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German Pages [158] Year 2010
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Rolf Füllmann
Einführung in die Novelle
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2010 by WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Mechthilde Vahsen, Düsseldorf Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-21599-7
Inhalt I. Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsbestimmung der Novelle im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der Novelle von der Anekdote, dem Kunstmärchen und der Kurzgeschichte . . . . . . . . . .
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II. Überblick über die Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . .
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III. Methoden der Novelleninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle . . . 2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen . . . . .
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Novellistisches Erzählen vor der Goethezeit . . . . . . . . . 2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz (1770–1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Novelle des Realismus (1848–1890) . . . . . . . . . . 4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne (1890–1945) 5. ,Kahlschlag‘ und Fortführung der Tradition: Kurzgeschichte und Novelle in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . 6. Gegenentwürfe, postmoderne Parodien und Variationen: die Novelle seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . .
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke . . . . . . . . . 1. Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo 2. Goethes Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe . 4. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel . . . . . . 5. Thomas Manns Mario und der Zauberer . . . . . . 6. Günter Grass’ Im Krebsgang . . . . . . . . . . . .
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Kommentierte Bibliographie
Synopse zur Kultur- und Gattungsgeschichte
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gattungsbegriff 1. Begriffsbestimmung der Novelle im deutschsprachigen Raum Der Novellenbegriff ist ein Lehnwort, das erst am Ende des 17. Jahrhunderts den deutschen Sprachraum erreichte. Wolfgang Rath hält hierzu fest: „1692 bis 1697 erschienen in Frankfurt und Gotha Novellen aus der gelehrten und curiosen Welt“ (Rath 2008, 81). Das Wort Novelle, das zunächst ,Neue Begebenheit‘ oder ,Nachricht‘ bedeutet, tritt in der romanischen Welt recht früh als Bezeichnung von Kurzerzählungen auf, nicht nur im Italienischen des Mittelalters, sondern auch im Französischen und Provenzalischen, z. B. bei Raimon Vidal (um 1213). Die später sowohl von Paul Heyse (1830–1914) als auch von Paul Ernst (1866–1933) zu Novellen verarbeiteten Lebensgeschichten der provenzalischen Troubadoure, von denen viele um 1230 von Uc de Saint Circ in Italien verfasst wurden, gelten als frühe Vorläufer der Novellistik. Das Italienische gebraucht den Begriff der ,novella‘ denn auch als frühe Übernahme aus dem Provenzalischen. Erste Nachweise bei italienischen Poeten finden sich unter anderem bei Francesco da Barberino (1264–1348) und bei Giovanno Boccaccio (1313–1375) selbst (vgl. Krömer 1973, 16), wobei man annehmen kann, dass der Begriff schon Jahrzehnte vorher im Gebrauch war. Boccaccio spielte hierzulande wie südlich der Alpen früh eine zentrale Rolle in der Geschichte der Gattung Novelle. Die letzte Novelle seiner Novellensammlung Dekameron (X, 10), „die Geschichte von Griselidis“, wurde „schon 1432 von dem Nürnberger Kartäusermönch Erhart Grosz […] in deutsche Prosa gebracht“ (Heinzle 1981, 27). Die deutsche Publikationsgeschichte des Dekamerons schließt sich mithin chronologisch eng an die italienische an. „Nur kurze Zeit nach dem Venezianer Druck […] des italienischen Originals (1471) erscheint im Jahre 1472 oder 1473 in Ulm die erste Gesamtübersetzung“ (ebd.) durch einen Gelehrten mit dem Pseudonym Arigo. Was hat es nun mit dieser Gattung auf sich? In der komischen Oper bzw. Operette Boccaccio von Franz von Suppé (1879), die im Florenz des 14. Jahrhunderts angesiedelt ist, bietet ein öffentlicher Buchverkäufer „neueste Novellen“, angeblich „aus den besten Quellen“, feil. Der Chor, das heißt das städtische Publikum der Renaissance, antwortet sogleich: „Novellen? Schnell hierher!“ (Suppé 1941, 10). Die Novelle scheint demnach den Librettisten Camillo Walzel und Richard Genée in der Gründerzeit, die mit Theodor Storm und Gottfried Keller auch eine Hochzeit der Novelle war, eine sehr publikumswirksame Gattung zu sein. Der Kolporteur preist anschließend Werke von verschiedenen Novellisten der Renaissance (Sacchetti, Fiorentino) an, um dann zum Meister der Novelle (und zum Titelhelden des Musikdramas) selbst zu kommen: „Doch mit niemand zu vergleichen/Und von keinem zu erreichen/Unterhält und stimmt uns froh/Giovan-
Der Ursprung des Novellenbegriffs
Boccaccio
Der populäre Novellenbegriff
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I. Gattungsbegriff
Novellenbegriff und Neuigkeit
Novellenbegriff und Novellenideal
Der Novellenbegriff als ,metaphysisches‘ Ideal
ni Boccaccio!“ (ebd.). Die Novelle ist demnach eine vor allem unterhaltende Gattung. Dies ist eine Einschränkung, die bis in die Goethezeit, in die Zeit der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), gilt und erst durch die Schicksalsnovelle in der Nachfolge Kleists relativiert wurde. Interessant erscheint dann aber bei Suppé auch eine geschlechtsspezifische Reaktion auf der Bühne: Während die Frauen mit dem Ausruf: „Ganz verlockend, interessant!“ auf die Ankündigung der neuesten Novellen Boccaccios reagieren, urteilen die Männer: „Nichts als Lüge, Schmach und Schand!“ (ebd.). Die Novelle erscheint also als Gattung des ,Unerhörten‘, des Skandals und als vornehmlich weibliche Gattung (vgl. Schlaffer). Das Publikum der vornehmen Gesellschaft in der Rahmenhandlung von Boccaccios Dekameron (1349–1353) wurde folglich auch von ,Hohen Frauen‘ dominiert. In jedem Fall jedoch präsentiert sich die Novelle dem Theater- wie dem Lesepublikum des 19. Jahrhunderts als romanische, italienische Gattung. Für den Kunstgelehrten Karl Friedrich Rumohr (1785–1843) stand folglich fest, dass die „Novelle, in ihrem ursprünglichen Verstande genommen, eine Form der Erzählung ist, welche ausschließlich der italienischen Literatur angehört. Der Name ist so alt, wie die Gattung selbst, und so bezeichnend als möglich. Novella nämlich, gleichwie das Abgeleitete: novellare und novellatore, kommt von nuova, Neuigkeit, Nachricht […] Ursprünglich bezeichnete es also: Erzählung von den Ereignissen des Tages“ (Polheim 1970, 46). Die Verbindung zwischen neuester Nachricht und Novelle wird allein darin deutlich, dass diejenigen altitalienischen Novellen, die zeitgenössische Begebenheiten widerspiegeln, oft mit präzisen Orts- und Datumsangaben eingeleitet werden. Auch noch im deutschen Barock gilt ,Zeitung‘ als Synonym für Novelle (vgl. Breuer 2001a, 203). Den Begriff selbst gab es damals in der deutschen Poetik noch gar nicht, die Gattung – spätestens seit den Dekameron-Übertragungen und den Druckausgaben des 15. Jahrhunderts – durchaus. Was ist dann aber eine Novelle mehr als eine bloße Erzählung mittlerer Länge, wie der Schweizer Germanist Emil Staiger (vgl. Polheim 1965, 9) sie definiert haben soll? Die Antwort könnte sein: Sie soll etwas anderes als eine bloße Erzählung sein. Die Novelle setzt sich von anderen Prosaformen ab, indem sie als Erzähltext bestimmte feste Strukturen haben soll. Sie soll z. B. einen festen Rahmen haben. Ihr Erzählen soll nicht nur ein Fluss, sondern durchkomponiert sein. Die Novelle soll sich nicht in Schilderungen ergehen, sondern eine straffe Handlung mit einem oder mehreren Wendepunkten haben. Sie soll des Weiteren durch bestimmte, sich wiederholende Themen oder Motive strukturiert sein. Ob das, was zumeist von einem Autor, bisweilen aber auch erst im Nachhinein von einem klugen Verleger als Novelle tituliert wird, diesen Kriterien gerecht wird, ist eine ganz andere Frage. Der Wille des Verfassers oder der Verfasserin zur Novelle und damit zu einer alten, romanisch geprägten Tradition definiert die Gattung wesentlich. Auch die Novellentheorie bezieht sich immer mehr auf das Sollen statt auf das empirische Sein, das eben ist ihr metaphysisches Spezifikum. Die Kriterien für die Novellendefinition sind historisch gewachsen, werden aber – vor allem in der deutschsprachigen Novellendiskussion – wie platonische
1. Begriffsbestimmung der Novelle
Ideen behandelt. Das bis auf einige wichtige Ausnahmen genuin deutsche Phänomen der Novellentheorie erklärte sich im 19. Jahrhundert der Wiener Populärphilosoph Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) wie folgt: „Nun ist es aber uns Deutschen eigen, nichts genießen zu können, was wir nicht, wenigstens nebenher, bedenken; ja, das Bedenken der Genüsse ist uns eigentlich der Genuss der Genüsse. So haben wir mit einer Metaphysik der Sitten begonnen […] und was wäre an einer Metaphysik der Novelle Gewagtes?“ (Polheim 1970, 106). Wenn aber die Novelle seit der Goethezeit mit solchen Ansprüchen belegt ist, dann hat dies auch Auswirkungen auf die sogenannten Novellisten. Sie sind einem anderen Anforderungsprofil ausgesetzt als die Verfasser anderer Prosagattungen. Da die Novelle als anspruchsvollere Gattung gilt, liegt auch ein Ringen um die richtige Novellenform nahe. So kann es nicht verwundern, dass es z. B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Novellisten Theodor Storm, Paul Heyse und Gottfried Keller einen umfangreichen Briefwechsel gibt, in dem das Für und Wider der rechten Novellenform und einzelne Werke intensiv diskutiert werden. Obwohl die Novelle in der traditionellen Gattungstheorie von Aristoteles (384–322 v. Chr.) bis Julius Caesar Scaliger (1484–1558) nicht vorkommt, ist ihr zumindest im deutschsprachigen Raum eine gewisse Klassizität zu eigen. Dies führte dann in der Moderne, im 20. Jahrhundert, zur Einordnung der Novelle als konservativer Gattung (Kiefer 2004, 89 ff.). Wer in der Moderne Novellen schrieb, wollte einerseits Klassisches bewahren wie die formal, aber z. T. auch politisch konservativen Autoren Paul Ernst, Emil Strauß, Rudolf G. Binding auf der einen sowie Thomas Mann und Stefan Zweig auf der anderen Seite. Letztere gehörten gleichsam dem ,linken Flügel‘ des novellenschreibenden Bildungsbürgertums an. Eine andere Gruppe von Novellisten wollte einen ironischen, d. h. sich verstellenden Gegenentwurf zur Tradition anhand tradierter Formvorgaben entwerfen, wie z. B. die Expressionisten Georg Heym und Alfred Döblin sowie später der Döblin-Verehrer Günter Grass. Erst in der Postmoderne (vgl. Scherpe 1991) löst sich dieses Paradigma mit neuen Tendenzen der Novellistik seit den 1970er Jahren auf. Wie ist mithin die Novelle auf den Begriff zu bringen? Was sind die typischen Inhalte, was ist die typische Form einer Novelle? Zunächst einmal kann als typisch herausgestellt werden, dass Novellisten das Typische nicht scheuen. Die Novelle muss nicht originell sein. Die Auswahl des Novellenbegriffs für eine Prosaerzählung bedeutet vielmehr: ,Seht her, ich ordne mich in eine seit dem Spätmittelalter überlieferte Gattungstradition ein. Ich will alte Formen nicht umstürzen, ich will mich ihrer entweder ernsthaft oder auch ironisch bedienen, auch um mein handwerkliches Können als Schrifthersteller unter Beweis zu stellen.‘ Dies ist ein für Prosatexte eher ungewöhnlicher regelpoetischer Ansatz, den man sonst eher bei den Verfassern traditioneller lyrischer Gattungen, etwa von Sonetten, antrifft. Die Nachbarschaft von Novelle und Sonett zeigt sich überdies auch darin, dass beide Gattungen im Italien des Hochmittelalters entstanden sind und Sonett-Parodien, wörtlich also persiflierende Gegengesänge, ebenso häufig anzutreffen sind wie Novellenparodien, z. B. die unerhörte Novelle Die Erfindung der Currywurst von Uwe Timm (1993, vgl. Steinecke 1995). Inhaltlich gehört zur Tradition der Gattung oft die stoffliche Konzentration auf die
Die Novelle als konservative Gattung
Die Vielgestaltigkeit der Novelle
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I. Gattungsbegriff
Zwischen Tradition und Originalität
Liebeskonstellation des novellistischen Dreiecks, bei dem seit der altitalienischen Novellistik meist der Konflikt eines Mannes zwischen zwei Frauen oder der Kampf zweier Liebender um eine Geliebte vorherrschen. Diese Liebesnovellen können sich im Fall einer tragischen Verwicklung zu Schicksalsnovellen ausweiten. Schauplatz dieses Geschehens ist meist das Haus, das als intimes Versteck – etwa für Ehebruch – dienen kann (vgl. Kosofsky Sedgwick 2003). Neben diese Konstellation tritt die historische Dimension des Novelleninhalts, die jene nur ergänzen kann. Schon das Haus ist oft mit Erinnerungen, die auch die erzählten oder schriftlich fixierten Erfahrungen mehrerer Generationen beinhalten können, behaftet. Das Gedächtnis formt, wenn es allein als innerseelischer Vorgang dargestellt wird, statt der Gesprächs- oder Dialognovelle die Erinnerungsnovelle, die im Fall von Kindheitserinnerungen zur Kindernovelle bzw. Familiennovelle werden kann. Das Neue, das wortgeschichtlich (etymologisch) in der Novelle steckt, kann also durchaus auch das Neue von gestern sein. Dann erscheint die Novelle als Historiennovelle. Das Gestern, die in der Novellengeschichte verborgene Geschichte, ist tiefer geschichtet, wenn das Haus alt ist, noch tiefer, wenn es sich um ein adliges Haus bzw. ein Schloss handelt. So entwickelt sich der Begriff der Schlossnovelle. In Schlössern als Erinnerungsräumen wohnt häufig der alte Geist ihrer verschwundenen Bewohner mitsamt den vergangenen Schicksalen und Lieben; bisweilen ist dieser Geist personifiziert. Dann haben wir es mit dem Unterbegriff der Gespensternovelle (in gesteigerter Form Schauer- oder Gruselnovelle) zu tun. Das Novellenschicksal kann auch mit Verbrechen zusammenhängen, deren Geheimnis gelüftet werden muss. In diesem Fall spricht man von einer Kriminalnovelle. Nicht nur in Schlössern, auch in der Kleinwelt des Dorfes können sich Schicksalsnovellen ereignen: Diese Handlungen werden dann als Dorfnovelle bezeichnet. Weil in der dörflichen Umgebung die Nähe zur Natur naheliegt, ist diese oft auch Schauplatz von Tiernovellen, in denen die Tiercharakteristika oft als symbolisch bzw. metaphorisch für menschliche Eigenschaften aufgefasst werden. Alle diese Stofffelder oder Diskurse können miteinander verwoben werden. Die Novelle hat immer eine interdiskursive Struktur (vgl. Wehle 1984; Kocher 2005). Die diversen Diskurse bringen die Novelle stofflich auf einen oder mehrere Begriffe. Formal ergeben sich die Novellenkriterien, die ebenso wie die stofflichen Kriterien nicht zwingend sind, sondern Angebote aus dem Repertoire der Novellentradition darstellen, aus dem mündlichen, aber auch schriftlichen Erzählen, das für den Novellenbegriff konstitutiv ist. Das Novellistische, also das Neueste oder das Neue von gestern, wird im täglichen Leben in einer bestimmten Situation, in einem lebensweltlichen Rahmen, erzählt (vgl. Beck 2008). Von dieser Alltagssituation ist der Weg zum Novellenrahmen als Textmerkmal nicht weit. Das Erzählen braucht, wenn es fesselnd sein soll, Spannungskurven und Wendepunkte. Man hört gerne Unerhörtes, Dramatisches – insofern ist also im Begriff des novellistischen Erzählens die Nähe zum Drama bereits angelegt (vgl. Storm 1881). Die Dramenstrukturen werden folgerichtig auch gerne auf die Novelle übertragen. Das Unerhörte muss konzentriert dargebracht werden, um novellistisch zu sein. Die beste Konzentration von Sinnzusammenhängen bietet das novellentypische Symbol, das, wenn es die
2. Abgrenzung der Novelle
Handlung strukturiert, die Funktion eines Zentral- oder Leitmotivs hat. Die Novelle ist als Gattung nicht in sich abgeschlossen wie das Sonett oder die klassische fünfaktige Tragödie. Unter Zuhilfenahme von Bauelementen, die schon in der Renaissance entwickelt und benannt wurden, wird mit jeder neuen Novelle an der Gattung weitergearbeitet. Da jede neue Novelle auch das novellenspezifische Neue enthält, stellt sie den hergebrachten Novellenbegriff wieder infrage, wie der Strukturalist Tzvetan Todorov anhand der Einzelhandlungen und wandlungsfähigen Strukturen des Dekamerons herausstellt (Todorov 1977, 109). Die Arbeit am Novellenbegriff ist mithin nach vorn gerichtet. Die traditionellen Gemeinplätze über die Novelle formen jedoch ebenfalls am Novellenbegriff mit. Die Novelle ist folgerichtig eine der wenigen Prosagattungen, deren Qualität sich nicht nur an der Originalität, sondern auch an der Traditionsverhaftung misst. Zwar kommen auch Romane nie ohne die Romantradition aus, bei der Novelle ist der Traditionsbezug aber im Gegensatz zum Roman unverhohlen und konstitutiv.
2. Abgrenzung der Novelle von der Anekdote, dem Kunstmärchen und der Kurzgeschichte Schwieriger als die Abgrenzung zum Roman erweist sich die gattungsmäßige Abgrenzung zur Novelle bei der Anekdote. Manchmal wird die Beziehung zwischen beiden Gattungen sogar von Novellisten hergestellt. So stellt die in der italienischen Kultur sehr bewanderte Isolde Kurz in ihrer Aphorismen-Sammlung Im Zeichen des Steinbocks heraus: „Der Ursprung der Novelle ist die Anekdote, wie man bei Boccaccio noch deutlich sieht. Die Novelle darf ihre einfache anekdotische Grundform nicht verleugnen, sonst wird sie leicht kleinlich. Man muss den mündlichen Charakter noch durchfühlen, das erhält ihr die Frische und den ursprünglichen Reiz.“ (Kurz 1927, 189) Gegen diesen Standpunkt lässt sich der Gattungsunterschied am besten aus der Gattungsgeschichte herleiten. Der Begriff Anekdote ist nämlich bedeutend älter als der Novellenbegriff. Während der Begriff ,novella‘ im Italien des 13. Jahrhunderts geprägt wurde – das nach 1281 entstandene und später sogenannte ,Novellino‘ ist hier der erste Novellenkranz –, entstand die Anekdote in einem völlig anderen historischen Zusammenhang im Byzantinischen Reich des 6. Jahrhunderts (vgl. Weber 1993). Der Historiker Prokopios von Caesarea (ca. 500–562) nannte eine durchaus kritische Historiensammlung über den Kaiser Justinian I. Anekdota, wörtlich das ,Unveröffentlichte‘, also geheime Geschichten. Wie vor ihm Sueton (ca. 70 n. Chr. bis ca. 130–140 n. Chr.) in seiner Geschichte über die römischen Kaiser veröffentlichte Prokopios somit Charakteristisches über eine bekannte, real existierende Person, das teilweise vorher mündliche Verbreitung gefunden hatte. Das Kriterium der historischen Wahrheit ist in diesem Kontext entscheidend für die Gattungsdefinition der Anekdote. So ist denn auch „die Anekdote eine wahre, noch unbekannte, merkwürdige Begebenheit“ (Hilzinger 1997, 232). Sonja Hilzinger unterstreicht darüber hinaus die selbst in der Historiennovelle manchmal nicht gegebene historische Wahrheit als wesentliches Kriterium der Gattung: „In der historischen Wahrheit
Anekdote und Historiennovelle
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I. Gattungsbegriff
lag die Voraussetzung für die Wirkung der Anekdoten: Sie sollten historische Belehrung und moralische Bildung vermitteln.“ (Hilzinger 1997, 178) Die Anekdote ist im Gegensatz zur Kunstform der Novelle ohnehin eine halbliterarische Gattung, die ebenso wie die (Auto-)Biografie eine Nähe zum Zeitgeschehen hat. Nino Erné hält hierzu fest: „[Die] Ankdote hat eigentlich keinen Verfasser, kein Copyright. Jeder konnte und kann sie noch heute erzählen und ausschmücken, wie er will. Aber nur begrenzt.“ (Erné 1995, 88) Sie kann – weil sie meist noch kürzer ausfällt als eine altitalienische Novelle – als ,Biographie in nuce‘ aufgefasst werden. Aus einzelnen Erlebnissen soll der Geist einer Epoche und ihrer Persönlichkeiten sprechen. Die Gattung der Anekdote vermittelt jedoch keine geschichtsphilosophischen Modelle, sondern Sonderbares über berühmte Persönlichkeiten einer Epoche, wie Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) hervorhebt: „Bei den großen Herrschercharakteren des achtzehnten Jahrhunderts, die neue, strengere, geregeltere Formen des Staatsregiments schufen, zeigt sich der gleiche Gegensatz von persönlicher Willkür und der Hingabe an eben dieses allgemeine von ihnen begründete Gesetz. Friedrich der Große, Joseph II., Katharina von Russland, […] konnten sämtlich das Sonderlingswesen, welches die Zeit als das notwendige Attribut einer genialen Natur ansah, nicht ganz loswerden. Daher gaben sie den Stoff zu unzähligen Anekdoten […]. In den beiden vorletzten Jahrhunderten musste ein König witzig sein, wenn seine Größe den Zopfmenschen nicht langweilig erscheinen sollte.“ (Riehl 1896, 153) Die grotesken Figuren der Anekdote sind nicht erfunden; sie saßen wirklich auf dem Thron. Im Gegensatz zur Historiennovelle ist das Kriterium der Wahrheit also zentral für die Anekdote. Zwar sieht Sonja Hilzinger die Anekdote „als Vorform der historischen Novelle“ (Hilzinger 1997, 178). Dem psychologischen Erzählen sind in dieser Gattung im Gegensatz zur Novelle aber enge Grenzen gesetzt. Das Charakteristische im Sinne Riehls muss auf eine bestimmte Eigenschaft der dargestellten historischen Persönlichkeit konzentriert sein, sonst wird die Pointe verfehlt, auf die das anekdotische Erzählen fast notwendig hinausläuft. Die Historiennovelle kann dagegen im größeren Erzählrahmen ein psychologisches Porträt einer politisch-historisch oder kulturgeschichtlich bedeutsamen Person zeichnen. Die Anekdote liefert den Realitätssplitter, die Historiennovelle kann ein Gesamtbild ausmalen und muss sich dabei nicht an das Wahrheitskriterium halten. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die realistischen, aber nicht genau der Realität bzw. der historisch dokumentierten Faktenlage entsprechenden Novellen Conrad Ferdinand Meyers Das Amulett (1873) und Gustav Adolfs Page (1882). Der Kulturkampf Bismarcks gegen den Einfluss des Vatikans auf die deutsche Politik der Gründerzeit liefert für das Lesepublikum dieser Geschichtsnovellen den aktuellen Bezug für die Beschäftigung mit Stoffen wie der Pariser Bartholomäusnacht (1572), einem antiprotestantischen Massaker, oder dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648). Historisch-politisch ähnlich gelagert ist die Erzählung Die schwarze Galeere (1861) von Wilhelm Raabe (1831–1910), die den Seekrieg niederländischer Protestanten gegen das katholische Spanien im 16. und 17. Jahrhundert behandelt. Meyer stellt in Gustav Adolfs Page die gerade vom Bildungsbürgertum im Preußendeutschland seiner Zeit verehrte
2. Abgrenzung der Novelle
Gestalt des Schwedenkönigs, der für die Evangelischen – und für die Machtausdehnung Schwedens – im Deutschland des 17. Jahrhunderts kämpfte, in den Mittelpunkt der Novellenhandlung. Dies geschieht innerhalb eines faktisch verbürgten Rahmens. Die Geschichte der Nürnberger Patriziertochter Auguste, die den König liebt, verehrt und als Page, also als junger Mann verkleidet, seine Nähe sucht, wird als Produkt der dichterischen Fantasie in jenen realen Rahmen hineingestellt. Der König wird nicht anhand überlieferter situativer Vorkommnisse oder eines anekdotischen Einzelereignisses charakterisiert, sondern anhand seiner fiktiven Begegnung mit einer fiktiven Mädchengestalt. Dieses Charakterbild wird durch eine erweiterte Handlung und eingefügte Novellensymbole, z. B. einen scheinbar verräterischen Handschuh, ausgemalt. Schwieriger ist – gerade in der Epoche der Romantik, aber auch in der Klassik – die Differenzierung zwischen Novelle und Kunstmärchen. Man kann sich anhand der Geschichten zweier befreundeter Berliner Romantiker, E. T. A. Hoffmanns (1776–1822) Fantasiestück in Callot’s Manier Die Abenteuer der Silvester-Nacht und Adelbert von Chamissos (1781–1838) Peter Schlemihls wundersame Geschichte, fragen, was den einen Erzähltext zur fantastischen Novelle und den anderen zum Kunstmärchen werden lässt. Diese Frage steht aufgrund der Tatsache im Raum, dass Hoffmann die kurze Zeit vorher entstandene Schlemihl-Figur Chamissos in seiner Novelle auftreten lässt, die durch den Obertitel ,Fantasiestück‘ sowohl als fantastisch wie als bildmächtig gekennzeichnet ist. Auch hier ist die Schlemihl-Figur ihres Schattens als Symbol der Identität verlustig gegangen; auch hier will sie diese peinliche Tatsache vor der Umwelt verbergen. Was die Texte jedoch unterscheidet, ist ihr Realitätsgehalt. Während in Chamissos Kunstmärchen die gesamte naturwissenschaftliche Weltkonstruktion ungültig zu sein scheint (man kann in Windeseile mit Siebenmeilenstiefeln ganze Kontinente durchschreiten), ist die Berliner Lebenswelt in der Hoffmann’schen Novelle fast realistisch gezeichnet. Vor diesem Hintergrund erscheinen fantastische oder unheimliche Einzelgestalten wie Schlemihl umso beunruhigender. Mit der Novelle hat das Kunstmärchen im Gegensatz zum Volksmärchen aber auch einiges gemein (vgl. Mayer, Tismar 1997). Seine Gattungsfunktion als Kunstprodukt sieht vor, dass es nicht beliebig verändert werden kann. Es ist ein genuin literarisches Werk, in Stil und Haltung das künstlerische Werk eines Dichters in seiner endgültigen Gestalt, das nicht mehr durch mündliches Weitertragen überformt werden kann. Das romantische Märchen Chamissos zeigt überdies auch auf, dass das Kunstmärchen im Gegensatz zum Volksmärchen den literarisch-ästhetischen Strömungen seiner Entstehungszeit unterworfen ist. Die gleichnishafte Kapitalismuskritik, die hinter der Schilderung des Verkaufs des eigenen Schattens verborgen liegt, ist sicher ein Spezifikum der bürgerlichen Epoche. Ähnliches gilt für den Kohlenmunk-Peter in Wilhelm Hauffs (1802–1827) Kunstmärchen Das kalte Herz, der für den Erfolg in der Welt der Marktwirtschaft, deren Mechanismen klar skizziert werden, dem Holländer-Michel sein Herz verkauft. Der Name des Seelenkäufers ist kein Zufall, sondern durch die Faktenlage der Wirtschaftsgeschichte vorgeprägt: Die Niederlande sind ein Hort des Frühkapitalismus. Das Element des Gleichnisses ist, was diesen Aspekt betrifft, offensichtlich. Märchenhaft ist jedoch, dass sich in der dargestellten
Romantische Novelle und romantisches Kunstmärchen
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I. Gattungsbegriff
Romantik: Novelle und Kunstmärchen
Wirklichkeit niemand über geisterhafte Glasmännlein verwundert, wie es demgegenüber in einer fantastischen Novelle der Fall wäre, in der die Vision solcher Gestalten zu irritiertem Realitätsverlust des Helden führen würde. So liefert das Volksmärchen häufig die inhaltlichen Stoffe wie den Erzählduktus für das Kunstmärchen, das die Gestalten des Volksmärchens, aber auch des Aberglaubens produktiv umdeuten kann. Dann mutieren z. B. graue und gräuliche Teufelsgestalten der Volksmythologie in Chamissos Kunstmärchen zu einem dezent grauen, aber unheimlicheren Vertreter der Geldwirtschaft. Novelle und Kunstmärchen haben gerade in der deutschen Literaturgeschichte, aber auch in der Weltliteratur vieles gemein. So beginnt die kontinuierliche Geschichte des deutschen Kunstmärchens im 18. Jahrhundert in Anknüpfung an französische Vorbilder aus dem 17. Jahrhundert wie Charles Perrault (1628–1703) mit Christoph Martin Wielands parodistischem Feenmärchen vom Prinzen Biribinker in seinem Roman Don Sylvio von Rosalva (1764) sowie den teilweise ironischen Volksmährchen der Deutschen (1782–86) von Johann Karl August Musäus. Wieland ist aber auch mit seinem Hexameron von Rosenhain einer der ersten Novellisten in Deutschland, der sich als solcher bezeichnet. Deswegen ist es durchaus aufschlussreich, wenn er den Unterschied zwischen beiden Gattungen herausstellt. Schon zu Beginn der gängigen Geschichte der deutschen Novelle (also unter Ausschließung ihrer zahlreichen Vorbilder in Renaissance und Barock) betont Wieland nämlich deren Realitätsgehalt. So erläutert ein Herr M. in der Rahmenhandlung des Hexameron von Rosenheim besagte Prosagattung, bevor er daran anknüpfend seine Novelle ohne Titel erzählt, die eben durch jenen Titel wie später auch Goethes Novelle einen paradigmatischen Charakter erhält: „Bei einer Novelle, sagte er, werde vorausgesetzt, dass sie sich weder im Dschinnistan der Perser […] noch in einem anderen idealischen oder utopischen Lande, sondern in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlicher und begreiflicher zugeht und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten.“ (Wieland 1999, 94)
Die Kurzgeschichte der Nachkriegszeit
Der Realitätsbezug einer novellistischen literarischen Welt besteht in der Nachahmung des Möglichen. Diese Nachahmung (Mimesis) ist schon seit Aristoteles ein wesentliches Kennzeichen der Literatur. Je nachdem, wie weit sie diesem Nachahmungsprinzip folgen wollen, schaffen romantische Novellisten wie Ludwig Tieck, Friedrich de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann oder Clemens Brentano auch Kunstmärchen. Gerade beim frühen Tieck vermischen sich beide Gattungen zwecks Steigerung des Fantastischen. Dies geschieht unter anderem in Der Runenberg (1804). Genuine Kunstmärchendichter sind im Gegensatz zu genuinen Novellisten dagegen eher selten anzutreffen. Das prominenteste Beispiel mag der Däne Hans Christian Andersen (1805–1875) sein, der unter anderem über die Vermittlung seines deutschen Freundes, des besagten Berliner Romantikers Adelbert von Chamisso, weltbekannt wurde. Noch schwieriger als die Abgrenzung zwischen der romantischen Novelle und dem Kunstmärchen ist – angesichts einiger Gemeinsamkeiten bei der
2. Abgrenzung der Novelle
Handlungskomposition – die Abgrenzung zwischen der Novelle und der deutschen Kurzgeschichte. Sie ist vor allem historisch-politisch bedingt. Die deutsche Kurzgeschichte ist trotz erster Veröffentlichungen zeitgenössischer amerikanischer Kurzgeschichten in der Zwischenkriegszeit vor allem ein Produkt der Nachkriegskultur, und zwar zunächst, etwa mit den frühverstorbenen Autoren der sogenannten Trümmerliteratur Wolfgang Borchert (1921–1947) und Elisabeth Langgässer (1899–1950), in West- und dann erst in Ostdeutschland. Für die DDR-Literatur wären als Autoren der Kurzgeschichte etwa Franz Fühmann (1922–1984) und Günter Kunert (* 1929) zu nennen. Schon in der Kurzgeschichte Die Küchenuhr von Wolfgang Borchert, in der ein noch junger Mann auf den Trümmern seiner Existenz sitzt und sich anhand jenes Uhrensymbols der verlorenen Zeit mit seiner unter Kriegstrümmern begrabenen Mutter erinnert, wird die Nähe zur Novelle deutlich. Schließlich ist auch sie durch zentrale Dingsymbole wie die titelgebende Uhr als Zeichen der vergänglichen Zeit und des verloschenen Lebens geprägt. Man könnte überdies – etwa im Hinblick auf die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels (1760–1826) (vgl. Hebels Geschichten in: Anekdoten 1998, 318–334) – an viele Kurzgeschichtenautoren vor 1945 denken. Das Wort Kurzgeschichte ist jedoch eine Lehnübersetzung des amerikanischen Gattungsbegriffs ,short story‘. Es ist aber mit diesem nicht deckungsgleich, da die deutschsprachige Kurzgeschichte gegen andere etablierte Formen der erzählenden Kurzprosa (z. B. Novelle, Anekdote, Kalendergeschichte) abzugrenzen ist. Nicht alle kurzen Geschichten stehen mithin im kulturgeschichtlichen Kontext der deutschen Kurzgeschichte. Insbesondere die Dominanz der klassischen (Goethe) und neuklassischen Novelle (z. B. Paul Ernst) verhinderte eine frühe Entwicklung der Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum. Erst nach 1945 setzte eine breitere produktive Rezeption der amerikanischen short story ein, wobei die jungen deutschen Schriftsteller sich vor allem von Ernest Hemingway beeinflussen ließen. Diese Rezeption sollte freilich nicht überwertet werden (vgl. Kilchenmann 1978, 161). Die spezifische Gattungsgeschichte der deutschen Kurzgeschichte hat unter anderem mit der literarischen Situation in Deutschland nach dem Dritten Reich zu tun. In diesem Kontext bot sich mit der Kurzgeschichte eine Gattung an, die unbelastet, ideologisch noch nicht missbraucht war. Wo allerdings unbelastete Gattungen benötigt werden, scheint es in der vielbeschworenen ,Stunde Null‘ auch belastete Gattungen gegeben zu haben. Neben der traditionellen Lyrik – etwa Josef Weinhebers (1892–1945) – gehörte auch die Novelle dazu. Viele formal konservative Novellisten tendierten politisch nach rechts, freilich mit unterschiedlicher Intensität. Die auflagenstärksten Novellen der 1930er Jahre stammten von Autoren wie Emil Strauß (1866–1960), der trotz fortgeschrittenen Alters Parteimitglied wurde, dem ebenso politisch eindeutig positionierten Wilhelm Schäfer (1868–1952) oder dem nationalkonservativen Rudolf G. Binding (1867–1938). Das machte die Novelle – bis zu ihrem neuen Durchbruch mit Katz und Maus (1961) von Günter Grass – verdächtig. Die Kurzgeschichte bot sich an, eine neue, unbelastete, unpathetische Sprache zu finden, und übernahm damit eine Pionierfunktion. Die Kurzgeschichte war in der Nachkriegszeit die Gattung, die den Forderungen nach dem literarischen ,Kahlschlag‘ am ehesten nachkam. Auch
Die Novelle als politisch belastete Gattung
Die Ästhetik des ,Kahlschlags‘
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I. Gattungsbegriff
Unterschiede zwischen Novelle und Kurzgeschichte
die Ästhetik der neuen Kurzgeschichte sollte sich nämlich von der alten Novelle unterscheiden. Der Begriff Kahlschlag bezeichnet zunächst einmal eine gerodete Waldfläche. Im literaturhistorisch-ästhetischen Zusammenhang bedeutet er einen radikalen Neuanfang (vgl. Weyrauch 1977). Der Purismus der Bauhaus-Architektur wie der abstrakten Malerei, die sich zumindest im westlichen Nachkriegsdeutschland endgültig etablierten, sollte eine Entsprechung in der literarischen Ästhetik finden. Kahlschlag und Kurzgeschichte passen infolgedessen zusammen. Der Begriff Kurzgeschichte besagt bereits, dass Verkürzung eine zentrale Eigenschaft der Gattung ist. Kürze ist hier nicht nur quantitativ (vom geringen Umfang her), sondern auch qualitativ zu verstehen: Sie meint sprachlich eine Tendenz zur schnörkellosen Schlichtheit, aber auch eine Verdichtung, eine konzentrierte Gestaltung. Formmittel, die die Kurzgeschichte kennzeichnen und von der traditionellen Novelle unterscheiden, sind mithin eine ausschnittweise und fragmentarische Darstellung eines Geschehens sowie seine sachliche sprachliche Darstellung. In der Kurzgeschichte ist das Fragment keine romantische Arabeske, keine nur bruchstückhaft aufgefundene alte Chronik, die durch das dichterische Fantasieren zu einer Chroniknovelle ausgebaut werden kann. Vielmehr steht das Fragment in der Ästhetik des Kahlschlags unter anderem für einen abrupten Erzählanfang, einen unvermittelten Erzähleinsatz (vgl. z. B. die Kurzgeschichten Josef Redings). Wenn wie in einer Kurzgeschichte von Reding Generalvertreter Ellebracht Fahrerflucht begeht, dann ist dazu kein aufwendiger Novellenrahmen vonnöten. Die zeitliche Raffung ist in der Kurzgeschichte noch ausgeprägter als in der Novelle, die sich in den Epochen zwischen Romantik und Realismus ohnehin zur groß angelegten Monumentalnovelle entwickelt hatte. Die Kürze der Kurzgeschichte bedingt demgegenüber, dass sich das Figurenarsenal oft auf zwei bis drei Personen beschränkt. Auch dies unterscheidet die Kurzgeschichte von der Novelle, wenn man z. B. an das vielfältige Binnen- und Rahmenpersonal gründerzeitlicher Monumentalnovellen wie Die Hochzeit des Mönchs (1884) von C. F. Meyer oder zeitgenössischer Novellen wie Im Krebsgang (2002) von Günter Grass denkt. Die puristische Nüchternheit der Kurzgeschichte der Nachkriegszeit setzt sich auch durch knappe Dialoge, einen parataktischen Satzbau und sparsame Attribute von der herkömmlichen deutschen Novellentradition ab. In ihrem nüchternen Erzählstil kann die Welt – und sei es die kleinstädtische Welt nach dem Vorbild Seldwylas – nicht mehr als Ganzes wie etwa in den Novellen Gottfried Kellers beleuchtet werden. Leonie Marx hält hierzu fest: „Allgemein fällt die umrisshaft, skizzierend gehandhabte Behandlung von Erzählraum und Figuren auf. Der Raum spielt gegenüber der Zeit eine geringere Rolle.“ (Marx 1985, 64) Geheimnisvolle Symbolräume, wie sie noch in der Zwischenkriegszeit, etwa in der kurzen Erzählung Brudermord im Altwasser von Georg Britting (1891–1964), einer ungeheuren, gleichsam biblischen Untat in der düster-wilden Landschaft eines Donauarms, bis ins Detail ausgemalt werden, fügen sich nicht in die neue Nüchternheit. Für Marx ist auch die Spannung der Kurzgeschichte anders als in der Novelle organisiert, „nämlich andeutend statt ausdeutend […] Im Gegensatz zur Novelle bietet die Kurzgeschichte keine Lösung oder Erklärung“ (Marx 1985, 87). Der Ausschnittcharakter prägt die Gattung der Kurzgeschichte in erzähltechnischer wie in soziologischer Hinsicht.
2. Abgrenzung der Novelle
Die Kurzgeschichte ist oft nur eine literarische Momentaufnahme. Der große Sinnzusammenhang der Einzelgeschichte wie der Geschichte allgemein, die großen weltanschaulichen Erzählungen im Sinne Lyotards, die die Monumentalnovellen Theodor Storms oder Conrad Ferdinand Meyers tatsächlich oder vorgeblich (vgl. Jäger 1998) prägen, sind der Kriegsgeneration nach 1945 abhanden gekommen. So wird in der Kurzgeschichte scheinbar zusammenhanglos meist ein bestimmter Zeitpunkt, ein bestimmter Lebensausschnitt, eine bestimmte Situation dargestellt. Dies unterscheidet die Kurzgeschichte von der Novelle. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten. Was die Struktur des Erzählens in der Kurzgeschichte betrifft, so entspricht der abrupte Erzähleinstieg nämlich nicht einem abrupten Ende. Anfang und Ende sind folgerichtig nicht gleichartig aufeinander zugeordnet. Das Ende kann durch eine pointierte Schlusssequenz durchaus eine partielle Sinnstiftung enthalten. Dies könnte fast als Fortsetzung des traditionellen ,Fabula docet‘ altitalienischer wie barocker Novellen aufgefasst werden. Der Kulminationspunkt, die Pointe, auf die sich die Kurzgeschichte zubewegt, ist überdies mit dem novellentypischen Wendepunkt vergleichbar, der in der aristotelischen Dramentheorie der Peripetie, dem Umschlag von Nichtwissen in Wissen, einer oft erschreckenden jähen Welterkenntnis, entspricht. Durch diese Grundelemente gibt es also durchaus Parallelen zwischen der Novelle und der Kurzgeschichte. Ironischerweise gibt es diese Gemeinsamkeiten weniger mit den symbolisch überladenen Großnovellen, die die kulturelle Sozialisation der Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit zunächst prägten, sondern mit den kurz und knapp gehaltenen altitalienischen Novellen des Novellino mit ihrer schlichten, nicht-psychologischen Menschendarstellung, die so zumindest den strukturalen gattungsgeschichtlich sehr früh angesiedelten Anfang der Kurzgeschichte im Wortsinn bilden.
Gemeinsamkeiten
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II. Überblick über die Forschungsliteratur Die Nachkriegsdiskussion
Vom ersten Weimarer Klassiker Christoph Martin Wieland (1733–1813) bis zu Robert Musils (1880–1942) Aufsatz über das Novelleterlchen sind in der deutschen Novellendiskussion die bedeutendsten Novellentheoretiker in erster Linie die Novellisten selbst. Vor allem seit 1945 hat sich eine eigenständige philologische Diskussion etabliert, in der zunächst zwei Parteien aufeinander trafen: Man könnte sie als Novellenmetaphysiker und Novellenagnostiker bezeichnen. Die einen gingen davon aus, dass es so etwas wie eine platonische Idee der Gattung gäbe. Für die anderen war die Novelle nur eine Erzählung mittlerer Länge. Erst der Strukturalismus, der vor allem in Frankreich beispielsweise mit Tzvetan Todorovs Grammaire du Décaméron (1969) einen neuen Zugang zur Novellenstruktur im Besonderen wie zur Erzähltheorie (Narratologie) im Allgemeinen fand, und die Postmoderne haben diese Diskussion modifizieren können. Zunächst konzentrierte sich jedoch die Forschungsgeschichte auf jene zwei Felder. Entweder man benannte historische Einzelerscheinungen der Novellengeschichte oder man suchte nach einem einheitlichen, gleichsam überzeitlichen Modell. Die erste Methode führte zu einer unübersichtlichen Fülle an literaturgeschichtlichem Material, die einen einheitlichen Gattungsbegriff unmöglich macht, der zweite Weg zu einem Novellen-Dogmatismus, der viele relevante Texte als von vornherein unpassend aussortiert (vgl. Aust 2006, 39). So kann es nicht verwundern, wenn der Grazer Germanist (und Kabarettist) Hellmuth Himmel 1963 folgende Voraussetzungen zur Gattungsentwicklung der Novelle in Deutschland umreißt: „Die wichtigste Vorbedingung für das Entstehen der Gattung war aber wohl nicht so sehr das Heranreifen der künstlerischen Prosa und die publizistische Situation, sondern die Entwicklung der deutschen Philosophie, die in den von der Französischen Revolution aufgeregten Zeiten, als alte Autorität zweifelhaft und eine neue nur als Fremdherrschaft sichtbar wurde, den einzelnen auf das Gesetz in der eigenen Brust verwies und ihm die Last sittlicher Entscheidung auferlegte.“ (Himmel 1963, 28) Die deutsche Novelle erscheint somit weniger als literaturgeschichtlich denn als philosophiegeschichtlich bedingte Gattung – eine Eigenschaft, die nicht einmal dem hohen Heldenepos zugeschrieben wird. Es ist mithin kein Zufall, dass einer der größten Novellen-Metaphysiker, Hermann Pongs, den Begriff der Schicksalsnovelle entwickelt: „Während Wieland mit seiner ironisch spielenden Behandlung von Motiven aus spanischer, griechischer, moderner Quelle nur zeigt, wie die Boccaccionovelle als unverpflichtendes gesellschaftliches Unterhaltungsgebilde des Rokoko im tändelnden Spiel des Verstandes und der Phantasie stecken bleibt und entartet, bricht Kleist einer neuen Schicksalsnovelle Bahn. Selten zeigt die Entwicklung einer Gattungsform solchen plötzli-
II. Überblick über die Forschungsliteratur
chen Aufschwung zur Vollendung unter dem Einfluss des Genies. In Kleist tritt neben Boccaccio und Cervantes der erste ebenbürtige Deutsche, der die Form der Novelle innerlich ergreift und sie dem metaphysischen Bedürfnis der deutschen Seele öffnet.“ (Pongs 1969, 150) Der nur scheinbar revolutionäre und provokante Ausweg aus dieser spekulativen und im Fall von Pongs auch ideologischen Überfrachtung einer Gattungsdiskussion scheint folgerichtig darin zu liegen, die Geschichte und die Definition der Novelle im Sinne eines spezifischen Gattungsmodells aufzugeben und stattdessen allgemeiner die Geschichte, aber auch die Formkriterien der Erzählung zu erforschen, wie es z. B. in Karl Konrad Polheims Handbuch der deutschen Erzählung (1981) geschieht (vgl. Aust 2006, 39). Hierbei wird ein wichtiges Faktum vernachlässigt: die Beliebtheit des Novellenbegriffs über viele Jahrhunderte der Literaturgeschichte hinweg. Mehrere Forschungsberichte, so der von Karl Konrad Polheim (1927–2004), haben der Novellentheorie in der Nachkriegszeit wichtige Anregungen gegeben, indem sie die üblichen Fragestellungen nach unabdingbaren Gattungskriterien selbst als fragwürdig erscheinen ließen. Ein solcher Forschungsbericht stammt bezeichnenderweise von dem Romanisten Walter Pabst (vgl. Kunz 1968, 243–287), der sich auch späterhin mit Novellentheorie und Novellendichtung, und zwar mit der Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen (1967) auseinandersetzte. Auch hier ist er der – meist impliziten – rhetorisch orientierten Regelpoetik der altitalienischen Prosa gegenüber skeptisch eingestellt. In seinem auf die deutsche Entwicklung konzentrierten Forschungsbericht von 1949 wird demgegenüber das starke Interesse der frühen Novellenforschung an einer theoretisch bestimmbaren Gattungsform skizziert, aber auch kritisch beleuchtet. Für Pabst gilt die formelhafte Form als „unscharfes scholastisches Hilfsmittel“ (Kunz 1968, 283). Er betont zudem die Dominanz der deutschen Novellentheorie trotz des literaturgeschichtlichen Vorsprungs der romanischen Novellistik. Als die Nationalliteraturen vergleichender Komparatist gesteht er der deutschen Diskussion deshalb aber nicht unbedingt ein höheres Niveau zu. Das Anspruch heischende Theoriepostulat wertet er nüchtern als eine reine Produktion von Lehrsätzen und unterscheidet hier zwischen Novellendogmatikern und -pragmatikern (vgl. Aust 2006, 41). Fritz Lockemann ist in seinem novellengeschichtlichen Überblick eher traditionellen Mustern verhaftet. Gerade die deutsche Literaturgeschichte beruft sich gerne auf romanische Muster: „So enthält die Boccaccio-Novelle, so ausgeglichen und vollkommen sie erscheint, Spannungen, Bereicherungs- und Vertiefungsmöglichkeiten. Sie sind es, die die Entwicklung der deutschen Novelle anregen.“ (Lockemann 1957, 33) In Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle (1957) wird aber dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ein Schwerpunkt auf die deutschsprachige Novelle des 19. Jahrhunderts gelegt. Auch eine allgemeine literaturphänomenologische Betrachtung Herbert Seidlers, die typisch für die zeitgemäße Rezeption der Philosophie Edmund Husserls und Martin Heideggers ist, entdeckt in den 1950er Jahren spezifische Züge der Gattung Novelle: „Konzentration der Geschehnisdarstellung, Herausarbeitung von entscheidenden Situationen, Gruppierung des Ganzen um ein zentrales Ereignis. Es gibt ein novellis-
Walter Pabst
Lockemann und Seidler
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II. Überblick über die Forschungsliteratur
Benno von Wiese
Polheims Kritik an der Novellentheorie
von Arx und Pongs: zwei Extreme
tisches Erzählen: Verdichtung einer einzelnen Begebenheit in einer strengen Form. Schon in der Renaissance spricht man von Novellieren, wenn es auch ursprünglich tief eingestuft wurde. Man verstand darunter unterhaltendes und pointenhaftes Erzählen.“ (Seidler 1959, 512 f.) Die am meisten beachtete Darstellung der Gattung stammt von Benno von Wiese. Hier wird ein Mittelweg zwischen den beiden oben umrissenen Polen des Gattungsdogmatismus wie der Begriffsauflösung gesucht. Seine Abhandlung Die Deutsche Novelle von Goethe bis Kafka (1960) ist schon wegen der Einbeziehung des Hungerkünstlers von Kafka innovativ. Novellistisches Erzählen ist für von Wiese mit bestimmten Grundzügen verknüpft: „die Heraushebung eines Ereignisses vor den Personen, die pointierte Darstellung, die symbolische oder später auch symbolistische Konzentrierung des Epischen, die Verdichtung im Bildsymbol, das Aufgreifen der ,niederen Lebensbereiche‘, die den hohen Gattungen des Epos und der Tragödie verschlossen sind.“ (von Wiese 1960, 15 f.) Ein großer geschichtlicher Überblick umreißt den Verlauf der Form anhand von Einzelinterpretationen, in denen auch Randbereiche des Novellistischen im Umfeld der Entwicklungserzählung (Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, 1826) bzw. hin zum Märchenhaften (Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne, 1842) gestreift werden. Ein weiterer Forschungsbericht jener Jahre stammt von Karl Konrad Polheim, ein ausgewiesener Novellenexperte, unter anderem der Werke von Paul Ernst. Er gibt einen Überblick über die Widersprüche der Novellentheorie und kommt zu folgendem Fazit: „Eine grundsätzliche Einigung tut not, soll man nicht ständig aneinander vorbeireden, so dass jeder auf seinem eigenen Novellenbegriff beharrt.“ (Polheim 1965, 109) Von 1953–1963 erschienen zehn Novellenmonografien (Polheim 1965, 3), was die Virulenz der Diskussion belegt. Ein Höhepunkt des NovellenAgnostizismus ist dabei laut Polheim die völlige Absage an den Arbeitsbegriff der Novelle im Umkreis des Schweizer Germanisten Emil Staiger (1908–1987): „Emil Staigers Definition ist nicht durch ihn selbst, sondern durch ein Buch seines Schülers Bernhard von Arx bekannt geworden. In einem Seminar Staigers im Wintersemester 1946/47 sei, wie Arx berichtet, die Frage nach der Novelle aufgeworfen worden, aber ein wirklich allen Novellen Gemeinsames habe weder vom Inhalt noch vom Aufbau her gefunden werden können. So sei die Einsicht durchgedrungen, dass mit den üblichen Definitionen nichts Befriedigendes erreicht werden könnte. Der Seminarleiter habe daher eine Formel für die Novelle geprägt, die, wenn sie auch auf den ersten Blick ihrer Einfachheit halber überraschend wirkte, in Wirklichkeit doch so etwas wie eine salomonische Lösung sei. Die Formel lautete nämlich: ,Eine Novelle ist nichts anderes als eine Erzählung mittlerer Länge‘.“ (Polheim 1965, 9) Man könnte hier geradezu von einem zeittypischen Kahlschlag in der Novellentheorie sprechen. Die Behauptung einer metaphysischen Kategorisierung einer literarischen Gattung wie der Novelle ruft als Reaktion eine völlige Absage an den Begriff, selbst als Arbeitsbegriff, hervor. Der Absage von Bernhard von Arx an jegliche Novellenkategorien steht wie gesagt Pongs’
II. Überblick über die Forschungsliteratur
„symbolische Novelle“ (Polheim 1965, 35) entgegen. Pongs’ Forschungen „bedeuteten den Einbruch der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise in unser Gebiet“ (Polheim 1965, 32). In seiner detaillierten Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart (1960) versucht Johannes Klein demgegenüber eine eher formal orientierte Differenzierung zwischen Novelle und Erzählung:
Differenz zwischen Novelle und Erzählung: Klein
„Die Erzählung steht zwischen Roman und Novelle. Mit dem Roman teilt sie den Reichtum der Handlung, aber nicht die Verknüpfung verschiedener Handlungskreise. Mit der Novelle teilt sie die Kürze der Szenen, aber nicht deren Ausrichtung auf den Mittelpunkt. Mit dem Roman teilt sie die seelische Entwicklung, aber nicht deren Ausdehnung. Wie die Novelle liebt sie das Ereignis, aber nicht das besondere und auch nicht das zentrale. Die Novelle erhöht den Vorgang und vertieft seine Bedeutung. Die Erzählung nimmt die Vorgänge, wie sie sind […] In der deutlichsten Ausprägung neigt die Novelle zum Heroischen, die Erzählung zum Idyllischen.“ (Klein 1960, 9 f.) Auch mit dieser Definition kann die Forschungsdiskussion nicht als beendet betrachtet werden. Verdienstvoll ist aber sicher Kleins umfangreiche Darstellung der Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert, die gerade im 21. Jahrhundert helfen mag, vergessenes Terrain wiederzuentdecken. Eine beinahe postmoderne Rückwende der Novellenbetrachtung hin zu überkommenen Gattungskriterien markiert der Forschungsbericht von Siegfried Weing (1994). Weing sieht die Novelle als Gattung, die aus verschiedenen hinreichenden, aber nicht unbedingt notwendigen Bausteinen erstellt wird. Es genügt, wenn sie mehrheitlich gegeben sind (Aust 2006, 43). Weing benennt die Bauformen der Novellengattung wie folgt: mittlere Länge, ein wahrscheinliches, aber ungewöhnliches Ereignis, eine begrenzte Anzahl handelnder Personen, ein Rahmen, ein Wendepunkt, ein zentrales Symbol sowie ein Eindringen des Chaos bzw. des Irrationalen in eine ansonsten stabile und rationale Welt (vgl. Weing 1994, 160). Er wendet sich damit gegen „the opposing opinion, formulated by Walter Pabst and modified by Emil Staiger and Bernhard von Arx“. Sie behauptet, „that novellas either share no common characteristics at all or only one – that of medium length“ (Weing 1994, 159). Jenseits des Dogmatismus auf der einen und des radikalen Nihilismus auf der anderen Seite entscheidet sich Weing also für eine Art Baukastenprinzip des Novellierens. Neben den Forschungsberichten sind in der Nachkriegszeit auch mehrere Sammelbände zur Novellendiskussion publiziert worden, aus denen in der vorliegenden Abhandlung auch zitiert wird. Die Wege der Novellenforschung dokumentiert z. B. der Sammelband Novelle, den Josef Kunz (1968, 1972) herausgab. Damit liegt eine sehr praktische Dokumentation vor, die die Novellentheorie von Wieland (1772) bis Harald Weinrich (1964) veranschaulicht. Ein wesentlicher Aufsatz in der Zusammenstellung von Kunz ist Der Falke am Wendepunkt von Manfred Schunicht (1960). Er stellt Folgendes fest: „Die Diskussion über die formalästhetischen Kriterien der Novelle hat inzwischen offenkundig einen toten Punkt erreicht.“ (Schunicht, in: Kunz 1968, 433) Schunicht sieht auch ein Problem bei der traditionellen Orien-
Die Rückkehr zu formalen Kriterien
Der grundlegende Aufsatzband von Josef Kunz
Schunichts Falke am Wendepunkt
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II. Überblick über die Forschungsliteratur
Ernés Kunst der Novelle
tierung an Boccaccio als Musterlieferant der „Novelle an sich“ (ebd., 434). So nehmen der Romantiker Ludwig Tieck und der gründerzeitliche Münchner Realist wider Willen Paul Heyse fälschlicherweise an, „dass Boccaccio und Cervantes die sicheren romanischen Vorbilder in einer Gattung sind, die erst Goethe in Deutschland einführte.“ (ebd., 436) Schunicht stellt im Folgenden viele äußere Einflüsse auf die Entwicklung der deutschen Novellentheorie heraus. Da ist z. B. der Bezug zwischen Wilhelm Wundts (1832–1920) Völkerpsychologie und der Idee von der Novelle als Fortsetzung des Märchens (ebd., 440). Der Einfluss der idealistischen Philosophie zeigt sich in der Vorstellung des Wendepunkts als Treffpunkt des Absoluten mit dem Endlichen. Hier offenbart sich für Schunicht Karl Wilhelm Ferdinand Solgers (1780–1819) Einfluss auf Tiecks Novellenphilosophie (vgl. ebd., 443). Schunicht seinerseits übt Kritik an dieser idealistisch-philosophischen Position. Schließlich habe auch sie Gottfried Kellers abschätziges Diktum vom Novellieren und Nivellieren (vgl. ebd., 447) nicht verhindern können. Einen anderen Novellenpraktiker, Theodor Storm, zitiert Schunicht unterstützend mit dem Ausruf: „Den Boccaccioschen Falken lass ich unbekümmert fliegen“ (ebd., 451). Auch Pongs’ Verständnis des Falken als Symbol (ebd.) sieht Schunicht skeptisch, um dann seinen eigenen Definitionsversuch zu entfalten: „Die Novelle erzählt – alte Einsicht zahlloser Novellentheorien – auf eine Spitze hin.“ (ebd., 457) Ein weiteres Kriterium knüpft an eine Art Diminutivform des Schicksals an: „Der Zufall ist wesentliches Prinzip der subjektiven Teleologie novellistischer Wirklichkeit“ (ebd., 459). Diese Einschätzung wird zeitgleich in der erzählerischen Praxis durch die Novellettensammlung Lauter Zufälle (ebd.) von Wilhelm von Scholz (1874–1969) bestätigt. Anknüpfend an Walter Pabst hält Schunicht schließlich fest: „Es gibt nicht die Novelle überhaupt, es gibt nur Novellen.“ (ebd., 462) Der Journalist, Hochschullehrer und promovierte Germanist Nino Erné (1921–1994) hat in seiner Kunst der Novelle (1956) einen sehr unkonventionellen Beitrag zur Novellendiskussion der Nachkriegszeit geliefert. Seine novellentheoretischen Standpunkte legt er wesentlich der fiktiven Gestalt eines Professors in den Mund, der in einer novellentypischen Gefahrensituation – hier ist es nicht die florentinische Pest wie im Dekameron, sondern die deutsche Nachkriegsnot – eine ebenso gattungsspezifische Rahmengesellschaft – hier sind es keine vornehmen Renaissancemenschen, sondern orientierungssuchende hungernde Studenten – um sich versammelt. Die Binnenerzählungen kreisen um eine Annäherung an die Gattung, die zeitgemäß als Anachronismus im Vergleich zur Kurzgeschichte herausgestellt wird. Seiner italienischen Herkunft gemäß, betont Erné die Verbindung der Novelle mit anderen Medien der italienischen Kulturtradition. So hält er zum Erzählrahmen wie der Form des Novellenkranzes bei Boccaccio fest: „Diese Architektur ist von der gleichen absoluten Symmetrie beherrscht, die Sie an einem Tempel Palladios […] erkennen.“ (Erné 1995, 31) Das Spielprinzip, die Bewahrung der Form in der Varianz, prägt für Erné die Gattung. So wird C. F. Meyers Hochzeit des Mönchs als Erzählspiel beschrieben: „Meyers Personen sind Schachfiguren. Seine Novelle ist eine Meisterpartie.“ (Erné 1995, 68) Im Kontext von Rahmen- und Binnenhandlung hebt Erné
II. Überblick über die Forschungsliteratur
die Bedeutung der beinahe Lacan’schen „Spiegelung“ (Erné 1995, 41) beider Erzählstränge hervor. Die Figur des altitalienischen Dichters Dante in der Rahmenhandlung der Hochzeit des Mönchs (1884) greift als Erzähler der Binnenhandlung nämlich auf Gestalten aus seiner höfischen Zuhörerschaft zurück, die er während des Erzählens in seine Novellenfiguren umformt. Erné liefert dafür in seinem komplexen halbfiktionalen Essay selbst ein treffendes autopoetologisches Beispiel. Der Kanzleirat Irenäus Schnüpselpold (vgl. Erné 1995, 84), eine Novellenfigur des Berliner Romantikers E. T. A. Hoffmann, fungiert nämlich als der Bibliothekar des Professors. Als Produkt der Fantasie verschwindet er folgerichtig nach dem Ableben des Professors ebenfalls auf mysteriöse Weise aus dem Nachkriegs-Berlin. Erné konstruiert hier einen intertextuellen Spiegeleffekt zwischen seiner Abhandlung und Hoffmanns fantastischer Novelle Die Irrungen. Ein Standardwerk der Novellenforschung ist immer noch das Handbuch der deutschen Erzählung (1981), das von Karl Konrad Polheim herausgegeben wurde (Aust 2006, 47). Es umfasst Berichte über die deutsche Erzählung vom Mittalter bis zur damaligen Gegenwart und wird von einer erzähltheoretischen Abhandlung eingeleitet. Der Novellenbegriff selbst ist hier jedoch dünn gestreut. Dem damaligen Diskussionsstand entsprechend, wird der Gattungsbegriff bisweilen taktisch vermieden. Besonders hervorzuheben sind die damals relatives Neuland betretenden Abhandlungen über die deutsche Erzählung Vom Mittelalter zum Humanismus von Joachim Heinzle, über Boccaccio und die deutsche Kurzprosa des 16. Jahrhunderts von Willi Hirdt sowie das Kapitel Vom Humanismus zum Barock von Adolf Haslinger. Gerade von der bisherigen Novellenforschung – etwa Benno von Wieses – wurden diese Jahrhunderte der Gattungsgeschichte nämlich vernachlässigt. Während der Novellenbegriff in Polheims Handbuch gerne umgangen wird, geht Henry H. H. Remak in Novellistische Struktur: der Marschall von Bassompierre und die schöne Krämerin (Bassompierre, Goethe, Hofmannsthal) (1983) den deutlichen Kriterien der Novellendefinition erneut nach und kommt zu einem erstaunlichen Resultat: Am Beispiel einer erotischen Geschichte um eine Krämerin aus den Memoiren des französischen Marschalls Bassompierre (1579–1646) und ihrer Nachwirkung in Goethes Novellenkranz Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und einer stoffgleichen Einzelnovelle von Hugo von Hofmannsthal (1900) bestätigt er die Gültigkeit der traditionellen Gattungskriterien. Das alte Muster sollte nach Remak vorzugsweise übernommen werden wie in Goethes Unterhaltungen, nicht aber psychologisch und stilistisch überladen sein wie im Fall der Version Hofmannsthals. In einer weiteren ausführlichen Abhandlung Remaks, Structural Elements oft he German Novella from Goethe to Thomas Mann (1996, 2001), wird dann im Abschnitt mit dem Titel Der Rahmen der deutschen Novelle: Dauer im Wechsel der Novellenbaukasten erneut variiert: Da geht es um die „Verselbständigung des Rahmens“, die schon bei Erné skizzierte spiegelnde „Vermengung des Rahmens mit der Binnenerzählung“, die dadurch bedingte „Subjektivierung des Rahmens“, also die „wachsende Unsicherheit des Berichterstatters“, mithin die „Verbürgerlichung des Rahmens“ und den „Verlust des Gesellschaftlichen“ (Remak 2001, 235 ff.). Auch Abhandlungen Remaks über Wendepunkt und Pointe in der deutschen Novelle von Keller bis Bergengruen (Remak 2001,
Das Handbuch der deutschen Erzählung
Die Wiederkehr der Novellenform bei Remak
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II. Überblick über die Forschungsliteratur
Winfried Freunds Deutsche Novellen
Schlaffers feministisches, postmodernes Novellenbild
165–182) zeigen eine Konzentration seiner Forschungen auf die Bauformen der Novelle. Remaks Postulat von der Rückkehr der Novellenform kann beinahe als Anfang einer postmodernen Novellendiskussion aufgefasst werden, der die Freude am formalen Spiel wichtiger ist als die Forderung nach der ,tabula rasa‘. Traditionell fällt die Novellendefinition beim Eingangsaufsatz von Winfried Freund in Deutsche Novellen (1993) aus. Inhaltlich und stilistisch bedeutet Freunds Versuch einer Novellendefinition einen Rückbezug auf den Novellenplatonismus der 1950er Jahre, was ihr nicht die Gültigkeit nehmen muss. Manfred Schunichts Überblick am Schluss (323–336) ist eine konzise Zusammenfassung der hochkomplexen Geschichte und der Gattungsproblematik der Novelle. Hannelore Schlaffers Poetik der Novelle (1993) ist eindeutig auf den Modellcharakter Boccaccios ausgerichtet, der für sie nicht nur formale Gattungskriterien liefert. Das Muster des Dekamerons äußert sich nach Schlaffer in einer bestimmten Bandbreite von Novellenstrukturen und gattungstypischen Motiven. Die Arbeitsbegriffe der Novellendefinition fußen bei Schlaffer auf den tradierten deutschen Theorien, wobei besonders die Falkentheorie Paul Heyses hervorzuheben ist. Die dominante Handlungsstruktur liegt in der erotisch verführenden, souveränen Frau im novellistischen Dreieck zwischen zwei männlichen Rivalen, darüber hinaus auch in der Männerfreundschaft (vgl. Aust 2006, 50), die Eve Kosofsky Sedgwick beide als „homosoziales Begehren“ bezeichnet. Interessant ist Schlaffers Versuch, diese an Todorov anknüpfenden Analysen der altitalienischen Novellistik auf die deutsche Novellenproduktion des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Problematisch hingegen sind die minimale forschungsgeschichtliche Auseinandersetzung sowie der enge interpretatorische Fokus. Das 20. Jahrhundert bleibt überdies vernachlässigt. Hannelore Schlaffer sieht die Gattungsgeschichte unter einem Hauptimpetus: „Die Geschichte der Novelle besteht in dem Versuch, den tollkühnen Entwurf Boccaccios rückgängig zu machen. Aber kaum ein Dichter in seiner Nachfolge kommt aus dem Odium des Weiblichen heraus.“ (Schlaffer 1993, 32) Jenes gattungsprägende Weibliche ist klar verortet: „Der Ort der Weiblichkeit und der Schauplatz der Novelle ist das Haus.“ (Schlaffer 1993, 33) Aus den oben umrissenen Kriterien ergibt sich eine klare überzeitliche Struktur der Gattung: „Bei der Novelle, so zumindest lautet die These dieses Buches, sind neue Stoffe immer nur Zutaten zur festgeprägten Form. Ihr Wandel vollzieht sich nicht durch die Stoffwahl, sondern in der Umstrukturierung grundsätzlicher Konstellationen, wie der von Figur und Raum. […] Die Novelle des 19. Jahrhunderts folgt dem alten Schema und addiert den neuen Stoff hinzu. Sie wäre in die quasi-mathematische Formel zu fassen: Muster plus Stoff, Plan plus Farbe.“ (Schlaffer 1993, 81 f.) In ihrem spielerischen Aufgreifen alter Muster wie in ihrer Verbindung dieser Tradition mit einer feministischen Sichtweise ist Schlaffers Poetik als grundlegendes Werk einer postmodernen Novellentheorie aufzufassen, das sich zu der zeitgenössischen Novellenproduktion von Thomas Hürlimann bis Hartmut Lange fügt. Die Rückkehr der Form findet unter völlig neuen weltanschaulichen Vorzeichen statt.
II. Überblick über die Forschungsliteratur
Noch einmal versucht Freund in Novelle (1998) im Hinblick auf eine umfangreiche kontroverse Forschungsliteratur eine Gattungsdefinition. Das menschliche Scheitern bzw. seine Darstellung erscheinen bei ihm als zentrale Gattungsmerkmale (vgl. Freund 1998, 2009, 30). Er konzentriert sich auf eine umfangreiche Darstellung der Novellengeschichte, auch und gerade im 20. Jahrhundert, bei der er viele vergessene Autoren, vor allem des novellentypischen Neoklassizismus, wiederentdeckt. Den Zusammenhang zwischen Novelle und Drama betont Wolfgang Rath (2008). Wie schon bei Bonciani und Storm liegt ein Schwerpunkt auf der Lehre von der Peripetie, die er unter anderem anhand der Technik des Dramas von Gustav Freytag (1816–1895) analysiert. Der Auf- und Abschwung bildet mit dem erkennenden Wendepunkt eine dreifache Gattungsstruktur in Drama und Novelle. Indem er die Novellenhandlung in ideengeschichtliche Zusammenhänge rückt, kehrt Rath eindeutig in die Tradition der Novellenmetaphysik zurück. In der Geschichte der Novelle sieht er überdies im Gegensatz zu Hannelore Schlaffer, aber auch im Widerspruch zu den meisten deutschen Novellentheoretikern des 19. Jahrhunderts einen Bruch zwischen der romanischen Tradition und der Novelle nach der Goethezeit. Anhand von Goethes Novelle stellt Rath folgende Schwerpunkte heraus:
Freunds Überblick über die Gattungsgeschichte
Raths Annäherung an die Novelle
„1. Das Erhabene als Statthalter des Wendepunktes – mit den Merkmalen des Plötzlichen als Verwunderlichem und Überraschendem – eines aufgesprengten Zeitkontinuums in der Vergleichzeitigung von Vergangenheit im Modus der Wiederkehr des Vergangenen. 2. Handlung in der Verspiegelung von Innen und Außen. 3. Lineare Konzeption einer Fallgeschichte.“ (Rath 2008, 115) Schillers Ästhetik, vor allem seine Dramenkonzeption, aber auch der von Kant übernommene Begriff des Erhabenen modifizieren und vertiefen nach Raths Auffassung die deutsche Novelle der Weimarer Klassik gegenüber ihren romanisch-klassischen Vorgängern. Insofern nähert sich Rath wieder Hellmuth Himmel an, der die idealistische Philosophie als Vorbedingung der deutschen Novelle seit der Goethezeit ansah. Hugo Aust konzentriert sich in seinem Handbuch zur Novelle vor allem auf einen Wortschatz der Novellenlehre, um die Gattung und ihre Spezifika zu umreißen. Ausgehend vom Kriterium der Länge (Staiger) kommt er zu Goethes Paradigmen. Diese sind unter den Stichworten ,Unerhört‘, ,Neu‘, ,Wahr‘, ,Eine‘ zusammenzufassen. Zusätzlich kommen noch Elemente der Konzentration, ,Punkt‘ und ,Symbol‘ sowie ein ,Rahmen‘ hinzu. Entscheidend jedoch ist an Austs Novellenkonzeption die Betonung, dass novellistisches Erzählen ein Erzählen nach Mustern darstellt: „Die Novellenproduktion und die geschichtliche Kontinuität der Form erscheinen im Lichte dessen, was die alte Poetik imitatio nannte. Gerade auch Nationen (bzw. charakteristische Regionen) rücken so zu namentlichen Leitbegriffen auf, so dass die Novelle als eine Erzählform ,in der Art der Italiener oder Spanier‘ durchaus sinnvoll bestimmt wird. Es bleibt noch zu erproben, ob das Verfahren, bei der Gattungsidentifizierung auf individuelle Muster zurückzugreifen, nicht ein geschichtlich angemesse-
Austs Skizzierung von Novellenkriterien
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II. Überblick über die Forschungsliteratur
neres Bild der Gattungsbewegung […] ergibt als die gängigen Wachstumsinterpretationen oder Typenfixierungen […]: nicht zufällig begegnet in der Novellengeschichte immer wieder das Projekt der Muster- und Meistersammlungen.“ (Aust 2006, 16).
Boccaccio und die Folgen
Der Rahmen: Geschichte eines Novellenbausteins
Trotz seiner vielfach geäußerten Skepsis gegenüber bisherigen Definitionsversuchen der Novelle gibt Aust also die Suche nach dem Muster keineswegs auf. Der Sammelband Boccaccio und die Folgen, der 2006 von Hugo Aust und Hubertus Fischer herausgegeben wurde, enthält neben Aufsätzen zu Fontane, Theodor Storm. Marie von Ebner-Eschenbach sowie Paul Heyse und Karl Emil Franzos, der die Dorfnovelle zur Ghettogeschichte umformte, auch einen einleitenden Aufsatz von Hans-Jörg Neuschäfer, in dem dieser die Beziehung zwischen romanischem und preußisch-hugenottischem Erzählen über Jahrhunderte der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte hinweg darlegt. In Boccaccio-Cervantes-Fontane. Vom Anfang und Ende der Novellendichtung weist Neuschäfer unter anderem die intertextuelle Verbindung zwischen Boccaccio und seinem Dekameron, das „seit 1554 auf dem Index stand, sozusagen wegen seiner erwiesenen Unmoral“ (Neuschäfer 2006, 15), und den Exemplarischen Novellen des Miguel de Cervantes nach. Bei Theodor Fontanes Effi Briest (1894) wird trotz der gattungstypischen, von der altitalienischen Novelle vorgeprägten Ehebruchshandlung durch die romanhafte Länge der novellistische Rahmen ebenso gesprengt wie die inhaltliche Struktur der Novelle durch Fontanes moralischen Skeptizismus. Das ethische Schema ist obsolet geworden: „Und zwar gerade deshalb, weil letztlich alle Normen auf längere Sicht an Verbindlichkeit verlieren und vom historischen Standpunkt aus zu relativieren sind. Eine so weitgehende Normenskepsis aber, so scheint mir, führt an die Grenze dessen, was in der klassischen Novellistik erzählbar war.“ (Neuschäfer 2006, 21) Gattungsnormen scheinen dasselbe Schicksal zu haben wie moralische Normen. Der historische Überblick relativiert beide. Einem wichtigen Aspekt novellistischen Erzählens, dem Geselligen Erzählen in Rahmenzyklen, widmet sich die gleichnamige Abhandlung von Andreas Beck (2008). Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf Goethe, Tieck und E. T. A. Hoffmann. Beck stellt heraus, dass in der frühen deutschen Boccaccio-Rezeption ab der Übersetzung von 1472 über viele Jahrhunderte „das Rezeptionsinteresse der Vielfalt der Binnenerzählungen, nicht der literarischen Großform“ (Beck 2008, 14) gilt. Er verweist jedoch ebenso auf Vorläufer der bekannten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) von Goethe, etwa auf „das Gastmahl der Crispina in der Römischen Octavia (1677–1707) von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel“ (1633–1714) (ebd.) als frühen deutschen Rahmenzyklus. Die Novellenbausteine waren mithin längst vorhanden, bevor sie in der Goethezeit in eine klassische Form gesetzt wurden.
III. Methoden der Novelleninterpretation 1. Sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle Bei der Betrachtung einer Gattung reicht die Analyse prägender formaler Eigenschaften nicht aus. Um die Funktion einer Gattung wie der Novelle zu verstehen, muss auch das Lesepublikum, auf das sie zielt, analysiert werden. Je nachdem, wie die Interessen eines solchen Publikums gelagert sind, haben diese Einfluss nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form einer Gattung. Dass Friedrich Schiller in Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) einen Kriminalfall schildert, zielt auf ein bestimmtes Publikum, auf dessen Informationsbedürfnis über juristische Sachverhalte und sein Sensationsbedürfnis. Wenn Schiller überdies in Eine großmütige Handlung. Aus der neuesten Geschichte (1782) ein halb anekdotisches, halb novellistisches Beispiel für Bruderliebe und Entsagung präsentiert, dann soll diese Handlung die Erbauung einer zeittypischen Bürgerschicht befördern. Mehr als die Tragödie an den Hoftheatern der deutschen Duodezfürsten, die erst zum Bürgerlichen Trauerspiel umgeformt werden musste, ist die Novelle – im deutschen Sprachraum und anderswo – eine genuin bürgerliche Gattung. Bürger sind ihre Rezipienten schon in Spätmittelalter und Renaissance, während der Adel das vorgetragene Epos und den späten Minnesang bevorzugte, Bürger sind oft genug, aber nicht immer auch die handelnden Personen der Novelle. Diese soziale Verortung liegt schon in ihren Ursprüngen begründet. Der Romanist Werner Krauss sieht diesen sozialen Aspekt der Gattung in Verbindung mit den im marxistischen Sinn frühbürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnissen der Renaissance, in der ein Lebensgefühl des stetigen zeitlichen Wechsels seinen Ursprung hat. Die Erzählzeit der Novelle ist für Krauss ein Produkt der neuen Zeitökonomie des aufblühenden Geschäftslebens: „Dagegen bekundet der novellistische Ablauf die neue Erfahrung der wachsenden Zeitverknappung. Der Kampf ums Dasein wird nur durch die Zeitbeherrschung gewonnen. Der Lebenswert der Novelle liegt in der Neuheit, in der die Spitze des Zeiterlebens hervortritt. Die novellistische Handlung wird vom Zeitbewusstsein getragen. Das zeitliche Maß ergibt den Maßstab der Menschen zur Herrschaft über die Dinge. Die beginnende Ära des Kapitalismus wird in der Tat im Wert der Zeit den Lebenswert erfassen; die Zeit wird zum letzten Maßstab über jeglichen Wert erhoben.“ (Krauss 1965, 116) Eilige Leute brauchen kurze Lektüren. Das Lesen haben sie gelernt, um sich im Geschäftsleben zurecht zu finden. Ihre Lektüre wählen sie ebenso nutzorientiert aus – sie soll belehren und unterhalten; adlige Selbstbestätigung
Die Novelle und das bürgerliche Publikum
Novelle und bürgerliche Zeitknappheit
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III. Methoden der Novelleninterpretation
Novelle und bürgerliches Journal
Novelle und bürgerliches Publikum
im langatmigen Ritterepos, die heroische Identifikation mit Artus- oder Nibelungenstoffen, interessiert da weniger, Ehebruch- und Mordgeschichten schon mehr. Philippe Ariès verweist im Zusammenhang mit der frühbürgerlichen Gesellschaft auf Jacques Le Goffs Begriff der „,Zeit des Händlers‘, die zugleich die ,Zeit der Arbeit‘ war, eine Zeit, die sich ihre Glocke von der Kirche borgen musste …“ (Ariès 1994, 152 f.). „Die vielschichtige Welt“ der Neuzeit – so Rolf Kramer – „lässt die Zeit knapper werden.“ (Kramer 2000, 200) Auch im 18. und 19. Jahrhundert gibt es wie im Florenz Boccaccios einen Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Zeitökonomie und der Novellenform bzw. -länge. Frohe Stunden vor dem Schlafen gehen heißt beispielsweise eine 1811 erschienene Novellensammlung, die unter anderem Novellen von August von Kotzebue (1761–1819) und August Lafontaine (1758–1831) enthält und deren Titel anzeigt, wo in der bürgerlichen Zeitökonomie des Tagesablaufs eine Zeitspanne für kurze Geschichten verbleibt (vgl. Wehle 1984, 240). In seiner Abhandlung Novelle und Journal weist Reinhart Meyer für den Beginn des 19. Jahrhunderts als einer Blütezeit der Novelle nach, dass die meisten Novellen nicht nur in Zeitungen veröffentlicht wurden, sondern der Novellenbegriff oftmals synonym mit dem Begriff Zeitung verwendet wurde (vgl. Meyer 1987, Bd. 1, 114 f.). Für die sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle, auch und vor allem, was das bürgerliche Lesepublikum betrifft, ist also der Umstand bedeutsam, dass die Lektüre der Novelle mit der Zeitungslektüre identisch war. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn Meyer seine These „Kürzere Erzählprosa ist in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich Journalprosa“ (ebd., 40) mit vielen Belegen stützen kann. Die zeitkritischen Novellen eines Zeitschriftenmachers wie Johann Heinrich Zschokke (1771–1848) – laut Meyer einer der „bedeutendsten Journal-Herausgeber der Zeit“ (ebd., 209) – sind Belege für die Symbiose von Novelle und Journal. Diese Verbindung belegt aber auch die Tatsache, dass E. T. A. Hoffmann „unter dem Titel Die Serapions-Brüder nochmals völlig unverändert vierundzwanzig bereits in Zeitschriften erschienene Beiträge, denen nur zwei neue beigegeben wurden“ (ebd., 46 f.), publizierte. Die bürgerliche Presse und die Novelle bedingen einander im bürgerlichen Zeitalter. Die knappe Erzähl- und Lesezeit des deutschen Bürgers des 18. und 19. Jahrhunderts, zwischen seinem behaglichen Heim einerseits, dem Kontor oder der Manufaktur bzw. Fabrik andererseits, verlangt auch bei der knappen, konzentrierten Feierabendlektüre nach leichter Verständlichkeit. Diese kann bei der Novelle inhaltlich gewährleistet werden durch prägnante Motive und eingängige Symbole, denen „ein besonderer Gehalt, der seine Verwendung in bestimmten Gattungen begünstigt“ (Kayser 1960, 61), zukommt. Das bürgerliche Lesepublikum verlangt darüber hinaus nach immer neuem preiswerten Lesestoff und auch heutige Klassiker wie Friedrich Schiller mit seinen Horen oder Heinrich von Kleist mit seinem Phöbus beteiligten sich folglich an der Herausgabe des bürgerlichen Mediums Zeitschrift (und gedachten, damit ihren Verdienst aufzubessern). Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, soll die Novellenlektüre zunächst in den ,moralischen Wochenschriften‘, wie sie der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched (1700–1766) herausgab, erbau-
1. Sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle
lich und belehrend sein. Die in diesem Kontext veröffentlichten Novellen hatten entsprechend eher eine didaktische Zielrichtung. Seit der Romantik steht dann das Schauerliche, aber auch der ästhetische Eigenwert der Novelle, die immer mehr theoretische Betrachtung und somit Rechtfertigung erfährt, im Mittelpunkt. Doch nicht nur das Lesepublikum der Novellen ist von bürgerlichen Interessen geleitet, in der Novelle treten auch oft bürgerliche Gestalten auf: Skurrile kunstsinnige Juristen wie Hoffmanns Rat Krespel in der gleichnamigen Novelle oder grotesk-gefährliche Kanzleiräte wie Schnüpselpold in Die Irrungen sind da zu beobachten; ein Aufsteiger wie Hauke Haien in Theodor Storms Schimmelreiter dient als (problematische) Identifikationsfigur, ein Absteiger wie Aschenbach in Thomas Manns Tod in Venedig kann mit innerer Anteilnahme und Bestätigung betrachtet werden. Die bürgerlichen Gestalten sind schon seit dem 14. Jahrhundert gattungstypisch. Man trifft sie in der Anfangszeit der Novelle als betrogene Kauf- und Ehemänner, verirrte Künstler und gerissene Advokaten. Schon der erste Verfasser einer in sich geschlossenen Novellenpoetik, Francesco Bonciani (1552–1619), betont das Bürgerliche der Gattung. Dieser humanistische italienische Gelehrte versuchte, die noch relativ neue Gattung der Novelle in das überlieferte poetologische Regelsystem einzubinden und so gültig zu definieren. Dies geschah in der Lezione sopra il comporre delle novelle (Florenz, 1574). Bonciani war nicht nur Gelehrter und Geistlicher (ab 1613 Erzbischof von Pisa), sondern auch Diplomat, unter anderem im Auftrag Cosimos II. Er wirkte durch seine Beteiligung an den Untersuchungen gegen Galilei sogar mit am Ende der Renaissanceepoche, die sein Werk prägte. Die altitalienische Novelle, auf die sich die Theoretiker der deutschen Novelle stets berufen, ist bereits nach Boncianis Theoriebildung eine bürgerliche Gattung. Ihr Personal ist die frühbürgerliche Mittelschicht der italienischen Stadtrepubliken, die bereits die gemütlichen Züge der Leute aus Gottfried Kellers Seldwyla, einem erfundenen Novellenort in der behaglichen Schweiz, tragen. Im 16. Jahrhundert ist das aber durchaus ungewöhnlich: Zwischen Göttern und Königen einerseits und Hirten und Bauern andererseits ist im poetischen Regelsystem eigentlich kaum noch Platz für die Mittelschichten. Dass sie trotzdem in der Novelle ihren angestammten Platz haben, hat einen durchaus regelpoetischen Grund. Die Novelle ist für ihren frühen Theoretiker nämlich in erster Linie eine komische Gattung. Und in der „können“ nach Bonciani „zwar auch wichtige und unbedeutende Menschen derart handeln, dass wir mit Recht über ihre Handlungen zum Lachen bewegt werden können“ (Bonciani Typoskript, 17). Respekt vor hohem Rang und göttlicher Weltordnung lassen dem Publikum bei jenen Gesellschaftsschichten jedoch das Lachen im Hals stecken. Dies geschieht im Fall der höheren Stände „entweder weil, da das Lachen einen Tadel oder Spott des Verlachten enthält, das ein übler Gebrauch der Mächtigen wäre, die gewissermaßen von Gott an so ansehnliche Stelle gesetzt sind; oder weil sie von sich selber aus den Tadel nicht wünschen und deshalb durch ihre Macht uns zwingen, diesen natürlichen Affekt zu zügeln; oder aus beiden Gründen zusammen“ (Bonciani Typoskript, 17). Die mächtige Zensur ist überdies auch im 16. Jahrhundert wie im Jahrhundert eines Fürsten Metter-
Bürger als Novellengestalten
Francesco Boncianis Novellenpoetik (1574)
Die bürgerliche Gattung Novelle seit der Renaissance
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III. Methoden der Novelleninterpretation
Die bürgerlichrevolutionäre Novelle im 19. Jahrhundert
nich ein Aspekt literarischer Tradition: „Deshalb wird der Novellist sich auch scheuen, solche Personen nachzubilden.“ Moralische Selbstzensur ist demgegenüber bei „den ganz Elenden“ geboten, „welche eher Mitleiden als Gelächter erregen. So sind also die Menschen von mittlerem Stande die für uns geeigneten“ (Bonciani Typoskript, 17). Bonciani nennt als Beispiele für bürgerliche Novellenfiguren „etwa de[n] dicke[n] Bildschnitzer, der sich einreden lässt, er sei ein anderer, oder Ferondo, dem man glauben macht, er sei tot und befinde sich im Jenseits. [Dekameron III.8] Bei dieser Art von Menschen muss man dann also nicht ihre gewöhnlichen Handlungen nachbilden, auch wenn sie dumm sind, sondern ihre außergewöhnlichen“ (Bonciani Typoskript, 18). In der Tradition des europäischen Novellenmusters ist vom Außergewöhnlichen zum Unerhörten im Sinne Goethes der Schritt dann nicht weit. Die Novelle zeigt folglich, dass auch Bürger Unerhörtes erleben können. Dieses Außergewöhnliche, bisweilen Surreale, wird auf komödiantischem Niveau in der Novelle auch den mittleren Ständen zugestanden. Bürger können im späteren Verlauf der Gattungsgeschichte tragisch an der Liebe zugrunde gehen wie der Magister Zerbin in der nach ihm benannten Novelle von Jakob Michael Reinhold Lenz, Bürger können fantastische Dinge mitten in Berlin erleben, wie der Flaneur in E. T. A. Hoffmanns Das öde Haus (1817). Der mittlere Stand ihres Personals zu Beginn der Novellengeschichte hängt im poetologischen Regelsystem Boncianis ursprünglich unter anderem mit dem „Stil“ der Novelle zusammen: „Nur können wir im Allgemeinen feststellen, dass für die Novellen am besten der Stil passt, welchen […] wir einfach und niedrig [nennen]; denn da sie in Prosa geschrieben sind […], so wäre hier jene Erhabenheit nicht am Platze, welche Tragödie und Epos verlangen.“ (Bonciani Typoskript, 19) Auch die deutsche Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts kennt eine Konzentration auf die Mittelschichten – als handelnde Figuren wie als Rezipienten. Die soziale und literaturtheoretische Lage der Gattung ist in dieser Epoche freilich eine völlig andere. Für Theodor Mundt nistet sich in der Vormärzzeit vor der Revolution von 1848 die Novelle geradezu als „Haustier“ in der biedermeierlich-bürgerlichen Idylle ein, „sitzt mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische Allegorie […]. Draußen vor dem Schauspielhause sind auch Gendarmerie und Polizei aufgestellt und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und sie flüchtet sich auf die gute Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, […] er glaubt an die Freiheit.“ (Mundt, in: Polheim 1970, 70) Die Stoßrichtung des Bürgerlichen ist hier gegenläufig zu Bonciani: Es gärt nämlich in der humoristischen Kleinwelt des Bürgertums. Unter der Zipfelmütze lauert die Revolte, deren Geist auch durch die zeitkritische Novelle dorthin gelangte. Im bürgerlichen Zeitalter zwingen keine Ständeklausel und keine göttliche Weltordnung die Novelle in die Bürgerlichkeit; sie ist im Gegenteil bisweilen – etwa in den sozialkritischen Novellen Heinrich
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen
Zschokkes und Heinrich Laubes oder in Gottfried Kellers Das Fähnlein der sieben Aufrechten (1860/61) geradezu bürgerlich-revolutionär. Nicht nur bürgerliche Zeitschriften oder der Bürgerfleiß, der wenig Zeit zu Lektüre lässt, bestimmen also die sozialgeschichtliche Einordnung der Novelle. Auch die Zensur hat diese Gattung begünstigt. In novellistischer Verpackung konnte sich bürgerliches Bewusstsein, das oft durchaus nicht bieder, sondern vielmehr demokratisch-revolutionär war, einfacher in die bürgerliche Stube einschleichen. Das Beispiel der Novellentheorie Theodor Mundts zeigt aber auch, dass die Novelle vom 16. bis ins 19. Jahrhundert unter völlig unterschiedlichen historischen Voraussetzungen eine erstaunlich stabile Gattung darstellt.
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen Die Stabilität der Gattung Novelle ist nicht nur anhand des Erzählrahmens über die Epochengrenzen hinweg belegbar. Gerade die altitalienischen Muster der Novelle beginnen oft mit einer präzisen Ortsangabe und den Adverbien ,neulich‘ oder ,jüngst‘. Auch Friedrich Schlegel betont im 429. Athenäumsfragment, dass die „Novelle in jedem Punkt ihres Seins und ihres Werdens neu und frappant sein muss“ (Kunz 1968, 38). Die Novelle ist eben auch eine „unerhörte Begebenheit“ (Goethe). Zur Neuigkeit, die auch in alten Chroniken – etwa über einen Michael Kohlhaas bzw. Hans Kohlhase – verborgen sein kann, gesellen sich typische Bauformen hinzu, die wie in einem Setzkasten bei der Novellenkomposition immer wieder verwendet werden können, bis hin zu einer zeitgenössischen Novelle wie Schweigeminute von Siegfried Lenz (2008). Diese Bauformen sind wesentlich in einer altitalienisch-deutschen Novellentradition entstanden und nicht automatisch auf andere Literaturen übertragbar. Vor allem zum angelsächsischen Bereich ergeben sich Differenzen, während andererseits das zuerst auf Französisch erschienene Manuskript von Saragossa des polnischen Schriftstellers Jan Graf Potocki (1761–1815) das Muster des Dekamerons bis hin zu einem vielfachen Novellenrahmen ausbaut. Angesichts der Stabilität der Bauformen ist jedoch festzuhalten, dass die Theoretiker und die Novellisten in ihren jeweiligen Epochen trotz gänzlich unterschiedlicher Voraussetzungen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Dies ist unter anderem ein Ergebnis der oben skizzierten Forschungsdiskussion. Die Bauformen bilden die Novelle als erzähltechnisch und symbolisch überstrukturierte Prosa-Gattung aus. Besonders hervorzuheben sind hierbei folgende Epochen übergreifende Besonderheiten und Bausteine, die schon im 16. Jahrhundert in der Poetik des Erzbischofs Bonciani zu finden sind: – Seit der Spätrenaissance gilt die Novellistik Boccaccios als allgemein akzeptiertes Gattungsmuster. Das bedingt seit jeher auch eine gewisse Bevorzugung italienischer Stoffe in der deutschen Novellistik bis hin zu den Italienischen Novellen von Hartmut Lange (1998). – Die Novellengattung besitzt eine wesensbestimmende Bildhaftigkeit, die sich etwa im Fall des Dekamerons in entsprechenden Illustrationen (vgl. König 1989), in der deutschen Novellistik aber in Gattungsbezeichnungen wie ,Nachtstücke‘ (E. T. A. Hoffmann), ,Niederländische Gemälde‘ (Fried-
Bauformen der deutschitalienischen Novelle
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III. Methoden der Novelleninterpretation
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Der Rahmen als traditioneller Baustein
rich Hebbel), ,Blumenstück‘ (Adalbert Stifter) oder ,Studie‘ (Gerhart Hauptmann) niederschlägt. Viele Novellenautoren entnehmen der Kunstsphäre Bezeichnungen für Bildformen und übertragen sie dann auf ihr eigenes Erzählwerk. Auch bestimmte Bildmotive (wie etwa der dunkle Schlossraum im flackernden Kerzenschein im ,Nachtstück‘) werden von der Bildenden Kunst auf die Literatur übertragen. Die Novelle gilt als „Schwester des Dramas“ (vgl. Storm 1881), was in der ursprünglichen Renaissancepoetik der Gattung neben bestimmten tatsächlichen Gattungsspezifika vor allem der Autorität der Tragödientheorie des Aristoteles geschuldet ist. Eine (niedrige) Gattung wie die Novelle sollte sich am (höherrangigen) Drama orientieren. Deshalb war auch die Novellentheorie auf die Dramentheorie ausgerichtet. Novellen werden jedoch nicht nur Dramen nachgebaut. Manchmal entstehen auch Dramen aus Novellen, wie z. B. im Fall Shakespeares oder von Theodor Körners Toni, der den Stoff von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811) auf die Bühnenbretter brachte. Auch die zahlreichen Verfilmungen der Novellen von Thomas Mann sind solche Dramatisierungen. An die Dramenstruktur knüpft die zentrale Stellung des Wendepunkts oder Umschlags (Peripetie) in der Novellenhandlung an. Dies ist auch in Boncianis Renaissancepoetik wie später beim Romantiker Ludwig Tieck verbunden mit dem Element des Wunderbaren. Die Schicksalswende der Novelle führt die Handlung in andere Sphären. Hervorgehoben wird schon 1574 bei Bonciani die gattungsspezifische Bedeutung eines Zeichens, das später als Zentralmotiv fungiert, wobei hier nicht – wie bei Paul Heyse – der Falke Boccaccios, sondern z. B. das Ringmotiv oder körperliche Merkmale als handlungsbestimmende Kennzeichen genannt werden. Diese Bausteine bewegen oft die Handlung vorwärts, indem z. B. Menschen den Ring besitzen wollen und so zu Aktionen motiviert werden. Seit jeher gilt die Novelle als tendenziell bürgerliche Gattung mit handelnden Personen mittleren Standes. Freilich: Die novellenspezifische Konzentration auf das (Früh-)Bürgertum ist im 16. Jahrhundert eben kein Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins wie im 19. Jahrhundert. Zusätzlich ist der strukturierende, oft in beschaulichem Milieu angesiedelte Novellenrahmen hervorzuheben, „jene Form gesellschaftlicher Bukolik, der in den romanischen Ländern eine so reiche Auswirkung beschieden war“ (Erich Auerbach 1970, 5). Novellen werden oft in geselligem Rahmen erzählt, sei es in Gesellschaften auf dem Land, im Salon oder im Bahnabteil. Nicht der unbekannte Novellentheoretiker Bonciani, sondern der bekannte Novellenautor Boccaccio hat diesen Baustein in der Renaissanceepoche als Erster eingesetzt.
Der Novellenrahmen ist eigentlich schon durch die Alltagssituation des Erzählens festgelegt und auf diese Weise naheliegend. Erst später kommen der schriftliche Bericht, beispielsweise in der Chroniknovelle, und im Zuge der Etablierung der wissenschaftlichen Psychologie die persönliche Erinnerung hinzu, sodass sich die Erinnerungsnovelle (z. B. Theodor Storms Immensee) ausbildet. Vom Heptameron der Margarete von Navarra (1558) über Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und Wie-
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen
lands Hexameron von Rosenhain (1803–1805), von Gottfried Kellers erstem Band der Züricher Novellen (1876–77) und Das Sinngedicht (1881) und von Werner Bergengruens Das Buch Rodenstein (1927) bis hin zu Im Krebsgang (2002) von Günter Grass reicht die Reihe der Adepten des gerahmten Dekamerons. Im Rahmen wird denn auch oft gerechtfertigt, warum eine bestimmte Novelle erzählt wird und warum nicht. Als Beispiel für eine tragische Novelle gilt etwa die unerhörte Geschichte der Ghismonda, deren eifersüchtiger Vater ihr das Herz ihres heimlichen Liebhabers servieren lässt (Dekameron IV, 1). Das Handlungsschema jener mit dem Herzmaere des Konrad von Würzburg (ca. 1220–1287) inhaltlich verwandten mittelalterlich-grausamen Novelle verläuft wie folgt: „Tancredi, Fürst von Salerno, tötet den Geliebten seiner Tochter und schickt ihr sein Herz in einer goldenen Schale; sie aber gießt vergiftetes Wasser darüber und stirbt“ (Boccaccio 1961, 216). Im Erzählrahmen Boccaccios wird die ungewöhnlich grausame Handlung durch eine Kontrastästhetik des Erzählers der Novelle gerechtfertigt: „Vielleicht tat er es, um die Heiterkeit der vorigen Tage ein wenig auszugleichen.“ (ebd.) Boccaccio liefert mithin nicht nur das Modell für den Novellenrahmen, sondern auch ein frühes Beispiel für eine blutige Gruselnovelle. Die Autorität Boccaccios ist wiederum ein Spezifikum der Novellentheorie seit dem 16. Jahrhundert. Die Belegstellen aus dem Dekameron sind nämlich schon im Traktat Boncianis ein modellbildendes Leitmotiv. Allein achtundzwanzig „jene[r] hundert Urnovellen, welchen das Programm der Novellistik gleichsam auf einem Spruchband aus dem Halse hängt“ (Riehl, in: Polheim 1970, 31), werden in Boncianis knappem Text genannt, zitiert und wiedergegeben. Diese Konzentration auf Boccaccio, den Meister aus dem toskanischen Certaldo, und seine „verschwenderische Fülle des Faktischen“ (A. W. Schlegel, in: Polheim 1970, 19) haben die Ausführungen Boncianis mit den viel späteren Ansätzen von Friedrich und August Wilhelm Schlegel und anderen deutschen Novellentheoretikern gemein. Auch den deutschen Theoretikern ist „Boccaz“ (so wird er von F. Schlegel genannt) Jahrhunderte später der Leitstern nicht allein der deutschen Novellistik, denn „in dem Dekamerone des Boccaccio […] nahm die Dichtart ihren eigenen Gang, worin viel Verstand und feine Ausbildung des Einzelnen ist“ (A. W. Schlegel, in: Polheim 1970, 15). Die altitalienische Novelle erscheint mithin als das Modell für die deutsche Novelle. Schließlich ist „selbst der aristotelische Gesetzgeber der Novelle, Francesco Bonciani, in seiner viel späteren Zeit doch in keinem Stück theoretisch über seine Praxis“ (Ernst 1941, 281) hinausgekommen. Noch heute ist für Hans-Jörg Neuschäfer Boccaccio der, „der das Genre der Novelle gleichsam erfunden hat, indem er das Geschichtenerzählen gleichsam auf eine neue Basis stellte“ (Neuschäfer 2006, 11). Diesen Vorlagen- bzw. Vorbildcharakter hatte die altitalienische Novelle seit der Zeit des deutschen Frühhumanismus in der Literatur selbst. Seit der Goethezeit wurde diese Musterfunktion dann auch theoretisch und philosophisch untermauert, wobei stets das Problem aufscheint, dass es die romanische ,novella‘ ebenso wenig gibt wie die deutsche Novelle. Zwischen Novellentheorie und Novellenschaffen tut sich traditionell ein Graben auf. So ist gerade im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der romantischen Märchennovelle und der gründerzeitlichen Monumentalnovelle, eher
Der Vorbildcharakter des Dekamerons
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III. Methoden der Novelleninterpretation
Novellenwelt und Bildwelt
die Theorie als die Praxis der novellistischen Literaturproduktion an italienischer Kürze und Klarheit orientiert. Was nützt nun aber diese Orientierung an Boccaccio für die Novelleninterpretation und -definition? Zunächst haben die Novellisten durch Boccaccio einige Gattungsbausteine erhalten; neben dem ausbaufähigen Erzählrahmen ist unter anderem das besagte novellistische Dreieck, das zumeist von zwei Männern und einer Frau gebildet wird, zu nennen, welches selbst in der grausamen Herznovelle variiert wird. Auch Boccaccios humoristische Figuren wurden zumindest in der italienischen Novellistik bis hin zu Luigi Pirandellos (1867–1936) Novellen für ein Jahr gerne übernommen und weiterentwickelt. Nicht nur das Personal, auch die Bildhaftigkeit der Novelle geht auf Boccaccio zurück. Das Bild ist ein weiterer möglicher Baustein der Novelle, wie Novellentitel wie Das Bild des Kaisers von Wilhelm Hauff (1802–1827) oder Die Gemälde von Ludwig Tieck (1773–1853) belegen. Auch das titelgebende Zentralmotiv und Dingsymbol des Amuletts ist bei Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) im Grunde ein Marienbild. Bildern wohnt eine große Zeichenhaftigkeit, Symbolkraft bis hin zur Heilkraft inne. Das Dekameron selbst wurde schon früh in Frankreich illustriert. Im Auftrag des Burgunderherzogs Johann Ohnefurcht wurde das Werk ab 1414 übersetzt und präzise bebildert. Eberhard König betont im Kontext dieser ersten „Bilderhandschrift“, dass „Illustration […] immer mit dem Schreiben verwandt“ ist: „sie setzt Begriffe und Personen in Bildformen um und neigt dabei zur Reihung“. Wie Drama und Novelle neigt die Illustration zur „Einheit des Bildes in Raum, Licht und Gestik“, was viel später etwa Novellen, die als ,Nachtstücke‘ bezeichnet werden, belegen. Das Drama, aber etwa auch die Ehebruchs-Novellistik Boccaccios gewähren wie die Bilderhandschrift einen „fragmentierte[n] Blick in […] bühnenhafte Innenräume“ (König 1989, 35), die auch intime Verstecke sein können. Dieses intermediale, verschiedene Medien wie Text und Bild verbindende kulturgeschichtliche Faktum untermauert einen weiteren Grundbaustein der Novelle zwischen Boccaccio, der altitalienischen Novellentheorie des 16. Jahrhunderts und der deutschen Novellenbetrachtung des 19. Jahrhunderts: die (Sinn-)Bildhaftigkeit der Gattung, die mit ihrer Anschaulichkeit und mit ihrer komprimierten Form in Einklang steht. Der altitalienische Gelehrte Bonciani sagt 1574 hierzu: „Was Nachbildung ist, wollen wir uns klar machen, an dem Beispiel eines Gemäldes, welches die Eroberung von Carthago darstellt. Ein solches Gemälde kann man nicht Nachbildung nennen, sondern wir müssen sagen: es existiert eine Beziehung zwischen dem Ding, das nachgebildet wird und dem Ding, das nachbildet; diese ergibt sich aus der Ähnlichkeit beider, und das ist im eigentlichen Sinne die Nachbildung.“ (Bonciani Typoskript, 8) Was bei Bonciani ein novellistisch relevantes Gemälde eines historischen Wendepunkts ist, ist in der deutschen Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts z. B. für Wilhelm Heinrich Riehl, den Schöpfer Kulturgeschichtlicher Novellen, der „echte Holzschnitt“ (zit. nach Polheim 1970, 127), der tatsächlich viele Novellenausgaben schmückt. Die bildlich fassbare, relativ einfache Handlung prägt die Novelle. Diese bildliche Fasslichkeit fügt sich zudem zur traditionellen Anforderung, dass man die Handlung einer Novelle in einem Satz zusammenfassen sollte. Friedrich Hebbel benennt seine Novellen nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus soziologischen Gründen
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen
nach Bildern: „Ich habe ihnen den Titel: niederländische Gemälde vorgesetzt. Dadurch wollte ich andeuten, dass sie aus dem Leben, und zwar großenteils aus dem Leben der niederen Stände geschöpft sind.“ (Polheim 1970, 98) Noch eine 2001 veröffentlichte Italiennovelle Josef Winklers, die das römische Alltagsleben illustriert, trägt den Titel Natura morta, zu Deutsch also Stillleben. In der Orientierung an Sinn-Bildern wie an der Malerei zeigt sich ein weiterer Baustein, aber auch ein weiteres Motivfeld, auf das Novellenautoren gern zurückgreifen. Ob die Novelle selbst als Bild fungiert oder eines zum Thema macht: Die bildhafte Prägnanz ist ein wesentliches Gattungsmerkmal. Ein weiteres Merkmal der Novelle ist die bedeutende Verschwisterung mit dem Drama. Im Hinblick auf Bonciani und seine aristotelische Novellentheorie ist das bekannte Wort Theodor Storms von der seinerzeit aktuellen Novelle als Schwester des Dramas, zumindest bezüglich der Einschränkung auf seine Zeit, falsch: „die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens.“ (Storm 1881, in: Polheim 1970, 119). Schon die altitalienische Novellenpoetik orientiert sich am Drama als Gattung mit hoher Dignität. Sie zeigt sich im Regelsystem Boncianis jedoch auch im Unterschied. Etwa in der Tatsache, dass Tragödie und Komödie nach poetologischer Tradition ihre Handlung auf vierundzwanzig Stunden beschränken müssen, die Novelle aber in ihrer Zeitgestaltung bei Weitem freier ist: „Die Novelle aber, welche nicht eine solche Zeit vorgeschrieben hat, kann eine Handlung, die sich durch zwei oder drei Jahre hindurch zieht, erzählen, wie sie will.“ (Bonciani Typoskript, 10) Selbst die strenge aristotelische Renaissancepoetik garantiert der Novelle demnach ihre Freiheiten. Dazu gehört, dass „die Novelle wunderbarere Dinge erzählen wie die Komödie darzustellen vermag“ (Bonciani Typoskript, 11), was in der Romantik auch bei Tieck anklingt. Tieck verbindet den novellentypischen Wendepunkt mit dem Wunderbaren im Alltag: „Diese Wendung der Geschichte […] wird sich in der Phantasie des Lesers umso fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Umständen wieder alltäglich werden könnte.“ (Kunz 1968, 53) Trotz aller Gestaltungsfreiheit gibt es also ein gemeinsames Strukturmerkmal zwischen Novellistik und Dramatik: die Peripetie. Die Novelle muss nach Boncianis Regelwerk den Wendepunkt auch deshalb übernehmen, weil die Dramatik die bestimmende Gattung ist. Später geht diese regelpoetische Rechtfertigung verloren; das Grundelement selbst aber verbleibt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont beispielsweise A. W. Schlegel für die deutsche Novellenpoetik, dass „die Novelle entscheidender Wendepunkte“ (Polheim 1970, 18) bedürfe, „so dass die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen, und dies Bedürfnis hat auch das Drama“ (ebd.). Auch Ludwig Tieck sieht „jenen auffallenden Wendepunkt […], der sie von allen Gattungen der Erzählung unterscheidet“ (Polheim 1970, 76), als prägend für die Form der Novelle an. Die „Handlungen“, die „für die Novelle geeignet sind“, will Bonciani „wie Aristoteles einteilen in einfache und verwickelte. Einfache nenne ich die, bei denen der Umschlag erfolgt ohne Erkennung und jenen großen Umschwung, der Peripetie heißt, und verwickelt die, welche Erkennung und
Die Novelle als Schwester des Dramas
Der Wendepunkt
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III. Methoden der Novelleninterpretation
Zentralmotiv und Dingsymbol
Heyse: die Falkennovelle
Peripetie oder beides zugleich haben“ (Bonciani Typoskript, 14). Diese „Erkennung ist nach Aristoteles ein Übergang vom Nichtwissen zum Wissen, der in verschiedener Weise vor sich gehen kann, weil man eine Tat oder eine Person erkennen kann; und nicht nur Menschen, sondern auch unbelebte Dinge“ (ebd.). Wenn z. B. die Marquise von O… in Heinrich von Kleists (1777–1811) gleichnamiger Novelle erkennt, dass der Offizier Graf F., der sie bei der Eroberung einer Zitadelle anscheinend vor der Vergewaltigung durch seine Soldaten rettete, sie anschließend selbst missbraucht hat (was ihr durch eine Ohnmacht entfallen war), so ist dies gleichzeitig der Wendepunkt der Novelle wie der jähe Umschlag von Nichtwissen in Wissen: Der rettende Engel war ein Teufel. Das, was heute Zentralmotiv genannt wird, klingt bereits in der Entstehungszeit der Gattung als novellentypisches Zeichen an. Es führt oft zum besagten Wendepunkt „der Erkennung“ (Bonciani Typoskript, 14). Das Kennzeichen ist schon bei Bonciani ein die Novellenhandlung motivierendes Motiv: „Kennzeichen gibt es verschiedene Arten, nämlich solche, die von uns getrennt werden können, wie eine Kette, ein Ring und solche, die untrennbar mit unserer Person verbunden sind; diese letzteren sind entweder einer ganzen Familie eigentümlich, oder einem Einzelnen; und in letzterem Fall entweder angeboren oder erworben. Alle diese Kennzeichen kann der Novellist anwenden.“ (ebd.) Über diese Zeichen, seien es Körpermerkmale oder Dinge, können sich Novellenfiguren wiedererkennen. In der Novelle Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) erkennt z. B. der Grundherr an der Narbe eines toten Selbstmörders, dass dieser der flüchtige Verbrecher Friedrich Mergel und nicht sein verwandter Doppelgänger ist, für den er gehalten wurde. Durch diesen Umschlag der Erkenntnis muss das vorhergehende Geschehen neu gedeutet werden. In der deutschen Novellenpoetik des 20. Jahrhunderts wird ein solches Zeichen zu einem hochkomplexen Symbol ausgebaut, das nach Jürgen Link als Kollektivsymbol bezeichnet werden kann. Um den Unterschied zwischen dem Zeichen und dem Symbol zu verstehen, hilft eine Erläuterung von Hermann Pongs, den Symbolbedarf der deutschen Novelle im Unterschied zur altitalienischen Novelle betreffend: Die deutsche Novelle „gibt Anlass, eine Fülle symbolischer Formen auszubreiten in der Polarität des geschlossenen und offenen Baus […]. Doch wird in der deutschen Novelle im Gegensatz zur romanischen Urform das bestimmende Dingsymbol […] mit seiner konstruktiven Klarheit mehr und mehr hineingenommen in das Ganze einer symbolisch aufgefassten Existenz.“ (Pongs 1969, 2) Wegen eines Zeichens hat eine der vielen Novellen des Dekamerons heute noch einen besonderen Status, zumindest in der deutschen Literaturgeschichte. Es handelt sich um die sogenannte Falkennovelle, in der ausnahmsweise Adlige und nicht – wie so oft in der Novellistik – Bürger im Mittelpunkt stehen. Der deutsche Sonderstatus dieser Novelle geht auf den Novellenautor Paul Heyse (1830–1914) zurück. Heyse betont 1871 im Vorwort des von ihm herausgegebenen Deutschen Novellenschatz, dass die Novelle nicht ein „Kultur- und Gesellschaftsbild im Großen“, sondern ein „Weltbild im Kleinen entfaltet“. Das Bildliche steht bei Heyse wie bei vielen anderen Novellisten über dem Abstrakten. „Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereignis, nicht die sich in ihm widerspiegelende Weltan-
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen
schauung, sind hier die Hauptsache.“ (Kunz 1968, 67) Die Novelle erscheint Heyse im Jahrhundert naturwissenschaftlicher Empirie als „isoliertes Experiment“ im Gegensatz zur romanhaften Breite: „Eine starke Silhouette – um nochmals einen Ausdruck der Malersprache zu Hülfe zu nehmen – dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen, nicht fehlen, wir glauben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze Überschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den spezifischen Wert des Themas verraten. Wer, der im Boccaz die Inhaltsangabe der neunten Novelle des fünften Tages liest: ,Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er getan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht‘ – […] Wer, der diese einfachen Grundzüge einmal überblickt hat, wird die kleine Fabel je wieder vergessen, zumal wenn er sie nun mit der ganzen Anmut jenes im Ernst wie in der Schalkheit unvergleichlichen Meisters vorgetragen findet.“ (Kunz 1968, 68) Heyse greift hier – was die Erinnerbarkeit der Handlung als Fabel betrifft – auch auf die aristotelische Poetik zurück. Eine handwerklich solide, klare Konstruktion, vergleichbar einem gut sichtbaren Gebälk, vorzugweise um ein Motiv, einen Falken, herum, kennzeichnet das Novellenmuster. Stets steht der sogenannte Falke im Mittelpunkt, bei Heyse noch als ein gleichsam reales Strukturelement. Später wird er bei Hermann Pongs oder bei Johannes Klein zum Dingsymbol bzw. Leitmotiv erhoben. Das der Falknerei entnommene Zentralmotiv einer Novelle ist formal ein Strukturmerkmal, inhaltlich jedoch fast immer ein Symbol. Unter den vielen Versatzstücken, die eine Novelle konstituieren, ist es vielleicht das bedeutendste. Alle oben aufgeführten Elemente der Form wie des Inhalts haben aber eines gemeinsam: Es handelt sich stets um hinreichende, nie um notwendige Bausteine einer Novelle. Umbauten der novellistischen Bausteine sind gattungsimmanent. Der Novellist kann sich ihrer bedienen, indem er frei aus ihnen auswählt. Dies unterscheidet die Novelle von in Reim, Versmaß und Strophenform klar fixierten Gedichtgattungen. Von den anderen Prosaformen wiederum unterscheidet sich die Novelle durch das große Repertoire an formalen Versatzstücken, aber auch inhaltlichen Motiven und Symbolen, auf die zurückgegriffen werden kann. Entgegen der Genieästhetik, nach der ein Autor nur aus sich schöpfen soll, ist im Bereich der Novellistik das Erzählen nach Modellen und Mustern kein Ausweis mangelnden Talents. Im Gegenteil: Das Spiel mit der Tradition prägt das Novellieren. Unter anderem deshalb ist die Novelle in der Postmoderne, die eine Skepsis gegen die moderne Avantgarde kultiviert, wieder eine beliebte Gattung geworden. Der bittere Ernst des
Falke und Novellenhandwerk
Spiel mit Formen und Inhalten
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III. Methoden der Novelleninterpretation
konservativen Novellenschaffens ist hier freilich einer spielerischen Ironie im Umgang mit den ererbten Musterbüchern gewichen. Die Meisterschaft des Novellisten, die in gängigen Bezeichnungen wie Meisternovellist, Meisternovelle und -erzählung, Novellenhandwerk etc. zum Ausdruck kommt, legt das Kunsthandwerkliche der Gattung nahe. Wer sich für die Bezeichnung Novelle entscheidet, bekennt, dass er nicht gegen, sondern mit der Tradition erzählen will.
IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik 1. Novellistisches Erzählen vor der Goethezeit Die Novellentheorie führt zur Frage nach den Ursprüngen der Gattung. Wann genau das novellistische Erzählen als das Erzählen von (scheinbaren) Neuigkeiten Anfang und Ursprung hat, ist schwer zu bestimmen. Erzählungen wurden wohl, seit es Sprache gibt, in geselligem Rahmen weitergegeben. Dies geschah, um die Erinnerung an das Erzählte zu festigen, wohl auch schon mithilfe von festgefügten Erzählstrukturen, motivierenden Motiven, auch tradierten Themen. Aus der menschlichen Grundsituation des kollektiven Erzählens von Neuheiten ließe sich eine anthropologische Grundlegung der Gattung Novelle entwickeln – analog etwa zum Ursprung der Sprache bei Johann Gottfried Herder (1744–1803). Fest steht, dass schon die ältesten Texte unserer Kultur novellistisches Material, Novellenstoffe, enthalten. Wenn man die zwei Säulen, auf denen die abendländische Kultur mit ihren großen Erzählungen ruht, die biblische und die hellenische, betrachtet, dann trifft man in beiden Diskursen auf novellistisch Relevantes. Die deutsche Novelle, aber auch andere Gattungen der deutschen Literatur basieren auf jenen stofflichen und ideellen Quellen. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Ursprüngen nachzugehen. Schon die Ur-Szene der Abrahamitischen Religionen, die Befreiung Abrahams vom Menschenopfer an seinem Sohn Isaak und das Ersetzen des mörderischen Rituals durch ein Tieropfer (Genesis 22), an die die Muslime alljährlich mit dem Opferfest erinnern, birgt als religiöse Neuerung Novellenqualitäten. Sie wird durch Wilhelm Heinrich Riehl in die Zeit der Christianisierung Germaniens, ins Jahr 850 n. Chr., verlegt. In der kulturgeschichtlichen Novelle Im Jahr des Herren (1855) entscheidet sich ein germanischer Vater in letzter Sekunde gegen das Sohnesopfer, für den neuen Gott der Nächstenliebe und gegen die alten Götter. Die zugespitzte tragische Entscheidungssituation findet sich also nicht nur in Dramen, sondern auch in Prosatexten. Noch in Storms Schimmelreiter (1888) wird ein Menschen- bzw. ein Tieropfer für die Erhaltung eines Deiches erwähnt (vgl. Halbfas 2001, 89). Ein weiterer Ursprungsmythos der jüdisch-christlichen Kultur, die Entstehung der zehn Gebote, des vorher nie gehörten mosaischen Dekalogs, wurde von Thomas Mann 1943 in einer „Moses-Novelle“ (Hans R. Vaget) behandelt. Die Novelle Das Gesetz entstand nicht zufällig gerade zu dieser Zeit. Nach Abschluss der Josephs-Romane wollte Thomas Mann angesichts erschreckender Nachrichten aus Europa über den allmählich ruchbar werdenden nationalsozialistischen Genozid am jüdischen Volk dessen Kulturleistungen ein Denk- und Mahnmal setzen. Thomas Mann knüpft bei der novellistischen Gestaltung des Moses-Mythos unter anderem an Theorien an, die Sigmund Freud in Der Mann Moses
Kulturanthropologie des ,Novellierens‘
Abraham und Isaak: eine Ur-Szene
Manns Moses-Novelle
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Die Historien Herodots
und die monotheistische Religion entwickelte. Vor allem aber verarbeitet er die Bücher Mose (2–5), indem er den archaischen Mythos kulturgeschichtlich humanisiert (vgl. Vaget, in: Koopmann 2005, 605 ff.). Biblische Quellen müssen, wenn sie zu Novellenstoffen umfunktioniert werden, in grundsätzlich andere Kontexte gestellt werden. Dieses Problem ergibt sich bei altgriechischen und anderen antiken Quellen nicht. Viel früher als der lateinische Goldene Esel des Apuleius (ca. 170 n. Chr.), vielfach als antiker Novellenkranz aufgefasst, enthalten schon die althellenischen Historien des Herodotus (ca. 489–ca. 425 v. Chr.), eines kleinasiatischen Gelehrten und Begründers der abendländischen Geschichtsschreibung, der vor allem die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Persern behandelt, Novellistisches. Die in den Rahmen des Historienwerks eingebaute Geschichte, die hier exemplarisch einen Beginn der Novellentradition markieren soll, ist ein Vorläufer der erotischen Novelle. Die anekdotisch-novellistische Geschichte vom lydischen, also kleinasiatischen König Kandaules (1. Buch, 8–13) streift zwar das Historische, lebt aber von der erotischen Brisanz einer novellentypischen Dreieckskonstellation, dem Zusammenhang zwischen Sexualität und Wahrheit im Sinne Foucaults. Wie die meisten klassischen Novellenhandlungen ist sie schnell zu skizzieren, was sie auch zur idealen Vorlage für mit der Novelle verschwisterte Gattungen, z. B. Dramen von Friedrich Hebbel (1856) und André Gide (1901), sowie für ein Musikdrama von Alexander Zemlinsky (1938; UA 1996) macht. Kandaules, ein Nachfahre des hellenischen Helden Herakles, ist abgöttisch in seine Frau, vor allem in ihre Schönheit, verliebt. Er fordert seinen Leibwächter Gyges auf, um ihn von dieser Schönheit zu überzeugen, seine Gattin von einem novellentypischen Versteck aus heimlich zu beobachten. Dieser Blick ins eheliche Schlafzimmer ist natürlich ein grober Verstoß gegen die Sitten und eine ,unerhörte Begebenheit‘. Schließlich gilt es – wie der hellenische Erzähler unterstreicht – „bei den Lydern, wie bei fast allen Barbaren, selbst bei einem Manne für eine große Schande nackend gesehen zu werden“ (Anekdoten 1998, 12). Die Frau des Königs bemerkt den heimlichen Beobachter. Sie stellt Gyges vor die Alternative, entweder selbst zu sterben, um die Schmach zu rächen, oder Kandaules, den frevlerischen Ehemann, zu töten und selbst König zu werden. Gyges entscheidet sich für die zweite Möglichkeit und begründet mit der gerächten Witwe eine neue Dynastie. Die Tötung des Königs Kandaules wird durch das Orakel von Delphi legitimiert – unerhörte Moralverstöße erfordern nie gehörte neue moralische Lösungen. Von der reformatorisch-humanistischen Gelehrsamkeit des Nürnbergers Hans Sachs (1494–1576) bis zur barocken Mythendichtung Jean de La Fontaines (1621–1695) reichen die Erzählvarianten des althellenischen Stoffes. In seiner Vierecksgeschichte Freundschaft und Liebe auf der Probe, einer erotischen Novelle um kreuzweisen „Weiber- und Männertausch“ (Wieland 1999, 152) aus dem Hexameron von Rosenhain (1803–1805), lässt Wieland den Erzähler das novellistisch Relevante des Kandaules-Stoffes auch für zeitgenössische Eheprobleme betonen. Eine männliche Hauptfigur, Raimund, lässt nämlich scheinbar zufällig ein Bild der entblößt von Tiresias im Bad überraschten Pallas Athene durch einen Freund in einem intimen „Kabinett“ beobachten. Das Modell zur gemalten Göttin war Raimunds Gattin. Der Kommentar dazu lautet wie folgt: „Ich
1. Novellistisches Erzählen vor der Goethezeit
gestehe, dass ich Raimunden im Verdacht habe, er sei von einem geheimen Beweggrund verleitet worden, bei diesem Anlass den Kandaules mit seinem Freunde zu spielen.“ (Wieland 1999, 137) Zweifach – durch das (Sinn-)Bild der Athene und den Vergleich mit Kandaules – wird in dieser Novelle der deutschen Klassik der griechische Mythos als Motiv bemüht, um eine Erzählhandlung zu motivieren und symbolisch zu spiegeln. Einen novellistischen Höhepunkt erlebt darüber hinaus die Kandaules-Bearbeitung in der Variante von Théophile Gautier von 1844. Hier wird die Handlung in der Tradition der Historiennovelle präzise hundert Jahre nach dem Trojanischen Krieg im Jahr 715 v. Chr. angesiedelt. Die Motivation der handelnden Figuren wird zwar – ähnlich wie in André Gides novellistischer Bearbeitung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn – im Sinne eines modernen Menschenbildes psychologisch motiviert, auffallend ist aber die Beständigkeit der Handlungsstruktur über die Jahrtausende hinweg. Die Neuigkeit kollidiert in der Novellentradition mit der Vorliebe für „gebrauchte Geschichten“ (Wehle 1984, 241), die ein „über ihren Einzelfall herausragendes Repräsentationsvermögen“ (ebd.) besitzen. Novellenstoffe durchleben, wie die Beispiele erwiesen haben, oft die Jahrhunderte und treten dann in völlig anderen kulturellen Kontexten wieder auf. In der deutschen Literatur des Mittelalters gibt es aber auch novellistisch angelegte Texte, die vereinzelt auftreten, wie Der Gürtel von Dietrich von der Glesse (13. Jahrhundert). In dieser Ehebruchsnovelle will eine vorher selbst untreu gewesene und verstoßene Ehefrau als Ritter verkleidet ihren Mann nach langer Trennung verführen. Kurz vor dem scheinbar gleichgeschlechtlichen Akt gibt sich die Frau zu erkennen – die Sündhaftigkeit beider Eheleute ist durch die novellentypische Verstellung ausgeglichen und die Ehe kann fortgesetzt werden. Der Geschlechtertausch durch Kleiderwechsel, zu finden unter anderem in der Historie von den vier Kaufleuten (Boccaccio II, 9, Hans Hoffmann u. a.) aus der Renaissancezeit, in Die Amazone des Barock-Novellisten Harsdörffer, in der Novelle ohne Titel des ersten Weimarer Klassikers Wieland, in Die Brenta-Blume des Spätromantikers Franz Freiherr Gaudy und in der realistischen Geschichtsnovelle Gustav Adolfs Page von C. F. Meyer, trägt hier zur erotischen Brisanz der Handlung bei. Die Verkleidung der Ehefrau als Ritter und Liebhaber des Ehemannes ermöglicht es, dass in Der Gürtel das gattungstypische Dreiecksverhältnis von zwei Personen simuliert wird. Ein anderer, eher isolierter deutscher Novellenstoff ist Der arme Heinrich von Hartmann von Aue aus den 90er Jahren des 12. Jahrhunderts. Diese legendenhafte Versnovelle, in der ein aussätziger Ritter in Anlehnung an den Abraham-Isaak-Stoff durch das Herzblut eines opferungswilligen Mädchens geheilt werden soll, wurde erst im 19. Jahrhundert zu mehreren Balladen, dann aber auch um die Jahrhundertwende zu einer neuromantischen Novelle von Ricarda Huch (1899) sowie zu einem Musikdrama (Hans Pfitzner, 1895) und einem Schauspiel von Gerhart Hauptmann (1902) verarbeitet (vgl. Wagner 1996). Auch die eigentliche Novelle wurde als ,novella‘ im deutschen Sprachraum früh rezipiert und eigenständig verarbeitet. Nur kurze Zeit nach dem Venezianer-Druck des italienischen Originals (1471) erscheint im Jahr 1472 oder 1473 in Ulm die erste Gesamtübersetzung durch einen gewissen Arigo
Der Gürtel: eine Dreiecksgeschichte
Der arme Heinrich in Hochmittelalter und Neuromantik
Die deutsche BoccaccioRezeption
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Die Historie von den vier Kaufleuten
Harsdörffer: Barock-Novellist in romanischer Tradition
(d. i. wahrscheinlich der Nürnberger Patrizier Heinrich Schlüsselfelder). Ursula Kocher hat in ihrer grundlegenden Studie Boccaccio und die deutsche Novellistik die Geschichte der Boccaccio-Adaptionen im 15. und 16. Jahrhundert nachgezeichnet. Grundsätzlich zeigen die deutschen Bearbeitungen des italienischen Renaissance-Novellisten einen Zug ins Lehrhafte, was sich gut zur humanistischen Prägung ihrer Verfasser fügt. Zur Ehedidaktik, die noch in der in Goethes Unterhaltungen (1795) enthaltenen althergebrachten Prokurator-Novelle aufscheint, eignet sich beispielweise die letzte Novelle des Dekamerons, die Geschichte von Griselda oder Griselidis, die auch als Opernstoff diente (Massenet, UA 1901), in hervorragender Weise. Besagte Griselda, die Tochter eines Viehhüters, heiratet einen Adeligen und hat mit ihm zwei Kinder. Der hochgestellte Ehemann täuscht nun seiner Frau die Ermordung der Kinder vor, präsentiert ihr seine heimliche Tochter als falsche neue Gattin und verjagt Griselda. Sie erträgt all diese Demütigungen in unendlicher Geduld und wird am Schluss der grausamen Prüfungen umso mehr von ihrem Gatten erhoben. Die fatalistische Demut der Ehefrau macht die Geschichte zu einer frühen Schicksalsnovelle. In der deutschen Grisardis von Erhart Grosz (ca. 1400 – ca. 1450), einem Nürnberger Kartäusermönch vornehmer Herkunft, wird der altitalienische Stoff zum moralischen Exempel, in dem zunächst in einem Streitgespräch das Für und Wider der Ehe verhandelt wird. Dann folgt die eigentliche Griselda-Handlung mit drei Proben ehelichen Gehorsams. Die didaktische Novellenhandlung ist in klar definierbare Sequenzen aufgeteilt. Eine weniger konzise, sondern neben der vermeintlichen Ehebruchsgeschichte bis zur Entwicklungs- und Reisenovelle ausgebaute Handlung hat demgegenüber Die Historie von den vier Kaufleuten, die an Boccaccios neunte Novelle des zweiten Tages anknüpft und zuerst um 1490 in Nürnberg von Hans Hoffmann veröffentlicht wurde. Bis ins 16. Jahrhundert und in den nord- und niederdeutschen Raum hinein wirkt die Druckgeschichte dieser Novelle nach. Nach Ursula Kocher verselbstständigt sich die Novellengattung in der Historie von den vier Kaufleuten durch Kontextlosigkeit und „Entpragmatisierung“ (Kocher 2005, 355 ff.). Der Novellentext soll mithin nicht mehr nur als Exempel, etwa eingebaut in ein Ehetraktat, belehren; er gewinnt literarische Autonomie als eigenständiges, unterhaltendes Kunstwerk. Auch im Barock werden romanische Novellenstoffe wie derjenige von Romeo und Julia vielfach verarbeitet. Eine zentrale Gestalt ist hierbei der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658), dessen Kurzprosa bis weit ins 18. Jahrhundert rezipiert wurde. Harsdörffers novellistisches Werk ist eng mit den Sprachgesellschaften der Barockzeit verbunden, die es sich – anknüpfend an italienische Akademien, die der Autor selbst als dortiger Student kennenlernte – zur Aufgabe gemacht hatten, der deutschen Sprache und Literatur einen gleichberechtigten Platz im Konzert der sich formierenden europäischen Nationalkulturen zu erstreiten. Die romanische, vor allem italienische Kultur hatte sich Harsdörffer auf einer sogenannten „peregrinatio academica“, einer fünfjährigen akademischen Pilgerfahrt und Bildungsreise, angeeignet und erarbeitet. Als Student bereiste er von seiner Universitätsstadt Straßburg aus Italien, zunächst Venedig; von hier aus wurden die Universitäten von Padua und Bologna angesteuert, bevor sich Hars-
1. Novellistisches Erzählen vor der Goethezeit
dörffer am 3. Mai 1630 an der Universität in Siena immatrikulierte, was auch mit einem Aufenthalt in Boccaccios Heimat Florenz verbunden war (alle Angaben: vgl. Verweyen). Von dem venezianischen Dichter Giovanni Francesco Loredano (1607–1661), einem zeitgenössischen Novellenautor, sind an Harsdörffer gerichtete Briefe auf Italienisch überliefert. Aus seiner Feder stammt unter anderem die Novelle Dercella, eine verwickelte erotische Vierecksgeschichte. Novellistisch relevant sind in Harsdörffers vielgestaltigem Gesamtwerk neben den Frauenzimmer Gesprächspielen seine sogenannten Schauplätze, Novellenkränze vielfältiger Thematik. Wichtig ist Harsdörffer der Hinweis auf seine antiken wie romanischen Quellen. So heißt es im Titel seiner wichtigsten Novellensammlung: Aus den lehrreichen Schrifften H. P. Camus Bischoffs zu Belley. benebens angefügten X. Geschichtreden aus Den Griechischen und Römischen Historien zu übung der Wolredenheit gesamlet […] Nürnberg […] 1652 (Harsdörffer 1988, 5). Hier wird auf die der barocken Gelehrsamkeit elementar wichtige klassische Antike als novellistische Stofftradition verwiesen. Harsdörffers französischer Stofflieferant Jean-Pierre Camus (1584–1652) ist das Vorbild für die Titelwahl der beiden wichtigsten Novellensammlungen. Seine an den Italiener Matteo Bandello (ca. 1480–1562) anknüpfende Sammlung tragischer Novellen nannte Camus L’Amphithéâtre sanglant (1640) und verwies damit an die schon in Boncianis Novellenpoetik (1574) betonte Verschwisterung der Gattungen ,Novella‘ und ,Drama‘. Sein Adept Harsdörffer wählte demgemäß Titel wie Der Grosse Schau-Platz / Lust- vnd Lehrreicher Geschichte. […] Franckfurt […] 1651. oder Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte. Die Erzählinstanz holt unheimliche Gespenster wie unerhörte Bluttaten auf den ,Schauplatz‘, die Bühne, das Welttheater oder „theatrum mundi“, das als Szene für novellistische Novitäten fungiert. Harsdörffers Stil ist dabei – wohl geschult durch die italienische Kürze der Renaissancenovellistik, aber auch zeitgenössischer Autoren wie Loredano – fern jeder barocken Weitschweifigkeit, soll durch strukturelle Klarheit und novellentypische, vom Autor selbst betonte Bildhaftigkeit die Handlungen gut erinnerbar machen. Die Titel der Novellen erinnern an Schlagzeilen und spielen mit Paradoxien: Der Liebes- und Todeskampf, Der doppelte Brudermord, Der doppelte Jungfrauraub, Der unerhenkte Erhenkte oder Die ermordeten Mörder. In Der Raben Zeugenschaft verknüpfen sich die Untergattungen der (späteren) Dorf- wie der Kriminalnovelle (vgl. Breuer 2009). Die besagten saturnischen Vögel sind schon in der germanischen Mythologie als WotansRaben geheimnisumwittert und im Volksaberglauben Boten düsterer Vorahnung. Ähnlich wie der altgriechische Dichter, der in der deutschen Literatur vor allem durch Schillers Ballade Die Kraniche des Ibykus bekannt wurde, ruft ein Kaufmann, bevor er von Räubern in der Einsamkeit ermordet wird, vorüberfliegende Vögel an, hier sind es Raben. Sie sollen die Untat bekannt machen und die Übeltäter der gerechten Strafe zuführen. Noch lachen die Räuber über den Vorfall. Als sie aber später feiernd im Wirtshaus sitzen und sich davor die Raben laut krächzend in einem Lindenbaum versammeln, verrät sich einer der Täter – ähnlich wie der Mörder des Ibykus im Amphitheater – mit den Worten: „Höre doch des Mannes Zeugen“. Der Kellermeister schnappt dieses Geständnis auf, erfährt vom Wirt, dass die Raben
Blutiges Amphitheater
Kluge Raben, ländliche Kriminalität
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Die deutsche Kriminalnovelle bis zur Aufklärung
kurz zuvor schon auf die Leiche des Kaufmanns im Wald aufmerksam gemacht hatten, dann werden die Täter der richtenden Obrigkeit übergeben. Wie später in der Blütezeit der deutschen Novelle in Annette von DrosteHülshoffs (1797–1848) Judenbuche oder in Theodor Storms (1817–1888) Ein Doppelgänger, wo ein Falke auf einen verschollenen Leichnam aufmerksam macht, treffen in dieser Geschichte kriminelle Handlungen auf eine ländliche Umgebung und ihre symbolisch aufgeladenen Naturmotive. Der Jurist Harsdörffer war schon durch seine Ausbildung wie auch E. T. A. Hoffmann zum Verfasser von Kriminalnovellen prädestiniert. Die SchauPlätze wurden zwischen 1649 und 1713 achtmal neu aufgelegt. Noch 1783 betont der zeitgenössische Bestsellerautor August Gottlieb Meißner (1753–1807), der über fünfzig Kriminalgeschichten veröffentlichte und als Vorläufer von Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre wie auch der Mordgeschichten Heinrich von Kleists (vgl. Breuer, 2001a) gilt, dass „mancher neue Erzähler den Stoff zu seinen Erzählungen hier geschöpft hat“ (Gersch, in: Harsdörffer 1964, 112). Wo Harsdörffer die unerhörte Begebenheit noch in blutig-barocker Deutlichkeit schildert und zumeist mit einem gelehrigen ,Fabula docet‘, einem vom Autor mitgelieferten moralischen Fazit versieht, werden sie im Jahrhundert der Aufklärung im Sinne einer Erfahrungsseelenkunde psychologisiert. Der bürgerlichen Unterhaltung und Erbauung dienen die Novellen jedoch hier wie dort. Wie stark die Kontinuität der Gattung ist, bewies noch 2009 die Erzählsammlung Verbrechen mit ihren wahrheitsheischenden Kriminalfällen. Ihr mit dem Kleist-Preis ausgezeichneter Autor Ferdinand von Schirach (* 1964) ist übrigens Jurist, wie weiland schon Harsdörffer und Boccaccio (Dedering 1994, 12).
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz (1770–1848) Die Zeitschriftennovelle der Aufklärung
Die Geschichte der deutschen Novelle setzt sich im 18. Jahrhundert im Um- und Vorfeld der Weimarer Klassik fort. Noch ist der Gattungsbegriff – auch im Gegensatz zur deutschen Renaissance mit ihren Boccaccio-Übertragungen – unklar. Erst ein Zusammenspiel von Christoph Martin Wieland, Schiller und Goethe wird für seine Wiedergewinnung nach Mustern aus der romanischen Kulturwelt sorgen. Viele novellistische Erzählungen werden vor den Buchausgaben in moralischen Wochenschriften zur allgemeinen Erbauung des Publikums veröffentlicht. Ihr Thema ist oft die Stellung des bürgerlichen Individuums zur Gesellschaft mit dem Kontext von Aufstiegsund Erwerbseifer, bestimmten Bildungsidealen und der noch immer politisch mächtigen Adelsschicht. Durch Aufklärung und Empfindsamkeit treten neue Anforderungen der Persönlichkeitsbildung an den Einzelnen heran, die in realitätsnahen Schilderungen der alltäglichen zeitgenössischen Lebenswelt thematisiert und problematisiert werden (vgl. Dedert 1990, 10 ff.). Im Gegensatz zu den gelehrsamen humanistischen und barocken Übertragungen tradierter romanischer Stoffe, aber auch zu den meisten Novellen Goethes nimmt die Novelle des Sturm und Drangs mithin die Themenstellungen des bürgerlichen Realismus im 19. Jahrhundert vorweg.
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
Ein Beispiel für eine solche moralisierende Novelle ist Zerbin oder die neuere Philosophie von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), einem Autor des Sturm und Drangs, der später in Lenz von Georg Büchner selbst zur Hauptfigur einer Erzählung werden wird (vgl. Hinderer 1983). Die Novelle, die 1776 in zwei Teilen im Deutschen Museum, einer Zeitschrift für die gebildeten Stände, veröffentlicht wurde, schildert den verwickelten Niedergang eines liederlichen Studenten, der seinen Vater, einen Wucherer, verachtet. Die Leere formaler Bildung ohne Herzensbildung wird hier im Sinne der bürgerlichen Empfindsamkeit vor einem gerührten Lesepublikum entlarvt; vor vorschneller Verurteilung bürgerlicher Erwerbsethik wird ebenso gewarnt wie vor der tändelnden, leichtfertigen Galanterie des Rokoko. Neben diesem negativen Exempel gibt Lenz in seiner Novelle Der Landprediger (1777) dann ein positives Beispiel einer Akademiker-Karriere. Besagter Pfarrer ist als Freund, Ehemann, als Förderer der schönen Künste und Volksaufklärer musterhaft. Lenz liefert so eine Vorlage für viele didaktische Novellen der Spätaufklärung, etwa bei Heinrich Zschokke. Viele Texte der populären Novellistik jener Zeit schwanken zwischen der Gespenstergeschichte, der Anekdote, der simplen Nachricht oder dem Kriminalbericht. Diese schlichte Gattung der Gebrauchsprosa prägte beispielweise einen der frühen Erzähltexte Friedrich Schillers (1759–1805), den sogenannten Verbrecher aus verlorener Ehre – oder wie es in der Erstveröffentlichung von 1786 hieß: Verbrecher aus Infamie. Für Schiller, der später auch Balladen um unerhörte Begebenheiten wie Der Handschuh gerne als Erzählung bezeichnete, dienten seine Prosatexte mehr dem Broterwerb als der künstlerischen Profilierung. Wie in der Hochzeit der deutschen Novelle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelt es sich beim Verbrecher aus verlorener Ehre bereits um eine novellistisch geformte, sozialpsychologische Fallstudie, vergleichbar mit Novellen von Theodor Storm oder Gerhart Hauptmann. Elemente der Dorf- und Wilderergeschichte des Realismus, etwa von Marie von Ebner-Eschenbach oder Ludwig Anzengruber, werden ebenfalls vorweggenommen. Die Novelle Schillers greift das alte Drama des hässlichen Außenseiters auf. Hier ist es die Hauptfigur Christian Wolf, hässlich und alles andere als vermögend, die von Schiller mit beinahe demselben Namen wie ein bedeutender deutscher Aufklärungsphilosoph versehen wird. Der Gastwirtsohn will – entsprechend dem klassischen Novellenthema der unglücklichen Liebe – durch Geschenke seine Angebetete Hannchen gewinnen und versucht, sich mit Wildern zu bereichern. Er gerät in einen Strudel von Kriminalität und wird letztlich zum Mörder seines Nebenbuhlers. Dieses frühe Beispiel des novellistischen Erzählens greift gattungsgeschichtlich auf die Mordgeschichte des Barocks ebenso zurück wie auf die klar datierbare altitalienische Novelle als neueste Nachricht. Überträger dieser Neuigkeit war wahrscheinlich Schillers geliebter Professor an der Hohen Karlsschule, Jakob Friedrich Abel (1751–1829), ein Vertreter des aufklärerischen Empirismus, auch in der Kriminologie. Wie der Mediziner Georg Büchner fünfzig Jahre später in seiner Erzählung Lenz den Verfall eines Menschen in den Wahn als Fall ,studiert‘, so zeichnet sein Berufskollege Schiller einen kriminologischen Fall nach, der noch nichts von der romantisch-fantastischen Atmosphäre ähnlich gelagerter Kriminalnovellen E. T. A. Hoffmanns besitzt. Mit Schillers Verbrecher, der mit seiner stoffli-
Zerbin und Der Landprediger
Eine Räubernovelle von Schiller
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Der Rahmen in Goethes Unterhaltungen
Bassompierre und Goethe
chen Beziehung zu Schillers früherem Erfolgsdrama Die Räuber wieder einmal Theodor Storms Diktum von der Novelle als Schwester des Dramas offenbart (vgl. Jacobsen 1993, 15), tritt die deutsche Novelle langsam und tastend aus dem Bereich des Exempels in die Sphäre der Kunstprosa. Erst mit der Etablierung der Weimarer Klassik wird dieser Schritt dann ganz vollzogen sein. Nach Harsdörffers Schauplatz-Sammlungen ist Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) Werk Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) die nächste heute bekannte deutsche Novellensammlung. Der Erzählkranz erschien – was der Gattung entspricht – sukzessive in Schillers Zeitschrift Die Horen. Es handelt sich bei diesem Prosawerk der Weimarer Klassik um einen gattungsprägenden Text, der explizit an das Vorbild des Dekamerons anknüpft. Es ist bekannt, dass Goethe sich Boccaccios Werk zur Zeit der Entstehung seiner Novellen aus einer Bibliothek entliehen hatte. Auch was die Schilderung zeitgenössischer Katastrophen als Handlungsrahmen betrifft, orientiert sich Goethe an Boccaccio: Was bei dem Renaissanceschriftsteller des 14. Jahrhunderts die Pest ist, ist bei dem Weimarer Geheimen Rat das Heranstürmen der französischen Revolutionstruppen im Westen Deutschlands, gegen die Goethe selbst wenige Jahre zuvor (später festgehalten in der Kampagne in Frankreich) begleitend in den Krieg gezogen war. Die Revolution wälzt die altständischen Verhältnisse um wie einst die Pest, von vielen Vertretern der alten Gesellschaft wird sie selbst – nebst den sie tragenden Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – als eine Art Seuche begriffen. Die Geschichtsnovelle wird hier zur zeitgeschichtlichen Novelle mit Aktualitätsbezug. Die geflohene Gesellschaft findet sich auf einem idyllischen Landgut zusammen, auch dies ist eine Parallele zu Boccaccio. Dass dieses Refugium einer Baronesse gehört, fügt sich ebenfalls ins Bild der Novelle als „weiblicher Gatttung“ (vgl. Schlaffer 1993). Die Baronesse dominiert denn auch die Gesellschaft durch Klugheit und Ausgeglichenheit, ihr steht ihre unreife, impulsive Tochter Luise zur Seite. Auf der männlichen Seite findet sich der Vetter Karl, eine Art Modejakobiner, sein Gegner ist ein konservativer Geheimrat. Ein feingeistiger Geistlicher dominiert als Erzähler die Rahmenhandlung. Der Zündfunke, der die Gruppe zum ,Novellieren‘ bringt, ist ein zeitgemäßer Streit über die Mainzer Jakobiner, deren Vertreibung und Ausschaltung Goethe selbst miterlebt und gutgeheißen hat. Erzählen soll die erhitzten Gemüter beruhigen. Die einzelnen Novellen reichen dann von der Künstleranekdote bis zur Gespenstergeschichte. Auch die erotische Kurznovelle kommt zum Tragen. Karl erzählt eine Episode, die stoffgeschichtlich auf eine barocke Quelle, die Memoiren des Marschalls Bassompierre (1579–1646), zurückgeht. Dieser galante Höfling schildert in seinem 1665 in Köln erschienenen Journal de ma Vie mancherlei erotische Verwicklung. Die eine, die Goethe nacherzählt, ist mit dem novellentypischen Pest-Motiv, die andere mit einem ebenso gattungskennzeichnenden Dingsymbol und Zentralmotiv, einem Schleier, verbunden. Zur Tradition der Wanderung von Novellenstoffen über die Epochengrenzen hinweg fügt sich, dass beide von Goethe aus der französischen Autobiografie übernommenen Geschichten später von anderen Autoren nochmals aufgenommen und psychologisierend ausgebaut wurden: die Pestno-
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
vellette durch Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) Erlebnis des Marschalls von Bassompierre (1900) (vgl. Remak 1983), die Schleiergeschichte durch Emil Strauß (1866–1960) in seiner vielfach aufgelegten Ehebruchsnovelle Der Schleier (1920). In der Pest-Episode wird berichtet, wie der Marschall sich zu einem Stelldichein mit einer schönen Krämerin trifft, an deren Stand er oft vorbeigeritten war. Um eine Pestinfektion abzuwehren, bringt er eigenes Bettzeug ins Liebesnest mit. Als er sich einige Tage später an anderem Ort wieder mit der Frau treffen will, findet er zu seinem Entsetzen Menschen vor, die Bettstroh verbrennen und zwei nur unklar erkennbare Pestleichen: einen Mann und eine Frau. Das Schicksal der schönen Krämerin verbleibt im Ungewissen. Die archaischen Grundthemen menschlicher Existenz, Sexualität und Tod, bestimmen die knappe Handlung. Über allem schwebt die Angst des Mannes, ob der Liebesakt mit einer todbringenden Ansteckung verbunden war. Die Novelle greift hier die antik-mythologische Verbindung von Eros und Thanatos auf und transponiert sie nicht nur in einen alltäglichen, sondern auch in einen historisch-anekdotischen Kontext, was die Thematik bedrohlich nahe an die Lebenswelt der Zuhörerschaft heranrückt. Dennoch: Gerade wegen der Bearbeitung alter anekdotischer Stoffe war der „leichte Nachtisch“ (vgl. Bluhm 2000, 3) der Unterhaltungen beim zeitgenössischen Publikum nicht unumstritten. Auch Goethe selbst sah das Werk eher als Nebengeschäft an. Freilich: Durch den moralischen Inhalt und den Publikationsort wird deutlich, dass diese bedeutende Novellensammlung der deutschen Literatur in ein durch Schiller geprägtes Programm der inneren ästhetischen Erziehung nach großen politischen Umwälzungen eingebaut ist. Es ist deshalb auch nur folgerichtig, dass die Novellen als erbauende Kunstprodukte die zu Beginn der Rahmenhandlung entfachte politische Diskussion um Sinn oder Unsinn der Französischen Revolution verdrängen. Eng mit Goethes Unterhaltungen verwandt und mit Der Novelle ohne Titel auf Goethes Novelle vorausweisend ist Das Hexameron von Rosenhain von Christoph Martin Wieland (1733–1813), dem ersten Weimarer Klassiker, der heute gegenüber den Dioskuren Goethe und Schiller ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Um sich von seiner Anstrengung einer EuripidesÜbersetzung zu erholen, begann er 1802 mit der Niederschrift des Hexamerons von Rosenhain, eines Novellenkranzes in der Tradition des Dekameron und des Heptameron der Margarete von Navarra. Er wollte nach eigener Aussage herausfinden, wie man die beschwerlichste aller bösen Feen, die der Langeweile, beim Lesen fernhält, und gab mit den sechs Erzählungen die Antwort. Bei der (Re-)Etablierung der Gattung Novelle wie des Novellenkranzes darf Wieland in seiner Wirkung neben Goethes Unterhaltungen jedenfalls nicht unterschätzt werden. Die spätere Novellistik Goethes legt gegenüber den Unterhaltungen mehr Wert auf das Neuerzählen als auf das Wiedererzählen, das – wenn man etwa die Gattungstradition in der italienischen Renaissance betrachtet – durchaus kennzeichnend für das Novellieren sein kann. Viele der späteren Novellen Goethes sind in größere Erzählwerke eingefügt. In Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809), der aufgrund seiner amourösen Figurenkonstellation und forcierter Sinnbildlichkeit der Novellenform nahe steht, findet sich die Entwicklungsnovelle von den wunderlichen Nachbars-
Wielands Das Hexameron von Rosenhain
Goethes Binnennovellen
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Kleists Kohlhaas
kindern. In Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) ist vor allem die eingefügte Handlung Ein Mann von fünfzig Jahren bemerkenswert: Sie bildet eine generationenübergreifende Viereckskonstellation im Konflikt ab. Die Wahlverwandtschaften werden in dieser Novelle quasi noch einmal nachskizziert. Wichtig für die novellistische Struktur ist auch hier die Symmetrie der Geschlechter, die sich zusätzlich in der Symmetrie der Generationen widerspiegelt. In diese Erzählstruktur fügt sich auch das zentrale Motiv des Bildes, das die Gattung vielfältig bestimmt. Heinrich von Kleist (1777–1811), dem Katharina Mommsen einen lebenslangen Kampf mit Goethe zuschreibt und dabei nicht nur auf die Person des etablierten Dichterfürsten und Staatsministers, sondern vor allem auf Goethes Kunst- und Weltauffassung abzielt, ist ein heute noch bekannter früher Vertreter der Novelle in der deutschen Literatur. Kleist entstammte dem preußischen Militäradel, was auch seine Werke, etwa seine Kriegsanekdoten, beeinflusst. Einer der bekanntesten Beiträge Kleists zur Novellengattung ist seine Chroniknovelle Michael Kohlhaas, die auf eine historische Begebenheit in der Lutherzeit in Kleists brandenburgischer Heimat zurückgeht. Teilweise wurde das Werk in einer Zeitschrift, und zwar im von Kleist selbst herausgegebenen Phöbus im Juni 1808, veröffentlicht. Die Buchausgabe des vollständigen Textes erfolgte dann 1810. Kleist war wie die meisten Dichter seiner Zeit vor allen Dingen darauf erpicht, sich als Dramatiker zu etablieren. Prosanovellen waren demgegenüber mindere Gattungen im kommerziellen Literaturbetrieb, etwa im Zeitschriftenhandel. Freilich: Auch eine historische Novelle wie Michael Kohlhaas reflektiert das Zeitgeschehen wie Kleists zeitgleich entstandenes Nationaldrama Die Hermannsschlacht, in dem sich im Bild der Römerinvasion des Quintilius Varus der französische Herrschaftsanspruch Napoleons spiegelt. Auch Kohlhaas ist ein Revolutionär (vgl. Bogdal 1993). Der Rachefeldzug des Arminius, die Hasserziehung, die er seiner gesamten Gefolgschaft angedeihen lässt, hat überdies viel gemein mit der blindwütigen Rache des Kohlhaas an erlittenem Unrecht. Die Hauptfigur ist ein Pferdehändler aus dem Brandenburgischen, ein Bürgerlicher, der mit Adligen in Händel und Fehde gerät, die ähnlich wie die von Theodor Fontane (1819–1898) beschriebenen sagenhaften Brandenburger Quitzows zu Raubrittern herabgesunken sind. Die Handlung, so jedenfalls sagt es die Erstveröffentlichung, ist einer alten Chronik nacherzählt. Dies ist ein novellentypischer Textbaustein, der z. B. auch in der historistischen Novellistik (Chroniques Italiennes) des Franzosen Stendhal (1783–1842) verwendet wird. Wenn die Novelle schon keine aktuelle Neuigkeit mitteilt, so soll sie wenigstens das Vergangene präzise abbilden. So rückt die Fiktion näher an die Lebenswelt der Leser. Kohlhaas wird vom sächsischen Junker Wenzel von Tronka, der angeblich ein neues Zollprivileg erhalten hat, um zwei Pferde betrogen, die er ihm als Zollpfand dalassen muss. Um diese Pferde wiederzuerlangen, löst einer einen Rachefeldzug aus, der in seiner Heimat zu geradezu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt. Kohlhaas wirbt Truppen, erklärt sich – bis zum Wahn anmaßend wie der Wiedertäuferkönig Jan van Leyden zu Münster – zum Vertreter einer rechtschaffenen und rechtschaffenden Weltregierung, wirft eine ganze feindliche Streitmacht zurück. Er wird letztlich hingerichtet. Nachdem der Unruhestifter aus dem Weg geräumt ist, wird die Weltordnung geradezu
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wundersam wiederhergestellt: Die Rappen sind wieder aufgefüttert, Schadenersatz wird an die Hinterbliebenen bezahlt, Wenzel von Tronka zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Kinder des Kohlhaas werden geadelt. In Gestalt der Warnung vor den monströsen Folgen eines übersteigerten bürgerlichen Rechtsbewusstseins, das in maßlose Rache ausarten kann, verbleibt durchaus eine moralische Lehre. Kohlhaas stellt sein Naturrecht über das Recht staatlicher Autorität (vgl. Hamacher, in: Breuer 2009, 100). Dies ist eine Folge des Aufklärungszeitalters. Erklären kann das Verhalten des Kohlhaas auch die Kränkung seiner männlichen Identität durch die Misshandlung der Pferde als traditioneller Männlichkeitssymbole (Helga Gallas nach Lacan), die schon Sigmund Freud (1856–1939) in seiner Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909) beschrieb (vgl. Pfeiffer, in: Breuer 2009, 385). Die Pferde prägen als die Handlung motivierende Leitmotive und Tiersymbole die gesamte Novellenstruktur. Ebenfalls im Phoebus erschien 1808 Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O…, die wegen ihres unerhörten erotischen Inhalts bei den gebildeten bürgerlichen Ständen des beginnenden 19. Jahrhunderts auf wenig Zustimmung stieß. Die verwitwete Marquise von O…, Tochter eines Zitadellen-Kommandanten in Italien, kann vor der Erstürmung der Festung durch die Russen nicht rechtzeitig fliehen, gerät in die Hände von Soldaten und wird durch einen russischen Offizier, den Grafen F., befreit. Sie fällt durch die Aufregung in Ohnmacht. Die unritterlichen Soldaten werden von ihrer Kommandantur erschossen, der rettende Graf erhält eine Anerkennung für seine Rettung weiblicher Ehre. Einige Zeit nach den Kriegsgeschehen entdeckt die Marquise jedoch Anzeichen einer Schwangerschaft. Nach langen Verwicklungen und einer skandalösen Bekanntmachung ihrer Entehrung per Inserat muss die Marquise erkennen, dass ihr Retter in Wahrheit ein Vergewaltiger gewesen ist. Eine Ehe wird formal geschlossen, die erst durch Beweise der Reue und Liebe des Grafen im Nachhinein zu einer wirklichen Liebe wird. Die Novelle entspinnt sich hier als Spiel der Täuschungen, Sexualität und Wahrheit hängen eng zusammen. Durch Sexualität ist die ,Ehre‘ der Frau gefährdet, sie wird scheinbar durch den Grafen geschützt, der sie aber missbraucht (vgl. Liebrand in: Breuer 2009, 398). Durch die Schwängerung kann aber das sexuelle Geschehen, das Freudianische Es, nicht verborgen bleiben. Unerhörtes ereignet sich in der Kleist’schen Novellistik aber nicht nur im erotischen Bereich. Auch Naturkatastrophen, die wie das gigantische Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 die ganze aufgeklärte Geisteswelt beschäftigten, können als sensationelle Begebenheiten novellentauglich sein. Kleists Das Erdbeben in Chili greift eine solche sensationelle neueste Nachricht (aus dem Jahr 1647) auf. Die Katastrophennovelle wurde zunächst 1807 in Cottas Morgenblatt für die gebildeten Stände veröffentlicht und dann unter dem noch heute bekannten Titel 1810 mit anderen Erzählungen in Buchform. Die Handlung spielt in der spanischen Kolonie Chile, ein exotischer Schauplatz wird zum Ort eines ungewöhnlichen Geschehens. Die Katastrophennovelle beginnt als Geschichte der verbotenen Liebe: Jeronimo, der Hauslehrer der Josephe Asteron, hat mit ihr ein heimliches Verhältnis, wird ertappt, entlassen und die Geliebte in ein Kloster gesteckt. Ganz im Sinne Boccaccios oder Giovanni Straparolas (ca. 1480–ca. 1558)
Kleists Marquise von O…
Das Erdbeben in Chili: eine Katastrophennovelle
Kleists Novellenästhetik des Unerhörten
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Kleists Dekonstruktion der Wirklichkeit
E. T. A. Hoffmanns Rezeption in Frankreich
trifft sich das Paar nunmehr heimlich im Klostergarten, als ob die fromme Kulisse die Leidenschaft des jungen Glücks nur erhöhen könne. Wie im Fall der Marquise von O… bleiben diese Begegnungen aber nicht folgenlos. Josephe sinkt am Fronleichnamstag auf den Stufen der Kathedrale in Geburtswehen zu Boden. Sie wird nach strenger spanischer Sitte zum Tod verurteilt. Sexualität markiert auch am anderen Ende des Globus die Akzeptanz bzw. Gefährdung religiöser Wahrheit. Als ein Erdbeben als dramatischer Wendepunkt der Novellenmitte die ganze Weltordnung ins Wanken und die Mauern der Gefängnisse zum Einsturz bringt, finden die Geliebten kurzzeitig noch einmal zueinander. Doch letztlich ist ihr Schicksal besiegelt. Humanität ist in der dargestellten Welt nur im absoluten Ausnahmezustand, wenn alles hochsymbolisch zusammenfällt, möglich. Kleist erweist sich in seiner Prosa wie in seinen Dramen, etwa der zeitgleichen Tragödie um die Amazone Penthesilea, als Schriftsteller des Extremen, jenseits der literarischen Konventionen seiner Zeit. Extrem sind vor allem seine Charaktere wie z. B. der des undankbaren Findlings. Ihre Emotionen sprengen alle Konventionen von Text und Realität. Persönliche Rache verheert im Erzählwerk Kleists nicht nur eine ganze Region wie im Michael Kohlhaas. Sie kann auch noch aus dem Jenseits übergreifen, wie in der kurzen Gespensternovelle Das Bettelweib von Locarno (1810), wo der Geist besagter Bettlerin erscheint und den Marchese, der sie einst durch Hochmut zum Tod brachte, sowie sein Schloss ins Verderben bringt. Kleists Welt ist eine Welt der Unsicherheit, der Lüge selbst im Intimsten, eine abgründige Scheinwelt. Die Kleist-Forschung geht davon aus, dass dies auch auf eine (missverstandene) Lektüre der Philosophie Immanuel Kants zurückzuführen ist, die die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen von der empirischen Welt nach innen verlegt hat (vgl. Greiner, in: Breuer 2009, 206–208). Für Kleist, nicht für Kant, ist dieses menschliche Innere zu schwankend, um gesicherte Erkenntnis zu vermitteln. Somit sind seine Novellen nicht als moralische, sondern als philosophische Exempel aufzufassen. Die Philosophie, die sich hinter Kleists Fiktionen verbirgt, scheint erstaunlich aktuell: Kleists Werke sind besonders empfänglich für postmoderne, dekonstruktivistische Ansätze der literarturwissenschaftlichen Auseinandersetzung (vgl. Boernchen, in: Breuer 2009, 390 ff.). E. T. A. (Ernst Theodor Amadeus) Hoffmann (1776–1822) ist noch mehr als Kleist ein Entdecker des Abgründigen im Alltag. Viel mehr noch als der Dramatiker Kleist ist er ein Novellenpoet, wobei er ebenso altitalienische Renaissancestoffe (etwa die venezianische Verschwörung Falieros in Doge und Dogaresse) behandelt, wie er die zeitgenössische Alltagswelt der preußischen Hauptstadt Berlin nach Fantastischem durchleuchtet. Hoffmann ist überdies – auch durch frühe Übersetzungen in die damalige paneuropäische Bildungssprache Französisch – neben Heinrich Heine wohl der international bedeutendste und einflussreichste deutsche Romantiker überhaupt. Dies hat der vielfach begabte Verwaltungsjurist und Beamte, der auch malte, zeitweise in Bamberg Theaterkapellmeister war und mit Undine eine seinerzeit erfolgreiche Märchen- und Nixenoper nach einem Libretto des Schriftstellerkollegen Friedrich de la Motte-Fouqué komponierte, auch seinem Freund David (Johannes) Ferdinand Koreff (1783–1851) zu verdanken. Koreff siedelte 1822 endgültig nach Paris über, wo er in den Salons vielfältig
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
Werbung für seinen Freund, den preußischen Romantiker, betrieb (vgl. Klein 2000). Dies war das Einfallstor zu Hoffmanns Weg in die Weltliteratur, was ihn sogar als Opernfigur in Jacques Offenbachs Musikdrama Hoffmanns Erzählungen (UA Paris 1881) auf die Bretter, die die Welt bedeuten, brachte. Schon die Vorlage dieser Oper, ein Schauspiel, brachte Hoffmanns Novellen als ,Schwestern des Dramas‘ auf die Bühne: Es handelt sich um das 1851 im noch heute berühmten Théâtre de l’Odéon uraufgeführte Drama Les Contes d’Hoffmann des Autorenduos Michel Carré und Jules Barbier. Als Ballettfigur Coppélia (UA 1870) von Leo Delibes tanzt Hoffmanns Puppe Olimpia aus der Novelle Der Sandmann durch die Theater der Welt. Sie hat auch eine weitere französische romantische Oper, La Poupée de Nuremberg (UA 1851), von Adolphe Adam inspiriert. In der französischen Novellenliteratur selbst gibt es viele Vertreter des sogenannten „genre hoffmannesque“. Jules Janin (1804–1874) macht – wie später Anna Seghers (1900–1983) in ihrer Novelle Die Reisebegegnung – Hoffmann selbst zur Novellenfigur. Der bedeutendste Vertreter jenes Genres ist jedoch Théophile Gautier (1811–1872), in dessen Werken die Kaffeekannen nächtlich tanzen (La cafetière, 1831) und nackte Rokokodamen in heruntergekommenen Pavillons aus Wandteppichen entsteigen, um Jünglinge zu verführen (Omphale, 1834). Nicht nur in Frankreich stießen Hoffmann’sche Welten auf fruchtbaren Boden, sondern auch in Skandinavien (vgl. Schröder 1991) sowie bei den Begründern der amerikanischen Phantastik Edgar Allan Poe (1809–1849) und Nathaniel Hawthorne (1804–1864), bei dem vor allem die Novelle Rappaccinis Tochter deutlich hoffmanneske Züge trägt. Zunächst ebenfalls über die französischen Übertragungen verbreiteten sich Hoffmanns Erzählungen auch in Russland. Ein Paradebeispiel des Genres ist neben Nicolai Gogols (1809–1852) Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen (1835) vor allem Alexander Puschkins (1799–1837) Rokokonovelle Pique Dame (1834). Sie führt in das unheimliche zaristische St. Petersburg mit seinen riesigen Palästen und gut gehüteten Geheimnissen, in eine Atmosphäre von Spielsucht und Gier, symbolisch verdichtet in der Hauptfigur, einer aus der Zopfzeit übrig gebliebenen, legendenumwitterten uralten Gräfin. Eine romantische Auseinandersetzung mit jener Zeit führt schon eine der ersten literarischen Veröffentlichungen E. T. A. Hoffmanns, eine Zeitschriftennovellette namens Ritter Gluck. Sie zeugt von der Musikbegeisterung Hoffmanns, der seinen dritten Namen Wilhelm durch den zweiten von Mozart, nämlich Amadeus, ersetzte. In der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien 1809 diese kleine Berliner Novelle, bevor sie Jahre später 1814 in der Novellensammlung Fantasiestücke in Callot’s Manier, bildhaft benannt nach den Stichen eines Illustrators des 17. Jahrhunderts, in Buchform Verbreitung fand. Wie in vielen Berliner Novellen Hoffmanns, etwa in seinem letzten Erzähltext Des Vetters Eckfenster, wird eine tatsächliche oder vermeintliche unerhörte Begebenheit, die sich kontrastiv in das großstädtische Alltagsleben fügt, aus der Perspektive eines kosmopolitischen Beobachters, eines Flaneurs, erzählt. Der Flaneur in Hoffmanns frühem ,Fantasiestück‘ Ritter Gluck hat sich in einem zeitgenössischen Berliner Café niedergelassen. Ihm fällt ein Mann mit eindrucksvollem Kopf auf. Einerseits strahlt dieser einen melancholischen Ernst aus, andererseits steht er mit einem
Hoffmann-Rezeption in den USA und Russland
Hoffmanns musikalische Literatur: Ritter Gluck
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Unschlüssigkeit: zur Technik der Fantastik
Männliche Urängste im Sandmann
skurrilen Lächeln, einem typischen Kennzeichen geheimnisumwitterter Novellenfiguren des Hoffmann’schen Genres, in innerer Spannung. Ein breiter, überwurfähnlicher Mantel verbirgt seine Kleidung. Die Kapelle spielt die Ouvertüre der Oper Iphigenia in Aulis von Christoph Willibald Gluck (1714–1787), der die Kunstform Oper hin zum lebendigen Musiktheater reformiert hatte. Wie ein Kapellmeister scheint der Fremde das Werk heimlich zu dirigieren und leidenschaftlich zu durchleben und am Schluss ist er erschöpft. Er steht für den romantischen Enthusiasmus in der Kunstrezeption wie -produktion. Nach weiteren Begegnungen folgt der Erzähler dem eigentümlichen Enthusiasten in eine verstaubte Wohnung im Rokokostil; man betritt mit dem Gedächtnisraum die Schwelle zu einer vergangenen Epoche. Der Fremde spielt, während der Erzähler die Blätter wenden soll, von leeren Seiten die Ouvertüre zu Armida, ganz im Geist Glucks, aber mit neuen Modulationen und Bereicherungen der Hauptgedanken; einige Passagen singt er mit. Alles an der Gestalt ist leidenschaftlich-künstlerische Authentizität. „Was ist das? Wer sind Sie“, fragt der Erzähler erschüttert und ergriffen. Der Fremde verschwindet und erscheint in gesticktem altmodischem Galakostüm mit ritterlichem Schmuckdegen. Er sagt: „Ich bin der Ritter Gluck“ (Hoffmann 1976, Bd. 1, 14). In dieser kleinen Novellenskizze entfaltet sich die ganze Technik der Hoffmann’schen Fantastik. Das Opalisieren der dargestellten Realität zwischen einer irrealen Unmöglichkeit und der potenziellen Möglichkeit der Handlung, die schon bei dem antiken Philosophen Aristoteles die Nachahmung von Realität durch Literatur bedingt, schafft die fantastische Wirkung. Auf der Seite der festgelegten Irrealität könnte der Leser die in der Novellette dargestellte Gluck-Gestalt als ein Gespenst auffassen. Auf der Seite einer fixierten Möglichkeit, eines profanen Realismus, kann man die Figur fast nur als wahnsinnig einstufen. Es könnte sich um einen Schizophrenen handeln, der die Identität des seit zwanzig Jahren verstorbenen Komponisten durchaus einfühlsam übernommen hat. Das Schwanken zwischen diesen Möglichkeiten, das der Text selbst eröffnet, erzeugt gegenüber diesen beiden Fixpunkten erst das Fantastische. Es verbleibt die Frage: „Soll man’s glauben oder nicht?“ (Todorov 1992). Eine zusätzliche fantastische Wirkung wird durch das angestaubte Rokoko-Interieur erzeugt, in dem der Fremde seine Musik darbietet. Es ist zwar unheimlich und abgelebt, aber nicht so altertümlich, dass der Beobachter keinen lebensweltlichen Bezug, keine Kindheitserinnerung mehr daran haben kann, wie es etwa beim gotischen Stil einer mittelalterlichen Ritterburg der Fall wäre. Auch das Interieur, selten geworden, aber nicht völlig museal, erhöht somit die fantastische Unschlüssigkeit. Vom Identitätsverlust handelt E. T. A. Hoffmanns wohl bekannteste und weltliterarisch wirkungsvollste Novelle (vgl. Drux 2005, 67 ff.), das Nachtstück Der Sandmann (1816). Düstere Kindheitserinnerungen prägen die Hauptfigur der Novelle, Nathanael. Man hat ihm vor dem Sandmann Angst gemacht, der den Kindern, die nicht einschlafen wollen, die Augen ausreiße. Jeden Abend hört er den Sandmann kommen und eines Abends bleibt er heimlich auf und erkennt den Advokaten Coppelius, einen Bekannten der Familie, der gemeinsam mit Nathanaels Vater alchemistische Experimente macht. In dessen Namen steckt das italienische Wort für Augen, sei-
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ne Kleidung ist so anachronistisch wie die des Ritters Gluck, was auch aus einer Zeichnung E. T. A. Hoffmanns zu seiner Novelle hervorgeht. In absurder Vornehmheit trägt er eine groteske Rokokoperücke mit seitlichen Kleblocken; sie sitzt über einem noch groteskeren Gesicht. Es ähnelt mehr einer Teufelsfratze mit grün funkelnden Augen als menschlichen Zügen. Der Advokat scheint somit schon durch seine äußerlichen Zeichen einer anderen Welt entstiegen zu sein, einerseits der Vergangenheit vor der Französischen Revolution, andererseits geradewegs dem Höllenschlund: Die fantastische Figur Coppelius ist verständlicherweise noch heute Namensgeber einer Metal-Band, die genüsslich Hoffmann’sche Motive beschwört. Jene Schreckgestalt ruft während des Experiments: „Augen her!“ (Hoffmann 1976, Bd. 1, 336), Nathanael stürzt schreiend heraus, bricht unter Misshandlungen des empörten Coppelius zusammen und wird krank. Sigmund Freud hat diese Szene in seiner Studie über das Unheimliche (1919) als Ausdruck einer Kastrationsangst des Jungen gedeutet (vgl. Drux 2005, 81 ff.). Nathanaels Vater ist nach dem alchemistischen Experiment tot, Coppelius seitdem verschwunden. Zu Beginn der Novelle wird dies in einem Brief an Nathanaels Freund Lothar mitgeteilt, den er aber versehentlich an seine Verlobte Clara sendet, die stets beruhigend das Realitätsprinzip gegenüber dem von Ängsten geplagten Fantasten vertritt. Wie ein Briefroman, etwa Goethes Werther, vertritt auch die Briefnovelle stets nur die Perspektive des Briefverfassers. Sie eröffnet damit ein Erzählen aus verschiedenen Perspektiven, das den Leser über die tatsächliche Sachlage in der dargestellten Welt im Unsicheren belässt. Im „genre hoffmannesque“ kann so die fantastische Wirkung verstärkt werden. In der Universitätsstadt Nathanaels ist ein Wetterglas- und Brillenhändler namens Coppola aufgetaucht. Diese fantastische Figur ist dem Coppelius ähnlich und Nathanael fürchtet eine Revitalisierung seines Kindheitstraumas. Während der Ferien sucht er Clara zu seiner angstvoll-romantischen Weltsicht, die an Verfolgungswahn grenzt, zu bekehren, während sie in Erkenntnis der Gefahr mäßigend auf den Verlobten einwirken möchte. Als Angstvision verfasst er ein Gedicht, in dem er Clara und sich vor dem Traualtar sieht; Coppelius naht, reißt Clara die Augen aus und schleudert sie in einen Feuerkreis. Aus ihrem leer gewordenen Blick schaut ihn der Tod an. Während er das Gedicht überliest, spaltet sich sein Ich und Entsetzen packt ihn vor seiner eigenen lyrischen Stimme. Die Novelle wird zur psychologischen Fallstudie, was sich unter anderem Sigmund Freud zunutze gemacht hat. Clara rät ihrem Verlobten, den Text, fantastische Lyrik in einer fantastischen Novelle, ins Feuer zu werfen. Er beschimpft sie als einen gefühllosen Automaten und rennt davon. In Unmut kehrt er zur Universität zurück. Dort erscheint ihm der unheimliche Coppelius-Wiedergänger Coppola und breitet Brillengläser vor ihm aus, die ihn wie ausgerissene Augen anstarren. Um ihn loszuwerden, kauft Nathanael ihm ein Fernglas ab. Er gewinnt so eine neue Weltsicht, die ihn ins Verderben führen soll. Das „treffliche Teleskop“ ist auch in Goethes späterer Novelle ein Zentralmotiv. Mit diesem erspäht er im gegenüber liegenden Haus des Professors Spalanzani, den Hoffmann nach einem italienischen Universalgelehrten benannte, eine stille Schönheit. Es heißt, sie sei dessen Tochter. Bei einem Ball verliebt Nathanael sich in sie, wird ihr täglicher Besucher, liest ihr seine Gedichte vor und wundert
Nathanaels Liebe zu zwei Automaten
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Spiel der Täuschung und Enttäuschung
sich gelegentlich über ihre steifen Bewegungen und ihre Einsilbigkeit, die er aber als schweigendes Entzücken über seine Dichtung deutet. Ihr Blick erscheint ihm seelenvoll. Der vielsagende deutsche Ausruf „Ach“, der auch in Kleists Drama Amphitryon das erschrockene Staunen über die Welt ausdrückt, ist das einzige Wort, das der Angebeteten über die Lippen geht. Als Nathanael die Schöne, die Olimpia heißt, besuchen will, wird er Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Spalanzani und Coppola, die sich um Olimpia streiten. Der junge Enthusiast muss entsetzt feststellen, dass seine Angebetete eine Puppe ist und Coppelius anscheinend mit Coppola identisch. Die – im Gegensatz zu Clara – wirklich seelenlose Automate fällt zu Boden und zerbricht. Die hochsymbolischen Augen liegen ausgerissen am Boden, Spalanzani wirft sie nach Nathanael, wie es Coppelius in Nathanaels Gedicht getan hatte, und Nathanael springt schreiend Spalanzani an die Kehle. Er wird in ein Irrenhaus gebracht. Nach scheinbarer Heilung ersteigt er mit Clara den Ratsturm. Dann kommt der dramatische Umschlag. Es ist Mittag, die Stunde des panischen Schreckens. Nathanael richtet aus Versehen sein Teleskop auf Clara. Da packt ihn die Erinnerung an die Puppe. Totenbleich starrt er Clara an, grässlich brüllt er auf, springt in die Luft und will Clara den Turm herabschleudern. Sie wird in knapper Not von ihrem Bruder gerettet. Nathanael tobt auf der Galerie: In der Tiefe sammeln sich die Menschen, unter ihnen ragt riesengroß der Advokat Coppelius hervor, und als man zu dem Rasenden hinauf will, lacht dieser: „Der kommt schon herunter von selbst.“ (Hoffmann 1976, Bd. 1, 362) Nathanael, plötzlich wie erstarrt, bückt sich hinab und springt mit dem gellenden Schrei: „Sköne Oke! Sköne Oke!“ (ebd.) über das Geländer. Das Leitmotiv der blutigen Augen, das seinen Lebensweg wie die Novellenhandlung gliedert, hat ihn ins Verderben geführt. Die dramatische Fallhöhe des romantischen Enthusiasten, der beinahe zum Mörder wurde, hat die Ausmaße eines Turms. Einen fast schon parodistisch idyllischen Novellenrahmen setzt dagegen das Schlussbild. Man will Clara als glückliche Familienmutter, genesen von den schrecklichen Ereignissen um Nathanael, vor einem ansehnlichen Haus gesehen haben. Der Rahmen, der nicht ohne Ironie oder Verstellung erzählt wird, stabilisiert eine instabile Welt, in der sich Dichtung, Täuschung, Enttäuschung und Wahn durchdringen, nur scheinbar. Neben den Einflüssen der romantischen Weltauffassung und dem Mesmerismus, dem Hoffmann durch Koreff vermittelten Glauben an die elektromagnetische Steuerung des menschlichen Körpers, der eng mit der schizophrenen Angst vor Fremdsteuerung verwandt ist, steht die extreme Täuschung Nathanaels auch in der Novellentradition. So wird in einer anonymen, auf 1409 datierten Florentiner Novelle, die zu Deutsch Die Novelle vom dicken Bildschnitzer heißt, jenem Bildschnitzer von noch heute bekannten Künstlerkollegen wie Donatello und Brunelleschi eingeredet, er sei nicht er selbst, sondern ein gewisser Matteo. Verschiedene Bürger von Florenz spielen das surreale Verwirrspiel mit, sodass die Titelfigur die andere Identität zeitweise annimmt. Die Kurzform der Novelle eröffnet ein Spiel der schnellen Täuschungen, das bis ins Extrem des Weltverlustes getrieben werden kann, ohne im engeren Sinne märchenhaft zu sein. Die fantastische Unsicherheit Nathanaels wird ihrerseits durch die Verwechslung zweier anscheinend identischer dämonischer
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
Gestalten, Coppelius und Coppola, erhöht. Das Doppelgängerthema ist ein beliebtes Sujet der zeitgenössischen Gespensternovellen, das man z. B. im sehr populären Gespensterbuch (1810–14) von Johann August Apel (1771–1816) und Friedrich Laun (d. i. Friedrich August Schulze, 1770–1849) vorfindet. Es enthält übrigens die novellistische Vorlage für Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz. Zu Gespenstern gehören normalerweise entsprechende Behausungen. Stehen sie doch oft genug am familiären Gedächtnisort des Schlosses für ungelöste Probleme und unerlöste Sünden, die sich gut verborgen ins kollektive Familiengedächtnis eingegraben haben und ab und an als Geister der Vergangenheit aus der Versenkung auftauchen. Dies ist so in der sich über tausend Jahre dahinspinnenden Gespensternovelle Apels Die Bilder der Ahnen, dies ist so im bildhaften Das Majorat von E. T. A. Hoffmann. Hier verläuft eine familiäre Verstrickung über mehrere Generationen. Der Erzähler reist mit seinem Großonkel, dem Justitiarius V., zur Ordnung von Rechtsfragen auf das Stammschloss des Freiherrn von R. Kurz vor ihrer Ankunft ist die Decke des alten Gerichtssaales eingestürzt. Das titelgebende Majoratsgebäude scheint lebendig zu sein, jedenfalls gilt der Zusammenbruch, die Katastrophe, als böses Omen. Und im geisterhaften Schloss spukt es tatsächlich. Sein gotisches Interieur ist so verlebt wie die alten Rokoko-Damen im Schloss. Es kratzt nachts an einer zugemauerten Tür unter Seufzern wie in Todesangst. Der Mond wirft sein Licht auf das Gemälde eines unheimlich aussehenden Mannes. Schloss und Bild gehören wie in Apels Novelle oder in Schlossnovellen von Wilhelm Hauff bis Theodor Storm zusammen. Auch die unheimlichen Schritte, die der Erzähler hört, fügen sich ins Ambiente. Der Spuk ist familiär begründet. Ein Diener hatte sich mit dem Bruder des Schlossherrn verbündet und diesen ermordet. Dies hatte auch erbrechtliche Gründe. Durch die Rechtsform des Majorats oder Fideikommisses soll ein Gut immer an den ältesten Nachkommen weitergegeben werden; man will Erbstreitigkeiten und die Aufteilung der Güter auf diese Weise verhindern. Was das Recht auf Eigentum sichern soll, kann, da viele Familienmitglieder leer ausgehen, zum Mord führen. Das ist der formale Hintergrund, vor dem der Jurist Hoffmann seine unheimliche Schlossgeschichte entfaltet. Das Unheimliche wird durch das Alter des Schlossgebäudes, das ihm gleichsam ein Gedächtnis verleiht, durch sein Interieur und seine bauliche Beschaffenheit, in die sich auch die Lebensgeschichte seiner Besitzer und Bewohner eingeschrieben hat, konstituiert. Ein zentrales bauliches Symbol im Majorat ist die leitmotivische vermauerte Tür zum Turm, die als Tor zur Wahrheit zum Ursprung und zur Ursache des unheimlichen Geschehens führt. Ähnliche alte Geschichten – mit und ohne Gespenster – ziehen sich durch die an Hoffmanns Romantik anknüpfenden vielen Schlossnovellen der deutschen Literatur von der Spätromantik mit Wilhelm Hauff (1802–1827) und Franz Freiherr Gaudy (1800–1840), über den Schleswiger Theodor Storm (1817–1888), den Berliner Paul Heyse (1830–1914), den Österreicher Ferdinand von Saar (1833–1906) bis hin zum Balten Werner Bergengruen (1892–1964). Das Schloss als Gedächtnisraum wurde dann in der Moderne durch das Hotel oder das Sanatorium abgelöst. Diese Tradition reicht von Thomas Mann bis zur jüngsten Gegenwartsliteratur, in der etwa
Hoffmanns Majorat als Schreckensort
Das Majorat: eine Rechtskonstruktion
Die Schlossnovelle
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Das Fräulein von Scuderi: Kriminalnovelle
Walter Kappacher einen Hotelaufenthalt des österreichischen Fin-de-Siècle-Autors Hugo von Hofmannsthal in der Künstlernovelle Der Fliegenpalast (2009) schildert. Wie Hoffmann mit dem Majorat einen wesentlichen Grundstein zur Schlossnovelle in der deutschen Literatur gelegt hat, so gilt er mit seiner Geschichte Das Fräulein von Scuderi (1819) aus der Novellensammlung Die Serapions-Brüder als Wegbereiter der Kriminalnovelle (vgl. Pikulik 1993). Diese Gattung kann freilich unter anderem auf die „jämmerliche Mordgeschichte“ der Barockzeit zurückgreifen, in der auch die Novellenhandlung Hoffmanns verortet ist. Das besagte Fräulein geht auf eine historisch verbürgte Person der französischen Literaturgeschichte zurück, Madeleine de Scudéry (1607–1701), die als eine der wesentlichen Gestalten der barocken Romanliteratur in Frankreich gilt. Bei Hoffmann wird sie zur Detektivin, der allerdings auch der Zufall hilft. Nach einer Giftmordserie wird Paris von Raubmorden in Schrecken versetzt. Opfer sind Juwelenbesitzer, die sich auf dem Weg zu ihren Angebeteten befanden, der sie eben jene Preziosen verehren wollten. Das Fräulein von Scuderi wendet sich öffentlich gegen eine Untersuchung der Fälle durch den seinerseits willkürlichen Sondergerichtshof. Aus Dank dafür erhält sie ein Kästchen mit Juwelen von einem Unbekannten. Madame de Maintenon, der das irritierte Fräulein das Kästchen zeigt, erkennt, dass es sich um Schmuckstücke aus der Werkstatt des berühmten, künstlerisch begabten Goldschmieds Cardillac handelt und lässt ihn zu sich rufen. Er ist ein kleiner Mann mit einem durchdringenden Blick aus grün funkelnden Augen, was nicht nur bei Hoffmann nichts Gutes verheißt: Dieses Leitmotiv seiner Novellen ist ein Teufelszeichen. Cardillac bestätigt, dass er den Schmuck angefertigt hat. Es sei ihm gestohlen worden, jedoch für das Fräulein von Scuderi bestimmt gewesen. Das Fräulein nimmt den Schmuck an. Cardillac gebärdet sich wie verrückt und rennt hastig davon. Das ahnungsvolle Fräulein entschließt sich, diesen Schmuck niemals zu tragen. Einige Monate später wird ihr von einem verstörten jungen Mann ein Warnbrief zugeworfen. Sie wird gebeten, den Schmuck seinem Erzeuger zurückzugeben. Der fürsorgliche Warner hatte ihr einst das Schmuckkästchen gebracht. Als das Fräulein Cardillacs Werkstatt aufsucht, wird gerade sein Geselle verhaftet. Der Goldschmied ist in der Nacht ermordet worden. Die Tochter des Goldschmieds bittet das Fräulein um Hilfe für ihren Verlobten. In einer Unterredung unter vier Augen klärt der Geselle die Morde auf. Er war von Cardillac hinausgeworfen worden, weil dessen Tochter Madelon und er sich liebten. In einer Nacht hatte er Cardillac aus einer getarnten Tür das Haus verlassen sehen und dabei beobachtet, wie er einen Offizier ermordete. Der Geselle verriet sich durch einen entsetzten Schrei. Cardillac erkannte ihn. Anderen Tags war Cardillac bei ihm erschienen und hatte ihn mit der Erlaubnis, sich mit seiner Tochter zu verloben, zurück in sein Haus gelockt. Seitdem hatte der Geselle Olivier unter Gewissens- und Wissensqualen gelebt, aber er schwieg wegen seiner Liebe zu Madelon. Der Geselle, der auch der Urheber des Warnbriefs war, hatte dann, da er einen Überfall auf das Fräulein befürchtete, Cardillac bei seinem nächsten nächtlichen Ausflug verfolgt, aber diesmal wurde Cardillac selbst das Opfer des widerständigen Überfallenen. Der Geselle hatte den sterbenden Meister davongetragen und war so mordverdächtig geworden. Cardillac sei von einem dä-
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monischen, mörderischen Besitztrieb nach dem von ihm verfertigten Schmuck besessen gewesen. Da meldet sich jedoch der Mann, der Cardillac in Notwehr erstochen hat. Der unschuldige Olivier wird entlassen, nachdem das Fräulein bei König Ludwig XIV. die Mordgeschichte aufgeklärt hat. Olivier und Madelon können endlich heiraten (Klein 1960, 111). Wie Der Sandmann Sigmund Freud als Fallstudie für Kastrationsängste galt, so gilt das sogenannte Cardillac-Syndrom der Psychologie als Krankheitsbild des Nichtloslassen-Könnens von Selbstgeschaffenem, das man narzisstisch als Teil des eigenen Selbst auffasst. Cardillac klammert sich bezeichnenderweise nicht nur an seinen Schmuck, sondern auch an seine Tochter. Einerseits ist er eine der dämonischen Teufelsbündnergestalten in Hoffmanns Novellenwerk, andererseits taugt er zur psychologischen Fallstudie. Seine Schmuckobsession ist nur die extreme Steigerung der erotischen Besetzung von funkelnden Schmuckstücken, die ihrerseits ein verbreitetes literarisches Thema, etwa in Guy de Maupassants Novelle La Parure, darstellt. Die Breite der Hoffmann-Rezeption lässt sich auch anhand dieses Werkes ausmachen. Es hat nicht nur die Psychologie zu einem Krankheitsbegriff, sondern auch den Komponisten Paul Hindemith (1895–1963) zu seiner Oper Cardillac (UA 1926) inspiriert. Nicht alle Novellen der Berliner Romantiker erlangten die internationale und intermediale Rezeption von Hoffmanns Erzählungen. Ludwig Achim von Arnims (1781–1831) Novellistik behandelt jedoch teilweise ähnliche Themenbereiche. So hat er den Niedergang des Adels, der altständischen Ordnung vor 1789, in einer Novelle skizziert, die schon im Titel an eine Novelle Hoffmanns erinnert: Die Majoratsherren (1820). Während er in Isabella von Ägypten (1812) märchenhaft die Golem-Sage behandelt, schildert er in Frau von Saverne (1817) ein Frauenschicksal in der altständischen Gesellschaft kurz vor der Französischen Revolution um das Jahr 1784. Eine andere bekannte Novelle Arnims ist eine Soldatengeschichte um den feurigen bis verrückten Sergeanten Francœur: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau, 1818 erschienen im Almanach Gaben der Milde. Die Soldatengeschichte ist eine bis ins 20. Jahrhundert äußerst beliebte Untergattung der Novelle, vertreten etwa durch Der Baron Bagge (1936) von Alexander Lernet-Holenia. Das feurige Naturell des besagten tollen Invaliden wird in der Novellenstruktur bei Arnim nicht allein durch eine Leitmotivik von Feuer, Feuerwerken und Geschützfeuer unterstrichen. Auch die Tatsache, dass der Sergeant als einzelner Mann tollwütig die Flussmündung der Rhône bei Marseille unter Feuer nimmt und so kontrollieren kann, fügt sich in die Feuersymbolik der Novelle ein. Neben dem Soldatenmilieu ist auch das Dorfmilieu ein beliebter Gegenstand novellistischen Erzählens im 19. Jahrhundert. Ein Beispiel ist Clemens Brentanos (1778–1842) Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Gestalten aus dem Volk sind die Titelhelden, die Handlung wird einem Erzähler von einer alten Bäuerin, Kasperls Großmutter, berichtet. Es ist eine todesschwangere Geschichte vom Untergang einer ganzen Bauernfamilie, das novellentypische Unerhörte steigert sich hier bis ins Sensationelle. In der Weltsicht der Romantik wird überdies ein in erster Linie sozial determiniertes Schicksal wie das einer Kindsmörderin aus verlorener Ehre symbolisch überhöht und durch diese Überhöhung mit einer metaphysi-
Das CardillacSyndrom
Achim von Arnims Novellenwerk
Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Eichendorffs Schlossnovellen
Das Marmorbild: Schauerantike statt Schauergotik
schen Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit versehen. Allein die Religion verbleibt als Trost einfacher Menschen in einer ausweglosen Welt. Eine tiefe religiöse Bindung prägt die Novellistik des katholischen Adligen Joseph von Eichendorff (1788–1857), eines zentralen Lyrikers der deutschen Spätromantik; sie verbleibt freilich mehr als allgemeine Grundierung des Dargestellten. In der Schlossgeschichte Das Schloss Dürande (1837) schildert er – ähnlich wie Arnim in Die Majoratsherren und Hoffmann in Das Majorat – den Niedergang des Adels im Zuge der Französischen Revolution, diesmal in Frankreich selbst. Für den sehr standesbewussten Eichendorff ist der Niedergang seiner Schicht, ihrer galanten Lebensart und Lebenswelt ein lebenslanges Thema – durchaus im Gegensatz zu Adelbert von Chamisso, der in Preußen ein adliger Asylant aus dem revolutionären Frankreich war. Eichendorff hingegen sehnt sich angesichts des Tempos der beginnenden Industrialisierung zurück in die Idyllen seiner Kindheit auf Schloss Lubowitz in Schlesien und in die geordnete Symbolwelt des christlichen Mittelalters, nicht ohne Kritik an der eigenen Kaste, deren Untergang er für durchaus selbst verschuldet hält. In seiner Einsiedler-Novelle mit dem Titel Tröst-Einsamkeit, der an eine 1808 von Arnim und Brentano herausgegebene Zeitschrift der Heidelberger Romantik anknüpft, beschwört der Erzähler, gerade einem modernen Eisenbahnabteil voller ebenso moderner Philister entstiegen, in einem verwilderten Zaubergarten mit Rokokoruinen sein versunkenes Kinderland. Ein Zaubergarten, der noch viel weiter in die Vergangenheit, in die Antike, verweist, ist auch ein wichtiger kultureller Gedächtnisort in Eichendorffs an die Pygmalion-Sage anknüpfender Novelle Das Marmorbild (1819). Die Novellenhandlung ist in der Renaissance angesiedelt, die aber erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als solche bezeichnet wurde. Ein junger, enthusiastischer Mann namens Florio reist in die Welt hinaus. Da gesellt sich ihm in der Toskana der Sänger Fortunato zu und sie gelangen auf eine Wiese, wo die Bürger von Lucca ein Fest feiern. Dort lernt Florio Bianka kennen, ein zierliches, fast kindliches Mädchen. Der Troubadour Fortunato singt ein Lied von Bacchus und Venus und ein Ritterlied. Da tritt ein Ritter namens Donati hinzu, schön, aber blass und unheimlich. Er ähnelt dem Tod aus Fortunatos Lied. Er lädt Florio in sein Haus, etwas Rätselhaftes ist um ihn. Nachts schweift Florio voller Sehnsucht nach Bianka umher. Da sieht er ein Marmorbild der Venus an einem Weiher. Es bewegt sich langsam und sieht ihn mit seelenvollen Augen an. Die sinnenfrohe Antike ist dem Renaissance-Jüngling lebendig geworden. Am nächsten Morgen warnt ihn Fortunato in seiner fröhlichen Art: Er habe noch die Mondnacht in sich, und in der Tat lässt das Marmorbild Florio nicht los. Es zieht ihn zu den Wegen der Nacht zurück, ähnlich wie den sagenhaften Ritter Tannhäuser ins Reich der Venus. Florio kommt in einen unwirklichen Schlosspark, hört Gesang und sieht eine Frau von hinreißender Schönheit mit den Zügen des Marmorbildes. Die Fremde singt ein sehnsuchtsvolles Liebeslied, ähnlich, wie es später die Venus in Richard Wagners Tannhäuser-Oper tun wird, und als sie langsam entschwindet, findet Florio den verwunschenen Ritter Donati schlafend wie einen Toten. Er wird mit einem anti-christlichen, hellenistischen Gespensterreich konfrontiert, aus dem er sich nur schwer lösen und erlösen kann. Der katholische Romantiker Eichendorff verlegt hier das
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
Grauen von der Gotik in die von der Weimarer Klassik verherrlichte helle, aber heidnische Antike. Nur Gott kann den jungen Enthusiasten erretten. Venus steht gegen Maria. Eichendorff kontrastiert in dieser Novelle, die nicht zufällig im durch die Antike grundierten Italien angesiedelt ist, zwei grundlegende Konstanten der abendländischen Kultur: Christentum und Heidentum oder – mit den Worten Heinrich Heines – Nazarenertum und Hellenismus. Was für die Klassik, etwa in Friedrich Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands (1788) ein ästhetisches Ideal, wenn nicht ein sinnliches Lebensideal darstellt, ist für die eher asketische, katholische Romantik eine Bedrohung in verführerischem griechischem Gewand. Hinter der schönen Fassade von „edler Einfalt und stiller Größe“ (im Sinne des klassischen Kunsttheoretikers Johann Joachim Winckelmann) lauern Tod und Teufel. Mehr noch als die Lyrik ist die Novelle als romanische Gattung geeignet, den Schauer hinter heiteren Kulissen zu vermitteln. Die ,öden Häuser‘ und ,Majorate‘ des Nordens werden – das ist bei Eichendorff durchaus innovativ – als Novellenschauplätze durch helle Tempel mit Marmorbildern ersetzt, die als Gedächtnisräume nicht adlige Familiengeschichten, sondern eine fast dreitausendjährige Kulturgeschichte symbolisieren. Bei den zeitgenössischen Autoren Günter Kunert und vor allem Hartmut Lange mutieren die verführerischen weiblichen Marmorbilder dann zu erotisierten Gipsfiguren auf Altberliner Hausfassaden (Mathilde oder der Lichtwechsel, 2009). Eine Zentralfigur der Berliner Romantik, Ludwig Tieck (1773–1853), von Friedrich Hebbel als „König der Romantik“ bezeichnet, beschäftigte sich in seinem letzten Roman Vittoria Accorombona (1840) zwar auch mit der Renaissance-Epoche, aber nur in historistisch-realistischer Manier und nicht aus katholisch-kulturkritischer Perspektive. Tieck hat sich in seinem für die damalige Epoche relativ langen Leben mit den verschiedensten Kunstströmungen auseinandergesetzt, einzelne wie die Frühromantik durch mystisch-novellistische Kunstmärchen wie Der Runenberg (1804) wesentlich geprägt. Schon 1812–1816 veröffentlichte er seinen Phantasus Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen, der bereits Probleme der Gattungsdifferenzierung thematisiert. Tieck galt überdies für Heine als der beste deutsche Novellist überhaupt. Hierbei muss festgehalten werden, dass Tieck einige seiner Werke in angelsächsischer Tradition als Novelle im Sinne von ,novel‘ und nicht nach der romanischen Gattungskonzeption der ,novella‘ bezeichnet, die selbst als Lehnwort im Englischen auftaucht. Dies gilt z. B. für den historischen Roman Der Aufruhr in den Cevennen (1826), der vom protestantischen Widerstand in Südfrankreich gegen den religiösen Allmachtanspruch des Königs berichtet, sowie für den als Novelle bezeichneten Bildungsroman Der junge Tischlermeister (1836), der von den anregenden Reisen des besagten Kunsthandwerkers durch verschiedene gesellschaftliche Milieus erzählt. Dass auch die durchaus sozialkritische Darstellung höchster Not in symbolischer Verdichtung erfolgen kann, eröffnet Tiecks noch heute bekannte Novelle Des Lebens Überfluss, die 1839 im Taschenbuch Urania erschien. Des Lebens Überfluss genießen zwei Eheleute, die in Armut auf zwei Dachkammern leben, aber in ihrer Liebe selig sind. In der Nahrungsnot des Winters hat er seine Bücher, unter ihnen eine wertvolle Ausgabe von Chaucers
Hellenismus und Christentum
Ludwig Tieck: der „König der Romantik“
Tieck: Des Lebens Überfluss
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Wilhelm Hauff Das Bild des Kaisers
Das Elend und die ,hohe Kunst‘
Canterbury Tales, einer frühen Novellensammlung, die einige Bemerkungen über sein Schicksal enthielt, verkaufen müssen. Sie verfeuern sogar die Holztreppe, die von ihrer Wohnung nach unten führt. Nahrung erhalten sie nur noch über einen Strick. Erst ein Freund, der die Chaucer-Ausgabe in einem Antiquariat entdeckt, erscheint als „deus ex machina“ und wendet alles zum Guten. So wird hier über die Canterbury Tales, die Geoffrey Chaucer nach dem Vorbild des Dekamerons (1353) nach 1388 verfasste, ein intertextueller Bezug zwischen der dargestellten Wirklichkeit des Biedermeiers und der literarischen Tradition hergestellt. Der Trost, den die Literatur in existenzieller Not anbieten kann, ist jedoch begrenzt. Im beginnenden Realismus ist ein helfender Freund wichtiger als ein Stück Weltliteratur, dessen Marktwert bei Tieck wie schon der Preis einer Kunstsammlung in der Novelle Die Gemälde durchaus in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Wenn bildungsbürgerliche Menschen in Not geraten, müssen auch sie ihre Kulturgüter veräußern. Hier nähert sich Tieck der sozialen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts an. Wie in Tiecks Gemälden steht ein vielsagendes Porträt motivisch zentral in Wilhelm Hauffs (1802–1827) Das Bild des Kaisers. Ein Schloss bzw. zwei sind Schauplatz in dieser Novelle, die die Probleme des nach der Franzosenzeit verarmten Reichsadels sowie seine politische Desorientierung behandelt. Das Gemäuer ist wie in Tiecks Die Gesellschaft auf dem Lande Schauplatz einer politischen Diskussionsnovelle. Ein junger Preuße, Albert von Rantow, reist nach Schwaben zu seinem Onkel von Thierberg, der auf einem romantischen, halb zerfallenen Schloss wohnt. Die Thierbergs waren reichsunmittelbare Freiherren und der Alte hasst Napoleon, weil er dem Reich ein Ende gemacht hat. Mit seinem Nachbarn, dem ehemals napoleonischen General Willi, streitet er sich deshalb immer wieder. Die politischen Interessengegensätze in den ehemaligen Rheinbundstaaten werden offenbar: Das komfortable Schloss des Generals liegt in Sichtweite der heruntergekommenen Ritterburg. Die Gebäude stehen als Symbolräume für die alte und die neue Zeit diesseits und jenseits der Epochenschwelle von 1789. Willis Sohn gehört einer neuen Partei an: den politisch verfolgten Burschenschaften. Er kämpft für ein geeintes deutsches Reich. Auch wenn er längst nicht mehr Herrscher ist und bereits auf St. Helena in der Verbannung verstorben ist, als Symbolbild beherrscht Napoleon nicht nur die politischen Ansichten, sondern auch die Emotionen der Figuren, die sich zeitlich am Ende jener Umwälzungen befinden, die schon die Gesellschaft in Goethes Unterhaltungen zusammengewürfelt hatten. Während Hauffs Novellistik noch auf der Grenze zwischen zwei Kunstepochen verortet werden kann, sind die Novellen des bedeutendsten österreichischen Dramatikers des 19. Jahrhunderts, Franz Grillparzer (1791–1872), etwa Das Kloster bei Sendomir (1827), schon im Vorfeld des Realismus anzusiedeln. Komplexer gestaltet als die Klostergeschichte ist eine andere, bekanntere seiner Novellen: Der arme Spielmann aus dem Revolutionsjahr 1848. Man kann diesen Text als sozial getöntes, realistisches und nur noch in seinem Sentiment spätromantisches Gegenstück (Kontrafaktur) zu den vielen Künstlernovellen der Romantik auffassen. Auf einem Wiener Volksfest fällt dem Erzähler ein dürftig, aber sauber gekleideter alter Geiger auf, der ein Notenpult vor sich hat und mit idealistischer Hingabe
2. Die Novelle zwischen Klassik, Romantik und Vormärz
fürchterlich spielt. Das subjektive Kunstempfinden kontrastiert hier scharf mit dem tatsächlich hergestellten Kunstprodukt. Die Novelle schildert nun behutsam den Untergang jener Hauptfigur, die sich von ihrer groben Umgebung durch ihr mildes und mildtätiges Wesen abhebt. Künstlernovellen gibt es in der Novellistik des 19. Jahrhunderts viele. Bisweilen ist ihr Titel sogar Grillparzers Spielmann ähnlich, so im Fall der Spielmannslegende von Paul Heyse, die im Limburger Land des 14. Jahrhunderts angesiedelt ist. Manchmal sind schon die Titel der Künstlergeschichten tragisch wie bei der Zeitschriftennovelle Ein Ende in Paris (1841) des Komponisten Richard Wagner, der Untergang und Tod eines verkannten deutschen Musikers in der französischen Metropole schildert. Grillparzers Spielmann ist im Sinne der Kunstvorstellung Schillers der Idealist an sich, auch ethisch so rein, dass dies vielleicht der einzige Zug der Novelle ist, der auf die vergangene Epoche der Klassik zurückverweist. Ansonsten wird die brutale soziale Realität einer Wiener Vorstadt der Vormärzzeit, die stetige soziale Abstiegsgefahr, vor der auch bürgerliche Schichten nicht gefeit sind, mit schonungsloser Präzision dargestellt. Auch in der Schilderung solcher Sozialbilder bleiben die Bauelemente novellistischen Erzählens bestehen; vom reflektierenden Erzählrahmen bis zur leitmotivischen Strukturierung der Binnenhandlung durch das Symbol der Geige, das die hohe Kunst im niedrigen sozialen Milieu repräsentiert, ist die Novelle Grillparzers sorgfältig nach alten Regeln durchkomponiert und insofern gerade nicht kongenial zu ihrer Titelfigur. Wie Der arme Spielmann des Wieners Franz Grillparzer die Künstlernovelle variiert, so variiert Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) in Die Judenbuche (1842) die Kriminalnovelle. Die erzählte Zeit liegt im 18. Jahrhundert, verortet ist die Handlung in jenem ländlich-westfälischen Raum, der auch die Balladen der Autorin, etwa Der Knabe im Moor, prägt. Berichtet wird zunächst die Lebensgeschichte des Friedrich Mergel, der einer heruntergekommenen Familie entstammt. Als Friedrich zwölf Jahre alt ist, holt ihn sein Onkel zu sich in ein anderes Dorf, um ihn anzulernen. Als er zum ersten Besuch zurückkommt, bringt Friedrich seinen Doppelgänger, den gleichaltrigen Schweinehirten Johannes Niemand, mit. Sein Ebenbild ist ein uneheliches Kind des Onkels, das aber verleugnet wird. Die Familie Mergel verarmt immer mehr. Doch Friedrich wird stark und großspurig und ein Anführer der jungen Burschen, unter denen gern geprahlt wird. Dann machen die ,Blaukittel‘, eine Holzfrevlerbande, durch großen Schaden von sich reden. Der Förster Brandes verdächtigt den jungen Mergel und nimmt Friedrich ins Verhör. Der reagiert hämisch. Dann zeigt ihm Friedrich eine falsche Wegrichtung, in die des Försters Mitarbeiter eben gegangen seien. Er selbst geht nach Hause. Plötzlich erscheint der Gerichtsschreiber und teilt mit, dass Förster Brandes von den Blaukitteln ermordet worden ist. Weil er zehn Minuten nach der Begegnung mit dem Förster schon wieder im Dorf war, Brandes aber eine dreiviertel Stunde Wegstrecke entfernt ermordet wurde, ist Friedrich jedoch entlastet. Jahre vergehen. Friedrich feiert Hochzeit. Er präsentiert angeberisch eine angeblich ihm gehörende silberne Uhr. Plötzlich fordert der Jude Aaron öffentlich die Bezahlung. Drei Tage später meldet die Frau Aarons, dass man unter einer Buche im Brederholz ihren Mann erschlagen hat. Der Grund- und Gerichtsherr will Friedrich verhaften lassen, aber Friedrich und sein Doppelgänger Johannes Niemand sind geflohen.
Die Judenbuche: eine westfälische Dorfnovelle
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Die Juden kaufen die Buche gegen das Versprechen, dass keiner sie beschädigen darf, und ritzen einen warnenden Spruch in die Rinde. Seitdem redet man von der Judenbuche. Später bekennt ein jüdisches Mitglied einer Räuberbande, Lumpenmoises genannt, er habe Aaron erschlagen, aber vor der Aufklärung erhängt er sich. Nach achtundzwanzig Jahren taucht Johannes Niemand im Dorf wieder auf. Friedrich gilt als verschollen, Johannes lebt notdürftig von niederen Arbeiten. Eines Tages findet ihn der Sohn des Försters Brandes, der ebenfalls Förster ist, an der Judenbuche erhängt vor. Bei der Untersuchung der Leiche entdeckt der Grundherr an einer Narbe, dass dieser Mann Friedrich Mergel gewesen ist (vgl. Klein 1960, 198). Ob dieser damit als der Mörder gelten kann, ist in der Forschung umstritten (vgl. Mecklenburg). Die hebräische Aufschrift auf der Rinde lautete: „Wenn du dich diesem Ort nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ Das Doppelgängerthema, das in der romantischen Schauernovelle ein wesentliches Mittel des Fantastischen darstellt, wird hier durch die Verwandtschaft von Friedrich und Johannes realistisch grundiert. Realistisch ist auch das letztlich unscharfe Normgerüst, an das sich die Dorfgemeinschaft hält. Einerseits gibt es akzeptierte Vergehen, die sich durch die pure Notwendigkeit der Daseinsbewältigung legitimieren, andererseits ist der Schritt von diesen Übertretungen in die gesellschaftlich ausgestoßene Gruppe der Räuber nicht weit. Hier ist es vor allem der Holzfrevel, in anderen Dorfnovellen von Schiller bis Marie von Ebner-Eschenbach ist es die Wilderei. Auch ansonsten ist die Sozialstruktur des Dorfes unklar gezeichnet, die „Heimat“ wie „ein Alptraum“ (Freund 1993, 109). Obwohl schon Friedrich Mergels Vater als verkommen gilt, kann sein Sohn durchaus zum Anführer der Dorfburschen aufsteigen. Hinzu kommt, dass das, was in der städtischen Kriminalnovelle die neueste Nachricht oder der präzise Polizeibericht ist, hier als Dorfgerücht zusätzlich verunsichert. Was die Erzählkomposition betrifft, steht diesen Schwankungen eine klar strukturierte Symbolstruktur gegenüber. Zentral ist das titelgebende Baumsymbol, das sowohl für Leben im Sinne eines Lebensbaums steht, als auch – vor allen Dingen nach dem Einritzen des Warnspruchs durch die Juden – als Todessymbol zu deuten ist. Buchen gelten im Aberglauben als Hexenbäume. Die Juden wiederum sind die einzige Bevölkerungsgruppe neben dem Grundbesitzadel, deren Verortung im Dorf eindeutig ist: Sie sind eindeutig Außenseiter im Sinne Hans Mayers.
3. Die Novelle des Realismus (1848–1890) Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag
Der evangelische Pfarrer Eduard Mörike (1804–1875) schuf mit seiner Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag (1855), wie schon die Judenbuche in der Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Leser erstveröffentlicht, eine Art Gedenkblatt zum kurz bevorstehenden 100. Geburtstag des Komponisten, dessen Musik und Leben seit der Hochromantik vielfältige literarische Verarbeitung gefunden haben. Während das Mozartbild Hoffmanns bzw. seine Schilderung der Musik des Salzburgers – etwa in Don Juan – durchaus dämonische Züge aufweisen, ist das Lebensbild, das Mörike zeichnet, eher idyllischer Natur. Diese biografisch-anekdotische Idylle ist trotzdem von Todesnähe überschattet. Der Komponist italienischer Opern
3. Die Novelle des Realismus
ist in der rauen Wirklichkeit gefährdet wie eine zarte Orangenpflanze. Eine andere Novelle Eduard Mörikes, Lucie Gelmeroth, die unter diesem Titel und in dieser Bearbeitung 1839 das erste Mal veröffentlicht wurde, knüpft demgegenüber an die Tradition der Kriminalnovelle an. Der Linzer Adalbert Stifter (1805–1868), in Böhmen gebürtig, hat einen ganz eigenen, schildernden Typus der Novelle geschaffen. In Der Condor (1840) ist ein Maler die Hauptfigur, verliebt in seine Malschülerin Cornelia, die, nachdem sie an einer Forschungsfahrt im Ballon ,Condor‘ höchst unglücklich teilgenommen hat, nach einer inneren Wandlung zu ihm gefunden hat. Doch die Geliebten trennen sich. Den Schluss bildet eine Szene, in der Cornelia erschüttert vor Gemälden des Freundes steht (Klein 1960, 231). Nur über das Medium der Kunst können die beiden ästhetischen Existenzen in dieser Künstlernovelle wirklich kommunizieren. Das Ballonmotiv wird noch 1993 in die Novelle O2 von Norbert Gstrein (* 1961) aufgenommen, die von einer Stratosphärenfahrt des Schweizer Professors Auguste Piccard im Jahr 1931 handelt. Dagegen ist Abdias (1843) eine historische Novelle von biblischer Wucht. In der Wüste am Atlasgebirge wächst der Jude Abdias auf. Sein Schicksal ähnelt dem des Ahasver, des legendenhaften, stetig wandernden, ewig lebenden Juden. Die Form wie der Inhalt nähern sich in dieser Handlung der religiösen Legende, die z. B. auch in Gottfried Kellers durchaus ironischen Sieben Legenden (1872) gestreift wird. Genuin novellistisch bleibt jedoch, dass die Assoziationen zu biblischen Gestalten und Propheten, etwa zum Buch Hiob, aber auch zu Figuren des antijudaistischen Volksglaubens, nie konkretisiert werden. Sie haften der Figur Abdias wie seinem irrenden Lebensweg an, weil sie als Charakteristika seines Volkes dienen, nicht, um durch den Text etwaigen religiösen Sinn zu stiften. Immensee, die erste der durchkomponierten Monumentalnovellen Theodor Storms (1817–1888), erschien 1850. Es handelt sich um eine psychologisch gestaltete Erinnerungsnovelle, bei der der traditionelle Erzählrahmen durch einen Erinnerungsrahmen ersetzt wird. Novellentypisch weckt die Betrachtung eines Bildes den Gedächtnisstrom. Ein alter Mann betrachtet ein Porträt seiner Kindheits- und Jugendfreundin Elisabeth. Die Erinnerungen steigen herauf. Reinhard – so heißt er – und Elisabeth waren Nachbarskinder und unzertrennlich. Bevor er aus der Heimat ging, suchten sie bei einem Gesellschaftsausflug Erdbeeren. Dabei verirrten sie sich und fanden mühsam zu den anderen zurück. Er geht zur Universität. Dort erhält er ein Weihnachtspaket mit einem Brief Elisabeths, der von seinem Schulfreund Erich berichtet, der sie gezeichnet habe. Der Rivale macht sich wortwörtlich ein Bild der Frau. Als Reinhard zu Ostern heimkommt, findet er Elisabeth verlegen. Er hat ihr einst einen kleinen Vogel geschenkt, der nun tot ist. Nun besitzt sie von Erich einen gelben Kanarienvogel, ein verdächtiges Tiersymbol. Beim Abschied fragt Reinhard Elisabeth, ob sie ihn, wenn er nach zwei Jahren wiederkehre, lieben würde wie jetzt. Sie bejaht die Frage. Die beiden Jahre vergehen; schließlich gibt sie dennoch Erich das Ja-Wort. Als Reinhard, Jahre später, den Schulfreund am Immensee besucht, steht Elisabeth beim Wiedersehen, mit dem ihr ahnungsloser Mann Erich sie überraschen wollte, betroffen da. Reinhard schwimmt auf den Immensee hinaus, auf eine symbolische Wasserlilie zu, die ihn anzieht. Doch die bleibt immer
Stifter: Novelle als atmosphärische Schilderung
Stifters Abdias – Legende ohne Glauben
Immensee: eine Erinnerungsnovelle
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Der Schimmelreiter
gleich fern. Einige Tage später geht er mit Elisabeth am Immensee spazieren. Er fragt, ob sie noch einmal Erdbeeren suchen sollten; sie will von den alten Liebesfrüchten nichts wissen. Er pflückt ihr eine Erika, auch eine Liebesblume der beiden, aber die Jugend kommt nicht mehr. In der nächsten Morgenfrühe bricht er heimlich auf. Elisabeth bemerkt ihn und fragt ihn, ob er niemals zurückkomme. Er wendet sich ab, sie steht regungslos da. Er will zurück und geht doch. Inzwischen ist in der rahmenden Gegenwart der Mond wolkenverhüllt. Der sich erinnernde alte Mann sieht die Wasserlilie, die immer gleich nah und gleich fern ist (vgl. Klein 1960, 265). Wie Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe ist diese Novelle realitätsnah im gegenwärtigen Milieu gehalten und dennoch hochsymbolisch. Die Erdbeeren, im christlichen Symbolsystem sowohl Zeichen der Weltlust wie Früchte des Paradieses, die auch in Thomas Manns Der Tod in Venedig (1912) für erotische Verführung stehen, fungieren ebenso wie die Erika und die Wasserlilie als Leitmotive. Letztere steht für Reinhards unerreichbare Liebe. Auch ein Volkslied von der Einsamkeit erklingt mehrfach und ergänzt die novellistische Überstruktur, die so Sinnhaftigkeit trotz Entsagung simuliert. Wenige Monate vor Storms Tod im Jahr 1888 erschien sein bekanntestes Werk, das Vermächtnis seiner Novellistik, die Rahmen- und Monumentalnovelle Der Schimmelreiter. Es handelt sich um einen geradezu klassischen Schulstoff, der bislang dreimal verfilmt wurde. Der Rahmen ist mehrfach gestaffelt. Zu Beginn der Binnenhandlung berichtet ein nicht näher bestimmter Erzähler, wie er beim Ritt über den Deich an einem stürmischen Abend einem geheimnisvollen Reiter auf einem mageren Schimmel begegnete. Dann ritt er zu einem Gasthaus, wo man seinem Bericht nach den Schimmelreiter erkannte, der sich immer bei Gefahr von Sturmflut und Dammbruch zeigt. Ein gelehrter Schulmeister erzählt nun die Geschichte Hauke Haiens, des Schimmelreiters, der einer realen Gestalt des 18. Jahrhunderts, dem bäuerlichen Autodidakten Hans Momsen, nachgebildet sein soll. Hauke studierte schon als Junge die Mathematik des Euklid. Doch dann schickte sein Vater Hauke zur Deicharbeit. Dort beobachtete Hauke, dass der Deich zu steil war. Hauke hatte seine Berufung gefunden; er wollte Deichgraf, offizieller Verwalter der Deiche, werden. Da gerade der Deichgraf, der durch die ihm obliegenden Berechnungen überfordert war, seinen Knecht entlassen hatte, bewarb sich Hauke um den Posten. Elke, die kluge Tochter des alten Deichgrafen, fühlte rasch eine Seelenverwandtschaft zu dem tüchtigen Rechner. Er rechnete bald anstelle des Vaters. Auch verwies Hauke auf Missstände, wodurch der Oberdeichgraf auf ihn aufmerksam wurde. Elke und Hauke näherten sich einander an. Doch Hauke, der schon die Ringe gekauft hatte, wagte als armer Bursche nicht, den Deichgrafen um seine Tochter zu bitten. Dann springt die Erzählebene zum Novellenrahmen zurück. Plötzlich geht die Nachricht um, der Schimmelreiter sei wieder gesehen worden. Die Friesen brechen auf und der erzählende Schulmeister und sein Zuhörer sind allein, die Binnenhandlung wird fortgesetzt: Der alte Deichgraf starb und Hauke wurde nach der Eheschließung mit Elke Deichgraf. Die Ehe wurde glücklich, doch Hauke durch sein scharfes Regiment bei den Bauern unbeliebt. Er plante einen neuen Deich, der gegen eine Riesenflut schützen musste, viel Geld kosten und Neuland einbringen würde.
3. Die Novelle des Realismus
Um diese Zeit glaubten zwei Bedienstete Haukes, auf der Totenhallig Jeversand ein Gespensterpferd zu sehen. Es ist der titelgebende Schimmel, fast ein Geisterpferd mit glühenden Augen, bockig gegen jeden. Ein Knecht meinte, dieses Pferd könne nur der Teufel reiten. Da Hauke dies jedoch auch vermochte, geriet er in den Ruf der Teufelsbündnerei. Der Deichbau begann und mit ihm die allgemeine Verbitterung über die Mühsal. Elke gebar ein geistig unterentwickeltes Mädchen. Das schwachsinnige Kind des klugen Mannes ist ein Vorzeichen der Degeneration. Hauke wehrte sich gegen Aberglauben. Er rettete, als beim Deichbau eine bedrohte Stelle geschlossen werden musste, einen kleinen Hund, den die Arbeiter nach altem Brauch opfern und im Deich als Abwehrzauber vergraben wollten. Der Unmut der Menge war ihm sicher. Der Deich jedoch wurde vollendet. Das Volk nannte ihn den Hauke-Haien-Deich. Nach einer Krankheit wurde Hauke nachlässig. Er ließ Schwachstellen am Deich stopfen statt sie gründlich zu bekämpfen. Die Konsequenz fehlte ihm plötzlich und zum ersten Mal war man mit dem Deichgrafen zufrieden. Es folgt ein dramatischer Umschlag und Wendepunkt. Eine Sturmflut bricht herein. Gerade an der Schwachstelle zwischen den Deichen droht der Durchbruch. Da entdeckt Hauke, durch den Sturm reitend, wie Elke mit ihrem Kind das Haus verlässt, in dem Moment, als zwischen den Deichen ein lebensgefährlicher Wasserstrom durchschießt. Sofort stürzt sich der Deichgraf mit dem Schimmel in die Flut hinab. Er opfert sich symbolisch für den Deich (vgl. Klein 1960, 296). Das quasi vorbiblische Menschenopfer Hauke ist zum Gespenst geworden, dem sein Werk keine Ruhe lässt. Für den erzählenden Schulmeister ist Hauke ein Held, der Rationalität in eine bäuerliche Umgebung gebracht hat. Doch – um mit Paul de Man zu sprechen – der Text des Schimmelreiters praktiziert nicht, was er predigt. Obwohl die friesischen Bauern von Nachlässigkeit angesichts tödlicher Gefahren geprägt sind, ist der Dammbruch letztlich auch Haukes Ehrgeiz sowie seinem Gleichmut im falschen Entscheidungsmoment zu verdanken. Der im Text verborgene Sachverhalt unterläuft die Tatsachenbehauptungen und vor allem die Idealisierung der Titelfigur durch die im Schulmeister personifizierte Erzählinstanz. Seiner rationalen Weltdeutung wird die Gespensterwelt der Bauern schroff entgegengesetzt. Dass diese durchaus auch einen Wahrheitswert für sich in Anspruch nehmen darf, wird durch die vom zweiten Rahmenerzähler verbürgte Gestalt des geheimnisvoll-geisterhaften Reiters, aber auch durch das letztlich doch notwendige Deichopfer belegt. Aufgrund der gefächerten Rahmung und der ständigen Einbindung des Hörensagens in den Erzählstoff ergibt sich ein komplexeres Realitätsbild, als es zunächst angesichts einer traditionellen Großnovelle mit vielen gründerzeitlich-historistischen Ausschmückungen den Anschein hat. „Was vom Sockel gestoßen werden müsste, wird vom Erzähler zum Denkmal stilisiert.“ (Freund 1993, 195) In der großangelegten Konstruktion des Schimmelreiters gibt es einige Ansatzstellen zur Dekonstruktion. Das hat Storms Konstrukt übrigens mit den Deichbauprojekten seines Titelhelden gemein. Was bei Theodor Storm Norddeutschland und die Nordsee sind, das ist bei seinem Brieffreund und Mitstreiter in Sachen Novellenrealismus Gottfried Keller (1819–1890) das Schweizerland als Hintergrundfolie. Dem
Komplexe Erzählperspektiven
Gottfried Keller: Erzählen aus der Schweiz
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Kleider machen Leute: Polenromantik
ziemlich erfolglosen Malstudenten in München und späteren Zürcher Stadtschreiber waren sowohl die Künstler- als auch die Bürgerwelt nicht unbekannt. Der bekannteste Novellenzyklus Kellers ist sicherlich Die Leute von Seldwyla, dessen erster Teil 1856 und dessen zweiter Teil 1873–74 erschienen. Er enthält bekannte Werke wie Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Romeo und Julia auf dem Dorfe und im zweiten Teil unter anderem Kleider machen Leute sowie Die missbrauchten Liebesbriefe. Neben dem Novellenkranz Das Sinngedicht (1881) hat Keller auch Die Züricher Novellen, darunter die Historiennovelle Hadlaub über einen Minnesänger des 14. Jahrhunderts sowie die früher entstandene Bürgergeschichte Das Fähnlein der sieben Aufrechten veröffentlicht. Auch die Züricher Novelle Der Narr von Manegg behandelt Schweizer Geschichte und ihre Dokumente, unter anderem die Manessische Liederhandschrift aus der Zeit um 1300. Die Schwächen der Bürgerwelt werden in Kellers Kleider machen Leute kritisch beleuchtet. Dies ist eines der bekanntesten Werke Kellers, das mehrfach verfilmt wurde – unter anderem 1940 mit Heinz Rühmann als fahrendem Schneider unter der Regie von Helmut Käutner. Der oberschlesische Schneider Wenzel Strapinski wandert in einem weiten Mantel und einer modischen Polenmütze von Seldwyla nach Goldach. Er ist ein schüchterner Mensch, der für eine gepflegte Erscheinung vieles entbehrt. Ein Kutscher nimmt ihn im leeren Reisewagen auf und hält vor dem Wirtshaus ,Zur Waage‘. Da der Wirt und seine Bediensteten, einen reichen Gast vermutend, herausstürzen und Wenzel in ihr Haus drängen, lügt der Kutscher dem Wirt vor, es handelte sich um den polnischen Grafen Strapinski, und fährt weiter. Alsbald tauchen die vornehmen Goldacher auf und scheinen von seinem Grafenstand überzeugt zu sein. Er kann nämlich hervorragend die Zügel führen, weil er bei den Husaren gedient hat. Nur ein Buchhalter erblickt Wenzels nadelstichige Hände und errät seinen Beruf. Man überredet den anscheinend politisch verfolgten Polen zum Kartenspiel; er gewinnt. Die Polenbegeisterung der Schweizer Bürger von Goldach kennt keine Grenzen. Keller persifliert hier eine Modeströmung der 1830er Jahre. Im Zuge polnischer Erhebungen gegen die russische Okkupation kam es in ganz Europa, auch im deutschsprachigen Raum, zu einer großen Solidaritätswelle für das unterdrückte Nachbarvolk. Die empathische Polenromantik brachte tausende Polengedichte hervor. Ihrem Opfer Wenzel wird es jedoch langsam mulmig. Vor dem Abendessen will er sich davonstehlen, um das novellistische Maskenspiel durch Flucht zu beenden. Da treten ihm der Amtsrat und seine Tochter Nettchen gegenüber. Sie begrüßt ihn charmant. Bislang hatte Wenzel nichts getan, um seine Scheinidentität zu bestätigen. Durch den Anblick des schönen Nettchens wird er umgestimmt, der Schlesier spricht plötzlich polnische Brocken. Anderntags will er türmen. Er kehrt um, als er das nette Nettchen sieht. Er wächst trotz schlechten Gewissens in seine Rolle hinein, gewinnt Geld in einer Lotterie und träumt davon, wie er den Goldachern ihre Ausgaben ersetzen kann. Immer wieder hält ihn Nettchen von der Abreise ab. Er verlobt sich schließlich und spendiert die eine Hälfte seines Geldes für seine Braut, die andere für ein Fest zwischen Seldwyla und Goldach. Inzwischen hat der Buchhalter in Seldwyla seine entlarvende Beobachtung verbreitet. Im Gasthaus der Goldacher kommen maskierte Gestalten an und präsentieren eine Aufführung. Das Maskenspiel hat
3. Die Novelle des Realismus
den Titel ,Kleider machen Leute‘. Da verkündet ein als Wenzel maskierter Spieler, dass der polnische Adlige ein Schneider ist. Die Fassade bricht zusammen. Jäh schlägt durch das Wissen um den Betrug die Stimmung um und die Verlobung scheint beendet. Wenzel verlässt isoliert den Raum, doch Nettchen folgt ihm und errettet den in Eiseskälte Eingeschlafenen vor dem Erfrieren. Sie hört seine Version der Geschichte und steht zu ihm. Sie heiratet Wenzel gegen die durch die unerhörte Begebenheit getrübte öffentliche Stimmung. Wenzel wird ein Schneider und zuletzt ein angesehener Bürger (Klein 1960, 309 f.). Auch hier erfolgt – über die Zwischenstufe des Betrugs – vor allem durch Nettchen eine Erziehung in den Bürgerstand und dessen Lebensideale hinein. Adel wird in dieser Welt mit scheinhafter romantischer Betrügerei verbunden; die bürgerliche Produktivität hingegen ist die Lebenshaltung, die langfristig eine Existenz sichern kann. Insofern ist der ehrbare Schneider dem unehrenhaften Grafen vorzuziehen. In Kellers Das Fähnlein der sieben Aufrechten (1861) wird gezeigt, dass der biedere Bürgerstand seine Rechte durchaus erkämpfen kann und muss. Hier ist ein Berufskollege des Wenzel, der Schneidermeister Hediger, eine der Hauptfiguren. Als eifriger Republikaner billigt er noch nachträglich die jakobinische Schreckenszeit der Französischen Revolution, deren Ikonen an seinen Wohnungswänden hängen. Wöchentlich trifft er sich mit liberalen Gesinnungsgenossen, die sich ,die Aufrechten‘ nennen. Hediger ist arm und vergrault bisweilen durch seinen Fanatismus die Kunden. Der begüterte Zimmermeister Frymann ist der andere Anführer der ,sieben Aufrechten‘, Hediger hält seinen Sohn Karl, Frymann seine 17-jährige Tochter Hermine unter strenger Aufsicht. Während einer Sitzung beschließen sie, zum eidgenössischen Freischießen, dem ersten seit der Bundesverfassung von 1848, eine Ehrengabe zu überreichen. Dann wird eine Fahne mit der Inschrift ,Freundschaft in der Freiheit‘ die Aufrechten anführen. Jeder der sparsamen bürgerlichen Revolutionäre bietet eine Ehrengabe an, die er als Ware sonst nicht verkaufen könnte: der Schreiner beispielsweise ein Brautbett, das zum Leitmotiv der Novelle werden soll. Frymann ahnt, dass der Sohn seines Freundes, Karl Hediger, an seiner Tochter Hermine interessiert ist. Er will aber als erwerbsorientierter Geschäftsmann einen reichen Schwiegersohn. Die Freundschaft zu Hediger soll nicht getrübt werden. Hediger stimmt zu. Erst nach langem Hin und Her erlauben die beiden Bürger ihren Kindern die Heirat. Am Tag der Feier hat Hedigers Sohn Karl nämlich eine Rede über die Freundschaft in der Freiheit und die sieben Aufrechten gehalten und damit Frymann von seinen geistigen Qualitäten überzeugt. Auch als Schütze bewährt er sich. So verbinden sich im Brautbett die Anmut seiner Tochter und die Gewandtheit von Hedigers Sohn. Keller entlarvt in dieser Novelle den Zwiespalt zwischen einer bürgerlich-revolutionären Gesinnung und einer protestantischen Erwerbsethik im Sinne Max Webers, die auch das Intimste in ihre Kalkulation mit einbezieht. Der Widerspruch wird aufgezeigt, ohne die dargestellten Figuren zu denunzieren, schließlich sind auch die jungen Liebenden allem Freiheitspathos und aller Kampfbereitschaft zum Trotz keine Rebellen, zumindest nicht gegen ihre Eltern. Das Ideal der bürgerlichen Familie stellt eine strenge Autorität dar. Revolution hingegen ist nur gegen äußere Mächte wie Klerus und Adel legitim.
Jakobinertum und Erwerbsethik
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik Heyses L’Arrabbiata: soziale Wirklichkeit
Die Stickerin von Treviso: Historismus und Fiktion
Fontane: Grete Minde
Die Novellenwelt des mit Storm und Keller eng verbundenen Münchner Dichters Paul Heyse (1830–1914) ist exotischer und bunter. An die 177 Werke dieser Gattung, von den historisch-philologisch gehaltenen Troubadournovellen über Gespensternovellen, Gesellschaftsnovellen wie Judith Stern bis hin zu Historiennovellen wie Andrea Delfin hat Heyse geschaffen, der nach der Auffassung Fontanes seiner Epoche den Namen geben sollte. Der Literaturnobelpreisträger Heyse gilt – nach Vorläufern wie den Venezianischen Novellen (1838) von Franz Freiherr Gaudy – jedoch vor allem als Begründer der Italiennovelle. In Paul Heyses L’Arrabbiata (1853), die Storm als „eine außerordentliche Perle“ bezeichnete, sind bereits die wesentlichen Motivkonstellationen dieser Untergattung vereint. Zudem greift Heyse durch die Gestaltung der Handlung in einem Sonnenumlauf auf die Vorgaben der aristotelischen (Dramen-)Poetik zurück. Die Italiennovelle schildert die erst nach einer jähen Wendung aufkeimende Liebe zwischen der widerspenstigen Laurella und dem Schiffer Antonino. Neben dem Kontrast der Geschlechter lebt die kurze Novelle vom Gegensatz zwischen der Postkartenidylle der Bucht von Sorrent, der Heyse auch sein mehrfach vertontes Lied von Sorrent widmete, und der durchaus realistischen, sozial präzisen Schilderung häuslicher Gewalt im Elternhaus der Laurella. Zwischen den Eltern herrscht ein Gewaltverhältnis, das die Abwehr alles Männlichen, die das stolze Mädchen prägt, sozialpsychologisch nachvollziehbar macht. Insofern fügt sich das kleine modellhafte Werk in die Ästhetik des Realismus ein. Dieser ersten Italiennovelle Heyses folgten viele weitere, von Das Mädchen von Treppi über Villa Falconieri bis zu der schon durch ihren Titel vielversprechenden Vendetta-Novelle nach. Die Stickerin von Treviso (1868) ist eine der ersten Renaissancenovellen der deutschen Literatur. Heyse, der mit dem Verfasser des grundlegenden kulturhistorischen Werks über diese Epoche, Die Kultur der Renaissance in Italien, Jacob Burckhardt (1818–1897), persönlich befreundet war, schildert in der Binnenerzählung eine altitalienische Liebesgeschichte. Erzähler ist ein mit Burckhardts Freundesnamen ,Eminus‘ (lat.: der Herausragende) belegter Gelehrter, der die Novelle um edle Frauen und Ritter angeblich einer alten Chronik entnommen hat. Wie bei Goethe, Hoffmann oder Tieck ist hier nach Boccaccios Manier ein geselliger Kreis vorausgesetzt, der sich durch eine Geschichte von einer unangenehmen Lage ablenken will. Der Erzähler stellt die rohe, blockhafte Darstellung der Renaissancechroniken der modernen Glätte spöttisch gegenüber. Tief beeindruckt wie alle anderen über das tragische Schicksal der edlen Dame, die die Titelfigur ausmacht, gibt ein Herr aus der Rahmengesellschaft doch seinem Zweifel Raum, ob die Novellenhandlung tatsächlich einer alten Chronik oder vielmehr nicht der Einbildungskraft des Eminus entstamme. Das Problem des historistischen Erzählens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das inspiriert ist durch die großen Historiker wie Leopold von Ranke, Theodor Mommsen oder eben Jacob Burckhardt, wird im Novellenrahmen auf den Punkt gebracht. Wer seine Vorbilder in der Geschichte sucht und idealisiert, kommt ohne Fiktionalität nicht aus. Der relative Abstand seines Werkes zu historischen Stoffen mag überdies auch ein Grund dafür sein, dass der vierte im Bunde des Freundeskreises um Storm, Keller und Heyse, Theodor Fontane (1819–1898), eher Gesell-
3. Die Novelle des Realismus
schaftsromane als Novellen schrieb. Seine Novelle Grete Minde (1879) behandelt jedoch in archaisierender Sprache einen unerhörten historischen Stoff aus der altmärkischen Geschichte: die Brandstiftung einer um ihr rechtmäßiges Erbe betrogenen Frau, die 1617 ihre Heimatstadt Tangermünde vernichtet. Die Tradition der Chroniknovelle findet hier ihre Fortsetzung. Der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) konzentriert sich im Gegensatz zu Fontane in seinem umfangreichen Novellenwerk auf historische Stoffe. Seine erste Großnovelle Das Amulett behandelt die Ermordung französischer Protestanten in der Bartholomäusnacht 1572. Dieses Massaker an tausenden Menschen ist die unerhörte Begebenheit, die im Zentrum des Geschehens steht. Wie oft in der Novellenliteratur ist das Zentralmotiv titelgebend. Das Werk ist ebenso eine Chronik- wie eine Erinnerungsnovelle, in deren Mittelpunkt ein französischsprachiger Schweizer Katholik namens Boccard steht. Ein Ich-Erzähler findet im ersten Erzählrahmen alte Dokumente aus dem frühen 17. Jahrhundert, die wohl von einem Freund des Boccard stammen. Der Schweizer Hans Schadau erinnert sich an Boccard und sein Amulett, als sein Vater bemerkt, dass die Madonna von Einsiedeln nach der Reformation an Wunderkraft eingebüßt habe. Hans ist 17-jährig auf dem Weg nach Frankreich gewesen, um in die Dienste des Marschalls von Coligny einzutreten. So lernte er seinen Landsmann Wilhelm Boccard, der zur königlichen Schweizertruppe wollte, kennen und stritt mit ihm über die für Calvinisten wichtige Vorsehung. Boccard nannte diesen Glauben an die Vorbestimmtheit aller menschlichen Handlungen grausam, Schadau hielt den Marienglauben für eine Albernheit. Dieser Streit ist selbstreferenziell: Sowohl die innere Notwendigkeit der Handlung als auch ein Marienamulett prägen die Novellenstruktur. Das Amulett kann nämlich Leben retten. Conrad Ferdinand Meyer wurde zu dieser dramatischen Novelle unter anderem durch den Roman Chronique du règne de Charles IX (1829) von Prosper Mérimée, dem Schöpfer der Carmen-Novelle, angeregt. Allgemeine Studien der französischen Geschichte kamen hinzu. Das Amulett hat mehrere Funktionen. Einerseits ist ein Marienamulett mehr noch als das häufig verwandte Ringsymbol als Schmuckstück von vornherein symbolisch, weil ihm eine Heilwirkung zugeschrieben wird, andererseits dient es hier als eine Art Schutzschild, schützt also durch seine metallische Materialität, etwa beim Fechtkampf. Die Stoffwahl ist durch den beginnenden Kulturkampf in Deutschland mitbegründet. Auf dessen Lesepublikum wollte Meyer seine literarischen Texte ausrichten. Von dieser regional-kulturellen Ausrichtung auf das deutsch-protestantische Bildungsbürgertum kündet neben kleineren anekdotischen Werken wie Der Schuss von der Kanzel auch die Geschichtsnovelle Gustav Adolfs Page (1882). Der vom Schweizer Landsmann Burckhardt geprägten Neorenaissance sind andere Novellen des Autors gewidmet. In Conrad Ferdinand Meyers Plautus im Nonnenkloster (1882) erzählt der Humanist Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380–1459), eine historisch verbürgte Figur, vor einer Hofgesellschaft Cosimo de Medicis, wie er ein kostbares Manuskript des lateinischen Komödiendichters Plautus der tückischen Äbtissin eines Schweizer Klosters abluchste. Poetologisch interessant ist dabei, dass Poggio selbst als
Das Amulett: Dingsymbol im Religionskampf
Zur Stoffwahl: Meyer und der Kulturkampf
C. F. Meyers Neorenaissance I
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
C. F. Meyers Neorenaissance II
Krambambuli: Symbol der Menschlichkeit
Sozialkritisches Neorokoko
Verfasser sogenannter Fazetien (Schwänke), einer oft erotisch-obszönen Nebenform der Novelle, Novellenautor war. Wir können also in der Rahmenhandlung einen Begründer der Gattung beim ,Novellieren‘ beobachten. In C. F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs (1884) erzählt Dante Alighieri (1265–1321), der Schöpfer der Göttlichen Komödie selbst, eine Novelle, indem er gemäß der realistischen Literaturtheorie anwesende Personen des Zuhörerkreises im Haus des Cangrande zu Verona zu Novellengestalten umformt. Er gibt ein Beispiel, wie unfreiwilliger Berufswechsel zugrunde richtet, und entwickelt sein Exempel aus einer Grabinschrift, die vom Begräbnis des Mönchs Astorre und dessen Gemahlin berichtet. Er beobachtet die Spannung zwischen Cangrandes Ehefrau Diana und seiner zarten Freundin und gibt den Rivalinnen seiner Geschichte ihre Namen, wie er auch die meisten anderen Novellenfiguren nach Zuhörern benennt und auf diese Weise ihren Charakter so offenbart, dass die Erzählung durch Gegenwehr der Betroffenen unterbrochen wird. Die realistische Entstehung von literarischer Fiktion aus der Wirklichkeit wird in diesem Text auf großangelegte Historiengemälde im Stil Makarts zurückprojiziert. Das durch die schon im Dekameron wiedergegebene Ringparabel etablierte Ringsymbol strukturiert und motiviert die Handlung zusätzlich. Die italienische Knappheit der Novellen des Boccaccio hat dieser Text dennoch nicht. Er ist zeitgemäß zur gründerzeitlichen Monumentalnovelle ausgestaltet. Von der Schweiz geht der Blick ins benachbarte Österreich, das in der Epoche des Realismus durchaus einen eigenen Novellenkanon vorweisen kann. Neben Ferdinand von Saar (1833–1906) vertritt vor allem Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) den erzählerischen Realismus in der österreichischen Literatur. Sie, die wie viele Novellenschriftsteller ursprünglich zum Theater strebte, war die Tochter eines wohlhabenden katholischen böhmisch-mährischen Adligen und einer sächsisch-bürgerlichen Protestantin. Dementsprechend ist ihre Novellistik von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägt. Ein gewisser sozialer Impetus ist ihr eingeschrieben, egal ob sie sich wie in Der Muff städtischem oder ländlichem Elend zuwendet. Mit Krambambuli hat sie – wie auch Ferdinand von Saar mit Tambi – eine ergreifende Tiergeschichte verfasst. Ein Försterhund wird als Symboltier der Treue zur Zentralgestalt wie zum Hauptmotiv der Novellenhandlung. Der Hund fungiert in dieser Tiernovelle als überhöhtes Symbol einer menschlichen Tugend, die jedoch von seinen Artgenossen oft überzeugender gelebt wird als von deren Haltern. Tiersymbole aus der christlichen Bildwelt wie aus der Wappenkunde (Heraldik) zeugen von der Lebendigkeit dieser Zeichensysteme. In Krambambuli ist das Symboltier zusätzlich in eine besonders lebendige Szenerie gestellt worden: in das Genrebild der Wilderer-Novelle, das ungefähr hundert Jahre zuvor schon in Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre gezeichnet wurde. Vergebliche, schädliche Fürsorge können Menschen nicht nur Tieren angedeihen lassen. In Er lasst die Hand küssen, einer gar nicht nostalgischen Rokokonovelle, zeigt Ebner-Eschenbach die Schattenseiten der Leibeigenschaft, auch wenn sie sich hinter einer karitativen Maske verbergen. Als strukturierendes Leitmotiv fungiert in dieser Novelle kein Ding- oder Tiersymbol, sondern der die grausame Handlung sarkastisch kontrastierende gestelzte Satz „Er lasst die Hand küssen“, mit dem ein wohl aus dem Tschechi-
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne
schen übersetzender Kammerdiener den stetigen Verfall des Untergebenen Mischka begleitet. Dieser Verfall wird nicht durch Böswilligkeit, sondern durch die Ignoranz seiner Herrin verursacht, die nach aufklärerischen, aber auch christlichen Grundsätzen ihren Gärtner zu erziehen trachtet. Das Leben ist jedoch kein Schäferspiel. Bukolische Trunkenheit kann zu Alkoholismus führen, die Trennung zweier Liebender führt nicht zu elegischem Weltschmerz, sondern in tiefe Verzweiflung. Die ästhetische Sichtweise der Gräfin, die schon zu Beginn ihr Verhältnis zu dem schönen Mischka prägte, muss scheitern. Freilich scheitert aufgrund der sozialen Machtverhältnisse einer spätfeudalen Gesellschaft nicht ihr Leben, sondern das Leben ihres Erziehungsobjekts. Historistisch ist diese an der Schwelle zur Moderne verfasste, 1886 publizierte Novelle insofern, als dass soziale Unterschiede in der Rahmenhandlung des 19. Jahrhunderts auf die noch schärfer hervortretenden Hierarchien des 18. Jahrhunderts zurückgeblendet werden. Das Neorokoko, das zu Beginn der realistischen Novellistik in Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag (1855) noch in einer (musik-)ästhetischen Schilderung verharrte, wird im Zuge der sich verschärfenden sozialen Frage im Spätrealismus politisch.
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne (1890–1945) Nachdem die Novelle durch Anthologien wie dem von Hermann Kurz und Paul Heyse in hohen Auflagen verbreiteten Deutschen Novellenschatz endgültig zu einer angesehenen Gattung mutiert war, versuchten sich auch viele Autoren der Moderne vor und nach 1900 auf diesem Feld (vgl. Sorg 2008). Die Gattung gewann dadurch an Varianz und neuer Dynamik. Während im Zuge der von auch von Thomas Mann – etwa in Der Tod in Venedig – reflektierten Neuklassik Samuel Lublinskis oder Paul Ernsts eine Reduktion der Novellenform des Realismus im Anschluss an altitalienische Vorbilder angestrebt wurde, tendierten die impressionistischen Erzähler zu einer Auflösung klarer Konturen zugunsten von flüchtigen Eindrücken, analog zum gemalten Bild oder vielmehr zur Skizze. Die Novelle wurde so entweder zur ,novella‘ zurückentwickelt oder zur impressionistisch angehauchten Novellette, von Robert Musil in seinem Essay Novelleterlchen mit einem Aquarell verglichen. Während die novellistischen Studien der Moderne bisweilen zu psychologischen Fallstudien wurden und Novellen-Avantgardisten aus dem Umfeld Sigmund Freuds kamen wie Arthur Schnitzler oder selbst Psychiater waren wie der Expressionist Alfred Döblin, entstand als Reaktion – durchaus auch im politischen Sinn – eine gegenmoderne Novellistik, die althergebrachte Formen geradezu liturgisch konservierte. Dies geschah entweder mit dezidiert völkischer Thematik (z. B. Hans Grimm, Gustav Frenssen) oder klassisches Bildungsgut demonstrativ konservierend (z. B. Rudolf G. Binding, Hans Franck, Wilhelm von Scholz). Viele andere Autorinnen und Autoren standen zwischen zwei Kulturepochen, einerseits noch vom 19. Jahrhundert und seiner Erzähltradition geprägt, andererseits auch durchaus kritisch aktuelle Tendenzen der sich formierenden modernen Gesellschaftsordnung reflektierend.
An der Schwelle zur klassischen Moderne
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik Thomas Mann: Weltliteratur
Der Behinderte als Außenseiter
Tonio Kröger: der Künstler als Bürger
Das Leben Thomas Manns (1875–1955) wie das seines älteren Bruders Heinrich (1871–1950), der unter anderem mit der Renaissancenovelle Pippo Spano hervortrat, spannt sich über die Epochen des 20. Jahrhunderts hinweg, über die Revolutionen und die beiden Weltkriege. Im realistischen Erzählen Fontanes, aber auch Storms wurzelnd, sich auf russische Vorbilder wie Tolstoi berufend, deckt das Novellenschaffen des Nobelpreisträgers von 1929 nicht nur einen über fünfzigjährigen Abschnitt der Kulturgeschichte von den Ausklängen der Gründerzeit bis in die Epoche Adenauers und des amerikanischen Senators McCarthy, sondern auch ein breites Themenspektrum ab. Dieses reicht von der Künstlerproblematik des bürgerlichen Zeitalters, dem Komplex von Krankheit, Genie und Eros über Schopenhauers Kulturpessimismus und Bezüge zur italienischen Renaissance bis hin zu den Mythen Altindiens und der hebräischen Bibel. Eine der ersten bekannten Novellen Thomas Manns ist Der kleine Herr Friedemann (1897), die seinem ersten Novellenband von 1898 den Titel gab und in das hanseatische Kaufmannsmilieu der Buddenbrooks führt. Die Haupt- und Titelfigur der Novelle, Johannes Friedemann, hat eine zwergenhafte Gestalt. Der kleine Geschäftsmann, der aus gutbürgerlichem Haus stammt, hat sich durch Kompensation seiner Organminderwertigkeit im Sinne Alfred Adlers eine eigene ästhetische Lebensordnung geschaffen. Geistige Bildung, etwa die Musik Wagners, soll gegen die körperliche Missbildung ankämpfen. Sein Name ist nicht umsonst vielsagend: Nicht nur das Ringen um den Seelen-,Frieden‘, auch der autobiografische Anklang an den Nachnamen seines Erfinders, mit dem ihn Herkunftsmilieu und Lebenshaltung verbinden, sprechen für sich. Die Frauenwelt meidet der mit geringer erotischer Attraktivität versehene Außenseiter Friedemann in seinem sublimierenden Lebensstil. Da begegnet er während einer Lohengrin-Aufführung Gerda von Rinnlingen, die eine geradezu prototypische Femme Fatale des Fin de siècle ist. Langsam entwickelt sich die Tragödie aus dem Geist der Musik. Bei einer Begegnung sinkt Friedemann im Park von Gerdas Anwesen benommen vor ihr auf die Knie. Sie lacht auf, schleudert ihn nieder und geht fort. Er taumelt zum Wasser und lässt sich wie ein Lurch in die Tiefe gleiten. Friedemann geht den umgekehrten Weg, den die Lebewesen in der Evolution, die damals durch die Schriften Ernst Haeckels popularisiert wurde, gegangen sind. Zunächst in der kultivierten Sublimation, der Lebensform des gründerzeitlichen Bildungsbürgertums, lebend, entdeckt er erst den Eros, um dann animalisch gleichsam im Urschlamm zu verschwinden. Aus dem durch die Tradition des Bildungsromans vorgezeichneten Weg wird ein Rückbildungsweg. In einem Schopenhauer’schen Pessimismus kehren sich die Entwicklungslinien menschlichen Strebens um. In den Bereich der traditionellen Künstlernovelle wagt sich Thomas Mann mit Tonio Kröger (1903). Dieser Erzähltext ist folgerichtig autobiografisch getönt. Wie Thomas Mann selbst ist die Hauptfigur dieser Novelle südländischer wie hanseatischer Abstammung, was auf (mütterliche) Kreativität einerseits und (väterliche) Strenge andererseits projiziert wird. So plagt den Protagonisten Tonio Kröger der innere Widerspruch, die ,contradictio in adjecto‘, des bürgerlichen Künstlers. Seine Doppelexistenz wird schon in seinem Namen, dem südländischen Vor- und dem norddeutsch-bodenständigen Nachnamen symbolisiert. Schon der an Thomas Buddenbrook erinnern-
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne
de Vater Konsul Kröger, ein sorgfältiger Mann, ermahnt seinen Sohn Tonio oft wegen seiner Träumerei, und dieser gibt ihm Recht. Seine Sehnsucht nach Klarheit und Lebenstüchtigkeit projiziert Tonio als Schuljunge auf den blonden Hans Hansen, dem jedoch wenig an den literarischen Schwärmereien Tonios gelegen ist. Zwei Jahre später fällt Tonio in der Tanzstunde aus seiner Gender-Rolle, gerät bei einer Quadrille unter die Mädchen. Seine neue Liebe ist die blonde Inge Holm, ähnlich unkompliziert wie Hans Hansen. Auch in dieser Beziehung lässt sich Tonio nicht verorten: Er muss sich leitmotivisch immer wieder selbst versichern, dass er kein „Zigeuner im grünen Wagen“, sondern Konsul Krögers Sohn ist. Nach dem Tod des Vaters und dem Zusammenbruch des Geschäfts zieht Tonio Kröger Bilanz in einem Kunstgespräch mit der Malerin Lisaweta Iwanowna. Dies markiert die Lebenswende (vgl. Sakurai 1993, 76 f.): Er reist zurück in seine nördliche Heimat, geht die alten Wege, wird irrtümlich von der Polizei für einen Betrüger gehalten und begegnet weiterreisend in Dänemark Inge Holm und Hans Hansen, den blonden fernen Idolen seiner Jugend, im Hotelsaal. Schlussendlich hat der Entsagende seine „Liebe zum Harmlos-Menschlichen“, aber vor allem seine Außenseiterrolle als Künstler akzeptiert, die übrigens auch in Robert Walsers Erzählzyklus Poetenleben (1917) (selbst-)ironisch vergegenwärtigt wird. Wenn allein der Wille zur Kunst ohne entsprechendes Vermögen die Charaktere prägt, dann gleiten sie vollends ins Tragikomische ab, wie z. B. der erfolglose Salonschriftsteller Detlev Spinell und Gabriele Klöterjahn, beides Gestalten mit entlarvenden Namen in Thomas Manns Tristan-Novelle (1903). Sie begegnen sich in einem Sanatorium namens ,Einfried‘ und inszenieren in dieser Umgebung beinahe den Liebestod aus Richard Wagners keltisch-sagenhafter Tristan-Oper als bürgerlich-wilhelminische Parodie nach. Neben der Kontrastierung der Kunstsphäre mit banaler moderner Alltäglichkeit hat der Schauplatz der Novellenhandlung, das einsame Sanatorium, auch etwas Antizipierendes: Erst Jahre später wird Thomas Mann seine Frau Katia an einem solchen Ort besuchen und dieses Erlebnis in seinem – ursprünglich als Novelle konzipierten – Roman Der Zauberberg verarbeiten. Schon in Der Wille zum Glück, 1896 novellentypisch in einer Zeitschrift, dem Simplicissimus, veröffentlicht, nahm Thomas Mann seine eigene Biografie, seine Heirat, vorweg. Der Protagonist Paolo Hofmann, dessen Doppelnatur zwischen Norden und Süden sich wie später bei Tonio Kröger schon in seinem Namen widerspiegelt, heiratet Ada von Stein, eine schöne Münchner Aristokratin jüdischer Abstammung, die mit ihren Eltern – wie Katia Pringsheim – in einem prächtigen Stadthaus residiert. Unerhörtes aus dem erotischen Bereich enthält Thomas Manns wohl weltweit bekannteste Novelle Der Tod in Venedig (1912), die sowohl von dem italienischen Filmregisseur Luchino Visconti 1971 verfilmt als auch durch den britischen Komponisten Benjamin Britten zu seiner Oper Death in Venice (1973) verarbeitet wurde. Die symbolisch überstrukturierte Handlung der Novelle beginnt damit, dass der äußerst renommierte Schriftsteller Gustav von Aschenbach, wie Tonio Kröger und Paolo Hofmann geprägt von leichtem mütterlichen und schwerem väterlichen Blut, angesichts einer symbolhaften Gestalt in Reisekluft von Fernweh gepackt wird. Nach einer
Tristan: die Tragikomik der Halbkunst
Der Wille zum Glück: Autobiographisches
Der Tod in Venedig: Schönheit und Verfall
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Spätere Novellen
Fehlfahrt erkennt er Venedig als Ziel seiner Sehnsucht. Bereits bei der Überfahrt begegnet er jenen merkwürdigen Gestalten, die als Todesboten die gesamte Novellenhandlung leitmotivisch prägen werden. In seinem Hotel auf dem Lido hat Aschenbach dann eine schicksalhafte Begegnung. Er erblickt in einer polnischen Reisegesellschaft aus nonnenhaften Mädchen, ihrer Mutter und einer Gouvernante einen im wörtlichen Sinne bildschönen Jungen namens Tadzio, dem er verfallen wird. Zunächst will er aus dem stickigen Venedig fliehen, kehrt aber um, als er erfahren muss, dass sein Gepäck fehlgeleitet wurde. Nach diesem Wendepunkt ergibt sich Aschenbach in sein Schicksal, selbst als er erfährt, dass in der Lagunenstadt eine den Touristen verheimlichte Epidemie, hier die indische Cholera, grassiert. Wie im Dekameron lockert die Seuche die Sitten, vor allem die des Protagonisten. Dieser will sich mit Haarfarbe und Schminke in einen Jüngling verwandeln, eilt seinem Idol durch die sich langsam von Touristen leerenden labyrinthischen Gassen hinterher, fantasiert sich jedoch lieber in die hellenische Welt des Sokrates, anstatt den Jungen anzusprechen. Er ergibt sich in bacchantische Träume. Als die Polen abreisen wollen, begibt Aschenbach sich an den Strand. Dort stirbt der Künstler im Angesicht Tadzios, der das Letzte ist, was wie ein Traumgebilde vor seine Augen tritt. Der Junge hat als schöner Schatten den ernsten Künstler weg von der Sublimation und wie Hermes in den Hades, das Totenreich, geführt. Die Wiederbegegnung des modernen Menschen mit der Gleichgeschlechtlichkeit wie mit dem Dionysischen im Sinne Nietzsches, beides Größen, die die abendländische Kultur weit vor dem Christentum fundieren, muss nach der Handlungslogik von Thomas Manns Novelle scheitern. In anderen Novellen wird ein lebhafteres und auch positiveres Bild der Jugend gezeichnet: So in der Inflations-Novelle Unordnung und frühes Leid, von seiner Tochter Erika halb scherzhaft als „Zauberers Novellen-Verbrechen“ bezeichnet, weil sie anknüpfend an reale Begebenheiten im Hause Mann ein ausgelassenes Fest der Jugend nach dem Epochenbruch von Erstem Weltkrieg und Novemberrevolution zeichnet. Hier tritt das Alter ego Thomas Manns sinnigerweise als Geschichtsprofessor Cornelius auf, der sich angesichts der inszenierten Jugendkulturen wie der Jazztänze des 20. Jahrhunderts anachronistisch vorkommt. Ähnliche Szenen aus der Sicht der jüngeren Generation zeichnet übrigens auch Thomas Manns Sohn Klaus (1906–1949) in seinem Novellenwerk, etwa in der Kindernovelle. Von der modernen Gegenwart in den Mythos, einmal in den altindischen, ein anderes Mal in den hebräischen, geht der Weg des Novellisten Thomas Mann in Die vertauschten Köpfe (1940) und Das Gesetz (1943). Den Schluss seines Novellen- wie seines literarischen Werkes bildet aber Die Betrogene (1953), ein Dokument der Heimkehr, schon nach der Rückkehr in den deutschen Sprachraum verfasst und unter anderem von Apuleius inspiriert. Die Handlung spielt im Düsseldorf der Zwischenkriegszeit; auch ein Ausflug nach Schloss Benrath, das hier Holterhof heißt und von Thomas Mann anhand eines Merianhefts erschlossen wurde, belebt die Handlung. Das Unerhörte ist die scheinbare Wiederkehr der Monatsblutung der weiblichen Titelfigur, einer rheinischen Frohnatur wie Felix Krull, die sich in einen jungen, muskulösen, aber auch etwas unbedarften Amerikaner namens Ken Keaton verliebt hat. In dieser Gestalt, die wohl nicht zufällig den Nachna-
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne
men eines beliebten Stummfilmkomikers trägt, setzt Mann seinem langjährigen Gastland ein durchaus launiges Denkmal. Betrogen wird die Protagonistin nicht durch den jungen Amerikaner, sondern durch ihren eigenen Körper: Die Blutung erweist sich nicht als Fruchtbarkeits-, sondern als Krebssymptom; dennoch scheidet Rosalie von Tümmler versöhnt aus dem Leben, während um sie herum die Natur blüht. Während der Deutsche Thomas Mann zur NS-Zeit der bekannteste Emigrant Nordamerikas war, geradezu gezwungen, weniger bevorteilte Schicksalsgenossen einschließlich seines Bruders Heinrich zu unterstützen, war der Österreicher Stefan Zweig (1881–1942) ein ähnlich prominenter Flüchtling in den damals noch wohlhabenden Staaten Südamerikas, der wie Mann Radioansprachen, aber auch Reden vor Tausenden von Zuhörern hielt. Nach seinem Selbstmord in Brasilien, das er kurz zuvor als „Land der Zukunft“ gefeiert hatte, wurde ihm im Gegensatz zu seinem norddeutschen Pendant sogar ein Staatsbegräbnis zuteil. Ähnlich wie Thomas Mann verdankt Stefan Zweig seine bis heute anhaltende Beliebtheit bei einem internationalen Lesepublikum, aber auch die schon zu seinen Lebzeiten zahlreichen Verfilmungen seines Werkes zu einem guten Teil seinen Novellen. Sie zeichnen unerhörte Alltagssituationen nach wie Die unsichtbare Sammlung (1925), eine Inflationsnovelle wie Manns Unordnung und frühes Leid, in der ein blinder Sammler von Autographen (eine Leidenschaft, der auch der Autor frönte) einem Gast leere Blätter zeigt, weil seine Angehörigen in der Nachkriegsnot alle wertvollen Stücke verkaufen mussten. Meist stellt der von Sigmund Freud hochgeschätzte Stefan Zweig, der ihn sogar gegen den „schweren Neurotiker“ Dostojewski positiv abhob (Füllmann 2008, 182), jedoch psychologische Ausnahmesituationen als Novellenereignisse dar – oft vor mondäner Kulisse wie etwa in Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau (1925) oder in Brennendes Geheimnis, 1911 im Novellenband Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland erschienen. In Brennendes Geheimnis gestaltet Zweig die psychoanalytische Entwicklungslehre von der die Sexualität verdrängenden Latenzperiode zwischen dem fünften und elften Lebensjahr, die Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1904/5) entfaltete, auf seine literarische Weise. In Zweigs psychologischer Krankennovelle (ein Begriff, den auch die Psychoanalyse verwendet, um ihre Fälle zu skizzieren) wird der zwölfjährige Edgar, der sich mit seiner Mutter in einem eleganten Berghotel aufhält, von einem jungen Baron benutzt, um über den Jungen eine Brücke zu dessen attraktiver Erzeugerin aufzubauen. Er gewinnt die leidenschaftliche Kinderfreundschaft des Jungen, die Annäherung an die Mutter ist damit vollzogen. Aber er zieht sich, sobald der Junge durchschaut hat, wer gemeint war, auch den ebenso leidenschaftlichen Hass des Kindes zu. Edgar will jetzt die Mutter vor dem Baron und seinen, wie er meint, verbrecherischen Absichten schützen. Das brennende Geheimnis zwischen dem Mann und der Mutter erfüllt Edgar mit düsteren Ahnungen. Nachts wird er auf dem Hotelflur handgreiflich gegen den Baron. Zur Rede gestellt, flieht er zu seiner Großmutter – es ist seine erste selbstständige Bahnreise. Endlich kommen ihm bei der versöhnenden Schlussumarmung mit seiner Mutter, die ihm besorgt nachgereist ist und dem Baron entsagt hat, erste ödipale Ahnungen über den erotischen und
Thomas Mann und Stefan Zweig
Das Spektrum der Novellen Stefan Zweigs
Brennendes Geheimnis: die Latenzperiode
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Verwirrung der Gefühle
Schachnovelle: der Mann ,von Gestern‘
gar nicht so brutalen Charakter des Geheimnisses, das zwischen den Erwachsenen waltet. Zweigs Novelle um verborgene und verbotene Erotik, unter anderem 1988 verfilmt mit Klaus Maria Brandauer und Faye Dunaway, ist eine Coming-of-Age-Geschichte, wie es sie auch in der angloamerikanischen Literatur vielfach gibt. Ein erotisches Geheimnis liegt auch über dem Anglistik-Professor, von dem nach Jahrzehnten sein ehemaliger Student, ein etablierter Geheimrat R. v. D., der nunmehr selbst diese Profession ausübt, in einer Art novellistischen Lebensbeichte zu berichten hat. Dem Titel der Novelle, Verwirrung der Gefühle (1927), entsprechend, ist vor allem von jenen Emotionen zu erzählen, die der geliebte akademische Lehrer im Erzähler Roland auslöste, dessen Stimme als quasi authentische Selbstäußerung im Sinne Derridas noch nach vielen Jahrzehnten in ihm weiterwirkt. Ahnungslos hatte sich Roland in den Bann des akademischen Lehrers ziehen lassen, nachdem er wegen seines liederlichen Studenten- und Liebeslebens von seinem strengen Vater aus Berlin in jene kleine Universitätsstadt verwiesen wurde, in der der Professor lehrt. Während jener Lehrer – was in der wilhelminischen Enge streng tabuisiert und juristisch verfolgt wird – seinen Studenten begehrt, geht dieser mit dessen knabenhafter, frustrierter Frau ein erotisches Verhältnis ein. Von beiden wird dies mehr als Ersatzhandlung für die Liebe zum Dritten denn als Erfüllung betrachtet. Das novellistische Dreieck erfährt hier eine interessante Varianz, in der sich homosoziale Rivalität um die Ehefrau durch gleichgeschlechtliches Begehren zwischen dem Ehemann und seinem Rivalen in trianguläre Harmonie auflöst. Vorbilder findet diese Konstellation schon in der 10. Novelle des 5. Tages des Dekamerons und ansatzweise auch bei Apuleius. Die Verwirrung der Gefühle wird in Zweigs Novellenlogik zwar nicht so heiter gelöst wie in der Renaissance, wenigstens die Todesstrafe für die Gefühlsverwirrung entfällt hier jedoch. Die gesellschaftliche Repression wird gerade deswegen mit realistischem Augenmaß kritisch beleuchtet. Die Relevanz der Thematik zeigt sich auch darin, dass das Werk noch 1981 mit Michel Piccoli in der Hauptrolle des Professors verfilmt wurde. Ebenfalls getrieben, aber auch vertrieben sind die Figuren in Stefan Zweigs letztem Werk, der Schachnovelle (1942), die 1960 mit Curd Jürgens und Mario Adorf verfilmt wurde und heute noch eine beliebte Schullektüre ist. Auch diese Geschichte ist eine Rahmennovelle. Das kosmopolitische Ambiente dafür liefert ein Passagierdampfer, der von New York nach Buenos Aires fährt. Auf diesem befindet sich, wie der Erzähler hört, auch der kroatische Schachmeister Czentovic, ein erstaunlich ungebildeter, habgieriger Mann. Es kostet den Erzähler einige Mühe, das Schachgenie an den Spieltisch zu locken. Czentovic spielt wie ein Schachautomat des Aufklärungszeitalters, fantasielos und unerbittlich logisch. Er gewinnt immer. Da taucht ein Unbekannter auf, der den Widersachern des Schachmeisters kluge Züge rät. Sie gehorchen und nach einer Weile bricht Czentovic in Erkenntnis der Lage das Spiel ab. Der Gegner, ein Dr. B. aus Wien, verweigert weitere Partien. Zur Begründung beichtet er dem Erzähler seine Lebensgeschichte, die Binnenhandlung. Als Rechtsanwalt des österreichischen Kaiserhauses und mehrerer Klöster wurde er nach dem Einmarsch Hitlers denunziert und in einem Hotel inhaftiert. Dort versuchte man, ihn durch totale Isolation zu
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne
brechen. Sein einziges Hilfsmittel, um der Öde, die ihn in den Wahn treiben sollte, zu entgehen, war ein Schachbuch, das er von einem Bewacher gestohlen hatte. Auf der karierten Bettdecke spielte er die Partien nach. Schließlich spielte er gegen sich selbst – sein Spiel gewann schizoide Züge. Im Irrsinn verletzte er sich schwer, kam ins Krankenhaus und konnte das Land verlassen. Eine weitere Partie mit Czentovic wird trotz der Gleichrangigkeit, gar Überlegenheit des Dr. B. für diesen zum Fiasko. Gegen die maschinenhafte Kälte des Meisters kommt der nervöse und manische Dr. B. in seiner Verletzlichkeit letztlich nicht an. Verwirrt, unter peinlichem Erstaunen der anderen, aber unter dem Beistand des Erzählers bricht er die Partie ab und geht. Im Zeitalter der Automatenmenschen, die die Ausgeburt einer Dialektik der Aufklärung sind, kommt ein alteuropäischer und altösterreichischer Bildungsbürger wie Dr. B. unter die Räder. Er ist geprägt durch die Welt von Gestern, so der Titel der fast zeitgleich im Exil entstandenen Autobiografie Zweigs, die geprägt war von Kaisertum und Religion, welche Dr. B. als Rechtsbeistand vertritt. Die gestrigen Mächte müssen dem Totalitarismus der Moderne weichen, an dem Stefan Zweig selbst so verzweifelte, dass er trotz materiellen Auskommens nur noch den Ausweg in der Selbstauslöschung sah. Während das Oeuvre Stefan Zweigs vor allem thematisch der Moderne zuzurechnen ist, gehören viele Novellen des Wiener Arztes Arthur Schnitzler (1862–1931), der in Hartmut Langes Novelle Schnitzlers Würgeengel (1995) selbst zur fiktiven Figur wird, auch formal zur literarischen Avantgarde ihrer Zeit. Seine Wirkung auf andere Künste und Medien bis in die Gegenwart ist vielfältig; nicht zufällig ist im Berliner Museum für Fotografie eine mehrbändige Novellenausgabe Schnitzlers im Bücherregal des Fotokünstlers Helmut Newton (1920–2004) zu sehen. Neben novellistischen Fallstudien aus dem Diskurs der Psychoanalyse widmet sich das umfangreiche Novellenwerk Arthur Schnitzlers historischen Themen wie der Welt des sterbenden Rokokos in Casanovas Heimfahrt (1917). In Schnitzlers Traumnovelle (1925) ist alles ganz gegenwärtig, dem Lebensstil der Moderne verhaftet. So kann es nicht verwundern, dass diese Ehebruchsnovelle gleich zweimal, einmal 1969 mit Karlheinz Böhm in der Hauptrolle und ein weiteres Mal 1999 unter dem Titel Eyes Wide Shut als letzter Film Stanley Kubricks mit Tom Cruise und Nicole Kidman, verfilmt wurde. Die Novelle berichtet von einem scheinbar glücklich verheirateten Wiener Ehepaar, das jedoch ungestillte und nur notdürftig verdrängte sexuelle Bedürfnisse hat. Neben die novellistische Traumdeutung tritt in den novellistischen Subjekt- und Erzählkonstruktionen Schnitzlers das gerade erst entwickelte philosophisch-phänomenologische Modell des Bewusstseinsstroms im Sinne Henri Bergsons und vor allem Edmund Husserls. Schon in seiner relativ frühen Novelle Leutnant Gustl (1900) führt Schnitzler den Leser mit der Erzähltechnik des inneren Monologs in das fließende Alltagsbewusstsein eines ziemlich gewöhnlichen Offiziers ein. Dieser langweilt sich zunächst in einem Oratorium und wird danach an der Garderobe von einem ihm bekannten Bäcker, den der Leutnant angerempelt hatte, beleidigt. Leider ist der Handwerker für den Offizier nicht satisfaktionsfähig. Nach dem Ehrenkodex müsste Gustl sich nun erschießen oder den Abschied einreichen. Er
Schnitzlers Novellen zwischen Historie und Tiefenpsychologie
Traumnovelle: erotische Experimente
Leutnant Gustl: Bewusstseinsstrom
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Fräulein Else: Entfremdung und Ich-Verlust
Schnitzlers Ich: eine psychiatrische Krankennovelle
irrt die Nacht umher; um sieben Uhr früh will er sich umbringen. Um sechs Uhr erfährt er in einem Café, dass der Bäcker um Mitternacht an einem Schlaganfall gestorben ist. Gustls verzweifelte Stimmung schlägt um. Nun kann der Bäcker, der sich übrigens bei dem Zwischenfall sehr beherrscht hatte, nicht mehr reden, Gustls Ehre ist vor den Leuten gerettet. Schnitzler selbst jedoch wurde wegen dieser Novelle von der K.u.K.-Armee relegiert. Durch den inneren Monolog des Leutnants Gustl wurde die Erzähltechnik der deutschsprachigen Literatur revolutioniert. In der Renaissancenovelle Ginevra degli Amieri (1906), die an die altkölnische Sage der Richmodis von Aducht erinnert, schildert z. B. Heinrich Mann wenig später mittels dieser Erzähltechnik die innere Lage einer Scheintoten im alten Florenz. Im Fall Gustls tritt auch die Banalität des (nicht nur militärischen) Alltagsbewusstseins, komplex- und vorurteilsbeladen, unverstellt zutage. Noch eindringlicher wirkt die Technik des inneren Monologs in der Novelle Fräulein Else (1924), zumal hier die Erzählinstanz in die Perspektive einer jungen Frau schlüpft. Die Fiktion eröffnet der Gender-Varianz breitere Spielräume als die soziale Realität (vgl. Roßbach, 2008). Fräulein Else, eine Rechtsanwaltstochter, deren Bewusstseinsvorgänge präzise bis in die Ebenen von Dialekt und Soziolekt hinein wiedergegeben werden, hält sich in einem Urlaubshotel in den Bergen auf. Ihr Vater, der wie seine Familie einen zu üppigen Lebensstil pflegt, hat Mündelgelder veruntreut. In verklausulierten leitmotivischen Telegrammen drängt die Mutter Else, sich dem vermögenden Herrn von Dorsday zu nähern. Else kann den Vater vor dem materiellen Untergang, der Schande, vor dem Gefängnis retten, wenn sie sich dem alternden Lüstling hingibt; er würde die Gelder ersetzen. Doch Fräulein Else schreckt davor zurück. Dorsday mäßigt seine Forderung: Sie soll sich ihm nackt zeigen. Else nimmt nach der öffentlich-skandalösen Entblößung Veronal zu sich: Ihr Bewusstsein entschwebt. Am Ende bleibt unklar, ob Else sich getötet hat. Verschiedene zeittypische, aber auch allgemeine psychologische und soziale Phänomene tauchen im dargestellten Bewusstseinsstrom der jungen Frau, die sich in einem tragischen Dilemma befindet, auf: Das sehr ergebene, hingebungsvolle Verhältnis Elses zu ihrem Vater ist vom tiefenpsychologischen Modell des Elektra-Komplexes geprägt; sie selbst ist nach dem Motto „Man sieht es mir nicht an!“ vom jüdischen Selbsthass nicht unberührt, die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind angesichts des gemeinsamen finanziellen Abstiegs durch materielle Abhängigkeiten entfremdet. Sogar die Kunst und ihr Genuss dienen nur der scheinbürgerlichen Repräsentation. Wie zur Untermalung eines Stummfilms sind Noten des „Tanzes der Masken“ aus Robert Schumanns Klavierzyklus Karneval in den Text eingestreut und illustrieren intermedial das fatale Maskenspiel der beteiligten Figuren. Wenn Arthur Schnitzlers Novellen generell tiefen- bis sozialpsychologische Fallstudien sind, so berührt seine Novellette Ich (1927, posthum 1968 veröffentlicht) den psychiatrischen Diskurs, der Schnitzler aus seinem Studium vertraut war. Das Thema des Wahnsinnigwerdens ist jedoch spätestens seit Büchners Lenz ebenfalls ein literarischer Topos. Die knappe Studie zeigt, wie ein Alltagsmensch, ein Familienvater und Abteilungsleiter in einem Wiener Vorstadtkaufhaus, bei einem sonntäglichen Spaziergang an-
4. Die Novelle der Moderne und Gegenmoderne
gesichts eines Schildes, das einen Park bezeichnet, in einem jähen Wendepunkt seines Lebens plötzlich schizoide Symptome entwickelt. Paradoxerweise entfremdet sich der Protagonist von seiner Lebenswelt, indem er das Bedürfnis verspürt, ganz im Sinne der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures seine gesamte Umgebung näher zu bezeichnen, die Distanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem durch Zettel zu überwinden, die er allen und allem aufklebt: auf die Kredenz im Wohnzimmer, das Bett, den Tisch im Kaffeehaus. Schwiegermutter und Schwägerin erhalten Zettel auf ihre Mäntel, zum Schluss ruft die Ehefrau ob der unerhörten Begebenheit den Arzt. Der Protagonist tritt ihm mit einem Zettel auf der Brust entgegen, auf dem ,Ich‘ zu lesen ist. Der Weltverlust durch Präzision, die Zerstörung des lebendigen Bezugs zur Mitwelt, der Wahn mechanistischer Genauigkeit: All das sind Zeitsymptome der Moderne. In denjenigen Kunstströmungen der Moderne, die forciert avantgardistisch sind, hat die traditionelle Kunstform der Novelle einen schweren Stand; selbst der Novellenbegriff wird gemieden, bisweilen taucht er allein in der Korrespondenz mit Verlegern auf. Dies ist z. B. bei Franz Kafka bei seiner Erzählung Die Verwandlung, die das alte, schon von Ovid und Apuleius gepflegte Thema der Metamorphose modern und epochemachend variiert, der Fall (vgl. Freund 1998, 258). Gerade aufgrund ihrer Konventionalität reizt die Gattung Novelle aber auch in Kunstströmungen wie dem Expressionismus zum Gegenentwurf, zur Kontrafaktur. Im Novellenwerk Alfred Döblins (1878–1957) werden demzufolge vor allem Gegenentwürfe zu traditionellen Novellengenres entwickelt. So ist Das Gespenst von Ritthof (1915) eine innovative Variante der Gespensternovelle, die im selben Band erschienene Geschichte Die Lobensteiner reisen nach Böhmen führt die Historiennovelle ebenso ad absurdum wie Linie Dresden-Bukarest die Reise- und Liebesnovelle. Die Geschichte Das Stiftsfräulein und der Tod, die einen erotischen Totentanz des genannten seltsamen Paars schildert, spielt schon im Titel auf ein Werk des seinerzeit viel gelesenen und hoch geachteten Paul Heyse an: den Roman der Stiftsdame. Als eine Persiflage auf die schon in der Barockzeit weit verbreitete Mordgeschichte erscheint allein aufgrund ihres Titels Döblins Die Ermordung einer Butterblume (1910), die in der frühexpressionistischen Zeitschrift Der Sturm zuerst abgedruckt wurde. Diese Geschichte, die der Autor selbst in privaten Aufzeichnungen als Novelle bezeichnete (Bogner 2005, 91), weist durchaus Parallelen zu Schnitzlers wohl später entstandener Novellette Ich, aber auch zu Hauptmanns Bahnwärter Thiel auf. Ein Herr namens Michael Fischer geht an einem heißen Sommerabend spazieren, seine Route ist klar verortet: in der Nähe Freiburgs zwischen Immenthal und St. Ottilien. Als er einige Blumen entdeckt, reißt er an ihnen herum, kann sie aber nicht losreißen. In unsinniger Wut köpft er die Geschöpfe mit seinem Spazierstock. Auf den Wutanfall folgt eine ebenso sinnlose, übertriebene Reue angesichts der Exekution der Butterblume, die ihn als leitmotivisches Bild von nun an verfolgt. Verbunden ist diese verzerrte Gefühlsregung mit ebenso zerrbildhaften Naturvisionen von weiß blutenden Blumen, Verwesungsprozessen, sogar von Fluten von Blumenblut. Herr Fischer kann noch insofern über seine Regungen und Empfindungen reflektieren, als sie ihm selbst lächerlich vorkommen; er bemerkt gleichzeitig den Kontrollverlust, das Ver-
Novelle und Avantgarde
SchizoExpressionismus
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Varianzen des Novellenmusters
Dauthendey: impressionistische Novellenaquarelle
schwinden der Alltagsrationalität. Autoaggressive Tendenzen – er will sich mit dem Taschenmesser ins Bein stoßen – wechseln ab mit anthropomorphen Visionen der Natur: Die Blume soll Ellen heißen, die Bäume sitzen über Herrn Fischer zu Gericht. Noch zuhause plagt ihn das Gewissen, das erst abklingt, als eine weitere Butterblume, die er ausgegraben und anstelle von Ellen gepflegt hatte, von seiner Haushälterin fortgeworfen wird. Erlöst verschwindet Fischer im Dunkel des Bergwaldes. Weltverlust ist wie in der Novellette des Arztkollegen Schnitzler ein wesentliches Thema. Freilich: Hier geht es weniger um eine präzise Fallstudie schizoider Zustände und zusammenbrechender Zeichensysteme, sondern um ein ästhetisches Konzept expressiver Weltverzerrung. Schließlich wurde man wenig später auch auf die Kunst von Geisteskranken aufmerksam, wie z. B. die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg belegt. Sozial realistischer ist demgegenüber Franz Werfels (1890–1945) expressionistische Novelle Der Tod des Kleinbürgers (1927) gehalten, in der die Titelfigur zäh bis zum Stichtag gegen den eigenen Tod kämpft, um für ihre Familie eine Versicherungssumme zu retten. Dass gesteigerte Expression mithilfe der traditionell eng definierten Gattung der Novelle besonders gut, weil kontrastiv zu bewerkstelligen ist, kann man auch an Georg Heyms Novella der Liebe (1907) ablesen, in der durch übertriebene Grausamkeiten eben dasjenige Schema der Renaissance- und Liebesnovelle gesprengt wird, das andererseits formal präzise imitiert wird (vgl. Aust 2006, 154). Als novellistische Fingerübung ist dieses kleine Werk wohl mit Absicht nicht in Heyms kurz nach seinem Tod im Jahr 1913 veröffentlichte Novellensammlung Der Dieb aufgenommen worden. Auch in späteren Novellen des Expressionismus wird das Ungewöhnliche, Unerhörte betont. Ein Umstand, der sich durchaus zur tradierten Gattungsauffassung fügt: So wird z. B. in Kasimir Edschmids Der aussätzige Wald aus der Novellensammlung Die sechs Mündungen (1915) ein mittelalterlicher Troubadour, Jehan Bodel, der realiter von ca. 1165 bis ca. 1209 lebte, als Vertreter der schönen Künste im titelgebenden Wald mit fürchterlichen Aussätzigen konfrontiert. Sie werden vehement abgewehrt. Am Schluss wird sich der Spielmann – inzwischen selbst infiziert – von seiner geliebten Dame, die er nach dem novellenrelevanten höfischen Vogel seinen Falken nennt, trennen und gezeichnet in den aussätzigen Wald zurückkehren, der ihm in expressiver Naturverzerrung entgegenkommt. Auch in Armin T. Wegners Der Knabe Hüssein (1921) aus dem Novellenkranz Türkische Novellen, in denen er seine Erlebnisse als deutscher Offizier im verbündeten Osmanischen Reich verarbeitet, herrscht extreme Grausamkeit vor, die hier anhand der Sozialisation eines Knaben zum Krieger in der homosozialen Soldateska aufgezeigt wird. Mehr noch als der Expressionismus wirft der – zumindest in der Malerei – zeitlich eigentlich vorgelagerte Impressionismus Probleme für die formbewusste Gattung der Novelle auf. Wie kann man nach tradierten Bausteinen erzählen, wenn der flüchtige Eindruck im Fokus der ästhetischen Konzeption steht? Max Dauthendey (1867–1918), ein weitgereister Schriftsteller und Aquarellist, versucht in seinem in Japan angesiedelten Novellenzyklus Die acht Gesichter am Biwasee (1911) eine Antwort zu finden. Unter den ,acht Gesichtern‘ versteht Dauthendey keine menschlichen Antlitze, son-
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dern Anblicke oder andere Wahrnehmungen japanischer Landschaft und Lebenswelten, orientiert an jenen Zeichnungen aus Japan, deren okzidentaler Entdeckung auch die florale Formsprache des Jugendstils Inspirationen verdankt. Auch Kurt Tucholskys (1890–1935) Rheinsberg (1912), seine erste große Buchveröffentlichung, weist novellistische wie impressionistische, keinesfalls jedoch schicksalsschwere Züge auf. Der Untertitel Ein Bilderbuch für Verliebte fügt den Bildanalogien für novellistische Texte nach Nachtstücken, Holzschnitten und Studien eine weitere hinzu und es werden hier tatsächlich vor allem Bilder aufgezeigt. Claire und Wolfgang, zwei junge Liebende im wohlhabenden Berlin des späten Kaiserreichs, müssen ihre Liebe zwar noch vor den Eltern verbergen, die soziale Umgebung ist aber längst nicht mehr so repressiv gegenüber dem Phänomen verbotener Erotik wie in vormodernen Novellen – ein gemütliches Augenzwinkern herrscht nunmehr vor. Die Zweisamkeit des Paars ist eingetaucht in Impressionen der märkischen Landschaft, in der sie als Ehepaar getarnt die Sommerfrische verleben. Das Schloss Rheinsberg, in dem Friedrich der Große seine Kronprinzenjahre verlebte, wird ebenso geschildert wie eine frühe Kinovorführung, bei der allerdings auch wieder Landschaftsbilder, diesmal Aufnahmen der Bretagne-Küste, in das Geschehen hineinflimmern. Der Zartheit der Bilder und seelischen Empfindungen steht die schnoddrige Berliner Alltagssprache entgegen, der sich vor allem Claire, die in einer Verfilmung von 1967 von Cornelia Froboess gespielt wird, befleißigt. Sie setzt ein Gegengewicht gegen übertriebene (Neu-)Romantik. In dieser impressionistischen Novelle ersetzt das ästhetische Gleichgewicht die schicksalhafte Zuspitzung; selbst das Unerhörte verheimlichter Liebe wird humoristisch gedämpft – ein Umstand, der für die altitalienische Novelle nicht ungewöhnlich war, aber in der deutschen Novelle ein Novum darstellt. Viele Novellenautoren der Zwischenkriegszeit lassen sich keiner bestimmten literarischen Strömung zuordnen. Arnold Zweig (1887–1968), der mit seinen sanft erotischen, polyperspektivischen Novellen um Claudia im gleichen Jahr wie Tucholsky im Novellengenre debütierte, veröffentlichte später ähnlich wie der Österreicher Joseph Roth viele kritische Kriegsnovellen. Vertieft reflektiert und im Sinne eines unorthodoxen Marxismus gedeutet wird der Erste Weltkrieg allerdings in einer großangelegten Renaissancenovelle Arnold Zweigs: Der Spiegel des großen Kaisers (1926), die von Detlev Glanert 1995 zu einem Musikdrama umgeformt wurde. Wie schon viele Jahrhunderte zuvor anekdotische Texte im Novellino (vgl. Anekdoten 1998, 161 ff.) behandelt Zweigs Historiennovelle die Begegnung des in Süditalien residierenden letzten Stauferkaisers Friedrich II. mit Magiern. Über ihren Zauberspiegel lassen sie den Kaiser, aber auch Edelleute aus den Kernländern Europas warnend in die Zukunft der Materialschlachten des großen Vernichtungskriegs von 1914/18 blicken. Die Menschen des Mittelalters können das unerhörte Grauen kaum fassen. Seine historischen wie sozioökonomischen Wurzeln werden in der Darstellung des entstehenden Bankenwesens wie der aufkeimenden Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgezeigt, die letztlich auch den angestrebten Idealstaat des ,großen Kaisers‘ scheitern lassen.
Tucholskys Bilderbuch für Verliebte
Historische Reflexionen im Spiegel des großen Kaisers
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik Robert Musils Novellen des Weiblichen
Männer-, Ritter- und Reitergeschichten
Neben Arnold Zweig versucht sich auch Robert Musil (1880–1942) nicht nur als Novellentheoretiker (Novelleterlchen), sondern auch als Novellist. Neben seiner tiersymbolisch bedeutsamen kurzen Geschichte Die Amsel hebt sich in seinem Fall vor allem die später Drei Frauen titulierte Novellentrilogie hervor. Im Sinne von Hannelore Schlaffers Konzept der Novelle als genuin weiblicher Gattung versuchen die typisierenden Texte, ähnlich übrigens wie Joseph Roths Ehenovelle Triumph der Schönheit (1935) oder die Liebesnovelle Barbara (1935/36) von Hermann Broch, das Mysterium des Weiblichen zu umreißen. Im Norditalien der Gegenwart ist die Ehebruchsnovelle Grigia (1921) angesiedelt. Hier verliebt sich ein Ehemann, den der Beruf von Frau und Kind wegführte, in die titelgebende Bäuerin. In einem alten Bergwerkstollen werden beide von Grigias Mann überrascht, der einen Felsblock vor den Stolleneingang wälzt. Die Frau kann aus der Falle entkommen, ihr Geliebter ergibt sich in sein Schicksal. Eine symbolisch überstrukturierte Historiennovelle ist Die Portugiesin (1923). Hier nimmt ein Raubritter aus verrufenem Kriegergeschlecht eine schöne Portugiesin zur Frau, die er allerdings bei seinen Raub- und Rachefeldzügen, die sich vor allem gegen den Erzbischof von Trient richten, sträflich vernachlässigt. Erst als der Erzfeind stirbt und der Ritter selbst sterbenskrank wird, kehrt er nach Hause zurück. Seine fremdländische Frau pflegt ihn. Da taucht plötzlich ein Jugendfreund der Gattin auf. Der Ritter ist sehr besorgt, als plötzlich eine kranke kleine Katze in der Burg auftaucht, die viel Pflege und Aufmerksamkeit von der Burggesellschaft erfährt. Das Symboltier wird von den handelnden Figuren sogleich als solches aufgefasst. Als die leidende Kreatur von einem Knecht aus Mitleid getötet wird, sieht der Burgherr in ihr ein Sinnbild seiner eigenen Existenz. Der Ritter, der das Schicksal der Katze nicht teilen will, rafft sich eines Tages auf und versucht, seine alte Kraft und Wildheit wiederzuerlangen, indem er die steile Felswand unter der Burg hinaufklettert. Er schleicht zum Schlafgemach seiner Frau, in dem er den Liebhaber vermutet, doch der Knecht meldet, dass der Fremde am Morgen fortgeritten sei. Die Mühe war umsonst, der Novellenkonflikt löst sich in Nichts auf, wie so oft in der eigentlich nichtnovellistischen Moderne. Dennoch verbleibt am Schluss der Handlung ein ,Epimythion‘, das die novellistische Tiersymbolik ins Metaphysische, aber auch Blasphemische hebt. Die Portugiesin stellt fest, dass Gott, wenn er Mensch werden konnte, auch Katze werden könne. Der Tod der Katze hat die Menschen erlöst. In der Liebesnovelle Tonka (1922), der letzten der Trilogie, scheitert die Liebe einer Verkäuferin und eines jungen Wissenschaftlers letztendlich am Misstrauen des Mannes angesichts einer verdächtigen und schließlich tödlichen Schwangerschaft seiner Geliebten. Ob das ebenfalls tote Kind das Ergebnis eines Betrugs ist, bleibt offen. In Musils Moderne bleibt auch das gattungstypische Schicksal rätselhaft. Modern ist die Novelle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist nicht. Aber auch im breiten Spektrum der Gegenmoderne gibt es sehr unterschiedliche ästhetische und politische Positionen. Allen gemein ist die Orientierung an der Tradition. In Hofmannsthals Soldatennovelle Reitergeschichte (1899) geraten ein Rittmeister und ein Wachtmeister aneinander, als der Untergebene dem Offizier ein erbeutetes Pferd ausliefern soll. Der Offizier tötet schließlich den sich verweigernden Wachtmeister. Die Aus-
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einandersetzung zweier ungleicher männlicher Gegner um das Symboltier, das durchaus auch als phallischer Fetisch fungieren kann, ist entschieden. Ritterlich im weitesten Sinn ist gleichfalls die Atmosphäre in den seinerzeit äußerst beliebten und geschätzten Novellen Rudolf G. Bindings (1867–1938), so z. B. in seiner Fliegernovelle Unsterblichkeit (1922) oder in Der Opfergang (1911). Diese Liebesnovelle schildert die Beziehung eines sportlichen Hamburger Weltmanns zur nixenhaften Joie, die eine so gute Schwimmerin wie Reiterin ist. Der Mann steht novellentypisch zwischen zwei Frauen. Seine ernste Ehefrau Octavia opfert sich für die Nebenbuhlerin in einer Krisensituation. Auch hier wendet eine Epidemie die Novellenhandlung. Nachdem ihr Mann an der Cholera verstorben ist, geht Octavia in dessen Mantel allabendlich vor Joies Fenster vorbei, um die Kranke durch den Anblick des vermeintlichen Geliebten zur Genesung zu ermutigen. Die Gender-Performanz wirkt – die Frau gesundet. 1944 wurde Bindings Novelle mit verändertem Schluss von Veit Harlan verfilmt, seine Ehefrau Kristina Söderbaum spielte die weibliche Hauptrolle. Der völkische Autor Hans Grimm (1875–1959) , der durch einen seiner Romane das fatale Schlagwort vom „Volk ohne Raum“ prägte, war selbst weitgereist und skizzierte in seinen Südafrikanischen Novellen (1913) vor allem das Leben der dort ansässigen niederlandstämmigen Buren. Die Vater-Sohn-Geschichte Mordenaars Graf, zu Deutsch in etwa das „Grab des Mörders“, sticht aus diesem Novellenkranz hervor. Ein verwitweter Bure, der mit seinem Sohn einsam auf seiner Farm lebt, macht mit ihm – bevor er Vater und Hof zeitweilig verlassen soll – an seinem vierzehnten Geburtstag einen Ausflug auf der Suche nach Bienenvölkern. Dabei stürzt der Sohn einen Fels hinab und bleibt auf einer unerreichbaren Klippe zerschmettert, aber nicht tot, liegen. Alle Versuche, gemeinsam mit den afrikanischen Farmarbeitern an ihn heranzukommen, schlagen fehl. Der schwer verletzte Junge sieht schon die Aasgeier aufziehen. Er bittet den Vater, ihn zu erschießen, aber der wolle nicht und habe ihn nie geliebt. Da schreit der Vater das Bekenntnis seiner Liebe hinab und erschießt sein Kind nach langem innerem Ringen. Danach stellt er sich dem Gericht, aber niemand will ihn verurteilen und er richtet sich selbst (Klein 1960, 540). Der Platz, wo man ihn begraben hat, heißt auf Afrikaans: Mordenaars Graf. Neben den Schilderungen der üppigen afrikanischen Natur und dem tragischen Dilemma des Vaters lebt Grimms Novelle auch von der Überwindung der Rassenschranken in der Not. Das Mitfühlen der autochthon afrikanischen Helfer sowie ihre tätige Unterstützung des verzweifelten Vaters untergraben in der relativen Autonomie des literarischen Textes durchaus subversiv den Diskurs, in dem sich sein Autor zeitlebens bewegte. Viele Autoren der ,Inneren Emigration‘, die teilweise auch ein deutscher ,Renouveau catholique‘ ist, waren novellistisch tätig, wie z. B. der bis in die 1960er Jahre vielgelesene Werner Bergengruen (1892–1964), Reinhold Schneider (1903–1958) mit Las Casas vor Karl V. (1938), wo in einer historischen Parabel die NS-Rassenpolitik kritisiert wird, Ernst Wiechert (1887–1950) mit seiner Hirtennovelle (1935) oder Stefan Andres (1906–1970) mit der antirepublikanischen Novelle Wir sind Utopia (1942), die die ideologischen Kämpfe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel des spanischen Bürgerkriegs gleichnishaft schildert. Unter den Autoren dieses Umfeldes ist Gertrud von le Fort (1876–1971) sicherlich die in-
Novellen der ,Inneren Emigration‘
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Exilnovellen
ternational bedeutendste. Sie stammt aus altem hugenottischem, ursprünglich sogar waldensischem Adelsgeschlecht und ist zum Katholizismus konvertiert, dessen dunkle Seite sie in ihrer Novelle Der Turm der Beständigkeit (1957) über die Protestanten-Verfolgung im Frankreich des 18. Jahrhunderts kritisiert. Ihre Novelle Die Letzte am Schafott (1931) über Blanche, eine angsterfüllte Karmeliter-Nonne, die trotzdem während der Französischen Revolution in den Tod geht, den sie als Martyrium versteht, hat eine vielfältige Rezeption erfahren. Der französische Autor Georges Bernanos (1888–1948) verarbeitete die Novelle 1947 zu einem Drehbuch, das 1960 mit Jeanne Moreau verfilmt wurde. Das Drehbuch wurde zu einem 1951 uraufgeführten Bühnenstück und zum Libretto der Oper Dialogues des Carmélites (UA 1957) von Francis Poulenc weiterverarbeitet, die noch heute auf den internationalen Musiktheaterbühnen gespielt wird. Viel mehr als Die Letzte am Schafott kann jedoch Gertrud von le Forts spätere Novelle Das Gericht des Meeres, die 1943 erschien, als Parabel totalitärer Herrschaft gelesen werden. Nicht nur in der inneren, auch und vor allem in der äußeren Emigration werden zu dieser Zeit novellistische Humanitätsappelle verfasst, so etwa von Klaus Mann (1906–1949) in Vergittertes Fenster (1937), einer leitmotivisch kunstvoll durchkomponierten Novelle über die letzten Tage des verfolgten und gefangenen Bayernkönigs Ludwig II. Auch im vielgestaltigen Erzählwerk der Emigrantin und nachmaligen DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983) finden sich häufig novellistisch gestaltete Texte. Sie behandeln zuweilen das jüdische Schicksal (Post ins gelobte Land, 1945) oder die Abrechnung mit nationalsozialistischen Verbrechen (Das Ende, 1945), bisweilen sind die Erzähltexte auch unter einem Gesamtthema als Novellenkranz zusammengefasst wie in Die Kraft der Schwachen (1965). Eine Erinnerungsnovelle aus dem rettenden mexikanischen Exil, dessen sonnenglühende Gegenwart den Novellenrahmen setzt, ist Der Ausflug der toten Mädchen (1943/44). Die Geister der Jugend vor dem Epochenbruch des Ersten Weltkriegs werden hier beschworen, vom Exilland schweift das impressionistisch assoziierende Gedächtnis der Erzählerin, die den selben Vornamen trägt wie die Autorin, zurück ins wilhelminische Mainz ihrer Jugend. Imaginiert wird ein Schiffsausflug junger Mädchen mit einem Rheindampfer, deren Unbeschwertheit hell kontrastiert mit ihrem späteren düsteren Schicksal, vor allem mit ihrer Mitläufer- bzw. Gegnerschaft im Dritten Reich. Nicht nur der Tod im Konzentrationslager, auch die vorhergehenden Schrecken des 20. Jahrhunderts werden mit den heiteren Impressionen konfrontiert, einem verliebten dunkelblonden Otto Fresenius wird beispielsweise später in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs ein Geschoss den Bauch zerreißen. Auch andere junge Leben wird die Politik des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm) ebenso zermalmen wie die bombardierten Gebäude der Vaterstadt, die jenseits des Meeres nur noch ein Gedächtnisort ist. Andere wie die lebenslustige Lore müssen sich – erpresst wegen „Rassenschande“ – das Leben selbst nehmen. Strukturiert sind die Visionen durch Leitmotive, z. B. eine Schaukel, die hier wie in Fontanes Effi Briest als Symbol jungmädchenhaften Übermuts fungiert, und vor allem die tradierte Schiffsmetapher: Das Schiff in den Stürmen des Lebens ist eben kein Ausflugsdampfer.
Kurzgeschichte und Novelle in der Nachkriegszeit
5. ,Kahlschlag‘ und Fortführung der Tradition: Kurzgeschichte und Novelle in der Nachkriegszeit In der Zeit nach 1945 ist die Novelle bei vielen Autorinnen und Autoren der mittleren und jüngeren Generation, die für sich nach der nationalsozialistischen Verbotspolitik sowohl die verbotene deutsch-jüdische Literaturtradition, z. B. Kafka, als auch die zeitgenössische Weltliteratur (wieder-)entdecken, eine geradezu tabuisierte Gattung. Schließlich befleißigten sich ihrer doch auch Vorzeigeautoren des NS-Staates wie Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962), etwa mit seiner Karlsbader Novelle um Goethe. Die Prosagattung dieser Zeit des Traditionsbruchs, des poetologischen ,Kahlschlags‘, war die Kurzgeschichte, ob in realistisch-sozialkritischer Variante (z. B. Nachts schlafen die Ratten doch von Wolfgang Borchert) oder in surreal-parabolischer Form (z. B. die Spiegelgeschichte von Ilse Aichinger). Bisweilen wurden auch der Kurzgeschichte wie vorher schon der Novelle skurrile neue Gattungsbezeichnungen beigefügt, wie z. B. im Fall der Maulwürfe von Günter Eich. Dennoch setzt sich das Novellenschaffen vieler Autorinnen und Autoren, die wie Bergengruen mit seinem (autobiografisch zu verstehenden) fabulierenden und novellierenden Letzten Rittmeister (1952) durchaus noch den Buchmarkt dominieren, fort. Auch in der Novellistik und der traditionellen Erzählliteratur findet eine offene wie auch symbolische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und den Kriegsgräueln statt, was etwa Das Brandopfer (1954) des evangelischen Pfarrers Albrecht Goes (1908–2000) zeigt. Ebenso wird Zeitkritik während der Nachkriegsjahre in Novellenform produziert, wie Der Ptolemäer (1949) über den Besitzer eines Berliner Schönheitssalons von Gottfried Benn belegt. Der Novellenbegriff selbst ist hier – wie der Untertitel Berliner Novelle, 1947 nahelegt – nicht ohne parodistischen Anklang. Novellistinnen und Novellisten der älteren Generation, die ihre literarische Sozialisation noch im ausklingenden Realismus und Historismus des 19. Jahrhunderts erlebt hatten, veröffentlichten nach 1945 sogar noch Renaissancenovellen, die sich erzähltechnisch und stofflich an C. F. Meyer orientierten. In Die Consolata (1947) von Gertrud von le Fort triumphiert beispielsweise das Mitleid einer Laienbruderschaft über den grausamen Tyrannen Ansedio von Padua, der inmitten der Trümmer seiner Stadt, die er zumeist selbst durch das Niederreißen von Feindeshäusern verursacht hat, verklärt in einer Art Führerbunker sitzt. Die Laienbrüder versammeln sich im Kreis um den stolzen „Bruder Bösewicht“, der viele Feinde durch schmerzliche Prüfungen veredelt hat. Ansedio kann diese Konfrontation nicht ertragen, er bricht zusammen und tötet sich selbst. Die im 13. Jahrhundert verortete historische Handlung dient als Spiegel aktueller Geschehnisse. Ein Bekannter der Autorin, der sie bereits 1944 kannte, weist der Novelle gar prophetischen Charakter bezüglich des Endes von Hitler zu. Eine geschichtliche Selbstvergewisserung ganz anderer Art stellt die klassizistisch komponierte Mozart-Novelle (1947) von Louis Fürnberg (1909–1957) dar. Der kommunistische Schriftsteller, der Autor des Lieds der Partei und spätere stellvertretende Leiter der ,Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG)‘, der auch eine Goethe-Novelle veröffentlichte, hatte in der NS-Zeit einen Groß-
Die Krise der Novelle nach der ,Stunde Null‘
Fürnbergs Mozart-Novelle
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Traditionelle Novellentechnik bei Böll
Marie Luise Kaschnitz: Novellistin wider Willen
teil seiner Familie durch Genozid verloren und sah sich nunmehr in seinem Heimatland, der Tschechoslowakei, vermehrt Repressionen wegen seiner deutschen wie jüdischen Herkunft ausgesetzt. Seine elegant durchkomponierte Mozart-Novelle ist als Akt humanistischer ,Erbeaneignung‘ zu begreifen. Ähnlich wie die Künstlernovelle Mörikes handelt sie vom Aufenthalt Mozarts in Prag im zeitlichen Umfeld der Uraufführung des Don Giovanni im dortigen Ständetheater. Bei Fürnberg treffen jedoch zwei epochemachende Gestalten, der junge Mozart und der alte Casanova, aufeinander. Der eine steht für einen künstlerischen wie politisch-weltanschaulichen Aufbruch in neue Welten, der andere steht – in allen Ehren – für das alte Feudalsystem mit seiner prunkvollen Repräsentation. Die in der ehemaligen DDR vielfach aufgelegte musterhafte „Meisternovelle“, die in den Einzelausgaben oft mit zarten Zeichnungen illustriert wurde, ist ein letztes Beispiel des Neorokoko in der Nachkriegszeit, durchaus vergleichbar mit der anachronistischen Ornamentik der Karl-Marx-Allee im Osten Berlins. Novellistische Formen und Themen wirken auch in der Kurzgeschichte und der Erzählung der Nachkriegszeit nach. So ist Heinrich Bölls (1917–1985) Die Waage der Baleks, die 1953 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erstveröffentlicht wurde und von der Ungerechtigkeit im altböhmischen Bauernmilieu berichtet, die durch das Titelsymbol verkörpert wird, eigentlich eine kritische Dorfnovelle in der Tradition Marie von EbnerEschenbachs. Die Erzählung um die gezinkte Waage ist ebenfalls eine Erinnerungsnovelle, die aus dem kollektiven Familiengedächtnis gespeist wird. Wanderer kommst du nach Spa (1950) , eigentlich eine klassische Kurzgeschichte, ist schon im Titel symbolisch überstrukturiert wie eine Novelle. In einem düster getönten Bewusstseinsstrom wird eine Episode aus der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs geschildert. Ein verwundeter junger Soldat wird in eine Stadt transportiert, die er, schwer verletzt und benommen, wie er ist, zunächst nicht identifizieren kann. Er wird auf einer Pritsche in ein Schulgebäude verbracht, das er erst allmählich anhand des Interieurs als sein eigenes Gymnasium identifiziert, in dem er noch vor Kurzem Schüler war. Der in Gipsbüsten und Sinnsprüchen zeichenhaft hochgehaltene Humanismus wirkt – konfrontiert mit dem Elend des Krieges, das er nicht verhindern konnte – nur noch leer und hohl. Sinnentleert sind auch die Weihnachtsrituale, die Böll in seiner humoristischen Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit (1952) persifliert. Wenn Tante Milla plötzlich beim Abschmücken des Weihnachtsbaums einen Schreikrampf bekommt, der nur durch eine permanente Weihnachtsfeier der ganzen Familie zeitweise gestoppt werden kann, dann kann man dies durchaus als unerhörte Begebenheit bezeichnen. Eine Autorin der Nachkriegszeit, deren Kurzgeschichten viele novellistische, vereinzelt sogar legendenhafte Züge (z. B. in Der Mönch Benda) aufweisen, ist Marie Luise Kaschnitz (1901–1974). In ihren gattungstheoretischen Äußerungen bekennt sich die Autorin eindeutig zur Kurzgeschichte, etwa im Sinne des zeitgenössischen US-amerikanischen Short story-Autors William Saroyan (1908–1981), die sie 1951 allerdings vor allem historisch und nicht formal gegenüber der von ihr sogenannten „alten Novelle“ absetzt (Kaschnitz 2002, 163 ff.). Durch ihren jahrelangen Aufenthalt in Italien ähneln jedoch viele ihrer Nachkriegs-Kurzgeschichten, etwa Silberne Man-
Kurzgeschichte und Novelle in der Nachkriegszeit
deln, den älteren deutschen Novellen aus dem italienischen Volksleben. Die Kurzgeschichte Lange Schatten (1960) konfrontiert den im wahrsten Sinne des Wortes panischen Schrecken der Mittagsstunde Arkadiens mit der Lebenswelt des Pauschaltourismus der Wirtschaftswunderjahre. Eine Berliner Schülerin namens Rosie gerät an ihrem südlichen Urlaubsort vom Weg ab und wird in sonnendurchglühter Landschaft von einem italienischen Jungen sexuell belästigt, der sich sogar vor ihr auszieht. Nur durch einen starren, durchdringenden Blick, eine Abwehrmaßnahme, die ihr der Vater empfohlen hat, kann das Mädchen sich des Jungen letztlich erwehren. Neben zeittypischen psychologischen Elementen, z. B. der imaginär-schützenden Vater-Tochter-Beziehung, enthält die Geschichte auch symbolisch-mythologische Elemente. Der Schrecken zur Mittagsstunde in südlicher Landschaft ist ein etabliertes Novellenthema, z. B. in Mittagsgespenst (1895) von Isolde Kurz. Auch die Böcklin’sche Überhöhung der beiden Teenager zu Pan und Nymphe durch die Erzählerin, die auch einen Sammelband griechischer Mythen veröffentlichte, korrespondiert mit dem lange eingeübten und oft novellistisch bearbeiteten bildungsbürgerlichen Blick auf italienische Lebenswelten. Letztlich ist die Abwehr des hier geschilderten jungmännlichen Übergriffs durchaus mit dem selbstbewussten Verhalten der Laurella in Heyses Italiennovelle L’Arrabbiata (1853) vergleichbar. Während die Ehegeschichten von Marie Luise Kaschnitz, z. B. Der Strohhalm, durchaus die demonstrative Nüchternheit der Nachkriegskurzgeschichte kultivieren und insofern mit denen von Gabriele Wohmann vergleichbar sind, enthalten viele ihrer Texte fantastische Elemente, eine Tradition, auf die sie sich unter anderem unter Bezugnahme auf Hanns Heinz Ewers’ (1871–1943) Vampir-Novelle Die Spinne (1907) auch ausdrücklich beruft (Kaschnitz 2002, 166). So kann es nicht überraschen, dass Marie Luise Kaschnitz auch regelrechte Gespensternovellen geschrieben hat. In Der Tunsch (1966) treibt z. B. die Titelfigur, ein von Sennern geschaffener künstlicher Mensch, auf der Alm sein Unwesen. In der 1960 veröffentlichten Kurzgeschichte Gespenster wird dagegen die Londoner Behausung eines Geschwisterpaares von der befremdeten Ich-Erzählerin, die dorthin zum Tee eingeladen wurde, ähnlich geschildert wie die verstaubte Rokokowohnung in Hoffmanns Ritter Gluck-Novelle. Die Besucherin empfindet dieses Geisterhaus als nicht ganz richtig: Das Haus ist zu still und dunkel, die Möbel sind staubbedeckt, die elektrischen Birnen sind ausgeschraubt, sodass man Kerzen anzünden muss, auf den Teetassen sind ganze Traumlandschaften sichtbar. Vivian, die den Tee serviert, erweist sich letztlich wie ihr Bruder als Untote aus dem Geisterland England. Carl Zuckmayers (1896–1977) Erzählwerke enthalten Bauerngeschichten und Eine Liebesgeschichte, die sich mit den Liebesverwicklungen eines preußischen Rittmeisters in friderizianischer Zeit beschäftigt. Hauptsächlich wurde der Autor jedoch als Dramatiker (Des Teufels General) bekannt. Seine Novelle Die Fastnachtsbeichte von 1959, schon im Folgejahr unter anderem mit Götz George vom Emigranten und Hollywood-Regisseur William Dieterle verfilmt, steht mit ihrer komplexen Konstruktion in der Tradition der deutschen Monumental-, aber auch der Kriminalnovelle. Das novellentypische Beichtthema, das Erzählen von Unerhörtem und Anstößigem, prägt die Handlung, die ebenso wie eine altitalienische Novelle präzise – am
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Fastnachtssamstag des Jahres 1913 – datiert ist. Eine Mordgeschichte – eine seit Harsdörffer und Kleist etablierte Gattung – entfaltet sich von diesem Datum aus, das nicht zufällig unmittelbar vor den Ersten Weltkrieg, also vor den endgültigen Zusammenbruch der hier schon als brüchig dargestellten altbürgerlichen Ordnung, gelegt worden ist. Da das Opfer im Mainzer Dom erdolcht wird und ein Domkapitular das Geschehen in der Tradition des analytischen Dramas aufklärt, verbindet die Novelle im Geist des „Renouveau catholique“ der Adenauerzeit Heiliges, heilige Narren mit Unheiligem, Menschliches mit allzu Menschlichem. Die Narren des Karnevals, der auch den Kostüm- und Identitätswechsel kennt, stehen im Sinne von Bachtins Literatur und Karneval symbolisch für die ganze närrische Welt. Leitmotivisch geprägt ist die Handlung durch eine an die Sagenwelt erinnernde Tier-Mensch-Gestalt, die im bunten Fastnachtstrubel, der mit der Statisterie einer Opernaufführung verglichen wird, unheimlich wirkt. Es handelt sich um Lolfo, den Halbruder von Viola aus dem Novellenland Italien. Er ist für den Mord im Dom verantwortlich. Das Opfer war der Verlobte seiner Schwester, ein Abenteurer, unehelicher Sohn des reichen Mainzer Kaufmanns Panezza, der sich Viola in Sizilien unter dem Namen seines legitimen Halbruders Jeanmarie Panezza genähert und ihr den Familienschmuck geraubt hatte. Der Rächer wird selbst bei einer Messerstecherei unter italienischen Arbeitern gerichtet. Das seit Kain und Abel der jüdisch-christlichen Kultur eingeschriebene Motiv des Brudermordes scheint hier ebenso auf wie das mit ihm verbundene Urproblem der menschlichen Schuld, die im Laufe der Handlung gleich mehrfach – z. B. als illegitime Vaterschaft – gebeichtet wird. Viele Masken müssen im Lauf der Handlung fallen, bis endlich am Aschermittwoch mit Beendigung des Maskenfestes die Wahrheit ans Licht tritt. Zur Zeichenstruktur der Novellenkomposition fügt sich, dass die Mordwaffe mit einem verräterischen Initial geschmückt war, das die komplizierten Familienverbindungen der Novellenfiguren – auch Viola und Lolfo sind mit den Mainzer Kaufleuten verwandt – verrät.
6. Gegenentwürfe, postmoderne Parodien und Variationen: die Novelle seit den 1960er Jahren Katz und Maus: eine Gattung wird modernisiert
Katz und Maus von Günter Grass (* 1927), zwei Jahre nach Zuckmayers Fastnachtsbeichte erschienen, ist eine explizit als Novelle bezeichnete Erzählung aus der sogenannten Danziger Trilogie, zu der noch Die Blechtrommel (1959) und Hundejahre (1963) gehören. Das Erscheinen dieses Erzähltextes markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Novellentradition, der bis ins 21. Jahrhundert zu einer wahren Renaissance der Gattung geführt hat. Es ist in diesem Zusammenhang sicher kein Zufall, dass der expressionistische Novellenparodist Alfred Döblin zu Günter Grass’ literarischen Vorbildern gehört. Die für damalige Verhältnisse in jeder Hinsicht explizite Novelle ist gleichsam ein Gegenstück, mithin eine ernstgemeinte Parodie, ein ,Gegengesang‘ zu in der Novelle erwähnten Heldenliedern von Walter Flex, aber vor allem zu heroisierenden Kriegsnovellen von Binding u. a., die damals noch zum Lesehorizont des Publikums
Die Novelle seit den 1960er Jahren
gehörten. Katz und Maus ist überdies formal eine Erinnerungsnovelle, aber auch eine Schülergeschichte. Der Ich-Erzähler Pilenz erinnert sich an seine Jugend. Er denkt zurück an das Renommiergehabe der Jugendlichen in Kriegszeiten, ihre Faszination für Waffen und die Kriegstechnik mit ihrer allgegenwärtigen Zerstörung sowie an pubertäre Spiele. Wie ein solches homosoziales Umfeld schleichend in Krieg und Vernichtung übergehen kann, ist die wesentliche Thematik der zeitgeschichtlichen Novelle. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Plienz’ Mitschüler Mahlke, dessen übergroßer Adamsapfel, ein Leitmotiv der Novelle, ähnlich wie eine Maus eine jagdhungrige Katze zum Angriff lockt. Pilenz setzt durch die Erinnerung dem Freund Mahlke gleichsam ein Denkmal. Jener – wie später der Erzähler in Im Krebsgang – vaterlose Joachim Mahlke wurde kurz nach Kriegsbeginn vierzehn. Seine Mutter und ihre ältere Schwester, die in ,vaterloser Gesellschaft‘ für ihn sorgen, schickten ihn ein Jahr verspätet zur Schule, weil er schwach und kränklich war. Aus demselben Grund blieb er auch vom Turnunterricht befreit. Er hat nach Ausbruch der Pubertät bei der Konkurrenz mit den gleichaltrigen Jungen folglich einige Defizite zu kompensieren. Dies tut er durch ein angenehmes Sozialverhalten; so lässt er als recht guter Schüler jeden abschreiben und wendet sich mäßigend gegen übertriebene Obszönitäten. Er lernt gut schwimmen und tauchen und kann so mit seinen Mitschülern ein polnisches Minensuchboot, das im flachen Wasser der Danziger Bucht liegt, aufsuchen. Das polnische Staatsschiff ist zu dieser Zeit gleichfalls (vorübergehend) gestrandet. Auf dem Wrack liegen die Jungen oft in der Sonne, es wird geradezu zur Heterotopie und zum Zufluchtsort der Jungen vor der Erwachsenenwelt, in der auch mal Lehrpersonen plötzlich im KZ verschwinden können. Wenn die eigentlich ziemlich unansehnliche Tulla, die später in der Novelle Im Krebsgang (2002) – zur monströsen Mutter und Großmutter herangereift – ihr Unwesen treiben wird, die Jungs zum Masturbieren auffordert, verweigert sich Mahlke zunächst dieser ziemlich dominanten Person. Dann aber erweist es sich, dass er nicht nur beim Schwimmen und Tauchen, sondern auch auf diesem Gebiet seine gleichaltrigen Geschlechtsgenossen spielend schlägt. Mahlke, der einem Mitschüler das Leben rettet, entwickelt sich so immer mehr zur Leitfigur innerhalb der Jugendgruppe, was sich auch daran zeigt, dass er als Einziger die über dem Wasser gelegene Funkkabine des Schiffes für sich beanspruchen kann. In seiner dominanten Rolle erhält er jedoch Konkurrenz, was seinem ausgeprägten Geltungsbedürfnis zuwider läuft. Dieses macht ihn sogar zum Dieb. Als ein älterer ehemaliger Mitschüler, der inzwischen U-Boot-Kommandant geworden ist, in der Aula einen kriegspropagandistischen Vortrag über ,Mannestugend‘ im Geist von Walter Flex hält, stiehlt Mahlke beim anschließenden gemeinsamen Sport dessen Eisernes Kreuz, das er später eindeutig als Männlichkeitssymbol vorführen wird, aus der Umkleidekabine. Er wird überführt und auf eine andere Schule strafversetzt – der Wendepunkt seines jungen Lebens wie der Novellenhandlung. Nach einem Notabitur an der Front angelangt, erwirbt er dann sein selbst ,verdientes‘ ,Eisernes Kreuz‘. Jetzt will er ebenfalls einen Vortrag über seine Tapferkeit halten; als ein Lehrer ihm dies wegen seiner alten Verfehlung verweigert, ohrfeigt er ihn. Sein ,Heldentum‘ erwächst aus banalem Ehrgeiz. Weil ihm trotz seiner Anerkennung als Kriegsheld die Rehabilitierung versagt bleibt, über-
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Konflikte der ,nivellierten Mittelschichtgesellschaft‘
zieht Mahlke seinen Heimaturlaub und beschließt, nicht mehr an die Front zurückzukehren. In seiner Kabine auf dem gesunkenen Minensuchboot will er sich verstecken. Mahlke verschwindet, nachdem er mit Pilenz dorthin gerudert ist, in dem Wrack und taucht nicht wieder auf. Pilenz muss unmittelbar danach an die Front und sucht später auf Heimatvertriebenentreffen vergeblich nach seinem Freund, der wie viele andere zwischen die Mühlsteine von Krieg und Zerstörung geraten ist. Im Gegensatz zur traditionellen Soldatennovelle, aber auch zu den entsprechenden Kurzgeschichten Bölls, in denen der ,einfache Soldat‘ meist ein Opfer höherer Mächte ist, wird hier die jugendliche Formung und Prägung einer militaristischen Sozialisation präzise nachgezeichnet; die Protagonisten erscheinen dabei eher als Mitspieler denn als Opfer. Den zweiten Markstein bei der Re-Etablierung der Gattung Novelle in der deutschen Literaturgeschichte, die gleichzeitig auch eine Rehabilitierung ist, stellt Martin Walsers Ein fliehendes Pferd aus dem Jahr 1978 dar. Die Novelle wurde unter Aufsicht des Autors sowohl 1985 zu ihrer ,Schwestergattung‘, also einem Drama, verarbeitet als auch zweimal – 1986 und 2006 – verfilmt. Schon das Tiersymbol im Titel, das in der Heraldik ein beliebtes Zeichen ist, verweist auf die Gattung Novelle. Zudem präsentiert sich Ein fliehendes Pferd als eine Urlaubs- und Begegnungsnovelle. Die Begegnung findet hier zwischen zwei Lebenshaltungen und -welten statt, repräsentiert durch zwei Paare. Der mit manchen Komplexen beladene alternde Lehrer Helmut Halm trifft in einem Urlaubsort am Bodensee, wo er sich mit seiner Ehefrau aufhält, auf seinen alten Tübinger Studienfreund Klaus Buch und dessen jüngere Frau Helene. Beide Männer haben sich 23 Jahre nicht gesehen. Klaus Buch wirkt – obschon fast gleichaltrig – gegenüber Helmut erstaunlich jung und vital. Der Keim für eine – zunächst latente – Männerkonkurrenz ist gelegt. Man beschließt bei einem Abendessen gemeinsame Unternehmungen. Bei einer Wanderung gelingt es Klaus Buch, das titelgebende ,fliehende Pferd‘ einzufangen und schließlich sogar aufzusitzen. Er scheint die ungestümen Mächte des Lebens kontrollieren zu können. Diese durchaus demonstrativ herausgestellte Lebenseinstellung weckt bei Halm versteckten Neid und verdeckte Aggressionen. Bei einem Segeltörn auf dem Bodensee erfährt der Konflikt eine dramatische Steigerung. Klaus Buch traktiert den Lehrer mit Ausbruchfantasien für ein neues Leben auf den Bahamas. Währenddessen melden sich die schon im Pferd symbolisierten Mächte der Natur in Gestalt eines heraufziehenden Unwetters, das Klaus jubelnd begrüßt. Die Stürme des Lebens werden dem bedächtigen Helmut zu viel. Er stößt Klaus die Ruderpinne aus der Hand, bei der dadurch verursachten scharfen Drehung geht der Abenteurer über Bord. Helmut rettet sich entkräftet mit dem Boot ans Ufer. Der verschollene Freund plagt ihn weniger als seine ernüchternde Lebensbilanz, derer er sich angesichts jenes durch die jähe Wendung des Bootes versinnbildlichten Wendepunkts voll bewusst wird. Helene jedoch offenbart am nächsten Tag die unerträgliche Dominanz sowie die Minderwertigkeitskomplexe und Stabilitätssehnsüchte des innerlich labilen Klaus Buch, die er ausgerechnet auf seinen alten Freund Helmut projiziert hat. Mit seinem Verschwinden fällt die vital-virile Fassade in sich zusammen. Überraschend taucht der vermisste Klaus Buch auf. Ohne Helmut anzusehen, nimmt er Helene mit, das Ehepaar Halm reist spontan in
Die Novelle seit den 1960er Jahren
den Süden. Der Novelle ist ein Zitat von Sören Kierkegaard (1813–1855) vorangestellt: „Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen bestimmte Personen entgegengesetzte Lebensanschauungen vortragen. Das endet dann gerne damit, dass eine den andern überzeugt. Anstatt dass also die Anschauung für sich sprechen muss, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, dass der andere überzeugt worden ist. Ich sehe es für ein Glück an, dass in solcher Hinsicht diese Papiere eine Aufklärung nicht gewähren“ (Entweder – Oder). Walser weist in seiner Novelle nach, dass diese Konfliktsituationen nicht nur im Jahrhundert der idealistischen Philosophie, sondern auch in der „nivellierten Mittelschichtgesellschaft“ (Helmut Schelsky) der westdeutschen Bundesrepublik entstehen können. Auch der Ost-West-Gegensatz bietet überdies Novellenstoffe, wie Walsers Novelle Dorle und Wolf (1987) belegt. Nach dem vielgelesenen Aktualitätsbeweis Walsers nimmt die Gattung Novelle in den Folgejahren einen raschen Aufschwung (vgl. Wassmann 2009). 1980 folgen unter anderem die kleinstadtnovelle von Ronald M. Schernikau (1960–1991), unter anderem eine Coming-out-Geschichte, und Die Sirene von Dieter Wellershoff (* 1925), 1982 Christoph Heins (* 1944) Novelle Der fremde Freund bzw. Drachenblut, die die innere Entfremdung menschlicher Beziehungen in der DDR schildert, 1984 Bodo Kirchhoffs (* 1948) Mexikanische Novelle und Hartmut Langes (* 1937) Novellenkranz Waldsteinsonate, auf die 1986 Das Konzert folgen sollte. Im selben Jahr wird Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter von Friedrich Dürrenmatt publiziert. Diese Experimentalnovelle, eine Mordgeschichte, besteht aus nur vierundzwanzig Sätzen, die je ein Kapitel ausmachen. Im Wendejahr 1989 erscheint dann unter anderem die Jagdnovelle des bekannten Journalisten Horst Stern (* 1922), eine einfühlsame Tiergeschichte um das tödliche Schicksal eines Bären. Dieter Wellershoffs Die Sirene von 1980 verdient unter den oben aufgeführten Werken gesonderte Aufmerksamkeit. Sie ist neben der in Spanien angesiedelten Urlaubsgeschichte Zikadengeschrei (1995) seine bislang einzige Novelle und kann exemplarisch Auskunft über die Chancen und Schwierigkeiten dieser Gattung unter den Bedingungen der Postmoderne geben. Zu dieser Epoche, die wesentlich durch Jean-François Lyotard (1924–1998) definiert wurde, gehört eine neue Uneindeutigkeit, ein spielerisches Historisieren, ein Verlust des unbedingten Glaubens an die Avantgarde. All das gibt einer alten Form wie der Novelle neue Spielräume, seien sie auch nur durch eine ironische Welthaltung erschlossen. Ohne Ironie ist es nicht, wenn die Sirene, die früher noch über das Meer rief, heute ihrer verlockenden Stimme am Telefon Gehör verschafft, sich auf technische Weise dem männlichen Zugriff entzieht. Ein Professor namens Elsheimer erhält in Wellershoffs Novelle immer wieder mysteriöse Anrufe von einer Frau, deren Stimme für ihn zum faszinierenden Phänomen im Sinne Derridas wird. Die zunächst von seiner Ehefrau, die das novellistische Dreieck komplettiert, durchgestellten Anrufe ziehen den Mann immer mehr in den Bann. Er nähert sich der Sirene an, indem er sich selbst als Flussgott fantasiert, und wird zur Marionette der fernen Frau wie
Novellenerzählen und Postmoderne
Die Sirene: das lockende Weib am Telefon
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Das Konzert: Geisternovelle über den NS-Terror
Die letzten dreißig Jahre
Nathanael in Hoffmanns Sandmann. Während er sich einerseits mit der anonymen Frau und seinen Fantasien über sie auseinandersetzt, schreibt Elsheimer andererseits an einem Buch über die Entstehung des Ichs. Dessen Einheit wird in der subjektkritischen postmodernen Philosophie von Michel Foucault sehr skeptisch gesehen. Das Gesicht des Subjekts ist aus seiner Sicht so leer wie das Antlitz der Anruferin in der Fantasie Elsheimers. Die ferne Frau wird niemals Konturen für ihn gewinnen, weil er ihr nie begegnen wird. Konturlos, gespenstisch bleiben auch die Gestalten wie die Topografie in Hartmut Langes Das Konzert (1986). Nicht allein in der Novellistik der Romantik, auch in der Gegenwartsliteratur treten imaginierte Symbolräume auf. In Das Konzert wird nicht wie in E. T. A. Hoffmanns Majorat die Vergangenheit des vorrevolutionären Rokoko bewältigt; das Grauen des Nationalsozialismus ragt vielmehr gespenstisch in die wohlhabende Nachkriegsrealität des insularen ,West-Berlins‘ hinein. Dessen Vorort-Topografie wird überlagert vom herbeifantasierten Symbolraum eines Salons, in welchem sich das ermordete deutsch-jüdische Bürgertum als Versammlung der Untoten begegnet. Dieser Salon steht für eine Vergangenheit, die nicht vergehen will, weil die Kluft zwischen dem kulturellen Niveau und der Humanität seiner nunmehr geisterhaften Insassen und ihrer brutalen Vernichtung eine nicht verheilende Wunde eröffnet. Dieser Kontrast ist weit schärfer als der zwischen der überfeinerten Rokokokultur und dem Einschnitt ihrer jakobinischen Vernichtung, der von Hoffmann über Heine bis Eichendorff ein Leitthema der romantischen Epoche ausmacht. Einen zusätzlichen impliziten Gegensatz konstituiert Langes Novelle: den zwischen der profanen und gleichgültigen Gegenwart der 1980er Jahre mit ihren hässlichen Bungalows und der vernichteten Hochkultur des alten Berlins. Diesem Gegensatz entspricht der Unterschied zwischen zeitgenössischen Quasi-Räumen und dem irrealen Ort des Salons der Frau Altenschul, einer ermordeten Bildungsbürgerin ,alter Schule‘, die übrigens als kultiviertes Gespenst auch über das aktuelle Kulturleben der 1980er Jahre gut informiert ist. In ihrem Salon treffen sich nicht nur die Ermordeten, auch die Geister der Mörder begehren immer wieder Einlass in den ihnen verwehrten Raum privater Konzertabende. Orientiert an der Figur Heydrichs, wird der Genozid des Nationalsozialismus als Massenmord, der nicht am Fremden, sondern am sozial und kulturell Nächsten verübt wurde, verdeutlicht. Höhepunkt und im Text die sogenannte ,unerhörte Begebenheit‘ der Novelle ist folgerichtig ein imaginiertes Konzert eines früh ermordeten Pianisten namens Lewanski im Traumraum der alten Berliner Philharmonie vor den Geistern der Opfer wie der Täter. Er versagt bei Beethovens Opus 109, weil ihm die Mörder nicht genug Zeit zur künstlerischen Entwicklung gelassen hatten. Die Kunst scheitert letztlich an der organisierten Auslöschung. Nicht allein die ,Gespenster der Geschichte‘ werden im vielgestaltigen Novellenwerk Hartmut Langes beschworen. Auch auf Reisen, z. B. nach der nordafrikanischen Ruinenstadt Leptis Magna (2003), fallen seine Figuren aus der Welt. In Der Therapeut (2007) verlieren sich Menschen, Frauen, in einem geheimnisvollen Berliner Garten, der zum Haus der unheimlichen Titelfigur gehört. Ist er eine Art Blaubart, ein hoffmannscher verrückter Wissenschaftler? Das Geheimnis des Therapeuten und seines Totenparks bleibt ungelöst.
Die Novelle seit den 1960er Jahren
In Hartmut Langes Gegenwartsnovellen erlebt aber nicht nur die Geisternovelle, sondern auch die ,italienische‘ Novelle von Gaudy, Heyse oder Isolde Kurz eine zeitgemäße Wiederkunft. Die Gattung kehrt zur Quelle, zu ihrem kulturellen Ursprung zurück, so im gleichlautenden Titel eines Novellenbandes von 1998, der in Die Verteidigung des Nichts die heutige Lebenswelt italienischer Jugendlicher schildert (vgl. Scimonello 2003, 203). In dieser Tradition steht auch Josef Winkler mit seiner römischen Novelle Natura morta (2001). In dieser novellentypisch im Titel mit einer Bildanalogie versehenen Geschichte entfaltet sich das Straßenleben der ,Ewigen Stadt‘. Dem Stillleben entsprechend, schildert der Kärntner Winkler in intensiver Bildlichkeit (einschließlich Blumen- und Ringmotivik) das Leben und den Tod eines italienischen Jungen vom Gemüsemarkt, seine ersten erotischen Abenteuer, die volkstümlichen Typen seiner Lebenswelt, sein gewaltsames Ende, das von seiner Umgebung betrauert wird. Der Sohn der Feigenverkäuferin, die alte Symbolfrüchte der Sünde feilbietet, wird so zu einer fast mythischen Gestalt. Diese Metamorphose ist durchaus mit der von Tadzio in Tod in Venedig vergleichbar. Viele alte Untergattungen der Novelle werden im Novellenschaffen der Gegenwart wiederentdeckt. Weiter weg als in das Novellenland Italien führt die Mexikanische Novelle (1984) von Bodo Kirchhoff, die die Liebe eines deutschen Journalisten zu einer Mexikanerin schildert. Die Familiennovelle wird in Das Gartenhaus (1989) von Thomas Hürlimann wiederbelebt, in der ein Schweizer Offiziersehepaar bis zum surrealen Handlungsende um seinen verstorbenen Sohn trauert. Schiffs- und Tiersymbolik wie ein schwerer Grabstein prägen hier das Zeichensystem des Handlungsschemas, während in der Pubertätsnovelle Fräulein Stark (2001) vom selben Autor das alte Thema des erotischen und geistigen Erwachens variiert wird. Was das novellentypische Künstlerthema betrifft, so ist neben der Waldsteinsonate Langes, in der Franz Liszt als guter Geist die Goebbels-Kinder vor ihrer eigenen Mutter retten will, Dieter Kühns Künstlernovelle um Karl Philipp Moritz (1756–1793), den Schöpfer des Anton Reiser-Romans, Das Heu, die Frau, das Messer (1993) zu nennen. Sie trägt ihre Zentralmotive im Titel, so z. B. das schützende Heu, in das sich die Titelfigur gerne zurückzieht und dort sogar regelrechte Audienzen gewährt. Experimental angelegt sind dagegen Morire in Levitate (2004), eine reflexive Novelle von Marlene Streeruwitz, und Frühling (2001) von Thomas Lehr, wo von den letzten 39 Sekunden eines Sterbenden als Lebensbilanz berichtet wird. Beide Novellen sind thematisch der Bewältigung der (familiären) NS-Vergangenheit verpflichtet. Die breite Novellenproduktion der Gegenwart, aus der hier nur einige exemplarische Texte herausgegriffen werden können, erklärt sich aus der Tatsache, dass dem Formexperiment heute nicht nur keine Grenzen gesetzt sind, sondern dass es sich gerade durch die Wiederverwendung alter Formen, durch die Methoden der Parodie, aber auch des Übermalens, des Palimpsests alter Motive und Symbole als solches beweisen kann. Die Bausteine der Novellentradition bieten sich für solche Variationen aus dem Reservoir kulturgeschichtlicher Traditionsbestände geradezu an. Dass diese Varianten zwischen Novellen-Innovation und Tradition durchaus unterschiedlich ausfallen können, beweisen zwei Novellen der Gegenwart, die den Schluss des Überblicks bilden sollen. Botho Strauß’ (* 1944)
Die Experimentalnovelle der Gegenwart
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IV. Abriss zur Geschichte der deutschen Novellistik
Die traditionelle Novelle: Schweigeminute
Die Unbeholfenen (2007) ist eine experimentale, im Untertitel so genannte Bewusstseinsnovelle, die konzentriert ist auf ein Haus, einen ,künstlichen Fachwerkbau‘ als familiären Gedächtnisort, das als einziges Wohngebäude mitten in einem öden Gewerbepark liegt. In jenem merkwürdigen, fast hoffmannesken Gebäude leben seltsame Geschwister in einem eigentümlichen Rückzugsraum und -rahmen, in dem – wie bei Goethes Ausgewanderten – Geschichten, auch Varianten der eigenen Lebensgeschichten, erzählt werden. Wie bei einer Videovorführung kann hierbei das Novellenhandeln durch kurze Unterbrechungen fragmentiert werden: Den Protagonisten wird der Strom als Lebensstrom entzogen. Die Gesichter erstarren plötzlich; selbst die Mutter der Geschwister erscheint als künstliche Mutter-Imago, die Familie mutiert von der Keimzelle zur virtuellen Simulation. Nicht allein hier stößt das zeitgenössische Novellieren an seine Grenzen. Im Duktus des autorenspezifischen Kulturpessimismus erläutert die Novellenfigur Albrecht, der Hausintellektuelle der Familie, dass der Einzelne heute im Kern geschwächt sei, seine Geschichte könne keine Symbole und Leitmotive mehr herausbilden. Wie weiland der Novellentheoretiker Hermann Pongs setzt der Protagonist das archaische und novellistische Symbol gegen den gegenwärtigen Neuro-Materialismus. Das soziale Behagen und die Komfortentwicklung verhinderten heute die Geschichtsbildung aus Einzelereignissen, weil die Erlebnisfähigkeit von Subjekt und Kollektiv abgestumpft sei. An die Stelle des historischen Sensoriums träte die mediale Öffentlichkeit; die Klugheit des Einzelnen sei durch die vernetzte Schwarm-Intelligenz des Internets ersetzt worden. Im geistigen Gefolge des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) wird die Technik kritisiert und werden die Heutigen als die „größten Zuhandenheits-Artisten der Weltgeschichte“ abgekanzelt. Ja, der deutsche Geist sei in den Zeiten der Postmoderne gar von einem ausgelöffelten Joghurtbecher nicht mehr zu unterscheiden. Es ginge darum, nicht die demokratischen Ideale zu retten, sondern die Ideale vor der Demokratie. Albrecht kommt sich vor wie der „letzte Deutsche“, wie ein Deserteur, der sechzig Jahre nach Kriegsende sein Versteck verlässt und sein Land nicht mehr wiedererkennt. Im Land dieser Endzeitfantasie werden aber durchaus noch Liebes- und Landschaftsnovellen nach tradiertem Muster geschrieben, komponiert. Die überaus erfolgreiche Novelle Schweigeminute (2008) von Siegfried Lenz (* 1926) ist als Gegenstück zu Die Unbeholfenen von Botho Strauß eine klar durchkomponierte Erinnerungsnovelle. Während besagter Schweigeminute einer Totenfeier erinnert sich ein Schüler, Christian, an seine verstorbene verbotene Liebe, die Lehrerin Stella Petersen, deren novellentypisches Bild er leitmotivisch anbetet. Wie die „Husumereien“ Storms – eine Bezeichnung Fontanes für die Werke seines Freundes – ist die Handlung an der norddeutschen Meeresküste mit ihren Deichen, Kuttern sowie ihrer plattdeutschen Seemannssprache und ebensolchen Liedern verortet. Einer der Schulkameraden des Protagonisten heißt wie der Jugendfreund Tonio Krögers Hans Hansen. Wie Effi Briest und Crampas müssen sich die beiden Liebenden vor ihrer Umgebung verbergen; sie tun dies wie die beiden Romanfiguren in einem Versteck als Ort der Mitwisserschaft, der Hütte des Vogelwarts auf der Vogelinsel. Zur Novelle als thematisch tradierter und symbolisch überstrukturierter Erzählgattung fügt sich, dass Stella anknüpfend an
Die Novelle seit den 1960er Jahren
die Seefrauen von Goethe, de la Motte-Fouqué, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, Rudolf G. Binding und Dieter Wellershoff, aber auch an die Erzählung Undine geht (1961) von Ingeborg Bachmann, in ihrem grünen Badeanzug sirenenhafte Züge trägt und sie von einem Straßenmaler als Meerfrau porträtiert wird. Zum geradezu allegorisch strengen Symbolsystem der Novelle gehört überdies, dass Stella, der Augenstern des jungen Erzählers, einem Boot namens ,Polarstern‘ zum Opfer fällt, indem sie bei einem Schiffsunfall gegen eine Mole geschleudert wird, fehlgeleitet von Steinen, die ihr Liebhaber schicksalhaft mit aufhob. Das alles geschieht wie beim Fliegenden Holländer bei schwerem Wetter. Natürlich erhält die Geliebte eine Seebestattung. Das Beispiel der Schweigeminute zeigt, dass die Hinwendung zur Novelle auch heute noch eine neue Konzentration auf Komposition, auf eine symbolische Überstruktur bedeutet, die der Erzähler Lenz in seinen vorherigen Erzähltexten, etwa in Das Feuerschiff, noch vermied. Auch im 21. Jahrhundert verkündet der Novellenbegriff ein poetologisches Programm. Ob dieses Versprechen eingelöst wird, ist am Einzelfall abzulesen.
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo Kleist: kein expliziter Novellenbegriff
Die Zeitungsnachricht aus der Karibik
Kleist und der Diskurs ,Rasse‘
Wie bei vielen Erzählern des 19. Jahrhunderts gehört Heinrich von Kleists (1777–1811) eigentliche Liebe dem Drama, das bereits in der Novellenpoetik Boncianis (1574) mit der Novelle verschwistert wird. Kleist hat sich weder in seinen Dramen noch in seinen Novellen an tradierte Regeln gehalten. Auch wenn sich Novellen wie seine erotische Marquise von O… „mit Boccaccio“ (Liebrand 2000, 46) lesen lassen, also an den Maßstäben des Novellen-Klassikers schlechthin orientiert sind, kommt in der Dichtungstheorie seiner Zeit (und auch der vorgehenden Kulturepochen seit der Antike) der Gattung des Dramas der höchste Rang zu. Die Novelle Die Verlobung in St. Domingo, die den Leser in die (von Kleist selbst nie besuchte) kolonialistische Karibik führt, ist denn auch hochdramatisch. Jenseits anerkannter Gattungen ist die Novellistik Heinrich von Kleists jedoch teilweise noch in der alten Tradition der (durchaus novellenähnlichen) Mord- bzw. Geistergeschichte befangen. Dies entspricht dem „Niederschlag eines wenig entwickelten Gattungsbewusstseins seiner Zeit“ (Aust 2006, 204). Scheinbar nichtklassisch bezieht sich Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo stofflich auf die Nachrichtenlage über Sklavenaufstände im Zuge der Französischen Revolution auf der Insel Haiti, wie man sie aus den zeitgenössischen Zeitungen kannte. Im eigentlichen Wortsinn des Begriffs Novelle teilt also Die Verlobung in St. Domingo dem Leser das Neueste (der letzten zwanzig Jahre) mit. Die Novelle wird hier zur „Newen Zeitung“, wie auch schon eine deutsche Boccaccio-Übersetzung von 1561 genannt wurde. Das zeigt sich auch an der Sprache des Erzählers, der über den Geschlechtsakt zwischen den beiden Hauptfiguren feststellt, dass er ihn „nicht zu melden“ (Kleist 1984, 20) brauche, „weil es jeder, der an diese Stelle“ komme, „von selber“ (ebd.) lese. Die Geschichte als neueste Meldung erschien dementsprechend auch zuerst vom 25. März bis zum 8. April 1811 in der Zeitschrift Der Freimüthige als Fortsetzungsnovelle. Neben der Lektüre einiger zeitgeschichtlicher Bücher war Kleist wohl auch über die Presse von der karibischen Revolte unterrichtet. Susanne Zantop stellt heraus, dass „die Ereignisse in Saint Domingue auch im Bewusstsein deutscher Leser“ eine „wichtige Rolle“ spielten (Zantop 1994, 30). Deswegen kann Kleists Erzähler das Geschehen als allgemein bekannt voraussetzen: „Nun weiß jedermann, dass im Jahr 1803, als der General Dessalines mit 30 000 Negern gegen Port au Prince vorrückte, alles, was die weiße Farbe trug, sich in diesen Platz warf, um ihn zu verteidigen.“ (Kleist 1984, 4) Überdies war der preußische Offizier Kleist 1807 in demselben französischen Fort in der Nähe von Besançon interniert, in dem 1803 der haitianische Rebellenführer Toussaint eingekerkert verstarb. Die Sklavenaufstände in der Karibik in der Folge der Französischen Revolution waren eine beun-
1. Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo
ruhigende, ,unerhörte‘ Neuigkeit in der Zeit um 1800 und belebten den Diskurs über ,Rasse‘, der ohnehin in der Rechtfertigung der Revolution als Aufstand der gallischen Urbevölkerung gegen den ,germanischen Adel‘ keine unbedeutende Rolle spielte. Aufschlussreich innerhalb des Rassendiskurses ist die interkulturelle Positionierung Kleists im Vergleich zu klar antirassistischen Texten der Literatur des 19. Jahrhunderts. Ein Beispiel hierfür ist die Novelle Der König von Akim von Kleists Jugendfreund Heinrich Zschokke (1771–1848), der ebenfalls in einem Essay über die „Gesellschaft zur Vernichtung des Negerhandels“ den dreihundertjährigen Handel europäischer Christen mit sogenanntem „Menschenfleisch“, mit verratenen Afrikanern, anprangert. Bei dem Spät- und Volksaufklärer Zschokke stehen in Der König von Akim die Afrikaner als apollinische Naturmenschen dem Benehmen eines Europäers gegenüber, der mit Zopf, Puderperücke und Seidenstrümpfen für die unnatürliche Rokokokultur und ihre völlig übertriebenen Benimmregeln steht. Das Thema der Rassenauseinandersetzung ist also lange vor der Epoche des deutschen Kolonialismus in der deutschen Literatur etabliert. Aber auch nach der kurzen deutschen Kolonialzeit liefert Anna Seghers 1949 mit ihrer Erzählung Die Hochzeit auf Haiti einen ausdrücklichen Gegenentwurf zu Kleists bekannter Novelle, die auch die Position der „kleinen Weißen“, wie die Juden von den afrikanischen Sklaven genannt werden, berücksichtigt. Die Novelle Kleists handelt von einem Kampf ,Schwarz‘ gegen ,Weiß‘. Die ausgeprägte Schwarz-Weiß-Malerei der Handlung wird im Verlauf allerdings mehr und mehr verwischt. Zu Beginn der Erzählung erscheinen Gut und Böse klar verteilt. Durch die Erzählinstanz wird eine der Hauptfiguren als „ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango“ (ebd., 3) eingeführt. Das Attribut ,Neger‘ behält er im Verlauf der Handlung bei. Weil er seinem Herrn einst das Leben gerettet hatte, wurde er von diesem „mit unendlichen Wohltaten überhäuft“ (ebd.), die er aber nach Ausbruch des karibischen Aufstandes gegen die französischen Herren beantwortet, indem er
Rache und Revolution
„bei dem allgemeinen Taumel der Rache, der auf die unbesonnenen Schritte des National-Konvents in diesen Pflanzungen aufloderte,“ als „einer der ersten, der die Büchse ergriff, und, eingedenk der Tyrannei, die ihn seinem Vaterlande entrissen hatte, seinem Herrn die Kugel durch den Kopf jagte. Er steckte das Haus, worein die Gemahlin desselben mit ihren drei Kindern und den übrigen Weißen der Niederlassung sich geflüchtet hatte, in Brand“ (ebd.). Später residiert er in einer anderen Besitzung seines ehemaligen Herrn. Vielleicht sind aber auch die eingangs abgebrannten Gebäude gemeint, schließlich ist Kleists Novelle ein „Text, der erstaunliche Inkonsistenzen aufweist“ (Köhler, in: Breuer 2009, 122). Diese reichen bis zu einem zeitweiligen Namenswechsel der männlichen Hauptfigur. Ob dies einem bewusst dekonstruierenden ästhetischen Konzept Kleists oder den Gattungsspezifika zerstreuter wie zerstreuender, hastig verfasster Journalprosa geschuldet ist, bleibt offen. Ein Schweizer in französischen Diensten, Gustav (oder eben zeitweise August) von der Ried, klopft desorientiert und schutzsuchend in der „Dun-
Revolutionäre Liebe
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Verrat aus Liebe und Verrat an der Liebe
kelheit der Nacht“ (Kleist 1984, 5) an jenem Haus des „fürchterlichen“ „Neger“-Führers, der zeitweise abwesend ist, an. Congo Hoango hat in seiner „unmenschlichen Rachsucht“ (ebd., 4) sogar seiner alten Mätresse, die ihm noch von seinem alten Herrn vermittelt wurde, der Mulattin Babekan, und deren Tochter Toni, die Kleist fälschlicherweise als Mestize bezeichnet, Befehl gegeben, alle vorüberkommenden Weißen ins Haus zu locken und bis zu seiner Rückkehr festzuhalten, damit er sie umbringen kann. Toni, die überwiegend europäischer Abstammung ist, so „dass der volle Tag jenes Weltteils“ (so Babekan, ebd., 9) auf ihrem Gesicht „widerscheint“, flößt Gustav Vertrauen und eine Mischung aus Begierde und Angst ein. Das Vorgehen der Frauen ist geschickt. Sie sagen dem Schweizer offen, wem das Haus jetzt gehört, und spielen ihm vor, man begebe sich aus Sympathie für die Weißen in Gefahr. Bei einem Gespräch über die Gräuel der aufständischen Afrikaner erwähnt Gustav mit Empörung den Verrat einer Afrikanerin an ihrem ehemaligen, nunmehr verfolgten weißen Geliebten: Die tödlich an Gelbfieber Erkrankte habe ihn durch ihre Umarmung umgebracht – ein Geschehen, das novellistisch beeindruckend, aber medizinisch unmöglich ist. Er fragt Toni, ob sie auch zu solch einer heimtückischen Erotik fähig sei, was sie verwirrt verneint. Die Blicke, die Toni mit ihrer Mutter Babekan wechselt, wecken jedoch das Misstrauen Gustavs. Als Toni dem Schweizer auf seiner Kammer das Fußbad bereitet, sieht er ihre Schönheit. Sie erinnert ihn an seine Braut Mariane, die für ihren Gustav in den Wirren der Französischen Revolution (die selbst ein beliebtes Novellen- und Zeitungsthema der Zeit sind) aufs Schafott gegangen war und den Verlobten zuvor verleugnet hatte, um ihn zu retten, als er sich statt ihrer stellen wollte. Hier spiegelt sich in einem verdoppelten Erzählstrang die politische Gewalt in der Karibik mit der (ursächlichen) revolutionären Gewalt in Frankreich, vom Erzähler auch als „Wahnsinn der Freiheit“ (ebd., 14) bezeichnet. Der Name Mariane steht überdies sicher nicht grundlos für die damals schon gängige weibliche Personifikation der französischen Republik. Gewissermaßen als Ersatzbraut gibt sich Toni Gustav hin, worauf auch er sie als seine Verlobte betrachtet. Sie wird sich ebenso wie ihre Vorgängerin für ihn opfern – Greiner weist darauf hin, dass sich aus den Namen beider Frauen nicht zufällig der Doppelname Marie-Antoinette, der Name der in der Französischen Revolution hingerichteten Königin, ergibt (Greiner 2000, 429). Mit dem „Licht der Sonne“ ein gängiges Aufklärungsemblem von 1789 anrufend, schlägt sich Toni auf die Seite Gustavs und somit zu den scheinbar in vielerlei Hinsicht „hellen“ Weißen – aus Liebe und auch, weil die „Unmenschlichkeiten, an denen“ man sie „teilzunehmen zwingt“, ihr „innerstes Gefühl“ (Kleist 1984, 23) längst schon empören. Gustav will nach dieser inneren Wendung einer in der Nähe an einem Möwenweiher versteckten Gruppe schweizerischer Flüchtlinge, der Familie Strömli, für die er Nahrung und Unterkunft hatte ausfinden wollen, durch einen Brief Nachricht geben. Toni schickt den Brief ohne Wissen Babekans durch einen schwarzen Jungen weg, das novellentypische Ringsymbol soll die Glaubwürdigkeit des Boten zusätzlich bekräftigen. Währenddessen wächst das Misstrauen der Mutter Babekan gegenüber ihrer Tochter Toni, die die Gewalt der Schwarzen vor ihr beklagt. Toni heuchelt indes unbedingten Gehorsam gegen die grausamen Befehle. In der nächsten Nacht schleicht Toni
1. Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo
sich zu Gustav, möchte aber den Träumenden nicht wecken, als sie zu ihrem Entsetzen Congo Hoango zurückkehren hört. In aller Eile fesselt sie Gustav, ehe er aufwacht, und verhindert dadurch, dass er von Congo Hoango, der schon von Babekan über ihr verdächtiges Verhalten unterrichtet ist, niedergeschossen wird. Dann weiß sie die Gruppe der Weißen selbst herbeizuholen; nach kurzem Kampf werden Congo Hoango und Babekan gefesselt, seine schwarzen beiden Kinder als Geiseln festgenommen und Gustav befreit. Gustav aber glaubt sich durch Tonis Fesselung verraten. Er schießt sie nieder. Zu spät erfährt er die Wahrheit und erschießt auch sich. Die Schweizer Flüchtlinge ziehen mit den Geiseln ab, begraben Toni und Gustav und setzen ihnen in Gustavs Heimat einen Gedenkstein, mit dessen Erwähnung die Novellenhandlung schließt. Aber dieser Gedenkstein erscheint als seltsam vergänglich (Greiner 2000, 439). Ähnlich wie in Kleists Erdbeben in Chili ist auch in der Verlobung in St. Domingo nichts, wie es scheint, nichts entspricht der gängigen Erwartung. Allein der Aufstand der verschleppten Afrikaner ist unerhört, unerhört auch die durch ihn verursachte Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen den Rassen. Die ehemaligen Sklaven wohnen nun in den Herrenhäusern, die den ehemaligen Herren keinen Schutz mehr bieten können. So sieht sich der Schweizer Gustav
Wirrnis und Ohnmacht der Vernunft
„im Zimmer um; und da er gar bald, aus der Pracht und dem Geschmack, die darin herrschten, schloss, dass es dem vormaligen Besitzer der Pflanzung angehört haben müsse: so legte sich ein Gefühl der Unruhe wie ein Geier um sein Herz, und er wünschte sich, hungrig und durstig, wie er gekommen war, wieder in die Waldung zu den Seinigen zurück“ (Kleist 1984, 16). Der herrschaftliche Geschmack des europäischen Symbolraums täuscht. Im Herrenhaus der „Wilden“ wünscht sich der Europäer in die Wildnis zurück. Ungehörig sind auch die erotischen Verhältnisse. Bei den Afrikanern sind Zeugungen auf dem „unehelichen Wege“ (Kleist 1984, 6) nichts Ungewöhnliches und auch das Verhältnis zwischen Gustav und Toni ist alles andere als eine gewöhnliche Verlobung nach zeitgenössischem europäischen Maßstab. Somit ist selbst der Titel der Novelle eine Irreführung. So kann es nicht verwundern, wenn Kleists Novelle zentral eine „Verwirrung der Gefühle“, eine Verwirrung des „reflektierendes Urteils“ (Greiner 2000, 420), vor allen Dingen des Urteils der im Schiller’schen Sinn „schönen Seele“ (Kleist 1984, 41), der „treuen Toni“ (ebd., 42), thematisiert. Sie urteilt fehl über den Geliebten, durch den sie zugrunde geht, wegen eines Fehlurteils von Gustav über Toni. Ob die hier von Kleist geschilderte Verwirrung der menschlichen Urteilskraft von einer intensiven Lektüre der Philosophie Kants herrührt, ist bis heute nicht geklärt (Schulz 2007, 207). Wie in Kleists Novelle Marquise von O… ist jedoch die Ohnmacht des Menschen angesichts der Gefahren des Lebens ein wichtiges Thema. Schließlich fällt auch Gustav, nachdem sich seine erste Verlobte für ihn opferte, „aus einer Ohnmacht in die andere“, bevor er „halbwahnwitzig gegen Abend auf einen Wagen geladen und über den Rhein geschafft“ (Kleist 1984, 19) wird. Auch der die gesamte Novellenhandlung dominierende, scheinbar klare Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß wird durch allerlei Zwischentöne
Kleists verkehrte Welt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Kleists Novelle als ,unmoralische Erzählung‘
der „weiße[n] und kreolische[n] Halbhunde“ (ebd., 10), zu denen auch die tragische Heldin Toni gehört, aufgelöst. Deren Heldenhaftigkeit wird deutlich untergraben durch die Tatsache, dass sie vor dem geretteten Gustav viele weiße Flüchtlinge in den Tod lockte. Die scheinbar ehrbaren, verfolgten Schweizer drohen andererseits mit Kindsmord, um sich zu retten (ebd., 37). Wie auch in anderen Werken Kleist kann von „menschlicher und göttlicher Ordnung“ (ebd., 15) nicht mehr die Rede sein. Die Erzählung, die ursprünglich in einem Band mit dem Titel Moralische Erzählungen (einer durch den Franzosen Marmontel geprägten Gattungsbezeichnung der Aufklärungsepoche) erscheinen sollte, untergräbt durch ihre Untiefen und Widersprüche jede schlichte Moral. Ein schärferer Kontrast zur Welt in Goethes Novelle ist kaum denkbar.
2. Goethes Novelle Goethes Novellen und die Tradition
Die Wahl des Titels
Der Titel ,Novelle‘ bei Wieland, Goethe und Laube
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der Vertreter der deutschen Klassik schlechthin, hat sich erst relativ spät mit der Gattung der Novelle im Besonderen wie mit kurzen Erzähltexten im Allgemeinen beschäftigt. Er hat sich an klassischen italienischen Vorbildern wie Giovanni Boccaccio orientiert, sodass er traditionell von vielen Chronisten der deutschen Novelle, wie z. B. Benno von Wiese, fälschlicherweise als eine Art Ahnherr der Gattung angesehen wird. Ein wenig italianisiert sind auch die Figuren in der Novelle (1828): Der junge Edelmann Honorio, eine der Hauptpersonen, sollte z. B. eigentlich Alfred heißen, bis er zum ehrenhaften Italiener umgetauft wurde. Die reine Gattungsbezeichnung macht auch den Titel der vorliegenden Geschichte aus, deren am Anfang wie am Ende klar geordnete Welt mit der Weltsicht Kleists kontrastiert. „Wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ (HA Bd. 6, 1999, 744), sprach Goethe nach langen Überlegungen am 29. Januar 1827 zu seinem Vertrauten und Sekretär Johann Peter Eckermann (1792–1854). Im Gegensatz zu Kleist steht also schon die Gattungsbezeichnung des kurzen Prosatextes von vornhinein nicht nur fest, sie steht sogar allein über der Handlung. Ursprünglich war geplant, die Handlung in ein Hexameterepos zu fassen. Als Novelle erhielt die Handlung dann einiges Lob. Zumindest Johann Peter Eckermann „pries das ,geheime Gewebe‘ dieser Prosa als ,vollendete Komposition‘ und das darin waltende ,Wunder‘ als eine aus Poesie und Musik konstituierte ,höhere Wirklichkeit‘, deren Erfahrung und Anerkennung dem Menschen des ,ungläubigen neunzehnten Jahrhunderts dringend nottue“ (Otto 1995, 27). Die Gattungskategorie Novelle wird mit der Epoche der Klassik wichtig. Prosatexte sollen nicht mehr per se eine niedrige Gattung sein. Man war auf der Suche nach Mustern und wollte selbst Musterbücher verfassen. Das hatte in jener Zeit, in der sich in Deutschland der Novellenbegriff erst etablierte, schon so etwas wie eine gewisse Tradition. Goethe ist folglich nicht der einzige Autor, der sich bei einer Novelle allein mit der Gattungsbezeichnung im Titel begnügt. Schon Christoph Martin Wieland hatte in seinem Hexameron von Rosenhain eine Erzählung schlichtweg Novelle ohne Titel ge-
2. Goethes Novelle
nannt. Mit dieser in Gesellschaft vorgetragenen Geschichte hat er – so Peter Goldammer – „wohl bewusst und nachdrücklich die novellistische Form des Erzählens, und zwar an deren spanische Tradition anknüpfend, in der deutschen Literatur heimisch machen wollen“ (Wieland 1999, 183). Wieland knüpft also mit dieser durch die Titelwahl als beispielgebend herausgestellten Novelle, die in Spanien spielt und mit einem Geschlechtertausch (ein Mädchen wird für einen Jungen ausgegeben) auch ein typisches Novellenmotiv beinhaltet, unter anderem an die große iberische Novellentradition mit den sogenannten Exemplarischen Novellen des Miguel de Cervantes (1547–1633) an. Auch dass der Geschlechtertausch erfolgt, um das Erbrecht einer adligen Familie zu sichern, ist ein typisches Novellenthema, genauso wie die erotischen Verwicklungen und angedeuteten Grenzüberschreitungen, die sich aus besagter Travestie ergeben. Kurz nach Goethes Tod nennt auch der liberale Vormärz-Autor Heinrich Laube (1806–1884) im Jahr 1834 eine seiner Reisenovellen nur Die Novelle. Es gibt einige Texte dieser Gattung, die sich auf die Gattungsbezeichnung beschränken, weil sie mit einem gattungstypischen Inhalt aufwarten können. Goethes Novelle hätte auch den Titel „Der Löwe ist los“ tragen können. Der besagte Löwe wird jedoch durch einen Jungen gezähmt. Die Handlung spielt damit zunächst einmal auf alttestamentarische Stoffe wie ,Daniel in der Löwengrube‘ aus dem Buch Daniel (6) an, wo der junge, im hebräisch-monotheistischen Sinn gottesfürchtige Daniel auf wunderbare Weise von einem Löwen verschont wird, der ihn töten sollte. Auch das Christentum selbst kennt den Löwen als Symboltier des Evangelisten Markus, des Verfassers des ältesten Evangeliums. Heilige Männer, etwa der Heilige Hieronymus, vermögen wie Daniel in ihren Legenden Löwen ohne Gewalt zu zähmen. Dies zeigt sich auch in den Bildern von venezianischen Künstlern der Renaissancezeit wie Vittore Carpaccio (ca. 1455–1526), der Heiligenlegenden so illustriert, wie in der Handschrift des Johann Ohnefurcht das Dekameron bebildert wird. Der Löwe vereint als sagenhaftes (Wappen-)Tier Majestät und Bestialiät. Die dramatisch zugespitzte Novellenhandlung um den Löwen eröffnet sich dem Leser, der hier auch der Betrachter einer Landschaft als Handlungsschauplatz ist, wie ein Theaterstück. Nicht ein Vorhang, ein morgendlicher „dichter Herbstnebel“ (HA, Bd. 6, 1999, 491) muss gelüftet werden, damit sich eine Handlung, die streng nach antiker (Dramen-)Poetik genau einen Tag, einen Sonnenumlauf, andauert, entfalten kann. Auch diese aristotelische Zeitspanne spricht für die Musterhaftigkeit der Novelle, deren langwierige Konzeption über drei Jahrzehnte hinweg die langsam wachsende Dignität der Gattung in der Goethezeit widerspiegelt. Nach der alten Gattungshierarchie ist das Drama die Leitgattung der Literatur. Auf einen Tag und einen Ort ist demzufolge Goethes novellentypische wie typologische Novelle konzentriert. Dies hat freilich nicht nur poetologische, sondern auch symbolisch-weltanschauliche Gründe, denn „der Text enthält in präzisester Abbreviatur die Summe von Goethes gesamtem Denken“ (Otto 1995, 31). Der Dichter formulierte es in einem Brief aus dem Jahr 1829 an Christoph Ludwig Friedrich Schultz wie folgt: „Indeß gereicht es mir zur angenehmsten Empfindung, daß die Novelle freundlich aufgenommen wird; man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde meines Wesens losge-
Das Löwensymbol in der christlichen Bilderwelt
Goethes Novelle als Konzentrat seiner Weltanschauung
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
(Dis-)Harmonie durch freundliche Fremde
löst hat.“ (HA, Bd. 6, 1999, 745) Goethes klassische Auffassung von der versöhnenden Kraft der Kunst fließt in die Handlung ebenso ein wie seine Novellentheorie, sein ständestaatliches politisches Ideal, seine Sympathie mit einer sogenannten ,neptunistischen‘ Theorie der Entstehung der Landschaft aus Wasser und Meer, sein bildhaftes Denken und auch seine Symbolauffassung, die auf dem (scheinbaren) Paradoxon des „Geheimnisvoll-Offenbaren“ aufbaut. Die symbolische Komposition der Natur und der sich in ihr abspielenden menschlichen und tierischen Handlung verdichtet das Gesamtbild. Die Handlung ist – ganz dem Paradigma Boccaccios (und Boncianis) folgend – klar skizziert: Ein Fürst reitet auf die Jagd und lässt seine junge Gattin unter Obhut des Oheims Friedrich und des jungen Edelmanns Honorio zurück. Oben und unten sind in der hier dargestellten Welt klar aufeinander zugeordnet. Das Vergnügen des Adels darf auch ein wenig auf Kosten seiner Untertanen erfolgen: „man hatte sich vorgenommen, weit in das Gebirg hineinzudringen, um die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen.“ (HA, Bd. 6, 1999, 492) Zwischen der Jagd – Goethe bezeichnet die Novelle in einer Notiz nach einem Bildgenre als „romantisches Jagdstück“ –, Stadt, Burg und einer Ruine entfaltet sich das Geschehen. Der Oheim legt der Fürstin Pläne und Zeichnungen der Stammburg vor, die eine Ruine ist; als sie über den bunten Markt dorthin reiten will, hat der Oheim visionäre Ahnungen eines kommenden Unglücks. Er hat vor Jahren einen Brand der Jahrmarktsbuden erlebt. Auf dem Markt fallen die Grauen erregenden Gemälde eines Tigers und eines Löwen auf, die wesentlichen Tiersymbole des Textes werden hier bildhaft eingeführt. Neben die italienische, geradezu klassische Tradition der ,novella‘ treten volkstümliche Traditionen zwischen Mordgeschichte und bebilderter Moritat, was im Text selbstreflexiv und autopoetologisch erwähnt wird. So sagt der alte Fürst: „Drinnen liegt der Tiger ganz ruhig in seinem Kerker, und hier muss er grimmig auf einen Mohren losfahren, damit man glaube, dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen; es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang: die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen.“ (HA, Bd. 6, 1999, 493) Die Gefahr, die dem Schwarzen auf dem Bild droht, ereilt in der Handlung später den Adel. Zunächst jedoch erreichen Fürstin und Gefolge die Ruinen und genießen die Herbstlandschaft wie eine Kulisse. Da bemerken sie Feuer auf dem Markt und reiten zurück, der Oheim mit dem Knecht voraus, die Dame mit Honorio. Die Käfige der Menagerie haben sich in der Verwirrung geöffnet und sie begegnen einem Tiger, den Honorio tötet, als das Tier die Fürstin erreicht hat – zum Jammer seiner orientalisch anmutenden Besitzerin und ihres Jungen, die sofort herbeieilen. Der Fürst, der den Brand beobachtet hat, trifft mit seinem Jagdgefolge ein und steht „vor dem seltsamen unerhörten Ereignis“ (HA, Bd. 6, 1999, 499), das Goethes Novellenreflexion versinnbildlicht. Auch der Besitzer der Menagerie erscheint und fleht, den ebenfalls ausgebrochenen Löwen nicht zu töten: Sein Sohn werde das Tier durch Flötenspiel besänftigen. Der gemeinsame Gesang der drei Fahrenden übt auf die Zuhörer eine wunderbare Beruhigung aus. Der Junge kann dem Löwen sogar einen Dorn ausziehen. Das Kind lockt den Löwen mit seinem
2. Goethes Novelle
Flötenspiel in einen Hof der Burgruine, wo man das Tier festhalten wird, bis der Käfig eingetroffen ist. Die lyrische Kunst von Lied und Musik und nicht die grobe Gewalt siegt über die rohen Kräfte der Natur. Das ästhetische Spiel bezähmt wie in Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) die rohen Triebe. Goethe formuliert die „Aufgabe dieser Novelle“ in einem Gespräch mit Eckermann vom 18. Januar 1827 wie folgt: „Zu zeigen, wie sich das Unbändige, Unüberwindliche, oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde.“ (HA, Bd. 6,1999, 731) Goethes engster Freund Friedrich Schiller beschwor diese Kraft der Kunst in seinem Gedicht Die Macht des Gesanges: „Wer kann des Sängers Zauber lösen,/Wer seinen Tönen widerstehn?/Wie mit dem Stab des Götterboten/Beherrscht er das bewegte Herz.“ Da sich Goethes gesamte Weltanschauung, auch seine Naturphilosophie, im Text symbolisch verdichten, ist die Beschreibung der Landschaft, die als Schauplatz dient, genauso wichtig wie die der handelnden Personen. Ein Konzept der Harmonie verbindet beide – die Landschaft, die der Wahlheimat Goethes, dem Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, nicht unähnlich ist, wie die handelnden Personen, die als aristokratische Herrscherschicht über jene Landschaft regieren. Fürst und Fürstin sind als handelndes Paar „erst vor kurzer Zeit zusammen getraut“; sie empfinden „schon das Glück übereinstimmender Gemüter“. Wie in der Landschaft, in der sich Stadt und Land ergänzen, so sind auch beide Personen „von tätig lebhaftem Charakter, eines nahm gern an des andern Neigungen und Bestrebungen Anteil. Des Fürsten Vater hatte noch den Zeitpunkt erlebt und genutzt, wo es deutlich wurde, dass alle Staatsglieder in gleicher Betriebsamkeit ihre Tage zubringen, in gleichem Wirken und Schaffen jeder nach seiner Art erst gewinnen und dann genießen.“ (HA, Bd. 6, 1999, 491) Wie bei Herrschern traditionell üblich, geht das Private in das Politische über. Goethes Erzählfluss spiegelt diesen Sachverhalt. Dies erfolgt in einem fast mittelalterlichen Sinn: Wenn die Untertanen auf dem Markt finden, „dass die erste Frau im Lande auch die schönste und anmutigste sei“ (ebd.), dann zeigt sich die Legitimität der Herrschaft auch in äußerer Schönheit. Die persönliche Harmonie des Herrscherpaares spiegelt sich in der sozioökonomischen Harmonie des von ihm beherrschten Landes wider. So „ist es […] gar angenehm zu denken, wie hier, wo Gebirg und flaches Land aneinandergrenzen, beide so deutlich aussprechen, was sie brauchen und was sie wünschen.“ (HA, Bd. 6, 1999, 491) Diese Harmonie, die an Vorstellungen des Philosophen Leibniz (1646–1726) erinnert, durchzieht die gesamte in der Novelle dargestellte Welt; sie zeigt sich bildhaft im Gefüge von Marktwirtschaft und Jahrmarkt. Löwe und Tiger werden als losgelassene Jahrmarktstiere in eine funktionierende Welt einbrechen. Diese ,unerhörte Begebenheit‘ im Sinne seiner Novellentheorie wird in der dramatisch gestalteten Novelle durch Goethe schon zu Beginn angedeutet: „aber eins muss doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muss brüllen, wenn die Fürstin an der Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit des gewaltigen Thiers anstellen lassen kann“ (Goethe am 31. Januar 1827 im Gespräch mit Eckermann, in: HA, Bd. 6, 1999, 744). Der alte Fürst hatte schon in seiner Herrschaftszeit ver-
Die Macht des Liedes
Fürstliche und natürliche Harmonie
Die gesunde wirtschaftliche Basis
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
sucht, im Sinne der kameralistischen Wirtschaftstheorie des 18. Jahrhunderts sein Land ausgleichend zu ordnen: „Wie sehr dieses gelungen war, ließ sich in diesen Tagen gewahr werden, als eben der Hauptmarkt sich versammelte, den man gar wohl eine Messe nennen konnte. Der Fürst hatte seine Gemahlin gestern durch das Gewimmel der aufgehäuften Waren zu Pferde geführt und sie bemerken lassen, wie gerade hier das Gebirgsland mit dem flachen Lande einen glücklichen Umtausch treffe; er wusste sie an Ort und Stelle auf die Betriebsamkeit seines Länderkreises aufmerksam zu machen.“ (HA, Bd. 6, 1999, 491) Der Ständestaat als klassisches Ideal
Die Landschaft als Konfliktfeld
Das bannende Bild
Das Harmonieideal der Klassik ist bei der Skizzierung des deutschen Kleinstaats in Goethes Novelle durchaus politisch getönt. Wie die stark novellistisch strukturierten Wahlverwandtschaften (1809) hat die Novelle ein aristokratisches Milieu. Dies geht zwar traditionellen Vergnügungen wie der Jagd nach, zeigt aber ökonomische Verantwortung in der Arbeit für das Gemeinwesen und dessen wirtschaftliche Entwicklung (HA, Bd. 6, 1999, 492). Der protestantischen Erwerbsethik des neuen bürgerlichen Zeitalters entspricht es, dass alle „erst gewinnen und dann genießen sollen“ (HA, Bd. 6, 1999, 492). Hier hat Goethes Novelle neben der klassischen Form und Weltanschauung und ihren romantischen Landschaftsbildern durchaus eine realistische Komponente. Im Zeitalter der Restauration nach dem Wiener Kongress von 1815 erfolgt eine wirtschaftspoltische Erneuerung des feudalen Ständestaates bei Beibehaltung der Adelsherrschaft. Das Staatsgebäude wird nicht nur wirtschaftlich erneuert. In der geplanten Erneuerung der „uralten Stammburg“ (HA, Bd. 6, 1999, 500), die noch von einer kraftvollen Natur und ihren Bäumen überwuchert und in der später der Löwe als Natursymbol durch die Kunst des flötenspielenden Knaben überwältigt wird, ist die stetige Erneuerung des Staatswesens, dem das harmonische Herrscherpaar anvertraut ist, symbolisiert. Dass diese Restauration in der Restaurationsepoche nach dem Ende Napoleons beschworen wird, ist sicherlich kein historischer Zufall. Erneuerung hat die Stammburg denn auch tatsächlich nötig, denn es fällt auf, wie „Wurzelarten zwischen das Mauerwerk verflochten und die mächtigen Äste durch die Lücken durchgeschlungen sind! Es ist eine Wildnis wie keine, ein zufällig einziges Lokal, wo die alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur sich in dem ernstesten Streit erblicken lassen“ (HA, Bd. 6, 1999, 501). Natur erobert die Zivilisation, wie die Kunst am Ende der Novellenhandlung die Natur bändigen wird. Jene das Menschen- und Mauerwerk gefährdende Wildnis soll nur als ästhetische Landschaft im Sinne des Philosophen Joachim Ritter distanziert genossen werden: „Nun haben wir manches getan, um diese Wildnis zugänglicher zu machen, denn mehr bedarf es nicht, um jeden Wanderer, jeden Besuchenden in Erstaunen zu setzen, zu entzücken.“ (ebd.) Wie die Nebelschwaden zu Beginn, so erinnert dieser abgehobene Landschaftskonsum an die genießende Haltung der Romantiker, etwa an Gemälde von Caspar David Friedrich (1774–1840) wie Der Wanderer über dem Nebelmeer (1817). Schon vorher hatte sich die Fürstin ihrem Land äu-
2. Goethes Novelle
ßerst distanziert durch den Teleskopblick genähert, der auch in E. T. A. Hoffmanns Sandmann den Blick auf die Realität entfremdet. „Sie fand das treffliche Teleskop noch in der Stellung, wo man es gestern Abend gelassen hatte, als man, über Busch, Berg und Waldgipfel die hohen Ruinen der uralten Stammburg betrachtend, sich unterhielt, die in der Abendbeleuchtung merkwürdig hervortraten, indem alsdann die größten Licht- und Schattenmassen den deutlichsten Begriff von einem so ansehnlichen Denkmal alter Zeit verleihen konnten.“ (HA, Bd. 6, 1999, 501) Schon die Lichtverhältnisse lassen das Land, das im Sinne von Harsdörffers Barocknovellen zum Schauplatz wundersamer Ereignisse mit wilden Tieren werden soll, als wild-romantische Kulisse erscheinen: „Auch zeigte sich heute früh durch die annähernden Gläser recht auffallend die herbstliche Färbung jener mannigfaltigen Baumarten, die zwischen dem Gemäuer ungehindert und ungestört durch lange Jahre emporstrebten“ (HA, Bd. 6, 1999, 502). Die beste Methode, um die Welt zu bannen, ist ihre bildhafte Erfassung, was auch in den überwältigenden Gemälden von Tiger und Löwe auf dem Markt versucht wird.: „Zur Bude näher gelangt, durften sie die bunten, kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit heftigen Farben und kräftigen Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche Staatsbürger zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte.“ (HA, Bd. 6, 1999, 494). Der politische Bezug der (später wirklich) entfesselten Bestie wird hier durch den eigentlich nicht ganz passenden Begriff des Staatsbürgers betont. Der Fürst jenes Staates lässt seinerseits auch die durch die pflanzliche Natur überwucherten Ruinen durch Gemälde erfassen. Das dankt er „dem wackern Künstler, der uns so löblich in verschiedenen Bildern von allem überzeugt, als wenn wir gegenwärtig wären“. Wie der Junge mit seinem Flötenspiel den Löwen in seinen Bann zieht, so hat auch der Maler „die schönsten Stunden des Tages und der Jahreszeit dazu angewendet und sich wochenlang um diese Gegenstände herumbewegt“ (HA, Bd. 6, 1999, 494). Der alte Fürst gibt dem Künstler deswegen auch einen Platz in seiner Herrschaft, denn in „dieser Ecke ist für ihn und den Wächter, den wir ihm zugegeben, eine kleine, angenehme Wohnung eingerichtet“. Von dort hat er den Überblick, denn die junge Fürstin soll „nicht glauben, […] , welch eine schöne Aus- und Ansicht er ins Land, in Hof und Gemäuer sich dort bereitet hat! Nun aber, da alles so rein und charakteristisch umrissen ist, wird er es hier unten mit Bequemlichkeit ausführen. Wir wollen mit diesen Bildern unsern Gartensaal zieren, und niemand soll über unsere regelmäßige Parterre, Lauben und schattigen Gänge seine Augen spielen lassen, der nicht wünschte, dort oben in dem wirklichen Anschauen des Alten und Neuen, des Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen und des Frischen, Schmiegsamen, Unwiderstehlichen seine Betrachtungen anzustellen“ (HA, Bd. 6, 1999, 500). In diesem Bild im Bild sollen also die Zeit („das Alte und Neue“), verschiedene Bewegungsformen wie verschiedene Qualitäten der Materie, die das Land als kleine Welt (Mikrokosmos) bestimmen, zusammengefasst werden. Das Bild ist ein komprimierter Symbolraum für die große Welt, wie sich
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Der Einbruch des (Stör-)Feuers
auch in der Novelle eine ganze Welt konzentrieren soll. Im novellistischen Schau-Spiel der Bilder der wilden Tiere auf dem Jahrmarkt wie der Landschaftsgemälde wird die Kunst als Nachahmung im Sinne der Poetik des Aristoteles, als Mimesis der Natur, vielschichtig thematisiert. Pflanzen wie Tiere sind zwei symbolische Seiten dieser Natur. Beide müssen durch Klugheit und Kunst eingedämmt und gelenkt werden. Denn aus der schönen Kulisse erwachsen düstere Ahnungen, Erwartungen von Unheil: „Leider nun erneuerte sich vor dem schönen Geiste der Fürstin der wüste Wirrwarr, nun schien der heitere morgendliche Gesichtskreis umnebelt, ihre Augen verdüstert; Wald und Wiese hatten einen wunderbaren, bänglichen Anschein.“ (HA, Bd. 6, 1999, 496) Die Natur fungiert in Goethes Landschaftsschilderungen anscheinend als Spiegel der Seele, was durchaus zum genannten Gemäldegenre des ,romantischen Jagdstücks‘ passt. In diese geordnete Welt zwischen Markt, Landschaft und Herrschaftssitz bricht nun das Feuer ein, das Markt und Stadt gefährdet, obwohl „in der Stadt wie auf dem Schloss […] die Feueranstalten in bester Ordnung“ (ebd.) sein sollen. Dieser Umschlag der Handlung vollzieht sich jäh im Anschluss an eine Landschaftsbetrachtung der jungen Fürstin: „,Es ist nicht das erstemal‘, sagte die Fürstin, ,dass ich auf so hoher, weitumschauender Stelle die Betrachtung mache, wie doch die klare Natur so reinlich und friedlich aussieht und den Eindruck verleiht, als wenn gar nichts Widerwärtiges in der Welt sein könne […]. Honorio, der indessen durch das Sehrohr nach der Stadt geschaut hatte, rief: ,Seht hin! seht hin! auf dem Markte fängt es an zu brennen!‘“ (HA, Bd. 6, 1999, 505)
Ein Wendepunkt zur Mittagsstunde
Für manche Interpreten handelt es sich hierbei um ein symbolisches Feuer des Umsturzes, das nach dem Wiener Kongress von 1815, der die Umwälzungen nach der Französischen Revolution von 1789 beenden sollte, gefürchtet war. Nicht zufällig bricht der kleine Weltenbrand in der Stadt, der Kulisse menschlicher Politik, aus. Das Element des (reinigenden) Feuers hilft den wilden Tieren, also Tiger und Löwe, aus der Kontrolle auszubrechen. Dies geschieht nicht nur in der Mitte der Novellenhandlung, sondern in der magischen Mitte des Tages vor einer gut ausgeleuchteten Szenerie: „Die Sonne beinahe auf ihrer höchsten Stelle, verlieh die klarste Beleuchtung; das fürstliche Schloss mit seinen Teilen, Hauptgebäuden, Flügeln, Kuppeln und Türmen erschien gar stattlich, die obere Stadt in ihrer völligen Ausdehnung; auch in die untere konnte man bequem hineinsehen, durch das Fernrohr auf dem Markte sogar die Buden unterscheiden.“ (HA, Bd. 6, 1999, 505) Die Idylle, das schöne Bild des Staates, ist trügerisch, denn es ist die Stunde des Mittagszaubers, der den sprichwörtlichen panischen Schrecken auslösen kann: „Über die große Weite lag eine heitere Stille, wie es am Mittag zu sein pflegt, wo die Alten sagten, Pan schlafe und alle Natur halte den Atem an, um ihn nicht aufzuwecken.“ (ebd.) Zu dieser Stunde, der Stunde des Pan mit seinem wilden Gefolge, vollzieht sich der Wendepunkt des Geschehens, die Peripetie. Dass der einerseits schreckliche, zottelpelzige griechische Hirtengott Pan andererseits als ruhiger Flötenspieler abgebildet wird, ist sicher kein Zufall. Der Gott ist mit seinen Bocksbeinen ein sinnbildliches Mischwesen aus Mensch und Natur, den Gegensätzen, die in Goethes Novelle versöhnt wer-
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den sollen. Die beiden Bestien werden jedenfalls zu seiner Tageszeit entfesselt. Zuerst jagen alle dem schon recht lahmen Tiger hinterher. Dem jungen Heißsporn Honorio gelingt es, ihn zu töten. Diese gewaltsame Form der Naturbeherrschung wird jedoch von den Besitzern der Tiere, einer „Wärterin“ und einem „Knaben“, kritisiert. Sie sind als Außenseiter an einer „reinlich anständigen, doch bunten und seltsamen Kleidung“ (HA, Bd. 6, 1999, 507) erkennbar. Die Wärterin wirft dem Adligen Honorio vor, den Tiger „ohne Not“ ermordet zu haben. Nachdem das Jagdgefolge des Fürsten eingetroffen ist, hält auch der Vater des Knaben, der ebenfalls „bunt und wunderlich gekleidet“ ist, „mit anständigem Enthusiasmus“ eine Art Verteidigungsrede und Totenklage auf die getötete Bestie. Der Enthusiast ist in der Romantik ein Mensch mit schöner Seele. Auf ebenso schöne Weise bittet der Vater und Löwenhalter um Gnade für den ebenfalls entflohenen Löwen:
Pantheistische Lehrmeister aus dem Orient
„Gott hat dem Fürsten Weisheit gegeben und zugleich die Erkenntnis, dass alle Gotteswerke weise sind, jedes nach seiner Art. Seht den Felsen, wie er fest steht und sich nicht rührt, der Witterung trotzt und dem Sonnenschein! Uralte Bäume zieren sein Haupt, und so gekrönt schaut er weit umher; stürzt aber ein Teil herunter, so will es nicht bleiben, was es war: es fällt zertrümmert in viele Stücke und bedeckt die Seite des Hanges.“ (HA, Bd. 6, 1999, 508) Der entfesselte Löwe ist eingebunden in eine sinnvolle Gesamtordnung der Natur, deshalb darf er nicht vernichtet werden. Hier wird die von dem niederländisch-jüdischen Philosophen Baruch Spinoza (1632–1677) inspirierte pantheistische Weltanschauung Goethes, die das göttliche Wirken in der gesamten Natur sieht, einem weisen Fremden in den Mund gelegt. Die Rede des Orientalen ist „in freie Rhythmen gefasst, lässt mannigfaltige Bezüge zur ,hebräischen Poesie‘ erkennen und hebt sich in Gedankenführung, Bildstruktur und Rededuktus von der Sprache der übrigen Figuren entscheidend ab“ (Otto 1995, 55). Der Löwe seinerseits liegt indes seit einiger Zeit schon oben auf der Burgruine „bedenklich im Sonnenschein“ (HA, Bd. 6, 1999, 508). Mit seinen naturphilosophischen Ausführungen kann der Orientale den deutschen Fürsten überreden, diesen König der Tiere mit Musik in einen alten Burghof und dann in einen „beschlagenen Kasten“ (HA, Bd. 6, 1999, 509) zu locken. Mit Blick auf seine Gemahlin erlaubt der Fürst diese Fangmethode. Er reitet mit seiner Frau und den anderen zu seinem Herrschaftssitz, während der junge Tigertöter Honorio zurückbleibt. Dann erklingt das Beschwichtigungslied des schwarzlockigen Knaben. Es hat eine ursprüngliche, deswegen auch (scheinbar) gesetzlose Gestaltung: „Das Kind verfolgte seine Melodie, die keine war, eine Tonfolge ohne Gesetz, und vielleicht eben deswegen so herzergreifend; die Umstehenden schienen wie bezaubert von der Bewegung einer liederartigen Weise.“ (HA, Bd. 6, 1999, 510) Die lyrische Kunst, die hier wirkmächtig wird, entspricht sowohl dem romantischen Ideal der Volkstümlichkeit wie dem klassischen Ideal der Anmut und stillen Größe: „Aus den Gruben, hier im Graben/Hör ich des Propheten Sang;/Engel schweben, ihn zu laben,/Wäre da dem Guten bang?/ Löw und Löwin, hin und wider,/Schmiegen sich um ihn heran;/Ja, die sanf-
Der Triumph des Liedes über die Gewalt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Bestie und kindliche Unschuld
Goethes Vision einer interkulturellen Weltenharmonie
ten, frommen Lieder/Habens ihnen angetan!“ (HA, Bd. 6, 1999, 511) Diese gebundene Rede bändigt das ungebundene Leben. Mit ihren achtzeiligen Strophen, Trochäen und Kreuzreimen entspricht sie sowohl dem Formenkreis der deutschen Klassik wie der Tradition des evangelischen Kirchenlieds. An letztere Kunstgattung erinnern auch die Erwähnung biblischer Propheten und Engel und das verwendete Attribut „fromm“. Das Symbolsystem der Novelle geht hier über in die christlich-jüdische Sphäre. Dieser Bezug eröffnet sich ebenfalls in den Zeilen des Löwen bändigenden Gesangs, in denen die göttlichen Tugenden beschworen werden: „Denn der Ewge herrscht auf Erden/Über Meere herrscht sein Blick;/Löwen sollen Lämmer werden,/Und die Welle schwankt zurück./Blankes Schwert erstarrt im Hiebe,/Glaub und Hoffnung sind erfüllt;/Wundertätig ist die Liebe,/ Die sich im Gebet enthüllt.“ (ebd.) Neben dem biblischen, fabelhaften und legendären Symboltier des Löwen tritt hier ein weiteres religiöses Symboltier auf: das Lamm. Es verweist auf Jesus Christus selbst, der als das ,Lamm Gottes‘ verehrt wird, das die Sünde der Welt hinweg nimmt und diese so endgültig befriedet. Die Herrschaft des göttlichen Kindes ist eine sanfte: So „geschah es hier, und wirklich sah das Kind in seiner Verklärung aus wie ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener zwar nicht wie der Überwundene, denn seine Kraft blieb in ihm verborgen, aber doch wie der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene“ (HA, Bd. 6, 1999, 731). Die Kunst überwindet das Rohe, indem der von ihr Überwältigte seinen eigenen friedlichen Willen entdeckt, das gilt für Löwen wie für Menschen. Am Ende herrscht volles Vertrauen zwischen Mensch und Kreatur, wenn der Löwe, dem sich in der Wildnis „ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen“ hat, sich bittend „mit einiger Beschwerde“ dem erlösenden Flötenspieler nähert und „ihm die schwere rechte Vordertatze auf den Schoß“ legt, um geheilt zu werden“ (HA, Bd. 6, 1999, 512). Das fremde, bunt-orientalisch gekleidete Kind wird hier zum barmherzigen Samariter an der leidenden Kreatur. In seiner auch in seinem Gesang thematisierten prophetischen Macht liegt in einem jesuanischen Sinne beinahe ein Gottesbeweis verborgen. Die Tierbesitzer und -bändiger stammen – wie an ihrer Aufmachung sichtbar wird – aus dem biblischen Morgenland. Dort wurde der Babylonier-König Darius von Neidern Daniels gedrängt, ein Gesetz zu erlassen, das die Anbetung von Göttern außer ihm bei Androhung der Todesstrafe verbieten soll. Weil Daniel dies nicht befolgt, wird er in die Löwengrube geworfen, die der König selbst versiegelt. Am anderen Morgen ist er noch am Leben: „und man fand keine Verletzung an ihm, denn er hatte seinem Gott vertraut.“ Daraufhin lässt der König Daniels Feinde töten und erlässt ein Gesetz, das die reichsweite Achtung des biblischen 1. Gebots festschreibt: „Er ist der lebendige Gott, der ewig bleibt, und sein Reich ist unvergänglich und seine Herrschaft hat kein Ende.“ (Daniel 6, 24–27) Überdies kann noch ein weiterer Bezug zur jüdischen Überlieferung angenommen werden. So heißt es bei dem Propheten Jesaja (ca. 740–701 v. Chr.): „Kalb und Löwe mästen sich gemeinsam, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen lagern beisammen; der Löwe frisst Stroh wie das Rind“ (Jesaja 11, 6 f.). Diese althergebrachte Vision soll sich in Goethes
3. Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe
Novelle erfüllen, womit sich auch ihre Gattungsgrenzen zum biblischen Gleichnis öffnen. Der schlichtende Auftritt morgenländischer Menschen ist zur Goethezeit nichts Ungewöhnliches. Er erinnert etwa an das Singspiel Die Entführung aus dem Serail (1782) von Goethes Lieblingskomponist Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791), in dem der weise muslimische Konvertit am Schluss alle dramatischen Konflikte löst und die Gefangenen eines Harems in die Freiheit entlässt. Auch bei Goethe werden die Menschen am Schluss der Novelle von der Angst befreit. Das Lied und das Flötenspiel des Knaben erinnern aber auch an den Orpheus-Mythos und an eine weitere Oper Mozarts: Die Zauberflöte (1791), zu der Goethe einen zweiten Teil schrieb. Auch hier besiegt die „holde Flöte“, bei deren „Spielen selbst wilde Tiere Freude fühlen“, als magisches Instrument die Bestien und die Bestie Mensch. Gewichtig ist ebenfalls, dass die Vertreter der Weisheit aus dem Orient stammen, mithin auch zwei Erdteile, der zupackende Okzident wie der bunt-verspielte Orient, miteinander versöhnt werden sollen. Dieser Umstand fügt sich zu Goethes fast gleichzeitig entstandener Gedichtsammlung West-östlicher Divan (1817–1827), in der er die islamische Kultur für sich und die deutsche Literatur entdeckte. So versöhnen sich in Goethes Novelle am Schluss eines dramatischen Tagesumlaufs Mensch und Natur, Hof und Volk, Stadt und Land und westlicher Zweckrationalismus mit östlicher Weltweisheit. Goethe selbst hat als Minister, der die Finanzen seines Herzogtums ebenso beaufsichtigte wie die Landschaftsgestaltung, als Naturforscher, als Musikfreund wie als Ethnologe die in der Novelle ausgebreiteten Aspekte selbst in sich vereinigt. Gerade deshalb ist dieses kurze Werk eine Zusammenfassung seiner Weltanschauung wie seiner Lebenswelt. Die Novelle ist in ihrer nur zwischenzeitlich gestörten Ausgewogenheit auch als Gegenentwurf zur Novellistik der Restaurationskritik zu verstehen, etwa zu Heinrich Zschokkes Satire Hans Dampf in allen Gassen (1814), in der die kleinstaatliche Welt, die Goethe harmonisiert, ironisiert wird. Noch deutlicher ist jedoch die Abgrenzungsbewegung des optimistisch klassischen, „romantischen Jagdstücks“ von der pessimistisch-düsteren Fantastik der Märchennovelle, etwa von Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797), wo ein Lied tödliche Aggressionen gegen ein Tier weckt und die Titelfigur dem Wahn verfällt. Im Gegensatz dazu ist Goethes Novelle als ein systematischsymbolisches Schauspiel aufzufassen, das die Natur von Mensch, Pflanze und Tier nicht allein nachbildet oder gar verkehrt, sondern sie – im Sinne des zweiten Weimarer Klassikers Schiller – durch die Kunst auf eine höhere Ebene hebt, dem Ideal entgegen.
3. Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe Nicht nur die Handlung ist in Goethes paradigmatischer Novelle als ,unerhörte Begebenheit‘ hochsymbolisch, die ganze Landschaft wird zu einem malerischen Symbolraum. Auch der Schweizer Gottfried Keller (1819–1890), ein enger Freund des erwähnten Paul Heyse (1830–1914) und des norddeutschen Erzählers Theodor Storm (1818–1888), deutet Landschaften symbolisch. Wie Goethe in seiner Weltschau des „Geheimnisvoll-
Der Maler Keller
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Realistische Bilder mit romantischen Nachklängen
Offenbaren“ baut er die Novellenhandlung von Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) bildhaft in die Bedingtheiten eines Landschaftsraums zwischen Acker, Wald und Fluss, Stadt und Dorf ein. Dies ist einerseits nicht verwunderlich, hatte Keller doch, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte, in den Jahren 1840–1842 ein Kunststudium in München absolviert. Sein malerisches Hauptwerk hat den Titel Heroische Landschaft (1841/42). Es ist ein Gemälde mit Waldungen, gewittrigen Wolkenformationen und schroffen felsigen Bergen, die Erhabenheit im Sinne Friedrich Schillers verkörpern. Erstaunlich ist – oberflächlich betrachtet – jedoch die Konzentration des Symbolischen in der Landschaft angesichts der Epoche des Realismus, der Kellers Werk im Gegensatz zu Goethes Novelle zugeordnet wird. Berthold Auerbach hält zur Gesamtkomposition von Romeo und Julia auf dem Dorfe fest: „Das Landschaftliche wie das Menschenleben, Empfindung und Schicksal, das langsam Genetische wie das plötzlich sich Entfaltende ist mit gleicher künstlerischer Innigkeit behandelt.“ (Auerbach, in: Hein 1971, 39) Der Schritt vom Bild zum Text ist in diesem Kontext leicht getan. Aber nicht das rein Abbildhafte, ein Konzept des Real-Idealistischen (Friedrich Theodor Vischer) prägt die ästhetische Konzeption der realistischen Kunstperiode, die in der deutschen Literaturgeschichte von der Zeit um die Revolutionen von 1848 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, als ihre wichtigsten Vertreter sterben. Das schließt Nachklänge der Romantik nicht aus. Kellers realistische Geschichte von der unglücklichen Liebe im Spannungsfeld zweier verfeindeter Bauernfamilien ist leitmotivisch durchzogen von der Gestalt eines schwarzen Geigers. Dieser hat angeblich ein Erbrecht auf den Acker, der als „Unglücksfeld“ die Ursache des Streites ist. Der Acker ist das Zentralmotiv, der ,Falke‘, der Novelle. Sein potenzieller Besitzer, jene geheimnisumwitterte, gleichsam mephistophelische Gestalt begleitet als dämonischer Künstler in der Tradition romantischer Paganini-Figuren die Titelfiguren fiedelnd in ihren Liebestod. Kellers Schriftstellerkollege Berthold Auerbach stellte in einer Kritik vom 17. April 1856 anhand dieser Randfigur den Unterschied zwischen realistischer und romantischer Kunstauffassung und Novellistik heraus: „Es sei mir gestattet, hier noch auf den Unterschied hinzudeuten, den diese Behandlung des gewählten Stoffes von der Romantik unterscheidet. Ein Romantiker hätte in der Lust an dem Vagabundarischen den schwarzen Geiger, der als Heimatloser um sein Vatergut betrogen wird, zum Helden gemacht. Der realistische Dichter wählt das Liebespaar, das sich bürgerlich und gemütlich retten will und doch in den Untergang verfällt.“ (Auerbach, in: Hein 1971, 40)
Tragische Liebe mit Nachrichtenwert
Ganz im Sinne des bürgerlichen Kunstanspruchs des Realismus ist die Handlung nicht mehr wie noch die Novelle Goethes von adeligen Handlungsträgern, ihrer höfischen Etikette und der Jagd als spielerischer Landschaftseroberung bestimmt. Zur Jahrhundertmitte ist die Ständeklausel aufgehoben, auch und gerade in tragischen Handlungen, wie Friedrich Hebbels Dramen belegen. Dies kommt schon im Titel der Novelle Kellers zum Ausdruck, die einen traditionell patrizischen Tragödienstoff Shakespeares mit einem rechtschaffen arbeitenden bäuerlichen Milieu verbindet, das seit Jahrhunderten in der Literaturgeschichte eher mit komischem Grobianismus als mit tra-
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gischen Helden verbunden wurde. Und tragisch ist das klar umrissene Handlungsschema. Ähnlich wie die Handlung von Goethes Novelle, so ist auch der Plot von Keller klar strukturiert. Er geht auf ein tatsächliches Ereignis zurück, von dem Keller aus der Züricher Freitagszeitung vom 3. September 1847 erfuhr. Da sie im Text erwähnt wird, setzt die Meldung den deutenden Rahmen für die Novellenhandlung, vergleichbar der schon im Dekameron vorgegebenen Kurzfabeln. Die Zeitungsnotiz lautet: „Sachsen. – Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.“ (Hein 1971, 93) Die Dorfgeschichte handelt – fußend auf Aktualität wie Tradition – von einem unsterblich verliebten jungen Paar. Die beiden heißen hier – anknüpfend an Figuren des Schweizerischen Erzählers und Pastors Jeremias Gotthelf – Sali und Vrenchen. Die Feindschaft der Eltern trennt sie, die hier nicht wie bei Shakespeare Patrizierkinder in Verona, sondern schwyzerischer Landwirtsnachwuchs sind. Sie wählen schließlich als Ausweg aus der Not, die diese Feindschaft bewirkt, den Selbstmord. Die Familienfehde der oberitalienischen Patrizier war im Spätmittelalter begründet in einem Konflikt zwischen der Papstpartei und der Kaiserpartei (Guelfen und Ghibellinen). In der ländlichen Schweiz des 19. Jahrhunderts bricht in der Kinderzeit des späteren Liebespaars ein (Rechts-)Streit zwischen ihren Vätern, den Bauern Manz und Marti, über das Besitzrecht an einem verwilderten kleinen Acker aus, der dem besagten schwarzen Geiger zugeschrieben wird. Diese Auseinandersetzung bringt beide um einen Großteil ihres Besitzes und Ansehens. Manz sucht schließlich einen Ausweg aus den Prozessschulden, indem er in die nahe gelegene Stadt Seldwyla zieht. Aus diesem Grund müssen sein Sohn Sali und Martis Tochter Vrenchen ihre Freundschaft aufgeben. Getrennt für annähernd neun Jahre müssen die Heranwachsenden den schleichenden Ruin ihrer Familien, der sich auch in der schleichenden Ruinierung der Familienwohnsitze symbolisch niederschlägt, erleben. Dann folgt eine Wiederbegegnung der verfeindeten Väter, die zum Wendepunkt des Bauerndramas wird, bei dem die beiden Kinder sich in ihrer Liebe erkennen. Die ehemaligen Nachbarn treffen sich unverhofft an gegenüberliegenden Seiten eines Baches, an dem sie Fische fangen wollen. Sofort beschimpfen sich die Männer heftig, während Sali und Vrenchen sich scheu und neugierig beobachten. Erst als bei einem ausbrechenden Gewitter, durch das die Natur zum Spiegelbild ihrer Feindschaft wird, die Väter sich mit Fäusten schlagen, müssen die Kinder eingreifen. Sie schlichten den Streit ihrer völlig aus der Rolle gefallenen Väter und finden in dem Moment zueinander. Dass die beiden verarmten Landwirte sich beim Angeln trafen, ist kein Zufall. Die relativ nutzlose und – was gerade in der calvinistischen Schweiz bedenklich ist – müßiggängerische Tätigkeit symbolisiert ihren wirtschaftlichen Niedergang. Dieser Nie-
Familienzwist und Niedergang
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Der Wendepunkt zur Liebe
Kellers Liebende: Außenseiter der Dorfgesellschaft
Zwei Sozialsysteme: Stadt und Land
dergang geht mit einem Würde- und Ansehensverlust in der kleinen Dorfgemeinschaft einher. Würdelos ist auch ihre Schimpferei, bei der sie sich als „Hund“ und „Kalb“ (Keller 2002, 30) titulieren, mithin durch abwertende Sprachsymbole entmenschlichen. Wenn der Erzähler einen der Väter als „Tiger, der den Bach entlang springt“ (ebd.), umschreibt, greift er überdies auf die auch in Goethes Novelle verwandte Tiersymbolik zurück, ohne deren Erhabenheit zu übernehmen. Auf dem Steg ist jede Distanz überwunden, der regelhafte Rechtsstreit mündet in eine regellose Rauferei. Diese Peripetie ist ganz der aristotelischen Novellentheorie Boncianis gemäß mit einem Umschlag zu Wissen und Erkenntnis hin verbunden: Zum Ende der Kampfszene deutet sich bereits die aufkeimende Liebe von Vreni und Sali an, die sich als Streitschlichter und somit als Erwachsene gegenüber der ungezügelten Wut ihrer kindisch gewordenen Väter erwiesen haben. Die Novelle ist in diesem Zusammenhang auch eine Coming-of-ageGeschichte wie später viele US-amerikanische Kurzgeschichten. Der Auslöser der jungen Liebe ist der Moment, in dem sich beider Hände berühren. Die symbolische Natur spielt – durchaus im Sinne Goethes – mit: Ein Riss in den drohenden Gewitterwolken erlaubt einen Lichtstrahl auf ihre Gesichter und ihre Blicke treffen sich. Die beiden geben „sich aber […] schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen feucht und kühl waren“. (Keller 2002, 33) Sie sind dabei „totenstill“, was ihr tragisches Ende als kalte Leichen in eben jenem Wasser antizipiert. In der Novelle als symbolisch überstrukturierter Erzählgattung kreuzen sich hier die Handlungsstränge und Emotionen. Im Niedergang aber sind beide Generationen begriffen. Der ökonomische Verfall geht dem geistigen Verfall in die völlige Sinnlosigkeit voraus. Sechs Wochen nach dem Streit muss Vreni ihren Vater ins Irrenhaus einliefern. Marti hatte das junge Paar überrascht. Als er seine Tochter Vreni tätlich angriff, schlug ihn Sali mit einem Stein nieder. Er erwacht als Debiler und Sali hat mit dem Steinschlag das mögliche Glück mit Vreni zerstört: „Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer Ehe sein und wir beide nie sorglos werden, nie!“ (Keller 2002, 52) Martis Anwesen wird nun zwangsversteigert. Der Weg für die junge Liebe ist frei, aber es ist ein Weg in den Tod aus Verzweiflung und Not. Die beiden Liebenden sind zu den Außenseitern der Gesellschaft geworden, die ihre Väter vor Jahren einst nur verachten konnten. Sali und Vreni schmücken sich, gehen auf ein Fest, tanzen mit fahrendem Volk, das vom besagten schwarzen Geiger angeführt wird, und lassen sich dann gemeinsam ins Wasser gleiten. Der topologische Liebestod bewahrt das flüchtige Gefühl. Diese unerhörte Begebenheit wird als neueste Nachricht in einer Zeitungsnotiz verewigt. Die Novelle von Gottfried Keller erschien 1856 in Buchform. Sie ist eingebunden in den Novellenkranz Die Leute von Seldwyla, der in und um eine nichtexistente Schweizer Kleinstadt angesiedelt ist. In diesem Zyklus behandelt Keller ein prototypisches schweizerisches Milieu jener Zeit. Mal behandelt die Sammlung eher eine städtische Gesellschaft wie in Kleider machen Leute, mal ist das ländliche Umland Thema. Die Stadt ist in Romeo und Julia auf dem Dorfe weniger gemütlicher Schauplatz wie in anderen Werken Kellers als vielmehr eine Drohkulisse. Sie ist im Gegensatz zum Dorf der Ort, wo die verderbliche Geldwirtschaft des neuen kapitalisti-
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schen Zeitalters schon Einzug gehalten hat. Auch die Ökonomie ist in Kellers realistischer Perspektive weniger harmonisch als im klassischen Weltbild Goethes: So „waren es die Spekulanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieser Handel ein gefundenes Essen war, und bald hatte jeder der Streitenden einen Anhang von Unterhändlern, Zuträgern und Ratgebern hinter sich, die alles bare Geld auf hundert Wegen abzuziehen wussten“. Die gelderfahrenen Städter ziehen den Dörflern das Geld aus der Tasche: Diese „ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch jahraus, jahrein in alle fremden Lotterien, deren Lose massenhaft in Seldwyla zirkulierten“ (Keller 2002, 18). In die entfremdete Welt der Stadt zieht ein aus seiner angestammten Rolle gefallener Mensch, der Freundlichkeit um des Kapitals willen nur noch heucheln kann: „Es ist immer betrüblich anzusehen, wenn ein ehemaliger Landmann, der auf dem Felde alt geworden ist, mit den Trümmern seiner Habe in eine Stadt zieht und da eine Schenke oder Kneipe auftut, um als letzten Rettungsanker den freundlichen und gewandten Wirt zu machen, während es ihm nichts weniger als freundlich zu Mut ist.“ (Keller 2002, 23) Der zugrunde liegende Novellenstoff geht einen umgekehrten Weg: von der Stadt aufs Land. Drei Stoff- und Gattungskomplexe werden schon im Titel deutlich: Das Werk pendelt interdiskursiv zwischen dem tragischen Drama, altitalienischer Novellistik und der im 19. Jahrhundert populären Gattung der Dorfgeschichte. In Kellers Werk treffen die Konflikte der hohen Kunst auf ein immer niedriger sinkendes soziales Milieu. Thematisch ist die Novelle einerseits William Shakespeares (1564–1616) Tragödie An Excellent Conceited Tragedie of Romeo and Juliet von Liebe und Tod zweier Veroneser Patrizierabkömmlinge verpflichtet, die 1597 gedruckt wurde. Mit diesem Stoffkomplex ist aber auch die altitalienische Novellistik verbunden, die ihrerseits Shakespeare als Stofflieferant diente. Über eine französische Version von Pierre Boaistuau (ca. 1520–1566), der auch die Novellensammlung Heptameron der Margarete von Navarra herausgab, hatte Shakespeare wohl den altitalienischen Novellenstoff kennengelernt. Der in Lebensführung und Werk recht weltliche Dominikaner Matteo Bandello (ca. 1485–2561) ist neben Luigi da Porto (1485–1529) der bekannteste Renaissancenovellist, der den Stoff der Liebenden prägte, die ein Familienzwist entzweit, bevor sie ihn im Tod überwinden. „Im 17. Jahrhundert kursierten auch in Deutschland zahlreiche Romeo-und-Julia-Erzählungen. Nach dem Rezept barocker Poetologie enthielten sie stets eine moralische Nutzanwendung im Sinne des Prodesse und delectare.“ (Hein 1995, 9) Wenn man an die Lehre, die Keller in der Erstausgabe am Schluss der Novellenhandlung zieht, denkt, dann könnte man seine realistische Romeo-und-Julia-Version durchaus in diese Tradition stellen. Dem Stoffkomplex verwandt ist sowohl die vorgelagerte unglückliche Liebe von Tristan und Isolde im französischen und deutschen Hochmittelalter als auch das spätere Libretto des Musicals West Side Story (UA 1957) von Leonard Bernstein, in dem die verfeindeten Sippen in New Yorker Jugendgangs unterschiedlicher ethnischer Herkunft umgewandelt wurden. Romeo und Julia auf dem Dorfe selbst diente übrigens als thematische Vorlage für eine gleichnamige impressionistische Oper (UA Berlin 1907) des deutsch-englischen Komponisten Frederick Delius (1862–1934).
Der Romeound-Julia-Stoff
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Kellers Novelle und die Dorfgeschichte
Realismus, Zeitungswesen und Moritatenballade
Der Zusatz ,auf dem Dorfe‘ suggeriert einen Bezug zur Lebenswelt und zur damals relativ neuen Gattung der Dorfgeschichte, die neben Heinrich Zschokke (Das Goldmacherdorf, 1817) im 19. Jahrhundert von Berthold Auerbachs (1812–1882) Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843–1854) geprägt wurde. Auerbach, der das dörfliche Leben als Jude aus einer relativen Außenseiterperspektive betrachtete und präzise dokumentierte, war mit Keller gut bekannt und erfand zu Kellers Novelle Das Fähnlein der sieben Aufrechten, die das Leben wackerer Revolutionäre beschreibt, den Titel. Er veröffentlichte Kellers Novelle in Berthold Auerbach’s deutschem Volks-Kalender von 1861. Insofern war für Keller das Urteil Auerbachs über seine Novellen durchaus bedeutsam. Auerbach monierte jedoch den bildungsbürgerlichen Verweis auf Shakespeare, der mit seiner Vorstellung einer Dorfnovelle nicht übereinstimmte. Explizite moralische Schlussfolgerungen aus der Handlung beurteilte er in der Allgemeinen Zeitung vom 17. April 1856 ebenso kritisch wie ihre Rechtfertigung aus der Tagesaktualität, also Kellers an präzise datierte altitalienische Vorbilder anknüpfender Verweis auf die Novelle als neueste Nachricht: „er hat an den Schluss dieser Erzählung und sogleich an den Anfang der nächsten die Versicherung gestellt, dass sie ,durchaus nicht etwa erfunden seien‘, sondern ,auf einem wahren Vorfall beruhen‘. Das ist kurzweg gesagt ein Philisterzopf. Wozu sollen diese Versicherungen der bloßen Wirklichkeit? […] Es kommt in der realistischen Dichtkunst, die vom Leben ansetzt, nur darauf an, dass die innere Wahrheit und Notwendigkeit sich herausarbeite.“ (Auerbach, in: Hein 1971, 38) Für Auerbach ist die symbolische Verkörperung des Gesetzmäßigen zentral für die Dichtung nach realistischen Prinzipien, nicht das Abbilden, der literarische Text als erweiterte Agenturnachricht mit didaktischer Absicht. Er übersieht bei dieser Kritik jedoch die Tradition der faktenorientierten Chroniknovelle. Diese Untergattung ist vorgeprägt etwa durch die aus einer italienischen Renaissance-Chronik übernommene Novelle Die Cenci (1839) des Franzosen Stendhal. Paradigmatisch sowie künstlerisch vorbildlich ist die Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe für Auerbach aber durch ihre Nähe zum Lied, das schon Herder als archetypisch für die Dichtung wie für die Mentalität des jeweiligen Volkes, das es hervorbringt, ansah. Kellers eigener Versuch, das Ereignis als episches Gedicht in Verse zu formen, scheiterte 1849. Das Schwanken zwischen Vers und Prosa in der Bearbeitung des Stoffes erinnert an die Entstehung von Goethes Novelle. Auerbach hält diesbezüglich fest: „Diese Geschichte ist wie ein erweitertes Volkslied. […] Durch diese ganze Geschichte tönt es wie die alte Volksweise: „Es hat ein Knab ein Mädchen lieb,/Sie liefen heimlich von Hause fort,/Es wußt’s nicht Vater noch Mutter./Sie liefen weit ins fremde Land,/Sie hatten weder Glück noch Stern, Sie sind verdorben, gestorben.“ (Hein 1971, 38) Auch die Erzählinstanz selbst baut in ihrem ursprünglichen ,fabula docet‘, einer „Degen-Parade gegen die Philister“ (Friedrich Theodor Vischer in: Allgemeine Zeitung, 26. Juli 1874), eine Nähe zu Moritat und Ballade auf: „Das gleichgültige Eingehen und Lösen von ,Verhältnissen‘ unter den gebildeten Ständen von heute, [ist] zehnmal widerwärtiger, als jene Unglücksfälle, welche
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jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die Schreibtafeln der Balladensänger füllten.“ (Hein 1971, 21) Wie der Kampf mit der Bestie in Goethes Novelle, der auf Jahrmarktstafeln festgehalten wird, so wird auch die Grundkonstellation der unglücklichen jungen Liebe bildlich fixiert und durchströmt als Leitthema die verschiedensten Medien und literarischen Gattungen. Im Spezifischen der schweizerischen Dorfwelt spielt sich ein allgemeingültiges Schauspiel ab, was der ursprünglich breit angesetzte, erläuternde novellentypische (Deutungs-)Rahmen bekräftigt. Die leicht über- und durchschaubare Lebenswelt des Dorfes mit ihren klaren sozialen Konstellationen und ihrer sozialen Kontrolle wird in Kellers Novelle zur typischen kleinen Welt in der großen Welt, zum symbolischen Mikrokosmos des Menschlichen. Von Auerbach über Ludwig Anzengruber (1839–1889), Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) bis zu Ludwig Thomas (1867–1921) Lausbubengeschichten oder zu türkischen Gegenwartsautoren wie Yasar Kemal (* 1923) spannt sich die Geschichte dörflicher Milieuschilderungen in novellistischer Kurzform. Bei Keller wird eine solche Geschichte erzählt, „zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.“ (Keller 2002, 3) Romeo und Julia haben hier keine Renaissancekostüme an, was übrigens im Zuge des literarischen Historismus von Conrad Ferdinand Meyer, Isolde Kurz (Die Vermählung der Toten, 1890) oder Gertrud von Le Fort einer Novellenmode des (Spät-)Realismus entspräche. Die Helden tragen Bauerngewänder. Die sauberen Bauernkleider wie die gepflegten Äcker der Väter stehen gleich zu Beginn der Handlung für die zunächst geordnete Welt der handelnden Figuren. Am Schluss verkörpert der Niedergang der äußeren Erscheinung den sozialen Abstieg: Marti „sah sehr wild und liederlich aus, sein grau gewordener Bart war seit Wochen nicht geschoren, und er sah aus wie ein recht böser verlorener Bauersmann, der sein Feld verscherzt hat und nun geht, um andern Übles zuzufügen“ (Keller 2002, 35). In dieser klar systematisierten Zeichenordnung ist auch der dämonische schwarze Geiger ein schon äußerlich klar erkennbarer Gegenpol zu den sich selbst und ihre Welt beherrschenden beiden Bauern: „In der Tat trug der Kerl, der vor ihnen herstrich, eine Geige mit dem Bogen unter dem Arm und sah übrigens schwarz genug aus; neben einem schwarzen Filzhütchen und einem schwarzen rußigen Kittel, den er trug, war auch sein Haar pechschwarz, so wie der ungeschorene Bart, das Gesicht und die Hände aber ebenfalls geschwärzt; denn er trieb allerlei Handwerk, meistens Kesselflicken, half auch den Kohlenbrennern und Pechsiedern in den Wäldern und ging mit der Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bauern irgendwo lustig waren und ein Fest feierten.“ (Keller 2002, 40) Diese Gegenwelt der liederlichen Lieder stabilisiert die Welt der Pflicht. Das bekannte Eingangsbild typisiert jedoch die noch scheinbar stabile Ordnung des bäuerlichen Lebens: Die pflügenden Väter, Manz und Marti, kreisen an einem Sommermorgen „ruhevoll“ über ihre Äcker: „es war schön anzusehen in der stillen goldenen Septembergegend, wenn sie so auf der
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Höhe aneinander vorbeizogen, still und langsam, und sich mälig voneinander entfernten, immer weiter auseinander, bis beide wie zwei untergehende Gestirne hinter die Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu erscheinen.“ (Keller 2002, 3 f.) Die einfachen Bauern erinnern hier an Helios auf dem Sonnenwagen. Sie stellen auf der Realebene typische Vertreter ihres Standes „dieser Gegend dar, und man hätte sie auf den ersten Blick nur daran unterscheiden können, dass der eine den Zipfel seiner weißen Kappe nach vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen hatte.“ (ebd., 4) Im Schweizerland des 19. Jahrhunderts ziehen auch die Kleinen symbolisch an einem Strang, nämlich „ein grünbemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder der beiden Pflüger, ein Knabe und ein kleines Ding von Mädchen, gemeinschaftlich den Vormittagsimbiss heranfuhren“ (ebd., 7). In der äußeren Gleichheit versinnbildlichen sich sowohl die ständische Egalität wie der persönliche Gleichklang der Männer wie ihrer Kinder. Zwischen ihnen liegt topografisch wie im übertragenen Sinn der die sinnbildliche Symmetrie störende verwilderte Acker, der einer ebenso verwilderten Gestalt, dem schwarzen Geiger, der als Nachkomme von sozial gescheiterten Bauern aus der geistlichen und weltlichen Ordnung der Taufscheine und des Erbrechts gefallen ist, zugeschrieben wird. Das Unkrautfeld wird zur Verwilderung der beiden gradlinigen Ackermänner beitragen. Auch die im ursprünglichen Schlussfazit der Erstausgabe von 1856 erwähnte Verwilderung der Leidenschaften der jungen Liebenden nimmt ihr ehemaliger Kinderspielplatz als natursymbolischer Ort von Familiengedächtnis und Prophetie vorweg. Weder die pflanzliche noch die menschliche Natur sind in Kellers ,realistischem‘ Symbolsystem so gut beherrschbar wie in Goethes ,klassischer‘ Novelle. Am mangelnden Willen zur Form kann es nicht liegen. Ein „wunderbarer Sinn für Symmetrie und parallele Linien“ (ebd., 4), der Manz erfüllt, wird vielmehr dazu beitragen, dass beide Landmänner den geraden Weg verlassen. Marti hat sich nämlich ein Dreieck aus dem endlich von Manz offiziell erworbenen Acker herausgeschnitten. Die Symmetrie der ländlichen Lebenswelt wird so symbolisch durchkreuzt. Auch die Kinder sind von Anbeginn der Handlung an verbunden. Sinnfällig wird das vom gelernten Maler Keller durch ein Spiel mit einer grausam entstellten Puppe verdeutlicht. Es antizipiert, dass aus dieser Verbindung kein neues Leben, kein gemeinsamer Nachwuchs, sondern der gemeinsame Tod erwachsen wird. Nach dem neunjährigen Niedergang ist dann auch die Welt der Väter nur noch eine Sphäre des „verwilderten“ Lebens, bebildert durch die Symbolräume ihrer verwilderten Gärten und Häuser, die zu Sinnbildern des sittlichen wie wirtschaftlichen Untergangs ihrer Bewohner werden: „An dem offenstehenden Scheunentor, wo einst die Früchte des festen Landes eingefahren, hing schlechtes Fischergeräte, zum Zeugnis der verkehrten Wasserpfuscherei; auf dem Hofe war nicht ein Huhn und nicht eine Taube, weder Katze noch Hund zu sehen; nur der Brunnen war noch als etwas Lebendiges da, aber er floss nicht mehr durch die Röhre, sondern sprang durch einen Riss nahe am Boden über diesen hin und setzte überall kleine Tümpel an, so dass er das beste Sinnbild der Faulheit abgab.“ (ebd., 36 f.)
3. Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe
Kein menschliches Gesinde und keine Haustiere können in solchen Häusern mehr genährt werden, auch das Wasser im Brunnen, der schon in der Bibel ein Symbol des Lebens ist, wird nicht mehr in rechte Bahnen gelenkt. Durch ihre sinnstiftende Bilderordnung wird Kellers Novelle zum verdichteten ,Sinngedicht‘, wie später ein Novellenkranz Kellers genannt wird. Während sich die Väter voneinander entfernt haben, vollziehen ihre einander treu gebliebenen Kinder die alte, vorgezeichnete, harmonische, geradezu kosmische Bahn auf dem verlorenen Grund der Väter auch räumlich noch einmal nach: „sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still, glückselig und ruhig, so dass dieses einige Paar nun auch einem Sternbilde glich, welches über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging, wie einst die sicher gehenden Pflugzüge ihrer Väter“ (ebd., 40). Durch ihre Liebe sind sie noch nicht aus der Bahn geworfen wie die Eltern. Als geradezu klischeehafte Unglücksfigur sagt der schwarze Geiger indes den beiden ihren Untergang als gerechte Strafe für den sozialen Verfall seiner eigenen Familie voraus. Dieses drohende Ende wollen die Liebenden noch einmal bei einem symbolischen, aus der Zeit und ihren Notwendigkeiten gefallenen simulierten Hochzeitsfest vergessen machen. Sie täuschen in einem fremden Dorf soziale Gleichrangigkeit durch saubere Kleidung vor. Vreni erzählt einer Bäuerin, der sie Möbel verkaufen musste, von einem sagenhaften Lottogewinn ihres Bräutigams. Nur in der Fiktion finden die Verlorenen noch eine Zuflucht. Als Seldwyler, die von ihrer sozialen Lage wissen, sie entdecken, fliehen sie in einen Raum, der außerhalb dieser sozialen Ordnung liegt, dorthin, „wo das arme Volk sich lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören“. Kellers entlegener Symbolraum, ein Pavillon mit Rokokoputten, trägt den Namen „Paradiesgärtlein“ (ebd., 74), was an den Aufenthalt Marias in mittelalterlichen Gemälden erinnert. Das Paradies ist der Gegenraum des Realen. In dieser Gegenwelt ist der schwarze Geiger der arme Spielmann der Ausgestoßenen. Mit dem nichtbürgerlichen Musikantentum wird er, „der sich bald bei den Heimatlosen aufhält, bald in den Dörfern zum Tanz aufspielt“ (ebd., 7), zusätzlich verbunden durch die Vermutung, dass „er ein Enkel des Trompeters ist, der freilich nicht weiß, dass er noch einen Acker hat“ (ebd.). Er ist zwar ähnlich exotisch und künstlerisch begabt wie Goethes Flötenknabe in der Novelle; in Kellers bürgerlichem Realismus kommt dem heimatlosen fahrenden Volk aber keine helfende Funktion zu. Der mit der Todesfarbe Schwarz gekennzeichnete Musikant ist im Gegenteil der Übermittler von drohendem Tod und Verderben: „Ich kenne euch, ihr seid die Kinder derer, die mir den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen, wie gut ihr gefahren seid, und werde gewiss noch erleben, dass ihr vor mir den Weg alles Fleisches geht!“ (ebd., 41) Hier setzt Keller die dramen- wie novellentypische Technik der Vorwegnahme des Unheils (Antizipation) ein. Der Geiger will am Ende die Liebenden auf die Seite der Gesetzlosigkeit ziehen, was ihnen im Innersten widerstrebt: „Das Gefühl, in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu können“, war in Sali „ebenso lebendig wie in Vrenchen“ (ebd., 77). Der schwarze Geiger vollzieht mit ihnen dennoch die zeichenhafte Travestie einer kirchlich-bürgerlichen Trauungszeremonie. Dann führt der Zug der Ausgestoßenen zum symbolischen Ursprungsort von Handlung und Konflikt, den besagten Äckern.
Der schwarze Geiger: die Gegenwelt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Der tragische Liebestod
Sie werden ein „wahrer Blocksberg […] auf der stillen Höhe“ (ebd., 83). Auch hier wird das realistisch gezeichnete Sozialsystem der dörflichen Unterschicht ergänzt durch implizite Vergleiche und explizite Metaphern, diesmal durch volksmythologische Bezüge zum Hexenglauben. Auch dieser ist eine imaginäre Gegenwelt. Durch ihre Sozialisation können die sozial deklassierten jungen Liebenden nicht unter den Ausgestoßenen leben. Auch ihr Freitod fügt sich ins Symbolsystem der Novelle (vgl. Stocker 2007, 60 ff.). Ein an jenem Ufer, an dem sie einander einst begegneten, angebundenes Boot wird ihnen zum „Brautbett“ (Keller 2002, 87). Sie lassen sich im wahrsten Sinne des Wortes treiben: Das Element des Wassers, das sie einst wie die antiken Liebenden Hero und Leander in Schillers Ballade trennte, nimmt sie am Ende vereint auf. Auch hier spielt als Zeichensystem der sozialen wie schicksalhaften Notwendigkeit der Verweis auf den festgelegten Verlauf der Gestirne seine Rolle: „Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.“ (ebd., 86 f.) Das novellistische Erzählen gliedert gattungstypisch „die erzählte Welt in eine symbolische Struktur, in der kaum ein zufälliges Detail, ein nebensächlicher Umstand Platz finden“ (Koebner 1990, 207). Die realistische Novelle lebt vom Gleichklang von präzise dargestellter sozialer Bedingtheit und der permanenten symbolisch-deutenden Überhöhung des Geschehens, die den Alltag und damit auch seine Menschen im Sinne eines bürgerlichen Humanismus nobilitiert. Das bürgerliche Ideal der „Vermehrung ihres Eigentums“ (Keller 2002, 79) scheitert sowohl bei den Vätern wie bei den Kindern an sich selbst – die Prozesse, die das Eigentum vergrößern sollen, untergraben dieses spekulativ und spektakulär. Wenigstens das emotionale Kapital der großen, todesüberwindenden Liebe, die tragische Würde, die traditionell den oberen Schichten vorbehalten war, bleibt den Titelfiguren Gottfried Kellers erhalten. So werden sie von Sali und Vreni zu ,Romeo und Julia auf dem Dorfe‘ geadelt.
4. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel Hauptmann: weitere Kunstformen
Die Keller’sche Motivkonstellation von (symbolischem) Acker und dörflicher Lebenswelt, umgeben von einer ebenso symbolisch aufgeladenen Landschaft, trifft man auch in der dreißig Jahre später, 1888, erschienenen Novelle Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann (1862–1946). Im Gegensatz zu dem poetisch überhöhten Namen Seldwyla, nach Kellers sprachgeschichtlicher Herleitung ein ,wonniger Ort‘, trägt das Dorf der Geschichte hier allerdings den recht prosaischen Namen ,Schön-Schornstein an der Spree‘. Es ist zudem kein gewachsener Ort, sondern eine geplante Kolonie. Während Goethe mit seinem Titel Novelle eine Gattungsbezeichnung wählte und somit seinen Erzähltext ins Paradigmatische erhob, wählt Hauptmann den Untertitel ,Novellistische Studie‘. Durch diese programmatische Gattungsbezeichnung wird gleich auf zwei Aspekte Bezug genommen, zunächst auf die Nähe einer kurzen Novellette zur zeichnerischen
4. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
Studie, etwa zu Aquarellstudien, wie sie auch Goethe und Adalbert Stifter realiter geschaffen haben. Andererseits verweist die Bezeichnung ,Studie‘ auf die Fallstudien der sich zeitgleich durch Pioniere wie Wilhelm Wundt (1832–1920) gerade erst als vollgültige Wissenschaft etablierenden Psychologie. Noch die Novelle Die Ermordung einer Butterblume (1910) des Psychiaters Alfred Döblin besitzt ähnliche Züge. Überdies klingt in der Gattungsbezeichnung aber auch die Soziologie als grundlegende Wissenschaft des Naturalismus an (vgl. Mahal 1994, 218). Dies ist bekanntlich die künstlerische Strömung, der das Hauptwerk Hauptmanns, z. B. das international bekannte Sozialdrama Die Weber (UA 1892), gemeinhin zugerechnet wird. Gerhart Hauptmann wurde in Obersalzbrunn (Schlesien) geboren, absolvierte eine Malerlehre und verlegte sich wie Jahrzehnte vor ihm Gottfried Keller auf ein akademisches Malerstudium in der damals äußerst renommierten Kunststadt München. Zwischen 1881 und 1885 war er als Bildhauer aktiv und studierte Geschichte an der Universität Jena. Das Novellistisch-Bildhafte in Hauptmanns Künstlerbiografie baut folglich nicht allein auf der Malerei, sondern auch auf einer Ausbildung im plastischen Bereich auf. Prägend für Bahnwärter Thiel ist jedoch die malerische Strömung des Impressionismus, die zur Entstehungszeit des Werkes gerade aus Frankreich, etwa mit den noch umstrittenen Gemälden von Claude Monet (1840–1926) und Edgar Degas (1834–1917), nach Deutschland kam. Der flüchtige Eindruck (Impression) ersetzt in dieser Form der Weltabbildung ein statisches Bildsystem mit allegorischer Ordnung und somit ist die Bildwelt einer ,novellistischen Studie‘ eine andere als die von Goethes Novelle. In der irisierenden Natur- und Farbsymbolik des Bahnwärter Thiel zeigt sich die Tendenz zur Auflösung der novellentypischen Gattungs-Bausteine unter der diskursiven Einwirkung von Impressionismus und Darwinismus in einer neuen Novellenform, was später von Arthur Schnitzler weiterentwickelt wird. Dies ist auch eine Absetzbewegung von den novellistischen Historiengemälden C. F. Meyers (1825–1898) und Wilhelm Raabes (1831–1910), die bildnerisch eher an den Malerfürsten des 19. Jahrhunderts wie Makart als an die Avantgarde anknüpfen. Der bedeutendste Maler des innovativen Impressionismus in Berlin war Hauptmanns Generationsgenosse Max Liebermann (1847–1935), dessen Gemälde vom offiziellen Kaiserreich ebenso als „Rinnsteinkunst“ abgelehnt wurden wie die sozialkritische naturalistische Literatur. Der schlesische Gastwirtsohn Hauptmann, der nur zwei Jahre nach dem Erfinder der Falkentheorie Paul Heyse im Jahr 1912 den Literaturnobelpreis erhielt, hatte also wie Gottfried Keller auf verschiedenen Gebieten künstlerische Ambitionen, was sich auch in der Bildwelt wie in der erzählerischen Plastizität seines ersten bedeutenden Prosawerks niederschlägt. Wie in Romeo und Julia auf dem Dorfe schildert die Novelle den Niedergang von Alltagsmenschen. Die Handlung ließe sich wie Georg Büchners (1813–1837) Erzählung Lenz (erschienen 1839), die erst in der Zeit des Naturalismus wirklich entdeckt wurde, mit einem Satz zusammenfassen: ,Ein Mensch wird wahnsinnig.‘ Diesmal jedoch kommt den handelnden Personen keine tragische Fallhöhe zu, obwohl sie in tiefe Sinnlosigkeit abstürzen. Die Handlung „führt uns aus der heilen Welt eines in sich gesunden Lebens in die Heillosigkeit eines völligen inneren Zerfalls und lässt uns so auf eine
Hauptmann: Soziologie und Darwinismus
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Liebeskonflikt zwischen toter und lebender Frau
bedrückende Weise die Übermacht des Zerstörerischen über das Heile und Heilende erfahren“ (Zimmermann 1985, 67). Trotz allen Verfalls fallen die in jeder Hinsicht schlichten Figuren Hauptmanns nicht wirklich tief. Nicht genialische Dichter des Sturm und Drang wie Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) oder italienische Patrizier der Renaissance, sondern ein simpler Bahnmeister erscheint in der naturalistischen Kleinwelt, die Hauptmann zeichnet, als Leitbild und nahezu unerreichbare Bezugsgröße und Karriereziel. Der Bahnwärter Thiel wird vor allem als ein nach dem Rhythmus der Technik funktionierender Funktionsträger vorgestellt. Er ist ein Wärter: eine Bezeichnung und Kennzeichnung eines Mannes durch seinen Beruf. Er ist aber auch ein Wärter seines Jungen, der letztendlich versagt, obwohl er – um die Gefahren der Technik wissend – seine gleichgültige neue Frau deutlich vorwarnt: „,Pass auf …‘, rief Thiel ihr nach, von plötzlicher Besorgnis ergriffen, ,pass auf, dass er den Geleisen nicht zu nahe kommt.‘ Ein Achselzucken Lenes war die Antwort.“ (Hauptmann 1986, 29) Nach außen erscheint der Wärter zu Beginn der Novelle als ein gelassener, ordentlicher, stämmig-schwerfälliger, gottesfürchtiger Mann. Dieser erleidet dann durch den Tod seiner geliebten Frau Minna, der Mutter des bereits erwähnten Jungen Tobias, einen schweren Schicksalsschlag. Der Erzählton, in dem dies wiedergegeben wird, verbleibt aber geradezu demonstrativ lapidar: „An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet; das war das Ganze.“ (ebd., 3) Selbst die tragischsten Einschnitte des Alltags werden ohne Anklänge an die heroische Tragödientradition in Hauptmanns Sozialstudie schlicht und distanziert dokumentiert. Auch die Titelfigur taugt nicht zum enthusiasmierten tragischen Helden: „Es war die allgemeine Ansicht, dass ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahegegangen sei.“ (ebd., 4) Nunmehr konzentriert sich all seine Liebe auf das Kind, das bereits ebenso unterentwickelte Züge aufweist wie sein Erzeuger. Das Motiv des grenzdebilen Kindes erinnert an Storms zeitgleich veröffentlichtes Spätwerk Der Schimmelreiter. Theoreme eines ins Soziale übertragenen Darwinismus (Über die Entstehung der Arten von Charles Darwin war 1859 erschienen) scheinen hier wie dort als Spezifika der naturalistischen bzw. spätrealistischen Weltsicht auf. Der kleine Beamte Thiel sucht sich vor allem aus Sorge um sein Söhnchen eine neue Frau, was er gegenüber dem kritisch nachfragenden Dorfpfarrer auch eingesteht: „Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.“ (ebd.) Seine Wahl fällt auf Lene. Auch sie ist keine Julia-Gestalt, ebenfalls kein hübsches Vrenchen, sondern eine korpulente, egoistische und herrschsüchtige Frau. So ist „ihr Gesicht ganz so grob geschnitten wie das seine, nur dass ihm im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging“ (ebd., 5). Die Dorfnachbarn entmenschlichen sie durch eine neutralisierende Geschlechtszuweisung als „das Mensch“ (ebd.) oder nennen sie „das Tier“ (ebd.). Die Eheschließung folgt denn auch nicht einem gleichsam romantischen Liebedideal, sondern erfolgt aus pragmatischen Gründen. Soziale Präzision siegt hier über das Ideal der Liebesnovelle. Auch der zweiten Ehe entspringt ein Kind, das von seiner leiblichen Mutter gegenüber Tobias systematisch bevorzugt wird. Vor der Herrschsucht seiner zweiten Frau flieht der Bahnwärter, den gleichwohl eine masochistisch getönte Hörigkeit an seine Gattin bindet, in die Arbeit und an seinen Arbeitsplatz, ein einsames
4. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
Bahnwärterhäuschen, das in den unendlichen Forsten der Mark Brandenburg an der Bahnstrecke Berlin/Frankfurt/Oder weit entfernt von Dorf und Wohnsitz gelegen ist. Dort gedenkt er seiner verstorbenen Minna und flüchtet sich in eine Traumwelt, indem er das Bahnwärterhäuschen als eine Art Totenkapelle ausstaffiert: „Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.“ (ebd., 7) Das seit der Zeit des Dekamerons gattungstypische novellistische Dreieck des Manns zwischen zwei Frauen wird hier auf eine jenseitige Ebene verlegt. Der geistige Verfall des Protagonisten kündigt sich durch die Geisterbeschwörung seiner verstorbenen Frau an. Auch der Traum antizipiert nach traditioneller Dramentechnik das grausame Ende der Novellenhandlung, wenn Thiel seine verstorbene Frau erscheint, die etwas Blutiges, Bleiches trägt. Gleiches geschieht im Lauf der Handlung, wenn der psychisch labile Mann aus dem Singen der Telegraphendrähte die Stimme seiner Minna herauszuhören glaubt. Doch zunächst lebt Thiel sein gleichförmiges Beamtenleben. Wenn er den weiten Weg nach Hause zurückgelegt hat, widmet er sich vor allem seinem von der Stiefmutter vernachlässigten Söhnchen Tobias. Die Wendung der Handlung ins Unglück wird durch einen kleinen Acker eingeleitet, dem eine ähnliche symbolische wie zentralmotivische Funktion zukommt wie in Kellers Dorfnovelle. Auch das urwüchsig Verwilderte hat das Stück Land in dieser Novelle mit demjenigen in Romeo und Julia auf dem Dorfe gemein: „Es war ein schmaler Streifen Sandes, von Unkraut dicht überwuchert. Wie schneeweißer Schaum lag die junge Blütenpracht auf den Zweigen der beiden Zwergobstbäumchen, welche darauf standen.“ (ebd., 19) Auf jenem Acker gaukeln Schmetterlinge (ebd., 28), die seit der als Antike als Totensymbole gedeutet werden. Das Stück Erde wird Tobias indirekt auch den Tod bringen. In Zeiten fortschreitender Technisierung wird die Erde durch die Technik beherrscht und so liegt der kleine Acker nicht mehr allein auf weiter Flur, sondern neben einem Schienenstrang mit allen Gefahren, die die entfesselte Technik für den Menschen, insbesondere für unbeaufsichtigt herumlaufende Kinder, birgt. Thiel schlägt seiner Frau vor, das kleine Stück Land, das neben seinem Zufluchtsort, dem Bahnwärterhaus, gelegen ist, zu bebauen. Die Frau ist nun fast täglich in der Nähe seiner Arbeitsstätte. Weil Thiel keine Ruhe mehr an seiner Trauerstätte hat, nehmen die Spannungen zwischen den Eheleuten weiter zu. Zusätzlich erfährt Thiel, dass Lene seinen leiblichen Sohn seelisch und körperlich misshandelt. Dann geschieht die Technikkatastrophe, die gleichzeitig eine Familienkatastrophe ist bzw. zur Zerstörung des familiären Lebens führt. Lene achtet nicht auf Tobias und dieser gerät unter einen Zug. Er liegt schwerverletzt auf dem Schienenstrang, der gleichzeitig die Schicksalsbahn der handelnden Personen versinnbildlicht. Das gefahrbergende Verkehrsmittel transportiert das schwerverletzte Kind zum Bahnarzt, während der zurückgebliebene Vater in Ohnmacht fällt. Der Wahn, der sich durch eine verzerrte Naturwahrnehmung schon länger angedeutet hatte, ergreift von ihm Besitz. Die Visionen seiner toten Frau werden zu Tötungsbefehlen aus
Zwischen Technik- und Familienkatastrophe
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Dissonante Naturbilder
dem Jenseits: „,Du, Minna, hörst du? – gib ihn wieder – ich will.‘ Er tastete in die Luft, wie um jemand festzuhalten. ,Weibchen – – und da will ich sie … und da will ich sie auch schlagen – braun und blau – auch schlagen – und da will ich mit dem Beil – siehst du? – Küchenbeil – mit dem Küchenbeil will ich sie schlagen, und da wird sie verrecken.‘“ (ebd., 34) Der Funktionsträger Thiel verliert die Kontrolle und fällt aus der Zeit, was sich in einem Tempuswechsel der Erzählung zeigt. Er versucht das andere Kind zu töten, kommt aber noch einmal zur Besinnung und wird von dem Kieszug unterbrochen, der ihm den mittlerweile verstorbenen Tobias bringt. Thiel bricht daraufhin zusammen und wird mit Lene und dem noch lebenden Kind nach Hause gebracht. Lene, die wie verwandelt wirkt, kümmert sich hingebungsvoll um ihren Gatten, der ihr unheimlich wird. Als die Helfer nach einiger Zeit zurückkommen, finden sie Frau und Kind ermordet vor. Der Bahnwärter ist verschwunden. Erst am nächsten Tag findet man ihn völlig verwirrt bei der Unglücksstelle im Wald, das Pudelmützchen des toten Tobias in der Hand. Er wird in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Wie in den Novellen Goethes und Kellers fungiert in Hauptmanns naturalistischer Studie die Natur als Spiegelbild der Psyche, einer Seele, die durch eine distanzierte Erzählinstanz in der 3. Person seziert wird. Das ästhetische Konzept hinter dieser Landschaftsschilderung ist aber weder von klassischer Harmonie noch von realistisch-pragmatischer Ordnung geprägt. Der Mensch ist nicht Herrscher der Natur, er ist von seiner Natur geprägt und seinen Trieben gelenkt. Die Ergänzung der Eheleute, die Goethe noch hervorhob, ist bei den Bahnwärterleuten nur noch in ihrer Perversion vorhanden: Den phlegmatischen Thiel kann seine cholerische Lene nicht harmonisch ausgleichen. Zwar „stand das schleppende Zeitmaß sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau“ (Hauptmann 1986, 5), doch dies verschärft den Ehekonflikt nur noch. Bemerkenswert ist die Kluft im individuellen Zeitempfinden der Eheleute. Hier spiegelt sich wie bei der gesamten Weltwahrnehmung in Bahnwärter Thiel die Bewusstseinsphilosophie der Moderne, etwa die des Physikers Ernst Mach (1838–1916), wider. Schließlich ist das Spiel der Farben in der landschaftlichen Kulisse des Geschehens individuell verzerrt sowie impressionistisch und disharmonisch. Ein blutroter, ziemlich unheiliger „heiliger Himmel“ (ebd., 40) spannt sich über die Mordgeschichte. Der Bahnwärter sieht einen übermächtig-bedrohlichen Sonnenball unter mächtigen Wolken herabhängen, der Ströme von Purpur über das schwarz-grüne Wipfelmeer gießt. Die Landschaft ist durchsetzt von todverheißenden Symbolsplittern: „Die Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein zwischen die Wipfel hinein, die wie grauschwarze Moderschichten auf ihnen lasteten.“ (ebd., 35) Bei Thiels Zusammenbruch am Schluss werden die impressionistischen Wahrnehmungssplitter zu Symptomen des beginnenden Wahns: „Vor seinen Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich, unzählig. Er schrickt zurück – er steht. Aus dem Tanze der Glühwürmchen tritt es hervor, blass, schlaff, blutrünstig.“ (ebd., 31) Das historische Präsens, in dem diese Sequenz im Gegensatz zur übrigen Novelle erzählt wird, soll die Einwirkung der Eindrücke verstärken. Zu den elementaren Mächten der fantasierten Natur kommen die Kräfte der Technik hinzu. So lebt Thiel in seinem Bahnwärterhäuschen mitten im Forst
4. Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
einerseits in einer Stille, die allenfalls von leisen Windwellen in den Baumwipfeln gestört wird oder von zwitschernden Vögeln auf den Telegrafenstangen. Aber sein Leben im Rhythmus des Fahrplans ist ebenso konzentriert auf den dunklen Punkt am Horizont, wo die Gleise sich treffen, der sich vergrößert, die Gleise vibrierend summen lässt, bis das Keuchen und Brausen des herannahenden Zuges anschwillt und gewaltig vorüberrast. Der Mensch ist in der Epoche der Moderne nicht mehr allein mit der Erde (vgl. Mahal 1993, 199). Die übermächtige Technik, der sein Kind geopfert wird, beherrscht ihn. Eine impressionistisch gestaltete, religiös fundierte Blut- und Farbsymbolik in breiter Varianz durchzieht den Text leitmotivisch. Der todbringende Schnellzug tost durch die Nacht. Aus den Loklichtern entsteht unheilverkündend ein blutiger Schein, der den Regen eines grollenden Gewitters naturmystisch in Lebenssaft verwandelt: „Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel.“ (Hauptmann 1986, 23) Die Technik ist im Symbolsystem der Novelle keine von den Elementarkräften separierte Macht, wie etwa in der Ballade Die Brück‘ am Tay (1880) von Theodor Fontane (1819–1898). Sie verschmilzt mit der lebendigen Natur zu einer den schwachen Menschen bedrohenden Übermacht. In Hauptmanns novellistischem Naturschauspiel geht es düsterer zu als bei Goethe und Keller, moderner Stahl verwandelt sich in biblische Schlangen: „Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst; und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel.“ (ebd., 18) Auf dieser Naturbühne ist das „Gebilde aus Menschenhand“ eben kein „Tand“, sondern eine wirkliche Bedrohung. Das „Verwesungslicht“ deutet den Untergang der Familie Thiel ebenso voraus wie die Sonne, die „im Aufgehen gleich einem ungeheuren blutroten Edelstein funkelnd, wahre Lichtmassen über den Forst“ (ebd., 24) gießt und nicht mehr die Szenerie klärend beleuchtet wie in Goethes klassischer Novelle. Landschaft und Technik verschmelzen zu einem Symbolraum, der das individuelle Schicksal von Thiels Familie deutet und spiegelt. So klingt das Tönen der Telegrafenstangen „wie sonore Choräle aus dem Innern einer Kirche“ (ebd., 27). Auf solche Weise feiert die nachrichtentechnisch erschlossene und dadurch von ihrem Ursprung entfremdete Landschaft gleichsam ein Totenrequiem für die handelnden Personen, vergleichbar einem „Chor seliger Geister“ (ebd., 28) wie in Glucks Balletteinlage aus der Oper Orpheus und Eurydike (1774). Der Trauergesang hat hier nichts Tröstendes, im Gegensatz zum Lied des Flötenknaben bei Goethe. Auch die Welt der Töne ist eingebunden in eine düstere, kindische Privatmythologie, in der das schon in der germanischen Sagenwelt unheilbringende Eichhörnchen nicht nur als Gottessymbol, sondern als Herr der Welt selbst gedeutet wird: zuerst von Tobias, dann von seinem Vater. Zunächst fragt das Kind, ob ein braunes Eichhörnchen der liebe Gott sei. Nach dessen Unfall nimmt sein verzweifelter Vater die verrückte
Das Eichhörnchen als ,lieber Gott‘?
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Mensch und Technik
Erzählmechanik sozialer Determinanten
Sichtweise des Kindes an: „,Der liebe Gott springt über den Weg, der liebe Gott springt über den Weg.‘ Er wiederholte diesen Satz mehrmals, gleichsam um auf etwas zu kommen, das damit zusammenhing. Er unterbrach sich, ein Lichtschein fiel in sein Hirn: ,Aber mein Gott, das ist ja Wahnsinn.‘“ (ebd., 35) Die novellentypische leitmotivische Tiersymbolik, der ,Falke‘, stiftet hier nicht mehr Sinn, sondern nur noch Verwirrung. Nur durch diese traurige Symbolik sowie durch die düstere Ästhetik der Natur und nicht durch ihre individuelle Tragik erhalten die untergehenden Menschen so etwas wie Würde. Handlungsbestimmend aber sind die Züge. Die Eisenbahn ist mit ihren sinnbildlich-metaphorischen Bezugssystemen zwischen den eingefahrenen Gleisen des Lebens, in denen sich ein pflichtgesteuerter Bahnwärter wie Thiel bewegen muss, und den Weichenstellungen des Schicksals ein beliebter Gegenstand der Literatur, vor allem der Novellistik des 19. Jahrhunderts. Joseph von Eichendorff sah es in seiner Novelle Tröst-Einsamkeit so: „Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie erfasst, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man die alten recht überwunden.“ (Eichendorff 1993, 381) Durch die kaleidoskopartige Weltwahrnehmung, das Tempo, das Eichendorff hier beschreibt, in welchem die Eindrücke flüchtig verschwimmen, ist die Tendenz zur impressionistischen Bildlichkeit, die Hauptmanns spätere Studie prägt, bereits angelegt. Die Eisenbahn gilt im 19. Jahrhundert entweder als ein „Sturmvogel des Völkerfrühlings“ oder als das „Ungetüm der Fortschrittswelt“. Physische und psychische Erschütterung gehen hier Hand in Hand. Die rational konstruierte Technik ist der Auslöser für irrationale Phobien, die Folgen der Ingenieurswissenschaft werden zum Gegenstand von Dichtung, Psychologie und Psychiatrie. Sie ist erst zur Entstehungszeit von Hauptmanns Novelle langsam selbstverständlicher Bestandteil des Alltags geworden. Das Bewusstsein selbst ist bereits industrialisiert. Dies ist freilich die Perspektive der meist bürgerlichen Passagiere. Das bisweilen harte Leben der Menschen am und vom Schienenstrang war demgegenüber bereits für den Begründer der Dorfgeschichte ein Thema. Schon 1845 lässt Berthold Auerbach seine Novelle Sträflinge nicht nur mit einem Idyll an der Eisenbahn enden, sondern auch mit dem Satz: „Das selig stille Glück stirbt nicht aus, es siedelt sich hart neben den unbeugsam eisernen Gleisen der neuen Zeit an.“ (Auerbach 1984, 137) Das vollzogene Spiel zwischen übertragener und wörtlicher Bedeutung eröffnet den weiten metaphorischen, symbolischen Raum, den die Strukturen der Eisenbahn der literarischen Fiktion eröffnen. Ein typisches Milieu des Hauptmann’schen Naturalismus, das Proletariat, zeigt übrigens schon Ferdinand von Saars österreichische Novelle Die Steinklopfer (1874), die von der Liebe eines Arbeiterpaars, das sich beim Bau der Semmeringbahn begegnet, berichtet. Schon hier werden die Titelfiguren realistisch als abgehärmte Gestalten ohne anziehende Weiblichkeit bzw. Männlichkeit präsentiert. Auch das Motiv des Totschlags, hier an einem Aufseher, der das Glück der Liebenden zerstören will, tritt bereits auf. In Ferdinand von Saars Spätrealismus rettet jedoch ein Oberst wie ein ,deus ex machina‘ das Paar aus seinem Elend und verschafft beiden eine resozialisierte solide Existenz im
5. Thomas Manns Mario und der Zauberer
Bahnwärterhäuschen an dem Schienenstrang, den sie selbst erbaut haben. Der Schienenstrang sichert hier eine familiäre Existenz, anstatt sie wie bei Hauptmann zu vernichten. Dort lassen die Determinierung des Menschen als Produkt eines sozialen Milieus und einer biologischen Degeneration ebenso wie die gefährlichen Mächte der Technik keine Hoffnung mehr zu. Auch die Menschenwürde im glücklichen Augenblick, die Keller seinen tragischen jungen Liebenden noch zugesteht, rückt durch Alltagstristesse außerhalb des erzählerisch Möglichen.
5. Thomas Manns Mario und der Zauberer Während in Gerhart Hauptmanns Novelle die Technik eine relativ neue Bedrohung darstellt, sind im 20. Jahrhundert in erster Linie politische Ideologien gefährlich, verantwortlich für Millionen Tote. Eines der frühesten Werke, das sich mit dem Faschismus auseinandersetzte, als er noch auf sein Ursprungsland Italien beschränkt war, ist das „tragische Reiseerlebnis“ Mario und der Zauberer von Thomas Mann (1875–1955). Von Bruno Frank, dessen ebenfalls in München angesiedelte Familie zum Freundeskreis der Manns gehörte, erschien zwei Jahre vorher bereits die Politische Novelle. Sie tritt nicht nur anhand der den Politikern Stresemann und Briand nachempfundenen Protagonisten für die deutsch-französische Aussöhnung ein, sondern kritisiert mit einem kurzen Abstecher in das faschistische Italien auch den aufkeimenden Totalitarismus. Affirmativ zu den neuen Tendenzen in Italien äußern sich zeitgleich rechtsextreme Trivialromane wie Reiter in deutscher Nacht von Hanns Heinz Ewers (1932). Der novellentypische Rahmen, der in der sozialpsychologischen Novelle Hauptmanns fast ganz hinter einer objektiven Erzählinstanz verborgen war, kehrt in Manns Text mit einem Ich-Erzähler zurück, der ein Reiseerlebnis schildert. Nicht zufällig pendelt die Gattungsbezeichnung zwischen der Reisenovelle, die von Heinrich Laube, aber auch dem Schöpfer der italienischen Novelle Paul Heyse vorgeprägt wurde, und dem altbekannten Schulaufsatzthema ,Mein schönstes Ferienerlebnis‘. Das Erlebnis ist hier aber nicht als schön attribuiert, sondern tragisch, also der „Schwester des Dramas“ gemäß. Auch auf etablierte Literaturtheorien wie Das Erlebnis und die Dichtung (1906) des Lebensphilosophen und Theoretikers der Geisteswissenschaften Wilhelm Dilthey (1833–1911) spielt der Untertitel an. Besagter bürgerlicher Erzähler des Urlaubsgeschehens, ein Familienvater, ist eine vorsichtige Selbstkarikatur Thomas Manns wie viele seiner Gestalten vom Prinzen Klaus Heinrich in Königliche Hoheit (1909) über den biederen Bräutigam von Beckerath in der Novelle Wälsungenblut (1906/1921) zu Gustav von Aschenbach in Der Tod in Venedig (1912), der anderen bedeutenden Italiennovelle Thomas Manns. Wie viele Werke dieses Autors ist die Novelle aus autobiografischem Material konstruiert. Die Handlung von Mario und der Zauberer hat sich in ähnlicher Form wirklich zugetragen. Sie basiert auf einem Italienurlaub der Familie Mann. Diese Badeferien wurden vom 31. August bis zum 13. September 1926 in Forte dei Marmi, das dem (erfundenen) Torre di Venere der Novelle entspricht, verlebt (vgl. Koopmann, in: Hansen 1993, 152 f.).
Frühe Darstellungen des Faschismus
Autobiografisches Material und Fiktion
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Ein antifaschistisches Gleichnis?
Der fiktive, nach der Liebesgöttin Venus benannte Strandort liegt an der Küste des Novellenlandes schlechthin, der toskanischen Heimat Giovanni Boccaccios. Auf dessen gattungsprägendes Dekameron wird mit dem Namen der Hauptgestalt der Novelle – Cipolla – angespielt. Den von Mann übernommenen Namen trägt ursprünglich eine Gestalt aus der 10. Novelle des 6. Tages, ein betrügerischer Mönch in Boccaccios Sterbeort Certaldo. Intertextuelles mischt sich mit Autobiografischem: Thomas Mann beschreibt den Urlaub an der toskanischen Küste in persönlichen Briefen im Hinblick auf Wetter und Strandleben als gelungen, außerdem hatten die Kinder sehr viel Vergnügen. Atmosphärisch gab es jedoch kleine Widerwärtigkeiten, die mit der aufkeimenden Kollektivmentalität des Faschismus, einer nationalistischen Stimmung auch am Strand, zusammenhingen. Die Haupthandlung, eine grotesk-schmierige Gauklervorstellung, knüpft an die altitalienische Commedia dell‘Arte ebenso an wie – was ihren Ausgang betrifft – an die Tradition der Novelle als Mordgeschichte. Den Hauptakteur, einen Zauberkünstler, der allerdings nicht Cipolla hieß, gab es wirklich, aber in der Realität hat der Künstler überlebt. Mann wurde erst durch seine Tochter Erika darauf aufmerksam gemacht, dass das „Ganze das Zeug zu einer Novelle“ habe und die Geschichte viel dramatischer wäre, wenn der junge Kellner Mario, eine andere Hauptfigur, den Zauberer umbringen würde (vgl. Kiefer 2004, 110 f.). Das autobiografische Potenzial der Handlung wird zusätzlich durch die Tatsache gesteigert, dass Thomas Mann im Familienkreis der „Zauberer“ genannt wurde – vordergründig wegen eines Karnevalskostüms, hauptsächlich wegen seiner dichterischen Fantasie. Nicht allein in die Figur des Reiseerzählers, auch in die skandalöse Titelfigur gehen mithin autobiografische Realitätssplitter ein. Über allem wölbt sich aber der Bogen einer politischen Parabel (vgl. Koopmann, in: Hansen 1993, 156 f.), die zunächst vom Autor – auch in Absetzung zu Bruno Frank – eher geleugnet wurde, etwa in einem Brief an den Schriftsteller Otto Hoerth vom 12. Juni 1930: „Da es Sie interessiert: Der ,Zauberkünstler‘ war da und benahm sich genau, wie ich es geschildert habe. Erfunden ist nur der letale Ausgang: In Wirklichkeit lief Mario nach dem Kuss in komischer Beschämung weg und war am nächsten Tage, als er uns wieder den Tee servierte, höchst vergnügt und voll sachlicher Anerkennung für die Arbeit ,Cipollas‘. […] Die Schüsse aber sind nicht einmal meine Erfindung: Als ich von dem Abend hier erzählte, sagte meine älteste Tochter: ,Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen hätte.‘“ (ebd., 152) Als er durch die Ausbreitung des Faschismus über sein Ursprungsland Italien hinaus auf fürchterliche Weise bestätigt wurde, räumte Thomas Mann 1940 in On Myself die parabolische Parallele zwischen Gaukler und Duce gerne ein: „Die politisch-moralistische Anspielung, in Worten nirgends ausgesprochen, wurde damals in Deutschland, lange vor 1933, recht wohl verstanden: mit Sympathie oder Ärger verstanden, die Warnung vor der Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen, die in der menschlichen Befreiungskatastrophe des Schlusses überwunden und zunichte wird.“ (Mann, Bd. 13, 1995, 167) Das tragische Reiseerlebnis kann folglich als ahnungsvolle präfaschistische Novelle bezeichnet werden, ebenso wie die Novellen von Günter Grass (Katz und Maus, 1961, Im Krebsgang, 2002) als postfaschisti-
5. Thomas Manns Mario und der Zauberer
sche Abrechnungen mit dieser politischen Periode aufgefasst werden können. Der parabolische, der widerspiegelnde Charakter des Geschehens wird durch einen relativ langen Vorlauf bis zur dramatischen Zuspitzung unterstrichen. Im ersten Teil der Novelle wird das Leben in Torre di Venere dargestellt. Die Erinnerungen des berichtenden Erzählers, eines besorgten Vaters aus der neuen deutschen Mittelschicht der Angestellten, sind alles andere als schön: „Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm. Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft, und zum Schluss kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise verkörpern.“ (Mann, Bd. 8, 1995, 658) Nach traditioneller novellistisch-dramatischer Technik wird hier durch die Vorwegnahme einer Katastrophe, der geradezu klassischen ,unerhörten Begebenheit‘, Spannung erzeugt. Die vor allem durch die Goetherezeption, die Nachwirkungen seiner Italienischen Reise, geprägten Italienklischees einer arkadischen Welt, in der der Nordländer die griechisch-römische Antike wiedererleben kann, werden durch die unangenehme Atmosphäre gründlich destruiert. Dabei liegt der Ort idyllisch: „Torre liegt etwa fünfzehn Kilometer von Portoclemente, einer der beliebtesten Sommerfrischen am Tyrrhenischen Meer.“ (ebd.) Sein deutscher Name ,Venusturm‘ erinnert bedrohlich-verlockend an Orte verbotener Erotik wie den Venusberg, ein Begriff aus der weiblichen Anatomie und der thüringischen Geografie. Dort hält sich im Hörselberg die sagenhafte antike Göttin vor den Christen versteckt. Der prosaische Tourismus als Symptom der Moderne mit seinen schmutzigen Autos zerstört in Torre de Venere jedoch den Landschaftsgenuss, „denn […] dank den hin und her sausenden Fiat-Wagen ist das Lorbeer- und Oleandergebüsch am Saum der verbindenden Landstraße von weißem Staube zolldick verschneit – ein merkwürdiger, aber abstoßender Anblick.“ (ebd., 660) Die ewige Sonne ist ebenfalls eher bedrückend. Da heißt es in einer Ansprache an den impliziten Leser:
Die Entzauberung Arkadiens
„Mögen Sie das? Mögen Sie es wochenlang? Gewiss, es ist der Süden, es ist klassisches Wetter, das Klima erblühender Menschheitskultur, die Sonne Homers und so weiter. Aber nach einer Weile, ich kann mir nicht helfen, werde ich leicht dahingebracht, es stumpfsinnig zu finden.“ Die glühende Sonne des Südens nämlich „lässt […] tiefere, uneinfachere Bedürfnisse der nordischen Seele auf verödende Weise unbefriedigt und flößt auf die Dauer etwas wie Verachtung ein.“ (ebd., 664) Ein Ferientraum wird entzaubert. Die Erzählhandlung ist geprägt durch eine ständige Spannung zwischen italophilem Bildungsanspruch und der profanen Realität eines von Reisekommerz und autoritärer Enge geprägten Landes. Auch im Hotel gibt es Unstimmigkeiten. Die einheimische Aristokratie wird bei der Platzvergabe auf der Veranda des Restaurants gegenüber den nicht eben gastfreundlich behandelten Fremden eindeutig bevorzugt, der harmlose Keuchhusten eines deutschen Kindes führt zu Beschwerden einer hochadligen Italienerin und zur Bitte, das Hotel zu verlassen. Die Familie des Erzählers findet schließlich Zuflucht in der freundlichen kleinen Pension Eleonora, die von ihrer
Das frühfaschistische Italien
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Cipollas Zaubervorstellung
Besitzerin nicht zufällig so benannt wurde, war sie doch dereinst eine Art Gesellschafterin der international bekannten Schauspielerin Eleonora Duse (1858–1924), einer Geliebten Gabriele D‘Annunzios, die ihren bis nach Übersee reichenden Ruhm erlangte, obwohl sie nur auf Italienisch spielte. Dies imponiert dem bildungsbürgerlichen Ich-Erzähler und er beschließt, sich in dieser neuen Herberge wohlzufühlen. Drückend ist jedoch auch die Stimmung am Strand, die von Unstimmigkeiten zwischen prüden nationalistischen wie kleinbürgerlichen Einheimischen und den deutschen Urlaubern geprägt ist. Selbst die Kinder sind vom patriotischen Virus infiziert, was die deutschen Eltern ihrem irritierten Nachwuchs als Kinderkrankheit einer verspäteten Nation verständlich machen möchten: „Diese Leute, erklärten wir ihnen, machten soeben etwas durch, so einen Zustand, etwas wie eine Krankheit, wenn sie wollten, nicht sehr angenehm, aber wohl notwendig.“ (ebd., 666 f.) Nicht den Reiz des Südens, sondern die Gereiztheit des ausgegrenzten zahlenden Gastes spiegelt der Novellenerzähler wider. Allem Nationalismus zum Trotz entspricht die italienische Realität nicht mehr versunkener heldischer Größe. Selbst der simple Biss eines Krebses führt bei einem weichlichen Jungen zu „antikische[m] Heldenjammergeschrei“ (ebd., 665). Auch unter Italienern ist man also „umringt von menschlicher Mediokrität und bürgerlichem Kroppzeug, das, geben Sie es zu, von dieser Zone geprägt nicht reizender ist als unter unserem Himmel.“ (ebd.) Die Erzähltechnik der Desillusionierung jenseits der Postkartenperspektive wird fortgesetzt. Ein Ereignis verstärkt des Erzählers Phobie gegenüber der „inländischen Mittelklasse“ besonders: Als seine kleine Tochter am Strand ihren Badeanzug kurzfristig auszieht, beschwört dies die demonstrative sittliche Empörung der Italiener, die mit pfeifendem Entzücken ihres männlichen Nachwuchses durchmischt ist, herauf. Diese Prüderie im Land der erotischen Novelle wird als Kontrapunkt zum gängigen Italienbild gesetzt. Die von der Lebensreform und ihrer gelockerten Körperlichkeit geprägten Deutschen, denen ein Melonenträger am Strand eine Sittenpredigt über Anstand und nationale Größe hält, können dies nicht nachvollziehen. Nachdem die Hauptsaison vorbei ist und die italienischen Touristen nach Hause gefahren sind, bessert sich die Stimmung ein wenig. Das Vorspiel ist beendet. Die Familie macht in dem Café ,Esquisito‘ Bekanntschaft mit dem Kellner Mario, der vor allem den Kindern sympathisch ist. Diese werden durch Plakate auf die Vorstellung des Zauberkünstlers Cavaliere Cipolla aufmerksam. Weil die Kinder keine Ruhe geben, entschließen sich die Eltern, dieses Spektakel mit ihnen zu besuchen. Es wird sich herausstellen, dass der angekündigte Zauberer „die Personifikation“ (ebd., 696) von allem Widerwärtigen des Aufenthaltes im faschistischen Italien ist. Wie in Bahnwärter Thiel deutet auch hier die Witterung kommendes Unheil an: „Es war schwül wie seit Tagen, es wetterleuchtete manchmal und regnete etwas.“ (ebd., 671) Ziemlich schnell wird den deutschen Besuchern dann auch klar, dass es sich nicht um eine herkömmliche Zaubervorstellung handelt. Der bucklige Cipolla zeigt deutlich, dass man mit richtig angewandter Rhetorik und hypnotischer Ausstrahlung die Psyche einzelner auf die Bühne geholter Besucher, die so zu gelenkten Medien und hörigen Versuchsobjekten degradiert werden, sowie des ganzen Publikums beeinflussen kann. Durch einige Attribute, einen staatsmännischen schwarzen Gehrock und
5. Thomas Manns Mario und der Zauberer
eine Reitpeitsche, verweist diese Gestalt über die Sphäre reiner Massenpsychologie hinaus ins Politische, zumal der Hypnotiseur unter seinem Rock eine Schärpe in den Farben der italienischen Trikolore trägt. Schließlich präsentierte sich der italienische Diktator Mussolini gerade in den 1920er Jahren mit diesen Requisiten, beispielsweise in einer Fotoserie der Berliner Illustrierten Zeitung. Der von Kognak berauschte kleine Menschenführer Cipolla demütigt seine erwachsenen Versuchstiere vor einer voyeuristischen Menschenmenge systematisch. Hierbei gewinnt seine Peitsche in der Erzählerperspektive antikische Züge. Freilich sind diese nicht von apollinischem Maßhalten, sondern von dionysischer Wildheit geprägt: Da herrscht „der Stab der Kirke, diese pfeifende Ledergerte mit Klauengriff, […] unumschränkt.“ (Mann, Bd. 8, 1995, 703) Die Reitpeitsche, mit der sich in den 1920er Jahren auch Hitler gerne fotografieren ließ, wird hier mit der Mythologie symbolisch verknüpft. Im ,Turm der Venus‘ wird sie zum dionysischen Thyrsusstab. Dionysien sind aber nichts für Kinder. Peinlich berührt, beschließt die Familie des Erzählers während der Pause zu gehen, zumal es schon sehr spät ist und die Kinder müde sind. Da die Kinder aber nicht vorzeitig die Vorstellung verlassen wollen, entschließt man sich noch zu bleiben. Die dramatische Steigerung der Vorstellung hin zum vom Spielleiter Cipolla ungewollten, weil ihn vernichtenden tragischen Höhepunkt erfolgt erst nach der Pause. Immer mehr versucht der Zauberer einzelne Menschen vor aller Augen zu demütigen, zu brechen. Aus Scherz wird Ernst, manche hörige Zuschauer fallen derart aus ihrer Rolle, dass sie regelrechte Veitstänze aufführen. Der Widerstand gegen seine lenkende Herrschaft scheint endgültig aufgehoben zu sein. Zuletzt wird Mario, der junge Kellner, auf die Bühne gebeten. Durch eine Kombination von Hypnose, antikisch-rhetorischer Einrede und der knallenden Reitpeitsche entblößt Cipolla das Intimleben des jungen Mannes, seine unerfüllte Liebe zu einem jungen Mädchen. In einer hypnotischen Variante eines Geschlechtswechsels, einer GenderPerformanz, gaukelt der alte, hässliche Bucklige Mario vor, er sei jenes Mädchen Silvestra, das den Liebeskummer verursacht hat, und treibt ihn sogar so weit, dass dieser ihn küsst. Der alte Massenverführer wendet sich an den jungen Mann: „Es ist Zeit, dass du mich siehst und erkennst, Mario, mein Liebster Sage, wer bin ich?‘ Es war greulich, wie der Betrüger sich lieblich machte, die schiefen Schultern kokett verdrehte, die Beutelaugen schmachten ließ und in süßlichem Lächeln seine splittrigen Zähne zeigte. Ach, aber was war während seiner verblendenden Worte aus unserem Mario geworden?“ (ebd., 709 f.) Mario ist wie verwandelt. Er wird zur Marionette, ein beliebtes Motiv der romantischen Novellenfantastik. „,Küsse mich!‘ sagte der Bucklige. ,Glaube, dass du es darfst! Ich liebe dich. Küsse mich hierher‘, und er wies mit der Spitze des Zeigefingers, Hand, Arm und kleinen Finger wegspreizend, an seine Wange, nahe dem Mund. Und Mario neigte sich und küsste ihn.“ (ebd., 710) Das schon in Hauptmanns Studie variierte novellistische Dreieck der Konkurrenz zweier Männer um eine Frau wird hier durch die Geschlechtstäuschung verschoben. Diese öffentliche Demütigung ist mit homoerotischen Anspielungen durchsetzt, schließlich bezeichnet der alte Gaukler Mario – vordergründig aufgrund seines Berufs als Kellner – als Ganymed, nach dem Mundschenk und Geliebten des
Gender Trouble und Mordanschlag
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Romantische Dämonen
antiken Göttervaters Zeus: „,Ein Cameriere bist du, ein Schenke, ein Ganymed, – das lasse ich mir gefallen, noch eine antike Erinnerung, – salvietta!‘ Und dazu streckte der Cavaliere zum Gaudium des Publikums aufs neue grüßend den Arm.“ (ebd., 707) Der antike Bildungskanon der Goethezeit dient im Italien der Zwischenkriegszeit nur noch zur Rechtfertigung totalitärer Herrschaft und zur Demütigung von Alltagsmenschen wie Kellnern durch Kontrastkomik. Unter schallendem Gelächter verlässt der verstörte, bloßgestellte und in seiner männlichen Gender-Identität gestörte Mario die Bühne, die diesmal wirklich die Welt bedeutet. Getrieben von Pein zieht er eine Pistole und erschießt Cipolla. Der Kuss war ein Todeskuss. Die Familie des Erzählers verlässt entsetzt den Bretterverschlag, in dem sich das novellistische Schauspiel, das als Zauberei begann und als Tragödie endete, vor ihren Augen entfaltete. Am Schluss, nach der befreienden Katastrophe, ist ganz im Sinne der tradierten Dramenpoetik die Ordnung wiederhergestellt. Die ahnungslosen, übermüdeten Kinder des Erzählers fragen: „,War das auch das Ende?‘ […] ,Ja, das war das Ende‘, bestätigten wir ihnen. Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!“ (ebd., 711) Auch wenn die antifaschistischen Akzente (was Thomas Mann damals kritisierte) in Bruno Franks Politische Novelle deutlicher werden: Die Tage der kosmopolitischen, bürgerlichen Feriengesellschaft dieser Reisenovelle sind gezählt. In der Vorkriegszeit galt in Thomas Manns Der Tod in Venedig (1912) noch die übernationale „Gesittung“ oder vielmehr die alteuropäische Etikette. In der instabilen Nachkriegszeit jedoch wird selbst das klassische Reiseland Italien ungastlich. Das Bezugssystem von Mario und der Zauberer erscheint vielfältig, auch die zentrale Gestalt des Cipolla verweist auf verschiedene historische Sphären. Entscheidender als die Namensgleichheit zu einer Figur des Dekamerons erscheint die Ähnlichkeit sowohl zum Namen als auch zu der Figur des italienischen Händlers Coppola in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1817). Diese Nähe zum „type hoffmannesque“ stellten schon einige der ersten Rezensenten des Werkes in Deutschland wie Frankreich heraus (vgl. Kiefer 2004, 113). Dieser italienisch-romantische Typus ist in der deutschen Literatur der Romantik kein Einzelfall, wenn man z. B. an einen geheimnisumwitterten Marchese in der Schauernovelle Die Totenbraut von Friedrich Laun denkt. Der Bezug ist offenkundig, zumal in Thomas Manns Text explizit auf italienische Abenteuer des Rokoko verwiesen wird. Cipolla ist ein „Mann […] mit scharfem, zerrüttetem Gesicht, stechenden Augen, faltig verschlossenem Munde“ (Mann, Bd. 8, 1995, 674). Hoffmanns Coppelius bzw. Coppola hat Züge, aus denen ein „Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, […]. Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne.“ Auch seine übrige Erscheinung ist wenig einnehmend, wenn auch von altmodisch-vornehmem Habitus: „Coppelius erschien immer in einem altmodisch zugeschnittenen aschgrauen Rocke, ebensolcher Weste und gleichen Beinkleidern, aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen. Die kleine Perücke reichte kaum bis über den Kopfwirbel hinaus, die Kleblocken standen hoch über den großen roten Ohren […] Die ganze Figur war überhaupt wi-
5. Thomas Manns Mario und der Zauberer
derlich und abscheulich […]“ (Hoffmann, Bd. 1, 1976 ff., 335). An diese Gestalten des 18. Jahrhunderts, etwa vom Schlage eines Cagliostro, knüpft Thomas Mann explizit an: Hier ist der bedrohliche Okkultist „in eine Art von komplizierter Abendstraßeneleganz gekleidet. […] Vielleicht mehr als irgendwo ist in Italien das achtzehnte Jahrhundert noch lebendig und mit ihm der Typus des Scharlatans, des marktschreierischen Possenreißers, der für diese Epoche so charakteristisch war, und dem man nur in Italien noch in ziemlich wohl erhaltenen Beispielen begegnen kann. Cipolla hatte in seinem Gesamthabitus viel von diesem historischen Schlage.“ (Mann, Bd. 8, 1995, 674) Hoffmanns geheimnisvoller Fremdling Coppelius bzw. Coppola verkörpert als dämonischer Verführer des Vaters zur Alchemie eine ebensolche Bedrohung für traditionelle Werte wie Cipolla in Mario und der Zauberer. Bei Hoffmann ist jedoch kein Jüngling wie Mario, sondern das Kind Nathanael der Bedrohte, den der böse Zauberer symbolisch seiner männlichen Identität berauben möchte. Hier wie dort geht es um Fremdsteuerung und Hypnose, hier wie dort weitet sich die Gattung zur numinosen, geheimnisvollen Novelle aus. Das Unerhörte ist rational nicht zu begreifen. Der schützende Vater ist in Hoffmanns romantischer Novelle dem Fremden hörig, was seinem Sohn Nathanael seinen Beschützer und damit gleichsam sein Urvertrauen nimmt. Der ausnehmend hässliche Fremde mit dem südländischen Namen ist in beiden Texten durch seine anachronistische Garderobe – hier mit Schnallenschuhen und verjährter Rokoko-Perücke, dort mit abgeschabtem Gehrock – gewissermaßen der Zeit enthoben. Trotz oder gerade wegen seiner grotesken Erscheinung zeichnet sich Cipolla durch strenge Ernsthaftigkeit und einen demonstrativen Bildungsprunk aus. Er lehnt alles Humoristische ab, was zu seiner Profession zunächst nicht zu passen scheint. Er hat sich eigentlich unter der falschen Identität eines traditionellen italienischen ,Arlecchino‘ vor dem arglosen Publikum eingeführt. Als witziger Zauberer und Taschenspieler kündigt er sich an, aber eigentlich ist er ein dämonischer Hypnotiseur mit altrömischer Bildungsrhetorik, der untergründige Konflikte und seelische Anspannungen (wie etwa eine unglückliche Liebe) im Saal sucht und diese für seine Zwecke ausnutzt. Er spielt die Zuschauer gegeneinander aus, ohne Rücksicht auf ihre vor der bürgerlichen Öffentlichkeit verborgen gehaltenen Emotionen. Sein Spott gegen Einzelpersonen gilt dem übrigen Publikum als distanzierender Spaß, da es glaubt, nicht so tief fallen zu können wie die Versuchsobjekte Cipollas. Mancher wird später eines Besseren belehrt. Das Publikum besteht größtenteils aus den Bewohnern Torres, einige Gäste von außerhalb sind ebenfalls dabei. Die einfachen Besucher befinden sich auf Stehplätzen, während sich die gehobene Gesellschaft auf Stühlen niedergelassen hat. Das Publikum hat viele Gesichter, von den drei am auffälligsten sind: zum einen ein Herr aus Rom, der den inneren Widerstand verkörpert. Er stellt sich gegen die führende Stimme, die willensraubende Rhetorik Cipollas, muss sich aber dann der alles beherrschenden Stimme beugen, denn unter „Südländern ist die Sprache ein Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt“ (Mann, Bd. 8, 1995, 679). Von dem Widerständigen heißt es zunächst: „dieser Brave wollte die Ehre des Menschengeschlechtes heraushauen“ (ebd., 701), doch Cipolla lässt die
Die Macht der Rhetorik
Massenhypnose
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Die politischen Aspekte des Massenwahns
Puppen (und den Widersacher) tanzen. Nachdem er den Rebellen zu „prompter Entseelung und Willenlosigkeit“ (ebd.) umgedreht hat, scheint es, „dass ihm offenbar wohler war jetzt als zur Zeit seines Stolzes“ (ebd., 703). Die Unterwerfung als Hampelmann des Hampelmanns Cipolla tut scheinbar gut. Der taumelnde Selbstverlust schafft Erleichterung. Zum anderen gibt es im Publikum einen Jüngling, der sich immer wieder anbietet, das Versuchsobjekt für Cipolla zu spielen, und alles mit sich machen lässt. Er verkörpert letztlich die breite Masse der Mitläufer. Der (Sexual-)Neid des körperlich Benachteiligten spornt Cipolla zur geistigen Beherrschung der ihn körperlich und ästhetisch überragenden männlichen Jugend an: „Aber es sprach aus seinen Spitzen doch echte Gehässigkeit, über deren menschlichen Sinn ein Blick auf die Körperlichkeit beider belehrt haben würde, auch wenn der Verwachsene nicht beständig auf das ohne weiteres vorausgesetzte Glück des hübschen Jungen bei den Frauen angespielt hätte.“ (ebd., 679) Der körperlich überlegene Mann, dieser „Türmer der Venus“ (ebd., 684), wie der Zauberer ihn in Anspielung auf seinen Herkunftsort nennt, muss besiegt werden. Die Kompensation körperlicher Behinderung durch Ehrgeiz und Herrschsucht ist ein zentrales Thema der zeitgenössischen Individualpsychologie des abtrünnigen Freud-Schülers Alfred Adler (1870–1937). Cipolla geht noch einen Schritt weiter, als es seine vor dem Publikum offen dargelegte Massenwahn-Theorie fordern würde. Er demonstriert nicht nur das Wesen der Macht, sondern auch deren Missbrauch. Hier knüpft Manns Darstellung an neuere massenpsychologische Erkenntnisse an, etwa an die Theorien Gustave Le Bons (1841–1931). Le Bon beschäftigte vor allem die Auflösung und Lenkbarkeit des Individuums in der Masse. In der Masse ist der Einzelmensch eher suggestiven bis hypnotischen Wirkungen ausgesetzt, seine Kritikfähigkeit, sein Selbsterhaltungstrieb schwinden. Den novellistisch-dramatischen Wendepunkt bietet erst das Ende des Führers am Schluss. Mario erkennt im aristotelischen Sinn seine Schmach, die Entblößung und gleichgeschlechtliche Verkehrung seines Trieblebens. Der unerwartete Mord des zu Anfang als kinderfreundlich und harmlos geschilderten Kellners Mario an seinem Verführer Cipolla ist als Akt der widerständigen Selbstbehauptung von würdevoll verborgener Intimität und männlicher Geschlechts- bzw. Gender-Identität zu begreifen. Mit dem Tod des hypnotischen Cipolla, der Mario suggerierte, er sei sein angebetetes Mädchen, siegt freilich andererseits die heteronormative Konvention. Der Tausch der Geschlechterrollen hat jedoch auch eine explizit politische Dimension: Eine Frau kann die Masse besser verführen als ein alter Buckliger. Nachdem ihm das Leben genommen wurde, fällt die Gestalt des mächtigen Führers wie eine Theaterpuppe in sich zusammen. Die rauschhafte Tragödie wird wieder zum burlesken Spektakel heruntergestuft: Der getroffene Cipolla ruft noch „Alles weg von mir!“, dann ist er „reglos, ein durcheinandergeworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen.“ (Mann, Bd. 8, 1995, 711) Der Puppenspieler ist am Ende selbst eine Puppe. Das Zusammensinken der gefährlichen Figur entlarvt ihren Bann als Illusion, der sich auch die deutsche Bürgerfamilie, aus deren Perspektive die Novellenhandlung dargebracht wird, nicht entziehen konnte. Dies galt zumindest so lange, wie der Illusionist am Leben war. Dass sein Auftritt auch eine politische Komponen-
6. Günter Grass’ Im Krebsgang
te besitzt, sagt Cipolla selbst. Er verweist explizit auf seine guten Kontakte in die Hauptstadt, grüßt sein Opfer Mario mit römischem Gruß, also dem Faschistengruß, den auch die deutschen Gesinnungsgenossen übernommen haben. „Ah, Mario, sehr gut. Doch, der Name kommt vor. Ein verbreiteter Name. Ein antiker Name, einer von denen, die die heroischen Überlieferungen des Vaterlandes wach erhalten. Bravo. Salve!‘ Und er streckte Arm und flache Hand aus seiner schiefen Schulter zum römischen Gruß schräg aufwärts.“ (ebd., 706) Der heroische Gruß aus schiefer Schulter verrät das ungewollt Groteske der faschistisch-antikisierenden Selbstinszenierung des ,Führers‘ wie seiner Gefolgschaft. Mario und der Zauberer ist ein Dokument der Auflösung der Selbstkontrolle im Gewand der Reisenovelle. Die politische Parabel greift schon im Untertitel auf eine Ursituation novellistischen Erzählens, den Reisebericht, zurück. Fatalerweise wird für die Deutschen die Reise ins faschistische Italien zur Reise in ihre eigene Zukunft. Individuelle unerhörte Begebenheiten fügen sich in das Schicksal der Nationen. Insofern ist Mario und der Zauberer Reisenovelle und Schicksalsnovelle zugleich. Thomas Mann betont denn auch in einem Brief im Jahr 1941 an Hans Flesch, „dass die Novelle entschieden einen moralisch-politischen Sinn hat“ (Koopmann, in: Hansen 1993, 156).
6. Günter Grass’ Im Krebsgang Den deutschen Literaturnobelpreisträger von 1999 beschäftigen ähnliche historisch-politische Sachverhalte wie denjenigen, der diese höchste Auszeichnung 1929 erhielt. Die Prophetie totalitärer Herrschaft in Thomas Manns Mario und der Zauberer von 1930, dem Schwellenjahr zu einem Jahrzehnt, das in eine dramatische Steigerung bis zur gewollten Katastrophe von 1939 mündet, wird ergänzt durch eine generationenübergreifende Aufarbeitung eben jenes mörderischen Wendepunktes in der Novelle Im Krebsgang durch Günter Grass (* 1927) zu Beginn des neuen Jahrtausends (2002). Neben jener Aufarbeitung der faschistischen totalitären Herrschaft in ihrer zugespitzten Ausprägung, dem deutschen Nationalsozialismus, wendet sich hier der kritische Blick auch zurück auf den Stalinismus als andere Variante massiven staatlichen Terrors im 20. Jahrhundert. Vom grotesken Vorspiel des Faschismus als italienischer Schmierenkomödie geht der Blick über zu dessen Nachspiel und Weiterwirken, z. B. im jugendlichen Neofaschismus. Das Motto bzw. Fazit der historischen Novelle Im Krebsgang lautet folgerichtig: „Das hört nicht auf: Nie hört das auf“ (Grass 2002, 216). Die unerhörte Begebenheit und Neuigkeit von gestern jedoch, auf die Grass’ historisch-novellistische Rückschau Bezug nimmt, ist der Untergang des ehemaligen KDF-Dampfers ,Wilhelm Gustloff‘, im Jahr 1945 verursacht durch sowjetische Torpedobeschießung vor der Küste von Gdingen, das damals von den deutschen Besatzern Gotenhafen genannt wurde. Tausende von Flüchtlingen aus Ostpreußen und Danzig, der Heimatstadt des Autors, hatten sich vor der näher rückenden sowjetischen Front auf das ehemalige Kreuzfahrtschiff geflüchtet. Darunter befanden sich sehr viele Frauen und Kinder. Der Namenspate des zerstörten Schiffes, Wilhelm Gustloff aus
,In Memoriam‘: Postfaschistische Erinnerungsnovelle
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Historische Monumentalnovelle
Das Schiffssymbol in mythischer Tradition
Schwerin, war in der Schweiz ein Propagandist des Nationalsozialismus gewesen, bevor er 1936 durch David Frankfurter, einen jugoslawischen Medizinstudenten und Sohn eines Rabbiners (der später von den Nazis ermordet wurde), erschossen wurde. Gustloff galt somit als „Blutzeuge der Bewegung“ und sollte durch den Namen des Schiffes geehrt werden. Die Novellenhandlung kreist um die historischen Ereignisse, die aus den verschiedenen ideologischen und nationalen Perspektiven beleuchtet und reflektiert werden sowie um das Schicksal mehrerer Generationen einer Danziger Familie, das zwischen den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart pendelt. Sicher kann dabei nicht übersehen werden, dass mit Im Krebsgang – wie die Kritik deutlich hervorgehoben hat – das Leiden der Flucht, die Opfer der Deutschen nach langer Zeit wieder in den Fokus der deutschen Literatur gerieten (zur Forschungslage vgl. Beyersdorf 2006, Gumpert 2005, Twark 2004). Es ist die Leistung von Günter Grass, dieses Leiden nicht zu verharmlosen, ohne dabei die Opfer sonderlich sympathisch erscheinen zu lassen. Auf dem Deckblatt ist die Novelle von Günter Grass ,In Memoriam‘, also dem Gedächtnis, gewidmet. Gattungsmäßig fußt die Erzählung sowohl auf der Tradition der Erinnerungs- wie der historischen Novelle, nähert sich der Vergangenheit aber nicht mehr gradlinig durch die Aufnahme von Chroniken und Berichten, sondern seitwärts schreitend, unerreichtes Terrain betretend an. Der Erzähler fragt sich, „ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen“ (Grass 2002, 9) Der leitmotivische Krebsgang prägt die ganze Novellenhandlung. Man könnte andererseits – was ihre Ausdehnung wie ihre Komplexität betrifft – von einer Monumentalnovelle in der Tradition des Historismus des 19. Jahrhunderts sprechen. Wie beispielsweise in Theodor Storms mehrfach gerahmter Großnovelle Der Schimmelreiter wird über ein und dieselbe unerhörte Begebenheit, jenen Schiffsuntergang, den das Magazin ,Der Spiegel‘ auch als die „deutsche Titanic“ titulierte, von verschiedenen Erzählperspektiven und -ebenen aus berichtet. Das Schiff, das hier als novellistisches Zentralmotiv fungiert, ist neben dem Haus, das einen zentralen Stellenwert in Kleists Verlobung in St. Domingo besaß, selbst ein Gemeinplatz von großer kulturgeschichtlicher Tradition seit der Arche Noah. Das Schiff formt eine Gruppe Menschen zum schicksalhaften Kollektiv, das entweder an neue Ufer gerettet wird oder gemeinsam untergeht. Dieses Symbol wirkt bis in den religiösen Bereich hinein, die Sinnbilder des steinernen Kirchenschiffs wie des metaphorischen Gemeindeschiffs. Das Schiff erscheint in Im Krebsgang als novellistischer Schicksalsraum wie in Stefan Zweigs Schachnovelle (1942). In den Erzählungen der Danziger Familie Pokriefke wird die Gustloff zum traumatisierenden Traum- und Albtraumschiff. Der Albtraum wird durch den Schiffsuntergang verursacht. Aber: „Es geht nicht um die Darstellung des Ereignisses, sondern um die Überlieferung dieses Ereignisses über drei Generationen.“ (Prokop 2004, 125) Zunächst erzählen die Eltern Tullas „Märchenhaftes von einem großen Schiff“, das „Vater und Mutter Pokriefke, er als Arbeiter und Parteigenosse, sie als Mitglied der NS-Frauenschaft, im Sommer neununddreißig“ (Grass 2002, 33) selbst als KDF-Touristen benutzten. Für ihren Ur-
6. Günter Grass’ Im Krebsgang
enkel wird das Schiffssymbol, „das klassenlos fahrende Motorschiff ,Wilhelm Gustloff‘“, dereinst „der lebendige Ausdruck des nationalen Sozialismus“ (ebd., 190) sein. Schließlich hat seine Großmutter, die Tochter der KDF-Passagiere, lebenslang vom Schiffsurlaub und dem Schiffsuntergang erzählt, der zeitgleich mit dem Ende des politischen Systems erfolgte, das die Familie stützte. Ihr Sohn und ihr Enkel setzen die große Erzählung vom Schiff als Arbeit am erinnerten Familienmythos fort, der gleichzeitig, spätestens aber nach der großen Resonanz auf die Veröffentlichung von Im Krebsgang 2002, ein Nationalmythos wurde. Verschiedene Generationen nähern sich erzählend und nacherzählend dem Ereignis des Schiffsuntergangs an. Neben diesem kollektiven Familiengedächtnis eröffnet sich noch eine zusätzliche, eine elektronische Dimension des Kollektivbewusstseins der Begebenheit: das Internet, in dem auf der Website ,www.blutzeuge.de‘ an das Ereignis erinnert wird. Es wird dort im Chatroom ähnlich über diesen Wendepunkt gestritten, wie in der novellentypischen Rahmenhandlung von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) im Salon über die Französische Revolution und ihre Auswirkungen diskutiert wurde. Gemäß dem durch die französischen Philosophen Roland Barthes (1915–1980) und Michel Foucault (1926–1984) modifizierten Autorbegriff treten in der (post-)modernen Novelle von Günter Grass gleich mehrere Erzählerfiguren auf, die das Geschehen perspektivisch beleuchten und diskursiv weiten. Als Überlebende und Augenzeugin ist zuerst die Mutter des Ich-Erzählers, eines Vertreters der 1968er Generation, zu nennen. Es handelt sich um die auch schon aus der Novelle Katz und Maus bekannte Tulla Pokriefke. Zur Handlungszeit jener thematisch der Danziger Trilogie von Günter Grass verbundenen Novelle war sie noch ein pubertierendes junges Mädchen in einer Jungenhorde. Im Krebsgang läuft sie als ältere Frau auf Vertriebenentreffen herum, die einen erinnernden sozialen Rahmen für vergangene Geschichten bilden wie die geflüchtete ,Gesellschaft auf dem Lande‘ bei Boccaccio. Die mahnende Mutter Tulla erinnert den störrischen Sohn Paul, einen abgehalfterten Journalisten, stets daran, die Katastrophe, die er überlebte, aufzuschreiben, mit den „Kinderchen […] koppunter“: „Biste ons schuldig als glicklich Ieberlebender. Wird ech dir aines Tages erzählen, klitzeklain, ond du denn schreibste auf …“ (Grass 2002, 31). Diese Mutter, die den Ich-Erzähler auf archaische Weise dominiert, gilt einerseits als „Stalins letzte Getreue“ (Grass 2002, 40), andererseits lobt sie die „klassenlose KDFGesellschaft“, „wie bai ons inne Deedeär […] nur scheener noch“ (ebd., 50), als „Vorbild für jeden wahren Kommunisten“ (ebd., 40). Tullas eigentümliches Schwanken zwischen Hitler und Stalin, das der Theorie totalitärer Herrschaft der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) entspricht, mag ein extremes Beispiel einer nazistisch-stalinistischen Chimäre sein. Der Wankelmut auch des proletarischen politischen Bewusstseins zeigt sich in der Novellenhandlung jedoch nicht allein an ihrem Beispiel. Tullas zeitweiliges tierhaftes Leben unter Hunden (ebd., 66) stellt symbolisch dar, dass ihre Stärke aus dem Animalischen und nicht aus einer etwaigen Intellektualität herrührt. Hündisch im übertragenen Sinn ist auch Tullas Ergebenheit gegenüber Hitler und Stalin. Das Tierhafte symbolisiert zusätzlich ihr leitmotivisch erwähnter Fuchspelz (ebd., 176, 180, 191, 198):
Das Muster des postmodernen Erzählens
Tulla: Erzählerin des Untergangs
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Paul: ein erfolgloser Journalist als Novellenerzähler
Der Alte als alter ego
Sie ist vielleicht keine Venus im Pelz, wie der Titel einer bekannten erotischen Novelle von Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895) lautet, aber eine „Hexe mit Fuchspelz“ (ebd., 193). Vollends zur mythischen Frauengestalt, zur Najade, wird sie dadurch, dass „irgendein kaschubischer […] Wassergeist, Thula, Duller oder Tul […] ihr Pate gewesen sein“ (ebd., 193 f.) soll. Ihr tritt als Überlebender, wenn auch nicht als Augenzeuge, ihr unehelicher Sohn, der Ich-Erzähler Paul Pokriefke, geboren am 30. Januar 1945, zur Seite. Angesichts der unübersichtlichen Promiskuität Tullas ist Paul im Wortsinn ein lebendes Beispiel für Alexander Mitscherlichs (1908–1982) sozialpsychologisches Modell der postfaschistischen vaterlosen Gesellschaft. Als monströse Mutter mit einem „Männertick“, von ihrem Sohn bisweilen als „das zähe Miststück“ (ebd., 19) tituliert, dominiert die geistig eher schlichte Tulla die Kindheit des Erzählers (ebd., 6), wie sie auch ihren intelligenten Enkel formt. Nahe am todbringenden Meerwasser erfolgt, zeichnet die Geburt ihres Sohnes Paul im Augenblick des Untergangs (ebd., 145) denselben als Prototyp der Nachkriegsgeneration aus. Der Erzähler fungiert – wie der frühe Novellist Johann Peter Hebel (1760–1826) – als „Kalendermacher“ mit Sinn für historische Zeitpunkte. Er wird später ein Republikflüchtling aus der DDR, lässt seine Mutter in Schwerin zurück, studiert in Westberlin Germanistik, bricht das Studium ab und arbeitet danach als freier Journalist bei politisch sehr unterschiedlich ausgerichteten Blättern, z. B. im Springer-Verlag, aber auch bei der taz, was nicht auf einen klaren weltanschaulichen Standpunkt schließen lässt. Auch privat gibt es in seinem Leben alltägliche Brüche. Paul Pokriefke ist geschieden, Vater eines Sohnes namens Konrad, der später wesentlich zum dramatischen Höhepunkt der Novelle beitragen wird. Dieser berufliche Rechercheur steht bei seinen Nachforschungen zwischen zwei Auftraggebern. Einerseits fordert seine Mutter ihn beständig auf, vom Untergang der ,Gustloff‘ zu berichten. Andererseits ist er offiziell von einem geheimnisvollen „Alten“ (ebd., 31) beauftragt, sich demselben Gegenstand zu widmen und ihm möglichst viele Informationen über die Schiffskatastrophe und ihre Hintergründe zu liefern. Dieser „Jemand“ (ebd., 7) sitzt dem Erzähler gleichsam fordernd im Nacken, er „nörgelt“ (ebd., 55) über dessen Recherchearbeit. Aus dem Kontext wird sichtbar, dass es sich um eine Personifikation des Autors Grass selbst handeln muss. Auch der Alte will in der erinnerten Jugendfreundin Tulla das Rätsel ,Weib‘ sehen und ist doch enttäuscht über ihre Banalität (ebd., 100). Die Hintergrundgestalt des „Alten“ (ebd., 53, 55, 99), des „Arbeitgebers“ (ebd., 53), den kleine „Erinnerungsbrocken“ (ebd., 55) nicht satt machen und dem der Ich-Erzähler zuliefern muss, dominiert die Erzählung wie ein Marionettenspieler. Dies ist nicht der einzige selbstreflexive bzw. autopoetologische Bezug dieser Novelle. Wortwörtlich knüpft der besagte Alte nämlich an Erika Mann an, die ihrem Vater angesichts des frühfaschistischen ,tragischen Reiseerlebnisses‘ von Kellner und Zauberer zu einer Novelle riet: „Er sagt, mein Bericht habe das Zeug zu einer Novelle.“ (ebd., 123) Paul obliegt mithin die Schaffung einer postfaschistischen Novelle aufgrund der „Sichtung des mir zugänglichen Materials“ (ebd., 39). Diese Gattung ist dem Ich-Erzähler nicht neu. Schließlich hat er, als er „noch ein alimentierter Bummelstudent
6. Günter Grass’ Im Krebsgang
war […] an der TU Professor Höllerer gehört“ (ebd., 30), unter anderem über Kleist. So ist er auch fähig zur autopoetologischen Reflexion über die Erzählzeit während des Erzählens: „Also warte ich, bis nach dem gegenwärtigen Sekundenschwund wieder Erzählzeit abgespult werden kann.“ (ebd., 54) Zur klassischen Textgattung der gedruckten Novelle tritt an der Schwelle des 21. Jahrhunderts noch ein weiteres Medium, ein neuer Vermittler von Textgattungen, hinzu: das „alles wiederkäuende Internet“ (ebd., 71). Es dient als Erinnerungsraum, als Gedenkhalle und als Gesprächszimmer. Für diese neuen „Imaginary Spaces“ (Veel 2004, 214) ist naheliegender Weise der Jüngste im vielgesichtigen „Autorenteam“ der Grass-Novelle zuständig: Konrad, der Sohn von Paul und Enkel von Tulla mit seiner bereits erwähnten rechtsextremen Website ,www.blutzeuge.de‘. Wie seine PDS-wählende (Grass 2002, 210) Großmutter ist er keinem politischen Spektrum eindeutig zuzuordnen. Er pflegt antikapitalistische, linksrechte Feindbilder, ist beispielsweise auch gegen die westliche „Plutokratie“ (ebd., 65) sowie stets um Ritterlichkeit gegenüber seinen Feinden bemüht (vgl. ebd., 191). Auch Konny wächst wie sein Vater Paul vaterlos auf und ist als grübelnder Einzelgänger – passend zur historischen Erinnerungsnovelle – „ausschließlich vergangenheitsbezogen“ (ebd., 67). In einer an Tieck und Storm erinnernden novellentypischen „Bildergalerie“ (ebd., 203) will er Gustloff und andere Personen der Vergangenheit, auf die er fixiert ist, bannen. Passend zu den Fjordfahrten der ,Gustloff‘ trägt Konny überdies das leitmotivische Kleidungssymbol des Norwegerpullovers (ebd., 75, 202, 215). Das Internet dient dem Einzelgänger auch als Versteckmöglichkeit, um seine Identität zu verbergen. Der zunächst ahnungslos recherchierende Vater Paul trifft auf der Erinnerungsseite zur ,Gustloff‘ auf „Besserwissereien, die im Chatroom zum Streit führen“ (ebd., 36), in „teils deutsch, teils englisch angeführtem Gequassel“ (ebd., 13), ohne zunächst zu bemerken, dass er dabei seinem eigenen Sohn lauscht. Das schon bei Boccaccio novellentypische Versteck erhält hier eine völlig neue technische Dimension. Der Vater Paul, dessen Berufsbild dem novellentypischen Motto „Täglich Neues. Neues vom Tage“ (ebd., 7) folgt, formt durch seine Nachforschungen eine Novelle mit dem Internet als historischem Gedächtnis. Ständig beruft er sich auf diese oder jene „Information, die ich mir aus dem Internet gefischt habe“ (ebd., 25). Im vom Barockkenner Grass, dem Verfasser des Treffens in Teltge, nicht zufällig so genannten „virtuell überfüllten Welttheater“ (ebd., 46) des Internets als „Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte“ im Sinne Harsdörffers brechen Konflikte aus, die in der Realität einen tödlichen Ausgang haben können. Die vielschichtige Novellenhandlung entspinnt sich zwischen diesen verschiedenen Blickwinkeln und Erzählpolen polyperspektivisch. Ständig wechselt so die Zeitebene. Zunächst wird von Wilhelm Gustloff berichtet und der Hergang des Attentates, das David Frankfurter auf ihn verübt, geschildert. Gustloff erscheint als gebrochene Existenz. Wie Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924), ist er ein deutscher, lungenkranker „Held“ in der Schweiz (vgl. Grass 2002, 9), dessen Frau überdies bei einem jüdischen Anwalt arbeitet. In der Novelle als Geschichts-Synopse werden die gebrochenen „Täter“ parallelisiert: Gustloffs Mörder litt „seit seiner Kindheit an chronischer Knochenmarkeiterung“
Konrad: Mythomane und -erzähler
Das Attentat auf Gustloff
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Die politische Verführbarkeit des Proletariats
Tullas Wechsel zwischen den Totalitarismen
(ebd., 15). Ein psychologisches Gutachten sagt über Frankfurter aus: „Seine Depression gebar die Selbstmordidee. Der in jedem immanente Selbsterhaltungstrieb hat aber die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer gelenkt.“ (ebd., 17) Auch angesichts des Todes von Wilhelm Gustloff herrscht ein ideologischer Perspektivwechsel vor: „Was bei Wolfgang Diewerge [einem antisemitischen NS-Propagandisten; Anm. d. Verf.] ,eine feige Mordtat‘ hieß, geriet dem Romanautor Emil Ludwig zum ,Kampf Davids gegen Goliath‘.“ (ebd., 28) Die Aussage Frankfurters, „Ich habe geschossen, weil ich Jude bin!“ (ebd.), wird in der Handlungsstruktur in abgewandelter Form noch einmal aufgenommen, und zwar durch Pauls Sohn Konrad. Es muss überdies betont werden, dass besagter Emil Ludwig nicht als Romanautor, sondern als Bestsellerautor von Biografien berühmt wurde. Im zweiten Kapitel geht es in die Gegenwart zurück. Hier stößt der IchErzähler Paul Pokriefke im Jahr 1996 im Internet auf die Seite seines Sohnes, auf der für die Wiederherrichtung des Gustloff-Denkmals plädiert wird. Der virtuelle Gedächtnisort soll langfristig wieder durch ein steinernes Denkmal ersetzt werden. Dies führt den Erzählstrang zurück zur Geburt des GustloffMythos. Das Attentat ist eine von mehreren unerhörten Begebenheiten der Großnovelle. Es ist als die erste novellentypische „Mordgeschichte“ (vgl. ebd., 26 ff.) zu nennen. Weiterhin folgt als zweiter dramatischer Höhepunkt der Untergang des nach Gustloff benannten Schiffes. Der Schluss der Handlung mündet dann in einen tödlichen Streit zweier deutscher junger Männer in der Gegenwart. Der Mythos, auf den diese fatale Handlungskette zurückzuführen ist, liegt begründet in Gustloffs pompöser Bestattung und der Taufe des besagten KDF-Schiffs nach dem „Märtyrer“ der nationalsozialistischen „Bewegung“. Zurück geht die Perspektive dann auf das Leben des gegenwärtigen Ich-Erzählers, auf dessen eigenes Lebensschicksal die historischen Fakten zulaufen, die er selbst sammelt. Er trennt sich von seiner Ehefrau Gabi, einer Lehrerin, die nun in Mölln lebt, der in Grass’ Gedichtzyklus Novemberland als Tatort eines fremdenfeindlichen Mordanschlags (vgl. ebd., 74) beschriebenen „Eulenspiegelstadt“ (ebd., 43). Paul sieht seinen Sohn Konrad nur noch sporadisch. Anschließend springt die Handlung wieder in die 1930er Jahre zurück: Die ,Gustloff‘ erlebt im Mai 1937 unter der Anwesenheit Hitlers ihren Stapellauf. Die Werftarbeiter jubeln ihm zu. Für die Arbeiterin Tulla ist die ,Gustloff‘ ein „klassenloses Schiff“ (ebd., 50). Grass rechnet an dieser Stelle mit dem egalitären Totalitarismus und seiner brutalen Gleichmacherei ab. Er ist eine den Einzelnen weltanschaulich und moralisch korrumpierende Übermacht. Schließlich hatten dieselben Werftarbeiter, die jetzt dem ,Führer‘ huldigen, bei „der letzten Wahl, vor vier Jahren noch […] für die Sozis oder Kommunisten gestimmt“ (ebd., 51). Die mit dem Slogan ,Kraft durch Freude‘ verbundene Propaganda zeigt Wirkung: Tullas Vater wird durch die KDF-Fahrt nach Norwegen ein „Hundertfuffzigprozentiger“ (ebd., 67). Auch das Arbeitermilieu wird folglich als politisch verführbar dargestellt. Das dritte Kapitel ist der Mutter Tulla gewidmet, die 17-jährig und von einem unbekannten Mann geschwängert auf das sagenhafte Schiff flüchtet und deren Haare sich zur bleibenden Erinnerung an die Katastrophe exakt am zentralen Wendepunkt der Novelle weiß färben (ebd., 140). Danach muss sie sich als ledige Mutter in der sowjetischen Besatzungszone, der
6. Günter Grass’ Im Krebsgang
späteren DDR, zurechtfinden, was ihr durch einen jähen Ideologiewechsel von Hitler zu Stalin, sogar zum Antifaschismus, auch gut gelingt. Anschließend richtet sich der erzählerische Blickwinkel weg vom Privaten, das bei Grass auch immer politisch ist, zurück ins Jahr 1939, in dem die KDF-Flotte zu Truppentransportern umfunktioniert wird und die ,Gustloff‘ nach dem Sieg der Franquisten deutsche Hilfstruppen aus Spanien zurückholt. Zurück in der Gegenwart, entdeckt der Vater Paul dann erschrocken, wer der Betreiber der Wilhelm-Gustloff-Verherrlichungs-Seite sein muss: Bekanntlich ist dies sein stiller Sohn. Zu Beginn des vierten Kapitels wird ein Arbeitsgespräch mit dem ,Alten‘ geschildert, der sein Versäumnis, dass er selbst nichts über das Ereignis geschrieben hat, bedauert und Paul mit seiner Niederschrift beauftragt. Sein Sohn Konrad, der in der Zwischenzeit zur Großmutter nach Schwerin gezogen ist, hält dort vor rechtsradikalen Skinheads einen erfolglosen Vortrag über Wilhelm Gustloff. Das Publikum will aggressive Action und keine Geschichtsstunde. Das besagte Schiff beherbergt ab November 1940 vier Kompanien einer Lehrdivision und wird in Gdingen nahe Danzig angedockt. So nähert es sich örtlich seiner Katastrophe und der Lebenskatastrophe Tullas im Schwellenjahr 1945 an. Deren Enkel wird von seiner Großmutter im Jahr 1995 auf ein Treffen der Überlebenden der ,Gustloff‘ anlässlich des 50. Jahrestags jenes Schiffsuntergangs mitgenommen. Auch Paul ist dabei, ahnt aber nichts davon, dass hier eine Art letzte Initiation seines Sohnes in den Revanchismus stattfindet, den er mithilfe eines neuen Computers, den ihm seine Großmutter Tulla besorgt, weltweit im Internet verbreiten soll. Dass sein Sohn von jenem Schiff so besessen ist, führt Paul nicht zu Unrecht auf seine dominante Mutter zurück. Zuvor hatte der Enkel nämlich „wie ein Schwamm“ (Grass 2002, 43) das rechte Gedankengut in Gestalt der „Story vom ewigsinkenden Schiff“ (ebd., 44) „aufgesogen“ und soll nun der Verkünder der großmütterlichen Geschichte sein. Schließlich ist er – laut Tulla – nicht „son Versager“ (ebd., 45) wie sein Vater. Als der Vater ahnt, dass sein Sohn sich in der virtuellen Welt hinter der Blutzeugenseite verbirgt, tritt plötzlich ein virtueller Jude namens David (vgl. ebd., 48, 106, 118) auf den Plan und verteidigt das Attentat auf Wilhelm Gustloff: „Es war, als spielte sich dieser Schlagabtausch im Jenseits ab. Dabei ging es irdisch gründlich zu. Beim Stelldichein von Mörder und Ermordetem wurden immer wieder die Tat und deren Motiv durchgekaut.“ Wobei sich ab und an der Ton lockert und sich die beiden virtuellen Kontrahenten mit „Tschüss, du geklontes Nazischwein!“ (Grass 2002, 49), „Mach’s gut, Itzig!“ (ebd.) verabschieden und andere Teilnehmer aus dem Chatroom herausmobben, weil ihnen ihre anonymen Rollenspiele als jüdischer ,David‘ und deutscher ,Wilhelm‘ (und irgendwie auch der jeweilige Kontrahent) am Herzen liegen. So kommt in dem älteren Beobachter Paul der Eindruck auf: „Zwei Spaßvögeln saß ich auf, die es blutig ernst meinten.“ (ebd.) In der Rückblende landen neben Tulla auch ihre Eltern auf dem Schiff, auf dem sie einst die erste und letzte Kreuzfahrt ihres Lebens erlebten. Im sechsten Kapitel wird präzise der Angriff des sowjetischen U-Boots auf das Flüchtlingsschiff mit drei Torpedos geschildert. Tod und Leben sind archaisch verbunden: Gleichzeitig wird der Erzähler Paul geboren. Das Ereignis markiert einen novellentypischen Wendepunkt (Peripetie) des Geschehens.
Der rechtsradikale Opfermythos
Eine Feindfreundschaft im Internet
Der Schiffsuntergang als dramatischer Wendepunkt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Ein tödliches Duell
Novellenbausteine und offenes Ende
In der Not erweist sich die ,Gustloff‘ jedoch nicht als Heldenschiff: Viele Männer überleben die Katastrophe (ebd., 152) – auch dieses Detail trägt zur Destruktion des Mythos bei. Danach folgt die Rettung Tullas und ihres Kindes, aber auch das Schicksal des sowjetischen U-Boot-Kommandanten, neben Gustloff und Frankfurter ist er der dritte im Bund der Täter. Jener Kommandant Alexander Marinesko, geboren 1913, verfällt ob seiner ausgezeichneten Heldentat dem Alkohol (ebd., 169) und ist damit einer von vielen Beteiligten am Kriegsgeschehen, die zwischen Täter- und Opferrolle pendeln. Dann jedoch erfolgt nach dem Sprung in die Gegenwart eine dramatische Zuspitzung, die sich für Paul als Mitleser des Chats zwischen ,David‘ und ,Wilhelm‘ schon lange ankündigte: Am 20. April 1997, dem Geburtstag Adolf Hitlers, treffen sich der Betreiber der Internet-Seite www.blut zeuge.de Konrad Pokriefke und der Oberschüler Wolfgang Stremplin in Schwerin. Die beiden Schüler haben in einem historistischen Rollenspiel in der virtuellen Welt des Internets, in dem sich Konrad als ,Deutscher‘ Wilhelm (Gustloff), der ,Jude‘ Wolfgang als David (Frankfurter) ausgab, die ideologischen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal nachgespielt. Sowohl die gewählte deutsche wie die gewählte jüdische Identität der beider ideologiefixierten jungen Männer entsprechen mehr den Klischees von völkischem Nationalismus bzw. radikalem Zionismus als der Lebenswirklichkeit beider Völker. An der ehemaligen WilhelmGustloff-Gedenkstätte in seiner Geburtsstadt Schwerin, im Gegensatz zu Konnys Webseite ein realer Erinnerungsort, erschießt Konrad seinen ,Freundfeind‘ Wolfgang, der sich aus Philosemitismus im Chatroom fälschend camoufliert hatte (ebd., 117). Auch in dieser angenommenen jüdischen Identität, die durchaus ein reales zeitgeschichtliches Phänomen unter deutschen Prominenten, etwa aus der Kulturszene, ist, sollen Erinnerung und Schuld aufgearbeitet werden. In Anknüpfung an den Gustloff-Attentäter David Frankfurter bekennt Konrad: „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin!“ (ebd., 173) Seine Waffe ist – auch da schließt sich der Kreis totalitärer Herrschaftsformen – aus sowjetischen Restbeständen (ebd., 182 f.). Die Konstellationen der historischen Erinnerung werden in der Gegenwart blutig nachgespielt. Der innerliterarische Bezug zum Duell zwischen Naphta und Settembrini in Thomas Manns Zauberberg ist gleichfalls offensichtlich. Im achten Kapitel wird der Prozess dargestellt, bei dem die Großmutter Tulla ihren Enkel Konrad mit großen Worten und wenig Erfolg verteidigt. Konrad hält eine lange Schlussrede, bevor er zu sieben Jahren Jugendgefängnis verurteilt wird. Im neunten Kapitel wird schließlich geschildert, dass der tüchtige junge Deutsche in der Haft ein gutes Fernabitur ablegt. Ob er jedoch ideologisch geläutert ist, bleibt unklar. Verdachtsmomente bleiben, die mit seinen sozialen Aktivitäten in der Haftanstalt – er gibt beispielsweise Computerkurse – verbunden sind. Am Schluss stößt sein entsetzter Vater im Internet auf eine Webseite namens www.kameradschaft.konrad-pokriefke. de. Das Vergangene will nicht vergehen. Die pathetische „deutsche Ideologie“ (Theodor W. Adorno, anknüpfend an Marx) lebt auch in den virtuellen Weiten weiter. Der Widerspruch verbleibt, die „so genannte ,Wahrheit der Geschichte‘ ist ohne Berücksichtigung der sehr unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Geschichte nicht zu erreichen“ (Segebrecht 2004, 249).
6. Günter Grass’ Im Krebsgang
Die Novelle erweist sich – wie am Beispiel von Im Krebsgang ersichtlich wird – auch im 21. Jahrhundert als Gattung des überstrukturierten und übersymbolisierten Prosatextes. Ob Tullas Fuchspelz, Konrads zum Kreuzfahrtziel passender Norwegerpullover oder das alles dominierende topologische Schiff, für Foucault der andere Ort, die Heterotopie, schlechthin – der Falken flattern hier viele.
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Kommentierte Bibliographie Texte und Werkausgaben Anekdoten der Weltliteratur. Eine Auswahl aus drei Jahrtausenden. Mit einem Nachwort von Federico Hindermann. 3. Aufl. Zürich 1998. [Enthält unter anderem auch frühe Novellen wie Gyges und das Weib des Kandaules, S.11–14, sowie Auszüge aus dem Novellino (um 1280–1300), S. 157–169.] Auerbach, Berthold: Schwarzwälder Dorfgeschichten. Mit einem Nachwort von Jürgen Hein. Ditzingen 1984. [Eine preiswerte, repräsentative Auswahl aus dem Gesamtwerk des Begründers einer eigenständigen Novellengattung.] Bergengruen, Werner: Die drei Falken. Novelle und Gegenwart. Hamburg 2000. [Neben einer klassizistischen Novelle über das durch Heyse tradierte Falkensymbol enthält der Band eine konzise Novellentheorie Bergengruens.] Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. Mit einem Nachwort von Bernhard König. Frankfurt/Main 1961. [Eine gut besorgte und übersetzte Ausgabe des zentralen Novellenkranzes der europäischen Literatur.] Eichendorff, Joseph von: Werke in 6 Bänden. Bd. 5. Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften. Hrsg. von Hartwig Schultz. Mit einem Essay von Wolfgang Frühwald. Frankfurt/Main 1993. [Diese ausgezeichnet kommentierte Ausgabe enthält unter anderem aufschlussreiche Erzähltexte aus dem Grenzbereich zwischen Novelle und Autobiografie, natürlich sind auch die beiden Bände mit Erzählungen und Novellen aus dieser Ausgabe (Bd. 2, 3) empfehlenswert.] Ernst, Paul (Hrsg.): Altitaliänische Novellen. 2 Bde. Leipzig 1907. [Eine gut übersetzte Auswahl repräsentativer Novellen der italienischen Renaissance.] Flasch, Kurt: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron. München 2002. [Flasch übersetzt virtuos elf Liebesgeschichten aus dem Dekameron und unterzieht sie einer philosophiegeschichtlich bestimmten (Neu-)Interpretation, die Boccaccio als Philosophen und die leidgeprüfte Griselda als Stoikerin deutet.] Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bände. Hrsg. von Erich Trunz. München 1999. [Eine bis heute zweckmäßige, materialreiche Ausgabe der wesentlichen Werke Goethes.]
Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. 2. Aufl. Göttingen 2002. [Eine von der Kritik positiv aufgenommene Geschichtsnovelle, die das historische Gedächtnis um die Welt des Internets ergänzt.] Harsdörffer, Georg Philipp: Jämmerliche Mord-Geschichten. Ausgewählte novellistische Prosa. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hubert Gersch. Neuwied, Berlin 1964. [Eine kleine Auswahl aus Harsdörffers Novellenkränzen mit einem aufschlussreichen Nachwort.] Harsdörffer, Georg Philipp: Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte. Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Vorwort von Waltraud und Matthias Woeller. Leipzig, Weimar 1988. [Ein repräsentativer Überblick über Harsdörffers ,Schauplätze‘, mit einer biografisch-literatursoziologischen Einleitung.] Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Nachwort von Fritz Martini. Ditzingen 1986. Hinck, Walter (Hrsg.): Jahrhundertchronik. Deutsche Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2000. [Eine Erzählanthologie, die einen Überblick über alle Epochen des 20. Jahrhunderts bietet.] Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sechs Einzelbänden. Hrsg. von Walter Müller-Seidel. München 1976 ff. [Eine mit aufschlussreichem Apparat versehene Ausgabe eines der einflussreichsten Novellisten der europäischen Romantik.] Italien-Dichtung. Band 1. Erzählungen von der Romantik bis zur Gegenwart. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Ditzingen 1988. [Ein breiter Einblick in die deutsche Novellistik über das Sehnsuchtsland Italien.] Italienische Novellen. 3 Bände. Hrsg. von Lambert Schneider. Berlin o. J. [1941]. [Die Bände enthalten übersetzte Novellen vom Hochmittelalter bis in die Barockzeit aus dem Ursprungsland der Gattung.] Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Text und Kommentar. Frankfurt/Main 2002. Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novelle. Mit einem Nachwort von Konrad Nussbächer. Stuttgart 2002. Keller, Gottfried: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walter Morgenthaler. Basel, Zürich 1996 ff. [Die Leute von Seldwyla: Bd. 4,
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Kommentierte Bibliographie 5, 21 (Apparat); Züricher Novellen: Bd. 6, 22 (Apparat).] Kleist, Heinrich von: Die Verlobung in St. Domingo. Das Bettelweib von Locarno. Ditzingen 1984. Lucius Apuleius: Der goldene Esel. In: Klassiker der Erotik. Wien 1980. [Im Gegensatz zu anderen Sammlungen Milesischer Geschichten ist dieses Erzählwerk nicht den Bücherverlusten und -verbrennungen der christlichen Spätantike zum Opfer gefallen.] Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 8: Erzählungen. Frankfurt/Main 1995. [Noch die beste Thomas-Mann-Ausgabe; von der zitierwürdigen und lesenswerten Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe ist schon der Band Frühe Erzählungen erschienen, der alle Novellen bis 1912 enthält, einschließlich Der Tod in Venedig.] Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg.): Der Kanon. Die deutsche Literatur. Erzählungen. 10 Bände und 1 Begleitband. Frankfurt/Main 2003. [Eine Anthologie, die neben verwandten Gattungen auch viel Novellistisches enthält.] Ders. (Hrsg.): Deutsche Geschichten. 1900–1960. 5 Bände. München 1986. [Die Anthologie enthält neben Texten des kanonischen Höhenkamms auch viele expressionistische und neoklassizistische Novellen heute vergessener Autoren.] Schiller, Friedrich: Sämtliche Erzählungen. Mit einer Einleitung von Emil Staiger. Frankfurt/Main, Leipzig 2005. Storm, Theodor: Erzählungen. Hrsg. von Rüdiger Frommholz. Stuttgart 1988. [Eine preiswerte, groß angelegte Auswahl der Novellen Theodor Storms.] Sturm, Dieter, und Klaus Völker (Hrsg.): Von den Vampiren und Menschen-Saugern. Dichtungen und Dokumente in zwei Bänden. München 1968. [Die Anthologie enthält einige der bedeutendsten Vampir- und Schauernovellen der Weltliteratur.] Wieland, Christoph Martin: Das Hexameron von Rosenhain. Hrsg. von Peter Goldammer. Berlin 1999. [Ein zentrales Werk deutscher Novellentradition, versehen mit ausführlichen Erläuterungen.] Zweig, Stefan: Meistererzählungen. Frankfurt/Main 2005. [Eine preiswerte Ausgabe wichtiger Novellen und Anekdoten eines weltweit rezipierten deutschsprachigen Novellisten.]
Einführungen und Handbücher Aust, Hugo: Novelle. 4. Aufl. Stuttgart, Weimar 2006. [Eine grundlegende Einführung in die Gattungsproblematik, die vor allem Dingen durch klare Begrifflichkeit und ihre umfangreiche Bibliografie hervorsticht.]
Ders.: Realismus. Stuttgart 2006. Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt 2005. [Eine Einführung, die auch die Novellistik jener Kunstepoche musterhaft interpretiert.] Bonciani, Francesco: Lezione sopra il Comporre delle Novelle [1574], in: Bernard Weinberg (Hrsg.): Trattati di Poetica e Retorica del Cinquecento. Volume Terzo, Bari 1972, S. 137–173. Maschinenschriftliche deutsche Übersetzung unter dem Titel Composition der Novelle in: Paul-Ernst-Archiv der Universitätsbibliothek Regensburg (Typoskript: Signatur: 250/AM 95801 M 2–2,10/4). [Die zentrale Novellenpoetik der Renaissance-Epoche, von der noch keine publizierte deutsche Übersetzung vorliegt.] Breuer, Ingo (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009. [Ein Kompendium mit vielen aufschlussreichen Beiträgen.] Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Neuausgabe in einem Band. München 1994. Paperback-Ausgabe. Düsseldorf 2006. Dedering, Thomas: Kurze Geschichte der Novelle. München 1994. [Trotz der im Titel betonten Kürze erhebt diese Übersicht in die Gattungsgeschichte seit Boccaccio einen komparatistischen Anspruch, den sie auch weitgehend einlöst.] Durzak, Manfred: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. Stuttgart 2002. [Eine kenntnisreiche Übersicht über die (vermeintliche) Nachfolgegattung der deutschen Novelle.] Erné, Nino: Die Kunst der Novelle [1956]. Hamburg 1995. [Eine Novellentheorie in Form eines Novellenkranzes, eine spielerische Annäherung an die Gattungsproblematik.] Freund, Winfried: Novelle. Stuttgart 1998. Neue Ausgabe 2009. [Eine Einführung in die deutsche Gattungsgeschichte, die einen breiten und profunden Überblick bietet.] Freund, Winfried (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993. [Eine Aufsatzsammlung über die kanonisch hervorgehobenen Novellen der letzten drei Jahrhunderte.] Gebhardt, Armin: Ludwig Tieck. Leben und Gesamtwerk des ,Königs der Romantik‘. Marburg 1997. [Tieck galt den Zeitgenossen, etwa Heinrich Heine, als der bedeutendste deutsche Novellist.] Greiner, Bernhard: Kleists Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2000. [Eine Analyse, die die Erzähltexte Kleists auslotet.] Grothe, Heinz: Anekdote. Stuttgart 1984. [Eine knappe, konzise Einführung in die Gattung.] Hillenbrand, Rainer: Heyses Novellen. Ein literarischer Führer. Frankfurt/Main, Bern u. a. 1998. [Die
Kommentierte Bibliographie erste, sehr materialreiche Gesamtübersicht über das umfangreiche Novellenschaffen eines der bedeutendsten deutschen Novellisten des 19. Jahrhunderts.] Hilzinger, Sonja: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Stuttgart 1997. [Über das eigentliche Thema hinaus liefert die Abhandlung eine konzise Definition einer „Schwestergattung“ der Novelle.] Himmel, Hellmuth: Geschichte der deutschen Novelle. Bern, München 1963. [Eine umfangreiche Darstellung der deutschen Novellistik, die auch heute vergessene Autoren detailliert einbezieht.] Jäger, Andrea: Conrad Ferdinand Meyer zur Einführung. Hamburg 1998. Klein, Johannes: Geschichte der deutschen Novelle. Von Goethe bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1960. [Eine werkimmanente Einführung in die Gattung und ihre Geschichte, deren Kanon stark an klassizistisch-konservativen Kriterien orientiert ist, versehen mit konzisen Inhaltsangaben, die auch der vorliegenden Einführung als Hilfestellung dienten.] Kilchenmann, Ruth J.: Die Kurzgeschichte. Formen und Entwicklung. Stuttgart u. a. 1978. Knopf, Jan: Die deutsche Kalendergeschichte. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt/Main 1983. [Eine Einführung in eine „Schwestergattung“ der Novelle, die auch sozialkritische Autoren des 20. Jahrhunderts eingehend behandelt.] Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Frankfurt/Main 2005. [Eine kompakte Einführung in das Gesamtwerk des bedeutenden Novellenautors, mit einer umfangreichen Übersicht über die Erzählungen.] Kunz, Josef: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik. Berlin 1992. [Eine wesentlich werkimmanente Darstellung der bedeutendsten Novellen zweier zentraler Epochen deutscher Novellistik.] Ders. (Hrsg.): Novelle. Darmstadt 1968. [Bis heute eine der aufschlussreichsten Zusammenstellungen der Novellentheorie von der Goethe- bis in die Nachkriegszeit.] Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben und Werk mit einem Handschriftenkatalog. Berlin, 2. erw. und verb. Aufl. 1988. [Eine kompakte Einführung zu Theodor Storm.] Marx, Leonie: Die deutsche Kurzgeschichte. Stuttgart 1985. [Eine profunde Einführung in die mit der Novelle eng verwandte Erzählgattung.] Matuschek, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben – eine Biographie. Frankfurt/Main 2006. [Eine aktuelle Biografie eines der weltweit erfolgreichsten deutschsprachigen Novellisten des 20. Jahrhunderts.]
Morgenthaler, Walter (Hrsg.): Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2007. Polheim, Karl Konrad (Hrsg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981. [Eine ausführliche Sammlung von literaturhistorischen Abhandlungen verschiedener Autoren, bei denen diejenigen über Spätmittelalter, Renaissance und Barock für die Forschung wegweisend waren. Die Frage nach der Gattungsdefinition der Novelle bleibt zeittypisch weitgehend ausgespart.] Ders. (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970. [Eine Zusammenstellung der Novellentheorien seit Wieland, die in ihren Textauszügen ein noch breiteres Spektrum bietet als die von Josef Kunz (1968), die ihrerseits mehr Wert auf ungekürzte Texte legt.] Ders.: Novellentheorie und Novellenforschung. Ein Forschungsbericht. 1945–1964. Stuttgart 1965. [Ein ausführlicher Forschungsbericht aus der Zeit, in der am intensivsten über Sinn und Unsinn des Novellenbegriffs gestritten wurde.] Rath, Wolfgang: Novelle. Göttingen 2008. [Eine interessante Einführung, die die Gattung vor allem als „Schwester des Dramas“ erschließt.] Schiwy, Günther: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. München 2000. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München 2007. [Eine Biografie, die auch die Genese von Kleists Prosatexten eingehend behandelt.] Sorg, Reto: Kurze Prosa. In: Handbuch Fin de Siècle. Hrsg. von Sabine Haupt und Stefan B. Würffel. Stuttgart 2008, S. 369–414. [Eine Übersicht über die Herausforderungen, die die Moderne an die tradierte Gattung Novelle stellte, und die Art und Weise, wie sie von Novellisten bewältigt wurden.] Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984. [Eine Einführung in das Gesamtwerk des Autors von Bahnwärter Thiel.] Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt/Main 2004. [Eine Einführung in einen Diskursivitätsbegründer des Fantastischen wie der entsprechenden Novellistik.] Verweyen, Theodor: Georg Philipp Harsdörffer – ein Nürnberger Barockautor im Spannungsfeld heimischer Dichtungstraditionen und europäischer Literaturkultur. Siehe unter: www.erlangerliste.de/res sourc/hars2.html. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen. In: Helmut Brackert, Jörn Stückrath (Hrsg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1992, S. 252–269. [Eine kurze Einführung in grundlegende Probleme der Gattungstheorien und -fragen.] Wiegmann, Hermann: Die Erzählungen Thomas
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Kommentierte Bibliographie Manns. Interpretationen und Realien. Bielefeld 1992. [Neben Koopmanns Handbuch eine weitere Einführung in das Werk des großen Erzählers.] Wiese, Benno von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Düsseldorf 1967. [Eine seinerzeit, z. B. in Bezug auf Kafka, innovative Übersicht über 200 Jahre Gattungsgeschichte.]
Sonstige zitierte Fachliteratur, Einzelanalysen Arend, Elisabeth: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron. Analecta Romanica. Heft 68. Frankfurt/Main 2004. Ariès, Philippe: Die Geschichte der Mentalitäten. In: Jacques Le Goff u. a. (Hrsg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt/Main 1994, S. 137–165. [Das Zeitempfinden wie die Zeitökonomie, die mit der Genese der Gattung Novelle eng verbunden sind, stehen im Mittelpunkt dieses Aufsatzes.] Auerbach, Erich: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. 2., durchges. Ausgabe. Heidelberg 1971. [Eine Auseinandersetzung mit den Strukturtechniken der frühen Novellistik, etwa der Rahmensetzung.] Barker, Andrew: Race, Sex and character in Schnitzler’s ,Fräulein Else‘. German Life and Letters 54, 2001, S. 1–9. [Eine Interpretation einer Avantgarde-Novelle der deutschsprachigen Literatur der Wiener Moderne.] Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen: Goethe–Tieck–E. T. A. Hoffmann. Heidelberg 2008. [Die Abhandlung behandelt ein wesentliches Merkmal der Gattung Novelle.] Bergengruen, Werner: Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen 1940–1963. München 2005. [Die Aufzeichnungen dokumentieren das Novellenerzählen unter historisch belastenden Bedingungen.] Bernhardt, Rüdiger: Die Sühne nach dem Tod. Hartmut Lange: ,Das Konzert‘ (1986). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 313–323. Beyersdorf, Herman: Günter Grass’ ,Im Krebsgang‘ und die Vertreibungsdebatte im Spiegel der Presse. In: Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hrsg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006, S. 157–167. Bluhm, Lothar: „In jenen unglücklichen Tagen …“. Goethes ,Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesell-
schaft. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Köln 2000, S. 27–45. Webversion auf www.goethezeitportal.de. [Eine grundlegende Interpretation eines vermeintlichen Nebenwerks Goethes.] Boernchen, Stefan: Dekonstruktion. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 390–394. Bogdal, Klaus-Michael: Erinnerungen an einen Empörer. Heinrich von Kleist: ,Michael Kohlhaas‘ (1810). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 27–36. [Eine Deutung des Kohlhaas im Kontext seiner revolutionären Entstehungszeit.] Breuer, Ingo: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zeitschrift für Germanistik, NF 2, 2009, S. 288–300. Ders.: Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichten. Tradition der Novelle und Theatralität der Historia bei Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch, 2001a, S. 196–225. [Die Novellistik Kleists im Kontext barocker Traditionen – ein innovativer Ansatz.] Ders.: Die Sprachgebärde des expressionistischen Genies. Zur Theatralität einiger Revolutionsdichtungen von Georg Heym. In: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der klassischen Moderne. Hrsg. von Isolde Schiffermüller. Bozen, Innsbruck, Wien 2001b, S. 66–88. Dedert, Hartmut: Die Erzählung im Sturm und Drang. Studien zur Prosa des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1990. [Eine grundlegende Einführung in die Novellistik vor Goethe und Schiller.] Drux, Rudolf: E. T. A. Hoffmann. Der Sandmann. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2005. [Eine detaillierte und interpretatorisch innovative Einführung in eine der wirkungsmächtigsten Novellen der Weltliteratur, deren Gestalten bis auf die internationalen Ballett- und Opernbühnen gelangten.] Durzak, Manfred: Entzauberung des Helden. Günter Grass, Katz und Maus. In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. München 1993, S. 265–278. Emig, Christine: Butterblume – Mutterblume. Psychiatrischer und ,naturphilosophischer‘ Diskurs in Alfred Döblins ,Die Ermordung einer Butterblume‘. In: Scientia Poetica 9, 2005, S. 195–215. Ernst, Paul: Altitaliänische Novellen. Aus einer Selbstanzeige (1902). In: ders.: Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Dichtung. Aufsätze zur Weltliteratur. München 1941, S. 268–269. [Eines der wenigen Dokumente deutscher Novellentheorie, in dem explizit auf ihre Vorläufer in der italienischen Renaissance (Bonciani) eingegangen wird.]
Kommentierte Bibliographie Falk, Johannes: Goethe aus näherem persönlichen Umgange dargestellt. Ein nachgelassenes Werk. Leipzig 1832, S. 120–123. In: Flodoard von Biedermann (Hrsg.): Goethes Gespräche ohne die Gespräche mit Eckermann. Wiesbaden 1949. S. 258–261. (Stück 251) [Das Pendant zu Eckermanns Gesprächen enthält Anmerkungen zu Boccaccios Dekameron und zu Kleist.] Feuchtersleben, Ernst Freiherr von: Die Novelle. Didaskalie [1841]. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 106–112. [Hier prägt der Wiener Populärphilosoph den Begriff der ,Novellen-Metaphysik‘.] Fleming, Ray: Race and the Difference it makes in Kleist’s Die Verlobung in St. Domingo. In: The German Quarterly 65, 1992, S. 306–317. Freund, Winfried: Heros oder Dämon? Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888). In: ders. (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 187–198. [Held oder Anti-Held – eine der zentralen Fragestellungen bei der Interpretation von Theodor Storms Schimmelreiter.] Füllmann, Rolf: Stefan Zweigs Verwirrung der Gefühle und die Entwirrung konstruierter Geschlechterverhältnisse. In: ders. (u. a.) (Hrsg.): Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux zum 60. Geburtstag. Bielefeld 2008, S. 181–195. [Eine Interpretation einer grundlegenden psychologischen Novelle unter dem Gender-Aspekt.] Greiner, Bernhard: Kant. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 206–208. Grimm, Gunter E.: Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Soziales Stigma als ,modernes Schicksal‘. In: Horst Denkler (Hrsg.): Romane und Novellen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980, S. 325–346. [Die alternative realistische Falkennovelle Storms in einer sozialgeschichtlichen Deutung.] Grimm, Reinhold, und Amadou B. Sadiji (Hrsg.): Dunkle Reflexe. Schwarzafrikaner in der deutschen Erzählkunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Bern u. a. 1992. [Diese Übersicht setzt Kleists Verlobung in St. Domingo in ihren diskursiven wie literaturhistorischen Kontext.] Gumpert, Gregor: Noch einmal. Das ,gemiedene Thema‘. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 30, 2, 2005, S. 104–116. Halbfas, Hubertus: Die Bibel. Düsseldorf 2001. [Dieser breit angelegte Überblick über das ,Buch der Bücher‘ enthält kulturgeschichtliche Erläuterungen
der darin enthaltenen Urgeschichten und paradigmatischen Erzählungen.] Hamacher, Bernd: Michael Kohlhaas. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 97–106. Hebbel, Friedrich: Vorwort. Hamburg, Ostern 1841. In: HSW, I. Abteilung 2, 2. Aufl. VIII. Bd.: Novellen und Erzählungen […] Pläne und Stoffe. 1904. S. 417–419. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 96–99. [Der Dramatiker Hebbel sieht die Novelle im Kontext ihrer Bildlichkeit.] Hein, Edgar: Romeo und Julia auf dem Dorfe. 2. Aufl. München 1995. Hein, Ingrid, und Jürgen Hein: Erzählmuster unauffälligen Lebens: Franz Grillparzer, Der arme Spielmann (1848). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart… München 1993, S. 131–144. Hein, Jürgen: Erläuterungen und Dokumente zu Gottfried Keller. Romeo und Julia auf dem Dorfe. Stuttgart 1971. Heinzle, Joachim: Vom Mittelalter zum Humanismus. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, S. 17–27. [Eine heute noch gültige Einführung in ein wenig beleuchtetes Kapitel der deutschen Novellengeschichte.] Hermes, Eberhard: Die drei Ringe. Aus der Frühzeit der Novelle. Göttingen 1964. [Der Band geht der Stoffgeschichte eines Novellenmotivs der Weltliteratur bis in ihre Anfänge nach.] Hinderer, Walter: Georg Büchner. Lenz (1839). In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1983. S. 268–294. [Eine einführende Analyse einer Erzählung mit novellistischen Zügen.] Jacobsen, Roswitha: Die Entscheidung zur Sittlichkeit. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlohrener Ehre (1786). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 15–25. [Mit dieser Moralischen Erzählung Schillers begann für viele Germanisten die Geschichte der Novellengattung in der deutschen Literatur.] Jens, Inge: Die expressionistische Novelle. Studien zu ihrer Entwicklung (zugl. Tübingen, Univ., Diss., 1953). Tübingen 1997. [Ein noch heute aufschlussreicher Überblick über die deutschen Novellen einer Avantgarde-Strömung der klassischen Moderne.] Kaiser, Herbert: Böses Wollen – schöne Tat. Johann Wolfgang von Goethe: ,Novelle‘ (1828). In: Win-
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Kommentierte Bibliographie fried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 85–94. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Bern/München 1960. [Ein Klassiker der Gattungstheorie mit einem kriminalistisch getönten Motivbegriff.] Kiefer, Sascha: Novellenbegriff und Zeitbezug. Bruno Franks Politische Novelle und Thomas Manns Mario und der Zauberer. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9, 2004, S. 89– 128. [Eine vergleichende Analyse zweier politisch relevanter Novellen der Zwischenkriegszeit.] Klein, Johannes: Wesen und Erscheinungsformen der deutschen Novelle. In: Josef Kunz (Hrsg.): Novelle. Darmstadt 1968, S. 195–221. [Eine werkimmanente Annäherung an die Gattung.] Klein, Ute: Die produktive Rezeption E. T. A. Hoffmanns in Frankreich. Kölner Studien zur Literaturwissenschaft. Hrsg. von Volker Neuhaus. Bd. 12. Frankfurt/Main u. a. 2000. [Minutiös zeichnet diese Studie den Gang von Hoffmanns Erzählungen von den Berliner Künstlerzirkeln der Romantik in die Weltliteratur nach.] Knapp, Gerhard P.: Geschichte ohne Versöhnung. Conrad Ferdinand Meyer: Das Amulett (1873). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 155–164. Kocher, Ursula: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer >novelle< im 15. und 16. Jahrhundert. [Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 38] Amsterdam, New York 2005. [Eine Abhandlung, die eine große Lücke zwischen Spätmittelalter und Renaissance in der Geschichte der deutschen Novelle füllt und somit das Bild der Gattung wie ihrer Geschichte revolutioniert.] Koebner, Thomas: Gottfried Keller. Romeo und Julia auf dem Dorfe. Die Recherche nach den Ursachen eines Liebestods. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1990, S. 203–234. [Neben dem im Titel genannten Schwerpunkt geht die Analyse auch auf die Symbolstrukturen in Kellers Novelle ein.] Köhler, Kai: Die Verlobung in St. Domingo. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 121–128. König, Eberhard: Boccaccios Decameron. Alle 100 Miniaturen der ersten Bilderhandschrift. Stuttgart, Zürich 1989. [Den der Novellengattung inhärenten Bezug zwischen Text und Bild belegt der Band anhand der ersten Buchillustrationen des Dekameron.] Koopmann, Helmut: Ein grandioser Untergang. Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1912). In: Win-
fried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 221–236. Ders.: Führerwille und Massenstimmung. Mario und der Zauberer. In: Volkmar Hansen (Hrsg.): Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 151–185. Kosofsky Sedgwick, Eve: Epistemologie des Verstecks. In: Kraß, Andreas (Hrsg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt/Main 2003, S. 113–143. [Gerade bei der Analyse von Novellentopografien kann diese Abhandlung sinnvolle Hilfestellung leisten.] Kramer, Rolf: Phänomen Zeit. Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz. Berlin 2000. [Der Faktor Zeit spielt in der Novellengeschichte nicht nur eine zentrale Rolle, wenn es sich um Zeitgeschichten handelt.] Kraß, Andreas (Hrsg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt/Main 2003. [Der Band enthält unter anderem eine Analyse der mittelalterlichen Novelle Der Gürtel von Dietrich von der Glesse.] Krauss, Werner: Zur Dichtungstheorie der romanischen Völker. Leipzig 1965. [Der Band enthält grundlegende sozialgeschichtliche Abhandlungen zu ,Cervantes und der spanische Weg der Novelle‘, aber auch über ,Die italienische Novellistik‘.] Krömer, Wolfram: Kurzerzählungen und Novellen in den romanischen Literaturen bis 1700. Berlin 1973. [Eine konzise Darstellung der romanischen Anfänge der Novellentradition bis hin zu den altprovenzalischen Troubadourviten.] Kunz, Josef: Eichendorff. Höhepunkt und Krise der Spätromantik. Ein Beitrag zum Verständnis seiner Novellendichtung. Darmstadt 1951 (Reprint 1980). [Darin unter anderem eine Interpretation der Novelle Das Schloss Dürande, S. 9–32.] Kurz, Isolde: Im Zeichen des Steinbocks. Aphorismen und Gedankengänge. Tübingen 1927. [Die seit der Gründerzeit vielgelesene Renaissance-Novellistin, eine profunde Kennerin der italienischen Kultur, äußert sich in ihren Aphorismen auch zu Gattungsfragen.] Liebrand, Claudia: Gender-Forschung. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 397–400. Dies.: Pater semper incertus est. Kleists Marquise von O… mit Boccaccio gelesen. In: Kleist-Jahrbuch 2000, S. 46–60. [Eine aufschlussreiche Analyse der Novelle Kleists unter dem Blickwinkel der altitalienischen Gattungsparadigmen.] Lockemann, Fritz: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle. Geschichte einer literarischen Gattung im Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhun-
Kommentierte Bibliographie dert. München 1957. [Eine werkimmanent geprägte Übersicht aus der Nachkriegszeit.] Mahal, Günther: Experiment zwischen Gleisen. Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 199–220. Mayer, Birgit: Antriebskraft Tod. Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag (1855). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 145–154. Mayer, Mathias, und Jens Tismar: Kunstmärchen. Stuttgart 1997. [Eine kurze Einführung in eine Nebengattung der Novelle.] Meyer, Reinhart: Novelle und Journal. 1. Band. Titel und Normen. Stuttgart 1987. [Die Studie eröffnet wesentliche Eigenschaften der Gattung, ausgehend von ihrer häufigsten Publikationsform im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert.] Mundt, Theodor: Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers. Leipzig 1834, S. 155–157. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 69–71. [Ein früher Versuch einer literatursoziologischen Gattungsdefinition im Vormärz.] Musil, Robert: Novelleterlchen [1912]. In: ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. v. Adolf Frisé. 2., verb. Aufl. Reinbek 1981, S. 1323–1327. [Eine Analyse der Gattung unter den Bedingungen der klassischen Moderne.] Neuschäfer, Hans-Jörg: Boccaccio – Cervantes – Fontane. Vom Anfang und Ende der Novellendichtung. In: Hugo Aust und Hubertus Fischer (Hrsg.): Boccaccio und die Folgen. Fontane, Storm, Keller, Ebner-Eschenbach und die Novellenkunst des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2006, S. 11–23. [Eine Analyse grundlegender stabiler Gattungsstrukturen über die Jahrhunderte europäischer Kulturgeschichte hinweg.] Ordine, Nuccio: Teoria della Novella e Teoria del Riso nel Cinquecento. Napoli 1996. [Eine innovative Analyse der altitalienischen Ursprünge der Gattungstheorie auch über Boncianis Novellenpoetik.] Otto, Regine: Novelle. In: Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit. Studien zu ausgewählten Texten. Hrsg. von Bernd Leistner. Tübingen 1995, S. 26–65. [Eine Analyse von Goethes Novelle im Gesamtkontext seiner Weltanschauung und seines Gesellschaftsbegriffs.] Pabst, Walter: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen. Heidelberg 1967. [Eine roma-
nistische Abhandlung über die implizite Novellentheorie zu Beginn der Gattungsgeschichte.] Pfeiffer, Joachim: Psychoanalyse. In: Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 383–387. Pikulik, Lothar: Das Verbrechen aus Obsession. E. T. A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi (1819). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 47–58. Pongs, Hermann: Das Bild in der Dichtung. 2. Band. Voruntersuchungen zum Symbol. Marburg 1969. [Pongs verleiht in seiner Abhandlung dem Zentralmotiv des ,Falkens‘ (Heyse) zuerst symbolische bis symbolistische Züge.] Prokop, Ulrike: Trauma und Erinnerung in Günter Grass’ Im Krebsgang. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Band 23. Würzburg 2004, S. 125–136. Rabell, Carmen S.: Rewriting the Italian Novella in Counter-Refomation Spain (Coleccion Tamesis Serie a Monografias). Woodbridge 2003. [Eine komparatistische Studie zur Poetik der Novelle in Italien und Spanien zur Zeit der Spätrenaissance.] Remak, Henry H. H.: Novellistische Struktur. Der Marschall von Bassompierre und die schöne Krämerin (Bassompierre, Goethe, Hofmannsthal). Bern 1983. [Eine komparatistische Studie anhand eines autobiografischen Novellenstoffs aus dem 17. Jahrhundert.] Ders.: Structural Elements of the German Novella from Goethe to Thomas Mann. North American Studies in 19th-century German Literature 14. New York 2001. [Eine strukturale Analyse der Novellentradition in Einzelbetrachtungen, die auch neoklassizistische Autoren wie Bergengruen berücksichtigt.] Riehl, Wilhelm Heinrich: Der Kampf des Rokoko mit dem Zopf (1853). In: ders.: Kulturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1896, S. 147–165. [Eine Analyse des novellistisch relevanten Anekdotenwesens der Rokoko-Epoche.] Ders.: Novelle und Sonate In: ders.: Freie Vorträge II. Sammlung. Stuttgart 1885. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 128–139. [Riehl, der Verfasser Kulturgeschichtlicher Novellen, baut hier eine Brücke zwischen Literatur und Musik.] Ders.: Vorwort. [ED in: W. H. R.: Geschichten aus alter Zeit. Bd. 1. 1863]. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 127. [Bild und Text stehen als Novellenparadigmen im Mittelpunkt dieser Analyse.]
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Kommentierte Bibliographie Roßbach, Nikola: Sicherheit ist nirgends. Arthur Schnitzlers Monologerzählungen ,Leutnant Gustl‘ (1900) und ,Fräulein Else‘ (1924). In: Mathias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Berlin u. a. 2008, S. 19–46. [Eine vergleichende Interpretation zweier Schlüsseltexte der novellistischen Moderne im Umkreis des tiefenpsychologischen Diskurses.] Sakurai, Yasushi: Tonio Kröger – ein Beispiel der „imitatio Goethes“ bei Thomas Mann. In Volkmar Hansen (Hrsg.): Thomas Mann: Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S.68–88. Scherpe, Klaus R.: Von der Moderne zur Postmoderne? – Einige Entwicklungstendenzen westdeutscher Literatur und Kulturindustrie in den achtziger Jahren polemisch nachgezeichnet. In: Weimarer Beiträge 373, 1991, S. 356–371. [Eine Begriffsklärung der postmodernen Bedingungen, die die aktuelle Renaissance der Novelle erst ermöglichten.] Schilling, Michael: Erzählen als Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Zu Theodor Storms Novellen nach 1865. In: Euphorion 89, S. 37–53, S. 623. [Eine Analyse der Novellen Storms unter dem Blickwinkel eines Paradigmas des französischen Kulturphilosophen Maurice Halbwachs.] Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993 [Eine postmoderne Novellenpoetik aus feministischer Perspektive.] Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. III. Teil (1803–1804). In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 16–21. [Eine der frühesten, genuin literaturtheoretischen Auseinandersetzungen mit der Gattung Novelle in der deutschen Kulturgeschichte.] Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Literatur und Poesie [Notizheft 1797–1798]. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 4. [Erste Novellenreflexionen im Kontext der Jenaer Frühromantik.] Schröder, Stephan Michael: Die Heimkehr des Elis Fröbom. E. T. A. Hoffmann im Norden nach frühen Rezeptionszeugnissen. In: skandinavistik 21, 1991, 1, S. 30–52. [Ein grundlegender Aufsatz zur Genese des „genre hoffmannesque“ in Nordeuropa.] Schunicht, Manfred: Der Falke am Wendepunkt. Zu den Novellentheorien Tiecks und Heyses. In: Josef Kunz (Hrsg.): Novelle. Darmstadt 1968, S. 433–462. [Ein prägender Aufsatz der Nachkriegszeit, der die zeitgenössische Problematik des Novellenbegriffs dokumentiert.] Scimonello, Giovanni: Das Unheimliche im Alltagsleben. Zum ästhetischen Aufbau der Italienischen
Novellen im Werk von Hartmut Lange. In: Manfred Durzak (Hrsg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 191–208. [Der Autor behandelt die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Tradition der Italiennovelle durch Hartmut Lange.] Segebrecht, Wulf: Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang oder: Aus der Geschichte lernen. In: Birgit Lermen, Miroslav Ossowski (Hrsg.): Europa im Wandel. Literatur, Werte und Europäische Identität. Danzig 2004, S. 235–250. Seidler, Herbert: Die Dichtung. Wesen – Form – Dasein. Stuttgart 1959. [Eine formgeschichtliche Einführung aus der Nachkriegszeit.] Šklovskij, Victor: Lektüre des Decamerone. In: Wolfgang Eitel (Hrsg.): Die romanische Novelle. Darmstadt 1977, S. 31–60. [Der Autor geht den sozialen Bedingtheiten der Novellengenese nach, einschließlich der alles umwälzenden Pesterfahrung.] Steinecke, Hartmut: Die Entdeckung der Currywurst oder die Madeleine der Alltagsästhetik. In: Manfred Durzak und Hartmut Steinecke (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Keith Bullivant: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Köln 1995, S. 217–230. [Eine Analyse einer der treffendsten postmodernen Novellenparodien der letzten Jahrzehnte.] Ders.: Die Kunst und das Ende. Hartmut Langes „Reise“-Novellen. In: Manfred Durzak (Hrsg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 209–220. [Eine Abhandlung über Langes Wiederbelebung der tradierten Reise- und Bildungsnovelle.] Stocker, Peter: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Novellistische Erzählkunst des Poetischen Realismus. In: Walter Morgenthaler (Hrsg.): Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 57–77. Storm, Theodor: Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970. S. 119–120. [In dieser Abhandlung prägt Storm den Begriff von der Novelle als „Schwester des Dramas“.] Suppé, Franz von: Boccaccio. Komische Operette. [Libretto]. Leipzig 1941. Tieck, Ludwig: Schriften. Bd. 11. Berlin 1829. Vorbericht zur dritten Lieferung. S. LXXXIV. In: Josef Kunz (Hrsg.): Novelle. Darmstadt 1968, S. 52 f. [Der Berliner Romantiker legt hier seine Novellentheorie des Wunderbaren wie des Wendepunkts dar.] Ders.: Vorbericht. In: L. T.s Schriften. XI. Bd. Schauspiele. Berlin 1829. In: Karl Konrad Polheim
Kommentierte Bibliographie (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 74–77. [In dieser Abhandlung steht das der Dramentheorie entnommene novellentypische Gattungsspezifikum des Wendepunkts im Mittelpunkt.] Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Übers. aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz, Caroline Neubaur. Frankfurt/ M. 1992. Ders.: Grammaire du Décaméron. Études de séquences. In: Wolfgang Eitel (Hrsg.): Die romanische Novelle. Darmstadt 1977, S. 78–110. [Todorovs Analysen in inhaltlich überarbeiteter, komprimierter Aufsatzform.] Ders.: Grammaire du Décaméron. Den Haag 1969 [Eine grundlegende strukturalistische Analyse der Gattung im Anfangszustand.] Twark, Jill E.: Landscape, Seascape, Cyberscape. Narrative Strategies to Dredge up the Past in Günter Grass’s Novella Im Krebsgang. In: Paul Michael Lützeler, Stephan K. Schindler (Hrsg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 3, 2004, S. 143–168. [Die Sphären des Internets als Erweiterung des historischen wie des personalen Gedächtnisses stehen im Mittelpunkt dieses Aufsatzes.] Vaget, Hans Rudolf: Die Erzählungen. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas Mann Handbuch. Frankfurt/Main 2005, S. 534–618. [Eine materialreiche Einführung in einem auch sonst empfehlenswerten Handbuch.] Veel, Kristin: Virtual Memory in Günter Grass’s Im Krebsgang. In: German Life and Letters 57, 2004, S. 206–218. [Das virtuelle Gedächtnis wird hier als Novellenstoff beleuchtet.] Wagener, Hans: Die Sekunde durchschauten Scheins. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978). In: Winfried Freund (Hrsg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 279–289. Wagner, Fred: Heinrich und die Folgen. Zur Rezeption des Armen Heinrich bei Hans Pfitzner, Ricarda Huch, Gerhart Hauptmann und Rudolf Borchardt. In: Volker Honemann, Martin Jones u. a. (Hrsg.): German Narrative of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies Presented to Roy Wisbey on His Sixty-Fifth Birthday. Tübingen 1996, S. 261–274. [Ein Querschnitt zur Tradierung eines hochmittelalterlichen Novellenstoffes durch Jahrhunderte der
deutschen Kulturgeschichte und verschiedene Kunstgattungen.] Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind und Günter Grass. St. Ingbert 2009. Weber, Volker: Anekdote. Die andere Geschichte. Tübingen 1993. Wehle, Winfried: Novellenerzählen. Französische (und italienische) Renaissancenovellistik als Diskurs. 2., korr. Aufl. München 1984. [Eine diskursanalytische Annäherung an die Gattung, die innovative Theoreme enthält.] Weing, Siegfried: The German Novella. Two centuries of Criticism. Columbia 1994. [Eine gelungene Übersicht über die Gattungsgeschichte.] Werlen, Hans-Jakob: Seduction and betrayal. Race and gender in Kleist’s ,Die Verlobung in St. Domingo‘. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 84, 1992, 4, S. 459–471. Weyrauch, Wolfgang: Kahlschlag. Nachwort zu ,Tausend Gramm‘. In: ders.: Mit dem Kopf durch die Wand. Geschichten, Gedichte, Essays und ein Hörspiel (1929–1977). Nachwort von Martin Walser. Darmstadt 1977, S. 45–52. [Ein literarisches Manifest der unmittelbaren Nachkriegszeit, das der Gattung Novelle in der Konkurrenz zur Kurzgeschichte lange einige Probleme bereiten sollte.] Wieland, Christoph Martin: Die Novelle ohne Titel. Einleitung. [ED in: Taschenbuch für das Jahr 1804, Frankfurt/Main: Wilmans]. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 1–2. [Eine der frühesten deutschen Novellentheorien von einem Novellisten der Weimarer Klassik.] Zantop, Susanne: Verlobung, Hochzeit und Scheidung in St. Domingo. Die Haitianische Revolution in zeitgenössischer deutscher Literatur (1792– 1817). In: Sigrid Bauschinger und Susan L. Cocalis (Hrsg.): ,Neue Welt‘/,Dritte Welt‘. Interkulturelle Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika und der Karibik. Tübingen, Basel 1994, S. 29–52. Zimmermann, Werner: Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Prosadichtungen unseres Jahrhunderts. Interpretationen für Lehrende und Lernende. Bd. 1. 7. Aufl. Düsseldorf 1985, S. 67–86.
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Synopse zur Kultur- und Gattungsgeschichte Politische Geschichte
Allgemeine Kultur- und Literaturgeschichte
Geschichte der Novelle und ihrer Stoffe
480 v. Chr. Schlacht bei Thermopylen, Sieg der Griechen über die Perser
ca. 480 v. Chr. Tod des Philosophen Heraklit (Alles fließt)
5. Jahrhundert v. Chr. Herodotus (* 490/480 v. Chr.; † um 424 v. Chr.) verfasst seine Historien, die Novellenstoffe enthalten
403 v. Chr. Wiederherstellung der Demokratie in Athen gegen die ,Dreißig Tyrannen‘
405 v. Chr. Aristophanes: Die Frösche (Lustspiel)
Frühestens 400 v. Chr. unter anderem Endredaktion des 1. Buch Mose mit dem Abraham-Isaak- und dem KainAbel-Stoff (Brudermord-Motiv)
100 v. Chr. Geburt des Gaius Julius Caesar
ca. 100 v. Chr. Tod des Mathematikers und Technikers Heron von Alexandria
ca. 100 v. Chr. Aristeides von Milet verfasst seine (verschollenen) Milesischen Geschichten (erotische Novellen)
166 n. Chr. Aufstand der Donauvölker gegen das römische Reich
ca. 178 n. Chr. Celsus: Wahre Lehre, eine philosophische Kritik am Christentum
ca. 170 n. Chr. Apuleius, ein Jurist und platonischer Philosoph, verfasst seine Metamorphosen Der goldene Esel, einen frühen Novellenkranz
565 n. Chr. Tod des oströmischen Kaisers Justinian I. (Kaiser seit 525)
ca. 560 n. Chr. Byzantinische Mosaike, vor allem in Ravenna, Kirchenbauten in ganz Europa
6. Jahrhundert Prokopios von Caesarea (* um 500; † um 562) begründet die Gattung der Anekdote
1190 n. Chr. Friedrich Barbarossa ertrinkt auf dem Kreuzzug im kleinasiatischen Fluss Saleph
ca. 1190 Der Troubadour Raimon de Miraval dichtet in höfischem Stil
nach 1190 Hartmann von Aue († vermutlich zwischen 1210 und 1220) verfasst Der arme Heinrich, eine novellenartige Verserzählung
1231 Kaiser Friedrich II. gibt Unteritalien eine geordnete Verwaltung und Rechtspflege
ca. 1230 Sächsische Weltchronik (erstes deutsches Geschichtswerk in Prosa)
13. Jahrhundert Uc de Saint Circ (1213–1257) verfasst seine novellistischen Troubadourviten
1282 Volksaufstand in Sizilien unter der staufischen GhibellinenPartei
Florenz führt im westeuropäischen Wirtschaftsleben durch Tuchindustrie und Bankwesen
ca. 1280 Entstehung des ersten ital. Novellenkranzes Novellino, unter anderem mit Novellen um Friedrich II.
Synopse zur Kultur- und Gattungsgeschichte 1347 Petrarca unterstützt in einem leidenschaftlichen Brief Cola di Rienzis Versuch, in Rom die antike Republik zu erneuern
In Italien, Frankreich und Deutschland beginnt der Handel mit Handschriften
1348–ca. 1351 Das Dekameron des Giovanni Boccaccio (1313–1375) entsteht
1355 Karl IV. von Luxemburg lässt sich in Rom zum röm.-dt. Kaiser krönen, gibt aber die Herrschaft über Italien auf
1378 Aufstand in der Textilindustrie von Florenz
14. Jahrhundert Franco Sacchetti (1332–1400) Trecentenovelle, Giovanni Fiorentino (Il Pecorone, um 1380)
1419–1433/36 Hussitenkriege in Böhmen, erste Anzeichen der Reformation
ab ca. 1420 Entstehung der lit. Gattung des Fastnachtsspiels
15. Jahrhundert Erhart Grosz (ca.1400–1450), ein Nürnberger Kartäuser, überträgt die Girsardis aus dem Dekameron, 1472/73 deutscher Erstdruck des Dekameron (Ulm), Johann Werner von Zimmern (ca. 1450–1496) verfasst Der enttäuschte Liebhaber, ab ca. 1490 Drucke der Historie von den vier Kaufleuten
1524–1525 Reformatorischer Bauernkrieg in Deutschland 1562–1598 Hugenottenkriege in Frankreich
1522 Von Luthers Bibelübersetzung werden in 40 Jahren 100.000 Exemplare allein in der Wittenberger Druckerei von Hans Lufft produziert
16. Jahrhundert Matteo Bandello (ca. 1485– ca. 1561) 214 Novellen, unter anderem Romeo und Julia, Margarete von Navarra (1492–1549) Das Heptameron, Francesco Bonciani (1552–1619), Lezione sopra il comporre delle novelle (1574)
1618–1648 Dreißigjähriger Krieg in Mitteleuropa
1624 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey
1661–1715 Absolutistische Herrschaft Ludwig XIV. in Frankreich
1637 Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (Blüte der Barocklyrik)
17. Jahrhundert Miguel de Cervantes: Novelas ejemplares (1613), Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (1649), Der große Schauplatz lust-und lehrreicher Geschichte (1650/51)
1668–1694 Veröffentlichung der Fabeln des Jean de La Fontaine 1740–1786 Regentschaft Friedrich des Großen in Preußen
1774 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
1789 Sturm auf die Bastille, Beginn der Französischen Revolution
1787 Uraufführung von Mozarts Don Giovanni in Prag
18. Jahrhundert Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792): Novellen, unter anderem Zerbin (1776), Friedrich Schiller (1759–1805): Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786), Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795)
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Synopse zur Kultur- und Gattungsgeschichte 1804 Napoleon krönt sich zum Kaiser der Franzosen
1804 Uraufführung von Schillers Wilhelm Tell, Beethovens Eroica
1803–1805 Christoph Martin Wieland: Das Hexameron von Rosenhain
1807 Frieden von Tilsit zwischen Frankreich, Russland und Preußen
1807 Fichte Reden an die deutsche Nation
1807 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili
1814 Nach dem Sieg über Napoleon: Wiener Kongress der Verbündeten, Neuordnung Europas
1812 Judenemanzipation in Preußen durch Hardenberg
1810 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas
1819 ,Karlsbader Beschlüsse‘ gegen politische Freiheit in Mitteleuropa (bis 1848)
ca. 1818 Romantisches Gemälde von C. D. Friedrich: Zwei Männer den Mond betrachtend
1817 E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke, darin unter anderem Der Sandmann, Das Majorat
1844 Aufstand der Weber in Schlesien
1828 Schinkel baut klassizistisches ,Altes Museum‘ in Berlin
1818 Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild
1848 Revolutionen in weiten Teilen Europas
1842 Klenze vollendet die ,Walhalla‘ bei Regensburg
1828 Johann Wolfgang von Goethe: Novelle
1859 Tod des antiliberalen österreichischen Politikers Metternich
1856 Tod Heinrich Heines (geb. 1797)
1842 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche
1871 Gründung des (klein-)deutschen Reiches, Kaiserproklamation in Versailles
1872 Verbot des Jesuitenordens in Deutschland (Kulturkampf), Nietzsche: Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
1856/1876 Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla 1882 Conrad FerdinandMeyer: Gustav Adolfs Page
1878 Bismarcks Sozialistengesetze gegen erstarkende Sozialdemokratie
1882 Antisemitische Gesetzgebung in Russland, Pogrome, Uraufführung v. Wagners Parsifal bei den Bayreuther Festspielen
1888 Dreikaiserjahr (Wilhelm I., Friedrich Wilhelm III., Wilhelm II.)
1888 Fontane: Irrungen, Wirrungen
1888 Theodor Storm: Der Schimmelreiter
1899 Haager Friedenskonferenz über friedliche Beilegung internationaler Konflikte
1900 Sigmund Freud: Traumdeutung
1900 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl
1888 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel
Synopse zur Kultur- und Gattungsgeschichte 1912 SPD bei Reichstagswahl stärkste Partei (34,8 %)
1912 ,Blauer Reiter‘ Programmschrift der Münchner Expressionisten (Kandinsky, Marc, Klee, Arnold Schönberg als Komponist)
1912 Thomas Mann: Der Tod in Venedig
1914/18 Erster Weltkrieg, im Anschluss Versailler Vertrag und Hyperinflation
1924 Max Reinhardt übernimmt Sommerfestspiele in Salzburg
1924 Arthur Schnitzer: Fräulein Else
1929 ,Schwarzer Freitag‘ an der New Yorker Börse löst Weltwirtschaftskrise aus
1926 Walter Gropius gründet das Bauhaus in Dessau
1927 Stefan Zweig: Verwirrung der Gefühle
1933 Hitler wird Reichskanzler
1930 Freud: Das Unbehagen in der Kultur
1930 Thomas Mann: Mario und der Zauberer
1939–1945 Zweiter Weltkrieg, NS-Genozid am jüdischen Volk
1938 Otto Hahn entdeckt die Spaltbarkeit des Urankerns durch Neutronen, Entwicklung der Atomenergie
1941 Stefan Zweig: Schachnovelle
1949 Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Adenauer (CDU) Bundeskanzler (bis 1963)
seit ca. 1950 Entstehung der weltweit prägenden US-amerikanischen Rock- und Popkultur
1961 Günter Grass: Katz und Maus
1968 Studentenunruhen in Berlin, Paris, Italien u. a., ,Prager Frühling‘
1979 Lyotard: Das postmoderne Wissen
1989 Fall der Berliner Mauer, deutsche Wiedervereinigung
1981 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns
2002 Günter Grass: Im Krebsgang
2001 Anschläge v. 11. September in New York
1990 Judith Butler: Gender Trouble
2008 Siegfried Lenz: Schweigeminute
1978 Martin Walser: Ein fliehendes Pferd 1986 Hartmut Lange: Das Konzert
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Personenregister Abel, Jakob Friedrich von 45 Abraham 39, 41 Adam, Adolphe 51 Adenauer, Konrad 72, 88 Adler, Alfred 72, 132 Adorf, Mario 76 Adorno, Theodor W. 140 Aichinger, Ilse 85 Andersen, Hans Christian 14 Andres, Stefan 83 Anzengruber, Ludwig 45, 115 Apel, Johann August 55 Apuleius 40, 74, 76, 79 Arigo 7, 41 Aristoteles 9, 14, 22, 32 f., 35–37, 52, 68, 101, 106, 112, 132 Arnim, Ludwig Achim von 57 f. Arx, Bernhard von 20 f. Auerbach, Berthold 110, 114 f., 119 Aust, Hugo 25 f. Bachmann, Ingeborg 95 Bandello, Matteo 43, 113 Barberino, Francesco da 7 Barbier, Jules 51 Barthes, Roland 135 Bassompierre, François de 33, 46 f. Beck, Andreas 26 Beethoven, Ludwig van 92 Benn, Gottfried 85 Bergengruen, Werner 23, 33, 55, 83, 85 Bergson, Henri 77 Bernanos, Georges 84 Bernstein, Leonard 113 Binding, Rudolf G. 9, 15, 71, 83, 88, 95 Boaistuau, Pierre 113 Boccaccio, Giovanni 7 f., 11, 18 f., 22–24, 26, 28, 31–34, 41–44, 46, 49, 68, 70, 96, 100, 102, 126, 135, 137 Böcklin, Arnold 87 Böhm, Karlheinz 77 Böll, Heinrich 86 Bonciani, Francesco 25, 29–36, 43, 96, 102, 112 Borchert, Wolfgang 15, 85 Brandauer, Klaus Maria 76 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 26 Brentano, Clemens 14, 57 f. Briand, Aristide 125
Britten, Benjamin 73 Britting, Georg 16 Broch, Hermann 82 Büchner, Georg 45, 78, 119 Burckhardt, Jacob 68 f. Cagliostro, Alessandro 131 Camus, Jean-Pierre 43 Carpaccio, Vittore 101 Carré, Michel 51 Cervantes, Miguel de 19, 22, 26, 101 Chamisso, Adelbert von 13 f., 58 Chaucer, Geoffrey 59 f. Cosimo II. 29 Cruise, Tom 77 D’Annunzio Gabriele 128 Dante Alighieri 23, 70 Darwin, Charles 120 Da Porto, Luigi 113 Dauthendey, Max 80 f. Degas, Edgar 115 Delibes, Leo 51 Delius, Frederick 113 Derrida, Jacques 76, 91 Dieterle, William 87 Dietrich von der Glesse 41 Dilthey, Wilhelm 125 Döblin, Alfred 9, 71, 79 f., 88, 119 Dostojewski, Fjodor M. 80 Droste-Hülshoff, Annette von 36, 44, 61 f. Dürrenmatt, Friedrich 91 Dunaway, Faye 76 Duse, Eleonora 128 Ebner-Eschenbach, Marie von 26, 45, 62, 65, 70 f., 86, 115 Eckermann, Johann Peter 100, 103 Edschmid, Kasimir 80 Eich, Günter 85 Eichendorff, Joseph von 20, 58 f., 92, 124 Erné, Nino 12, 22 f. Ernst, Paul 7, 9, 15, 20, 71 Ewers, Hanns Heinz 87, 125 Faliero, Marino 50 Feuchtersleben, Ernst von 9 Fiorentino, Giovanni 7
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Personenregister Flex, Walter 88 f. Fontane, Theodor 26, 48, 68 f., 72, 79, 94, 123 Foucault, Michel 40, 92, 135, 141 Franck, Hans 71 Frank, Bruno 125 f., 130 Frankfurter, David 134, 137 f., 140 Franzos, Karl Emil 26 Frenssen, Gustav 71 Freud, Sigmund 39 f., 49, 53, 57, 71, 75, 132 Freund, Winfried 24 f. Freytag, Gustav 25 Friedrich, Caspar David 104 f. Froboess, Cornelia 81 Fühmann, Franz 15 Fürnberg, Louis 85 f. Galilei, Galileo 29 Gaudy, Franz Freiherr 41, 55, 68, 93 Gautier, Théophile 41, 51 Genée, Richard 7 George, Götz 87 Gide, André 40 f. Gluck, Christoph Willibald 52 Goes, Albrecht 85 Goethe, Johann Wolfgang von 8, 15, 21–23, 25 f., 30–34, 42, 44, 46 f., 53, 60, 68, 85, 94 f., 100– 119, 122 f., 127, 130, 135 Gogol, Nicolai 51 Gotthelf, Jeremias 20, 111 Gottsched, Johann Christoph 28 Grass, Günter 9, 15 f., 33, 88–90, 127, 133–141 Greiner, Bernhard 98 Grillparzer, Franz 60 f. Grimm, Hans 71, 83 Grosz, Erhart 7, 42 Gstrein, Norbert 63 Gustloff, Wilhelm 134–139 Haeckel, Ernst 72 Harlan, Veit 83 Harsdörffer, Georg Philipp 41–44, 46, 88, 105, 137 Hartmann von Aue 41 Haslinger, Adolf 23 Hauff, Wilhelm 13, 34, 55, 60 Hauptmann, Gerhart 32, 41, 45, 79, 95, 118–125, 129 Hawthorne, Nathaniel 51 Hebbel, Friedrich 31 f., 34 f., 40, 59, 110 Hebel, Johann Peter 15, 136 Heidegger, Martin 19, 94 Hein, Christoph 91 Heine, Heinrich 50, 59, 92 Heinzle, Joachim 23 Hemingway, Ernest 15 Herder, Johann Gottfried 39
Herodot 40 f. Heym, Georg 9, 80 Heyse, Paul 7, 9, 22, 24, 26, 32, 36 f., 55, 61, 68, 71, 79, 87, 93, 95, 109, 119, 125 Hilzinger, Sonja 11 f. Himmel, Hellmuth 18, 25 Hindemith, Paul 57 Hirdt, Willi 23 Hitler, Adolf 76, 85, 129, 135–139 Hoffmann, E. T. A. 13 f., 23, 26, 28–31, 44 f., 50–58, 62, 68, 87, 92, 94, 105, 130 f. Hoffmann, Hans 41 f. Hofmannsthal, Hugo von 23, 47, 56, 82 Huch, Ricarda 41 Hürlimann, Thomas 24, 93 Husserl, Edmund 19, 77 Janin, Jules 51 Johann Ohnefurcht 34, 101 Jürgens, Curd 76 Justinian I. 11 Käutner, Helmut 65 Kafka, Franz 20, 79, 85 Kant, Immanuel 25, 50, 99 Kappacher, Walter 56 Kaschnitz, Marie Luise 86 f. Keller, Gottfried 7, 9, 16 f., 22 f., 29, 31, 33, 63–68, 109–119, 121–123, 125 Kemal, Yasar 115 Kidman, Nicole 77 Kierkegaard, Sören 91 Kirchhoff, Bodo 92 f. Klein, Johannes 21, 37 Kleist, Heinrich von 8, 18 f., 28, 32, 36, 44, 48–50, 59, 93, 96–100, 134 Kocher, Ursula 42 König, Eberhard 34 Körner, Theodor 32 Kolbenheyer, Erwin Guido 85 Konrad von Würzburg 33 Koreff, David Ferdinand 50, 54 Kosofsky Sedgwick, Eve 24 Kotzebue, August von 28 Kramer, Rolf 28 Krauss, Werner 27 Kubrick, Stanley 77 Kühn, Dieter 93 Kunert, Günter 15, 59 Kunz, Josef 21 Kurz, Hermann 71 Kurz, Isolde 11, 87, 115 Lacan, Jacques 23, 49 La Fontaine, Jean de 40
Personenregister Lafontaine, August 28 Lange, Hartmut 24, 31, 59, 77, 91–93 Langgässer, Elisabeth 15 Laube, Heinrich 31, 101, 125 Laun, Friedrich 55, 130 Le Bon, Gustave 132 le Fort, Gertrud von 83–85, 115 Le Goff, Jacques 28 Lehr, Thomas 93 Lenz, Jakob Michael Reinhold 30, 45, 120 Lenz, Siegfried 31, 94 f. Lernet-Holenia, Alexander 57 Leyden, Jan van 48 Liebermann, Max 119 Liszt, Franz 93 Lockemann, Fritz 19 Loredano, Giovanni Francesco 43 Lublinski, Samuel 71 Ludwig, Emil 138 Lyotard, Jean-François 17, 91 Makart, Hans 70, 119 Man, Paul de 65 Mann, Erika 126 Mann, Heinrich 72, 78 Mann, Klaus 74, 84 Mann, Thomas 9, 23, 29, 32, 39, 55, 64, 71–75, 125–133, 137, 140 Margarete von Navarra 32, 47, 113 Marinesko, Alexander 140 Marmontel, Jean-François 100 Marx, Karl 27, 76, 86, 140 Marx, Leonie 16 Maupassant, Guy de 57 Mayer, Hans 62 McCarthy, Joseph 72 Meißner, August Gottlieb 44 Mérimée, Prosper 64 Meyer, Conrad Ferdinand 12, 16 f., 22, 34, 41, 69 f., 85, 115, 119 Meyer, Reinhart 28 Mörike, Eduard 62 f., 71, 86 Mommsen, Katharina 48 Mommsen, Theodor 68 Mommsen, Hans 64 Monet, Claude 119 Moreau, Jeanne 84 Moritz, Karl Philipp 93 Moses 39 Motte-Fouqué, Friedrich de la 14, 50, 95 Mozart, Wolfgang Amadeus 51, 62, 71, 85 f., 109 Mundt, Theodor 30 f. Musäus, Johann Karl August 14 Musil, Robert 18, 71, 82 Mussolini, Benito 129
Napoleon Bonaparte 48, 60, 104 Neuschäfer, Hans-Jörg 26 Newton, Helmut 77 Nietzsche, Friedrich 74 Offenbach, Jacques 51 Ovid 79 Pabst, Walter 19, 21 f. Palladio, Andrea 22 Perrault, Charles 14 Piccard, Auguste 63 Piccoli, Michel 76 Pirandello, Luigi 34 Poe, Edgar Allan 51 Poggio Bracciolini, Giovanni Francesco 69 Polheim, Karl Konrad 19 f., 23 Pongs, Hermann 18–22, 36 f., 94 Potocki, Jan Graf 31 Poulenc, Francis 84 Prokopios von Caesarea 11 Puschkin, Alexander 51 Quintilius Varus 48 Raabe, Wilhelm 12, 119 Raimon Vidal de Bezaudun 7 Ranke, Leopold von 68 Rath, Wolfgang 7, 25 Reding, Josef 16 Remak, Henry H. H. 23 f. Riehl, Wilhelm Heinrich 12, 33 f., 39 Ritter, Joachim 104 Roth, Joseph 76, 82 Rühmann, Heinz 66 Rumohr, Karl Friedrich 8 Saar, Ferdinand von 55, 70, 124 f. Sacchetti, Franco 7 Sachs, Hans 40 Saroyan, William 86 Saussure, Ferdinand de 79 Scaliger, Julius Caesar 9 Schäfer, Wilhelm 15 Schelsky, Helmut 91 Schernikau, Ronald M. 91 Schiller, Friedrich 25, 27 f., 43–47, 59, 61 f., 70, 99, 103, 109 f., 118 Schirach, Ferdinand von 44 Schlaffer, Hannelore 8, 24 f., 46, 82 Schlegel, August Wilhelm 33, 35 Schlegel, Friedrich 31, 33 Schneider, Reinhold 83 Schnitzler, Arthur 71, 77–79, 80 Scholz, Wilhelm von 22, 71
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Personenregister Schopenhauer, Arthur 72 Schumann, Robert 78 Schunicht, Manfred 21 f., 24 Scudéry, Madeleine de 56 Seghers, Anna 51, 84, 97 Seidler, Herbert 19 f. Shakespeare, William 32, 110 f., 113 f. Söderbaum, Kristina 83 Sokrates 74 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 22 Spinoza, Baruch 107 Staiger, Emil 8, 20 f., 25 Stalin, Josef 135 f., 139 Stendhal 48, 114 Stern, Horst 91 Stifter, Adalbert 32, 63, 119 Storm, Theodor 7, 9, 17, 22, 25 f., 29, 32, 35, 39, 44–46, 55, 63–65, 68, 72, 94, 109 f., 134, 137 Straparola, Giovanni 49 Strauß, Botho 93 f. Strauß, Emil 9, 15, 47 Streeruwitz, Marlene 93 Stresemann, Gustav 125 Sueton 11 Suppé, Franz von 7 f. Thoma, Ludwig 115 Tieck, Ludwig 14, 22, 26, 32, 34 f., 59 f., 68, 109, 137 Timm, Uwe 9 Todorov, Tzvetan 11, 18, 24, 52 Tolstoi, Leo 72 Tucholsky, Kurt 81
Uc de Saint Circ 7 Vischer, Friedrich Theodor 110, 114 Visconti, Luchino 73 Wagner, Richard 58, 61, 72 f. Walser, Martin 90 f. Walser, Robert 73 Walzel, Camillo 7 Weber, Carl Maria von 55 Weber, Max 67 Wegner, Armin T. 80 Weing, Siegfried 21 Weinheber, Josef 15 Weinrich, Harald 21 Wellershoff, Dieter 91 f., 95 Werfel, Franz 80 Weyrauch, Wolfgang 16 Wiechert, Ernst 83 Wieland, Christoph Martin 14, 18, 21, 40 f., 44, 47, 100 f. Wiese, Benno von 20, 100 Winckelmann, Johann Joachim 59 Winkler, Josef 35, 93 Wohmann, Gabriele 87 Wundt, Wilhelm 22, 119 Zemlinsky, Alexander 40 Zschokke, Johann Heinrich 28, 31, 45, 97, 109, 114 Zuckmayer, Carl 87 f. Zweig, Arnold 81 Zweig, Stefan 9, 75–77, 134