Handelnde folgen sollen, auch stets durch übergeordnete Werte begründet oder legitimiert sein. „Das Kultursystem strukturiert die Wertbindungen gegenüber der letzten Wirklichkeit um, es werden daraus sinnenhafte Orientierungen."26 Ebenfalls im Zusammenhang mit Max Webers Herrschaftsbegriff konnte gezeigt werden, daß Legitimationsmuster bzw. Wertsysteme sich auf unterschiedliche Grundlagen beziehen können. Während in früheren Gesellschaften Werte über den Glauben an die Tradition oder religiös begründet wurden, werden sie in unserer Gesellschaft über die Anerkennung von Menschenrechten legitimiert und über Argumente, die sich aus unseren Vorstellungen von Rationalität herleiten. Entsprechend den jeweiligen Wertmustern unterschiedlicher Gesellschaften gibt es in der sozialen Wirklichkeit verschiedene Weisen, mit denen Probleme des normativkulturellen Zusammenhangs bewältigt werden. War es z. B. vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit die Kirche, die Legitimationen für das damals bestehende Wertesy26

Ebd., S. 129.

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stem lieferte, so hat sich mit der Moderne ein Kultursystem als eigenständiger Bereich gegenüber Kirche und Tradition ausdifferenziert. Neben den Kulturwissenschaften im engeren Sinne ist es in der Moderne letztlich die Wissenschaft, die Elemente für unser rationales Weltbild hervorbringt. - Politik (polity) als Subsystem des Sozialsystems Gesellschaft bezieht sich auf das Persönlichkeitssystem als einen Aspekt der Umwelt von Gesellschaft. Die Verknüpfung von psychisch-motivationalen Zusammenhängen des Handelns und Politik, die dabei vorgenommen wird, fällt weniger überraschend aus, wenn man sich eine begriffliche Unterscheidung vergegenwärtigt, die im englischsprachigen Original betont, im Deutschen aber nicht eindeutig übersetzt werden kann. Während „politics" eher parteipolitische Handlungen meint, und Aktivitäten, die im Rahmen staatlicher Institutionen stattfinden, bezeichnet „polity" die politische Ordnung einer Gesellschaft, die, über den Bereich der Politik im engeren Sinne, in ein Gemeinwesen hinein reicht und es formt. Politik im Sinne von „polity" ist auf Probleme spezialisiert, die sich aus psychisch-motivationalen Zusammenhängen des Handelns ergeben, und sie erfüllt die Funktion der Zielerreichung (G-Funktion). Die Verknüpfung von Politik und Persönlichkeitssystem, die Parsons hier vornimmt, geht von folgender Überlegungen aus: „Es muß durch Lernprozesse die adäquate Motivation entwickelt und während des ganzen Lebens erhalten werden, an sozial positiv bewerteten und gesellschaftlich kontrollierten Interaktionszusammenhängen teilzunehmen." 27 Bedeutsam ist hierbei, daß es sich um kontrollierte Interaktionszusammenhänge handelt. Kontrolle setzt voraus, daß Herrschaft über ein bestimmtes Territorium ausgeübt werden kann, daß konkrete Personen, die sich an angebbaren Orten aufhalten, in ihrem Handeln beeinflußt werden. Hierzu werden vom Subsystem Politik Vereinigungsmuster28 bereit gestellt, über welche Akteure sozialisiert, motiviert, aber auch mit Hilfe von Sanktionen nachdrücklich angehalten werden, auf gesellschaftliche Ziele hin zu handeln. Diese Vereinigungsmuster begegnen uns als Nationalstaat, als Verwandschaftssystem, als Aspekte von Organisationen und in all den Formen, in denen Individuen sozialisiert werden, und in denen ihre Handlungen belohnt bzw. bestraft werden. Von seiner Funktion, der Zielerreichung (G-Funktion) her betrachtet, besteht die Leistung des Politik-Subsystems in einer Gesellschaft darin, daß sie „auf den Prozeß der Organisation kollektiven Handelns zur Erreichung kollektiv wichtiger Ziele" 29 einwirkt. Die Ökonomie als Subsystem des Sozialsystems Gesellschaft bezieht sich auf das Organismussystem als einen Aspekt der Umwelt von Gesellschaft. Dadurch, daß die Ökonomie auf den organisch-biologischen Zusammenhang, in den Handeln immer eingebunden ist, spezialisiert ist, erfüllt sie die Funktion der Anpassung (AFunktion). Jede Gesellschaft braucht eine Form des Wirtschaftens, über welche die Produktion und Verteilung von Gütern reguliert wird, um die physischen Bedin-

27

Parsons, Talcott (1966) Der Begriff der Gesellschaft: Seine Elemente und ihre Verknüpfungen. In: Ders., Zur Theorie sozialer Systeme. Herausgegeben und eingeleitet von Stefan Jensen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1976, S, 131. 28 Parsons, Talcott (1972) Das System moderner Gesellschaften. München: Juventa. 29 Parsons 1966, a.a.O. S. 133.

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gungen menschlichen Lebens - und damit einer Gesellschaft -, zu gewährleisten. Bereits oben (3.2.) wurde erläutert, daß daher auch Formen der Arbeitsteilung, Eigentumsformen, Märkte, Geldwesen und Technologie auf diesen organischbiologischen Zusammenhang verweisen. 3.5.2. Integrationsmechanismen des Gesellschaftssystems Bereits mit seiner Beschreibung der Handlungssituation (3.1.1.) hat Parsons eine Annahme über die Integration von Gesellschaft formuliert, nämlich die These der normativen Integration: Einzelhandlungen werden dadurch integriert, daß Individuen in ihren Handlungen Werte und Normen befolgen. Mit seinem Konzept des Sozialsystems hat er diese These erstens präzisiert: Indem Individuen in Rollen handeln, befolgen sie Normen, die vom Sozialsystem als Erwartungen an sie heran getragen werden. Zweitens hat er seine These von der normativen Integration erweitert: Normen regulieren nicht nur die Integration verschiedener Einzelhandlungen, sondern Normen steuern auch die Integration gesellschaftlicher Teilbereiche. Da einzelne Rollen nicht lediglich nebeneinander her bestehen, sondern aufeinander bezogen sind, organisieren sie umfassende Handlungsbereiche. Sie wirken damit wie bereits oben gesagt wurde - nicht lediglich als einzelne Handlungserwartungen, sondern sie bilden „Systeme von Erwartungsmustern" oder Institutionen. Auch die verschiedenen Institutionen einer Gesellschaft sind aufeinander bezogen und miteinander kompatibel. Über die normative Struktur wird schließlich auch der strukturelle Rahmen, innerhalb dessen Einzelhandlungen lokalisiert sind, integriert. Wie begründet Parsons nun, daß Normen - und nicht z. B. Macht, Tradition oder ein anderer Faktor - Integration sicherstellt? Als Integrationsmechanismus aüf der Handlungsebene führt er den Prozeß der Internalisierung an: Im Verlauf ihrer Sozialisation - und wie schon im Symbolischen Interaktionismus beinhaltet Sozialisation einen lebenslänglichen Prozeß und nicht lediglich die frühkindliche Sozialisation - werden Individuen mit sozialen Rollen vertraut gemacht. Zunächst über Interaktionen innerhalb der Familie und dann zunehmend über Beziehungen zu Personen außerhalb der Familie machen Kinder und Heranwachsende die Erfahrung, daß verschiedene Bezugspersonen nicht nur in unterschiedlicher Weise handeln, sondern auch unterschiedliche Erwartungen an sie stellen. Mit Parsons Begriffen ausgedrückt, findet ein Prozeß statt, in welchem gelernt wird, soziale Objekte zu differenzieren. Während die Interaktionisten hierbei nochmals eine Differenzierung zwischen dem signifikanten andern und dem generalisierten anderen hervorheben, betont Parsons die Differenzierung zwischen unterschiedlichen generalisierten anderen, also zwischen verschiedenen sozialen Rollen. Parsons versteht Sozialisation demnach - ebenso wie der Symbolische Interaktionismus - als einen Prozeß, in dem soziales Wissen erworben wird, wobei dieses Wissen von Person zu Person überwiegend Gemeinsamkeiten aufweist und sich konform zu gesellschaftlichen Nonnen verhält. So kann Parsons eine enge Verschmelzung zwischen den Individuen und ihren Rollen annehmen. Die Normen, die in einzelnen Rollen enthalten sind, werden so, über den Prozeß der Sozialisation, zum Bestandteil der Persönlich-

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keitsstruktur der handelnden Individuen. Die Rollenaufforderung, ζ. B. im Rahmen einer Berufsrolle rational zu handeln, wird zu einem Bedürfnis der Rollenspieler und zu einer Norm, die sie auch als legitim und vernünftig anerkennen. Die Rollenanforderung deckt sich mit der Motivation und mit der Einsicht der Handelnden, wird affektiv und kognitiv vom Handelnden getragen. Im Symbolischen Interaktionismus werden Rollenerwartungen als etwas verstanden, was von außen - von der Gesellschaft - an die Akteure heran getragen wird. Nach Parsons stellen Rollenerwartungen auch externe Anforderungen an Individuen dar, aber diese Anforderungen entsprechen auch den Bedürfhissen und Einsichten der Individuen. Sozialisation führt nach Parsons zu Internalisierung, zur psychodynamischen und kognitiven Verankerung gesellschaftlicher Normen in Individuen. Die Bereitschaft, gesellschaftlichen Normen folgend zu handeln, bedeutet daher auch nicht, sich etwas Fremdem und Äußerem anzupassen, sondern beinhaltet vielmehr, im Einklang mit der eigenen Identität zu handeln. Analog zum Prozeß der Internalisierung auf der Handlungsebene, nimmt Parsons auf der Strukturebene Prozesse der Institutitionalisierung an: Im Verlauf ihrer Institutionalisierung werden Werte und Normen in Regeln für konkrete Handlungssituationen umgesetzt und auch strukturell verankert. Die Werte, auf die eine Gesellschaft sich bezieht, sind im Kultursystem - einem Umweltaspekt von Gesellschaft - begründet. Freiheit z. B. ist ein Wert, der zunächst religiös, oder im Rahmen eines bestimmten Menschenbildes oder einer speziellen Ethik begründet ist. Als Sozialsystem operiert die Gesellschaft primär um sozial-interaktionale Probleme, ihre zentrale Aufgabe besteht in der Aufrechterhaltung der I-Funktion. Freiheit kann daher nicht bedeuten, daß jeder in der Gesellschaft beliebig tun und lassen kann, was er möchte, sondern, daß eine Integration unzähliger Einzelhandlungen unter freiheitlichen Bedingungen stattfindet. Es muß also eine Spezialisierung dieses Wertes stattfinden. Im Zuge seiner Spezialisierung wird der Wert Freiheit auf die Funktionsfähigkeit verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche zugeschnitten. Im Bereich der Ökonomie etwa beinhaltet Freiheit zunächst, daß Besitzansprüche einer Sklavenhalter- oder Feudalgesellschaft aufgelöst werden. Positiv ausgedrückt bedeutet Freiheit dort, daß Individuen frei sind, um die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und freie Arbeitsverträge abzuschließen zu können. Im Bereich der Politik beinhaltet Freiheit, daß es jedem frei steht, zu wählen und sich wählen zu lassen. Freiheit in der Familie schließlich setzt voraus, daß keine Person völlige Verfügungsgewalt über eine andere hat. Neben der Spezialisierung von Werten für verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche findet eine Spezialisierung der entsprechenden Normen für unterschiedliche Rollen statt. Freiheitsrechte in der Familie stellen sich für Eltern anders dar, als für Kinder; in einem Unternehmen eröffnen sich für Arbeitnehmer und für Arbeitgeber jeweils unterschiedliche Freiheitsrechte. - Spezialisierung beschreibt letztlich einen Prozeß, in dessen Verlauf kulturell begründete Werte als konkrete Orientierungen für Individuen kleingearbeitet werden, und nur unter dieser Voraussetzung können sie überhaupt handlungsrelevant werden.

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3.6. Evolution Die strukturell-funktionale Systemtheorie von Parsons versteht sich als ein heuristischer Bezugsrahmen von sehr hohem Allgemeinheitsgrad. Sie soll als Analyserahmen für jeden Typus von Gesellschaft gelten und nicht lediglich für eine historischspezifische Gesellschaftsform. In den folgenden Abschnitten wird dargestellt werden, daß die Systemtheorie sich dennoch auf einen speziellen Gesellschaftstypus bezieht, nämlich auf die Moderne. Wird sie auf Gesellschaften angewendet, die bestimmte Merkmale der Moderne nicht ausgebildet haben, so erscheinen diese Gesellschaften als rückständig oder als „Abweichungen". Mit dieser Beurteilung wird auch ein Werturteil gefällt. Die Grundlage dieses Werturteils klärt sich im Zusammenhang mit Parsons Konzept von sozialer Evolution. 30 Zunächst wird Evolution formal - und damit wertfrei - als ein Prozeß verstanden, dessen Verlauf in Stufen stattfindet, wobei diese Stufen von niederen zu höheren Existenzformen führen. Auch der Maßstab für die Beurteilung von nieder und höher bzw. von Fortschritt und Rückständigkeit wird zunächst formal bestimmt: Im Verlauf evolutionärer Prozesse können Gesellschaften ihre Anpassungsfähigkeit an Umweltbedingungen steigern und damit ihre Überlebensfähigkeit besser sichern. Während etwa ein Sozialverband auf niedrigerer Entwicklungsstufe aufgrund einer Mißernte von seiner physischen Vernichtung bedroht sein kann, wird eine entwikkeltere Gesellschaft vermittels Martkbeziehungen und dem Einsatz von Technologien zur Erzeugung von Nahrungsmitteln eine solche Katastrophe eher überleben. Im Prozeß der Evolution unterscheidet Parsons verschiedene Stufen sozialer Entwicklung danach, welche evolutionären Universalien Sozialverbände hergebracht haben, welche Errungenschaften, die ihnen quasi als Stützpfeiler für ihren Bestand und für ihre weitere Entwicklung dienen. Bedeutende evolutionäre Universalien sind die Schriftsprache, das formalisierte Rechtssystem, Geld und Märkte. Durch Schriftsprache werden das kollektive Gedächtnis und die Lernfähigkeit einer Gesellschaft enorm erweitert, da wesentlich mehr Wissen gespeichert werden kann, als bei mündlicher Überlieferung. Mit der Einrichtung eines formalisierten Rechtssystems wird die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht mehr fallweise von einer Autoritätsperson ausgelegt, sondern es entsteht ein Regelkanon, der mehr Erwartungssicherheit gewährleistet. Über die Entwicklung von Geld und Märkten schließlich wird die Versorgung mit und Verteilung von Gütern weiträumiger und damit unabhängiger von situativen Zufallsbedingungen. Steigerung der Anpassungskapazität als Ziel evolutionärer Entwicklung und auch die Ausbildung der gerade vorgestellten evolutionären Universalien beschreiben Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung, ohne eine Wertung zu beinhalten. Werturteile nimmt Parsons dort vor, wo er die Mechanismen, die soziale Evolution 30

Dazu vgl. insbes.: Parsons, Talcott (1972), Das System moderner Gesellschaften. München: Juventa.

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vorantreiben, genauer darstellt und inhaltlich füllt. 3.6.1. Das System der modernen Gesellschaften: Orientierungsalternativen Auf der Handlungsebene geht gesellschaftliche Entwicklung mit einer Differenzierung von Wertmustem einher. In der Moderne sind Individuen aufgefordert, Situationen zu definieren und diesen Situationsdefinitionen entsprechend zu Handeln. Sie sind nicht mehr, wie in vormodernen Gesellschaften, in traditionelle Bezüge eingebunden, die ihnen mehr oder weniger eindeutige Handlungsvorschriften machen. In der Moderne müssen sie vielmehr Entscheidungen zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten treffen. Jede Handlung, so Parsons, verlangt vom Handelnden bestimmte Definitionen - der Symbolische Interaktionismus würde sagen, Interpretationen -: Der Handelnde hat die Situation, in der er sich befindet, zu definieren, d.h. er muß eine Entscheidung treffen, wie er sich als Person zu der speziellen Situation verhalten will, und er muß sich entscheiden, welche Beziehung er zu sozialen Objekten herstellen, will, denen er in dieser Situation begegnet. In einer empirischen Studie über das berufliche Handeln von Ärzten hat Parsons grundlegende Orientierungsalternativen herausgearbeitet, die mit jeder Situationsdefinition vollzogen werden: Der Arzt bezieht sich affektiv-neutral und nicht affektiv auf seine Tätigkeit. Er wird nicht aus Mitleid oder aus einem anderen Gefühl heraus als Arzt tätig, sondern weil ein sachliches Problem vorliegt, das er als Experte lösen kann. Er übt seine Tätigkeit universalistisch und nicht partikularistisch aus. Jeder, der mit gesundheitlichen Störungen zu ihm kommt, muß von ihm behandelt werden und nicht lediglich Personen, die hinsichtlich ihres Einkommens, ihrer Bildung, ihres Sozialprestiges oder sonstiger Merkmale einer bestimmten Gruppe zugehören. Daß der Arzt seine Tätigkeit ausübt, basiert auf erworbenen und nicht auf zugeschriebenen Merkmalen. Er hat eine berufsspezifische Ausbildung abgeschlossen - sein Titel „Arzt" macht dies nach außen deutlich - und diese Ausbildung alleine ist die Voraussetzung und nicht etwa ein angeborenes oder zugeschriebenes Merkmal. Schließlich bezieht er sich spezifisch und nicht diffus auf seinen Patienten. Er versucht ausschließlich insoweit Einfluß auf das Verhalten seines Patienten zu nehmen, wie es im Zusammenhang mit seiner Gesundheit relevant ist. Um die Moral, die politische Einstellung seines Patienten oder um seinen allgemeinen Lebensstil kann er sich nur insoweit kümmern, als es dessen Gesundheit berührt. Diese Orientierungsalternativen, die Parsons zunächst am Beispiel des Arztes vorstellt, betrachtet er als charakteristisch für Handeln in der Moderne insgesamt, und in ganz besonderem Maße für berufliches Rollenhandeln. Die Nähe zu Webers Typus zweckrationalen Handelns ist deutlich und jetzt zeichnet sich auch ab, welche inhaltlichen Werte und Normen Parsons mit seiner These der normativen Integration verbindet: Evolution wird mit Rationalisierung, wie sie bereits von Weber und seiner Zeit thematisiert wurde, verknüpft.:

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traditional

modern

affektiv

affektiv neutral

partikularistisch

universalistisch

zugeschrieben

erworben

diffus

spezifisch

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Abbildung 10: Orientierungsalternativen

Indem Akteure ihre Handlungen an modernen Orientierungsmustern ausrichten, handeln sie rational, d. h. zweckrational. Interaktionen verlieren an persönlicher Willkür, da sie affektiv neutral ausgerichtet sind: Universalistische Orientierungen, die unbesehen von sachfremden Erwägungen sind, ermöglichen soziale Mobilität, da eben alleine die Sache zählt und nicht Bedingungen, die jenseits eines konkreten Sachbezuges von Bedeutung sind. Daß erworbene Kriterien in Handlungskontexten wirksam werden, verweist auf individuelle Leistung und auf Merkmale der Sozialstruktur, die Max Weber mit dem Klassenbegriff gefaßt hat. Die Betonung spezifischer Orientierungen schließlich erinnert an Max Webers These von der „Herrschaft kraft Wissen", die er im Zusammenhang mit seiner Analyse der Bürokratie entwickelt hat. Was sich demnach für Parsons als höchster Wert der Gesellschaft seiner Zeit darstellt, ist Rationalität im Sinne einer Vorstellung, die Freiheit von traditionellen Zwängen und Beschränkungen, Freiheit von persönlicher Willkür. Sie beinhaltet Transparenz, Berechenbarkeit, Planbarkeit und die Möglichkeit, gegebene Bedingungen über den Einsatz von Technik und Wissenschaft zu gestalten. Kurz gesagt sind es die Orientierungsweisen, die er zu seiner Zeit in den USA - im Vergleich zu anderen Ländern - am ausgeprägtesten verwirklicht sah. Und zwar drückten sie sich dort insbesondere aus in der Betonung des individuellen Leistungsprinzips, in der Berufsstruktur, im System der sozialen Schichtung und in der politischen Verfassung.

3.6.2. Das System der modernen Gesellschaften: Gesellschaftliche Differenzierung Auf der Strukturebene zeichnet sich das System der modernen Gesellschaften durch seine interne Differenzierung hinsichtlich Kultur, gesellschaftlicher Gemeinschaft,

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Politik und Ökonomie aus. Es sind eben die Subsysteme, die er in seinem AGILSchema dargestellt hat, und die er - unter theoretischen Gesichtspunkten - als Erfordernis flir die Überlebensfähigkeit sozialer Systeme hervorgehoben hat. Daß es in der sozialen Realität zur Ausdifferenzierung dieser vier Bereiche gekommen ist, verdankt sich historisch gesehen einem lang dauernden Prozeß: Auf frühen Stufen sozialer Entwicklung waren Sozialverbände Einheiten, in denen Verwandschaftsbeziehungen, Ökonomie, Machtbefugnisse und kulturelle Überlieferung untrennbar miteinander verknüpft waren. Im Zuge der Entwicklung von Hochkulturen fanden Differenzierungsprozesse in unterschiedlichen Varianten statt, aber erst auf dem Weg zur Moderne beobachtet Parsons eine trennscharfe Differenzierung zwischen gesellschaftlicher Gemeinschaft, Politik, Ökonomie und Kultursystem. Die Ausdifferenzierung eines relativ eigenständigen Kultursystems hat ihren historischen Ursprung in der Renaissance. Damals vollzog sich eine Trennung zwischen kirchlicher und weltlicher Kultur und erst unter der Voraussetzung, daß der Kirche nicht mehr die ausschließliche kulturelle Definitionsmacht in der Gesellschaft zukam, konnte die moderne Wissenschaft entstehen. Galilei war einer der ersten, die die Zeitenwende einläuteten, indem er seine Auffassung von der Beschaffenheit der Welt eben nicht mehr aus der Lektüre der Bibel, sondern über das begründetet, was er durch ein Fernrohr sah. Die Ausdifferenzierung eines ökonomischen Subsystems wurde historisch durch die Industrialisierung hervorgebracht. Es fand die bekannte Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte statt und die Auslösung der Produktion aus traditionellen Bindungen und Beschränkungen, wie sie durch Zünfte, Stände und den absolutistischen Staat gegeben waren. Die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Politikbereiches schließlich betrachtet Parsons als ein Resultat demokratischer Revolutionen, wie sie in England, Frankreich und den USA stattgefunden haben. Ihnen allen gemeinsam ist, daß sie den Staat als eine Einrichtung betrachten, der den Willen des Volkes verkörpern sollte. Entsprechend den Orientierungsalternativen, sah Parsons zu seiner Zeit Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung ebenfalls in den USA am weitesten vorangeschritten: Die industrialisierten Länder Europas waren zwar nahe am Entwicklungs, d.h. Differenzierungsgrad, der USA, aber immer noch mit der Last überkommener Traditionen behaftet. Diese wirkten sich insbesondere in den Handlungsorientierungen der Mitglieder dieser Gesellschaften aus, und sie drückten sich in einem geringen Modemisierungsgrad politischer Institutionen aus. - Den Faschismus in Deutschland sah Parsons hauptsächlich darin begründet, daß in Deutschland die industrielle Revolution sehr spät und dafür mit einem rasanten Tempo stattgefunden hat. Die Modernisierung der Politik konnte mit der Modernisierung der Ökonomie nicht gleichziehen.31 - Für Länder der Dritten Welt, die nicht aus sich heraus den Schritt zur Modernisierung vollzogen hatten, sah Parsons in den USA ein vorbildliches Modell, dem sie im Rahmen induzierten (einem von außen hereingetragenen) sozialen Wandels nachfolgen sollten. Die expansive Außenpolitik der USA, die in den 50er und 60er Jahren ihren Höhepunkt hatte, beruhte auf ähnlichen Begründun31

Parsons, Talcott (1942), Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany. In: Ders.: Essays in Sociological Theory. New York/London: The Free Press, 1949, S. 104-123.

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gen. Die Sowjetunion schließlich, die - bereits seit dem 1. Weltkrieg, mehr aber noch seit dem 2. Weltkrieg - als Gesellschaftsmodell in Konkurrenz zu dem der USA stand, interpretierte Parsons als einen alternativen Entwurf gesellschaftlicher Modernisierung. Ihre Überlebenschancen als Gesellschaftssystem beurteilte er allerdings als dem der USA unterlegen, da in der Sowjetunion Politik und Ökonomie nicht hinreichend genug voneinander ausdifferenziert seien. D. h. das Subsystem Ökonomie, daß wie alle übrigen Subsysteme in relativer Unabhängigkeit von seinen Umwelten operieren muß, sah er dort zu sehr von Erfordernissen des Politiksystems dominiert. Die Sowjetunion stellt für ihn daher das klassische Beispiel für eine „Abweichung" vom Pfad der Modernisierung dar. Auch wenn Parsons den USA eine Vorbildfunktion für gesellschaftliche Entwicklung einräumt, so verkennt er doch nicht Probleme, die diese Gesellschaft hat. Ereignisse aus den 20er Jahren, wie das organisierte Verbrechen und die Weltwirtschaftskrise hat er weder als Betriebsunfälle wahrgenommen, noch gar verdrängt. Sie stehen für ihn eher als Anlässe dafür, daß die bestehende soziale Struktur noch weiter auszudifferenzieren und, daß das Normensystem, welches ihr zugrunde liegt, noch stärker institutionell abzusichern sei. Ein weiteres gesellschaftliches Problem, das gerade in den 50er Jahren - also auch dem Höhepunkt der Anerkennung und Verbreitung seiner Theorie - in den USA unübersehbar war, war die Diskriminierung der Schwarzen. Auch hier diagnostizierte er die Ursache in unzureichenden Differenzierungsprozessen: Es verweist auf die Notwendigkeit, demokratische Prozesse noch stärker zu institutionalisieren und das Bildungssystem noch weiter auszudifferenzieren, um vollständige Chancengleichheit zu gewährleisten. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß Parsons die USA als Gesellschaftssystem nicht idealisiertes. Aber er beurteilt sie als eine Gesellschaft, die - unter Systemerfordernissen betrachtet - ein Höchstmaß an Überlebensfähigkeit erreicht hat. Auf der Handlungsebene, also als Vorzug für die Menschen die dort leben, hebt er hervor, daß im amerikanischen Modell den Individuen ein Maximum an Freiheitsmöglichkeiten geboten wird. Die Freiheit die sie dort vorfinden, ist der institutionalisierte Individualismus (institutionalized individualism)32, die Freiheit in den engen, aber zuverlässigen Rahmenbedingungen des Systems. Und auch hier wieder wandelt Parsons auf den Pfaden Max Webers, der die Vorzüge gesellschaftlicher Rationalisierung darin sieht, daß soziale Beziehungen für Individuen transparenter und kalkulierbarer werden, da persönliche Willkür und die damit verbundene Unberechenbarkeit zurückgedrängt werden, wobei sie sich aber auch ein Gehäuse der Hörigkeit (Weber) einhandeln, dem sie individuell nicht entrinnen können.

32

Parsons, Talcott/Platt, Gerald M. (1973) The American University. Zu deutsch: Die amerikanische Universität. Frankfurt: Suhrkamp, 1990.

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4. Gesellschaftliche Entwicklung und Soziologie der fünfziger Jahre Der Symbolische Interaktionismus befaßt mit den Voraussetzungen, die Individuen zu symbolisch vermittelter Interaktion befähigen und sein zentrales Thema ist, in welcher Weise über symbolisch vermittelte Interaktion die soziale Welt geschaffen, bestätigt oder verändert wird. Die Analyse des Symbolischen Interaktionismus beginnt nicht beim individuellen Akteur, sondern mit der Interaktion. Er hat also einen Handlungsbegriff, bei dem Handeln schon immer auf andere bezogen ist, und damit erscheint auch Sozialisation und der Prozeß der Identitätsbildung als ein sozialer Vorgang. Die Voraussetzungen, die Menschen zu symbolisch vermittelter Interaktion befähigen, insbesondere das dazu erforderliche soziale Wissen, wird dabei als etwas erkennbar, das nicht psychologisch, sondern eben soziologisch zu erklären ist. Da der Symbolische Interaktionismus den Aufbau der sozialen Welt aus der Perspektive der handelnden Individuen verfolgt, kommt er allerdings nur zu einem vagen Strukturbegriff. Welche Rahmenbedingungen - zwar durch menschliches Handeln hervorgebracht, aber über Generationen verfestigt und gegenüber den Absichten von Akteuren verselbständigt - jenseits Interaktion und Kommunikation die Integration der Einzelhandlungen in einer Gesellschaft sicherstellen, bleibt weitgehend offen. Parsons nun untersucht die Struktur sozialer Systeme, welches Muster Rahmenbedingungen sozialer Interaktionen aufweisen und welche Leistungen, welche Funktionen, sie im Zeitverlauf erfüllen. Es werden nicht mehr handelnde Individuen untersucht, sondern Handlungen von Individuen, die sich konform auf Systemerfordernisse beziehen und darüber diese Systeme aufrecht erhalten. Daß Individuen bei Parsons auf Mitgliedschaftsrollen reduziert werden, ist einer der Gründe, weshalb mit der Entfaltung der Moderne - und damit mit einem Gesellschaftstypus, wie er über das AGIL-Schema theoretisch abgebildet ist und in den USA real verwirklicht - gesellschaftliche Entwicklung zu einem Ende gekommen zu sein scheint. Parsons Evolutionstheorie folgend, ist keine gesellschaftliche Entwicklung denkbar, die das Grundmuster dieser Art von Gesellschaftssystem verändert, sondern lediglich graduelle Entwicklungen innerhalb dieses Musters, die es - unter Beibehaltung seine Wertmusters - weiter differenzieren. Während im Symbolischen Interaktionismus die Individuen beständig eine Identitätsbalance zwischen gesellschaftlichen Erwartungen (me) und ihrer Subjektivität (7) herstellen müssen und sich daraus folgend auch in Interaktionen jeweils über gemeinsame Situationsdefinitionen einigen müssen, wodurch gesellschaftliche Veränderungen hervorgebracht werden können, fehlt bei Parsons ein entsprechender Motor. Ein weiterer Grund ist, daß Parsons eben auch Annahmen über die Inhalte der Wertstruktur moderner Gesellschaften verallgemeinert. Gerade in seiner Betonung des institutionalisierten Individualismus als einer Errungenschaft, hatte sich die Nähe zu Webers Vorstellungen von Rationalität gezeigt. Daß er in der entfalteten Rationalisierung den Fortschritt schlechthin verwirklicht sah, wurde Parsons als Sichtweise des WASP-America

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(white, anglo-saxon and protestant A nerica) vorgeworfen. Im Weltbild des WASPAmerica finden sich die zentralen Wertvorstellungen der amerikanischen Gründerväter, auf die bereits im Zusammenhang mit Max Webers Protestantischer Ethik eingegangen wurde. Dieses Wertmuster per se als fortschrittlich und vorbildlich zu betrachten, beinhaltet auch ein erhebliches Stück Ignoranz gegenüber den Wertmustern anderer Kulturen bzw. im eigenen Land auch gegenüber den Subkulturen anderer sozialer Schichten. Gerade ab Ende der 60er Jahre wurde der Vorbildcharakter und der ausschließliche Anspruch des Wertmusters des WASP-America nachdrücklich in Frage gestellt: Unruhen und Kämpfe in den schwarzen Ghettos und Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt resultierten sicher auch daraus, daß verschiedene Gruppen in den USA und Nationen außerhalb der USA nur geringe Chancen hatten, an den im amerikanischen Modell versprochenen individuellen Freiheitsmöglichkeiten zu partizipieren. Sie enthielten aber bereits auch einen Protest gegen den american way of life und insbesondere dagegen, daß er die kulturellen Traditionen anderer Länder und anderer Schichten als die des WASP-America diskriminierte und sogar zerstörte.

III. KAPITEL SOZIOLOGIE DER ACHTZIGER JAHRE

USA: Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki/ D: Kapitulation und Aufteilung in Besatzungszonen

1939 1945

L.: Abteilungsleiter, Sozialforschungsstelle 1965

USA: Beginn des Luftkrieges über Vietnam

Berlin: Mauerbau

L.:: Studium, Harvard; danach Aufbaustu- 1961 dium Verwaltunswissenschaft/ Speyer Habermas: Habilitation/Marburg, Professur f. Philosophie/ Heidelberg

H.: Professur Philosophie und Soziologie 1964 in Frankfurt

„Sputnikschock"

1956 1957

Luhmann: Verwaltungstätigkeit

H.: Assistent, Institut für Sozialforschung 1955 (Frankfurt)

1949

Ende der Berlin-Blockade

1.9. Deutsche Truppen marschieren nach Polen ein

1933

1946

Wahlsieg Hitlers; Brandstiftung im Reichstag; USA: New Deal (Roosevelt: Programm staatsinterventionistischer Reformen)

1929

* Habermas

L. beginnt Jura Studium in Nürnberg

29. Oktober, Schwarzer Freitag

1927

* Luhmann

108 Soziologie der achtziger Jahre

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