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German Pages 154 [156] Year 2011
Franz Werfel Eine blaßblaue Frauenschrift
Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 38
Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen)
Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster)
Band 38 Redaktion: Zekai Dagasan
De Gruyter
Franz Werfel
Eine blaßblaue Frauenschrift Novelle (1941)
Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder
De Gruyter
Dr. Matthias Pape lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte am Institut der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Dr. Wilhelm Brauneder ist Professor für Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
ISBN 978-3-11-028317-4 e-ISBN 978-3-11-028323-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Originaltext von Franz Werfel mit Genehmigung des S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main 1955. Erstdruck: Editorial Estrellas Ltda., Buenos Aires, 28. Juli 1941. Foto: Edith Schlesinger © Archiv S. Fischer Verlag Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ' Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift.............................................................................1 Erstes Kapitel April im Oktober............................................................................................... 3 Zweites Kapitel Die Wiederkehr des Gleichen ........................................................................... 9 Drittes Kapitel Hoher Gerichtshof........................................................................................... 17 Viertes Kapitel Leonidas wirkt für seinen Sohn....................................................................... 33 Fünftes Kapitel Eine Beichte, doch nicht die richtige .............................................................. 45 Sechstes Kapitel Vera erscheint und verschwindet .................................................................... 57 Siebentes Kapitel Im Schlaf ........................................................................................................ 73
KOMMENTAR I Matthias Pape: „Depression über Österreich“ Franz Werfels Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ im kulturellen Gedächtnis Österreichs .................................... 81 KOMMENTAR II Wilhelm Brauneder: Verfassungshistorischer Hintergrund............................................................ 125
Eine blaßblaue Frauenschrift
Erstes Kapitel April im Oktober Die Post lag auf dem Frühstückstisch. Ein beträchtlicher Stoß von Briefen, denn Leonidas hatte erst vor kurzem seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und täglich trafen noch immer glückwünschende Nachzügler ein. Leonidas hieß wirklich Leonidas. Den eben so heroischen wie drückenden Vornamen verdankte er seinem Vater, der ihm als dürftiger Gymnasiallehrer außer diesem Erbteil nur noch die vollzähligen griechisch-römischen Klassiker und zehn Jahrgänge der ‘Tübinger altphilologischen Studien’ vermacht hatte. Glücklicherweise ließ sich der feierliche Leonidas leicht in einen schlichtgebräuchlichen Leo umwandeln. Seine Freunde nannten ihn so und Amelie hatte ihn niemals anders gerufen als Leon. Sie tat es auch jetzt, indem sie mit ihrer dunklen Stimme der zweiten Silbe von León eine melodisch langgezogene und erhöhte Note gab. „Du bist unerträglich beliebt, León“, sagte sie. „Wieder mindestens zwölf Gratulationen ...“ Leonidas lächelte seiner Frau zu, als bedürfe es einer verlegenen Entschuldigung, daß es ihm gelungen sei, zugleich mit dem Gipfel einer glänzenden Karriere sein fünfzigstes Lebensjahr zu erreichen. Seit einigen Monaten war er Sektionschef im ‘Ministerium für Kultus und Unterricht’ und gehörte somit zu den vierzig bis fünfzig Beamten, die in Wirklichkeit den Staat regierten. Seine weiße ausgeruhte Hand spielte zerstreut mit dem Briefstapel. Amelie löffelte langsam eine Grapefruit aus. Das war alles, was sie morgens zu sich nahm. Der Umhang war ihr von den Schultern geglitten. Sie trug ein schwarzes Badetrikot, in welchem sie ihre alltägliche Gymnastik zu erledigen pflegte. Die Glastür auf die Terrasse stand halb offen. Es war ziemlich warm für die Jahreszeit. Von seinem Platz aus konnte Leonidas weit über das Gartenmeer der westlichen Vorstadt von Wien hinaussehen, bis zu den Bergen, an deren Hängen die Metropole verebbte. Er warf einen prüfenden Blick nach dem Wetter, das für sein Behagen und seine Arbeitskraft eine wesentliche Rolle spielte. Die Welt präsentierte sich heute als ein lauer Oktobertag, der in einer Art von launisch gezwungener Jugendlichkeit einem Apriltage glich. Über den Weinbergen der Bannmeile schob sich dickes hastiges Gewölk, schneeweiß und mit scharf gezeichneten Rändern. Wo der Himmel frei war, bot er ein nacktes, für diese Jahreszeit beinahe schamloses Frühlingsblau dar. Der Garten vor der Terrasse, der sich noch kaum verfärbt hatte, wahrte eine
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Erstes Kapitel
ledrig hartnäckige Sommerlichkeit. Kleine gassenbübische Winde sprangen mutwillig mit dem Laub um, das noch recht fest zu hängen schien. Ziemlich schön, dachte Leonidas, ich werde zu Fuß ins Amt gehen. Und er lächelte wiederum. Es war dies aber ein merkwürdiges gemischtes Lächeln, begeistert und mokant zugleich. Immer, wenn Leonidas mit Bewußtsein zufrieden war, lächelte er mokant und begeistert. Wie so viele gesunde, wohlgestaltete, ja schöne Männer, die es im Leben zu einer hohen Stellung gebracht haben, neigte er dazu, sich in den ersten Morgenstunden ausnehmend zufrieden zu fühlen und dem gewundenen Laufe der Welt rückhaltlos zuzustimmen. Man trat gewissermaßen aus dem Nichts der Nacht über die Brücke eines leichten, alltäglich neugeborenen Erstaunens in das Vollbewußtsein des eigenen Lebenserfolges ein. Und dieser Lebenserfolg konnte sich wahrhaftig sehen lassen: Sohn eines armen Gymnasialprofessors achter Rangklasse. Ein Niemand, ohne Familie, ohne Namen, nein ärger, mit einem aufgeblasenen Vornamen behaftet. Welch eine triste, frostige Studienzeit! Man bringt sich mit Hilfe von Stipendien und als Hauslehrer bei reichen, dicklichen und unbegabten Knaben mühsam durch. Wie schwer ist es, das verlangende Hungerblinzeln in den eigenen Augen zu bemeistern, wenn der träge Zögling zu Tisch gerufen wird! Aber ein Frack hängt dennoch im leeren Schrank. Ein neuer tadelloser Frack, an dem nur ein paar kleine Korrekturen vorgenommen werden mußten. Dieser Frack nämlich ist ein Erbstück. Ein Studienkollege und Budennachbar hat ihn Leonidas testamentarisch hinterlassen, nachdem er sich eines Abends im Nebenzimmer eine Kugel unangekündigt durch den Kopf gejagt hatte. Es geht fast wie im Märchen zu, denn dieses Staatsgewand wird entscheidend für den Lebensweg des Studenten. Der Eigentümer des Fracks war ein „intelligenter Israelit“. (So vorsichtig bezeichnet ihn auch in seinen Gedanken der feinbesaitete Leonidas, der den allzu offenen Ausdruck peinlicher Gegebenheiten verabscheut.) Diesen Leuten ging es übrigens in damaliger Zeit so erstaunlich gut, daß sie sich dergleichen luxuriöse Selbstmordmotive wie philosophischen Weltschmerz ohne weiteres leisten konnten. Ein Frack! Wer ihn besitzt, darf Bälle und andere gesellschaftliche Veranstaltungen besuchen. Wer in seinem Frack gut aussieht und überdies ein besonderes Tänzertalent besitzt wie Leonidas, der erweckt rasch Sympathien, schließt Freundschaften, lernt strahlende junge Damen kennen, wird in „erste Häuser“ eingeladen. So war es wenigstens damals in jener staunenswerten Zauberwelt, in der es eine soziale Rangordnung und darin das Unerreichbare gab, das des auserwählten Siegers harrte, damit er es erreiche. Mit einem blanken Zufall begann die Karriere des armen Hauslehrers; mit der Eintrittskarte zu einem der großen Ballfeste, die Leonidas geschenkt erhielt. Der Frack des Selbstmörders
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kam somit zu providentieller Geltung. Indem der verzweifelte Erblasser ihn mit seinem Leben hingegeben hatte, half er dem glücklicheren Erben über die Schwelle einer glänzenden Zukunft. Und dieser Leonidas erlag in den Thermopylen seiner engen Jugend keineswegs der Übermacht einer hochmütigen Gesellschaft. Nicht nur Amelie, auch andere Frauen behaupten, daß es einen Tänzer seinesgleichen nie gegeben habe, noch auch je wieder geben werde. Muß erst gesagt werden, daß Leóns Domäne der Walzer war, und zwar der nach links getanzte, schwebend, zärtlich, unentrinnbar fest und locker zugleich? Im beschwingten Zweischritt-Walzer jener sonderbaren Epoche konnte sich noch ein Liebesmeister, ein Frauenführer beweisen, während (nach Leóns Überzeugung) die Tänze des modernen Massenmenschen in ihrem gleichgültigen Gedränge nur dem maschinellen Trott ziemlich unbeseelter Glieder einen knappen Raum gewähren. Auch dann, wenn Leonidas sich seiner verrauschten Tänzertriumphe erinnert, umspielt das so charakteristisch gemischte Lächeln seinen hübschen Mund mit den blitzenden Zähnen und dem weichen Schnurrbärtchen, das noch immer blond ist. Er hält sich mehrmals am Tag für einen ausgemachten Götterliebling. Würde man ihn auf seine „Weltanschauung“ prüfen, er müßte offen bekennen, daß er das Universum als eine Veranstaltung ansehe, deren einziger Sinn und Zweck darin besteht, Götterlieblinge seinesgleichen aus der Tiefe zur Höhe emporzuhätscheln und sie mit Macht, Ehre, Glanz und Luxus auszustatten. Ist nicht sein eigenes Leben der Vollbeweis für diesen freundlichen Sinn der Welt? Ein Schuß fällt in der Nachbarkammer seines schäbigen Studentenquartiers. Er erbt einen beinah noch funkelnagelneuen Frack. Und schon kommt’s wie in einer Ballade. Er besucht im Fasching einige Bälle. Er tanzt glorreich, ohne es je gelernt zu haben. Es regnet Einladungen. Ein Jahr später gehört er bereits zu den jungen Leuten, um die man sich reißt. Wird sein allzu klassischer Vorname genannt, tritt lächelndes Wohlwollen auf alle Mienen. Sehr schwierig ist es, das Betriebskapital für ein derart beliebtes Doppelleben herbeizuschaffen. Seinem Fleiß, seiner Ausdauer, seiner Bedürfnislosigkeit gelingt’s. Vor der Zeit besteht er alle seine Prüfungen. Glänzende Empfehlungen öffnen ihm die Pforten des Staatsdienstes. Er findet sogleich die prompte Zuneigung seiner Vorgesetzten, die seine angenehm gewandte Bescheidenheit nicht hoch genug zu rühmen wissen. Schon nach wenigen Jahren erfolgt die vielbeneidete Versetzung zur Zentralbehörde, die sonst nur den besten Namen und den ausgesuchtesten Protektionskindern vorbehalten ist. Und dann diese wilde Verliebtheit Amelie Paradinis, der Achtzehnjährigen, Bildschönen
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Erstes Kapitel
Das leichte Erstaunen allmorgendlich beim Erwachen ist wahrhaftig nicht ungerechtfertigt. Paradini!? Man irrt nicht, wenn man bei diesem Namen aufhorcht. Ja, es handelt sich in der Tat um das bekannte Welthaus Paradini, das in allen Weltstädten Zweigniederlassungen besitzt. (Seither ist freilich das Aktienkapital von den großen Banken aufgesaugt worden.) Vor zwanzig Jahren aber war Amelie die reichste Erbin der Stadt. Und keiner der glänzenden Namen aus Adel und Großindustrie, keiner von diesen himmelhoch überlegenen Bewerbern hatte die blutjunge Schönheit erobert, sondern er, der Sohn des hungerleidenden Lateinlehrers, ein Jüngling mit dem geschwollenen Namen Leonidas, der nichts besaß als einen gutsitzenden, aber makabren Frack. Dabei ist das Wort „erobert“ schon eine Ungenauigkeit. Denn, recht besehen, war er auch in dieser Liebesgeschichte nicht der Werbende, sondern der Umworbene. Das junge Mädchen nämlich hatte mit unnachgiebiger Energie die Ehe durchgesetzt gegen den erbitterten Widerstand der ganzen millionenschweren Verwandtschaft.
Und hier sitzt sie ihm gegenüber, heut wie allmorgendlich, Amelie, sein großer, sein größter Lebenserfolg. Merkwürdig, das Grundverhältnis zwischen ihnen hat sich nicht verwandelt. Noch immer fühlt er sich als der Umworbene, als der Gewährende, als der Gebende, trotz ihres Reichtums, der ihn auf Schritt und Tritt mit Weite, Wärme und Behagen umgibt. Im übrigen betont Leonidas nicht ohne unbestechliche Strenge, daß er Amelies Besitztümer durchaus nicht für die seinen ansehe. Von allem Anfang an habe er zwischen diesem sehr ungleichen Mein und Dein eine feste Schranke aufgerichtet. Er betrachte sich in dieser reizenden, für zwei Menschen leider viel zu geräumigen Villa gleichsam nur als Mieter, als Pensionär, als zahlenden Nutznießer, widme er doch sein ganzes Gehalt als Staatsbeamter ohne Abzug der gemeinsamen Lebensführung. Schon vom ersten Tage dieser Ehe an habe er auf dieser Unterscheidung unerbittlich bestanden. Mochten die Auguren einander auch anlächeln, Amelie war entzückt über den männlichen Stolz des Geliebten, des Erwählten. Er hat jüngst die Höhe des Lebens erreicht und geht nun die Treppe langsam abwärts. Als Fünfzigjähriger besitzt er eine acht- oder neununddreißigjährige Frau, blendend noch immer. Sein Blick prüft sie. In dem nüchtern entlarvenden Oktoberlicht schimmern Amelies nackte Schultern und Arme makellos weiß, ohne Flecken und Härchen. Dieses duftende Marmorweiß entstammt nicht nur der Wohlgeborenheit, sondern ist ebenso die Folge einer unablässigen kosmetischen Pflege, die sie ernst nimmt wie einen Gottesdienst. Amelie will für Leonidas jung bleiben und schön und schlank. Ja, schlank vor allem. Und das fordert beständige Härte gegen sich selbst. Vom
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steilen Weg dieser Tugend weicht sie keinen Schritt. Ihre kleinen Brüste zeichnen sich unterm schwarzen Trikot spitz und fest ab. Es sind die Brüste einer Achtzehnjährigen. Wir bezahlen diese jungfräulichen Brüste mit Kinderlosigkeit, denkt der Mann jetzt. Und er wundert sich selbst über diesen Einfall, denn als entschlossener Verteidiger seines eigenen ungeteilten Behagens hat er niemals den Wunsch nach Kindern gehegt. Eine Sekunde lang taucht er den Blick in Amelies Augen. Sie sind heute grünlich und sehr hell. Leonidas kennt genau diese wechselnde und gefährliche Färbung. An gewissen Tagen hat seine Frau meteorologisch veränderliche Augen. „April-Augen“ hat er’s selbst einmal genannt. In solchen Zeiten muß man vorsichtig sein. Szenen liegen in der Luft ohne die geringste Ursache. Die Augen sind übrigens das einzige, was zu Amelies Jungmädchenhaftigkeit in sonderbarem Widerspruch steht. Sie sind älter als sie selbst. Die nachgemalten Brauen machen sie starr. Schatten und bläuliche Müdigkeiten umgeben sie mit der ersten Ahnung des Verfalls. So sammelt sich in den saubersten Räumen an gewissen Stellen ein Niederschlag von Staub und Ruß. Etwas beinah schon Verwüstetes liegt in dem Frauenblick, der ihn festhält. Leonidas wandte sich ab. Da sagte Amelie: „Willst du nicht endlich deine Post durchschauen?“ – „Höchst langweilig“, murmelte er und sah erstaunt den Briefstoß an, auf dem seine Hand noch immer zögernd und abwehrend ruhte. Dann blätterte er wie ein Kartenspieler das schiere Dutzend vor sich auf und musterte es mit der Routine des Beamten, der die Bedeutung seines „Einlaufs“ mit einem halben Blick feststellt. Es waren elf Briefe, zehn davon in Maschinenschrift. Um so mahnender leuchtete die blaßblaue Handschrift des elften aus der eintönigen Reihe hervor. Eine großzügige Frauenschrift, ein wenig streng und steil. Leonidas senkte unwillkürlich den Kopf, denn er spürte, daß er aschfahl geworden war. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. Seine Hände erfroren vor Erwartung, Amelie werde jetzt eine Frage nach dieser blaßblauen Handschrift stellen. Doch Amelie fragte nichts. Sie sah aufmerksam in die Zeitung, die neben ihrem Gedeck lag, wie jemand, der sich nicht ohne Selbstüberwindung verpflichtet fühlt, die bedrohlichen Zeitereignisse zu verfolgen. Leonidas sagte etwas, um etwas zu sagen. Er würgte an der Unechtheit seines Tons: „Du hast rechtnichts als öde Gratulationen “ Dann schob er – es war wieder der Griff eines gewiegten Kartenspielers – die Briefe zusammen und steckte sie mit vorbildlicher Lässigkeit in die Tasche. Seine Hand hatte sich weit echter benommen als seine Stimme. Amelie sah von der Zeitung nicht auf, während sie sprach:
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Erstes Kapitel
„Wenn’s dir recht ist, könnt ich all das fade Zeug für dich beantworten, León “ Aber Leonidas hatte sich schon erhoben, völlig Herr seiner selbst. Er strich sein graues Sakko glatt, zupfte die Manschetten aus den Ärmeln, legte dann die Hände in die schlanke Taille und wiegte sich mehrere Male auf den Zehenspitzen, als könne er auf diese Weise die Geschmeidigkeit seines prächtigen wohlgewachsenen Körpers prüfen und genießen: „Für eine Sekretärin bist du mir zu gut, lieber Schatz“, lächelte er begeistert und mokant. „Das erledigen meine jungen Leute im Handumdrehen. Hoffentlich hast du heute keinen leeren Tag. Und vergiß bitte nicht, daß wir abends in der Oper sind “ Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie mit ausführlicher Innigkeit aufs Haar. Sie blickte ihn voll an mit ihrem Blick, der älter war als sie selbst. Sein schmales Gesicht war rosig, frisch und wundervoll rasiert. Es strahlte von Glätte, von jener unzerstörbaren Glätte, die sie beunruhigte und gebannt hielt seit jeher.
Zweites Kapitel Die Wiederkehr des Gleichen Nachdem Leonidas sich von Amelie verabschiedet hatte, verließ er das Haus nicht alsogleich. Allzusehr brannte in seiner Tasche der Brief mit der blaßblauen Frauenhandschrift. Auf der Straße pflegte er weder Briefe noch Zeitungen zu lesen. Das ziemte sich nicht für einen Mann seines Ranges und seiner Angesehenheit im wörtlichen Sinne. Andrerseits besaß er die unschuldige Geduld nicht, solange zu warten, bis er sich ungestört in seinem großen Arbeitszimmer im Ministerium befinden würde. So tat er das, was er öfters als Knabe getan hatte, wenn es eine Heimlichkeit zu verbergen, ein schlüpfriges Bild zu betrachten, ein verbotenes Buch zu lesen galt. Der Fünfzigjährige, dem niemand nachspionierte, blickte ängstlich nach allen Seiten und schloß sich dann, nicht anders als der Fünfzehnjährige einst, vorsichtig in den verschwiegensten Raum des Hauses ein. Dort starrte er mit entsetzten Augen lange auf die strenge steile Frauenhandschrift und wog den leichten Brief unablässig in der Hand und wagte es nicht, ihn zu öffnen. Mit immer persönlicherer Ausdruckskraft blickten ihn die sparsamen Schriftzüge an und erfüllten nach und nach sein ganzes Wesen wie mit einem Herzgift, das den Pulsschlag lähmt. Daß er Veras Handschrift noch einmal werde begegnen müssen, das hätte er selbst in einem lastenden Angsttraum nicht mehr für möglich gehalten. Was war das für ein unbegreiflicher, was für ein unwürdiger Schreck vorhin, als ihn mitten unter seiner gleichgültigen Post plötzlich ihr Brief angestarrt hatte? Es war ein Schreck aus den Anfängen des Lebens ganz und gar. So darf ein Mann nicht erschrecken, der die Höhe erreicht und seine Bahn fast vollendet hat. Zum Glück hatte Amelie nichts davon bemerkt. Warum dieser Schreck, den er noch in allen Gliedern spürte? Es ist doch nichts als eine alte dumme Geschichte, eine platte Jugendeselei, wohl zwanzigfach verjährt. Er hat wahrhaftig mehr auf dem Gewissen als die Sache mit Vera. Als hoher Staatsbeamter ist er täglich gezwungen, Entscheidungen über Menschenschicksale zu treffen, hochnotpeinliche Entscheidungen nicht selten. In seiner Stellung ist man ja ein wenig wie Gott. Man verursacht Schicksale. Man legt sie ad acta. Sie wandern vom Schreibtisch des Lebens ins Archiv des Erledigtseins. Mit der Zeit löst sich Gott sei Dank alles klaglos in Nichts auf. Auch Vera schien sich doch schon klaglos in Nichts aufgelöst zu haben Es mußte fünfzehn Jahre her sein, mindestens, daß er zum letztenmal einen Brief Veras in der Hand gehalten hatte, so wie jetzt, in einer ähnlichen Situati-
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Zweites Kapitel
on übrigens und an einem nicht minder kläglichen Örtchen. Damals freilich kannte Amelies Eifersucht keine Grenzen, und ihr mißtrauisches Feingefühl witterte stets eine Fährte. Es blieb ihm nichts übrig, als den Brief zu vernichten. Damals! Daß er ihn ungelesen vernichtete, das allerdings war etwas anderes. Das heißt, es war eine lumpige Feigheit, eine Schweinerei ohnegleichen. Der Götterliebling Leonidas machte sich in diesem Augenblicke nichts vor. Den damaligen Brief habe ich ungelesen zerrissen – und auch den heutigen werde ich ungelesen zerreißen –, einfach, um nichts zu wissen. Wer nichts weiß, ist nicht in Anspruch genommen. Was ich vor fünfzehn Jahren nicht in mein Bewußtsein eingelassen habe, das brauche ich heute doch noch hundertmal weniger einzulassen. Es ist erledigt, ad acta gelegt, nicht mehr da. Ich halte es für ein unbedingtes Gewohnheitsrecht, daß es nicht mehr da ist. Unerhört von dieser Frau, daß sie mir noch einmal ihre Existenz so nah vor Augen führt. Wie mag sie jetzt sein, wie mag sie jetzt aussehen? Leonidas hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie Vera jetzt aussehen mochte. Schlimmer, er wußte nicht, wie sie ausgesehen hatte, damals, zur Zeit seines einzigen echten Liebesrausches im Leben. Nicht den Blick ihrer Augen konnte er zurückrufen, nicht den Schimmer ihres Haares, nicht ihr Gesicht, ihre Gestalt. Je gesammelter er sich bemühte, ihr sonderbar verlorenes Bild in zu beschwören, um so hoffnungsloser wurde die Leere, die sie wie mit spöttischer Absicht in ihm zurückgelassen hatte. Vera war gleichsam die vertrackte Ausfallerscheinung seiner sonst gut gepflegten und kalligraphisch glatten Erinnerung. Zum Teufel, warum wollte sie auf einmal nicht bleiben, was sie fünfzehn Jahre schon war, ein gut eingeebnetes Grab, dessen Stelle man nicht mehr findet. Mit unverkennbarer Tücke materialisierte die Frau, die ihr Bild dem treulosen Geliebten entzog, ihre Persönlichkeit in den wenigen Worten der Adresse. Sie waren voll schrecklicher Anwesenheit, diese feinen Federstriche. Der Sektionschef begann zu schwitzen. Er hielt den Brief in der Hand wie die Vorladung des Strafgerichts, nein, wie das ausgefertigte Urteil dieses Strafgerichtes selbst. Und plötzlich stand jener Julitag vor fünfzehn Jahren da, hell und blank, in seinen flüchtigsten Einzelheiten. Ferien! Herrlichster Alpensommer in Sankt Gilgen. Leonidas und Amelie sind noch ziemlich jung verheiratet. Sie wohnen in dem entzückenden kleinen Hotel am Seeufer. Man hat sich heute mit Freunden zu einer gemächlichen Bergpartie verabredet. In wenigen Minuten wird an der Landungsstelle dicht vor dem Hotel das Dampferchen anlegen, das man besteigen muß, um zum Ausgangspunkt des geplanten Spaziergangs zu gelangen. Die Halle des Gasthofs ähnelt einer großen Bauernstube. Durch die gittrigen, von wildem Wein be-
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schatteten Fenster dringt die Sonne nur mit spärlich dickflüssigen Honigtropfen. Der Raum selbst ist dunkel. Es ist aber ein vollgesogenes Dunkel, das die Augen seltsam blendet. Leonidas tritt zur Portiersloge, fordert seine Post. Drei Briefe sind’s, darunter jener mit der steilen strengen Frauenschrift in blaßblauer Tinte. Da fühlt Leonidas, daß Amelie hinter ihm steht. Sie legt ihm zutraulich die Hand auf die Schulter. Sie fragt, ob für sie nichts angekommen sei. Wie es ihm gelingt, Veras Brief zu verbergen und in die Tasche zu praktizieren, weiß er selbst nicht. Das ambrafarbige Dunkel hilft ihm. Zum Glück erscheinen jetzt die Freunde, welche man erwartet. Nach der heiteren Begrüßung verschwindet Leonidas unauffällig. Er hat noch fünf Minuten Zeit, den Brief zu lesen. Er liest ihn nicht, sondern dreht ihn uneröffnet hin und her. Vera schreibt ihm nach drei Jahren tödlichen Schweigens. Sie schreibt ihm, nachdem er sich gemeiner, schrecklicher benommen hat als jemals ein Mann zu seiner Geliebten. Zuerst diese niederträchtigste aller feigen Lügen, denn er war doch vor drei Jahren schon verheiratet, ohne es ihr zu gestehn. Und dann der abgefeimte betrügerische Abschied am Waggonfenster: „Leb wohl, mein Leben! Zwei Wochen noch und du bist bei mir!“ Mit diesen Worten ist er einfach verschwunden und hat die Existenz von Fräulein Vera Wormser nicht mehr zur Kenntnis genommen. Wenn sie ihm heute schreibt, sie, ein Wesen wie Vera, dann steckt dahinter die furchtbarste Selbstüberwindung. Dieser Brief kann demnach nichts anderes sein als ein Hilferuf in schwerer Bedrängnis. Und das Schlimmste? Vera hat den Brief hier geschrieben. Sie ist in Sankt Gilgen. Auf der Rückseite des Umschlags steht es schwarz auf weiß. Sie wohnt in einer Pension am jenseitigen Seeufer. Leonidas zieht schon ein Taschenmesser, um das Kuvert einfach aufzuschlitzen, eine ebenso lächerliche wie verräterische Pedanterie. Er öffnet aber das Taschenmesser nicht. Wenn er den Brief liest, wenn zur Gewißheit wird, was er nicht einmal zu ahnen wagen darf, dann gibt es kein Zurück mehr. Einige Sekunden lang überlegt er die Möglichkeit und Aussicht einer Beichte. Doch welcher Gott könnte von ihm fordern, daß er seiner blutjungen Frau, einer Amelie Paradini, die ihn fanatisch liebt, die ihn zum Erstaunen aller Welt geheiratet hat, daß er diesem bevorzugten Sondergeschöpf ohne weiteres aus heiterem Himmel gestehe, er habe sie schon nach einem Jahr ihrer Ehe in umsichtigster Weise betrogen. Er würde damit nur seine eigene Existenz und das Leben Amelies zerstören, ohne Vera helfen zu können. Ratlos steht er im engen Raum, während die Sekunden eilen. Ihm wird übel vor seiner eigenen Angst und Niedrigkeit. Der leichte Brief lastet schwer in seiner Hand. Das Papier des Umschlags ist sehr dünn und nicht gefüttert. Undeutlich scheinen die Zeilen durch. Er versucht hier und dort zu entziffern. Vergebens! Eine Hummel surrt durchs offene Fensterchen und ist mit ihm gefangen. Ödigkeit, Trauer, Schuld erfüllen ihn und plötzlich ein heftiger Zorn
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Zweites Kapitel
gegen Vera. Sie schien doch bereits verstanden zu haben. Ein kurzes, verrücktes Glück, von Gnaden des Zufalls und seiner Lüge. Er hat nicht anders gehandelt als ein antiker Gott, der sich in wandelbarer Gestalt zu einem Menschenkinde herabbeugt. Darin liegt doch ein Adel, eine Schönheit. Vera schien es überwunden zu haben, dessen war er ja schon so sicher. Denn was immer geschehen sein mochte mit ihr, sie hatte sich in den drei Jahren seit seinem Verschwinden nicht gemeldet, mit keiner Zeile, mit keinem Wort, mit keiner persönlichen Botschaft. Aufs beste überstanden war alles und eingeordnet. Wie hoch hatte er sie ihr angerechnet, diese verständige Einordnung ins Unvermeidbare. Und jetzt, dieser Brief! Nur durch eine Glücksfügung ist er Amelie nicht in die Hände gefallen. Und nicht nur der Brief. Sie selbst ist da, verfolgt ihn, taucht auf hier an diesem Bergsee, wo sich alle Welt zusammenfindet, jetzt im abscheulich familiären Monat Juli. Ingrimmig denkt Leonidas: Vera ist eben doch nur eine „intellektuelle Israelitin“. So hoch diese Menschen sich auch entwickeln können, an irgend etwas hapert’s am Ende doch. Zumeist am Takt, an dieser feinen Kunst, dem Nebenmenschen keine seelischen Scherereien zu bereiten. Warum z. B. hatte sich sein Freund und Kommilitone, der ihm jenen erfolgreichen Frack vererbte, um acht Uhr abends, zu einer geselligen Stunde also und noch dazu im Nebenzimmer, erschießen müssen? Hätte er das nicht ebensogut woanders tun können oder zu einer Zeit, wo sich Leonidas nicht in der Nähe befand? Aber nein! Jede Handlung, auch die verzweifeltste, muß unterstrichen und in bittere Anführungszeichen gesetzt werden. Immer ein Zuviel oder ein Zuwenig! Ein Beweis für jenen so bezeichnenden Mangel an Takt. Unsagbar taktlos ist es von Vera, im Juli nach Sankt Gilgen zu kommen, wo Leonidas mit Amelie zwei Wochen seines schwerverdienten Urlaubs verbringen will, wie sie gewiß in Erfahrung gebracht hat. Gesetzt den Fall, er begegnet ihr jetzt auf dem Dampferchen, was soll er tun? Er weiß natürlich, was er tun wird: Vera nicht erkennen, nicht grüßen, durch sie achtlos heiter hindurchblicken und mit Amelie und der kleinen Gesellschaft ohne Wimperzucken lachende Konversation machen. Doch wie teuer wird ihm diese empörend brillante Haltung zu stehen kommen! Sie kostet Nervenkraft und Selbstbewußtsein für eine ganze Woche seines allzu kurzen Urlaubs. Der Appetit ist hin. Die nächsten Tage sind vergällt. Und er muß sofort einen einleuchtenden Grund Amelie gegenüber ersinnen, um spätestens morgen Mittag den Aufenthalt in diesem so reizenden Sankt Gilgen abbrechen zu können. Wohin sie sich aber begeben werden, ob nach Tirol, an den Lido oder ans nördliche Meer, überall wird ihn die Möglichkeit verfolgen, die er nicht auszudenken wagt. Das rasche Gefälle dieser Überlegungen hat ihn den Brief in seiner Hand vergessen lassen. Jetzt aber erfaßt ihn eine jähe Neugier. Er möchte wissen, woran er ist. Vielleicht sind jene dämmrigen Ahnungen und Befürchtungen nur Ausgebur-
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ten seiner so leicht reizbaren Hypochondrie. Vielleicht wird er erleichtert aufatmen, wenn er den Brief gelesen hat. Die dicke Sommerhummel, seine Mitgefangene, hat endlich den Fensterspalt gefunden und verdröhnt in der Freiheit draußen. Es ist auf einmal schrecklich still in der kläglichen Enge. Leonidas setzt das Taschenmesser an, um den Brief aufzuschneiden. Da tutet das uralte Dampferchen, klein und klapprig, ein Kinderspielzeug aus verschollenen Zeiten. Das Schaufelrad schäumt hörbar das Wasser auf. Nach einer kurzen Regungslosigkeit beginnt das Schattenmuster des Weinlaubs von neuem sein Spiel an der Wand. Keine Zeit mehr! Schon wird Amelie nervös rufen: León! Sein Herz klopft, während er den Brief in kleine Schnitzel zerreißt und verschwinden läßt Ewige Wiederkehr des gleichen! So etwas also gibt’s wahrhaftig, staunte Leonidas. Veras heutiger Brief hatte ihn in dieselbe schmähliche Situation versetzt wie jener vor fünfzehn Jahren. Es war die Ursituation seiner Versündigung an Vera und an Amelie. Alles stimmte aufs Haar überein. Der Postempfang in Gegenwart seiner Frau, damals wie heute. Jetzt erst las er auf der Rückseite des Briefes den Vermerk der Absenderin: „Dr. Vera Wormser loco“. Dann folgte der Name des Parkhotels, das in nächster Nähe, zwei Straßen entfernt, lag. Vera also war gekommen, damals wie heute, um ihn zu suchen, um ihn zu stellen. Nur daß statt einer Sommerhummel einige greise Herbstfliegen, asthmatisch summend, seine Gefangenschaft teilten. Leonidas hörte sich, nicht ohne Verwunderung, leise auflachen. Dieser Schreck vorhin, dieses Stillstehen des Herzens war nicht nur unwürdig, er war auch blödsinnig. Hätte er den Brief nicht ruhig vor Amelie zerreißen können, gelesen oder ungelesen?! Eine Belästigung, eine Petition aus dem Publikum, wie hundert andere, weiter nichts. Fünfzehn Jahre, nein, fünfzehn plus drei Jahre! Das sagt sich so einfach. Aber achtzehn Jahre sind eine unausschöpfliche Verwandlung. Sie sind mehr als ein halbes Menschenalter, das die Lebenden beinahe völlig austauscht, ein Zeitozean, der wahrhaftig andere Verbrechen zu Nichts verwässert als eine feige Unanständigkeit in der Liebe. Was war er doch für ein Waschlappen, daß er von dieser mumifizierten Geschichte nicht loskommen konnte, daß er durch sie die schönste Seelenruhe seines Vormittags verlor, er, ein Fünfzigjähriger auf dem Gipfel seiner Laufbahn? Der ganze Unsegen kam von der Halbschlächtigkeit seines Herzens, so stellte er fest. Dieses Herz war einerseits zu weich geraten und andrerseits zu windig. Sein Lebtag litt er daher an einem „verdorbenen Herzen“. Diese Formel ging zwar, er empfand es selbst, gegen den guten Geschmack, sie drückte aber seinen unpäßlichen Seelenzustand treffend aus. War die schreckhafte Empfindsamkeit der blaßblauen Frauenschrift gegenüber nicht der Beweis einer skrupelhaft zarten Kavaliersnatur,
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die einen moralischen Schnitzer auch nach schier unendlicher Zeit nicht verwinden und sich vergeben kann? Leonidas bejahte im Augenblick diese Frage rückhaltlos. Und er belobte sich selbst mit einiger Melancholie, weil er, ein anerkannt schöner und verführerischer Mann, außer der leidenschaftlichen Episode mit Vera nur noch neun bis elf gegenstandslose Seitensprünge in seiner Ehe sich vorzuwerfen hatte. Er atmete tief und lächelte. Jetzt wollte er mit Vera Schluß machen für immer. Fräulein Doktor der Philosophie Vera Wormser, Spezialfach Philosophie. In dieser Berufswahl schon lag ein aufreizender Hang zur Überlegenheit. (Fräulein Doktor? Nein, hoffentlich Frau Doktor. Verheiratet und nicht verwitwet.) Im offenen Fensterchen stand der bauschige Wolkenhimmel. Leonidas riß entschlossen den Brief ein. Der Riß aber war noch nicht zwei Zentimeter tief, als seine Hände innehielten. Und jetzt geschah das Gegenteil von dem, was vor fünfzehn Jahren in Sankt Gilgen geschehen war. Damals wollte er den Brief öffnen und zerriß ihn. Jetzt wollte er den Brief zerreißen und öffnete ihn. Spöttisch sah ihn von dem verletzten Blatt die gesammelte Persönlichkeit der blaßblauen Frauenschrift an, die sich nun in mehreren Zeilen entwickeln konnte. Oben auf dem Kopf des Briefes stand in raschen und genauen Zügen das Datum: „Am siebten Oktober 1936“. Man merkt die Mathematikerin, urteilte Leonidas, Amelie hat in ihrem ganzen Leben noch nie einen Brief datiert. Und dann las er: „Sehr geehrter Herr Sektionschef!“ Gut! Gegen diese dürre Anrede ist nichts einzuwenden. Sie ist vollendet, taktvoll, obgleich sich ein schwacher aber unüberwindlicher Hohn hinter ihr zu verbergen scheint. Jedenfalls läßt dieses „Sehr geehrter Herr Sektionschef“ nichts allzu Nahes befürchten. Lesen wir weiter! „Ich bin gezwungen, mich heute mit einer Bitte an Sie zu wenden. Es handelt sich dabei nicht um mich selbst, sondern um einen jungen begabten Menschen, der aus den allgemein bekannten Gründen in Deutschland sein Gymnasialstudium nicht fortsetzen darf und es daher hier in Wien vollenden möchte. Wie ich höre, liegt die Ermöglichung und Erleichterung eines solchen Übertritts in Ihrem speziellen Amtsbereich, sehr geehrter Herr. Da ich hier in meiner ehemaligen Vaterstadt keinen Menschen mehr kenne, halte ich es für meine Pflicht, Sie in diesem, für mich äußerst wichtigen Fall in Anspruch zu nehmen. Sollten Sie bereit sein, meiner Bitte zu willfahren, so genügt es, wenn Sie mich durch Ihr Büro verständigen lassen. Der junge Mann wird Ihnen dann zu gewünschter Zeit seine Aufwartung machen und die notwendige Auskunft geben. Mit verbindlichem Dank. Vera W.“
Die Wiederkehr des Gleichen
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Leonidas hatte den Brief zweimal gelesen, vom Anfang bis zum Ende, ohne abzusetzen. Dann steckte er ihn mit vorsichtigen Fingern wieder in die Tasche wie eine Kostbarkeit. Er fühlte sich so schlaff und müde, daß er nicht Kraft genug fand, die Tür aufzusperren und aus seinem Gefängnis zu treten. Wie komisch überflüssig erschien ihm jetzt seine kindliche Flucht in das beklemmende Örtchen. Diesen Brief hätte er keineswegs mit tödlichem Schreck vor Amelie verbergen müssen. Diesen Brief hätte er offen liegen lassen, ja ihr ruhig über den Tisch hinreichen können. Es war der harmloseste Brief der Welt, dieser hinterlistigste Brief der Welt. Dergleichen Bittschriften um Protektion und Intervention bekam er hundert im Monat. Und doch, in diesen knappen und geraden Zeilen lebte eine Ferne, eine Kälte, eine abgezirkelte Besonnenheit, vor der er sich moralisch zusammenschrumpfen fühlte. Vielleicht wird dereinst, wer kann’s wissen, vor dem Jüngsten Gericht, ein ähnlich tückisch ausgewogener Schriftsatz auftauchen, der nur für den Gläubiger und den Schuldner, für den Mörder und das Opfer verständlich ist, allen andern aber als geringfügiger Sachverhalt erscheint, durch diese Verhüllung doppelt furchtbar für den Betreffenden. Weiß Gott, was für unseriösen Einfällen und Anwandlungen ein gesetzter Staatsbeamter mitten an einem hellichten Oktobertage erliegen konnte! Woher kam auf einmal das Jüngste Gericht in ein sonst so sauberes Gehirn? Schon kannte Leonidas den Brief auswendig. „Es liegt in Ihrem speziellen Amtsbereich, sehr geehrter Herr.“ So ist es, sehr geehrter Herr! „Ich halte es für meine Pflicht, Sie in diesem für mich äußerst wichtigen Fall in Anspruch zu nehmen.“ Der trockene Stil einer Eingabe. Und doch ein Satz von marmorner Wucht und spinnwebzarter Feinheit für den Wissenden, den Schuldigen. „Der junge Mann wird Ihnen zu gewünschter Stunde seine Aufwartung machen und die notwendige Auskunft geben.“ Notwendige Auskunft! Diese zwei Worte rissen den Abgrund auf, indem sie ihn verschleierten. Kein Staatsrechtler, kein Kronjurist hätte sich ihrer gnadenlosen Zweideutigkeit zu schämen gehabt. Leonidas war betäubt. Nach einer Ewigkeit von achtzehn Jahren hatte den allseits Gesicherten die Wahrheit doch eingeholt. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn und keinen Rückzug. Er konnte sich der Wahrheit, die er in einer Minute der Schwäche eingelassen hatte, nicht mehr entziehen. Nun war die Welt für ihn von Grund auf verwandelt, und er für die Welt. Die Folgen dieser Verwandlung waren nicht abzusehen, das wußte er, ohne diese Folgen in seinem bedrängten Geist noch ermessen zu können. Ein harmloser Bittbrief! In diesem harmlosen Bittbrief aber hatte Vera ihm kundgetan, daß sie einen erwachsenen Sohn besaß und daß dieser Sohn der seinige war.
Drittes Kapitel Hoher Gerichtshof Obgleich die Zeit schon vorgerückt war, ging Leonidas die Alleestraße des Hietzinger Viertels viel langsamer entlang als sonst. Er stützte sich, gedankenvoll schreitend, auf seinen Regenschirm, blickte aber zugleich mit aufmerksamen Augen um sich her, um keinen Gruß zu versäumen. Er war recht oft gezwungen, seine Melone zu ziehen, wenn ihn die pensionierten Beamten und kleinen Bürger dieser ehrerbietig konservativen Gegend schwungvoll komplimentierten. Seinen Mantel trug er überm Arm, denn es war unversehens warm geworden. Seit der kleinen Weile, in der durch Veras Brief sein Leben von Grund auf verwandelt worden war, hatte sich auch das Wetter dieses Oktobertages überraschend verändert. Der Himmel war überall zugewachsen und zeigte keine schamlos nackten Stellen mehr. Die Wolken eilten nicht länger dampfweiß und scharfgerändert, sondern lasteten unbeweglich tief und hatten die Farbe schmutziger Möbelüberzüge. Eine Windstille wie aus dickem Flanell herrschte ringsum. Das Pochen der Motoren, das Kreischen der Elektrischen, der Straßenlärm fern und nah klang wie gepolstert. Jedes Geräusch war aufgetrieben und undeutlich, als erzähle die Welt die Geschichte dieses Tages mit vollem Munde. Ein unnatürlich warmes, ein verschlagenes Wetter, das bei älteren Leuten die Angst vor einem plötzlichen Tode förderte. Es konnte sich zu allem entscheiden: zu Gewitter und Hagelschlag, zu griesgrämigem Landregen oder zu einem faulen Friedensschluß mit der Herbstsonne. Leonidas mißbilligte von ganzem Herzen diese Witterung, die den Atem bedrängte und auf seinen eigenen Gemütszustand zweideutig gemünzt schien. Die schlimmste Folge der krankhaften Windstille aber bestand darin, daß sie den Sektionschef hinderte, logische Gedanken und Entscheidungen zu fassen. Ihm war’s, als arbeite sein akademisch erzogenes Gehirn nicht frei und gelenkig wie sonst, sondern in dicken, unbequemen Wollhandschuhen, mit welchen sich die rasch aufwachsenden Fragen nicht recht anfassen und begreifen ließen. Er war also Vera erlegen heute. Nach einem achtzehnjährigen stummen Kampf, der sich wie außerhalb des Lebens abgespielt hatte, ohne deshalb weniger tatsächlich zu sein. Ihre Kraft allein hatte ihn gezwungen, den Brief zu lesen, anstatt ihn zu zerreißen und damit der Wahrheit noch einmal zu entkommen. Ob es ein Fehler war, das konnte er jetzt noch nicht wissen, eine
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Niederlage war’s jedenfalls und entscheidender als das, ein jäher Weichenwechsel seines Lebens. Seit einer Viertelstunde lief dieses Leben auf einem neuen Schienenstrang in unbekannter Richtung. Denn seit genau einer Viertelstunde hatte er einen Sohn. Dieser Sohn war ungefähr siebzehn Jahre alt. Das Bewußtsein, des fremden jungen Mannes Vater zu sein, hatte ihn durchaus nicht unerwartet aus dem Hinterhalt des Nichts angetreten. Im Dämmerreiche seines Schuldbewußtseins, seiner Angst und seiner Neugier lebte ja Veras Kind seit dem unbekannten Tage der Geburt ein drohend gespensterhaftes Leben. Nun hatte nach einer schier unendlichen Inkubationsfrist, in der die Furcht fast schon zerronnen war, dieses Gespenst urplötzlich Fleisch und Blut angenommen. Die harmlos tückische Verschleierung der Wahrheit in Veras Brief milderte die Ratlosigkeit des Bestürzten keineswegs. Obwohl er vom Charakter der einst Geliebten nicht das mindeste mehr wußte, so dachte er jetzt mit einem nervösen Verkneifen der Lippen: Das ist echt Vera, diese Kriegslist! Sie bleibt unbestimmt. Bleibt sie nur unbestimmt, um mich nicht zu kompromittieren? Oder läßt sie mir noch eine Hoffnung? Der Brief gibt mir offenbar die Möglichkeit, auch jetzt noch zu entschlüpfen. „Sollten Sie bereit sein, meiner Bitte zu willfahren “ Und wenn ich nicht bereit wäre? Mein Gott, das ist es ja! Durch ihre Unbestimmtheit bindet sie mich doppelt. Ich kann nicht länger passiv bleiben. Eben darum, weil sie die Wahrheit nicht schreibt, verifiziert sie die Wahrheit. Dem Sektionschef war im Zusammenhange mit Vera dieser juristische Fachausdruck „verifizieren“ wirklich in den Sinn gekommen. Untreu seinen guten Manieren, blieb er bei einem Übergang mitten auf der Fahrbahn stehen, blies einen stöhnenden Atemzug von sich, nahm die Melone ab und trocknete seine Stirn. Zwei Autos gaben wütend Laut. Ein Schutzmann drohte empört. Leonidas erreichte in verbotenen Sprüngen das andere Ufer. Es war ihm nämlich eingefallen, daß sein neuer Sohn in hohem Maße ein israelitischer Jüngling war. Er durfte also in Deutschland nicht mehr die Schule besuchen. Nun, man lebte hier in der gefährlichsten Nachbarschaft Deutschlands. Niemand wußte, wie sich die Dinge hierzulande entwickeln würden. Es war ein ungleicher Kampf. Von einem Tag zum andern konnten hüben dieselben Gesetze in Kraft treten wie drüben. Schon heutzutage war für einen hohen Staatsbeamten die gesellschaftliche Berührung mit Veras Rasse, von einigen glänzenden Ausnahmen abgesehen, höchst unstatthaft. Die Zeiten lagen sehr fern, in welchen man den Frack eines unglücklichen Kollegen erben durfte, der sich aus keinem triftigeren Grunde erschossen hatte, als weil er des vergötterten Richard Wagner Verdammungsurteil gegen den eigenen Stamm nicht zu ertragen vermochte. Und nun besaß man mit Fünfzig urplötzlich selbst ein Kind dieses Stammes. Eine unglaubliche Wendung! Die Weiterungen waren
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nicht auszudenken. Amelie?! Aber so weit sind wir noch gar nicht, redete Leonidas sich selbst ein. Immer wieder versuchte er, den Fall, in den er als Verschulder und Opfer gleichermaßen verwickelt war, sich aufs gewissenhafteste „zurechtzulegen“. Der geschulte Beamte besitzt ja die Fertigkeit, über jeden Sachverhalt einen „Akt zu errichten“ und ihn damit dem Schmelzprozeß des Lebens zu entreißen. Leonidas gelang es kaum, diesen dürren Sachverhalt wieder herzustellen, geschweige auch nur einen Hauch jener sechs Wochen seiner brennenden Liebe. Vera selbst verbat sich’s, genau so wie sie ihm ihr Bild entzog. Was übrigblieb, war recht mager. In diesen quälenden Minuten wäre er auch vor Gericht (vor welchem Gericht?) nicht fähig gewesen, ein farbigeres Bild des inkriminierten Vergehens zu malen, als etwa folgendes: Es geschah im dreizehnten Monat meiner Ehe, hoher Gerichtshof – so hätte das trockene Plädoyer beginnen können –, da erhielt Amelie die Nachricht, daß ihre Großmutter mütterlicherseits schwer erkrankt sei. Diese Großmutter, eine Engländerin, war die wichtigste Persönlichkeit der eingebildeten, snobistischen Millionärsfamilie Paradini. Sie liebte ihre jüngste Enkelin abgöttisch. Amelie war gezwungen, um einen wesentlichen Teil ihres Erbes zu verteidigen, nach Devonshire auf den Landsitz der Sterbenden zu reisen. Intriganten und Erbschleicher waren am Werk. Ich hielt es für unumgänglich notwendig, daß meine Frau der alten Dame in ihren letzten Stunden immer vor Augen blieb. Leider dehnten sich diese letzten Stunden zu vollen drei Monaten aus. Ich glaube ohne nachträgliche Fälschung sagen zu können, daß wir beide, Amelie und ich, über diese erste Trennung unserer Gemeinschaft aufrichtig verzweifelt waren. Um ganz offen zu sein, vielleicht habe ich für meine Person gleichzeitig eine angenehme Spannung empfunden, daß ich nun für eine kurze Dauer wieder frei sein werde und mein eigener Herr. In den Anfängen nämlich war Amelie noch weit anstrengender, launischer, verstimmter, eifersüchtiger als jetzt, wo sie sich trotz ihrer ursprünglichen Unbändigkeit meinem maßvollen Lebensrhythmus anzupassen gelernt hatte. Sie war ja kraft ihres Reichtums die Herrin über mich und hatte es leicht, eine Feé Caprice zu sein. Die brutalen Grundverhältnisse zwischen den Menschen lassen sich auch durch persönliche Kultur, Bildung, Erziehung und ähnliche Luxusgüter nicht umstürzen. Wir feierten jedenfalls auf dem Westbahnhofe einen schweren, tränenvollen Abschied. Zur selben Zeit hatte mein Ministerium den Beschluß gefaßt, mich nach Deutschland zu schicken, damit ich dort die vorbildliche Organisation des Hochschulstudiums aus der Nähe kennen lerne. Aufbau und Verwaltung der Universitäten sind, wie man weiß, mein eigentliches Fach und meine besondere Force. In diesen Belangen habe ich einiges geleistet, was aus der Erzie-
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hungsgeschichte meines Vaterlandes nicht leicht wird ausgemerzt werden können. Amelie ihrerseits war recht zufrieden, daß ich für die Zeit unserer Trennung nach Heidelberg gehen würde. Sie hätte überaus darunter gelitten, mich in dem großen verführerischen Wien zurücklassen zu müssen. Die Versuchungen eines hübschen deutschen Universitätsstädtchens erschienen ihr federleicht dagegen. Ich hatte sogar hoch und heilig versprechen müssen, schon am Tage nach ihrer Abreise Wien zu verlassen, um mich unverzüglich meiner neuen Aufgabe zu widmen. Mit Pünktlichkeit hielt ich mein Versprechen, denn ich muß bekennen, daß mir Amelie selbst heute noch eine gewisse Furcht einflößt. Ich habe ihre überlegene Position nicht zu überwinden verstanden. Daß sie sich’s in den Kopf gesetzt hatte, den kleinen Konzeptbeamten, der ich damals war, gegen alle Widerstände zu heiraten, das war die Extravaganz einer Sehrverwöhnten, der jeder Wunsch erfüllt werden mußte. Wer hat, dem wird gegeben. Ich bin, das läßt sich nicht bezweifeln, in Amelies Besitz übergegangen. Sehr groß sind die Vorteile, einer unabhängigen steinreichen Frau anzugehören, die aus einem finanziell und gesellschaftlich mächtigen Hause stammt. Die Nachteile sind aber nicht minder groß. Nicht einmal die strenge Gütertrennung, auf der ich von jeher grundsätzlich bestand, kann es verhüten, daß auch ich durch ein den großen Vermögen innewohnendes Naturgesetz eine Art willensbeschränktes Eigentum geworden bin. Vor allem: Wenn ich Amelie verliere, habe ich positiv mehr zu verlieren, als sie zu verlieren hat, wenn sie mich verliert. (Ich glaube übrigens nicht, daß Amelie meinen Verlust überleben könnte.) All diese Gründe haben mich vom ersten Tage an unsicher und ängstlich gemacht. Es bedurfte daher einer unablässigen Selbstbeherrschung und Vorsicht, mir diese demütigenden Schwächen nicht anmerken zu lassen und immer der spielerisch heitere Mann zu bleiben, der seinen Erfolg mit einem lässigen Achselzucken als selbstverständlich hinnimmt. – Vierundzwanzig Stunden nach unserem rührenden Abschied traf ich in Heidelberg ein. Im Portal des dortigen Prachthotels kehrte ich um. Plötzlich widerte mich der üppige Lebensstil an, in den mich meine Ehe versetzt hatte. Es war wie ein Heimweh nach den Bitternissen und der Bedürftigkeit meiner eigenen Lehrzeit. Und dann: Mir war ja die Aufgabe gestellt worden, das Leben und Treiben der hiesigen Studenten zu studieren. Ich mietete mich also in einer engen billigen Studentenpension ein. Schon bei der ersten Mahlzeit am gemeinsamen Tisch sah ich Vera. Ich sah Vera Wormser wieder. Für alles, was ich nunmehr vorbringen will, hoher Gerichtshof, muß ich um ganz besondere Nachsicht bitten. Es ist nämlich so, daß ich mich an die unter Anklage stehenden Vorgänge nicht eigentlich erinnern kann, obwohl sie mir natürlich als meine eigenen anrüchigen Erlebnisse durchaus bekannt sind. Ich weiß von ihnen ungefähr so, wie man etwas weiß, das man vor langer Zeit ir-
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gendwo gelesen hat. Man kann’s notdürftig nacherzählen. Es lebt aber nicht im Innern wie die eigene Vergangenheit. Es ist abstrakt und leer. Eine peinliche Leere, vor der jeder Versuch eines gefühlshaften Wiedererlebens zurückscheut. Da ist vor allem meine Geliebte selbst, Fräulein Vera Wormser, Studentin der Philosophie, zu jener Zeit. Ich weiß, daß sie bei unsrer Wiederbegegnung in Heidelberg zweiundzwanzig Jahre alt war, neun Jahre jünger als ich, drei Jahre älter als Amelie. Ich weiß, daß ich niemals eine feinere zierlichere Erscheinung gekannt habe als Fräulein Wormser. Amelie ist sehr groß und schlank. Sie muß aber um diese Schlankheit unaufhörlich kämpfen, denn von Natur neigt ihre fürstliche Gestalt eher zur Fülle. Ohne daß je eine Bemerkung darüber gefallen wäre, hat es der Instinkt Amelies genau erfaßt, daß mich alles Pompös-Weibliche kalt läßt und daß ich eine unüberwindliche Zuneigung für kindhafte, ätherische, durchsichtige, rührend-zarte, gebrechliche Frauenbilder empfinde, insbesondere dann, wenn sie mit einem besonnenen und unerschrockenen Geiste gepaart sind. Amelie ist dunkelblond, Vera hat nachtschwarze Haare, in der Mitte gescheitelt, und im ergreifenden Gegensatz dazu, tiefblaue Augen. Ich berichte das, weil ich es weiß, nicht aber, weil ich es vor mir sehe. Ich sehe Fräulein Wormser, die meine Geliebte war, nicht mit meinem inneren Auge. So trägt man das Bewußtsein einer Melodie in sich, ohne sie wiedergeben zu können. Schon seit Jahren kann ich mir die Vera von Heidelberg nicht vorstellen. Immer wieder drängte sich eine andere dazwischen. Die vierzehn- oder fünfzehnjährige Vera, wie ich sie als bettelarmer Student zum erstenmal erblickt habe. Die Familie Wormser hatte hier in Wien gelebt. Der Vater war ein vielbeschäftigter Arzt, ein kleiner feingliedriger Mann mit einem schwarzgrauen Bärtchen, der wenig sprach, hingegen selbst bei Tische unversehens eine medizinische Zeitschrift oder Broschüre hervorzuholen pflegte, in die er sich versenkte, ohne die anderen zu beachten. Ich lernte in ihm den „intellektuellen Israeliten“ par excellence kennen, mit seiner Vergötterung des bedruckten Papiers, mit seinem tiefen Glauben an die voraussetzungslose Wissenschaft, der bei diesen Leuten die natürlichen Instinkte und Gelassenheiten ersetzt. Wie imponierte mir damals jene ungeduldige Strenge, die keine anerkannte Wahrheit unwidersprochen hinnimmt. Ich fühlte mich nichtig und wirr vor dieser zergliedernden Schärfe. Er war Witwer schon die längste Zeit, und auf der schwermütigen Grundierung seiner Züge lag unauslöschbar ein spöttisches Lächeln. Die Wirtschaft führte eine ältere Dame, die zugleich das Amt einer Ordinations-Schwester versah. Doktor Wormser, sagte man, war ein Arzt, der so manche Leuchte der Fakultät an Wissen und diagnostischer Treffsicherheit übertraf. Ich war in dieses Haus empfohlen worden, um den siebzehnjährigen Jacques, Veras Bruder, zum Examen vorzubereiten. Jacques hatte durch eine
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langwierige Krankheit mehrere Monate des Schuljahres versäumt, und nun mußten die Lücken in aller Eile ausgefüllt werden. Er war ein blasser schläfriger Junge, verschlossen gegen mich bis zur Feindseligkeit, und hat mich durch seine Zerstreutheit und seinen inneren Widerstand (heute weiß ich den Grund) oft bis aufs Blut gepeinigt. Er ist dann in den ersten Kriegswochen als Freiwilliger gefallen. Bei Rawa Ruska. Wie froh aber war ich in jener härtesten Periode meines Lebens, eine fixe Hauslehrerstelle für längere Zeit gefunden zu haben. Vor mir lag keine Zukunft. Daß mir schon ein Semester später der Sprung aus meiner dumpfen Unterwelt in eine lichte Oberwelt gelingen werde, das hätte auch eine robustere Natur nicht für erträumbar gehalten. Ich glaubte schon, das große Los gezogen zu haben, weil man mich im Hause Wormser, ohne daß es ausbedungen war, täglich beim Mittagessen dabehielt. Der Doktor kam gewöhnlich gegen ein Uhr heim. Jacques und ich saßen da noch immer über den Lehrbüchern. Er rief uns beide zu Tisch, wobei er meines unseligen Vornamens wegen oft die berühmte Grabschrift des antiken Leonidas und seiner Helden parodierte: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest hier uns schmausen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ Ein mäßiger Witz, der mich aber immer wieder sonderbar beschämte und kränkte. Das Mittagsmahl bei Wormser wurde für mich ein Gewohnheitsrecht. Vera kam fast immer zu spät. Auch sie war Gymnasiastin wie ihr Bruder. Ihre Schule aber lag in einem entfernten Bezirk. Sie hatte einen langen Heimweg. Das Haar trug sie damals noch lang. Es fiel ihr auf die schwächlichen Schultern. Ihr Gesichtchen, wie aus Mondstein geschnitten, wurde beherrscht von den großen, langbeschatteten Augen, deren irritierendes Blau sich unter die schwarzen Brauen und Wimpern aus einer kühlen Fremde verirrt zu haben schien. Nur selten traf mich ihr Blick, der hochmütigste, ablehnendste Mädchenblick, den ich je zu erdulden hatte. Ich war der Hauslehrer ihres Bruders, ein kleiner Student, käsig, mit Pickeln im Gesicht und stets entzündeten Augen, die bedeutungslose Nichtigkeit und Unsicherheit in Person. Ich übertreibe nicht. Bis zu jenem unglaubwürdigen Wendepunkt meines Lebens war ich ohne Zweifel ein unschöner linkischer Bursche, der sich von jedermann verachtet und von jederfrau verlacht fühlte. Ich hatte gewissermaßen das äußerste „Tief“ meines Daseins erreicht. Niemand hätte einen Groschen für die Laufbahn dieses schäbigen Studenten gegeben. Auch ich nicht. Mein ganzes Selbstvertrauen war erschöpft. Wie sollte ich gerade in diesen unseligen Monaten ahnen, daß ich mich selbst bald werde grenzenlos in Erstaunen setzen? (Alles kam dann
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wie ohne mein Zutun.) Ich war mit dreiundzwanzig Jahren in meinem Elend eine noch nicht voll entwickelte Lemure. Vera aber, ein Kind, schien weit über ihre Jahre hinaus reif und gefestigt zu sein. Immer, wenn mich bei Tisch ihre Augen streiften, erstarrte ich unter dem arktischen Kältegrad ihrer Gleichgültigkeit. Dann hatte ich den Wunsch, mich in Nichts aufzulösen, damit Vera den unappetitlichsten und unsympathischsten Menschen der Welt nicht länger vor den schönen Augen haben müsse. Neben Geburt und Tod erlebt der Mensch eine dritte katastrophale Stufe auf seinem Erdenweg. Ich möchte sie die „soziale Entbindung“ nennen, ohne mit dieser etwas zu geistreichen Formel ganz einverstanden zu sein. Ich meine den krampfgeschüttelten Übergang von der völligen Geltungslosigkeit des jungen Menschen zu seiner ersten Selbstbestätigung im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Wieviel gehen an dieser Entbindung zugrunde oder nehmen zumindest einen Schaden fürs Leben. Es ist schon eine runde Leistung, fünfzig Jahre alt zu werden, und noch dazu in Ehren und Würden. Mit dreiundzwanzig, ein verspäteter Fall, wünschte ich mir alltäglich den Tod, zumal wenn ich am Familientisch Doktor Wormsers saß. Mit wildem Herzklopfen erwartete ich jedesmal Veras schwebenden Eintritt. Erschien sie in der Tür, so war’s für mich eine fürchterliche Wonne, die mir die Kehle zudrückte. Sie küßte den Vater auf die Stirn, gab dem Bruder einen Klaps und reichte mir geistesabwesend die Hand. Dann und wann richtete sie sogar das Wort an mich. Es handelte sich dabei meist um Fragen, die einen der Gegenstände betrafen, die an diesem Tage in ihrer Schule zur Sprache gekommen waren. Ich versuchte dann mit gieriger Stimme auszupacken und mein Licht leuchten zu lassen. Es gelang mir niemals. Vera wußte nämlich immer so zu fragen, als benötige sie keineswegs den unfehlbaren Wissensborn, als welchen ich mich dünkte, so als sei ich der Geprüfte und sie die Prüfende. Nichts nahm sie auf Treu und Glauben hin. Darin war sie die echte Tochter des Doktors. Schnitt sie meinen eitlen Sermon – ihre Augen sahen über mich hinweg – mit einem unnachsichtigen „Warum ist das so“ plötzlich ab, dann verwirrte mich ihr Wahrheitssinn bis zur Sprachlosigkeit. Ich selbst hatte niemals ‘Warum’ gefragt, sondern an der endgültigen Richtigkeit alles Gelehrten nicht im geringsten gezweifelt. Nicht umsonst war ich der Sohn eines Schulmannes, der das „Memorieren“ des Lehrstoffes für die beste Methode hielt. Manchmal stellte mir Vera auch Fallen. In meinem Eifer ging ich in diese Fallen. Dann lächelte Doktor Wormser müde vor Ironie oder ironisch vor Müdigkeit, wer konnte es bei ihm unterscheiden. Veras Intelligenz, ihr kritischer Sinn, ihre Unbestechlichkeit, wurde nur noch übertroffen von dem unnahbaren Reiz ihrer Erscheinung, der mir immer wieder den Atem verschlug. Hatte ich mir eine Niederlage zugezogen, dann liebte ich das Mädchen nur um so verzweifelter. Ich durchlebte ein paar Wochen der
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gräßlichsten Sentimentalität. Nachts weinte ich mein Kissen naß. Ich, der ich einige Jahre später die umworbenste Schönheit von Wien mein nennen sollte, ich glaubte während jener unseligen Wochen dieses strengen Schulmädchens Vera niemals würdig werden zu dürfen. Volltrunken von Hoffnungslosigkeit war ich. Zwei Wesenszüge der Angebeteten schleuderten mich stets in den Abgrund meines Unwerts: die Reinheit ihres Sinns und eine süße Fremdartigkeit, die mich verzückte bis an die Grenze des Schauders. Mein einziger Sieg war, daß ich mir nichts anmerken ließ. Ich sah Vera kaum an und befleißigte mich bei Tisch einer starr blasierten Miene. Wie es sentimentalen Pechvögeln zu ergehen pflegt, erging es auch mir. Immer wieder unterlief mir oder beging ich eine Ungeschicklichkeit, die mich lächerlich machte. Ich streifte ein venezianisches Glas zu Boden, das Vera besonders liebte. Ich verschüttete Rotwein über das frische Tischtuch. Ich wies aus purer Verlegenheit und blödem Stolz die Speisen zurück und stand, ohne Aussicht auf ein Abendessen, so hungrig auf, wie ich mich hingesetzt hatte; eine sinnlose, aber heldenhafte Entsagung, die auf Vera nicht den mindesten Eindruck machte. Einmal brachte ich – meine Zimmermiete mußte ich deshalb schuldig bleiben – die schönsten langstieligen Rosen mit, hatte aber den Mut nicht, sie Vera zu überreichen, sondern steckte sie gleich im Vorraum hinter einen Schrank, wo sie ruhmlos verkamen. Kurz, ich benahm mich wie der schüchterne Liebhaber des älteren Lustspiels, nur noch verbohrter und vertrackter. Ein andermal, als wir schon beim Dessert saßen, spürte ich, wie meine allzuenge Hose an der bedenklichsten Stelle mitten durchplatzte. Mein ausgewachsener Rock bedeckte diese Stelle nicht. Wie sollte ich mich, heiliger Himmel, nach Tisch unentlarvt an Vera vorbei retten? Mein Selbstbewußtsein hat früher oder später niemals wieder eine solche Hölle erlebt wie in diesen Minuten. Man sieht, hohes Gericht, wie meine Erinnerung flüssig wird, wenn ich sie auf das Haus Wormser und die Zeit meiner ersten und letzten unglücklichen Liebe richte. Ich könnte nichts einwenden gegen die Vermahnung: Bleiben Sie bei der Sache, Angeklagter. Wir sind keine Seelenärzte, sondern Richter. Warum behelligen Sie uns mit den Herzenswallungen eines Jünglings, der sehr verspäteter Weise die Nachwirkungen der Geschlechtsreife noch nicht überwunden hatte? Ihre Schüchternheit haben Sie mittlerweile gründlich abgelegt, das werden Sie zugeben. Als Sie den Frack des Selbstmörders erbten und im Spiegel erkannten, daß er Ihnen gut stand und Sie zu einem wohlaussehenden jungen Mann machte, da waren Sie mit einem Schlage ein anderer, das heißt, Sie waren Sie selbst. Wen also wollen Sie mit jenen langweiligen Geschichten rühren? Sehen Sie etwa in der kindischen Schwärmerei, die Sie vor uns ausbreiten, eine Ausrede für Ihr nachfolgendes Verhalten? – Ich suche keine Ausrede, hoher Gerichtshof. – Es ist festzustellen, daß Sie während Ihres Dienstes
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im Hause Wormser der Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen Ihre Gefühle mit keiner Miene zur Kenntnis brachten. – Mit keiner Miene. – Fahren Sie demnach fort, Angeklagter! Sie hatten sich zu Heidelberg in einer Studentenpension eingemietet, wo Sie Ihrem Opfer wieder begegneten. – Jawohl, ich hatte mich in dieser kleinen Pension eingemietet und begegnete nach vollen sieben Jahren gleich bei der ersten Mahlzeit Vera Wormser. Nachdem Jacques dank meiner Hilfe das Abiturientenexamen bestanden, war die Familie nach Deutschland gezogen. Man hatte Wormser die Leitung eines privaten Krankenhauses in Frankfurt angeboten und er war diesem Rufe gefolgt. Als ich Vera aber wiedersah, lebte weder ihr Vater noch ihr Bruder mehr. Sie stand vollkommen allein im Leben, behauptete jedoch, sich weniger verlassen als frei und selbständig zu fühlen. Der Zufall hatte es gewollt, daß ich am langen Tisch meinen Platz neben dem ihren hatte Ich unterbreche mich, hoher Gerichtshof, weil ich selbst bemerke, daß meine Ausdrucksweise immer stockender und hölzerner wird. Je mehr ich mich sammeln will, desto peinlicher versagt meine Vorstellungsgabe. Ich nähere mich dem Tabu, dem verbotenen Raum meiner Erinnerung. Da ist zum Beispiel gleich jener Streit, der schon bei der ersten Mahlzeit entbrannte. Ich weiß, daß ein Streit um irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand ausbrach, der damals gerade die Mode beschäftigte. Ich weiß auch, daß Vera meine heftigste Gegnerin war. Trotz meines sonst höchst verläßlichen Gedächtnisses aber weiß ich vom Inhalt dieses Streites nichts mehr. Ich nehme an, daß ich gegen Veras zersetzende Kritik die Sache der Konvention vertrat und mir damit den Beifall der Mehrzahl sicherte. Ja, wahrhaftig, diesmal erlitt ich keine Niederlage mehr wie einst an des guten Doktors Familientisch. Ich war einunddreißig Jahre alt, Abgesandter eines Ministeriums, glänzend angezogen, man hatte mich heute schon in Gesellschaft Seiner Magnifizenz, des Herrn Rektors gesehen, ich besaß Geld in Hülle und Fülle, lebte also innerlich und äußerlich im Stande einer großartigen Überlegenheit über all dieses junge Volk, dem auch Vera angehörte. Ich hatte in den letzten Jahren außerordentlich viel gelernt, ich hatte meinen Vorgesetzten die Gebärde des liebenswürdig verbindlichen Rechthabens und Machthabens abgelauscht, die eine weise Besonderheit unsrer altösterreichischen Beamtentradition ist. Ich verstand zu reden. Mehr, ich verstand mit sicherer Gelassenheit so zu reden, daß alle anderen schwiegen. Ich war mit vielen Persönlichkeiten von Rang in nähere Berührung gekommen, deren Ansicht und Meinungen ich zur Unterstützung meiner Ansicht nun leichthin ins Treffen führen durfte. Ich kannte somit nicht nur die Elite, ich war selbst ein Teil von ihr. Vor seiner „sozialen Entbindung“ überschätzt der junge bürgerliche Mensch die Schwierigkeit des Sprunges in die Welt. Ich persönlich
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zum Beispiel verdankte meine erstaunliche Karriere durchaus keinen überragenden Eigenschaften, sondern drei musikalischen Talenten: dem feinen Gehör für die menschlichen Eitelkeiten, meinem Taktgefühl und – dies ist das wichtigste der drei Talente – der schmiegsamsten Nachahmungskunst, deren Wurzel freilich in der Schwäche meines Charakters liegt. Wäre ich sonst, ohne eine Ahnung auch nur vom Wechselschritt zu haben, einer der beliebtesten Walzertänzer in meinen jungen Tagen geworden? Als ein großer Herr trat nun der lächerliche Hauslehrer der ehemals Angebeteten entgegen. Ich glaube zu wissen, daß Vera nach einer anfänglichen Mißbilligung mich immer erstaunter betrachtete, mit immer größeren, immer blaueren Augen. Daß aber meine alte Verliebtheit mit einem Schlag neu erweckt wurde, das glaube ich nicht nur zu wissen, das weiß ich. Das Spiel mit Menschen, mit Mann und Frau, hatte ich inzwischen gelernt. Es war aber nicht nur ein frevelhaftes Spiel, es war ein toller Zwang, Schritt für Schritt, einer Schuld entgegen, die von Anfang an feststand. Ich glaube zu wissen, daß ich mich gut beherrschte, daß ich nichts von meiner Entflammtheit zeigte, nicht aus kläglichem Stolz wie einst, sondern aus genußvoller Zielstrebigkeit. Genau überlegte ich, wie ich mich täglich besser zur Geltung bringen könnte, sowohl in meinem soignierten Äußeren als auch im Geiste. Mehr als durch die wohlbedachten kleinen Aufmerksamkeiten, die ich ihr erwies, gewann ich Vera dadurch, daß ich ihr zu verstehen gab, ich teile im Herzen ihre unbekümmert radikalen Anschauungen, und nur meine hohe Stellung und die Staatsräson zwinge mich zur Einhaltung einer „mittleren Linie“. Ich glaube, sie wurde rot vor Freude, als sie sicher war, mich von den „Lügen der Konvention“ geheilt zu haben. So wartete ich vorsichtig auf den rechten Augenblick. Auf den Augenblick, wo man es gewissermaßen im Gefühl hat. Er kam rascher, als ich zu hoffen wagte. Es war der vierte oder fünfte Tag meines Aufenthaltes, an dem Vera sich mir ergab. Ich sehe ihr Gesicht nicht, aber ich fühle die starre Verwunderung, die sie erfüllte, ehe sie ganz und gar mein wurde. Ich sehe den Ort nicht, wo es geschah. Alles ist schwarz. War es ein Zimmer? Bewegten sich Zweige unterm nächtigen Himmel? Ich sehe nichts, aber das Gefühl des herrlichen Augenblicks trage ich in mir. Das war nicht Amelies herrisch fordernde Heftigkeit. Das war ein erschrockener Starrkrampf zuerst und dann dieses atmende Erschlaffen des weichen Mundes, das träumerische Nachgeben der kindlichen Glieder, die ich in Armen hielt, ein scheues Näherstreben später, ein sanftes Zutrauen, eine Fülle des Glaubens. Niemand konnte so unbedingt, so einfältig glauben, wie diese scharfe Kritikerin. Entgegen Veras freien Reden und oft burschikosem Gehaben, durfte ich in diesem Augenblicke erkennen, daß ich der Erste war. Ich hatte bis zur Stunde nicht geahnt, daß die Jungfräulichkeit, von Herbheit und Schmerz verteidigt, etwas Heiliges ist
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Hier muß ich haltmachen, hoher Gerichtshof. Jeder Schritt weiter verstrickt mich in einen Urwald. Obwohl ich ihn damals bewußt und mit arger Absichtlichkeit durchdrungen habe, so finde ich jetzt den Eingang nicht mehr. Ja, unsere Liebe war eine Art Urwald. Wo bin ich überall mit meiner Geliebten gewesen zu jener Zeit? In wie vielen giebligen Städtchen und Ortschaften des Taunus, des Schwarzwalds, des Rheinlands, in wie vielen Gaststuben, Weinlauben, Wirtsgärtchen und gewölbten Kammern? Ich hab’s verloren. Alles bleibt leer. Doch nicht danach geht die Frage des Gerichts. Man fragt mich: Bekennen Sie sich schuldig? Ich bekenne mich schuldig. Nicht aber liegt meine Schuld in der einfachen Tatsache der Verführung. Ich habe ein Mädchen genommen, das bereit war, genommen zu werden. Meine Schuld war, daß ich sie mala fide so restlos zu meinem Weibe gemacht habe, wie keine andere Frau jemals, auch Amelie nicht. Die sechs unzugänglichen Wochen mit Vera bedeuten die wahre Ehe meines Lebens. Ich habe der großen Zweiflerin jenen ungeheuren Glauben an mich eingepflanzt, nur um ihn zuschanden werden zu lassen. Das ist mein Verbrechen. Entschuldigen Sie, bitte! Ich merke, daß dieses hohe Gericht die großen Worte nicht schätzt. Ich habe gehandelt wie ein „Kavalier mit Strupfen“, wie ein ganz gewöhnlicher Heiratsschwindler. Es begann sehr stilvoll mit der trivialsten aller Gesten. Ich verbarg meinen Ehering. Die erste Lüge zog mit exakter Notwendigkeit die zweite nach und die hundert nächsten. Nun aber kommt erst die Würze meiner Schuld. All jene Lügen und die reine Gläubigkeit der Belogenen verschärften meine Wollust in unvorstellbarer Weise. Ich baute vor Vera mit dem eindringlichsten Eifer unsre gemeinsame Zukunft auf. Ich entwickelte eine fugenlose Gründlichkeit meiner häuslichen Vorsorge, die sie hinriß. Nichts wurde in meinen Plänen vernachlässigt, nicht die Einteilung, die Einrichtung unsrer künftigen Wohnung, nicht die Wahl des Stadtbezirkes, der für uns am vorteilhaftesten gelegen sein mochte, nicht die Wahl der Menschen, die ich für würdig erachtete, mit ihr zu verkehren; die stärksten Geister und unzugänglichsten Frondeure befanden sich darunter, selbstverständlich. Meine Phantasie überbot sich selbst. Da blieb nichts unbedacht. Ich entwarf den täglichen Stundenplan unsres glückstrahlenden Ehelebens bis in die kleinste Kleinigkeit. Vera würde ihr Studium in Heidelberg abbrechen und in Wien an meiner Seite vollenden. In der Stadt Frankfurt gingen wir in die schönsten Geschäfte. Ich begann für unsre Haushaltung Einkäufe zu machen, und zwar, um jene Wollust zu erhöhen, erwarb ich darunter allerlei Gegenstände der Intimität und engsten Lebensnähe. Ich überhäufte sie mit Gaben, um ihren Glauben noch weiter zu erhöhen. Trotz ihrer wilden Proteste kaufte ich so eine ganze Aussteuer zusammen. Das einzige Mal in meinem Leben war ich verschwenderisch. Das Geld ging mir aus. Ich ließ mir eine große Summe telegraphisch nachsenden. Den ganzen Tag wühlte
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ich mit Fanatismus in Damast, Leinen, Seide, Spitzen, in Bergen von florzarten Damenstrümpfen. Welch ein unbeschreiblicher Kitzel für mich, als in Vera das Eis der israelitischen Intelligenz schmolz und das entzückte Weibchen hervortrat, in seiner ganzen holden Fremdartigkeit und mit der bedingungslosen Hingabe an den Mann, die diesem Stamme eignet. Ich sehe sie nicht, hoher Gerichtshof, aber ich fühle, wie wir durch die Straßen gehn, Hand in Hand, die Finger ineinander verschränkt. Oh, diese gebrechlichen kühlen Finger, wie spüre ich sie! Wie fühle ich die Melodie des einverstandenen Schrittes neben mir! Nichts Schöneres habe ich erlebt als dieses Hand in Hand und Schritt bei Schritt. Doch während ich es voll erlebte, genoß ich zugleich mit einem tiefen Schauder den mörderischen Tod, den ich unsrer Gemeinschaft zu bereiten im Begriffe stand. Und dann kam eines Tages der Abschied. Für Vera war’s ein froher Abschied, denn ich sollte sie ja nach kurzer Trennung für immer zu mir nehmen. Ich sehe ihr Gesicht unter meinem Waggonfenster nicht. Es muß mich angelächelt haben aus der Fülle seines ruhigen Glaubens. „Leb wohl, mein Leben“, sagte ich. „Noch vierzehn Tage und ich hole dich ab.“ Als ich aber dann allein in meinem Abteil saß, zusammengesunken nach so vielen Wochen der Spannung, da verfiel ich in eine Art narkotischen Schlafs. Ich schlief stundenlang, unerweckbar, und versäumte es, in einer großen Station den Zug zu wechseln. Nach einer sinnlosen Reise gelangte ich nachts in eine Stadt, die Apolda hieß. Das weiß ich. Vera sehe ich nicht mehr, doch ich sehe deutlich die traurige Bahnhofswirtschaft, wo ich den Morgen erwarten mußte So hätte Leonidas sprechen müssen. So hätte er auch vor jedem Gericht in zusammenhängender Darstellung sprechen können, denn jedes Steinchen dieses Mosaiks war in seinem Bewußtsein vorhanden. Das Gefühl seiner Liebe und Schuld war da, nur die Bilder und Szenen entwichen, wenn er nach ihnen haschte. Und vor allem, die Empfindung eines unerwarteten Prozesses gab ihn nicht frei. Das Wetter aber, diese schreckliche Windstille, als deren innerster Mittelpunkt er durch die Straßen zu gehen meinte, machte jeden Versuch des „Zurechtlegens“ immer wieder zunichte. Immer stumpfer und wohliger empfand er den Griff seiner Gedanken. War’s nicht höchste Zeit, eine Entscheidung zu treffen? Stand das Urteil des hohen Gerichtshofes nicht schon fest, der mit bürokratischer Hartnäckigkeit irgendwo in ihm und außer ihm tagte? „Wiedergutmachung der Schuld an dem Kinde“, so lautete Artikel 1 dieses Urteils. Und strenger noch Artikel 2 „Wiederherstellung der Wahrheit“. Durfte er aber Amelie die Wahrheit sagen? Diese Wahrheit würde seine Ehe zerschlagen für immer. Trotz der verflossenen achtzehn Jahre könnte ein Wesen wie Amelie seinen Betrug und mehr noch, seine lebenslängliche Lüge nicht verzeihen und nicht überwinden. Er hing in diesen Minuten an seiner Frau mehr als
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je. Ihm wurde schwach. Warum hatte er Veras verfluchten Brief nicht zerrissen?! Leonidas hob die Augen. Er ging soeben an der Stirnseite des Hietzinger Parkhotels vorbei, wo Fräulein Doktor Wormser wohnte. Freundlich grüßten die Balkonreihen, an denen sich der wilde Wein mit seinen hundert rötlichen Tönungen dahinrankte. Es mußte ein reizender Aufenthalt hier sein, jetzt im Oktober. Die Fenster gingen auf den Schönbrunner Park hinaus, rechts auf den Tiergarten, links auf das sogenannte „Kavaliersstöckl“ des ehemalig kaiserlichen Schlosses. Vor dem Eingang des Hotels hielt er seinen Schritt an. Es mochte ungefähr zehn Uhr sein. Wahrhaftig keine Stunde, in der ein wohlerzogener Mann einer beinahe fremden Dame seinen Besuch abstatten darf Hinein! Sich anmelden lassen! Ohne lange Überlegung eine Lösung improvisieren! Aus dem Portal trat ein Herr der Direktion, der den Sektionschef ehrfürchtig grüßte. Himmel Herrgott, kann man nirgends mehr vorüberschleichen, ohne ertappt zu werden?
Leonidas floh hinüber in den Schloßpark. Ihm war’s gleichgültig jetzt, daß er sich heute gegen seine sonstige Art verspätete und der Minister schon nach ihm gefragt haben mochte. Endlos schwang sich die Allee zwischen barock geschnittenen Taxusmauern in eine verzeichnete Ferne. Dort irgendwo im dunstig Leeren hing die „Gloriette“, ein baulicher Astralleib, das Gespenst eines triumphierenden Jubeltors, das ohne Zusammenhang mit der entzauberten Erde in den wohlgeordneten Himmel des ancien régime zu führen schien. Es roch nach vielfältiger Abgeblühtheit, nach allem Staub und nach Säuglingswindeln ringsum. Lange Kolonnen von Kinderwagen wurden an Leonidas vorbeigeschoben. Mütter und Bonnen führten die Drei- und Vierjährigen an der Hand, deren plapperndes greinendes Auf und Ab die Luft erfüllte. Leonidas sah, daß in den Kinderwagen ein Säugling dem andern zum Verwechseln glich, mit seinen geballten Fäustchen, den aufgeworfenen Lippen und dem tiefbeschäftigten Kindheitsschlaf.
Nach hundert Schritten fiel er auf eine Bank. In diesem Augenblick arbeitete sich eine Strahlenspur Oktobersonne durch und besprengte den Rasen gegenüber mit einem dünnen Schauer. Vielleicht überschätzte er diese ganze Geschichte. Am Ende war Veras junger Mann gar nicht sein Sohn. Pater semper incertus, so erklärt schon das römische Recht. Die Verifizierung seines Sohnes hing schließlich nicht von Vera allein, sondern auch von ihm ab. Diese Vaterschaft konnte vor jedem Gericht bestritten werden. Leonidas wandte den Blick
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seinem Nachbarn auf der Bank zu. Dieser Nachbar war ein schlafender alter Herr. Es war eigentlich kein alter Herr, sondern nur ein alter Mann. Die räudige Melone und ein vorsintflutlicher hoher Stehkragen deuteten auf eines jener Zeitopfer hin, das bessere Tage gesehen hatte, wie die mitleidslose Phrase lautete. Es konnte aber auch ein seit Jahren stellungsloser Kammerdiener sein. Die knotigen Hände des alten Mannes lagen schwer wie Vorwürfe auf den eingeschrumpften Schenkeln. Noch nie hatte Leonidas einen Schlaf gesehen wie diesen, den sein Nachbar schlief. Der Mund mit den tristen Zahnlücken stand ein wenig offen, aber man merkte die Regung des Atems nicht. Überall liefen in diesem brachen Gesicht die tiefen Runzeln und Falten konzentrisch auf die Augen zu. Es waren Saumpfade, Karrenwege, Zufahrt-Straßen des Lebens, verschüttet insgesamt und zugewachsen in einem verlassenen Land. Nichts bewegte sich dort. Die wie nach innen gestülpten Augen aber bildeten zwei beschattete Sandgruben, in denen alles zu Ende war. Vom Tode unterschied sich dieser Schlaf unvorteilhaft dadurch, daß er noch einen Rest von Krampf und Angst bewahrte und eine schwache Abwehr unbeschreiblich Leonidas sprang auf, ging die Allee zurück. Schon nach wenigen Schritten torkelte und murmelte es hinter ihm: „Herr Baron, ich bitt’ gehorsamst, seit drei Tagen hab ich nichts Warmes im Leib “ „Wie alt sind Sie?“ fragte der Sektionschef den Schläfer, dessen Augen auch im Wachen zwei leere unfruchtbare Gruben zu sein schienen. „Einundfünfzig Jahre, Herr Graf“, klagte der Greis, als verrate er ein bereits ganz und gar unzulässiges Alter, das von Rechts wegen auf Unterstützung nicht mehr zu rechnen hat. Leonidas riß einen größeren Geldschein aus seiner Brieftasche, reichte ihn dem Gestrandeten und blickte sich nicht mehr um. Einundfünfzig Jahre! Er hatte sich nicht verhört. Soeben war er seinem Doppelgänger begegnet, seinem Zwillingsbruder, der andern Möglichkeit seines Lebens, der er nur um Haaresbreite entgangen war. Vor fünfzig Jahren hatte man den greisen Schläfer und ihn, als Säuglinge zum Verwechseln ähnlich, durch eine Parkallee geschoben. Er war aber noch immer der schöne León, geschniegelt und gebügelt, mit seinem blonden Schnurrbärtchen, tadellos gebadet, ein Vorbild männlicher Frische und straffer Wohlgestalt. Auf seinem glatten Gesicht waren die Zufahrt-Straßen des Lebens nicht verschüttet, nicht leer, sondern heiter befahren. Da eilten alle Sorten des Lächelns dahin, der Liebenswürdigkeit, des Spottes, der guten und bösen Laune, die Lüge in allen Ausführungen. Er schlief keinen flüchtigen agonischen Schlaf auf der Parkbank, sondern den gesunden, runden, regelmäßigen Schlaf der Geborgenheit in
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seinem großen französischen Bett. Welche Hand hatte ihn, den Hauslehrer bei Wormsers, diesen Jämmerling mit der geplatzten Hose, dem sicheren Rachen des Untergangs entführt, um den andern Kandidaten hineinzustoßen? Er hielt sein Glück, seinen Aufstieg nicht mehr wie sonst für das persönlich verdienstvolle Zusammenspiel gewisser Talente. Das Gesicht des gleichaltrigen Wracks hatte ihm den Abgrund gezeigt, der ihm nicht minder zugedacht gewesen als jenem und durch dieselbe unergründbare Ungerechtigkeit ihm selbst erspart geblieben war. Ein schwarzes Grauen wandelte Leonidas an. In diesem Grauen aber steckte ein verwischter heller Fleck. Der helle Fleck wuchs. Er wuchs zu einer Erkenntnis, dergleichen den mäßig gläubigen Mann noch nie eine beschlichen hatte: Ein Kind haben, das ist keine geringe Sache. Erst durch ein Kind ist der Mensch unrettbar in die Welt verflochten, in die gnadenlose Kette der Verursachungen und Folgen. Man ist haftbar. Man gibt nicht nur das Leben weiter, sondern den Tod, die Lüge, den Schmerz, die Schuld. Die Schuld vor allem! Ob ich mich zu dem jungen Mann bekenne oder nicht, ich ändre den objektiven Tatbestand nicht. Ich kann mich vor ihm drücken. Aber ich kann ihm nicht entkommen. „Es muß sofort etwas geschehen“, flüsterte Leonidas geistesabwesend, während ihn eine unausdrückbar bestürzende Klarheit erfüllte. Er winkte am Parktor ungeduldig ein Taxi herbei: „Ministerium für Unterricht!“ Während in ihm ein mutiger Entschluß wuchs, starrte er wie blind in den nur wenig erleichterten Tag.
Viertes Kapitel Leonidas wirkt für seinen Sohn Sogleich beim Eintritt in sein Büro erhielt Leonidas die Meldung, daß ihn der Herr Minister zehn Minuten nach elf Uhr im roten Salon erwarte. Der Sektionschef sah den Sekretär, der ihm diese Meldung überbrachte, sinnverloren an und gab keine Antwort. Nach einer kleinen, verwunderlichen Pause legte der junge Beamte mit behutsamem Nachdruck eine Mappe auf den Schreibtisch. Es werde sich bei der anberaumten Sitzung – so meinte er mit gebührender Bescheidenheit – voraussichtlich um die Neubesetzung der vakanten Lehrstühle an den Hochschulen handeln. In dieser Mappe finde der Herr Sektionschef das ganze Material in gewohnter Ordnung. „Ergebensten Dank, mein Lieber“, sagte Leonidas, ohne die Mappe eines Blikkes zu würdigen. Zögernd verschwand der Sekretär. Er hatte erwartet, sein Chef werde wie sonst in seiner Gegenwart das Dossier durchblättern, gewisse Fragen stellen und Notizen machen, um nicht unvorbereitet beim Minister zum Vortrag zu erscheinen. Leonidas aber dachte heute nicht daran. Gleich den anderen höchsten Beamten des Staates hegte der Sektionschef keine besondere Hochachtung für die Herren Minister. Diese wechselten nämlich je nach Maßgabe des politischen Kräftespiels, er aber und seine Kollegen blieben. Die Minister wurden von den Parteien empor- und wieder davongespült, luftschnappende Schwimmer zumeist, die sich verzweifelt an die Planken der Macht klammerten. Sie besaßen keinen rechten Einblick in die Labyrinthe des Geschäftsganges, keinen Feinsinn für die heiligen Spielregeln des bürokratischen Selbstzwecks. Sie waren nur allzuhäufig wohlfeile Simplisten, die nichts andres gelernt hatten, als in Massenversammlungen ihre ordinären Stimmen anzustrengen und durch die Hintertüren der Ämter lästige Interventionen für ihre Parteigenossen und deren Familienanhang auszuüben. Leonidas aber und seinesgleichen hatten das Regieren gelernt wie Musiker den Kontrapunkt lernen in jahrelang unablässiger Übung. Sie besaßen ein nervöses Fingerspitzengefühl für die tausend Nüancen des Verwaltens und Entscheidens. Die Minister spielten (in ihren Augen) nur die Rolle politischer Hampelmänner, mochten sie dem Zeitstil gemäß auch noch so diktatorisch einhertreten. Sie aber, die Ressortchefs, warfen ihren unbeweglichen Schatten über diese Tyrannen. Welches Partei-Spülicht auch die Ämter überschwemmte, sie hielten die Fäden in der Hand. Man brauchte sie. Mit dem preziösen Hochmut von Mandarinen blieben sie bescheiden im Hintergrund. Sie verachteten die Öf-
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fentlichkeit, die Zeitung, die persönliche Reklame jener Tageshelden – und Leonidas noch mehr als alle andern, denn er war reich und unabhängig. Er schob die Mappe weit von sich, sprang auf und begann in seinem großen Arbeitszimmer mit starken Schritten hin- und herzugehen. Welche Kräfte strömten doch von diesem sachlichen Raum auf seine Seele über! Hier war sein Reich, hier und nicht in Amelies luxuriösem Haus. Der mächtige Schreibtisch mit seiner vornehmen Leere, die beiden roten Klubfauteuils mit ihrem verwetzten Leder, das Bücherbord, wo er die griechisch-römischen Klassiker und die philologischen Zeitschriften seines Vaters eingestellt hatte, Gott weiß warum, die Aktenschränke, die hohen Fenster, der Kaminsims mit der vergoldeten Stehuhr aus der Kongreßzeit, an der Wand die völlig nachgedunkelten Bilder irgendwelcher verschollener Erzherzöge und Minister – all diese abgenützten, persönlichkeitslosen Gegenstände aus dem „Hofmobiliendepot“ waren wie Stützen, die seinen wankenden Gefühlen Halt verliehen. Er atmete sich voll mit der schlecht abgestaubten Würde dieses Raums. Sein Entschluß war unwiderruflich gefaßt. Noch heute wollte er seiner Frau die volle Wahrheit bekennen. Ja! Bei Tisch! Am besten während des süßen Gangs oder zum schwarzen Kaffee. Wie ein Politiker, der eine Rede vorbereitet, hörte er sich mit seinem inneren Ohr: – Wenn es dir recht ist, lieber Schatz, so bleiben wir noch einen Augenblick sitzen. Erschrick nicht, ich habe etwas auf dem Herzen, das mich seit vielen Jahren bedrückt. Bis zum heutigen Tage hab ich einfach nicht den Mut gehabt, du kennst mich ja, Amelie, ich ertrage alles, nur keine Katastrophen, keine Gefühlsstürme und Szenen, ich kann’s nicht ertragen, dich leiden zu sehnIch liebe dich heute, wie ich dich immer geliebt hab, und ich habe dich immer geliebt, wie ich dich heute liebe. Unsre Ehe ist das Heiligtum meines Lebens, du weißt, daß ich ungern pathetisch werde. Ich hoffe, daß ich mir in meiner Liebe nur wenig habe zuschulden kommen lassen. Das heißt, diese eine, einzige, sehr große Schuld ist da. Es steht bei dir, mich zu strafen, mich sehr hart zu strafen. Ich bin auf alles gefaßt, liebste Amelie, ich werde mich deinem Urteil bedingungslos beugen, ich werde auch unser, das heißt dein Haus verlassen, wenn du es befiehlst, und mir irgendwo in deiner Nähe eine ganz kleine Wohnung suchen. Aber bedenke doch, ehe du urteilst, ich bitte dich, daß meine Schuld mindestens achtzehn Jahre zurückliegt und daß keine Zelle unsres Körpers, keine Regung unsrer Seele mehr dieselbe ist wie damals. Ich will nichts schönfärben, aber ich weiß es heute, daß ich während unsrer unseligen Trennung dich nicht so sehr betrogen wie unter einem Teufelszwang gehandelt habe. Glaub es mir! Ist unsre so lange glückliche Ehe nicht der lebendige Beweis? Weißt du, daß wir in fünf, sechs Jahren, wenn du es willst, die silberne Hoch-
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zeit feiern werden? Leider Gottes aber hat meine unbegreifliche Verirrung Folgen gehabt. Es ist ein Kind da, das heißt ein junger Mann von siebzehn Jahren. Erst heute habe ich’s erfahren. Ich schwöre dir. Bitte kein unüberlegtes Wort jetzt, Amelie, keine voreiligen zornigen Entscheidungen. Ich gehe jetzt aus dem Zimmer. Ich lasse dich allein. Damit du ruhig nachdenken kannst. Was du auch über mich beschließen wirst, ich werde mich dieses jungen Mannes annehmen müssen. – Das ist nichts! Das ist weichlich und jämmerlich! Ich muß sparsamer reden, kantiger, männlicher, ohne Umschweife und Hinterhalte, nicht so feig, so bettelhaft, so sentimental. Immer wieder kommt bei mir diese alte ekelhafte Sentimentalität an die Oberfläche. Amelie darf keinen Augenblick Glaubens sein, sie könne mich durch Verbannung am härtesten strafen und ich sei in meiner Verwöhntheit, Bequemlichkeit, Verweichlichung rettungslos abhängig von ihrem Gelde. Sie darf sich um Himmels willen nicht einbilden, ich würde mich ohne unser Haus, unsre beiden Wagen, unsre Dienerschaft, unsre zarte Küche, unsre Geselligkeit, unsre Reisen ganz und gar verloren fühlen, obwohl ich mich wahrscheinlich ohne diesen verflucht angenehmen Embarras wirklich verloren fühlen werde. Leonidas suchte eine neue knappe Formulierung für seine Beichte. Wiederum mißlang’s. Als er bei der vierten Fassung hielt, schlug er plötzlich wütend die Faust auf den Tisch. Scheußliche Sucht des Beamten, alles zu motivieren, alles zu unterbauen! Lag nicht das wahre Leben im Unvorhergesehenen, in der Eingebung der Sekunde? Hatte er, auf den Grund verderbt durch Erfolg und Wohlergehen, schon mit fünfzig Jahren verlernt, wahr zu leben? Der Sekretär klopfte. Elf Uhr! Es war Zeit. Leonidas packte mit einem ungnädigen Ruck die Mappe, verließ sein Büro und schritt schallend durch die langen Gänge des alten Palastes und über die prächtige Freitreppe in das Reich des Ministers hinab.
Der rote Salon war ein ziemlich kleiner, muffiger Raum, den der grüne Beratungstisch fast zur Gänze ausfüllte. Hier wurden zumeist die intimeren Sitzungen des Ministeriums abgehalten. Vier Herren waren bereits versammelt. Mit seinem stereotypen Lächeln (begeistert-mokant) begrüßte sie Leonidas. Da war zuvörderst der „Präsidialist“, der Kabinettschef des Hauses, Jaroslav Skutecky, ein Mann Mitte Sechzig, der einzige, der im Rangalter über Leonidas stand. Skutecky erschien mit seinem altertümlichen Gehrock, seinem eisengrauen Spitzbart, seinen roten Händen, seiner harten Aussprache als der reine Gegensatz des Sektionschefs, dieses Mannes nach der Mode. Er setzte soeben, nicht
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ohne eine gewisse Leidenschaftlichkeit, zwei jüngeren Ministerialräten und dem rothaarigen Professor Schummerer auseinander, wie glänzend er in diesem Jahre seinen Sommerurlaub eingerichtet hatte. Mit der ganzen Familie, „leider siebenköpfig“, wie er immer wieder betonte: „Am schönsten See des Landes, ich bitte, am Fuße unsres imposantesten Gebirgsstockes, ich bitte, der Ort wie ein Schmuckkästchen, keine Elegance, aber Saft und Kraft, mit Freibad und Tanzgelegenheit für die liebe Jugend, mit Autobus in jede Richtung, ich bitte, und mit gepflegten Promenaden für Gicht und Angina pectoris. Drei prima Zimmer im Gasthof, kein Luxus, aber Wasser, fließend, kalt und warm, und alles, was man sonst noch braucht. Den Kostenpunkt werden die Herren nicht erraten. Sage und schreibe fünf Schilling pro Kopf. Das Essen, ich bitte, brillant, üppig, mittags à drei Gänge, abends à vier Gänge. Hören Sie: Eine Suppe, eine Vorspeise, Braten mit zwei Gemüsen, eine Nachspeise, Käse, Obst, alles mit Butter oder bestem Fett zubereitet, auf mein Wort, ich übertreibe nicht “ Dieser Hymnus wurde dann und wann durch die zustimmend grunzende Bewunderung der Hörer unterbrochen, wobei sich ein jüngeres schwammiges Gesicht mit einer Stupsnase rühmlich hervortat. Leonidas aber trat ans Fenster und starrte auf das ernste vergeisterte Gemäuer der gotischen Minoritenkirche, die dem Palais des Ministeriums gegenüber lag. Dank Amelie, dank seiner Kinderlosigkeit, hatte er es nicht notwendig gehabt, in der grenzenlosen Banalität des kleinbürgerlichen Lebens zu versinken wie dieser alte Skutecky und all die anderen Kollegen, die ihre bevorzugte Stellung durch äußerst magere Bezüge abbüßten. (Der Beamte hat nichts, das aber hat er sicher, sagt der Wiener Komödiendichter.) Leonidas berührte mit der Stirn das kalte Fensterglas. An die linke Flanke der geduckten Kirche schmiegte sich ein zausiges Vorgärtlein, aus dessen Rasen ein paar ziemlich verhungerte Akazienbäume emporwuchsen. Die regungslosen Blätter schienen der Natur aus Wachs täuschend nachgebildet zu sein. Der schöne Platz glich heute dem dumpfen Lichtschacht einer Mietskaserne. Den Himmel sah man nicht. Es wurde immer dunkler im Zimmer. Leonidas war so tief in der Leere seiner Verstörtheit versunken, daß er das Erscheinen des Ministers gar nicht bemerkt hatte. Ihn weckte erst die hohe, ein wenig belegte Stimme dieses Vinzenz Spittelberger: „Grüß Gott die Herren alle miteinand’, Servus, Servus “ Der Minister war ein kleiner Mann in einem verdrückten und zerknitterten Anzug, der den Verdacht erregte, sein Träger habe mehrere Nächte in ihm schlafend zugebracht. Alles an diesem Spittelberger war grau und wirkte sonderbar ausgewaschen. Die Haare, die in Bürstenform in die Höhe standen, die
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schlecht rasierten Backen, die stark vorgewölbten Lippen, die Augen, die exzentrisch schielten – man nannte das hierzulande „himmeln“ –, ja selbst der Spitzbauch, der unvermittelt und unbegründet unter dem bescheidenen Brustkasten vorsprang. Der Mann stammte aus einem der Alpenländer, nannte sich selbst in jedem zweiten Satz einen Bauern, war’s aber keineswegs, sondern hatte sein ganzes Leben in großen Städten zugebracht, zwanzig Jahre davon in der Hauptstadt, als Lehrer und zuletzt Direktor einer Fortbildungsschule. Spittelberger machte den Eindruck eines tagblinden Tieres. Der altmodischeigensinnige Klemmer vor seinen himmelnden Augen schien diesen nicht zum Sehen zu verhelfen. Sogleich, nachdem er den Präsidentensitz an dem Beratungstisch eingenommen hatte, sank sein großer Kopf voll gleichgültigen Lauschens gegen die rechte Schulter. Die Beamten wußten, daß der Minister in den letzten Tagen eine Reihe von politischen Versammlungen im ganzen Lande abgehalten hatte und erst am frühen Morgen mit dem Nachtzug aus einer entfernten Provinz angekommen war. Spittelbergers Natur stand im Rufe einer stets schlafbedürftigen Unverwüstlichkeit: „Ich habe die Herren hierher gebeten“, begann er mit heiserer Eiligkeit, „weil ich beim morgigen Ministerrat die Sache mit den Berufungen gern unter Dach und Fach bringen möchte. Die Herren kennen mich. Ich bin expeditiv. Also, lieber Skutecky, wenn ich bitten darf “ Er lud mit einer halben, fast wegwerfenden Geste die Beamten zum Sitzen ein, zog aber den Professor Schummerer auf den Platz zu seiner Rechten. Der Rothaarige spielte die Rolle eines Vertrauensmannes der Universität beim Ministerium und galt überdies als besonderer Günstling Spittelbergers, dieser „politischen Sphinx“, wie einige den Minister bezeichneten. Zum Ärger des Sektionschefs Leonidas tauchte Schummerer stets gegen Mittag im Hause auf, trieb sich schlurfenden Ganges in den verschiedenen Büros umher, hielt die Arbeit auf, indem er den akademischen Klatsch hinterbrachte und im Austausch dafür den politischen Klatsch einhandelte. Er war Prähistoriker von Fach. Seine Geschichtswissenschaft begann genau dort, wo das geschichtliche Wissen zu Ende ist. Sein Forschergeist fischte gewissermaßen im Trüben. Schummereres Neugier aber galt nicht nur der vergangenen, sondern nicht minder der gegenwärtigen Steinzeit. Er besaß das feinste Ohr für das verschlungene Hin und Her der Beziehungen, Einflüsse, Sympathien und Intrigen. Wie an einem Barometer konnte man an seinem Gesicht die Schwankungen des politischen Wetters ablesen. Auf welche Seite er sich neigte, dort war zuversichtlich die Macht von morgen „Der Herr Sektionschef wird die Güte haben “ sagte der alte Skutecky mit harter Aussprache und blickte verlangend auf die Mappe, die vor Leonidas lag.
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„Ach so“, räusperte sich dieser, öffnete die Mappe und begann mit seiner in fünfundzwanzig Jahren erworbenen technischen Gewandtheit den Vortrag. Sechs Lehrstühle mußten an den verschiedenen Hochschulen des Landes neu besetzt werden. In der Reihenfolge und nach den Angaben der vor ihm liegenden Aufzeichnungen berichtete der Sektionschef über die einzelnen Gelehrten, die in Vorschlag gebracht worden waren. Er tat dies mit einem völlig gespaltenen Bewußtsein. Seine Stimme ging wunderlich neben ihm einher. Tiefes Schweigen herrschte. Keiner der Herren erhob einen Einwand gegen die Kandidaten. Jedesmal, wenn ein Fall erledigt war, reichte Leonidas das betreffende Blatt dem jungen Beamten mit dem schwammigen Gesicht, der dienstfertig hinter dem Minister stand und es behutsam in dessen großer Aktentasche versorgte. Vinzenz Spittelberger selbst jedoch hatte seinen Klemmer auf den Tisch gelegt und schlief. Er sammelte Schlaf, wo und wie er nur konnte, besser, er hamsterte Schlaf. Hier ein halbes Stündchen, dort zehn Minuten, zusammen ergab’s doch eine hübsche Summe, die man ohne wesentlichen Fehlbetrag der Nacht entziehen konnte. Die Nacht aber brauchte man für Freunde, für den Dienst an diesem oder jenem Stammtisch, für Aufarbeitung von Rückständen, für Reisen und vor allem für die große Wollust der Verschwörungen. In der geselligen Nacht keimt das am Tage Gepflanzte, der zarte Schößling der Intrige. Auch ein Politiker in Amt und Würden kann daher auf die Nacht nicht verzichten, die ein zigeunerhaftes, aber produktives Element ist. Heute spielt man noch den Fachminister. Morgen aber wird man vielleicht die ganze Macht im Staate an sich reißen, wenn man die Zeichen der Zeit richtig verstanden, erkannt und sich nach keiner Seite hin unvorsichtig gebunden hat. Spittelberger schlief einen eigenartigen Schlaf, der wie ein Vorhang voll von Löchern und Rissen war, ohne darum weniger zu erquicken. Dahinter lauerte der Schläfer, jeden Augenblick auf dem Sprung, hervorzufahren und zuzupacken. Zwanzig Minuten hatte Leonidas bereits gesprochen, indem er die Lebensläufe, die Taten und Werke der zu berufenden Professoren verlas und aus den vorliegenden Berichten eine Charakteristik ihres politischen und bürgerlichen Wohlverhaltens zusammenstellte. Seine Stimme huschte angenehm, leise und flüchtig dahin. Niemand merkte, daß sie gleichsam auf eigene Rechnung und Gefahr handelte und sich vom Geiste des Sprechers getrennt hatte. Soeben wanderte das Vormerkblatt des fünften Weisen in die Hand des Schwammigen. Es war so finster geworden, daß jemand die Deckenbeleuchtung einschaltete. „Ich komme nun zu unserer medizinischen Fakultät“, sagte die angenehme Stimme und machte eine bedeutsame Pause. „Der Ordinarius für Innere Medizin, Herr Minister“, mahnte jetzt Skutecky, mit einem leicht erhobenen, fast
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frommen Ton, als befinde man sich in einer Kirche. Diese Form des Weckens wäre aber durchaus nicht nötig gewesen, denn Spittelberger hatte seine verwaschenen Augen längst aufgeschlagen und himmelte ohne eine Spur von Verwirrung oder Schlaftrunkenheit im Kreise umher. Dieser Schlafkünstler hätte ohne Zweifel die Namen und Eigenschaften der fünf bisher verhandelten Kandidaten fehlerlos aufzählen können, besser jedenfalls als Leonidas. „Die Medizin“, lachte er, „da muß man aufpassen. Die interessiert das Volk. Sie ist der Übergang von der Wissenschaft zur Wahrsagerei. Ich bin nur ein einfacher Mensch, ein harmloser Bauer, wie die Herren ja wissen, darum geh ich lieber gleich zum Dürrkräutler, zum Wunderdoktor oder zum Bader, wenn mir etwas fehlt. Es fehlt mir aber nichts “ Schummerer, der Prähistoriker, kicherte mit gefälliger Übertriebenheit. Er wußte, wie sehr Vinzenz Spittelberger auf dergleichen Humor eingebildet war. Auch Skutecky, vom untergebenen Schmunzeln der jüngeren Herren unterstützt, erging sich in einem: „Glänzend das “ Und er fügte schnell hinzu: „Da werden Herr Minister also auf den Vorschlag Professor Lichtl zurückgreifen “ Einmal im Schuß seiner anerkannten Witzigkeit, grinste Spittelberger und sog hörbar den Speichel ein: „Habt ihr kein größeres Kirchenlichtl auf Lager als diesen Lichtl? Wenn ich ihn brauchen kann, werd’ ich den Teufel zum Ordinarius für Innere Medizin machen “ Leonidas starrte inzwischen teilnahmslos auf die wenigen Blätter, die noch vor ihm lagen. Er las den Namen des berühmten Herzspezialisten: Professor Alexander Bloch. Seine eigene Hand hatte über diesen Namen mit Rotstift das Wort „Unmöglich“ geschrieben. Die Luft war dick von Zigarettenrauch und Dämmerung. Man konnte kaum atmen. „Die Fakultät und der akademische Senat haben sich voll und ganz für Lichtl ausgesprochen“, bekräftigte Schummerer Skuteckys Anregung und nickte siegesgewiß. Da aber erhob sich die Stimme des Sektionschefs Leonidas und sagte: „Unmöglich.“ Alles blickte jäh auf. Spittelbergers von Natur übernächtigtes Gesicht blinzelte gespannt. „Wie bitte?“ fragte hart der alte Präsidialist, der seinen Kollegen mißverstanden zu haben glaubte, hatte er doch gestern erst mit ihm über diesen heiklen Fall gesprochen und daß es in heutiger Zeit nicht angehe, dem Professor Alexander Bloch, möge er auch die größte Kapazität sein, einen so wichtigen Lehrstuhl anzuvertrauen. Der Kollege war vollinhaltlich derselben Ansicht
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gewesen und hatte überdies aus seiner Abneigung gegen Professor Bloch samt dessen wohlbekanntem Anhang keinen Hehl gemacht. Und jetzt? Die Herren waren verwundert, ja bestürzt über dieses auffallend dramatische „Unmöglich“, Leonidas nicht zuletzt. Während seine Stimme nun den Einwurf gelassen begründete, erkannte die andere Person in ihm, beinahe amüsiert: Ich bin mir gänzlich untreu geworden und beginne hiermit bereits für meinen Sohn zu wirken „Ich will dem Professor Lichtl nicht nahetreten“, sagte er laut, „er mag ein guter Arzt und Lehrer sein, er war bisher nur in der Provinz tätig, seine Publikationen sind nicht sehr zahlreich, man weiß nicht viel von ihm. Professor Bloch aber ist weltberühmt, Nobelpreisträger für Medizin, Ehrendoktor von acht europäischen und amerikanischen Universitäten. Er ist ein Arzt der Könige und Staatsoberhäupter. Erst vor einigen Wochen hat man ihn nach London in den Buckingham-Palast zum Konsilium berufen. Er zieht alljährlich die reichsten Patienten nach Wien, argentinische Nabobs und indische Maharadschas. Ein kleines Land wie das unsrige kann es sich nicht leisten, eine solche Größe zu übergehen und zu kränken. Durch diese Kränkung würden wir außerdem noch die öffentliche Meinung des ganzen Westens gegen uns aufbringen “ Ein Schatten von Spott flog über den Mund des Sprechers. Er dachte daran, daß er jüngst bei einem glänzenden Gesellschaftsabend über den „Fall Bloch“ befragt worden war. Dieselben von ihm soeben gebrauchten Argumente hatte er bei dieser Gelegenheit auf das entschiedenste abgewehrt. Derartige internationale Erfolge wie bei Bloch und Konsorten seien nicht auf wirklichen Werten und Leistungen gegründet, sondern auf der wechselseitigen Förderung der Israeliten in der Welt, auf der ihr hörigen Presse und auf dem bekannten Schneeballsystem unerschrockener Reklame. Dies waren nicht nur seine Worte gewesen, ausdrücklich, sondern auch seine Überzeugung. Der Prähistoriker wischte sich betreten die Stirn: „Schön und gut, verehrter Herr SektionschefLeider aber ist das Privatleben dieses Herrn nicht einwandfrei. Die Herren wissen, ein enragierter Spieler, Nacht für Nacht, Poker und Baccarat. Es geht dabei um die größten Summen. Darüber besitzen wir einen geheimen Polizeibericht. Und Honorare versteht dieser Herr einzukassieren, Prost Mahlzeit, das ist bekannt. Zweihundert bis tausend Schilling, eine einzige Untersuchung. Ein Herz hat er nur für Glaubensgenossen, das versteht sich, die behandelt er gratis, besonders dann, wenn sie noch im Kaftan in die Ordination kommen Ich glaube meinerseits, ein kleines Land wie das unsre kann es sich nicht leisten, einen Abraham Bloch “
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Hier nahm der alte Skutecky dem allzu eifernden Vorgeschichtler das Wort ab. Er tat es mit einem nachsichtigen und völlig objektiven Tonfall: „Ich bitte zu bedenken, daß Professor Alexander Bloch schon siebenundsechzig Jahre alt ist und daß er somit nur mehr zwei Jahre Lehrtätigkeit vor sich hat, wenn man das Ehrenjahr nicht einrechnet.“ Leonidas, unhaltbar auf der schiefen Ebene, konnte es nicht unterlassen, ein Scherzwort zu zitieren, das in gewissen Kreisen der Stadt im Schwange war: „Jawohl, meine Herren! Früher war er zu jung für ein Ordinariat. Jetzt ist er zu alt. Und zwischendurch hatte er das Pech, Abraham Bloch zu heißen “ Niemand lachte. Die gerunzelten Mienen von Rätsellösern betrachteten streng den Abtrünnigen. Was war hier vorgegangen? Welche dunklen Einflüsse mischten sich ins Spiel? Natürlich! Der Mann einer Paradini! Mit soviel Geld und Beziehungen gesegnet, darf man sichs herausnehmen, gegen den Strom zu schwimmen. Die Paradinis gehörten zur internationalen Gesellschaft. Aha, daher weht der Wind! Dieser Abraham Bloch setzt wahrhaftig Himmel und Hölle in Bewegung, und dazu vermutlich noch das englische Königshaus. Machenschaften der Freimaurerei und des goldenen Weltklüngels, während unsereins nicht weiß, wo das Geld für einen neuen Anzug hernehmen Der rothaarige Zwischenträger schneuzte hierauf seine poröse Nase und betrachtete nachdenklich das Resultat: „Unser großer Nachbar“, meinte er schwermütig und drohend zugleich, „hat die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert. Wenn ein Bloch bei uns eine Lehrkanzel erhält, und gar die für Innere Medizin, dann ist das eine Demonstration, ein Faustschlag ins Gesicht des Reiches, das gebe ich dem Herrn Minister zu bedenkenUnd wir wollen doch, um unsre Unabhängigkeit zu verteidigen, diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen, nicht wahr “ Das Gleichnis von dem Winde, den man dem künftigen Steuermann aus den Segeln nehmen wollte, war recht beliebt in diesen Tagen. Jemand sagte: „Sehr richtig!“ Der schwammige Subalterne hinter dem Stuhl des Ministers hatte sich zu diesem Zwischenruf hinreißen lassen. Leonidas faßte ihn scharf ins Auge. Der Beamte gehörte einer Abteilung an, mit welcher der Sektionschef nur selten in Berührung kam. Der unberechenbare Spittelberger aber hatte ihn unter seine Günstlingschaft aufgenommen, weshalb er auch der gegenwärtigen Beratung zugezogen worden war. Der wasserhelle Blick des Feisten strahlte solch einen Haß aus, daß Leonidas ihm kaum standhalten konnte. Der bloße Name „Abraham Bloch“ hatte genügt, dieses phlegmatisch breite Gesicht mit
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Zornesröte zu entflammen. Aus welchen Quellen sammelte sich dieser überschwengliche Haß? Und warum wandte er sich mit dieser frechen Offenheit gegen ihn, den erprobtesten Mann in diesem Hause, der auf fündundzwanzig ehrenvolle Dienstjahre zurückblicken durfte? Er persönlich hatte doch niemals die geringste Vorliebe für Typen wie Professor Bloch gezeigt. Ganz im Gegenteil! Er hatte sie gemieden, wenn nicht streng abgelehnt. Nun aber sah er sich auf einmal – es ging nicht mit rechten Dingen zu – in diese verdächtige Gemeinschaft verstrickt. Das alles hatte er dem diabolischen Brief Vera Wormsers zu verdanken. Die sicheren Grundlagen seiner Existenz schienen umgestürzt. Er fand sich gezwungen, die Kandidatur eines medizinischen Modegötzen gegen seine Überzeugung zu vertreten. Und jetzt mußte er zu allem noch die unverfrorenen Bemerkungen und die schamlosen Blicke dieses breiigen Laffen hinnehmen, als wäre er nicht nur Blochs Verteidiger, sondern schon Bloch selbst. So schnell war das gegangen. Leonidas senkte als erster die Augen vor diesem Feinde, der ihm urplötzlich erstanden war. Da erst fühlte er, daß ihn Spittelberger hinter seinem schiefen Klemmer höchst aufmerksam anstarrte: „Sie haben Ihren Standpunkt auffällig geändert, Herr Sektionschef “ „Ja, Herr Minister, ich habe meinen Standpunkt in dieser Frage geändert “ „In der Politik, lieber Freund, ist es manchmal ganz gut, wenn man Ärger erregt. Es kommt nur darauf an, wen man ärgert “ „Ich habe nicht die Ehre, ein Politiker zu sein, Herr Minister. Ich diene nach bestem Gewissen dem Staate “ Eine frostige Pause. Skutecky und die andern Beamten verkrochen sich in ihr Inneres. Spittelberger aber schien den pikierten Satz durchaus nicht krumm zu nehmen. Er zeigte seine schlechten Zähne und erklärte gutmütig: „No, no, ich habe das nur als einfacher Mensch gesagt, als ein alter Bauer “ Keinen Menschen gab’s auf der weiten Welt – wie spürte es Leonidas jetzt –, der weniger einfach, der verzwickter und vertrackter gewesen wäre als dieser ‘alte Bauer’. Fühlbar rasten hinter der lautlosen Stirn des borstigen Dickschädels in vielen übereinandergebauten Stockwerken die Hochbahn- und Untergrundbahnzüge seiner unermüdlichen Zielstrebigkeit. Spittelbergers elektrischer Opportunismus stand wie ein Wolkengebilde im Raum, quälender jetzt als Schummerers und des Schwammigen Feindseligkeit. Die letzte atembare Luft ging aus.
Leonidas wirkt für seinen Sohn
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„Herr Minister gestatten“, schnappte Leonidas und riß ein Fenster auf. In demselben Augenblick brach der Platzregen los. Eine schraffierte Wassermauer verbaute die Welt. Man sah die Minoritenkirche nicht mehr. Der Lärm einer Kavallerieattacke knatterte über Dächer und Pflaster. Inmitten des Riesengebäudes aus Regen vergrollte ein Donner, dem kein Blitz vorgegangen war. „Das war höchste Zeit“, sagte Skutecky mit harter Aussprache. Spittelberger hatte sich erhoben und kam, die linke Schulter hochgezogen, beide Hände in den Taschen der zerknitterten Hose, schleppenden Ganges auf Leonidas zu. Jetzt glich er wirklich einem Bauern, der beim Wochenmarkt seine Kuh über den Preis loszuschlagen trachtet: „Wie wär’s, Herr Sektionschef, wenn wir diesem Bloch das große goldne Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft verleihen lassen und den Titel eines Hofrates dazu “ Dieser Vorschlag bewies, daß der Minister seinen Sektionschef nicht für einen bürokratischen Handlanger hielt wie den braven Jaroslav Skutecky, sondern für eine einflußreiche Persönlichkeit, hinter der sich undurchsichtige Mächte verbargen, die nicht verletzt werden durften. Die Lösung des Problems war Spittelbergers würdig. Eine Lehrkanzel und Kritik, sie bedeuten eine reale Machtstellung und sollen daher der bodenständigen Wissenschaft nicht entzogen werden. Ein hoher Orden aber, der nur äußerst selten verliehen wird, stellt eine Ehrung von solchem Rang dar, daß die Parteigänger der Gegenseite nicht mehr den Mund öffnen können. Beiden Teilen ist somit gedient. „Was meinen Sie zu diesem Ausweg?“ lockte Spittelberger. „Ich halte diesen Ausweg für unstatthaft, Herr Minister“, sagte Leonidas. Vinzenz Spittelberger, die Sphinx, spreizte die stämmigen Beine und senkte seinen grauen Borstenschädel wie ein Ziegenbock. Leonidas sah auf den kahlen Fleck am Scheitel hinab und hörte, wie der Politiker Speichel einschlürfte, ehe er gelassen betonte: „Sie wissen, ich bin sehr expeditiv, lieber Freund “ „Ich kann Herrn Minister nicht hindern, einen Fehler zu begehen“, sagte Leonidas knapp, während ihn das berauschende Bewußtsein eines unbekannten Mutes durchströmte. Worum ging es? Um Alexander (Abraham) Bloch? Lächerlich! Dieser unglückliche Bloch war nur ein auswechselbarer Anlaß. Leonidas aber wähnte, jetzt stark genug zu sein für die Wahrheit und für die Erneuerung seines Lebens.
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Minister Spittelbeger hatte den roten Salon, gefolgt von Skutecky und den Ministerialräten, bereits verlassen. Unvermindert prasselte der Regen fort.
Fünftes Kapitel Eine Beichte, doch nicht die richtige Als Leonidas nach Hause kam, regnete der Regen noch immer in beständigen, wenngleich schon müderen Strichen. Der Diener meldete, daß die gnädige Frau von ihrer Ausfahrt noch nicht heimgekehrt sei. Es geschah höchst selten, daß Leonidas, mittags vom Amte kommend, auf Amelie warten mußte. Während er seinen triefenden Mantel auf den Bügel hängte, zitterte in ihm noch immer die Betroffenheit über sein heutiges Verhalten nach. Er war dem Minister gegenüber zum erstenmal im Leben aus dem Takt des Beamtentums gefallen. Es war nicht Sache dieses Beamtentums, mit offenem Visier zu kämpfen. Man benutzte gelenkig die Strömung der Welt, von der man sich mit Umsicht treiben ließ, um die unerwünschten Klippen zu vermeiden und die erwünschten Halteplätze anzustreben. Er aber war dieser verfeinerten Kunst untreu geworden und hatte den Fall Alexander (Abraham) Bloch brutalisiert und ihn zu einer Krise, zu einer Kabinettsfrage emporgestritten. (Ein Fall übrigens, der ihm zum Gähnen langweilig war.) Wenn er jedoch schon durch Veras und des Sohnes geheimen Einfluß in diesen Kampf geglitten war, so hätte er ihn nach altem Brauch mit der „negativen Methode“ führen sollen. Anstatt für Professor Bloch hätte er gegen Professor Lichtl sein müssen, und zwar durchaus nicht mit den wirklichen Argumenten, sondern mit rein formalen Einwendungen. Skutecky hatte sich wieder einmal als Meister seines Faches erwiesen, indem er gegen Bloch nicht etwa den nackten antisemitischen Grund ins Treffen führte, sondern den objektiven und gerechten Grund seines vorgerückten Alters. In ähnlicher Art hätte er den Beweis konstruieren müssen, daß Lichtls Kandidatur nicht allen sachlichen Forderungen entspreche. Sollte morgen der Ministerrat die Berufung dieses Lückenbüßers beschließen, so hatte er, der Sektionschef, sich eine schwere Niederlage auf seinem eigensten Gebiete zugezogen. Nun war’s zu spät. Sein Benehmen heute, die Niederlage morgen, die würden ihn unweigerlich zwingen, demnächst in den Ruhestand zu treten. Er dachte an den Haßblick des Schwammigen. Es war der Haßblick einer neuen Generation, die ihre fanatische Entscheidung getroffen hatte und „Unsichere“ wie ihn erbarmungslos auszurotten gedachte. Den rachsüchtigen Spittelberger beleidigt, den Schwammigen und die Jugend aufs Blut empört, sieh nur an, das genügt, damit alles zu Ende sei. Leonidas, der an demselben Morgen noch seine Laufbahn sich mit freudigem Erstaunen bewußt gemacht hatte, er gab sie nun um halb ein Uhr mittags kampflos und ohne Bedauern preis. All-
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zugroß war die Verwandlung, die der Rest dieses Tages forderte. Allzuschwer lastete die nächste Stunde der Beichte auf ihm. Doch es mußte sein. Er stieg langsam die Treppen in das obere Stockwerk hinauf. Sein bauschiger Hausrock hing, wohlvorbereitet, über einem Stuhl wie immer. Er legte den grauen Sakko ab und wusch im Badezimmer ausführlich Gesicht und Hände. Dann erneuerte er mit Kamm und Bürste seinen genauen Scheitel. Während er dabei im Spiegel sein noch jugendlich dichtes Haar betrachtete, wandelte ihn eine höchst sonderbare Empfindung an. Er tat sich um dieser wohlerhaltenen so hübschen Jugendlichkeit willen selbst leid. Die unbegreifliche Parteilichkeit der Natur, die jenen Schläfer auf der Schönbrunner Parkbank mit Fünfzig zur Ruine verdammt, ihn aber mit Jugendfrische gesegnet hatte, sie schien ihm nun sinnlos verschwendet zu sein. Im Vollbesitz seines dichten weichen Haares und seiner rosigen Wangen wurde er aus der Bahn geworfen. Ihm wäre leichter ums Herz gewesen, hätte ihn aus dem Spiegel ein altes verwüstetes Gesicht angestarrt. So aber zeigten ihm die wohlbekannten liebwerten Züge, was alles verloren war, obgleich die Sonne noch so köstlich hoch stand Die Hände auf dem Rücken, schlenderte er durch die Räume. In Amelies Ankleidezimmer blieb er witternd stehen. Diesen Teil des Hauses betrat er nur sehr selten. Das Parfüm, das Amelie zu benützen pflegte, schlug ihm matt entgegen, wie eine Anklage, die dadurch, daß sie ganz leise ist, doppelt wirkt. Der Duft fügte den Lasten seines Herzens eine neue hinzu. Nebengerüche von gebranntem Haar und Spiritus verschärften die Wehmut noch. Im Zimmer herrschte noch die leichte Unordnung, die Amelie zurückgelassen hatte. Mehrere Paare kleiner Schuhe standen betrübt durcheinander. Der Toilettentisch mit seinen vielen Fläschchen, Kristall-Flakons, Schälchen, Schächtelchen, Döschen, Scherchen, Feilchen, Pinselchen war nicht zusammengeräumt. Wie der Abdruck eines zärtlichen Körpers auf verlassenen Kissen, so schwebte Amelies Wesenheit im Raum. Auf dem Sekretär lagen neben Büchern, illustrierten Zeitschriften und Modeblättern ganze Haufen offener Briefe achtlos zur Schau. Es war verrückt, aber in dieser Minute sehnte sich Leonidas danach, daß Amelie ihm etwas angetan habe, daß er könnte einen fassungslosen Schmerz über eine Schuld empfinden, die ihr Gewissen niederzog, dem seinen jedoch die Unschuld beinahe wiedergab. Was er immer verabscheut hatte, tat er jetzt zum erstenmal. Er stürzte sich auf die offenen Briefe, wühlte erregt im kalten Papier, las eine Zeile hier, ein Sätzchen dort, verhaftete jede männliche Handschrift, fahndete verwirrt nach Beweisen der Untreue, ein unglaubwürdiger Schatzgräber seiner eigenen Schande. War es denkbar, daß Amelie ihm ein treues Weib geblieben, diese ganzen zwanzig Jahre lang, ihm, einem eitlen Feigling, dem ausdauerndsten aller Lügner, der unter dem gesprungenen Lack
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einer unechten Weltläufigkeit ewig den Harm seiner elenden Jugend verbarg? Nie hatte er den gottgewollten Abstand zwischen sich und ihr überwinden können, den Abstand zwischen einer geborenen Paradini und einem geborenen Dreckfresser. Nur er allein wußte, daß seine Sicherheit, seine lockere Haltung, seine lässige Elegance anderen abgeguckt war, eine mühsame Verstellung, die ihn nicht einmal während des Schlafes freigab. Mit Herzklopfen suchte er die Briefe des Mannes, die ihn zum Hahnrei machten. Was er fand, waren die reinsten Orgien der Harmlosigkeit, die ihn gutmütig verspotteten. Da riß er die Schubläden des zierlichen Schreibtisches auf. Ein holdes Chaos fraulicher Vergeßlichkeiten bot sich dar. Zwischen Sammet- und Seidenfetzen, echten und falschen Schmuckstücken, Galalithringen, einzelnen Handschuhen, versteinten Schokoladebonbons, Visitenkarten, Stoffblumen, Lippenstiften, Arzneischachteln lagen in verschnürten Bündeln alte Rechnungen, Bankausweise und wiederum Briefe, auch sie vor Unschuld ihn an- und auslachend. Zuletzt fiel ihm ein Kalenderbüchlein in die Hand. Er blätterte es auf. Er verletzte schamlos dieses Geheimnis. Flüchtige Eintragungen Amelies an gewissen Tagen: „Heute wieder einmal allein mit León! Endlich! Gott sei Dank!“ – „Nach dem Theater eine wunderschöne Nacht. Wie einst im Mai, León entzückend.“ In diesem Büchlein stand ein rührend genaues Kontokorrent ihrer Liebe verzeichnet. Die letzte Eintragung umfaßte mehrere Zeilen: „Finde León seit seinem Geburtstage etwas verändert. Er ist etwas verletzend galant, herablassend, dabei unaufmerksam. Das gefährliche Alter der Männer. Ich muß aufpassen. Nein! Ich glaube felsenfest an ihn.“ – Das Wort „felsenfest“ war dreimal unterstrichen. Sie glaubte an ihn! Wie arglos war sie doch trotz ihrer Eifersucht. Seine absurde, schmutzige Hoffnungs-Angst hatte getrogen. Keine Schuld der Frau entlastete die seine. Sie legte vielmehr als das letzte und schwerste Gewicht ihren Glauben ihm auf die Seele. Ihm geschah recht. Leonidas setzte sich an dem Schreibtisch nieder und starrte gedankenlos auf die süße Unordnung, die er mit gemeiner Hand entweiht und vermehrt hatte. Er fuhr nicht erschrocken auf, er blieb sitzen, als Amelie eintrat. „Was tust du hier?“ fragte sie. Die Schatten und Bläulichkeiten unter ihren Augen waren schärfer geworden. Leonidas zeigte keine Spur von Verlegenheit. Was für ein abgefeimter Lügner bin ich doch, dachte er, es gibt schließlich keine Situation, die mich aus dem Konzept bringt. Er wandte ihr ein müdes Gesicht zu: „Ich habe bei dir ein Mittel gegen meine Kopfschmerzen gesucht. Aspirin oder Pyramidon “
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„Die Schachtel mit dem Pyramidon liegt großmächtig vor dir “ „Mein Gott, und ich hab sie übersehn “ „Vielleicht hast du dich zuviel mit meiner Korrespondenz beschäftigt Mein Lieber, solange eine Frau so schlampig ist wie ich, hat sie gewiß nichts zu verheimlichen “ „Nein, Amelie, ich weiß wie du bist, ich glaube felsenfest an dich “ Er stand auf, wollte ihre Hand ergreifen. Sie wich einen Schritt zurück und sagte, ziemlich betont: „Es ist nicht besonders galant, wenn ein Mann seiner Frau allzu sicher ist “ Leonidas drückte die Fäuste gegen seine Schläfen. Die soeben erlogenen Kopfschmerzen hatten sich prompt eingestellt. Sie hat irgend etwas, witterte es in ihm. Schon heute am Morgen hatte sie irgend etwas. Und mittlerweile scheint es sich noch verdichtet zu haben. Wenn sie mir jetzt eine ihrer Szenen macht, wenn sie mich beleidigt und sekkiert, dann wird mir das Geständnis leichter fallen. Wenn sie aber gut zu mir ist und liebevoll, dann weiß ich nicht, ob ich den Mut haben werde Zum Teufel, es gibt kein Wenn und Aber mehr, ich muß reden! Amelie streifte ihre veilchenfarbenen Handschuhe von den Fingern, legte den sommerlich dünnen Breitschwanzmantel ab, dann nahm sie schweigend eine Pastille aus der Schachtel, ging in ihr Badezimmer und kam mit einem Glas Wasser zurück. Ach, sie ist gut zu mir. Leider! Während sie die Droge in einem Löffel auflöste, fragte sie: „Hast du Ärger gehabt, heut?“ „Ja, ich hab Ärger gehabt. Im Amt.“ „Natürlich Spittelberger? Kann’s mir denken.“ „Lassen wir das, Amelie “ „Schaut aus wie eine eingetrocknete Kröte vor dem Regen, dieser Vinzenz! Und der Herr Skutecky, dieser böhmische Dorfschullehrer! Was für ein Niveau das ist, das heute regieren darf “ „Die Fürsten und Grafen von ehemals haben zwar besser ausgesehen, aber noch schlechter regiert. Du bist eine unheilbare Ästhetin, Amelie “ „Du hast es nicht nötig, dich zu ärgern, León! Du brauchst diese ordinäre Gesellschaft nicht. Wirf’s ihnen hin “ Sie führte den Löffel an seinen Mund, reichte ihm das Glas. Ihm wurde das Herz ganz schlapp vor jäher Wehmut. Er wollte sie an sich ziehen. Sie bog den
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Kopf zur Seite. Er merkte, daß sie heute mindestens zwei Stunden beim Friseur zugebracht haben mußte. Das wolkige Haar war untadelig gewellt und duftete wie die Liebe selbst. Es ist ein Wahnsinn, was habe ich mit dem Gespenst Vera Wormser zu schaffen? Amelie sah ihn streng an: „Ich werde von nun an darauf bestehen, León, daß du dich täglich nach Tisch eine Stunde lang ausruhst. Du bist schließlich und endlich im gefährlichen Alter der Männer “ Leonidas klammerte sich an ihren Worten fest, als könnten sie ihm zur Verteidigung dienen: „Du hast recht, Liebste Seit heute weiß ich, daß ein Fünfzigjähriger schon ein alter Mann ist “ „Idiot“, lachte sie nicht ohne Schärfe. „Mir wär vermutlich wohler, wenn du endlich ein älterer Herr wärst und nicht dieser ewige Jüngling, diese anerkannte Männerschönheit, die alle Weiber angaffen “ Der Gong rief zum Mahl. Es war unten in dem großen Speisezimmer ein kleiner runder Tisch zum Fenster gerückt. Die mächtige Familientafel in der Mitte des Raumes stand mit ihren zwölf hochlehnigen Stühlen leer und gestorben da, nein ärger, tot ohne gelebt zu haben. Leonidas und Amelie waren keine Familie. Sie saßen als Verbannte ihrer eigenen Familientafel gleichsam am Katzentisch der Kinderlosigkeit. Auch Amelie schien dieses Exil heute stärker zu fühlen als gestern und vorgestern und all die Tage und Jahre vorher, denn sie sagte: „Wenn es dir recht ist, werd’ ich von morgen ab oben im Wohnzimmer decken lassen “ Leonidas nickte zerstreut. All seine Sinne waren den ersten Worten der nahenden Beichte entgegen gespannt. Ein tollkühner Einfall durchzuckte ihn. Wie wäre es, wenn er im Zuge seiner großen Konfession, anstatt um Verzeihung zu betteln, über die Schnur haute und von Amelie glatt forderte, daß sie seinen Sohn im Hause aufnehme, damit er mit ihnen wohne und am gemeinsamen Tische speise. Ohne Zweifel, ein Kind von ihm und Vera mußte einige Qualitäten besitzen. Und würde ein junges glückliches Gesicht nicht das ganze Leben erhellen? Das erste Gericht wurde aufgetragen. Leonidas häufte seinen Teller voll, legte aber schon beim dritten Bissen die Gabel hin. Der Diener hatte Amelie diese Schüssel gar nicht gereicht, sondern ein Gefäß mit rohen Selleriestangen neben ihr Gedeck gestellt. Auch an Stelle des zweiten Ganges bekam sie nur eine
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winzige, rasch abgebratene Kotelette, ohne jede Zutat und Würze. Leonidas sah ihr erstaunt zu: „Bist du krank, Amelie, hast du keinen Appetit?“ Ihr Blick konnte eine höhnische Erbitterung nicht verleugnen: „Ich sterbe vor Hunger“, sagte sie. „Von dieser Spatzenration wirst du nicht satt werden.“ Sie stocherte im grünen Salat, der eigens für sie ohne Essig und Öl, nur mit ein paar Zitronentropfen angerichtet war: „Fällt es dir erst heute auf“, fragte sie spitz, „daß ich wie eine Wüstenheilige lebe?“ Er gab ziemlich stumm und ungeschickt zurück: „Und welches Himmelreich willst du dir dabei verdienen?“ Sie schob mit einer heftigen Ekelgeste den Salat von sich: „Ein lächerliches Himmelreich, mein Lieber. Denn dir ist es ja vollkommen egal, wie ich aussehe Dir macht es nichts aus, ob ich eine mittelschwere Tonne bin oder eine Sylphide “ Leonidas, der seinen schlechten Tag hatte, verirrte sich weiter im Dickicht der Ungeschicklichkeit: „Wie du bist, Liebling, bist du mir recht Du überschätzt meine Äußerlichkeit Um meinetwillen mußt du wahrhaftig nicht als Heilige leben “ Ihre Augen, die älter waren, als sie selbst, blitzten ihn an, füllten sich mit häßlichen, ja mit gemeinen Wallungen: „Aha, also ich bin für dich schon jenseits von Gut und Böse. Mir kann nach deiner Ansicht nichts mehr helfen. Ich bin nichts andres mehr für dich als eine alte schlechte Gewohnheit, die du nur so weiter mitschleppst. Eine schlechte Gewohnheit, die aber ihre praktischen Seiten hat “ „Um Himmels willen, Amelie, überleg dir, was du da sprichst “ Amelie aber dachte nicht daran, sich zu überlegen, was sie sprach, nein, hervorsprudelte: „Und ich dumme Gans hab mich vorhin beinah gefreut, als du so widerlich in meinen Briefen herumspioniert hast Er ist also doch eifersüchtig, hab ich gemeint Keine Spur Wahrscheinlich warst du auf wertvollere Dinge neugierig als auf Liebesbriefe, denn ausgesehen hast du so äquivok, daß ich er-
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schrocken bin, so So wie ein Hochstapler, ein Gentleman-Betrüger, wie ein Dienstmädchenverführer am Sonntag “ „Danke“, sagte Leonidas und sah auf seinen Teller. Amelie aber konnte sich nicht länger beherrschen und brach in lautes Schluchzen aus. Da also wäre die Szene. Eine ganz sinnlose und empörende Szene. Noch nie im Leben hat sie eine ähnliche materielle Verdächtigung gegen mich ausgesprochen. Gegen mich, der ich doch immer auf strenger Sonderung bestanden habe, der ich das Zimmer verlasse, wenn sie ihre Bankiers und Advokaten empfängt. Und doch, sie schießt daneben und trifft zugleich ins Schwarze. Dienstmädchenverführer am Sonntag. Ihr Zorn macht es mir nicht leichter. Ich habe keine Möglichkeit, anzufangen Gequält erhob er sich, trat zu Amelie, nahm ihre Hand: „Das dumme Zeug, das du da zusammengeschwätzt hast, will ich gar nicht verstehen Deine abscheuliche Kalorien-Fexerei wird dich noch nervenkrank machen Bitte, nimm dich jetzt zusammen Wir wollen vor den Leuten keine Komödie aufführen “ Diese Mahnung brachte sie zu sich. Jeden Augenblick konnte der Diener eintreten: „Verzeih mir, León, ich bitte dich“, stammelte sie, noch immer schluchzend, „ich bin heut sehr elend, dieses Wetter, dieser Friseur und dann “ Sie war ihrer wieder mächtig, preßte das Taschentuch gegen die Augen, biß die Zähne zusammen. Der Diener, ein älterer Mann, brachte den schwarzen Kaffee, trug die Obstteller, die Fingerschalen ab und schien nichts bemerkt zu haben. Er hantierte mit ernster Teilnahmslosigkeit ziemlich lange herum. Indessen schwiegen beide. Als sie wieder allein waren, fragte Leonidas leichthin: „Hast du einen bestimmten Grund für dein Mißtrauen gegen mich?“ Während er mit atemlos lauernder Seele diese Frage stellte, hatte er die Empfindung, als werfe er ein Laufbrett über einen finsteren Spalt. Amelie sah ihn aus roten Augen verzweifelt an: „Ja, ich habe einen bestimmten Grund, León “ „Und darf ich diesen Grund erfahren?“ „Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, wenn ich dich ausfrag’. Also laß mich! Vielleicht komm’ ich darüber hinweg “ „Wenn ich aber darüber nicht hinwegkomm’“, sagte er leise, doch jedes Wort betonend. Sie kämpfte noch eine ganze Weile mit sich selbst, dann senkte sie die Stirn:
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„Du hast heut früh einen Brief bekommen “ „Ich habe elf Briefe bekommen heute früh “ „Aber einer war darunter von einer Frau So eine verstellte, verlogene Weiberschrift “ „Findest du diese Schrift wirklich so verlogen?“ fragte Leonidas, holte mit sehr langsamen Händen seine Brieftasche hervor und entnahm ihr das Corpus delicti. Seinen Stuhl ein bißchen vom Tisch zum Fenster abrückend, ließ er das regnerische Licht auf Veras Brief fallen. Im Raum stand die Schicksalswaage still. Wie doch alles seinen ureigenen Weg geht! Man muß sich nicht sorgen. Nicht einmal improvisieren muß man. Alles kommt anders, aber es kommt von selbst. Unsre Zukunft wird davon abhängen, ob sie zwischen den Zeilen lesen kann. Plötzlich zum kühlen Beobachter geworden, reichte er Amelie mit ausgestreckter Hand das schmale Blatt hinüber. Sie nahm’s. Sie las. Sie las halblaut: „Sehr geehrter Herr Sektionschef!“ Schon bei diesen Worten der Anrede bildete sich auf ihren Zügen eine Entspannung von solcher Ausdruckskraft, wie sie Leonidas an Amelie nie wahrgenommen zu haben vermeinte. Sie atmete hörbar auf. Dann las sie weiter, immer lauter: „Ich bin gezwungen, mich heute mit einer Bitte an Sie zu wenden. Es handelt sich dabei nicht um mich, sondern um einen begabten jungen Mann “ Um einen begabten jungen Mann. Amelie legte das Blatt auf den Tisch, ohne weiter zu lesen. Sie schluchzte von neuem auf. Sie lachte. Lachen und Schluchzen gerieten durcheinander. Dann aber breitete sich das Lachen in ihr aus und erfüllte sie wie ein züngelndes Element. Jäh sprang sie auf, stürzte zu Leonidas, hockte sich zu seinen Füßen nieder, legte den Kopf auf seine Knie, Gebärde ihrer widerstandslosen hingegebenen Stunden. Da sie aber sehr groß war und lange Beine hatte, wirkte diese heftige Gebärde der Demütigung immer ein wenig erschreckend, ja erschütternd auf ihn. „Wärst du jetzt ein primitiver Mann“, stammelte sie, „du müßtest mich schlagen oder würgen oder was weiß ich, denn ich habe dich so gehaßt, du mein Liebstes, wie ich noch nichts gehaßt hab. Sag kein Wort, um Gottes willen, laß mich beichten “ Er sagte kein Wort. Er ließ sie beichten. Er starrte auf das weich modellierte Blond ihres Haares. Sie aber, ohne ein einziges Mal aufzublicken, sprach hastig wie in die Erde hinein: „Wenn man so beim Friseur sitzt, den Kopf unter der Nickelhaube, stundenlang, in den Ohren surrt’s, die Luft wird immer heißer, jede Haarwurzel schreit
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vor Nervosität, wegen der Wasserwellen muß man das aushalten, abends die Oper, und bei diesem Wetter gehn die Haare immer wieder auf Ich habe mir die Bilder in der ‘Vogue’ und im ‘Jardin des Modes’ angeschaut, ohne das geringste zu sehen, nur um nicht verrückt zu werden, denn, du weißt, ich war unbeschreiblich überzeugt davon, du bist ein lebenslänglicher Schwindler, ein glatter Betrüger, wirklich so eine Art Dienstmädchenverführer am Sonntag, immer tip top, du glitschiger Aal, und mich hast du hereingelegt seit vollen zwanzig Jahren, durch ‘Vorspiegelungen’, nicht wahr, man nennt das so im Gerichtssaal, denn du hast mir seit dem Tag unsrer Verlobung vorgespielt, das zu sein, was du bist, und ich hab ein ganzes Leben gebraucht und meine Jugend verloren, um dir daraufzukommen, daß du eine Geliebte hast, namens Vera Wormser loco, denn ihren Brief hab ich auf dem Tisch gesehen, knapp eh du zum Frühstück gekommem bist, und es war wie eine fürchterliche Erleuchtung, und ich hab all meine Kraft zusammennehmen müssen, um den Brief nicht zu stehlen, es war aber unnötig, denn ich hab’s doch durch die Erleuchtung sonnenklar gewußt, daß du so einer bist, der ein Doppelleben führt, man kennt das ja vom Film, und ihr habt eine gemeinsame Wohnung, einen idyllischen Haushalt, du und Vera Wormser loco, denn was weiß ich, was du in deiner Amtszeit tust und während der vielen Konferenzen bis tief in die Nacht, und Kinder habt ihr auch miteinander, zwei oder vielleicht sogar drei Und die Wohnung hab ich gesehn, auf mein Wort, irgendwo in Döbling, in der Nähe des Kuglerparks oder des Wertheimsteinparks, damit die Kinder immer frische Luft haben, ich war direkt drin in dieser anheimelnden Wohnung, die du dem Weib eingerichtet hast, und ich hab so manche Kleinigkeit wiedergefunden, die ich vermisse, und deine Kinder hab ich auch gesehn, richtig, es waren drei, so halbwüchsige Bankerte, widerliche, und sie sind um dich herumgesprungen und haben dich manchmal ‘Onkel’ genannt und manchmal ganz schamlos ‘Papa’ und du hast sie ihre Schulaufgaben abgehört und das Kleinste ist auf dir herumgeklettert, denn du warst ein glücklicher Papa, wie er im Buch steht. Und das alles hab ich erleben und erdulden müssen in meinem gefangenen Kopf unterm Ondulierhelm und ich durfte nicht davonlaufen, sondern mußte noch freundliche Antworten geben, wenn der seifige Patron kam, um mich zu unterhalten, Frau Sektionschef sehen blendend aus, werden Frau Sektionschef am Schönbrunner Kostümfest teilnehmen, als junge Kaiserin Maria Theresia müßte Frau Sektionschef erscheinen, im Reifrock und hoher weißer Perücke, keine Dame der Hocharistokratie kann mit Frau Sektionschef konkurrieren, der Herr Sektionschef wird begeistert sein – und ich konnte ihm nicht sagen, daß ich den Herrn Sektionschef gar nicht begeistern will, weil er ein Lump ist und ein glücklicher Papa in Döbling Sag kein Wort, laß mich beichten, denn das Schlimmste kommt erst. Ich habe dich nicht
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nur gehaßt, León, ich habe mich grauenhaft vor dir gefürchtet. Dein Doppelleben stand vor mir, wie, wie, ach ich weiß nicht wie, zugleich aber, León, war ich so ungeheuer sicher, wie ich’s mir jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, daß du mich umbringen willst, weil du mich ja auf alle Fälle loswerden mußt, denn die Vera Wormser darfst du nicht umbringen, sie ist die Mutter deiner Kinder, das sieht jeder ein, ich aber bin mit dir nur durch den Trauschein verbunden, durch ein Stück Papier, folglich wirst du mich umbringen, und du machst es äußerst geschickt, mit einem ganz langsamen Gift, in täglichen Dosen, am besten in den Salat getropft, wie man es von den Renaissancemenschen gelernt hat, den Borgias, usw. Man spürt fast gar nichts, wird aber blutarmer und bleichsüchtiger von Tag zu Tag, bis es aus ist. Oh, ich schwör dir’s, León, ich habe mich im Sarg liegen sehn, wundervoll von dir aufgebahrt, und so jung war ich und entzückend mit meinen frisch gewellten Haaren, ganz in Weiß, fließender plissierter Crêpe de Chine, glaub aber ja nicht, daß ich das ironisch sage oder Witze mache, denn das Herz ist mir gebrochen, als ich zu spät und schon als Tote erkannt hab, daß mein Heißgeliebter, mein Heißgeglaubter ein heimtückischer Frauenmörder ist. Und dann sind sie alle gekommen, selbstverständlich, die Minister und der Bundespräsident und die Spitzen der Behörden und die Koryphäen der Gesellschaft, um dir ihr Beileid auszusprechen, und deine Haltung war gräßlich tadellos, denn du warst im Frack, wie das erste Mal, als wir uns begegnet sind, weißt du’s noch, damals am Juristenball, und dann bist du neben dem Bundespräsidenten hinter meinem Sarg gegangen, nein geschritten, und hast der Vera Wormser zugezwinkert, die mit ihren Kindern auf einer Festtribüne zugeschaut hat So, und jetzt stell dir’s nur vor, León, mit diesen Bildern im Kopf bin ich nach Hause gekommen und finde dich vor meinen Briefen, was noch nie in diesen zwanzig Jahren geschehen ist. Ich hab meinen Augen nicht getraut, und das war kein Hirngespinst mehr, denn du warst nicht du, sondern ein völlig Fremder, der Mann mit dem Doppelleben, der Gatte der anderen, der Gentleman-Schwindler, wenn er unbeobachtet ist. Ich weiß nicht, ob du mir wirst verzeihen können, aber in diesem Augenblick hat’s wie der Blitz in mich eingeschlagen: Er will nichts andres, als sich nach meinem Tode das große Vermögen sichern. Ja, León, genau so hast du ausgeschaut, oben vor meinem Schreibtisch mit der offenen Schublade, wie ein ertappter Testamentsfälscher und Erbschaftsschnüffler. Und ich hab doch noch nie daran gedacht, ein Testament zu machen. Und alles gehört ja dir. Schweig! Laß mich das alles sagen, alles, alles! Nachher mußt du mich strafen, als mein harter Beichtvater. Gib mir eine fürchterliche Buße auf! Geh nächstens z. B. allein zur Anita Hojos, die in dich vernarrt ist und die du mit den Augen frißt. Ich werde geduldig zu Hause bleiben und dich nicht sekkieren, denn ich weiß natürlich ganz genau, daß nicht du schuldig bist an den
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greulichen Einbildungen des heutigen Vormittags, sondern ich allein und der Brief dieser unschuldigen Dame Wormser, eine antipathische Schrift hat sie übrigens. Der abgefeimteste Mann kann nie so, so, da gibt’s kein Wort, so träumen wie ein Weib unterm Nickelhelm beim Friseur. Und dabei bin ich nicht einmal hysterisch und sogar ziemlich intelligent, du warst einmal der Ansicht. Du mußt mich verstehn, ich habe genau gewußt, daß du kein Doppelleben führen kannst und daß dich das Geld nie interessiert hat und daß du der vornehmste Mensch bist und ein anerkannter Jugenderzieher, und daß dich die ganze Welt verehrt und daß du hoch über mir stehst. Zugleich aber hab ich ganz genau gewußt, daß du ein verschlagener Betrüger bist und mein süßer, geliebter Giftmörder. Es war, glaub mir’s, nicht Eifersucht, es kam wie von außen in mich, es war wie eine Inspiration. Und da hab ich dir ein Glas Wasser geholt und mit eigener Hand meinem Giftmörder das Pyramidon zum Schlukken gegeben und mein Herz hat geblutet vor Liebe und vor Abscheu, es ist wahr, León, als ich mich selbst geprüft hab So, jetzt hab ich dir alles, alles gebeichtet. Was da heut in mir vorgegangen ist, ich versteh’s nicht. Kannst du mir’s vielleicht erklären?“ Ohne aufzublicken, ohne Absatz und Punkt, und immer in die Erde hinein, so hatte Amelie ihre Beichte heruntergehastet, die Leier nur manchmal aus brennender Scham durch eine ironische Wendung unterbrechend. Niemals hatte Leonidas eine ähnliche Selbstentschleierung angehört, noch auch geahnt, daß diese Frau dazu fähig sei. Jetzt preßte sie ihr Gesicht gegen seine Knie, ungehemmt flossen ihre Tränen. Er begann das warme Naß durch den dünnen Stoff seiner Hose hindurch zu spüren. Es war unangenehm und sehr rührend zugleich. Du hast recht, mein Kind! Eine echte Eingebung war’s, die dich heute am Morgen angefallen und den ganzen Vormittag nicht mehr losgelassen hat. Veras Brief hat dich inspiriert. Wie nah bist du um die Flamme der Wahrheit herumgeflattert! Deine Hellsicht kann ich dir nicht erklären. Das heißt, ich müßte jetzt endlich reden. Ich müßte anfangen: Du hast recht, mein Kind. So merkwürdig es ist, du hast eine echte Eingebung gehabt Aber kann ich jetzt so reden? Könnte ein weit charaktervollerer Mensch als ich jetzt so reden? „Es ist wirklich nicht sehr hübsch von dir“, sagte er laut, „was sich da deine alte Eifersucht gegen mich zusammengeträumt hat. Aber als Pädagoge bin ich schließlich von Amts wegen ein bißchen Seelenkenner. Ich spür schon längst deinen gereizten Zustand. Wir leben bald zwanzig Jahre nebeneinander und haben nur ein einziges Mal eine längere Trennung erlitten, du und ich. Da kommen die unvermeidlichen Krisen, heut für den einen, morgen für den andern. Es war riesig moralisch von dir, daß du dein ehrenrühriges Unterbewußtsein gerade mir anvertraut hast. Ich beneide dich um deine Beichte. Denk dir
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aber, ich habe beinahe schon wieder vergessen, daß ich ein Giftmörder bin und ein Testamentsfälscher “ Die salbadernden Lügen gehen weiter. Nichts hab ich vergessen. Dienstmädchenverführer am Sonntag, das sitzt. – Amelie hob mit einem verklärt lauschenden Ausdruck ihr Gesicht: „Ist es nicht komisch, daß man so unbeschreiblich glücklich ist, wenn man gebeichtet hat und Absolution erhält? Nun ist auf einmal alles weg “ Leonidas sah angestrengt zur Seite, während seine Hand ganz leicht ihr Haar streichelte: „Ja, es ist wohl eine gewaltige Erleichterung, aus der Tiefe gebeichtet zu haben. Und dabei hast du nicht die leiseste Sünde begangen “ Amelie stutzte. Sie blickte ihn plötzlich kühl und forschend an: „Warum bist du so schrecklich gut, so weise, so gleichgültig, so fern, der reinste tibetanische Mönch? Wär’s nicht nobler, du würdest dich durch eine eigene schlimme Beichte revanchieren? “ Nobler wär es bestimmt, dachte er, und die Stille wurde sehr tief. Aber es kam nur ein unentschlossenes Räuspern aus seinem Mund. Amelie war aufgestanden. Sie puderte sich sorgfältig und schminkte die Lippen. Es war die weibliche Atempause, die einen erregenden Auftritt des Lebens beendet. Noch einmal streifte ihr Blick Veras Brief, den harmlosen Bittbrief, der auf dem Tisch lag: „Sei nicht bös, León“, zögerte sie, „aber da ist noch eine Sache, die mich stört Warum trägst du von deiner ganzen heutigen Post gerade den Brief dieser wildfremden Person in deinem Portefeuille?“ „Die Dame ist mir nicht fremd“, erwiderte er ernst und knapp, „sie ist mir aus alter Zeit bekannt. Ich war in den traurigsten Tagen meines Lebens in ihrem Vaterhaus als Nachhilfslehrer angestellt “ Er nahm das Blatt mit einer harten, ja bösen Bewegung und legte es zurück in seine Brieftasche. „Dann solltest du etwas für ihren begabten jungen Mann tun“, sagte Amelie, und eine versonnene Wärme stand in ihren April-Augen.
Sechstes Kapitel Vera erscheint und verschwindet Sofort nach Tisch verließ Leonidas sein Haus und fuhr ins Ministerium. Nun saß er da, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte durchs hohe Fenster über die Bäume des Volksgartens hinweg, die, von perlmuttfarbenem Regen-Dunst eingeschleiert, in den wattigen Himmel ragten. Sein Herz war voll Verwunderung über Amelie und voll Bewunderung für sie. Liebende Frauen besaßen einen sechsten Sinn. Wie das schweifende Wild gegen seine Feinde, so waren auch sie mit einer sicheren Witterung ausgerüstet. Hellseherinnen waren sie der männlichen Schuld. Amelie hatte alles erraten, wenn auch, ihrer Art gemäß, übertrieben, verzerrt und falsch gedeutet. Man konnte fast argwöhnen, eine unerklärliche Verschwörung habe zwischen den beiden Frauen stattgefunden, der einen, die sich in der blaßblauen Handschriftt verkörperte, und der andern, die vom flüchtigen Anblick dieser Schrift ins Herz getroffen war. In den wenigen Zeilen der Adresse hatte Vera der andern die Wahrheit zugeflüstert, die von Amelie als eine jähe Eingebung aus dem Nichts empfunden werden mußte. Welch ein Widerspruch, daß jene Hellsichtigkeit dann vor dem trockenen Wortlaut des Briefes zuschanden wurde. Ihm aber hatte sie ahnungsvoll ahnungslos die Maske vom Gesicht gerissen. „Dienstmädchenverführer am Sonntag!“ Hatte er sich nicht selbst heute einen Heiratsschwindler genannt? Und war er’s nicht tatsächlich in der kriminellen Bedeutung des Wortes? Von seinem Gesicht konnte Amelie es ablesen. Und er hatte doch knapp vorher dieses Gesicht im Spiegel betrachtet und nichts Gemeines darin entdeckt, sondern eine wohlgeformte Vornehmheit, die in ihm das sonderbare Mitleid mit sich selbst erweckte. Und wie war es dann gekommen, daß sein Entschluß sich ohne sein Zutun ins Gegenteil verkehrte, und nicht er beichtete, sondern sie? Ein großer, ein unverdienter Liebesbeweis, diese Beichte! Diesen radikalen, ja schamlosen Mut zur Wahrheit wie Amelie hatte er nie besessen. Das kam vermutlich von der minderen Herkunft und der einstigen Armut. Seine Jugend war erfüllt gewesen von Furcht, Auftrieb und einer zitternden Überschätzung der höheren Klasse. Er hatte sich alles krampfhaft anerziehen müssen, die Gelassenheit beim Eintritt in einen Salon, das souveräne Plaudern (man macht Konversation), das freie Benehmen bei Tisch, das richtige Maß im „Die-EhreGeben“ und „Die-Ehre-Nehmen“, all diese feinen und selbstverständlichen Tugenden, mit denen die Angehörigen der Herrenkaste geboren werden. Der Fünfzigjährige kam noch aus einer Welt der gespannten Standesunterschiede. Die Kraft, welche die heutige Jugend im Sport verausgabt, hatte er für eine be-
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sondere Athletik aufwenden müssen, für die Überwindung seiner Schüchternheit und für den Ausgleich seines beständigen Mangelgefühls. Oh, unvergeßliche Stunde, da er zum erstenmal im Frack des Selbstmörders vor dem Spiegel sich als Sieger gegenüberstand! Wenn er auch jene feinen und selbstverständlichen Künste vollkommen erlernt hatte und sie seit Jahrzehnten schon unbewußt übte, so war er doch nur, was die Römer einen „Freigelassenen“ nannten. Ein Freigelassener besitzt nicht den natürlichen Mut zur Wahrheit wie eine geborene Paradini, nicht jene verwegene Erhabenheit über alle Scham. Amelie hatte überdies den Freigelassenen um einen Abgrund tiefer erkannt als er sich selbst. Ja, es war richtig, er fürchtete, wenn er sich zu seinem und Veras Sohn bekennen sollte, ihren Zorn, ihre Rache. Er fürchtete, sie würde sogleich den Scheidungsprozeß gegen ihn einleiten. Er fürchtete nichts mehr als den Verlust des Reichtums, den er so nonchalant genoß. Er, der edle Mann, der sich „nichts aus dem Gelde machte“, der hohe Beamte, der Volkserzieher, er wußte jetzt, daß er das enge Leben seiner Kollegen nicht würde ertragen können, diesen täglichen Kampf gegen die besseren Bedürfnisse und Begehrlichkeiten. Er war allzu verderbt durch das Geld und durch die angenehme Gewohnheit, sich nicht die leiseste Regung eines Wunsches abschlagen zu müssen. Wie verstand er es nun, daß so viele unter seinen Amtsgenossen der Versuchung erlagen und Schmiergelder nahmen, um ihren süchtigen Frauen dann und wann eine Freude bereiten zu können. Sein Kopf sank auf die Schreibmappe. Er empfand den brennenden Wunsch, ein Mönch zu sein und einem strengen Orden anzugehören Leonidas ermannte sich. „Man kann’s nicht umgehen“, seufzte er laut und leer. Dann nahm er ein Blatt und begann ein Promemoria für Minister Vinzenz Spittelberger zu entwerfen, in welchem er die Betrauung des außerordentlichen Professors der Medizin Alexander (Abraham) Bloch mit der vakanten Lehrkanzel und Klinik als eine unausweichliche Notwendigkeit für den Staat zu begründen suchte. Warum er den Eigensinn weitertrieb und eine entscheidende Kraftprobe heraufbeschwören wollte, das wußte er selbst nicht. Kaum aber hatte er zehn Zeilen zu Papier gebracht, legte er die Feder hin und klingelte seinem Sekretär: „Haben Sie die Güte, lieber Freund, und rufen Sie das Parkhotel in Hietzing an und lassen Sie Frau oder Fräulein Doktor Vera Wormser melden, ich werde sie gegen vier Uhr persönlich aufsuchen “ Leonidas hatte wie immer in nervösen Augenblicken mit verwischter und flacher Stimme gesprochen. Der Sekretär legte ein leeres Zettelchen vor ihn hin: „Darf ich den Herrn Sektionschef bitten, mir den Namen der Dame aufzuschreiben“, sagte er. Leonidas glotzte ihn eine halbe Minute lang wortlos an, dann steckte er das begonnene Memorandum in die Mappe, schob ab-
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schiedsnehmend die Gegenstände auf seinem Schreibtisch zurecht und stand auf: „Nein, danke! Es ist nicht nötig. Ich gehe jetzt.“ Der Sekretär hielt es für seine Pflicht, daran zu erinnern, daß der Herr Minister gegen fünf Uhr im Hause erwartet werde. Auf Leonidas, der gerade Hut und Mantel vom Haken nahm, schien diese Meldung keinen Eindruck zu machen: „Wenn der Minister nach mir fragen läßt, so sagen Sie nichts, sagen Sie einfach, ich bin fortgegangen “ Damit verließ er, federnden Schrittes, an dem jungen Menschen vorbei, sein Amtszimmer. Es gehörte zu den wohlbedachten Gepflogenheiten des Sektionschefs, daß er mit seinem großen Wagen niemals am Portal des Ministeriums vorfuhr, sondern, wenn er ihn überhaupt benützte, ihm schon in der Herrengasse entstieg. Mehr als er den Neid der Kollegen fürchtete, empfand er es (vorzüglich während der Arbeitszeit) als „taktlos“, seinen materiellen Glücksstand zur Schau zu tragen und die spartanischen Grenzen des Beamtentums augenfällig zu überschreiten. Minister, Politiker, Filmschauspieler durften sich ruhig in strahlenden Limousinen spreizen, denn sie waren Geschöpfe der Reklame. Ein Sektionschef hingegen hatte (bei aller zulässigen Elegance) die Pflicht, eine gewisse karge Dürftigkeit hervorzukehren. Diese betonte Dürftigkeit war vielleicht eine der unduldsamsten Formen menschlichen Hochmuts. Wie oft hatte er mit aller gebotenen Vorsicht Amelie davon zu überzeugen gesucht, daß ihr heiterunerschöpflicher Aufwand an Schmuck und Gewändern seiner Stellung nicht völlig entspreche. Vergebliche Predigt! Sie lachte ihn aus. Hierin lag einer der Lebenskonflikte, die Leonidas oft verwirrten Diesmal fuhr er mit der Straßenbahn, die er in der Nähe des Schönbrunner Schlosses verließ. Der Regen hatte schon vor einer Stunde nachgelassen und jetzt völlig aufgehört. Es war aber nur wie die schleppende Pause in einer Krankheit, wie das trübe Loch der Schmerzlosigkeit zwischen zwei Anfällen. Der Wolkentag hing naß und schlapp auf Halbmast, und jede der seltsam verlangsamten Minuten schien zu fragen: Bis hierher waren wir gekommen, doch was nun? Leonidas spürte in allen Nerven die entscheidende Veränderung, die seit heute morgen die Welt hatte erdulden müssen. Er wurde sich jedoch über die Ursache dieser Veränderung erst klar, als er durch die breite, von Platanen flankierte Straße, längs der hohen Schloßmauer dahineilte. Unter seinen Füßen schwang höchst unangenehm ein dick vollgesogener Teppich von gefallenem Laub. Die jäh verfärbten Platanenblätter waren so korporell aufgeschwemmt und schnalzten
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unter jedem Tritt, daß man hätte wähnen können, ein Wolkenbruch von Kröten sei niedergegangen. Seit wenigen Stunden war mehr als die Hälfte des Laubes von den Bäumen geweht und der Rest hing schlaff an den Ästen. Was heute allzujung als Aprilmorgen begonnen hatte, endete im Handumdrehen allzualt als Novemberabend. Im Blumengeschäft an der nächsten Straßenecke schwankte Leonidas unerlaubt lange zwischen weißen und blutroten Rosen. Er entschied sich endlich zu achtzehn langstieligen hellgelben Teerosen, deren sanfter, ein wenig fauliger Duft ihn anzog. Als er dann in der Hotelhalle sich bei Frau Doktor Wormser anmelden ließ, erschrak er plötzlich über die verräterische Zahl „achtzehn“, die er ganz unbewußt gewählt hatte. Achtzehn Jahre! Auch fiel ihm jener ominöse Rosenstrauß ein, den er als lächerlich Verliebter der kleinen Vera einst mitgebracht hatte, ohne den Mut zu finden, ihn zu überreichen. Nun war’s ihm, als seien es damals ebenfalls hellgelbe Teerosen gewesen und sie hätten genau so geduftet, so sanft, so rund, wie die Blume eines paradiesischen Weines, den es auf Erden nicht gibt. „Madame läßt Herrn Sektionschef bitten, hier zu warten“, sagte der Portier unterwürfig und begleitete den Gast in eines der Gesellschaftszimmer zu ebener Erde. Man kann von einem Hotelsalon nichts Besseres erwarten, beruhigte Leonidas sich selbst, dem die dämmrige Räumlichkeit samt ihrer Einrichtung ungewöhnlich auf die Nerven fiel. Es ist scheußlich, die Geliebte seines Lebens in der öffentlichen Intimität dieses Allerwelts-Wohnzimmers wiederzusehen, jede Bar wäre besser, ja selbst ein bummvolles Kaffeehaus mit Musik. Daß Vera wirklich und wahrhaftig die „Geliebte seines Lebens“ gewesen sei, dessen empfand Leonidas jetzt eine ganz unbegründete Sicherheit. Das Zimmer war vollgestopft mit lauter gewichtigen Möbelstücken. Sie ragten wie mürrische Festungen einer verschollenen Repräsentation ins Ungewisse. Sie standen da wie eine vom Ausrufer verlassene Versteigerung, in die sich für ein Stündchen oder zwei vorüberschlendernde Zufallsgäste einnisten. Üppige Sitzgarnituren, japanische Schränke, lampentragende Karyatiden, ein orientalisches Kohlenbecken, geschnitzte Truhen, Tabouretts u.s.w. An der Wand dehnte sich ein keusch verhüllter Flügel. Die Plüschdecke, die ihn von oben bis unten verhing, war schwarz. Er glich daher einem Katafalk für tote Musik. Das Bahrtuch war außerdem noch mit allerlei Gegenständen aus Bronze und Marmor beschwert, auch sie wie zum Verkauf aneinander gereiht: Ein trunkener Silen, der eine Visitenkartenschale balanciert, eine geschmeidige Tänzerin ohne ersichtlich praktischen Zweck, ein prunkvolles Tintenzeug, groß und ernst genug, um bei Unterschrift eines Friedensvertrages Dienst zu tun, und dergleichen mehr, das hier die Aufgabe zu haben schien, die tote oder schein-
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tote Musik am Entweichen zu hindern. Leonidas faßte den Verdacht, dieses Klavier sei ausgeweidet und nur eine ehrbare Attrappe, denn ein lebendiges Instrument würde die Leitung des Hotels beim täglichen Tanztee verwenden, dessen Zurüstung draußen vernehmbar wurde. Lebendig in diesem Raum waren nur die beiden aufgeklappten Spieltische, auf denen noch die Bridgekarten dalagen, ein Bild behaglicher Zerstreuung und ungetrübter Seelenruhe, das den neidischen Blick immer wieder anzog. Leonidas war selbstverständlich ein Meister dieses Spiels Er ging beständig auf und ab, wobei er sich zwischen den kantigen Vorgebirgen der Möbel und Tische durchschlängeln mußte. Noch immer hielt er die in Seidenpapier verpackten Rosen in der Hand, obwohl er fühlte, daß die empfindsamen Blüten unter seiner Körperwärme zu ermüden begannen. Er besaß aber die Willenskraft nicht, sie fortzulegen. Auch ging der schwache Duft mit ihm und tat ihm wohl. Im gleichmäßigen Auf und Ab stellte er fest: Mein Herz klopft. Ich erinnere mich nicht mehr, wann mir das Herz zum letzten Male so fühlbar geklopft hat. Dieses Warten erregt mich sehr. – Er stellte ferner fest: Ich habe nicht einen einzigen Gedanken im Kopf. Dieses Warten füllt mich ganz aus. Es ist mir nicht klar, wie ich beginnen werde. Ich weiß nicht einmal, wie ich Vera ansprechen soll. – Und endlich: Sie läßt mich sehr lange warten. Kein Minister läßt mich so lange warten. Es ist schon mindestens zwanzig Minuten, daß ich in diesem abscheulichen Salon hin- und herrenne. Ich werde aber keinesfalls auf die Uhr schauen, damit es mir unbekannt bleibe, wie lange ich schon warte. Es ist natürlich Veras gutes Recht, mich warten zu lassen, so lange es ihr richtig scheint. Wahrhaftig, eine winzige Strafe. Ich darf’s mir gar nicht vorstellen, wie sie auf mich gewartet hat, in Heidelberg, Wochen, Monate, Jahre Er unterbrach seinen Rundgang nicht. In der Halle pochte die Tanzmusik. Leonidas fuhr zusammen: Auch das noch! Am besten wär’s, sie käme überhaupt nicht. Ich würde ruhig eine volle Stunde hier warten, auch zwei Stunden und dann weggehen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hätte das meinige getan und müßte mir keine Vorwürfe mehr machen. Hoffentlich kommt sie nicht. Es dürfte ja auch für sie keine geringe Unannehmlichkeit sein, mich wiederzusehen. Mir ist zumute, wie vor einer schweren Prüfung oder gar vor einer Operation So, jetzt ist sicher eine halbe Stunde vorüber. Ich nehme an, daß sie das Hotel verlassen hat, um mir nicht zu begegnen. Nun, ich warte meine Stunde aus. Dieses Jazz-Geräusch ist übrigens gar nicht so störend. Es scheint die Zeit zu beschleunigen. Und dunkel wird’s auch Der dritte Tanz war draußen im Gange, als die kleine zierliche Dame unversehens im Salon stand:
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„Ich mußte Sie etwas warten lassen“, sagte Vera Wormser, ohne diesen Satz durch eine Entschuldigung zu begründen, und reichte ihm die Hand. Leonidas küßte die sehr gebrechliche Hand im schwarzen Handschuh, lächelte begeistert mokant und begann auf den Zehenspitzen zu wippen: „Aber bitte“, näselte er, „das macht gar nichts Ich habe mich heut eigens “ Und er fügte zaghaft hinzu: „Gnädigste “ Damit übergab er ihr den Strauß, ohne ihn aus dem Papier gewickelt zu haben. Mit gelassenem Griff befreite sie die Teerosen. Sie tat es aufmerksam und ließ sich Zeit. Dann sah sie sich in diesem fremden häßlichen Raum nach einem Gefäß um, fand sogleich eine Vase, ein Krug mit Trinkwasser stand auf einem der Spieltische, sie füllte die Vase vorsichtig und steckte, eine nach der andern, die Rosen hinein. Das Gelb flammte im Zwielicht. Die Frau sagte nichts. Die kleine Arbeit schien sie völlig auszufüllen. Ihre Bewegungen waren von innen her gesammelt, wie es bei Kurzsichtigen der Fall zu sein pflegt. Sie trug die Vase mit den sanften Rosen zur Sitzgarnitur beim Fenster, stellte sie auf das runde Tischchen und ließ sich, mit dem Rücken gegen das Licht, in einer Sofaecke nieder. Das Zimmer war verändert. Auch Leonidas setzte sich, nachdem er vorher mit einer ziemlich sinnlosen (korpsstudentischen) Verbeugung um Erlaubnis gebeten hatte. Unglücklicherweise blendete ihn der weißliche Nebelschein des späten Tages im Fenster. „Gnädige haben gewünscht “ begann er mit einem Ton, vor dem ihm selbst ekelte, „ich bekam erst heute früh den Brief und bin sofort und habe sofort Selbstverständlich steh ich voll und ganz zur Verfügung “ Es verging erst eine kleine Weile, ehe die Antwort aus der Sofaecke kam. Die Stimme war noch immer hell, noch immer kindlich und auch den abweisenden Klang schien sie behalten zu haben: „Sie hätten sich nicht persönlich bemühen müssen, Herr Sektionschef“, sagte Vera Wormser, „ich hab’s gar nicht erwartet Ein telephonischer Anruf hätte genügt “ Leonidas machte eine teils bedauernde, teils erschrockene Handbewegung, als wollte er sagen, seine Pflicht geböte ihm, für die Gnädigste unter allen Umständen weit größere Strecken zurückzulegen als jene vom Ministerium für Kultus und Unterricht am Minoritenplatz zum Parkhotel in Hietzing. Hier hatte die durchaus nicht lebhafte Konversation einen Einschnitt und Veras Gesicht seine erste Station erreicht. Damit aber verhielt es sich folgendermaßen. Nicht nur das Erinnerungsbild der Geliebten war in Leonidas seit Jahren verstört, auch seine stark astigmatischen Augen spiegelten in trüben Räumen und zumal in erregten Minuten das Gesehene anfangs nur in verschwommenen Flächen
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wider. Bisher hatte also Vera noch kein Gesicht gehabt, sondern nur ihre zierliche Gestalt in einem grauen Reisekostüm, von dem sich eine lila Seidenbluse und eine Halskette aus goldbraunen Ambrakugeln ungenau abhob. So zierlich mädchenhaft diese Gestalt auch war, so erschien sie eben doch nur „mädchenhaft“, gehörte aber einer zarten Person unbestimmten Alters an, in der Leonidas die Geliebte von Heidelberg nicht wiedererkannt hätte. Jetzt erst begann Veras Gesicht die leere helle Fläche zu durchdringen, und zwar wie aus weiter Ferne her. Jemand schien an der Schraube eines Feldstechers unkundig hin und her zu drehen, um ein entlegenes Ziel in die schärfere Einstellung zu bekommen. So etwa war’s. Zuerst trat das Haar in die noch immer trübe Linse, das nachtschwarze Haar, glatt anliegend und in der Mitte gescheitelt. (Waren das graue Fäden und Strähnen, die es durchzogen, wenn man den Blick darauf ruhen ließ?) Dann brachen die Augen durch, diese kornblumentiefe Farbe, von langen Wimpern beschattet wie einst. Ernst, forschend und erstaunt blieben sie auf Leonidas gerichtet. Der ziemlich große Mund hatte einen strengen Ausdruck, wie man ihn an Frauen bemerkt, die schon lange einen Beruf ausüben und deren geschultes Denken selten durch untergeordnete Phantasien durchkreuzt wird. Welch ein Gegensatz zu der schmollenden Fülle, die Amelies Lippen so oft anzunehmen verstanden. Leonidas erkannte plötzlich, daß Vera sich für ihn nicht schön gemacht hatte. Sie hatte die Zeit, die sie ihn warten ließ, nicht dazu benützt, sich „herzurichten“. Ihre Augenbrauen waren nicht ausgezupft und nachgezogen (oh, Amelie), ihre Lider nicht mit blauer Tusche verdunkelt, ihre Wangen nicht geschminkt. Vielleicht war einzig ihr Mund mit dem Lippenstift ein wenig in Berührung gekommen. Was hatte sie getan in der Stunde seines Wartens? Wahrscheinlich, so dachte er, aus dem Fenster gestarrt Veras Gesicht war nun fertig, und doch, Leonidas erkannte noch immer nicht das verwehrte Bild. Dieses Gesicht glich nur einer ungefähren Reproduktion, einer Übersetzung des verlorenen Antlitzes in die Fremdsprache einer anderen Wirklichkeit. Vera schwieg gelassen und hartnäckig. Er aber, alles eher als gelassen, bemühte sich bei der Fortsetzung der „Konversation“ das zu finden, was er sonst den ‘entsprechenden Ton’ nannte. Er fand ihn nicht. Welcher Ton auch hätte einer solchen Begegnung entsprechen können? Mit Entsetzen hörte er sich wiederum näseln und völlig unecht einen landesüblichen Grandseigneur nachahmen, der mit impertinenter Sicherheit sich der peinlichsten Lage gewachsen zeigt: „Gnädigste werden hoffentlich jetzt längere Zeit bei uns bleiben “ Nach diesen Worten sah ihn Vera noch um einen Schatten verwunderter an. Jetzt kann sie es nicht fassen, daß sie jemals auf so ein plattes Subjekt herein-
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gefallen ist, wie ich es bin. Ihre Gegenwart hat von jeher meine Schwächen herausgefordert. Seine Hände wurden kalt vor Mißbehagen. Sie entgegnete: „Ich bleibe nur mehr zwei bis drei Tage hier, bis ich alles erledigt hab “ „Oh“, sagte er mit einem fast erschrockenen Klang, „und dann kehren Gnädigste wieder nach Deutschland zurück.“ Er konnte es nicht verhindern, daß in der Kadenz dieser Frage eine Spur von Erleichterung nachtönte. Jetzt sah er zum erstenmal, daß die klare elfenbeinerne Stirn der Dame voll von geraden Falten war. „Nein! Ganz im Gegenteil, Herr Sektionschef“, gab sie zurück, „ich gehe nicht wieder nach Deutschland “ Etwas in ihm erkannte nun ihre Stimme, die schnippisch unerbittliche Stimme der Fünfzehnjährigen am Vatertisch. Er machte eine um Entschuldigung bittende Geste, als sei ihm ein unverzeihlicher Schnitzer unterlaufen: „Pardon, Gnädige, ich verstehe. Es muß jetzt nicht besonders angenehm sein, in Deutschland zu leben “ „Warum? Für die meisten Deutschen ist es sehr angenehm“, stellte sie kühl fest, „nur für unsereins nicht “ Leonidas nahm einen patriotischen Anlauf. „Da sollten Gnädigste doch daran denken, in die alte Heimat zu übersiedeln Bei uns beginnt sich jetzt manches zu rühren “ Die Dame schien andrer Meinung zu sein. Sie lehnte ab: „Nein, Herr Sektionschef. Ich bin zwar nur kurze Zeit hier und maße mir kein Urteil an. Aber endlich möchte auch unsereins freie und reine Luft atmen “ Also da wäre er wieder, der alte Hochmut dieser Leute, die empörende Überheblichkeit. Selbst dann, wenn man sie in den Keller gesperrt hat, tun sie so, als würden sie vom siebenten Stockwerk auf uns herunterblicken. Gewachsen sind ihnen wirklich nur die primitiven Barbaren, die mit ihnen nicht diskutieren, sondern sie ohne viel Federlesens niederknüppeln. Ich sollte heute noch Spittelberger aufsuchen und ihm den Abraham Bloch opfern. Freie und reine Luft. Sie ist geradezu undankbar gegen mich. Leonidas empfand die mißbilligende und ärgerliche Regung seines Herzens als Wohltat. Sie entlastete ihn ein wenig. Zugleich aber hatte das Antlitz der Dame in der Sofaecke eine neue Station erreicht, und zwar die endgültige. Nun war’s keine Reproduktion mehr oder Übersetzung, sondern das Original selbst, wenn auch verschärft und nachgedunkelt. Und siehe, es bewahrte noch immer jenes herbe Licht der
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Reinheit und Fremdartigkeit, das einst den armen Hauslehrer und später den jungen Ehemann einer andern um den Verstand gebracht hatte. Reinheit? Kein Gedanke hinter dieser weißen Stirn, man fühlte es, war nicht übereingestimmt mit dem ganzen Wesen. Nur noch härter und wunschloser als einst trat sie zutage. Fremdartigkeit? Wer konnte sie ausdrücken? Die Fremdartigkeit war noch fremdartiger geworden, wenn auch weniger hold. Die Tanzmusik grölte von neuem auf. Leonidas mußte seine Stimme erheben. Ein sonderbarer Zwang formte seine Worte. Sie klangen trocken und gespreizt, zum Aus-derHaut-Fahren: „Und wohin wollen Gnädigste den Wohnsitz verlegen?“ Bei ihrer Antwort schien Vera Wormser tief aufzuatmen: „Übermorgen bin ich in Paris und am Freitag geht mein Schiff von Le Havre “ „Gnädige reisen also nach New York“, sagte Leonidas ohne Fragezeichen und nickte zustimmend, ja belobend. Sie lächelte schwach, als amüsiere es sie, daß sie auch heute sattsam zum Widerspruch komme, denn bisher hatte sie fast jede ihrer Erwiderungen mit einem „Nein“ einleiten müssen. „Oh, nein! New York? Gott behüte, das ist nicht so einfach. So hoch will ich gar nicht hinaus. Ich gehe nach Montevideo “ „Montevideo“, strahlte Leonidas mit albernem Ton, „das ist ja entsetzlich weit “ „Weit von wo?“ fragte Vera ruhig. Sie zitierte damit die melancholische Scherzfrage der Exilierten, die ihren geographischen Schwerpunkt verloren haben. „Ich bin ein eingefleischter Wiener“, gestand Leonidas, „was sag ich, ein eingefleischter Hietzinger. Für mich wär’s schon ein schwerer Entschluß, in einen anderen Bezirk zu übersiedeln. Ein Leben dort unten am Äquator? Ich wär todunglücklich, trotz aller Kolibris und Orchideen “ Das Frauengesicht im Zwielicht wurde noch um einen Grad ernster: „Und ich bin sehr glücklich, daß man mir in Montevideo eine Lehrstelle angetragen hat. An einem großen College dort. Viele beneiden mich. Unsereins muß hoch zufrieden sein, wenn er irgendwo Zuflucht findet und sogar eine Arbeit Aber all das ist für Sie ja gar nicht interessant “
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„Nicht interessant“, fiel er ihr erschrocken ins Wort. „Nichts auf der Welt ist interessanter für mich “ Und er schloß leise: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich Sie bewundere “ Das ist diesmal keine Lüge. Ich bewundere sie wirklich. Sie hat den großartigen Lebensmut und die abscheuliche Ungebundenheit ihrer Rasse. Was wäre aus mir geworden an ihrer Seite? Vielleicht wär tatsächlich was geworden aus mir. Jedenfalls etwas ganz und gar andres als ein Sektionschef knapp vor der Pensionierung. Vertragen aber hätten wir uns keine einzige Stunde. – Seine Betroffenheit wurde immer größer. Plötzlich drängte sich in den Raum ein hellerer anderer. Das Zimmer, das sie in Bingen am Rhein bewohnt hatten. – Alles steht an seinem Platz, meiner Treu, ich sehe den altertümlichen Kachelofen. – Es war, als fielen ihm die Schuppen von den Augen der Erinnerung. „Was ist da zu bewundern“, hatte Vera ungehalten gefragt. „Ich mein, Sie lassen doch alles zurück, hier in der Alten Welt, wo Sie geboren sind, wo Sie Ihr ganzes Leben zugebracht haben “ „Ich lasse gar nichts zurück“, erwiderte sie trocken. „Ich stehe allein, ich bin zum Glück nicht verheiratet “ War das eine neue Last auf der Waagschale? Nein! Leonidas empfand dieses „Ich bin nicht verheiratet“ als einen leisen Triumph, der ihm wohlig die Adern durchprickelte. Er lehnte sich weit zurück. Länger durfte man nicht mehr Konversation machen. Die Worte kamen ein wenig stockend von seinen Lippen: „Ich glaubte, Sie hätten für jenen jungen Mann zu sorgen So wenigstens hab ich Ihren Brief verstanden “ Vera Wormser belebte sich jäh. Sie änderte ihre Haltung. Sie beugte sich vor. Ihm war’s, als ob ihre Stimme errötete: „Wenn es möglich wäre, daß Sie mir in diesem Falle helfen, Herr Sektionschef “ Leonidas schwieg recht lange, ehe es ohne jedes Bewußtsein warm und tief aus ihm hervordrang: „Aber Vera, das ist doch selbstverständlich “ „Nichts auf der Welt ist selbstverständlich“, sagte sie und begann ihre Handschuhe auszuziehen. Es war wie ein sanftes Entgegenkommen, wie der gutwillige Versuch, ein übriges zu tun und mit ein wenig mehr von sich selbst anwesend zu sein. Und nun sah Leonidas die kleinen überzarten Hände, diese vertrauensvollen Partner des einstigen Hand-in-Hand. Die Haut war ein biß-
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chen gelblich und die Adern traten hervor. Auf keinem Finger ein Ring. Die Stimme des Mannes vibrierte: „Es ist hundertmal selbstverständlich, Vera, daß ich Ihren Wunsch erfülle, daß ich den jungen Mann auf dem besten Gymnasium hier unterbringe, bei den Schotten, wenn’s Ihnen recht ist, das Semester hat kaum begonnen, er wird schon übermorgen in die Abiturientenklasse eintreten können. Ich werde mich um ihn kümmern, ich werde sorgen für ihn, so gut ich kann “ Ihr Gesicht kam noch näher. Die Augen leuchteten: „Wollen Sie das wirklich tun? Ach, dann fällt mir’s noch viel leichter, Europa zu verlassen “ Sein sonst so wohlgeordnetes Gesicht war ganz auseinandergefallen. Er hatte flehende Hundeaugen: „Warum beschämen Sie mich, Vera! Merken Sie nicht, wie es in mir aussieht “ Er schob seine Hand an die ihre heran, die auf dem Tisch lag, wagte es aber nicht, sie zu berühren: „Wann werden Sie mir den Jungen schicken? Erzählen Sie etwas von ihm! Sagen Sie, wie heißt er mit dem Vornamen “ Vera sah ihn groß an: „Er heißt Emanuel“, sagte sie zögernd. „Emanuel? Emanuel? Hat nicht Ihr seliger Herr Papa Emanuel geheißen? Es ist ein schöner und nicht abgegriffener Name. Ich erwarte Emanuel morgen um halb elf Uhr bei mir, das heißt natürlich im Ministerium. Es wird nicht ohne Konflikt abgehen. Es wird sogar die schwersten Konflikte geben. Ich aber bin bereit, sie auf mich zu nehmen, Vera. Ich bin zu den einschneidendsten Entschlüssen bereit “ Sie schien plötzlich wieder kühl zu werden und sich zurückzuziehen: „Ja, ich weiß“, sagte sie, „man hat mir schon von diesen Schwierigkeiten berichtet, die sich in Wien sogar einer so hohen Protektion heute in den Weg stellen “ Er hatte nicht recht hingehört. Seine Finger waren ineinander verkrampft: „Denken Sie nicht an diese Schwierigkeiten! Sie haben zwar keinen Grund, meinen Schwüren zu glauben, aber ich gebe Ihnen mein Wort, die Sache wird geregelt werden “
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„Es liegt doch ganz in Ihrer Macht, Herr Sektionschef “ Leonidas senkte seine Stimme, als wünsche er Geheimnisse zu erfahren: „Erzählen Sie, erzählen Sie mir von Emanuel, Vera! Er ist hochbegabt. Das kann ja nicht anders sein. Worin liegt seine Stärke?“ „In den Naturwissenschaften, glaub ich “ „Das hätte ich mir denken können. Ihr Vater war ja ein großer Naturwissenschaftler. Und wie ist Emanuel sonst, ich meine, äußerlich, wie sieht er aus? “ „Er sieht nicht so aus“, erwiderte Fräulein Wormser mit einer gewissen Schroffheit, „daß er Ihrer Protektion Schande machen wird, wie Sie vielleicht fürchten “ Leonidas blickte sie verständnislos an. Er hielt die Faust gegen die Magengrube gepreßt, als könne er dadurch seine Erregung bemeistern: „Ich hoffe“, stieß er hervor, „daß er Ihnen ähnlich sieht, Vera!“ Ihre Blicke füllten sich langsam mit einem begreifenden Vergnügen. Sie zog die Ungewißheit hinaus: „Warum soll Emanuel gerade mir ähnlich sehen?“ Leonidas war so bewegt, daß er flüsterte: „Ich war von jeher überzeugt, daß er Ihr Ebenbild ist “ Nachdem sie eine lange Pause ausgekostet hatte, sagte Vera endlich: „Emanuel ist der Sohn meiner besten Freundin “ „Der Sohn Ihrer besten Freundin“, stotterte Leonidas, ehe er’s noch erfaßte. Draußen die Musik begann einen schlenkernden Rumba, überlaut. Auf Veras Zügen breitete sich eine erschreckende Härte aus: „Meine Freundin“, sagte sie und man merkte, daß sie sich zur Ruhe zwang, „meine beste Freundin ist vor einem Monat gestorben. Sie hat ihren Mann, einen der bedeutendsten Physiker, nur um neun Wochen überlebt. Man hat ihn zu Tode gemartert. Emanuel ist das einzige Kind. Er wurde mir anvertraut “ „Das ist ja grauenhaft, ganz grauenhaft“, brach Leonidas das kurze Schweigen. Er spürte aber keinen Anhauch dieses Grauens. Sein Wesen füllte sich vielmehr mit Staunen, mit Erkenntnis und schließlich mit unbeschreiblicher Erleichterung: Ich habe kein Kind mit Vera. Ich habe keinen siebzehnjährigen Sohn, den ich vor Amelie und vor Gott verantworten muß. Dank dir, gütiger Himmel! Alles bleibt beim alten. All meine Angst, all mein Leiden heute waren pure Geisterseherei. Ich bin nach achtzehn Jahren einer betrogenen Geliebten wiederbegegnet. Weiter nichts! Eine schwierige Situation, teils pein-
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lich, teils melancholisch. Aber von einer unsühnbaren Schuld zu sprechen, das wäre übertrieben, hoher Gerichtshof! Unter Männern, ich bin kein Don Juan, es ist die einzige derartige Geschichte in einem sonst ziemlich untadeligen Leben. Wer wirft den ersten Stein auf mich? Vera selbst denkt nicht mehr daran, diese moderne, selbständige, radikal freisinnige Frau, die mitten im tätigen Leben steht und heilsfroh ist, daß ich sie damals nicht zu mir geholt habe „Grauenhaft, was alles geschieht“, sagte er noch einmal, aber es klang fast wie Jubel. Er sprang auf, beugte sich über Veras Hand und drückte mit brennenden Lippen einen langen Kuß auf sie. Er war auf einmal voll tönender Beredsamkeit: „Ich gebe Ihnen mein heiliges Versprechen, Vera, der Sohn Ihrer armen Freundin wird von mir gehalten werden wie Ihr eigener Sohn, wie mein eigener Sohn. Danken Sie mir nicht. Ich habe Ihnen zu danken. Sie machen mir das großmütigste Geschenk “ Vera hatte ihm nicht gedankt. Sie hatte kein Wort gesprochen. Sie stand in verabschiedender Haltung da, als wolle sie es verhüten, daß dieses Gespräch eine heilige Grenze überschreite. Es war schon recht dunkel in dem vollgestopften Salon. Die Ungeheuer der Möbel zerschmolzen zu formlosen Massen. Den unechten Regen-Dämmerungen dieses Oktobertages war die echte Dämmerung des Abends gefolgt. Nur die Teerosen strahlten noch immer ein stetiges Licht aus. Leonidas fühlte, es wäre am geschicktesten, sich jetzt davonzumachen. Alles Sagbare war ja gesagt. Jeder weitere Schritt mußte auf moralisches Rutschgebiet führen. Veras steife fremde Haltung verbot die geringste sentimentale Anspielung. Der einfachste „Takt“ erforderte es, sich unverzüglich loszulösen und ohne jeden schweren Ton zu empfehlen. Da die Frau jene Episode aus ihrem Leben gestrichen hatte, warum sollte er selbst auf sie zurückkommen? Er sollte sich im Gegenteil freuen, daß die gefürchtete Stunde so glimpflich verlaufen war, und rasch einen würdigen Abschluß suchen. Doch vergeblich warnte Leonidas sich selbst. Allzusehr war er aufgewühlt. Das Glück, sich von jedem Lebenskonflikt befreit zu wissen, durchströmte ihn wie Genesung, wie Verjüngung. Nicht mehr sah er die kleine zierliche Dame seiner Gewissensqual vor sich, die Wiedergefundene einer alten Schuld, sondern eine Vera voll Gegenwart, die er nicht mehr fürchtete. Da von ihm der Zwang gewichen war, sein Leben zu ändern, schoß in seine Nerven die spielerische Überlegenheit zurück, die er am Morgen verloren hatte. Und mit ihr eine kurzatmige, aber verrückte Zärtlichkeit für dieses Weib, das wie eine Geistererscheinung aufgetaucht war, um für ewig aus seinem Schuldgefühl zu entschwinden, ernst, edel und ohne den leisesten Anspruch. Er packte ihre gewichtslosen Hände und drückte sie gegen seine Brust. Ihm war,
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als knüpfe er jetzt sein Erlebnis dort an, wo er es vor achtzehn Jahren so schnöde abgebrochen hatte: „Vera, liebste liebste Vera“, stöhnte er, „ich stehe schlimm vor Ihnen da. Worte, die das ausdrücken, gibt’s nicht. Haben Sie mir verziehen? Konnten Sie verzeihen? Können Sie verzeihen?“ Vera sah zur Seite, indem sie den Kopf kaum merkbar abwandte. Wie lebte diese kleine abweisende Drehung in seiner Seele! Unbegreiflich, nichts war verloren. Alles ging in mystischer Gleichzeitigkeit vor sich. Ihr Profil war für ihn eine Offenbarung. Die Tochter Doktor Wormsers, das Mädchen von Heidelberg, hier stand es leibhaftig, nicht mehr vom Gedächtnis verwischt. Und die graue Strähne, der verzichtende Mund, die Falten auf der Stirn, sie erhöhten bittersüß die flüchtige Entzückung: „Verzeihen“, nahm Vera seine Frage auf, „das ist ein phrasenhaftes Wort. Ich mag’s nicht. Was man zu bedauern hat, das kann man doch nur sich selbst verzeihen “ „Ja, Vera, das ist hundertmal wahr! Wenn ich Sie so sprechen höre, dann erst weiß ich, was für ein einzigartiges Geschöpf Sie sind. Wie recht haben Sie getan, nicht zu heiraten. Vera, die Wahrhaftigkeit selbst ist zu gut zur Ehe. Jeder Mann hätte an Ihnen zum Lügner werden müssen, nicht nur ich “ Leonidas fühlte in sich die Lust männlicher Unwiderstehlichkeit. Er hätte jetzt den Mut gehabt, Vera an sich zu reißen. Er zog es aber vor, zu klagen: „Ich habe mir nie verziehen und werde mir nie verzeihen, nie, nie “ Eh er’s aber noch ausgesprochen, hatte er sich’s verziehn, für einst und immer und die Schuld von der Tafel des Gewissens gelöscht. Deshalb klang diese Behauptung so freudig. Fräulein Wormser entzog ihm mit einer leichten Bewegung ihre Hände. Sie nahm ihr Täschchen und die Handschuhe vom Tisch: „Ich werde jetzt gehen müssen“, sagte sie. „Bleiben Sie noch ein paar Minuten, Vera“, flüsterte er, „wir werden uns in diesem Leben nicht wiedersehen. Schenken Sie mir zu allem noch einen guten Abschied, damit ich mich an ihn erinnern kann wie ein völlig Begnadigter “ Sie sah noch immer zur Seite, hielt aber im Zuknöpfen ihrer Handschuhe inne. Er setzte sich auf die Armstütze eines Fauteuils, so daß er sein Gesicht zu dem ihren empordrehen mußte und ihm näher kam als bisher: „Wissen Sie, liebste liebste Vera, daß seit achtzehn Jahren kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht stumm wie ein Hund gelitten habe Ihretwegen und meinetwegen “
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Dieses Geständnis hatte nichts mehr mit Wahrheit und Unwahrheit zu tun. Es war nichts andres als die schwingende Melodie der Erlösung und köstlichen Wehmut, die ihn erfüllten, ohne sich zu durchkreuzen. Obwohl er ihrem Antlitz so nahe war, nahm er keine Notiz davon, wie blaß, wie müde Vera plötzlich aussah. Die Handschuhe waren zugeknöpft. Sie hielt das Täschchen schon unterm Arm: „Wär’s nicht besser“, sagte sie, „jetzt auseinanderzugehen?“ Leonidas aber ließ sich nicht unterbrechen: „Wissen Sie, Liebste, daß ich mich heute den ganzen Tag, Stunde für Stunde mit Ihnen beschäftigt habe. Sie waren mein einziger Gedanke seit diesem Morgen. Und wissen Sie, daß ich noch bis vor wenigen Minuten fest davon überzeugt war, daß Emanuel Ihr und mein Sohn ist. Und wissen Sie auch, daß ich wegen dieses Emanuel nahe, sehr nahe daran war, in Pension zu gehen, von meiner Frau die Scheidung zu verlangen, unser entzückendes Haus zu verlassen und knapp vor Torschluß ein neues hartes Leben zu beginnen? “ In der Antwort der Frau klang zum erstenmal der alte echte Spott auf, jedoch wie vom Rande einer tiefen Erschöpfung: „Wie gut, daß Sie nur nahe daran waren, Herr Sektionschef “ Leonidas konnte sich selbst nicht mehr Einhalt gebieten. Gierig brach sie hervor aus ihm, die Beichte: „Seit achtzehn Jahren, Vera, seit der Stunde, wo ich Ihnen zum letztenmal die Hand aus dem Coupéfenster hinunterreichte, war die unabänderliche Überzeugung in mir, daß etwas geschehen ist, daß wir ein Kind miteinander haben. Manchmal war diese Überzeugung ganz stark, lange Zeiten hindurch wieder schwächer, und dann und wann nur wie ein Feuer unter der Asche. Sie aber hat mich mit Ihnen unzertrennbarer verbunden, als Sie es je ahnen können. Durch meine treulose Feigheit war ich mit Ihnen verbunden, wenn sie mich auch gehindert hat, Sie zu suchen und zu finden. Sie, Vera, haben gewiß seit Jahren nicht mehr an mich gedacht. Ich aber habe fast täglich an Sie gedacht, wenn auch in Angst und mit Gewissensbissen. Meine Treulosigkeit war die größte Trauer meines Lebens. Ich habe in einer sonderbaren Gemeinschaft mit Ihnen gelebt, endlich kann ich es bekennen. Wissen Sie, daß ich heute früh aus Feigheit beinahe Ihren Brief ungelesen zerrissen hätte, so wie ich damals in Sankt Gilgen Ihren Brief ungelesen zerrissen hab “ Kaum war’s heraus, erstarrte Leonidas. Ohne es zu wollen, hatte er sich bis tief auf den Grundschlamm entblößt. Ein jähes Schamgefühl strich ihm wie eine Bürste über den Nacken. Warum war er nicht beizeiten gegangen? Welcher
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Teufel hatte ihn zu dieser Beichte aufgestachelt? Seine Blicke waren aufs Fenster gerichtet, hinter dem die Bogenlampen aufzischten. Es nieselte wieder. Der Mückentanz der winzigen Regentropfen kreiste um die Lichtkugeln. Fräulein Vera Wormser stand unbewegt da. Es war ganz dunkel. Ihr Gesicht war nur mehr ein fahler Schein. Leonidas fühlte die erloschene Gestalt, von der er abgewendet stand, als etwas Priesterinnenhaftes. Die Stimme aber, sachlich und kühl, wie von Anfang an, schien sich entfernt zu haben: „Das war sehr praktisch von Ihnen, damals“, sagte sie, „meinen Brief nicht zu lesen. Ich hätte ihn gar nicht schreiben dürfen. Aber ich war ganz allein und ohne Hilfe in den Tagen, als das Kind starb “ Leonidas wandte den Kopf nicht. Sein Körper war plötzlich wie aus Holz. Das Wort „Genickstarre“ wuchs in ihm auf. Ja, genau in jenem Jahr hatte die Epidemie so viele Kinder im Salzburgischen hingerafft. Das Ereignis hatte sich, unbekannt warum, seinem Gedächtnis eingegraben. Obwohl er aus Holz war, begannen seine Augen zu weinen. Er fühlte aber keinen Schmerz, sondern eine Verlegenheit ganz fremder Art und noch etwas Unerklärliches, das ihn zwang, einen Schritt zum Fenster zu machen. Dadurch entfernte sich die klare Stimme noch mehr. „Es war ein kleiner Junge“, sagte Vera, „zwei und ein halbes Jahr alt. Er hieß Joseph, nach meinem Vater. Leider habe ich jetzt von ihm gesprochen. Und ich hatte mir fest vorgenommen, nicht von ihm zu sprechen, nicht mit Ihnen! Denn Sie haben kein Recht “ Der Mensch aus Holz starrte durchs Fenster. Er glaubte, nichts zu empfinden als das hohle Verrinnen der Sekunden. Er sah tief in die Erde des Dorfkirchhofs von Sankt Gilgen hinein. Einsamer schwerer Bergherbst. Dort lagen auseinandergestreut im schwarzen nassen Moder die Knöchelchen, die aus ihm kamen. Bis zum Jüngsten Gericht. Er wollte irgend etwas sagen. Zum Beispiel: „Vera, ich habe nur Sie geliebt!“ Oder: „Würden Sie es noch einmal mit mir versuchen?“ Es war lächerlich alles, stumpfsinnig und verlogen. Er sagte kein Wort. Seine Augen brannten. Als er sich dann, viel später, umdrehte, war Vera bereits gegangen. Nichts war im finsteren Raum von ihr zurückgeblieben. Nur die achtzehn sanften Teerosen, die auf dem Tisch standen, bewahrten noch immer einen Rest ihres Lichtes. Der Duft, durch die Dunkelheit ermutigt, schwebte in runden, leise fauligen Wellen empor, stärker als früher. Leonidas litt darunter, daß Vera seine Rosen vergessen oder verschmäht hatte. Er hob die Vase vom Tisch, um sie zum Portier zu tragen. An der Tür des Salons aber überlegte er sich’s und stellte die Totenblumen wieder in die vollkommene Finsternis zurück.
Siebentes Kapitel Im Schlaf Leonidas steht in der Opernloge hinter Amelie. Er neigt sich über ihr Haar, das dank der langen Qual unterm Nickelhelm des Coiffeurs jetzt wie eine unstoffliche Wolke, wie ein dunkelgoldner Dunst ihren Kopf umgibt. Amelies glorreicher Rücken und ihre makellosen Arme sind nackt. Nur schmale Achselbänder halten den weichen, seegrünen Velours ihres Kleides, das sie heute zum erstenmal trägt. Ein sehr kostbares Pariser Modell. Amelie ist infolgedessen feierlich gestimmt. In der Pracht ihres Selbstgefühls nimmt sie an, auch León sei, angesichts ihrer leuchtenden Erscheinung, feierlich gestimmt. Sie streift ihn mit einem Blick und sieht einen eleganten Mann, der über der blendenden Frackbrust ein zerknittertes und graues Gesicht aufgeschraubt trägt. Ein flüchtiger Schatten von Schreck fällt auf sie. Was hat sich da ereignet? Ist zwischen Lunch und Oper aus dem ewig jungen Tänzer ein vornehmer älterer Herr geworden, dessen zwinkernde Augen und herabgezogene Mundwinkel die Lebensmüdigkeit des Abends kaum unterdrücken können? „Hast du dich sehr geplagt heut, armer Kerl“, fragt Amelie und ist schon wieder zerstreut. Leonidas arbeitet fleißig an seinem begeistert-mokanten Lächeln, ohne es ganz zustande zu bringen: „Nicht der Rede wert, lieber Schatz! Eine einzige Konferenz. Ich hab den ganzen Nachmittag sonst gefaulenzt “ Sie berührte ihn liebkosend mit ihrem marmorblanken Rücken: „Hat dich mein blödsinniges Gerede aus der Fassung gebracht? Bin ich schuld? Du hast recht, León. Alles Unheil kommt von diesem Hungern. Aber sag, was soll ich tun, mit neununddreißig bald, wenn ich nicht mit einem wunderschönen Doppelkinn, einer gepolsterten Krupp und zwei Klavierbeinen durchs Leben wackeln will? Du würdest dich bedanken, du Schönheitsfanatiker! Schon jetzt, sag’s nicht weiter, kann ich ein Modell ohne kleine Änderungen kaum mehr tragen. Ich hab nicht das Glück, so ein hageres Gliederpüppchen zu sein wie deine Anita Hojos. Wie ungerecht seid ihr Männer. Hättest du dich seelisch mehr mit mir beschäftigt, wär ich nicht solch eine hemmungslose Kanaille geblieben, sondern wäre auch so taktvoll und feinfühlig und entzükkend verschämt geworden, wie du es bist “ Leonidas macht eine kleine wegwerfende Handbewegung:
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„Mach dir keine Sorgen deswegen! Ein guter Beichtvater vergißt die Sünden seines Beichtkindes “ „Also, das ist mir auch nicht recht, daß du meine ehrlichen Leiden so schnell vergißt“, schmollt sie, wendet sich aber schon wieder ab, das Opernglas an die Augen führend: „Was für ein schönes Haus heute!“ Es ist wirklich ein schönes Haus. Alles, was Rang und Namen besitzt, hat sich an diesem Abend in der Oper versammelt. Ein hoher Würdenträger des Auslandes wird erwartet. Zugleich nimmt eine gefeierte Sängerin vor ihrem amerikanischen Urlaub Abschied vom Publikum. Amelie wirft unermüdlich das Netz ihres grüßenden Lächelns aus und zieht es ebenso unermüdlich ein, triefend vom Licht der Erwiderung. Wie Helena auf den Zinnen Trojas zählt sie die Namen der versammelten Persönlichkeiten auf, in einer erregten Teichoskopie des Snobismus: „Die Chvietickys, Parterreloge No. 3, die Prinzessin hat schon das zweitemal herübergegrüßt, warum antwortest du nicht, León? Daneben die Bösenbauers, wir haben uns sehr schlecht benommen gegen sie, wir müssen sie noch in diesem Monat einladen, Bridgepartie en petit comité, ich bitte, sei besonders liebenswürdig. Jetzt schaut auch der englische Gesandte herüber, ich glaube, León, du mußt es zur Kenntnis nehmen. In der Regierungsloge sitzt schon dieser unmögliche Koloß, das Weib vom Spittelberger, ich glaub, sie hat einen Wolljumper an, was würdest du sagen, wenn ich so aussehen täte, du wärst gar nicht einverstanden, also ehre meinen verborgenen Heldenmut! Die TorreFortezzas winken, wie entzückend die junge Fürstin aussieht, und sie ist geschlagene drei Jahre älter als ich, ich schwör dir’s, du mußt danken, León “ Leonidas dreht sich mit kleinen grinsenden Verbeugungen nach allen Seiten. Er grüßt aufs Geratewohl, wie es die Blinden tun, denen man die Namen der Begegnenden ins Ohr flüstert. So sind diese Paradinis, geht es ihm durch den Kopf, er vergißt aber, daß ihn sonst, nicht anders als Amelie, der erlauchte Namensschwall wohlig durchschauert Immer wieder fordert er sich selbst auf, glücklich zu sein, weil alles so unerwartet, so vortrefflich sich gelöst hat, weil er zu schweren Geständnissen und Entscheidungen nicht mehr verhalten werden kann, kurz, weil sein trübes Geheimnis aus der Welt geschafft und er freier und leichter sein darf als jemals. Leider aber ist er nicht imstande, seiner Einladung zum Glücklichsein Folge zu leisten. Er leidet sogar verstiegenerweise darunter, daß Emanuel nicht sein Sohn ist. Einen Sohn hat er verloren. Oh, wäre Emanuel doch der mittlerweile erwachsene Junge, der kleine Joseph Wormser, der vor achtzehn Jahren in Sankt Gilgen an Genickstarre zugrunde-
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ging! Leonidas kann sich nicht helfen, in seinem Kopf rattert ein Eisenbahnzug. Und in diesem Eisenbahnzug fährt Vera aus einem Land, wo sie nicht atmen kann, in ein Land, wo sie atmen kann. Wer hätte das gedacht, daß in den Ländern, wo diese Überheblichen nicht atmen können, hochentwickelte Menschen wie Emanuels Vater zu Tode gequält werden, mir nichts, dir nichts? Das sind doch erwiesenermaßen Greuelmärchen. Ich glaub’s nicht. Wenn Vera auch die Wahrhaftigkeit selbst ist, ich will es nicht glauben. Aber was ist das? Mir scheint, auch ich kann hier nicht atmen. Wie? Ich, als Erbeingesessener, kann hier nicht atmen? Das möcht ich mir doch ausgebeten haben! Am besten, ich lasse mir nächstens mein Herz untersuchen. Vielleicht schon übermorgen, ganz heimlich, damit Amelie nichts davon erfährt. Nein, verehrter Kollege Skutecky, ich werde nicht zu Herrn Lichtl wallfahrten, zur triumphierenden Mediokrität, sondern sans gêne zu Alexander (Abraham) Bloch. Vorher aber, morgen früh schon, laß ich mich bei Vinzenz Spittelberger melden: Bitte Herrn Minister gehorsamst um Entschuldigung für die gestrigen Diffizilitäten. Ich hab mir die Anregungen des Herrn Ministers ruhig überschlafen. Herr Minister haben wieder einmal das Ei des Kolumbus entdeckt. Hier hab ich gleich den Ordensantrag für Professor Bloch und das Ernennungsdekret für Professor Lichtl mitgebracht. Wir müssen uns endlich auf unsre nationalen Persönlichkeiten besinnen und sie gegen die internationale Reklame durchsetzen. Herr Minister sind doch äußerst expeditiv und werden beim heutigen Kabinettsrat diese Stücke gewiß durch den Herrn Bundeskanzler unterfertigen lassen. – Danke Ihnen, Herr Sektionschef, danke Ihnen! Ich habe nicht einen Moment daran gezweifelt, daß Sie meine einzige Stütze sind hier im Haus. Im Vertrauen, falls ich demnächst ins Kanzleramt übersiedle, nehme ich Sie als Präsidialisten mit. Wegen gestern brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie waren halt ein bißl enerviert durchs Wetter. – Ja, natürlich, das Wetter! Stürmisches Wetter. Leonidas hat den Wetterbericht des Radios im Ohr. Während er sich für die Oper umkleidete, hatte er seinen Apparat eingeschaltet: „Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug.“ Das ist der Grund, warum er nicht atmen kann. Leonidas nickt noch immer mechanisch ins Leere. Er grüßt auf Vorschuß, um Amelie gefällig zu sein. Die Gäste, die man heute ins Theater geladen hat, sind erschienen. Ein Frack und eine schwarz-silberne Robe mit einem Abendmantel wie aus Metall. Die Damen umarmen einander. Leonidas drückt seinen Mund auf eine duftende fette Hand mit einigen braunen Leberflecken. Wo bist du schon, fleischlose Hand, bittersüße Hand mit deinen zerbrechlichen Fingern ohne Ring!? „Gnädige Frau werden jedesmal jünger “
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„Wenn das so weiter geht, Herr Sektionschef, werden Sie mich nächstens als Baby begrüßen dürfen “ „Was gibt es Neues, lieber Freund? Was sagt die hohe Politik?“ „Mit der Politik hab ich Gott sei Dank nichts zu tun. Ich bin ein schlichter Schulmann.“ „Wenn auch du schon geheimnisvoll wirst, teurer Sektionschef, muß es ziemlich schlimm stehen. Ich hoffe nur, daß England und Frankreich mit uns Einsehen haben werden. Und Amerika, vor allem Amerika! Wir sind schließlich das letzte Bollwerk der Kultur in Mitteleuropa “ Diese Worte seines Gastes reizten Leonidas, er weiß selbst nicht warum. „Kultur haben“, sagt er grimmig, „das heißt, anders ausgedrückt, einen Stich haben. Wir alle hier haben einen Stich, weiß Gott. Ich rechne mit keiner Macht, auch mit der größten nicht. Die reichen Amerikaner kommen im Sommer gerne nach Salzburg. Aber Theaterbesucher sind keine Verbündete. Alles hängt davon ab, ob man stark genug ist, sich selbst zu revidieren, eh die große Revision kommt “ Und er seufzt tief auf, weil er sich nicht stark genug weiß und weil das ungegliederte Gesicht des Schwammigen haßvoll vor ihm zu schwanken beginnt. Majestätischer Applaus! Der ausländische Würdenträger, von einheimischen umkränzt, tritt an die Brüstung der Festloge. Der Saal wird dunkel. Der Kapellmeister, vom einsamen Pultlicht angestrahlt, krampft sein Profil entschlossen zusammen und breitet die Schwingen eines riesigen Geiers aus. Nun flattert der Geier, ohne vom Fleck zu kommen, mit regelmäßigen Schlägen über dem unbegründet überschwenglichen Orchester. Die Oper beginnt. Und das hab ich früher einmal doch ganz gern gehabt. Eine ziemlich beleibte Hosenrolle springt aus dem Prunkbett der noch beleibteren Primadonna. Achtzehntes Jahrhundert. Die Primadonna, eine ältere Dame, ist melancholisch. Die Hosenrolle, durch jungenhaftes Geschlenker ihre äußerst weiblichen Formen betonend, bringt auf einem Tablett die Frühstücks-Schokolade. Widerlich, denkt Leonidas. Auf Zehenspitzen zieht er sich in den Hintergrund der Loge zurück. Dort sinkt er auf die rote Plüschbank. Er gähnt inbrünstig. Es ist alles glänzend abgelaufen. Die Sache mit Vera ist endgültig aus der Welt geschafft. Ein unglaubliches Wesen, diese Frau. Sie hat mit keinem Wort insistiert. Wär ich selbst nicht, wieder einmal vom Teufel geritten, sentimental geworden, hätte ich nichts erfahren, nichts, und wir wären in tadelloser Haltung auseinandergegangen. Schade! Mir wär wohler ohne Wahrheit! Kein Mensch kann zwei Leben
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leben. Ich wenigstens hab nicht die Kraft zu dem Doppelleben, das mir Amelie zutraut. Sie hat mich vom ersten Tag an überschätzt, die gute liebe Amelie. Schwamm drüber, es ist zu spät. Ich darf mir auch nie wieder solch taktlose Sentenzen genehmigen, wie die mit der großen Revision. Was für eine Revision, zum Kuckuck! Ich bin weder Heraklit der Dunkle noch ein intellektueller Israelit, sondern ein öffentlicher Funktionär ohne Spruchweisheit. Werd ich es nicht endlich lernen, genau solch ein Esel zu sein wie alle andern?! Man muß schließlich zufrieden sein. Man muß sich das Erreichte immer wieder zu Gemüte führen. In diesem schönen Hause sind die obersten Tausend versammelt, ich aber gehöre zu den obersten Hundert. Ich komme von unten. Ich bin ein Besieger des Lebens. Als mein Vater so früh starb, mußten wir, die Mutter und fünf Geschwister, von zwölfhundert Gulden Pension leben. Als drei Jahre später die arme Mutter starb, war auch die Pension nicht mehr da. Ich bin nicht untergegangen. Wieviele sind auf der Stufe des Hauslehrers bei Wormsers steckengeblieben und haben nicht einmal den kühnen Traum verwirklicht, als Schulmeister eines Provinznestes im Honoratiorenstübchen des Wirtshauses zu sitzen? Und ich!? Es ist doch ausschließlich mein Verdienst, daß ich mit nichts als einem ererbten Frack ein anerkannt reizender junger Mann war und ein famoser Walzertänzer, und daß Amelie Paradini darauf bestanden hat, mich zu heiraten, ausgerechnet mich, und daß ich nicht nur Sektionschef, sondern ein großer Herr bin, und Spittelberger, Skutecky und Konsorten wissen genau, ich bin auf den ganzen Krempel nicht angewiesen, sondern ein nonchalanter Ausnahmefall, und die Chvietickys und die Torre-Fortezzas, ältester Feudalsadel, lächeln herüber und grüßen zuerst und morgen früh im Büro werd ich die Anita Hojos anklingeln und mich zum Tee ansagen. – Eins aber möcht ich wissen, hab ich heut wegen des kleinen Jungen wirklich geweint oder bild ich’s mir nur ein, nachträglich Immer schwerer stülpt sich die Musik über Leonidas. Mit langen hohen Noten fahren die Frauenstimmen gegeneinander. Monotonie der Übertriebenheit! Er schläft ein. Während er aber schläft, weiß er, daß er schläft. Er schläft auf der Parkbank. Ein schwacher Schauer von Oktobersonne besprengt den Rasen. In langen Kolonnen werden Kinderwagen an ihm vorbeigeschoben. In diesen weißen Gefährten, die über den Kies knirschen, schlafen die Folgen der Verursachungen und die Verursachungen der Folgen mit ausgebauchten Säuglingsstirnen, mit vorgewölbten Lippen und geballten Fäustchen ihren tief beschäftigten Kindheitsschlaf. Leonidas spürt, wie sein Gesicht immer trockener wird. Ich hätte mich für die Oper ein zweitesmal rasieren müssen. Das ist nun versäumt. Sein Gesicht ist eine große ausgedörrte Lichtung. Langsam verwachsen die Pfade, Karrenwege und Zufahrtsstraßen zu dieser vereinsamten Lichtung.
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Sollte das schon die Krankheit des Todes sein, sie, die nichts andres ist als die geheimnisvoll logische Entsprechung der Lebens-Schuld? Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.
Kommentare
KOMMENTAR I
Matthias Pape
„Depression über Österreich“ Franz Werfels Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ im kulturellen Gedächtnis Österreichs*
I. Methodische Vorbemerkungen – Paradigma Erinnerungsgeschichte Die seit den 1990er Jahren entwickelte „Kulturwissenschaft“ untersucht in einem ihrer Paradigmen die Art der Vorstellung von Vergangenheit (Mythen, Legenden, Bilder), die zur Identität einer Gesellschaft oder Nation beiträgt. Sie fragt, wie das „kollektive Gedächtnis“ einer Nation beschaffen ist und wie das über Generationen gespeicherte Wissen in Form konstrukthafter Erinnerung und Sinndeutung ausschnitthaft aktualisiert wird. Sie trennt dies von der traditionellen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Universale Geschichte und selektiv-kulturelles Gedächtnis, aus dem soziale Gruppen, Milieus und Nationen ihre Identität ableiten, werden antinomisch aufgefasst. In diesem Paradigma kulturwissenschaftlicher Forschung geht es neben Texten vor allem um Denkmäler, Bilder, Verhaltensformen und Riten1. Die „Kulturwissenschaft“ oder „Neue Kulturgeschichte“ will auf diesem Weg die Begründung und Entwicklung von Geschichtsbewusstsein analysieren und bezieht dabei die Rolle der Medien von der Literatur über Gemälde und Zeichnung, Wachsfigurenkabinett und Fotografie bis zu Film und neuen digitalen * 1
Der Beitrag ist die verbesserte und etwas erweiterte Fassung eines Aufsatzes im Literaturwissenschaftlichen Jahrbuch N.F. 45 (2004). Zu den verschiedenen Forschungsansätzen der Mnemotechnik und ihren Vorläufern (u.a. „soziales Gedächtnis der Kunst“ bei Aby Warburg, „mémoire collective“ bei Maurice Halbwachs, „Erinnerungsorte“ als Verbindung von kultureller Erinnerung und nationaler Identität) und als methodische Durchleuchtung der jüngeren Diskussion vgl. Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft (Formen der Erinnerung, Bd. 39), Göttingen 2009, S. 22–30, 41–65.
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Medien mit ein. Sie hält sich viel auf den erweiterten Quellenbegriff zugute, doch definierte Paul Kirn bereits im Jahr 1947 denkbar weit: „Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“2. Literarische Inhalte, so die – auch schon seit den 1960er Jahren weithin akzeptierte – Prämisse, können nicht von ihrer medialen Präsentation bzw. Aufbereitung gelöst werden3. Die „Neue Kulturgeschichte“ ist inzwischen in Deutschland und Österreich zum Trend- und Kultfach mit aparten Begriffsprägungen („Mediologie“), eigenen Instituten und Studiengängen geworden (u.a. Humboldt-Universität Berlin, Universität Köln, Universität Graz, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften)4. Sie empfängt wesentliche Impulse aus der französischen und anglo-amerikanischen Forschung5, integriert die verschiedenen neuen Ansätze mit ihrem Blick auf die Ebene der Bedeutungen, Wahrnehmungen und Sinnstiftungen. Das kulturwissenschaftliche Paradigma erkennt in „Kultur“ nicht einen Eigenbereich, schon gar nicht eingeschränkt auf die ästhetische Kultur, vielmehr den alle Lebens- und Wirklichkeitsbereiche umschließenden Raum, der politische, soziale und religiöse Ordnungen überhaupt erst konstituiert6. Dies verbindet sich mit einem mehr oder weniger starken Konstruktivismus, dem es um die 2 3
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Paul Kirn, Einführung in die Geschichtswissenschaft. 6. Aufl. Berlin, New York 1972, S. 29. Kritische Bestandsaufnahme aus geschichtswissenschaftlicher Sicht mit Überlegungen zum „historischen Fragehorizont“ an den Medienbegriff bei Fabio Crivellari / Marcus Sandl, Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), 619–654. Vgl. von Seiten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die „Dekonstruktion“ nationaler Gedächtnisorte und Analyse ihrer Mehrdeutigkeit bei Moritz Csáky / Peter Stachel (Hg.), Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung. Orte des Gedächtnisses, Wien 2003; die methodische Umsicht dieses Unternehmens ist hervorgehoben bei Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, S. 208– 216. – Von Seiten des Kölner „Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation“ Georg Stanitzek / Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstellen. Medien und Kulturwissenschaften (Mediologie, Bd. 1), Köln 2001. Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 16), Berlin 1990. – Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis (Historische Studien, Bd. 6), Frankfurt a.M., New York, Paris 1992. – Peter Burke, What Is Cultural History? Cambridge 2004. Zur „Strahlkraft“ des neuen Ansatzes Silvia Serena Tschopp, Die Neue Kulturgeschichte – eine (Zwischen-)Bilanz, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), 573–605, hier 588; allerdings relativierend 593, es gehe um „Erweiterung“, nicht „Ersatz“ älterer Ansätze.
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Erkenntnis von Bedeutungen, Wahrnehmungen, Rezeption und Sinnstiftungen geht, die die Wirklichkeit ausmachen sollen; dem sei, so die Behauptung, mit dem herkömmlichen hermeneutischen Verfahren nicht beizukommen, was den nicht geringen theoretischen Aufwand rechtfertige7. In der Geschichtswissenschaft diagnostizieren manche einen Paradigmenwechsel von „Gesellschaft“ zu „Gedächtnis“8, vergleichbar dem Paradigmenwechsel von „Staat“ zu „Gesellschaft“, den die sozialwissenschaftlich ausgerichtete „Gesellschaftsgeschichte“ seit den siebziger Jahren proklamierte, als das Interesse an Staat (Institutionen) und Macht (Außenpolitik) abnahm und sozioökonomische bzw. Fragen von außerwissenschaftlicher Relevanz (wie „soziale Ungleichheit“ oder „Gerechtigkeit“) in den Vordergrund traten, während die Kultur allenfalls in ihren Institutionen präsent blieb. Dies verband sich mit einer Kritik am Historismus, die seinen Leistungen, die über das ihm zugeschriebene Interesse an Politik- und Ideengeschichte hinauswiesen, wenig oder gar nicht gerecht wurde9. Allerdings hat, und dies mahnt zu einer gewissen Vorsicht gegenüber Trends, die nach Dominanz in einem Fach streben, die ins Abseits gedrängte Thematik der Staatenbeziehungen („International History“) nach dem weltpolitischen Umbruch von 1989/90 unter Einbeziehung neuer Fragestellungen (Verhältnis zwischen zeitgenössischen Leitbildern und objektiven Strukturen, Idee und Praxis der internationalen Beziehungen bzw. deren gesellschaftliche Dimension, Verhaltensregeln des Systems, Mentalitäten, Fremd- und Eigenbilder, symbolisches Handeln) wieder an Gewicht gewonnen10.
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Ebd. S. 595–601 mit vielen Allgemeinplätzen zur geschichtstheoretischen Reflexion seit der Antike. Dazu zwei Hauptprotagonisten des erinnerungsgeschichtlichen Ansatzes: Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 121), Göttingen 1995, S. 9–78 (mit umfassender Literatur). – Johannes Fried, Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), 561–593. Vgl. Jens Nordalm (Hg.), Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006, Einleitung S. 7–46. Vgl. Friedrich Kießling, Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), 651–680, hier v.a. Kap. II: „Internationale Geschichte“ und „neue Kulturgeschichte“. – Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (Historische Politikforschung, Bd. 1), Frankfurt a.M. 2005. – Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen bei Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), 657–688.
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In den kulturwissenschaftlichen Forschungsbereichen, die sich um Anthropologie, Handlungs- und Wahrnehmungstheorien, Geschlechterforschung und Intertextualität gruppieren, ist die Beschäftigung mit dem „kulturellen Gedächtnis“11, in dem eine Gesellschaft ihr Wissen in Archiven, Bildern, Handlungsmustern und Riten speichert und von Generation zu Generation weitergibt, und mit Gedächtnistheorien fest verankert12. Nach dieser Theorie ist ein Großteil des zu Erinnernden in allgemein verbindlichen „kulturellen Texten“ (die über Normen und Werte unterrichten und, wie die Bibel, zum Bildungskanon gehören) oder in „literarischen Texten“ (die ein ästhetisch-historisches Bedürfnis befriedigen) gespeichert13 und wird als „kulturelles Gedächtnis“ (gleichsam als fester Vorratsspeicher einer Gesellschaft oder Nation) bzw. als „Erinnerungsort“ verstanden. Dieser möchte bewusst und nicht zufällig etwas im Gedächtnis festhalten, weist verschiedene, sich überlagernde Bedeutungsschichten aus und ist durch einen sich wandelnden Symbolgehalt gekennzeichnet. Daraus entstand in Frankreich das Sammelwerk „Les Lieux de mémoire“, das letztlich die Tradition der großen nationalgeschichtlichen Darstellungen fortschreibt und einen verbindlichen Kanon von Geschichtsentwürfen der Nation suggeriert14. In Deutschland entstand das Sammelwerk „Deutsche Erinnerungsorte“. Es stellt „Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ vor, die materiell wie symbolisch sein können, ist allerdings aus der Perspektive der ‘aufgeklärten’ zweiten Nachkriegsgeneration geschrieben und
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Begriffsprägung bei Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erneuerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl. München 1997. – Leitfunktion für die weitere Diskussion haben auch die Sammelbände Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a.M. 1991. – Dies. (Hg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, ebd. 1991. – Einen Sonderbereich bilden die „Medien der sozialen Praxis“, die nicht zum Zweck der Traditionsbildung angefertigt wurden (Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder, Räume) und dennoch Geschichte transportieren. Vgl. Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001 (hier vor allem Texte angloamerikanischer Forscher). – Dazu Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, S. 65–79. Verständnis von „Kulturwissenschaft“ als fächerübergreifendes Regulativ bei Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft (Einführungen Germanistik), Darmstadt 2003, Kap. VI: Gedächtnistheorien, S. 116–138. – Von geschichtswissenschaftlicher Seite (ohne auf die Gedächtnistheorien einzugehen) Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2006. So die Theoriebildung bei Aleida Assmann, Was sind kulturelle Texte?, in: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, S. 232–244. Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984–1992; dazu Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, S. 31–35, 81–112, 236.
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auf den Kontinuitätsbruch von 1933/45 fixiert15. Beide Großwerke suchen nach konsensfähigen Vergangenheitsbildern und verfahren normativ, suchen nach Objekten und Orten der nationalen Identität. In dem geforderten „transdisziplinären“ Ansatz der Kulturwissenschaft sollen sich Soziologie, Geschichts-, Literatur-, Religionswissenschaft und Kunstgeschichte ergänzen. Daraus hat sich am stärksten die „kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft“ entwickelt und profiliert16, mit einem deutlichen Schwerpunkt in der „Erinnerungskultur“17. Doch bei manchem Gewinn des erinnerungsgeschichtlichen Ansatzes, der nicht immer Unbekanntes unter neuem Etikett anbietet, allerdings die Funktion von Texten im Rahmen gesuchter Erinnerung einer Gesellschaft intensiver reflektiert, dürfen die methodischen Risiken und Defizite nicht übersehen werden. Nur durch eine möglichst weite Perspektive lassen sich literarische Texte als Teil der „Erinnerungskulturen“18 und der unterschiedlichen Formen der Erinnerung innerhalb einer Gesellschaft erschließen und allzu gewagte Hypothesen über das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur vermeiden. So ist die Reduzierung komplexer Strukturen in ästhetischen Texten auf ein einziges Paradigma der „Kulturwissenschaft“ bedenklich19. Dabei reicht das methodische Problem weiter zurück. So wurde, um im größeren zeitlichen Umfeld Werfels zu bleiben, die Wiener Literatur der Jahrhundertwende (v.a. Arthur Schnitzler) in den 1970er Jahren aus der sozialgeschichtlichen Perspektive, in den 1980er Jahren im Zuge der in Österreich nachgeholten ‘Vergangenheitsbewältigung’ aus der jüdischen Perspektive gelesen und dient heute der „New Cultural History“ bzw. den „Cultural Studies“ mit ihrem Blick auf die „Subkulturen“ als ‘Exerzierplatz’ für die 15 16
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Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001–2002; dazu Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, S. 113–144. Ihr Organ ist KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, hg. v. Bernard Dieterle / Manfred Engel / Dieter Lamping / Monika Ritzer, 1 (2001) ff. – Vgl. auch Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. Ansgar Nünning, 2. überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2001, hier Art. „kulturelle Erinnerung“, S. 149 f., „kulturelles Gedächtnis“, S. 213 f. Dazu mit der wichtigen Literatur Astrid Erll, Literatur und kulturelles Gedächtnis: Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 43 (2002), 249–276. – Dies., Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2005. So der auf die Wissensbestände der Tradition und Moderne zielende Begriff (Terminus im Plural benutzt) des 1997 eingerichteten Gießener DFG-Sonderforschungsbereichs. So bei Konstanze Fliedl, Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 42), Wien, Köln, Weimar 1997, die überdies ausgeschiedene Werkteile und -entwürfe zur Erhärtung ihres erinnerungstheoretischen Ansatzes heranzieht.
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Kulturanthropologie, Psychoanalyse und den Strukturalismus. Die Texthermeneutik spielt dabei keine Rolle mehr20. Theoretische Forderungen sind das eine, praktische Umsetzungen das andere. Die kulturwissenschaftliche Theorie ist an literarischen Texten wenig erprobt, ihr Versprechen insofern nicht eingelöst worden. Daran haben auch DFGSonderforschungsbereiche bzw. die nunmehr auch in den Geisteswissenschaften geförderte Verbundforschung (u.a. „Erinnerungskulturen“ in Gießen, „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme“ in Münster) und, höher angesiedelt und wie naturwissenschaftlich-medizinische Großprojekte finanziert, DFG-Forschungskollegs (u.a. „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ in Frankfurt am Main, „Medien und kulturelle Kommunikation“ in Köln21) nichts geändert, zumal sie sich untereinander nicht vernetzt haben. Was auf einer noch höheren Ebene als bisher schon im interdisziplinären Verfahren „transdisziplinär“ zusammengeführt werden sollte, steht in Sammelbänden und Teil- bzw. Dissertationsprojekten mehr oder weniger disparat nebeneinander. Die geforderte „fächerübergreifende Kompetenz“, die Beherrschung der Methoden und Literatur mehrerer Disziplinen, steht den wenigsten Autoren zu Gebote; die Arbeiten verbleiben in der Regel im Rahmen der alten Großdisziplinen (Sozial-, Literatur-, Geschichtswissenschaft). Belletristische Texte, sei es der ernsten Kunstliteratur oder der Trivialliteratur, werden von der Erinnerungshistoriographie vernachlässigt22. Dabei sind diese Texte für das bürgerliche Zeitalter „Orte der Erinnerung“, an denen sich die zeitgenössische Wahrnehmung wichtiger Ereignisse der Vergangenheit und die Seelenlage vergangener Generationen studieren lässt. Wirkung und Erfolg von Schriftstellern beruhten darauf, dass sie Schicksalsfragen der Nation im Spiegel der Geschichte deuteten. Beliebte Stoffe waren von den 50er bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts mit ihrem der Romantik abgewandten neuen Sinn für „Realpolitik“ und ihrer nationalpolitischen Leidenschaft die deutsche Nati20
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Ohne ästhetische Analyse bei vielfachem Rückgriff auf literarische Werke Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Joseph, übersetzt aus dem Englischen v. Marie-Therese Pitner u. Susanne Grabmayr (Anton Gindely Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas, Bd. 4), Wien, Köln, Weimar 1999. – Ähnlich Peter Gay, Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2002. – Gordon A. Craig, Über Fontane, aus dem Amerikanischen übersetzt v. Jürgen Baron von Koskull, München 1997. Der Kölner Sonderforschungsbereich blieb, nach neun Jahren 2008 ausgelaufen, „ohne nennenswerte Ergebnisse“, so Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.2009 (Feuilleton), Art. „Sie geben Steuergelder aus!“. Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, nennt als bisher untersuchte „Erinnerungsorte“ soziale Gruppen, Regionen, Städte, Epochen, Geschichtsmythen.
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onswerdung seit den Germanen (Felix Dahn, „Ein Kampf um Rom“) oder Lösung von päpstlicher Bevormundung seit dem Mittelalter (Ferdinand von Saar, „Kaiser Heinrich IV.“); nach dem Ersten Weltkrieg die Frage von „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm) oder die in Italien verortete Manipulierbarkeit der Masse (Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“); nach dem Untergang des deutschen Nationalstaats im Jahr 1945 das Faustische als geschichtsmächtige Kraft (Th. Mann, „Doktor Faustus“). Die verarbeiteten Stoffe, Ereignisse und Figuren, auch in den Libretti von Oper und Operette23, hier verstärkt durch die Vertonung bzw. durch populäre „Ohrwürmer“, prägten und verbanden die Erinnerung ganzer Lesergenerationen an eine (verklärte) Vergangenheit oder imaginierte mythische Vorzeit24 oft mehr als Historiographie, Schulbuchrhetorik und Professorenweisheit. Obwohl die „Neue Kulturgeschichte“ poetische Artefakte zu ihrem erweiterten Quellenbestand rechnet und von der „Besonderheit literarischer Quellen“ spricht25, bleiben die Ausführungen zur besonderen Methode ihrer Interpretation unscharf und hält sich die Einbindung von Detailanalysen dichterischer Texte in das neue Konzept in Grenzen. Auch eine kulturwissenschaftlich erweiterte Germanistik bleibt, sofern sie nicht den Weg der sozialwissenschaftlich ausgerichteten „Cultural Studies“ einschlagen will, auf hermeneutischphilologische Fragestellungen und Textkritik als Basis der Textanalyse angewiesen. Insofern ist der Richtungsstreit um Textphilologie oder Kulturwissenschaft eine Scheinalternative26. Denn der Autor eines literarischen Werks versteht sich zuallererst als Künstler, der seine Aussage ästhetisch chiffriert bzw. perspektiviert, was zu entschlüsseln ist und den eigentlichen Reiz des Kunstwerks ausmacht. Dafür ist Werfels Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ ein Musterbeispiel, und zwar gerade deshalb, weil ihre erinnerungsgeschichtliche ‘Nachricht’ auf den ersten Blick nicht ins Auge fällt, der Forschung bisher nicht aufgefallen ist 23
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Vgl. Moritz Czáky, Der soziale und kulturelle Kontext der Wiener Operette, in: Ludwig Finscher / Albrecht Riethmüller (Hg.), Johann Strauß. Zwischen Kunstanspruch und Volksvergnügen, Darmstadt 1995, S. 28–65. Vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a.M., Leipzig 2002, hier: Der Mythos vom Anfang und Ende der Geschichte: Der Ring des Nibelungen, S. 276–307. Vgl. Tschopp, Die Neue Kulturgeschichte, S. 591. Zur kontroversen Debatte um Literaturwissenschaft und / als Kulturwissenschaft Wilfried Barner, Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997) S. 1–8; die anschließenden Diskussionsbeiträge ebd. 42 (1998) S. 457–507; 43 (1999) S. 447–487; 44 (2000) S. 333–358.
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und ohne ästhetische Analyse auch gar nicht erkannt werden kann. Denn nur diese zeigt, auf welchen besonderen Punkt der Dichter den Blick lenken möchte. Werfel führt – dies die These – eine Auseinandersetzung mit dem „Christlichen Ständestaat“ in Österreich (1934–1938) und will ein bestimmtes Bild davon festhalten. Der symbolische Mehrwert versteht sich bei einem literarischen Text von selbst. So lässt sich mit gutem Grund von einem „Erinnerungsort“ der ‘österreichischen Nation’ sprechen27. Die Fabel verbindet sich unausgesprochen mit der umstrittenen Frage nach der inneren Lebensfähigkeit dieses Staatsgebildes, das als „Neues Österreich“ für sich warb. Damit ist in Werfels Novelle die Frage verbunden, ob der „Ständestaat“ durch Hitlers Gewaltpolitik oder durch innere Erosion zugrunde gegangen sei. Diese Frage wurde nach der Verdrängung des österreichischen Anteils am Nationalsozialismus erst infolge der „Affäre Waldheim“ seit den 1980er Jahren gestellt und breit aufgearbeitet. Daran hing bis in die unmittelbare Gegenwart der Komplex der Entschädigungs- und Wiedergutmachungsforderungen der Opfer der NSHerrschaft gegenüber der zweiten österreichischen Republik28. Werfel hat mit den Mitteln des Dichters als Beobachter und Zeitzeuge Denkweisen und Verhaltensmuster der politisch-sozialen Elite in einem narrativ-fiktionalen Text eingefangen, um zur Reflexion darüber anzuregen. Da nicht alle Figuren fiktional sind, rückt die Novelle in die Nähe des Schlüsselromans. Mit Hilfe der Figurenpsychologie kann der Dichter Einblicke vermitteln, die sich aus dem Quellenmaterial, mit dem die wissenschaftliche Geschichtsschreibung arbeitet, nur schwer erschließen lassen. Darin liegt der Wert der erzählenden Literatur für die Erinnerungskultur einer Gesellschaft29. Die auf den Bürgerkrieg von 1934 und das ständestaatliche Regime bezogene Erinnerungspflege ist zwischen den politischen Lagern in Österreich so gespalten und im Fluss wie die Erinnerung an Bürgerkrieg und das FrancoRegime in Spanien. Werfel hat sich mit seiner Novelle an dieser früh aufgebrochenen Diskussion beteiligt. Er hat, wie viele Dichter vor und nach ihm, 27
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Über die von einem Teil der österreichischen Forschung (vgl. Anm. 4) zusammengestellten und – methodisch wegweisend – zugleich in Frage gestellten Gedächtnisorte als „Affirmationsfalle“ nationaler Selbstvergewisserung vgl. Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, S. 205–227. Vgl. Clemens Jabloner [u.a.], Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 1), München 2003. Vgl. eingehender (am Beispiel der englischen Literatur) Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Literatur, Imagination, Realität, Bd. 11), Trier 1995, hier: Die literarische Aneignung von Geschichte im Roman, S. 58–89.
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Erlebtes und Durchlittenes in eine künstlerische Form gebracht. Wie jeder Dichter hat er die ihm wichtig erscheinenden Aspekte der gesellschaftlichpolitischen Wirklichkeit hervorgehoben und in eine bestimmte Perspektive gerückt. Er setzte sich mit seiner Zeit auseinander, um den Weg begreiflich zu machen, der ihn ins Exil gezwungen und heimatlos gemacht hat. Darin darf man den eigentlichen Grund für die Niederschrift der Novelle sehen. Das dichterische Gesamtwerk Franz Werfels ist nicht vergessen, doch steht es nicht im Vordergrund des literarischen Interesses, vielleicht auch wegen der Zeitgebundenheit des Stoffs der meisten Werke. Heute kommt besonders Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, der 1933 erschienen ist und noch bis zum Herbst des Jahres in Deutschland vertrieben werden durfte, einem Gegenwartsinteresse entgegen; er stellt die Deportation in die Wüsten Syriens und Mesopotamiens sowie die Massaker der jungtürkischen Regierung an bis zu 1,5 Million christlichen Armeniern von 1915/17 und damit eines der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkriegs dar30, dessen Genozidcharakter von der Türkei bestritten bzw. als kriegsbedingt gerechtfertigt wird31. Werfel hat dazu ausgedehnte Quellenforschung betrieben. Die offizielle türkische Einstellung steht im Gegensatz zur internationalen Geschichtswissenschaft und zur Versöhnunungsidee der Europäischen Union; sie spielt in das Für und Wider der Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei (seit 2004) hinein, ebenso wie deren Umgang mit Minderheiten in Vergangenheit und Gegenwart, seien es christliche, alevitische oder kurdische. Als 1938 emigrierter Dichter wurde Werfel schließlich zum Namensgeber des FranzWerfel-Menschenrechtspreises, den die Berliner Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“, getragen von einer parteiübergreifenden und international besetzten Jury, seit 2003 verleiht. Um den historischen Kontext der Novelle und ihre Perspektive zu erhellen, sollen nicht etwa im „transdisziplinären“, sondern bescheidener im interdisziplinären Verfahren literaturästhetische, historische und politikwissenschaftliche Aspekte gebündelt werden. Zunächst werden die Voraussetzungen für die Errichtung des „Christlichen Ständestaats“ und sein weltanschauliches Fundament sowie Werfels politische Einstellung dazu skizziert, sodann folgt die 30
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Dazu produzierte der Norddeutsche Rundfunk 2010 die Dokumentation „Ageth. Ein Völkermord“ (Regie und Drehbuch Eric Friedler). In dem Zusammenhang wiesen Pressestimmen auf Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ hin; vgl. auch Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt, München 1993. – Ders., Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005. Vgl. Sibylle Thelen, Die Armenierfrage in der Türkei, Berlin 2010.
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Analyse der Novelle, um schließlich deren Ort im kulturellen Gedächtnis der Zweiten Republik bestimmen zu können.
II. Franz Werfel und der Christliche Ständestaat Der von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und den Christlichsozialen am 1. Mai 1934 errichtete „soziale, christliche, deutsche Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker, autoritärer Führung“32 gehört nach wie vor zu den politisch und wissenschaftlich umstrittenen Phasen der jüngeren Geschichte Österreichs33. Der „Christliche Ständestaat“ sollte die doppelte Gefahr der rechtsextremen und linksextremen Gefahr bannen. Er wollte vor allem die oppositionellen Sozialdemokraten mit dem tonangebenden sozialrevolutionären Flügel um Julius Deutsch und Otto Bauer ausschalten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs hatte 1926 im „Linzer Programm“, dem von Otto Bauer (1881–1938) formulierten klassischen Dokument des Austromarxismus, einer besonderen Spielart der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas, den „Befreiungskampf der Arbeiterklasse“, „die Überwindung der kapitalistischen“ und „den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ gefordert. Sie hatte darin der „Bourgeoisie“ den „Klassenkampf“ angesagt, deren „Widerstand“ „gegen die gesellschaftliche Umwälzung“ äußerstenfalls „mit den Mitteln der Diktatur“ und des „Bürgerkriegs“ gebrochen werden müsse. Die Kirche benutze „ihre Macht über die Gläubigen dazu“, „dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse entgegenzuwirken“, um „dadurch die Herrschaft der Bourgeosie zu stützen“. Das Staatskirchenrecht, die staatlichen Zuschüsse an die Kirche und der „Weltanschauungsunterricht“ sollten abgeschafft werden34. Dies war eine Reaktion auf den 32
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So Dollfuß in seiner programmatischen Rede anlässlich des ersten Generalappells der „Vaterländischen Front“ am 11. September 1933 auf dem Wiener Trabrennplatz, in: Klaus Berchtold (Hg), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, München 1967, S. 427–433, hier S. 430. Die Beurteilung des Ständestaats gilt (für den deutschen Leser nicht sogleich erkennbar) immer noch als eine Art Gesinnungsprüfung. Materialreich, auch zur Vorgeschichte, Dieter A. Binder, Der „Christliche Ständestaat“. Österreich 1934–1938“, in: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 203–256. – Günter Bischof / Anton Pelinka / Alexander Lassner (Hg.), The Dollfuss / Schuschnigg Era in Austria. A Reassessment (Contemporary Austrian Studies, Bd. 11), New Brunswick, London 2003. Österreichische Parteiprogramme, S. 247–264. – Vgl. Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien, Frankfurt a.M., Zürich 1968, Neuaufl. Wien, Köln, Graz 1985.
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Konfessionalismus als Lebensmacht, auf die antisozialistische Agitation der katholischen Kirche und den Klerikalismus der Christlichsozialen Partei, deren Parteiführer, Bundeskanzler Ignaz Seipel, Priester bzw. Prälat und der eigentliche parteipolitische Gegenspieler Otto Bauers war. Im Jahr 1933 kam es unter der Parole „Neues Österreich“ zu einem Staatsstreich auf Raten. Nach dem parlamentarischen „Pallawatsch“ im März 1933, der (Selbst-)Ausschaltung des Parlaments durch eine ‘Geschäftsordnungspanne’ bzw. den Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten, schlug die Regierung Dollfuß einen autoritären Kurs unter Missbrauch des Notstandsrechts aus dem Ersten Weltkrieg ein. Sie verhinderte das Wiederzusammentreten des Parlaments. Sodann suchte sie, wie die meisten autoritären Regime der Zwischenkriegszeit nach dem Vorbild Mussolini-Italiens, Stütze an der kirchlichen Autorität und päpstlichen Soziallehre (Enzyklika Pius XI. „Quadragesimo anno“, 1931). Dollfuß schloss mit dem Vatikan ein Konkordat ab, das der Kirche ein weitgehendes Mitspracherecht in Schule, Familien- und Eherecht einräumte, dessen Verfassungsmäßigkeit die Linke bestritt und das der Deutschliberalismus ablehnte35. Dies verschärfte die Polarisierung zwischen dem „Bürgerblock“, vormals der Regierung aus Christlichsozialen und Großdeutscher Volkspartei zwischen 1920 und 1931 (seit 1927, zur Sicherung der knappen Mehrheit, unter Einschluss des antidemokratischen „Heimatblocks“), und der Linken, die in der Gründung der Republik auch ihr Werk sah36. Die Gesellschaft war stärker als in Deutschland von einer Lagermentalität bestimmt und zudem noch militarisiert: zwischen dem „Schutzbund“, der bei Kriegsende gegründeten sozialdemokratischen Wehrformation, und den „Heimwehren“, die als Selbstschutz zur Sicherung der Grenzen in den westlichen und südlichen Bundesländern, vor allem beim Kärntner Abwehrkampf 1920 gegenüber slowenischen Gebietsansprüchen, gebildet worden waren. Der Parteienstreit war viel mehr als in der Weimarer Republik von ideologischen Grabenkämpfen geprägt: um bürgerliche oder sozialistische Republik, Legitimismus oder „Habsburg-Kannibalismus“, Klerikalismus oder Antiklerikalismus37.
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Vgl. Erika Weinzierl-Fischer, Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933 (Österreich-Archiv), München 1960. Dazu auf der Grundlage eines breiten Quellenmaterials Wilhelm Braunender, DeutschÖsterreich 1918. Die Republik entsteht, Wien 2000. Theorie der drei politischen „Lager“ (Christlichsozial-Konservative, Großdeutsche und Sozialisten) bei Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien, München 1954, Nachdruck 1977, S. 289–485, hier S. 291.
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Der seit Gründung der Republik latente Bürgerkrieg, der sich in Straßenschlachten und Gewaltaktionen äußerte und 1927 im Justizpalastbrand eskaliert war, schlug im Februar 1934 in den offenen Bürgerkrieg um. Es kam zum Aufstand und Generalstreik von Schutzbund und Arbeiterschaft in den Industrierevieren Oberösterreichs, Niederösterreichs, der Steiermark und in den Wiener Außenbezirken, wo Bauer und Deutsch den Einsatz leiteten. Dollfuß ließ den Aufstand durch Bundesheer und Heimwehr niederschlagen38. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die seit 1933 noch im außerparlamentarischen Raum hatte agieren können, wurde nun verboten, das Parteivermögen eingezogen. Einzig zugelassene politische Sammlungsbewegung blieb als Einheitspartei die „Vaterländische Front“39. Die Maiverfassung von 1934 setzte an die Stelle des demokratischen das berufsständische Prinzip – nach dem Vorbild des italienischen Korporativismus, der europaweit attraktivsten Facette des Faschismus40. Schon während des Weltkriegs, durch die Massenstreiks der Arbeiterschaft in den Jahren des Übergangs nach 1918 und durch die Weltwirtschaftskrise hatte sich in vielen Ländern Europas das Verhältnis von Staat und Wirtschaft (Binnenmarkt und Außenhandel) zugunsten des Interventionismus, der Einflussnahme des Staates auf die Wirtschaft, mächtig verändert. Das betraf vor allem Italien, Deutschland und Österreich und ihr Verfassungsgefüge, das nach einer Neuordnung rief. Diese brachte Mussolini mit Hilfe der Korporation als dem repräsentativen „Organ der Produktivkräfte“ als erster auf den Weg, wie es schien mit großem Erfolg. Die neue Verfassung für Österreich41 griff dies auf und wollte
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– Nun auch Ernst Hanisch, Österreichische Geschichte 1880–1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte [9]), Wien 1994, S. 285–294. Zu den ereignisgeschichtlichen Abläufen und Opferzahlen (etwa 250 Tote auf seiten des Schutzbundes und der Zivilbevölkerung, 125 Tote auf seiten der Exekutive, über 1000 Verwundete, Verhaftung von 10.000 Sozialisten und Hinrichtung von 21 Schutzbundführern) Hugo Portisch, Österreich I. Die unterschätzte Republik. Ein Buch zur gleichnamigen Fernsehdokumentation von Hugo Portisch u. Sepp Riff, Wien 1989, S. 428–453. Vgl. Irmgard Bärnthaler, Die Vaterländische Front. Geschichte und Organisation, Wien, Frankfurt, Zürich 1971, S. 131. – Robert Kriechbaumer, Ein vaterländisches Bilderbuch. Propaganda, Selbstinszenierung und Ästhetik der Vaterländischen Front 1933–1938 (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Bd. 17), Wien, Köln, Weimar 2002. Vgl. Benito Mussolini, Vom Kapitalismus zum korporativen Staat. Reden und Gesetze. Eingeleitet, übertragen u. erläutert v. Erwin von Beckerath / Erich Röhbein / Ernst Ed. Berger (Veröffentlichungen des Petrarca-Hauses Köln, 3. Reihe, 1), Stuttgart 1936. Vgl. Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte (Manzsche Studienbücher), 8. Aufl. Wien 2001, S. 231–243. – Zum Ideenkonglomerat der Maiverfassung,
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nicht zuletzt auch den Nationalsozialismus ausschalten, der in Österreich enormen Auftrieb erhalten und die Partei im April 1932 in mehrere Landtage (Wien, Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg) und Landesregierungen katapultiert hatte. Seit diesen schicksalsentscheidenden Wahlen fürchteten die Christlichsozialen die von den Nationalsozialisten und ebenso kompromisslos von den Sozialdemokraten geforderten Neuwahlen, weil sie (zu Recht) annahmen, dass diese nur den Nationalsozialisten nützten42. Das autoritäre Regierungssystem, das für Europa nach 1930 typisch war (in Deutschland während des Präsidialregimes zwischen 1930 und 1933, in Portugal unter Salazar, in Ungarn unter Horthy, in Polen unter Pilsudski, auch in den Staaten Südosteuropas)43, sollte in Österreich den durch Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit erschütterten Staat stabilisieren und national integrieren, um den Nationalsozialismus fernzuhalten. Die Demokratiewidrigkeit wurde in Kauf genommen, die Legislative wurde weitgehend, die rechtsstaatlichen Institutionen (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Befugnisse des Verfassungsgerichtshofs) wurden schrittweise ausgehöhlt, ohne dass die Rechtsstaatlichkeit völlig verloren ging44. Das Regierungssystem war „das eines innen-, außen- und wirtschaftspolitisch in einer permanenten Krise steckenden autoritären Staates, bei dem die normsetzende Gewalt zu einem Großteil in der Regierung aufgegangen war und der daher über weite Strecken den Charakter einer Regierungsdiktatur hatte.“45
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in die die ständestaatliche Ideenwelt Othmar Spanns einfloss, des einflussreichsten, die akademische Jugend in den Bann schlagenden Gelehrten an der Universität Wien (zu dessen Hörern Dollfuß gehört hatte), auch Binder, Christliche Ständestaat, S. 207. Vgl. Franz Schausberger, Das „parlamentarische“ Agi(ti)eren der Nationalsozialisten in den Landtagen von Wien, Niederösterreich, Salzburg und Vorarlberg nach den Landtagswahlen 1932 (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg, Bd. 1), Wien, Köln, Weimar 1996, bes. S. 120–124. – Gerhard Jagschitz, Die österreichischen Nationalsozialisten, in: Gerald Stourzh, Birgitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938 (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs, Bd. 16), Wien 1990, S. 229–269. Systemtypologie bei Juan José Linz, Totalitäre und autoritäre Regime. Übers. der amerikanischen Ausgabe 1975, hg. v. Raimund Krämer (Potsdamer Textbücher, Bd. 4), Berlin 2000, hier Kap. IV. Zur wachsenden Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit Helmut Wohnout, A Chancellorial Dictatorship with a „Corporative“ Pretext: The Austrian Constitution between 1934 and 1938, in: Günter Bischof, Anton Pelinka, Alexander Lassner (Hg.), The Dollfuss / Schuschnigg Era in Austria, S. 143–162, bes. S. 151–159. Beste Analyse bei Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 43), Wien, Köln, Graz 1993, Zitat S. 434. – Ders., A Chancellorial Dictatorship with a
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Außenpolitisch konnte sich Österreich, wollte es seine Unabhängigkeit bewahren, nur auf Mussolini stützen, der ein Ausgreifen Hitler-Deutschlands nach Österreich verhindern wollte46. Dieses Konzept scheiterte, als Hitler den wegen des Abessinien-Krieges international isolierten Mussolini im Oktober 1936 endlich ins Bündnis ziehen konnte. Schuschnigg scheiterte damit aber auch innenpolitisch, weil – dies berührt das Thema von Werfels „Eine blaßblaue Frauenschrift“ – dem Ständestaat der breite Rückhalt in der Bevölkerung fehlte und Teile der Funktionselite bereits im NS-Lager standen. Die Deutschösterreicher identifizierten sich in ihrer großen Mehrheit nicht mit der vaterländisch-katholischen Idee eines straffen, autoritär geführten Staates, sondern suchten im März 1938 das attraktivere Original. Die Erinnerungskultur an den Februar 1934 geht in Österreich bis heute wie ein Riss durch die Gesellschaft, weil über Vorgeschichte und Voraussetzungen des Bürgerkriegs kein Konsens besteht. Während die Linke in Dollfuß den Totengräber der Republik sah47 und immer noch sieht48, erkannten die Christlichsozialen bzw. deren Nachfolgepartei in der Zweiten Republik in ihm die letzte Stütze gegen Hitler (Dollfuß’ Bild hängt bis heute im Nationalratsclub der Österreichischen Volkspartei)49.
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„Corporative“ Pretext: The Austrian Constitution between 1934 and 1938, in: Günter Bischof, Anton Pelinka, Alexander Lassner (Hg.), The Dollfuss / Schuschnigg Era in Austria, S. 143–162. Vgl. Angelo Ara, Die italienische Österreichpolitik 1936–1938, in: Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 111–129. – Alexander Lassner, The Foreign Policy of the Schuschnigg Government 1934–1938: The Quest for Security, in: The Dollfuss / Schuschnigg Era in Austria, S. 163–186. Otto Bauer sprach vom „Kleriko-“ bzw. „Austrofaschismus“ in Österreich und vom „Nazifaschismus“ bzw. „deutschen Nationalfaschismus“, so in: „Kann Österreich noch gerettet werden?“, in: Der Kampf 5 (1938), 22.2.1938, wieder in: Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 9, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Wien 1980, S. 824–833. – Zum Begriff des „Austrofaschismus“ kritisch Hanisch, Österreichische Gesellschaftsgeschichte, hier S. 310–315. Auf der „antifaschistischen“ Linie die meisten Beiträge in: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur, 4. erw. Aufl., Wien 1988. – Auch in: Emmerich Tálos / Ernst Hanisch / Wolfgang Neugebauer / Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, 2. Aufl., Wien 2000. Dollfuß wurde von der ständestaatlichen Ideologie zum Märtyrer stilisiert, der Mord an ihm mit dem an Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914 parallelisiert, sein Glaube an Österreich erinnere an den des „unglücklichen Kaiser“ Karls I. in der Verbannung. So Robert Skorpil, Dem großen Toten! Bundeskanzler Dr. Dollfuß, in: Ders., Sturm in die neue Zeit. Ein österreichisches Buch von der wahren Wirklichkeit und vom rechten Weg zum Erfolg, Wien 1935, S. 49–52, 137 („Du hast unser Kleid angezogen, das Feldgrau mit dem Christuszeichen, mit dem Zeichen, das man einst in den
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Nicht wenige Künstler und Intellektuelle, wie Franz Werfel, Karl Kraus, Joseph Roth (Dollfuß-Gedenkaufsatz „Vision“), Ernst Krenek (Oper „Karl V.“) und Leo Perutz50, sahen im Ständestaat das kleinere Übel im Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Karl Kraus griff die Sozialdemokraten an, die „vor dem gemeinsamen Würger Meinungsverschiedenheiten oder weltanschauliche Divergenzen“ nicht zurückstellten, und hielt den kirchlichen Widerstand für „mutiger und aussichtsvoller als den des Freidenkertums“51. Daher verurteilte er den Februaraufstand. Engelbert Dollfuß und nicht Otto Bauer „erfülle die Definition der Politik als die ‘Kunst des Möglichen’“52. Auch Franz Werfel, der sich noch 1927 mit seiner Frau Alma und anderen Intellektuellen an einem sozialdemokratischen Wahlaufruf für die Nationalratsund Wiener Gemeinderatswahlen beteiligt hatte, sah nun im katholischautoritären Ständestaat den Schutzwall gegen den Nationalsozialismus53. Die
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Katakomben trug. Du warst unser oberster Führer [...]. Du hast es unternommen, den Willen Gottes in den Wirklichkeiten und Möglichkeiten eines Staates zu erfüllen [...]. Weil du ein wahrer Katholik warst [...], konntest du wurzelecht, wahrhaft deutsch, wahrhaft österreichisch und zugleich universal sein.“). – Vgl. für die Zeit nach 1945 die Würdigung Friedrich Funders, u. Anm. 122. Perutz stammte wie Werfel aus einer deutsch-jüdischen Fabrikantenfamilie in Prag, die 1901 nach Wien übergesiedelt war, wo Perutz zum Freundeskreis Werfels zählte (und die Christlichsozialen wählte). Vgl. Ulrike Siebauer, Leo Perutz – „Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich“. Eine Biographie, Gerlingen 2000, S. 103, 184 f. Der im sozialdemokratischen Lager verankerte „Freidenkerbund Österreichs“, der auf den 1887 gegründeten „Verein der Konfessionslosen“ zurückging, in dem sich Liberale und Sozialdemokraten gegen den „verpfafften Staat“ vereinigt hatten, zählte 1932 65.000 Mitglieder in über 300 Ortsgruppen. Er betrieb eine atheistische und antiklerikale Propaganda. Die Nationalsozialisten lenkten dann den Antiklerikalismus auf ihre Mühlen. So im berühmten Juliheft der Fackel 1934 (Nr. 890–905) nach dem Dollfuß-Mord. Vgl. die Belegstellen samt Resümee der Forschungskontroversen bei Norbert Frei, Karl Kraus und das Jahr 1934, in: Klaus Amann / Albert Berger (Hg.), Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse, institutionelle Voraussetzungen, Fallstudien, Wien, Köln, Graz 1985, S. 303–319. – Dieter A. Binder, Einige Überlegungen zu politischen Positionen von Karl Kraus, in: Literatur und Kritik 211/212 (1987), 55–68. Moralisierend wird Werfel in unserer Zeit vorgeworfen, dass er „generell keine Abgrenzung dem autoritären Regime gegenüber erkennen“ ließ – warum sollte er? So in: Franz Werfel 1890–1945. Katalog einer Ausstellung, gemeinsam veranstaltet vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten u. von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien, zusammengestellt von Heinz Lunzer u. Victoria Lunzer-Tálos (Zirkular, Sondernummer 24), Wien 1990, S. 55. – Wolfgang Paulsen, Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen, Basel 1995, spricht von Werfels „unbeschreiblicher Naivität“ bei der Wahrnehmung des Faschismus, die „einfach peinlich berührt“ (S. 103), Schuschnigg sei als „Austro-Faschist“ Wegbereiter des Anschlusses Österreichs an Deutschland gewesen (S. 132) – auch dies die moralische,
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katholische Staatsidee des Ständestaats war ihm nicht fremd; als Kind des assimilierten Großbürgertums war er in Prag mit der Frömmigkeitswelt des österreichischen Barockkatholizismus groß geworden. Er hatte die Volksschule der Piaristen besucht54, konvertierte jedoch trotz seiner katholischen Überzeugung nicht55. Er betonte später öffentlich die Bedeutung der Religion56. Die beiden stärksten Impulse, aus denen heraus er arbeitete, waren Religiosität und Musikalität; „Frömmigkeit und die Neigung zur Ekstase lagen ihm im Blut“57. Daran ließ er seinen Freundeskreis reichlich teilhaben58. Das offizielle Österreich und Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, der, anders als Dollfuß, aus der Bildungswelt kam und mit Alma und Franz Werfel privat verkehrte, schätzten Werfel als einen den Ständestaat unterstützenden Schriftsteller59. Freilich bekümmerte Werfel nach seinen revolutionär-
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nicht die historische Sicht. – Oliver Hilmes, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Familie Mahler-Werfel und der österreichische Ständestaat, in: Barbara Weidle, Ursula Seeber (Hg.), Anna Mahler. Ich bin in mir selbst zu Hause, Bonn 2004, S. 72–83. Werfel war (wie Sigmund Freud) durch eine tschechische Kinderfrau (Babi) in die katholische Liturgie eingeführt worden, die Synagogengottesdienste hatten ihn kaum beeindruckt. – Zu den biographischen Aspekten Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2006; Norbert Abels, Franz Werfel (rowohlts monographien), 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1998 u. Werfel-Katalog. – Gustav Mahler und Hugo von Hofmannsthal wandten sich als Erwachsene der barocken katholischen Tradition zu. Vgl. Frank Joachim Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“ – Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel. Untersuchungen zu den erzählerischen Werken (Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, Bd. 13), Frankfurt a.M. 1996, S. 55–67. – Jungk, Franz Werfel, S. 68 f., 181, 193. In seinem Gottesbekenntnis (Vortrag „Können wir ohne Gottesglauben leben?“ im Kulturbund Wien, 4.3.1932) stellte das Christentum die einzige Rettung vor Kommunismus und Nationalsozialismus dar; in beiden Ideologien und Diktatoren, Stalin wie Hitler, sah er dasselbe Übel, vgl. Werfel-Katalog, S. 56. – Auf der Tagung des PENClubs im Juni 1937 in Paris griff Werfel Lion Feuchtwanger wegen dessen Reise nach Moskau an. Vgl. Lore B. Foltin, Franz Werfel (Sammlung Metzler, Bd. 115), Stuttgart, Weimar 1972, S. 78. – Mit seiner Religiosität setzte er sich dem Spott Kurt Hillers aus: Profile. Prosa aus einem Jahrzehnt, Paris 1938, hier: „Werfel und Gott“, S. 86–88. Vgl. das Lebensbild bei Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés, Wien, Hamburg 1985, S. 69–77, Zitat S. 75. Zu Werfels Umfeld materialreich Hartmut Binder, Ernst Polak – Literat ohne Werk. Zu den Kaffeehauszirkeln in Prag und Wien, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 23 (1979), 366–415 (Polak gehörte zum Prager Kreis und neben Hermann Broch zu den engsten Freunden Werfels und Alma Mahlers in Wien; Werfel, Broch und Robert Musil zählten zu den Besuchern von Polaks Loge im Café Herrenhof, vgl. ebd. S. 405). Jungk, Franz Werfel, S. 224–228. – Schuschnigg verlieh Werfel am 19.3.1937 das Österreichische Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft; der Bundeskanzler, die Minister Pernter und Neumayer, Staatssekretär Zernatto u.a. besuchten am 5.10.1937
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expressionistischen Anfängen, dass in seiner Generation der Autor und Schriftsteller „allmählich zu einer Stütze der Gesellschaft geworden“ sei. „Anstatt als Sprengstoff zu wirken, fügt er sich willig dem vom Staat und [von] den herrschenden Klassen aufgerichteten Weltbild ein.“60 Alle drei politischen Lager orientierten sich, wenn auch mit graduellen Unterschieden, an Deutschland. Vor allem die intellektuelle Elite sah, wie überall in Europa, auf das pulsierende Leben im Berlin der ‘goldenen zwanziger Jahre’, das Wien als Kulturmetropole abgelöst hatte. Manche zog es ganz oder vorübergehend nach Deutschland, so Franz Werfel als Autor und Lektor zu Kurt Wolff nach Leipzig (1912–1914), an dessen neugegründeten Verlag bzw. berühmte Reihe „Der jüngste Tag“ er den Prager Freundeskreis band61. Die meisten von ihnen siedelten nach Berlin über, so Hermann Bahr, der schon als junger Mann zu Bismarck gepilgert war, Joseph Roth, Franz Blei, Albert Ehrenstein, Alfred Polgar, Robert Musil und Arnold Schönberg. Arthur Schnitzler war es besonders wichtig, seine Bühnenstücke in Berlin aufgeführt zu sehen. Werfel erzielte seine großen Erfolge als Erzähler („Verdi. Roman der Oper“, 1924; „Der Tod des Kleinbürgers“, 1927, „Der Abituriententag“, 1928; „Barbara oder die Frömmigkeit“, 1929) im Deutschland der Weimarer Republik62. Die großbürgerlichen jüdischen Literaten hatten die Assimilation über die Teilhabe an Bildung und Kunst des deutsch-liberalen Bürgertums erstrebt und erreicht und sich von der Subkultur des jiddisch sprechenden Ostjudentums der Mietskasernen und Hinterhöfe abgegrenzt63, Werfel über die Verwurzelung im
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demonstrativ die Uraufführung von Werfels Drama „In einer Nacht“ im Theater in der Josefstadt (Regie Max Reinhardt). Vgl. Foltin, Franz Werfel, S. 78 f. So 1931 gegenüber Bertha Zuckerkandl, vgl. B. Zuckerkandl, Österreich intim. Erinnerungen 1892–1942, Wien, München 1981, S. 173f. Vgl. Werner M. Bauer, Literarische Avantgarde als Ware. Kurt Wolff (1887–1963) als Verleger österreichischer Dichtung, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980), Graz 1989, S. 205–217. – Matthias Pape, Kurt Wolffs Erinnerungen an Bonn. Mit einem Lebensbild Kurt Wolffs herausgegeben, in: Bonner Geschichtsblätter 39 (1989) [1993], 305– 352, hier 321–323. – Jungk, Franz Werfel, S. 50–63. Die deutsche Verdi-Renaissance der zwanziger Jahre (als Gegenbewegung zum Wagnerkult) ist nicht zuletzt Werfels Roman-Bestseller (mit dem erfundenen Konflikt zwischen Wagner und Verdi), seiner Ausgabe der Verdi-Briefe (1926) und seinen Nachdichtungen von Verdis Libretti und deren spektakulärer Aufführung (v.a. durch Fritz Busch in Dresden) zuzuschreiben. Vgl. Hendrijke Mautner, Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung Franz Werfels für die deutsche „Verdi-Renaissance“ (Schriften zur Musik, Bd. 6), Schliengen 2000. – Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a.M., Leipzig 2002, S. 502–522. Zur Darstellung des Wiener Antisemitismus und der Assimilation des jüdischen Großbürgertums (mit seinen ostjüdischen Wurzeln) über Salon, Soiréen und Musik (Kam-
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Prager Deutschtum und (wie Joseph Roth) in der katholischen Frömmigkeitswelt; sie alle lehnten den Zionismus entschieden ab64. Die so geprägten jüdischen Schriftsteller lebten nach 1918 in den Traditionen der alten Habsburgermetropole weiter und suchten seit den frühen dreißiger Jahren, wohl als Reflex auf die politische Entwicklung in Deutschland und Österreich, die Rückorientierung an der übernationalen Habsburgermonarchie und am Habsburgermythos65, während die politische Linke die Erinnerung an die alte Dynastie zugunsten des Bekenntnisses zur deutschen Nation und Kultur aus dem Geschichtsbild eliminieren wollte. Otto Bauer forderte „eine Nationalisierung des Geschichtsunterrichts; denn in dieser Weise wird die Geschichte Deutschösterreichs dargestellt als ein Stück der deutschen Geschichte“, die „Habsburg-Legende“ müsse beseitigt werden66. Auch Franz Werfel hat das Altösterreichertum und die österreichische Reichsidee in seinem großen Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“ als Prolog zur amerikanischen Ausgabe seiner Werke im April 1936 in Locarno der Nachwelt ins Gedächtnis einschreiben wollen67. Darin beklagt er, „in einem sehr komplizierten Sinne heimatlos geworden“ zu sein, nachdem sich das Habsburgerreich „in seine dämonischen Einheiten“, nämlich in Nationalstaaten, aufgelöst habe. Im Mittelpunkt steht ein Porträt bzw. Psychogramm Kaiser Franz Josephs, „dessen Blut und Tradition deutsch war“, der aber versucht habe, „mit letzter Aufrichtigkeit allen Völkern der Monarchie gerecht zu werden“ und dessen innerster Wesenszug die Wahrung von Distanz gewesen sei. Werfel spürt dem Versuch nach, wie sich sein gesellschaftspolitisches Ideal einer liberalen Demokratie in der Form eines (christlichen) Sozialismus zuletzt
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mermusik der deutschen Romantik, deutsche Oper) in Schnitzlers wichtigstem Roman vgl. Matthias Pape, „Ich möcht’ Jerusalem gesehen haben, eh’ ich sterbe.“ Antisemitismus und Zionismus im Spiegel von Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ (1908), in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2001, S. 198–236. Joseph Roth wandte sich als Schüler in Brody (Ostgalizien) gegen den Beitritt in einen zionistischen Verein mit den Worten: „Ich bin kein polnischer Assimilant, sondern ein österreichischer“. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974, S. 82. So Joseph Roth, Radetzkymarsch (1932), Die Büste des Kaisers (1934), Die Kapuzinergruft (1938); Franz Theodor Csokor, 3. November 1918 (1936); Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930/43), hier Kap. 8; Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens (1938), Erinnerungen Die Welt von Gestern (1942). – Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 1963, Neuaufl. Wien 2000, hier Kap. VI. Otto Bauer, Schulreform und Klassenkampf, Wien 1921, S. 8 f. Wieder in: Franz Werfel, Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge (Franz Werfel, Gesammelte Werke), München, Wien 1975, S. 493–520. – Vgl. Magris, Der habsburgische Mythos, S. 314–321.
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noch mit dem österreichischen Gedanken und der Reichsidee verbunden habe, wofür er eine gewisse Akzeptanz zuletzt sogar bei der Krone, so durch Einräumung des allgemeinen Wahlrechts, unterstellt. Die Reichsidee habe am Ende ihre „Bundesgenossen in der Masse der Armen und Ärmsten“ gefunden. Auf den Essay hat an vielen Stellen die ständestaatliche Österreichidee abgefärbt, die der nationalsozialistischen Staatsidee die katholische im barocktheatralischen Gewand entgegenstellte. Sie propagierte im Rückgriff auf das Erbe der Habsburgermonarchie die Mission Österreichs innerhalb des „Gesamtdeutschtums“ und seine „Erfüllung der Sendung des deutschen Volkes im christlichen Abendland“, vor allem im Donauraum; sie sprach vom „besseren deutschen Wesen“ des „österreichischen Menschen“, der der geborene Mittler und Vermittler sei, und im Hinblick auf das reiche Kulturerbe von der „geistigen Großmacht“ Österreich68. Werfel unterstreicht die „Schlüsselstellung“ Österreichs für das Abendland und das besondere („durch Opfer erprobte“) „österreichische Menschentum“69. Es sei auf den Augenblick, auf Beschaulichkeit und Genuss ästhetischer und musischer Werte und nicht auf den Erwerb irdischer Reichtümer gerichtet: „Im österreichischen Wesen kreuzten sich formgebundenes Bürgertum und formfeindliche Bohème“. Er betont das eigene österreichische Deutsch der Grillparzer, Raimund, Nestroy und Stifter. Das „große Heiligtum“ des Reiches sei aber „die Sprache aller Sprachen“, die Musik gewesen, die ein einziger Name ausreichend zum Ausdruck bringe: Mozart – „Er ist die tönend gewordene Idee Österreichs“70. So hat es auch die ständestaatliche Propaganda verkündet. Unterrichtsminister Hans Pernter sagte programmatisch: „Der Königsgedanke der Gründer des neuen Österreich ist ja die Überzeugung von seiner besonderen, kulturpolitischen, seiner unzerstörbaren geistigen Sendung.“71 Der Katholikentag im Jahr 1933 in Wien und die gleichzeitige 250-Jahr-Feier zur Befreiung Wiens von 68 69 70 71
Vgl. Anton Staudinger, Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie, in: Tálos / Neugebauer, Austrofaschismus, S. 287–316. Werfel, Zwischen Oben und Unten. Ebd. So in seinem Aufsatz „Die kunstpolitischen Richtlinien der österreichischen Staatsführung“, in: Der Augarten. Blätter für Schrifttum und Kunst in Österreich 1 (1934/35) S. 152 (der „Augarten“ glitt zunehmend ins NS-Lager ab). – Vgl. Helmut Wohnout, Im Zeichen des Ständeideals. Bedingungen staatlicher Kulturpolitik im autoritären Österreich 1933–1938, in: Jan Tabor (Hg.), Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956, Baden 1994, S. 134–141.
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den Türken, die alljährlich am 12. September, dem Fest Mariä Namen, begangen wurde, boten reichlich Anlass, die „Mission“ Österreichs für das „christliche Abendland“ herauszustellen72. Werfel war 1936, dem Jahr, das den Hintergrund der „blaßblauen Frauenschrift“ bildet, durchaus noch der Überzeugung bzw. Hoffnung, der Ständestaat würde sich behaupten können, weil er ein tragfähiges geistiges Fundament besitze, das auf dem Erbe der Monarchie gründe. Seine Gattin Alma, die einen zelotischen Katholizismus vertrat, unterstützte die katholische Staatsidee uneingeschränkt73. Das Interesse der literarhistorischen Forschung gilt vornehmlich der Organisation und Reglementierung des literarischen Lebens im Ständestaat bzw. „Austrofaschismus“ und der Einstellung der Schriftsteller zu den wechselnden politischen Regimen (1934, 1938, 1945)74; es liegen nur wenige ästhetische Analysen der erzählenden Literatur bzw. Heimatlyrik vor75.
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Dazu auf der Linie der „gesamtdeutschen“ Geschichtsauffassung der Srbik-Schule Reinhold Lorenz, Türkenjahr 1683. Das Reich im Kampf um den Ostraum, Wien, Leipzig 1933, 3. Aufl., München 1943. Zu erinnern ist jedoch daran – dies gehört zu den vielen Widersprüchlichkeiten in Werfels Leben –, dass dieser noch am 19.3.1933, als ihn „Der Stürmer“ längst ausgegrenzt hatte, als Mitglied der Preußischen Akademie der Künste eine Erklärung unterschrieb, mit der er sich „unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage“ dazu bereit erklärte, seine „Person“ der nunmehr „gesäuberten“ Akademie auch weiterhin zur Verfügung zu stellen, während Thomas Mann und Ricarda Huch ihren Austritt erklärten. Vgl. Jungk, Franz Werfel, S. 207f. – Abels, Werfel, S. 98. Vgl. Karlheinz Rossbacher, Literatur und Ständestaat, in: Friedbert Aspetsberger (Hg.), Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur (Schriften des Instituts für Österreichkunde, Bd. 32), Wien 1977, S. 93–107. – Friedbert Aspetsberger, Literatur und Politik in den dreißiger Jahren. Zur trivialen Bildungs- und Massenliteratur der Staatspreisträger (1979), wieder in: Ders., Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur, Bd. 14), Frankfurt a.M. 1987, S. 226–252. – Ders., Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 2), Königstein/Ts. 1980. – Ernst Fischer, Literatur und Ideologie in Österreich 1918–1938. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderheft Forschungsreferate, Tübingen 1985, S. 183–255. – Klaus Amann / Albert Berger (Hg.), Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse – Institutionelle Voraussetzungen – Fallstudien, 2. Aufl., Wien, Köln, Graz 1990. – Klaus Amann, Der österreichische NS-Parnass. Literaturbetrieb in der „Ostmark“ (1938–1945), in: Tálos [u.a.], NSHerrschaft in Österreich, S. 570–596 (hier Hinweise auf die jüngere Literatur). Wie Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 7), Wien, Köln, Weimar 2002 (Neudruck von Aufsätzen).
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Franz Werfel war einer der wenigen Schriftsteller von Rang und Format, der sich in seiner Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ mit dem Ständestaat in einem literarischen Kunstwerk auseinandergesetzt hat. Er hat sie zwischen Februar und April 1940 in Sanary-sur-Mer geschrieben76, einem Fischerdorf zwischen Marseille und Toulon an der „kleinen Riviera“. Dorthin war er nach der Annexion Österreichs im März 1938, die er aus der Ferne auf Capri erlebt hatte, mit seiner Frau Alma über Zürich, London und Paris gereist77. Sanary war von 1933 bis zu den Dekreten und Internierungsanordnungen der VichyRegierung bzw. den Auslieferungsansuchen der Reichsregierung seit Mitte 1940 von vielen Emigranten bevölkert, die meisten von ihnen Sozialisten, Kommunisten oder Juden, darunter Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Julius Meier-Graefe, Ludwig Marcuse, Bruno Frank, René Schikkele, die Kinder Thomas Manns und viele andere. Sie lebten auf dichtem Raum zusammen, nur geeint durch das gleiche Schicksal, aber durch viele persönliche Vorbehalte und sachliche Gegensätze getrennt. Schickele, dem die vielen jüdischen Emigranten zu laut und übermächtig erschienen, sprach von „Sanary-les-Juifs“78. Die Literaturwissenschaft hat diesen „Erinnerungsort“ deutscher Exilschriftsteller in jüngerer Zeit entdeckt und rekonstruiert79. Im Hafen von Sanary erinnert seit 1987 eine Gedenktafel an den Aufenthalt deutscher und österreichischer Schriftsteller, die mit den Einwohnern wenig verband, ja, deren Stimmung sich nach der erfolgreichen Annexion Österreichs und dem Münchner Abkommen von 1938 aus Sympathie für HitlerDeutschland gegen die Fremden wandte, die offensichtlich im Gegensatz zu 76
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Das letzte Blatt des Manuskripts ist datiert „Lourdes 2/8 40“. Vgl. Werfel-Katalog, S. 62. – Abels, Werfel, S. 111 f., 120–122. – Im April 1938 hatte Werfel das Schema des Aufbaus für ein Romanprojekt (Krankheit, die zum Leben führt) entworfen (Abdruck im Werfel-Katalog, 61), mit dem er im Herbst begann und das schließlich den Titel „Cella oder Die Überwinder. Versuch eines Romans“ erhielt (zuerst in: F. Werfel, Erzählungen aus zwei Welten, Bd. 3, hg. Adolf D. Klarmann [Frankfurt a.M. 1954], zuletzt in: F. Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. Knut Beck [Frankfurt a.M. 1997], hier zur Entstehungsgeschichte S. 271–278). – Im ersten Teil schildert Werfel die Verhältnisse in Österreich vor Hitlers Einmarsch. Der zweite Teil sollte das Los der Emigranten in Paris thematisieren. Werfel meinte dann jedoch, dass sich die Greuel an den Juden einer literarischen Verarbeitung entzögen. Stattdessen nahm er das Thema mit der „Blaßblauen Frauenschrift“ wieder auf. Vgl. Werfel-Katalog, S. 61 f. Vgl. Jungk, Franz Werfel, S. 250–256, 260–263. Zu den dortigen Lebensverhältnissen: Jahre des Unmuts. Thomas Manns Briefwechsel mit René Schickele 1930–1940, hg. Hans Wysling u. Cornelia Bernini (Thomas-MannStudien, Bd. 10), Frankfurt a.M. 1992, Zitat S. 21. Vgl. Heinke Wunderlich, Spaziergänge an der Cote d’Azur der Literaten [Zürich 1993], hier: Spaziergänge in Sanary-sur-Mer, der „heimlichen Hauptstadt der deutschen Literatur“ (Ludwig Marcuse) S. 53–74. – Ruth Werfel (Hg.), Gehetzt. Südfrankreich 1940 (Deutsche Literatur im Exil), Zürich 2007, Lizenzausg. München 2008.
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ihrem Vaterland standen80. Das literaturwissenschaftliche Interesse ist biographischer Natur, noch ohne nähere Einbeziehung der hier entstandenen Werke81. Werfels Novelle erschien 1941 im Juli in Buenos Aires (im Verlag Editorial Estrellas), als die Werfels nach einer abenteuerlichen Flucht zusammen mit Nelly, Heinrich und Golo Mann von Marseille über die Pyrenäen, dann Spanien und Lissabon nach New York inzwischen in Los Angeles lebten82. Die „blaßblaue Frauenschrift“ wird von der Werfel-Forschung eher beiläufig erwähnt. Zwar wird deren künstlerischer Gehalt heute mehr als früher betont83, doch fehlt eine eigenständige Untersuchung84. Die Novelle hat in den Arbeiten zur Literatur des Ständestaats keine Erwähnung gefunden, da sie nach dessen Untergang entstanden ist. Aber auch die Forschung zur österreichischen Exilliteratur hat ihren ästhetisch-historischen Rang nicht erkannt85. Werfels Novelle ist ein Beispiel dafür, wie ein literarisches Kunstwerk durch ein anderes künstlerisches Medium, den Film, Jahrzehnte später eine Interpretation und Transformation erfahren kann, die einen neuen Blick auf den Gegenstand eröffnet: Axel Cortis Verfilmung von 198386 hat der literarischen 80 81 82
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Vgl. Heinke Wunderlich / Stefanie Menke [u.a.], Sanary-sur-mer (Deutsche Literatur im Exil, Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bd. 5), Stuttgart, Weimar 1996, S. 50, 56. Dazu erste Hinweise ebd. S. 13–19, zu Werfel S. 233–240. Vgl. Lore B. Foltin / John M. Spalek, Franz Werfel, in: John M. Spalek, Joseph Strelka (Hg.), Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. 1: Kalifornien, Tl. 1, Bern, München 1976, S. 644–667 (zwar eingangs auch zu Sanary, aber nicht zur „blaßblauen Frauenschrift“). Franz Brunner, Franz Werfel als Erzähler, phil. Diss. Zürich 1955, S. 47–49, zählte die Novelle noch zu Werfels „mittleren Leistungen“, sie sei „vor allem ein Werk des Routiniers; der Dichter ist nur mit halber Kraft dabei“. – Max Brod, Erzählungen aus zwei Welten / Bemerkungen zum dritten Nachlassband Werfels (bei S. Fischer), in: Die Zeit, 20.1.1955, sah in der „blaßblauen Frauenschrift“ „das Positivste“, „was Werfel je zur Schilderung der jüdischen Eigenart geschaffen hat“. Die Erzählung sei „im Bau, in der Erfindung, in der Wärme des Herzens, im blitzartig erhellenden Detail gleicherweise klassisch“. – Meinhard Prill, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon 17, 1992, S. 550 f., nennt die Novelle eine von Werfels „besten Arbeiten“. – Nach Paulsen, Franz Werfel, S. 86, überragt die „kunstvolle“ Erzählung alle früheren; Paulsen bietet indes mehr Inhaltsangabe als Analyse, S. 223–233. – Periphere Erwähnung bei Jungk, Franz Werfel, S. 270 f., 295 f. Friedrich Heer geht in seinem Nachwort zur Ausgabe der Novelle in der Fischer Bibliothek (Frankfurt a.M. 1977), S. 154–180, auf den Zeithintergrund ein, aber kaum auf die Novelle selbst. Sie ist auch nicht thematisiert bei Michel Reffet (Hg.), Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker. Le monde de Franz Werfel et la morale des nations. Kongreßakten des Franz-Werfel-Kolloquiums, Universität Dijon 1995 (Bohemia. Publikationen der Internationalen Franz Werfel-Gesellschaft, Bd. 1), Bern [u.a.] 2000. Regie: Axel Corti (auch Erzähler), Buch: Kurt Rittig, Hauptrollen: Friedrich von Thun bzw. Gabriel Barylli (Leonidas, der im Film den Nachnamen Tachezy trägt) und
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Vorlage beachtliche Resonanz verschafft87. Der Film war einer der großen Publikumserfolge der Koproduktionen von ARD, ZDF, SRG und ORF in den 1980er Jahren und ist vielfach ausgezeichnet worden: mit „Prix Italia“, „Goldener Nymphe“, Kritikerpreis beim Festival von Monte Carlo (alle 1985) und „Goldener Kamera“ 1987. Für den Film wurde Corti außerdem als bester Regisseur auf dem 34. Internationalen Filmfestival von San Sebastian geehrt. Die Verfilmung bleibt dicht am Text der Vorlage und fängt das Zeitkolorit mustergültig ein, die Details der Ausstattung orientieren sich akribisch an den Erscheinungsformen der dreißiger Jahre. Das Drehbuch weicht allerdings einmal von der Vorlage, dem Handlungsort des dritten Kapitels, deutlich ab, worauf einzugehen sein wird88. Den Eindruck bestimmen neben dem sprachlichen Anteil des Films opulente Bilder von Wien, der Architektur und der Interieurs ebenso wie der Landschaft, ein Schwingen der Stimmen, der Bewegungen der Figuren und der wiederkehrenden Musik, was „das Leichte des Films“ ausmacht, auf dem „der Erzähler seine melancholischen Akzente setzen kann“89. Im Folgenden soll versucht werden, aus der ästhetischen Analyse dem Bild auf die Spur zu kommen, das Werfel der Nachwelt vom Ständestaat, seiner Gesellschaft und Bürokratie, überliefern wollte. Vorausgeschickt sei die grundsätzliche Beobachtung, dass Werfel zwar historische Authentizität anstrebt, die Novelle aber zahlreiche historische Unstimmigkeiten enthält, die nicht sogleich in die Augen springen90. Werfel kam es offensichtlich vor allem darauf an, ein Sittengemälde des Ständestaats zu entwerfen. Die sachlichen Inkongruenzen
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Krystyna Janda (Amelie). Erstsendung im ORF am 26.10.1984 (241 Minuten, zweiteilig), im ZDF am 13. u. 14.7.1986 (mehrfach wiederholt); Bildausschnitt bei Abels, Werfel, 120. – Corti (geb. 1933 in Paris, gest. 1993 in Oberndorf / Österreich) hat das Schicksal der jüdischen Emigration und der Odyssee durch zahlreiche Länder Europas selbst durchlebt und sich in seinen Filmarbeiten bevorzugt mit der Zeit des Dritten Reichs auseinandergesetzt. Dies erklärt wohl die Aufnahme der Novelle in die von der Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung herausgegebene Sammlung „50 große Romane des 20. Jahrhunderts“ (München 2008), aber ohne jede Einführung. Harald Eggebrecht spricht im Klappentext, offenbar unter dem Eindruck der Verfilmung, von „Leonidas Tachezy“. Vgl. u. Anm. 95. Knut Hickethier, „Süße Fremdartigkeit“ und die „Halbschlächtigkeit des Herzens“ – Axel Cortis Film „Eine blaßblaue Frauenschrift“ nach der Erzählung von Franz Werfel, in: Die Ungetrennten und Nichtvereinten. Studien zum Verhältnis von Film und Literatur, Innsbruck 1995, S. 30–51, hier S. 19. Vgl. u. Anm. 95, 96.
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entsprechen den grammatikalischen und stilistischen Flüchtigkeiten vieler seiner Werke91.
III. Werfels Erinnerungs-Bild vom Ständestaat Die Novelle bezieht ihre Spannung aus dem Aufbau, indem die Personenkonfiguration durch Rückblenden allmählich Gestalt annimmt; sie lebt weiter von der scharfen Charakterisierung der Personen bis hin zu Karikatur bzw. sprechenden Namen und von der subtilen, leitmotivartig eingesetzten Symbolik (Wetter-, Teerosen-, Fracksymbolik). Der Stil ist geprägt vom inneren Monolog der Hauptfigur, dem Sektionschef Leonidas (dessen Nachnamen der Dichter nicht nennt). Durch ihn vor allem nimmt der Leser Handlung und Personen wahr, sofern sie sich im Dialog mit der Hauptfigur nicht selber äußern und damit Einblick in ihr Denken und Fühlen geben. Den Stil prägt außerdem der häufige Tempuswechsel zwischen Präsens (innerer Monolog) und Präteritum92. Die Novelle reflektiert nicht nur, wie viele Werke Werfels, das Thema von individueller Schuld und Verantwortung, deren Verdrängung und fehlender Bewältigung bzw. gelöschter Erinnerung, sondern ist – wie gezeigt werden soll – vor allem politischer Natur. Werfel brauchte den brisanten Zeithintergrund nur anzudeuten, der den Zeitgenossen unmittelbar vor Augen stand, während dem Leser von heute die über den Text verstreuten zeitgeschichtlichen Beobachtungen und Anspielungen sowie die eingeflochtenen politischen Parolen des Ständestaats weit entrückt sind. Diese werden im Folgenden zu dem Bild zusammengezogen, das sich hinter der Fabel verbirgt, um die es Werfel nur vordergründig ging. Vielmehr wollte er im Rückblick von nur zwei Jahren an die tieferen Gründe für den Untergang Österreichs erinnern. Die wenigen literaturwissenschaftlichen Bemerkungen zur Novelle und Axel Cortis Verfilmung haben den psychologischen Gehalt thematisiert: die Beziehung der Hauptfigur, des aus verarmten bildungsbürgerlichen Verhältnissen zum Sektionschef aufgestiegenen Leonidas, zu zwei Frauen: zum einen seiner Gattin Amelie gegenüber, die aus dem „Welthaus“ Paradini mit seinen weitverzweigten Geschäftsbeziehungen und einer „eingebildeten snobistischen Millionärsfamilie“ stammt (19). Amelie heiratet „León“, wie sie ihn anspricht, 91
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Vgl. Brunner, Werfel, S. 149; Werfel-Katalog, S. 19. – Werfel hat sich bei der „Blaßblauen Frauenschrift“ nicht mehr, wie viele Wiener Literaten und Werfel selbst noch einmal 1939 bei seinem „Veruntreuten Himmel“, der stofflichen Zubringerarbeit und korrigierenden Hand Ernst Polaks bedient, die auch Alma Mahler 1939 für ihr Buch über Gustav Mahler in Anspruch genommen hat. Vgl. Binder, Ernst Polak, S. 407 f., 412, 414. Im Folgenden sollen nur wenige Hinweise zur Bauform der Novelle gegeben werden.
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den „schönen Mann“ und besten Tänzer des besonders schwierigen, nach links getanzten Walzers (4, 5)93, der damals nur ein „kleiner Konzeptbeamter“ war (20), gegen den „erbitterten Widerstand der ganzen millionenschweren Verwandtschaft“ (6). Sie liebt ihn eifersüchtig, kasteit sich für ihn, um „schön und schlank“ zu bleiben (6, 21), und bietet ihm obendrein eine Luxusexistenz. Amelie vereint alle Charakterzüge einer hysterischen Magersüchtigen. Die Ehe bleibt kinderlos. Die andere Beziehung (in zwei Rückblenden im 3. Kapitel entwickelt) verbindet Leonidas mit der Jüdin Vera Wormser, die er 1909 als unbemittelter Student und Hauslehrer ihres Bruders in deren Elternhaus in Wien kennenlernt, ohne aus der Rolle des „schüchternen Liebhabers“ (24) bzw. aus dem „Elend einer noch nicht voll entwickelten Lemure“ (23) herauszufinden94. Viele Jahre später trifft er sie, im dreizehnten Monat seiner Ehe (19), auf einer Dienstreise in Heidelberg wieder. Hier will er, für Aufbau und Verwaltung der Universitäten im Ministerium zuständig, „die vorbildliche Organisation“ des deutschen Hochschulstudiums (19) näher kennenlernen. Vera, neun Jahre jünger, studiert in Heidelberg Philosophie, sucht nach der Wahrheit und lebt darin; sie trägt, wie die meisten Figuren, einen sprechenden Namen. Mit ihren in der Mitte gescheitelten nachtschwarzen Haaren, langbeschatteten tiefblauen Augen unter schwarzen Brauen und ihrem Nachnamen ist sie auch äußerlich als Jüdin zu erkennen (21, 22). Aus der Wiederbegegnung ergibt sich eine sechswöchige leidenschaftliche Beziehung. Für Leonidas ist es ein „unbeschreiblicher Kitzel“, dass in der kühl-rationalen Vera „das Eis der israelitischen Intelligenz“ schmilzt und „das entzückte Weibchen“ hervortritt, das sich ihm bedingungslos hingibt (12, 28). Er unternimmt mit ihr Reisen in die romantischen Städtchen des Taunus’, des Schwarzwalds und Rheinlands, macht sie „so restlos“ zu 93
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Leonidas kann seine tänzerischen Fähigkeiten Dank eines „neuen, tadellosen“ Fracks (4, 6, 77) demonstrieren, den ihm – dies ein Seitenmotiv des jüdischen Novellenthemas – ein jüdischer Kommilitone und Budennachbar testamentarisch hinterlassen hat, „der sich aus keinem triftigeren Grunde erschossen hatte, weil er des vergötterten Richard Wagner Verdammungsurteil gegen den eigenen Stamm nicht zu ertragen vermochte“ (18 f.). Mit dem Frack zieht Leonidas gleichsam eine neue Identität an: „Dieses Staatsgewand wird entscheidend für den Lebensweg des Studenten“ (4). Der Schluss der Novelle zeigt Leonidas in der Oper mit „zerknittertem und grauem Gesicht“ „über der blendenden Frackbrust“ (73). Verbindet sich mit Leonidas das Frack-, so mit Vera das Rosenmotiv. Der jugendliche Leonidas versteckt die Vera zugedachten „langstieligen Rosen“ aus lauter Schüchternheit hinter einem Schrank in deren Elternhaus (24). Zu ihrem Wiedersehen achtzehn Jahre später kauft er für Vera „unbewußt“ „achtzehn langstielige hellgelbe Teerosen“, deren „sanfter, ein wenig fauliger Duft“ ihn angezogen hat (60), die nach der Begegnung ein „stetiges Licht ausstrahlten“ (69) und ihm schließlich wie „Totenblumen“ (72) vorkamen.
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seiner Frau wie keine andere (27), verspricht ihr die Ehe, kauft zusammen mit ihr die Aussteuer, fährt zurück nach Wien – und lässt nichts mehr von sich hören. Er löscht die Erinnerung an Vera (18, 21, 24). Es ist unklar, wann die Reise stattgefunden hat. Leonidas stellt im Jahr 1936 fest, er habe den letzten Brief Veras vor mindestens 15 Jahren in St. Gilgen erhalten (9), drei Jahre nach der Heidelberger Affäre (11), die 18 Jahre zurückliegen soll (13, 17). Danach lag die Begegnung im Jahr 1918. An anderer Stelle sagt er, bei der Wiederbegegnung in Heidelberg sei er 31 Jahre alt gewesen (20, 25). Danach fällt die Episode ins Jahr 1917. Es ist unrealistisch, dass das Liebespaar in den Hunger- und Steckrübenjahren 1917/18, die Werfel im Kriegspressequartier in Wien selbst erlebt hat, derartig unbeschwerte Sommerwochen verleben konnte (27). Außerdem fielen die Schul- und Hochschulreformen, die die Dienstreise erst glaubwürdig machen würden, in die Ära von Carl Heinrich Becker (der Deutschen Demokratischen Partei nahe stehend), der zwischen 1919 und 1930 in der Leitung des preußischen Kultusministeriums (als Staatssekretär und Minister) stand95. Die für die Handlung irrelevante Scheinpräzision der Novelle irritiert auch an anderen Stellen96. Der Erzähler enthüllt früh Leonidas’ zwiespältigen Charakter. Dieser hält sich „mehrmals am Tag“ für einen „ausgemachten Götterliebling“ (5) und kreist immerzu um sich selbst, so wie er auch als junger Tänzer um sich selbst gekreist ist; er lächelt „gemischt“ (4), so wie sich in ihm das Selbstbewusstsein des attraktiven und arrivierten Mannes mit Inferioritätsbewusstsein wegen seiner Herkunft mischt, die ihm stets gegenwärtig ist und an der er sich – tiefenpsychologisch gesehen – abarbeitet (57). Er lebt ganz aus dem Augenblick heraus und scheut die Auseinandersetzung mit seiner schuldhaften Vergangen-
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Heidelberg war im übrigen badische Landesuniversität. Vgl. C[arl] H[einrich] Becker, Kulturpolitische Aufgaben des Deutschen Reiches, Leipzig 1919. – Die Verfilmung von Rittig / Corti verlegt die Reise, vielleicht auch wegen der chronologischen Unstimmigkeit, ins faschistische Oberitalien nach Perugia (also in die Zeit nach 1923) und betont durch die Bilder die Nähe des Ständestaats zum Faschismus. – Die Datierungen sind für den ästhetischen Gehalt der Novelle belanglos, anders als bei Hofmannsthals „Der Schwierige“, dessen erste beide Akte 1917 als Nachkriegskomödie geschrieben wurden und auch in diesem Jahr spielen, den Frieden vorwegnehmen und vom Weiterbestehen des Herrenhauses ausgehen. Amelies Alter wird ungefähr (acht- oder neunundreißig Jahre, 6), Veras Alter präzise angegeben (neun Jahre jünger als Leonidas, 21); der Erste Weltkrieg geht an Leonidas spurlos vorbei, während Veras Bruder gleich zu Beginn des Krieges als (jüdischer!) Freiwilliger bei Rawa Ruska fällt (22); Leonidas bekleidet während der Reise eine herausgehobene Stellung im Ministerium, während er noch im Jahr zuvor bei der Heirat ein „kleiner Konzeptbeamter“ gewesen ist.
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heit (5); er macht keine Entwicklung durch97. Er heißt Leonidas, was seine bildungsbürgerliche Herkunft unterstreicht98, ist aber das Gegenteil des Helden gleichen Namens und Königs von Sparta; der Name ist pure Ironie, er wird von Veras Vater auf eine den jungen Leonidas „beschämende“ und „kränkende“ Art (22) parodiert99. Man kann darin auch eine ironische Anspielung Werfels auf den Sparta-Kult des Nationalsozialismus sehen, dessen Erziehungspolitik sich am spartanischen Modell, am Gemeinschaftswillen, rastlosen Dienst am Staat und rassisch gedeuteten Herrenmenschentum Spartas orientierte. Sparta war für den Nationalsozialismus und den Geschichtsunterricht das wichtigste Thema der alten Geschichte. Das damals einflussreichste Sparta-Buch, das den Staat der Spartiaten pathetisch idealisierte, dieses Bild in weiteste Kreise trug und die Grundpositionen der NS-Ideologie teilte, ohne voll darin aufzugehen, sagte über die dreihundert Spartiaten um Leonidas in der Schlacht bei den Thermopylen, ihr Heldentum liege nicht darin, dass sie bei der Verteidigung des Vaterlandes fielen, sondern „daß sie fern von der Heimat, an einer Stelle, wohin der Befehl sie gestellt hatte, aushielten aus keinem anderen Grunde, als weil es so Befehl war.“ „Wie die Größe, so lag auch die Wirkung der Tat gerade in ihrer Nutzlosigkeit.“100 97
Dies verbindet ihn mit Romanfiguren des Impressionismus wie Georg von Wergenthin, der Hauptfigur in Schnitzlers „Der Weg ins Freie“ (1908). Vgl. Pape, Antisemitismus und Zionismus, hier S. 229–234. 98 Eine Reminiszenz daran sind die in seinem Büro stehenden griechisch-römischen Klassiker und zehn Jahrgänge der Tübinger altphilologischen Studien aus dem Besitz seines Vaters, eines „dürftigen Gymnasiallehrers“ (3, 34). 99 Der in der wissenschaftlichen Welt aufgehende Arzt Dr. Wormser (21) ruft den Studenten-Hauslehrer Leonidas mit einer Parodie des berühmten Grabepigramms zu Tisch, das an die mit König Leonidas im Kampf gegen die erdrückende Übermacht des Perserkönigs Xerxes bei den Thermopylen gefallenen dreihundert Spartiaten (480 v. Chr.) erinnerte (Herodot, Buch VII, Kap. 228), wie es durch Schillers Übersetzung (Elegie „Der Spaziergang“) in den Bildungskanon eingegangen ist: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ Bei Dr. Wormser: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / hier uns schmausen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ 100 So der eine gegenwartsbezogene Verlebendigung der Antike anstrebende und die nationalsozialistischen Bildungsziele unterstützende Althistoriker der jüngeren Generation Helmut Berve, Sparta (Meyers Kleine Handbücher, Bd. 7), Leipzig 1937, 2. Aufl., 1944, S. 78 f., wieder in: Ders., Gestaltende Kräfte der Antike [noch nicht in der 1. Aufl. 1949, aber in der] 2. Aufl. München 1966, S. 58–207. – Das schmale Buch gehörte zum Lesekanon der Adolf-Hitler-Schulen. Hitler soll im Februar 1945 geäußert haben: „Ein verzweifelter Kampf behält seinen ewigen Wert als Beispiel. Man denke an Leonidas und seine dreihundert Spartaner.“ Vgl. Karl Christ, Spartaforschung und Spartabild. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.), Sparta (Wege der Forschung, Bd. 622),
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Symbol ist nicht nur Leonidas’ Name, sondern auch der von ihm beherrschte Gesellschaftstanz, der für die 1918 untergegangene Welt steht, die Leonidas repräsentiert101. Dieser fühlt sich der „sonderbaren Epoche“ des „beschwingten Zweischritt-Walzers“ (5), der „staunenswerten Zauberwelt“ mit ihrer „sozialen Rangordnung“ (4) verbunden und verachtet „die Tänze des modernen Massenmenschen“ (Jazz, Foxtrott), die „in ihrem gleichgültigen Gedränge nur dem maschinellen Trott ziemlich unbeseelter Glieder einen knappen Raum gewähren“ (5). Darin enthalten sind die Schlagworte der konservativen Zivilisationskritik der Zwischenkriegszeit mit ihrer Ablehnung der „seelenlosen Massengesellschaft“ – Synonym für Demokratie, Gleichheitsgedanke und „liberalistischer“ statt „organischer“ (Stände-)Verfassung. Das Überlebte der Welt, auf die Leonidas fixiert bleibt, symbolisiert schließlich das Interieur seines Dienstzimmers im Ministerium. An der Wand hängen „die völlig nachgedunkelten Bilder irgendwelcher verschollener Erzherzöge und Minister – all diese abgenützten, persönlichkeitslosen Gegenstände aus dem ‘Hoffamiliendepot’, die wie Stützen waren, die seinen wankenden Gefühlen Halt verliehen“ (34). Die Monarchie und der Adel sind zwar abgeschafft und die Bilder, Büsten und Denkmäler Kaiser Franz Josephs und seiner Gemahlin aus allen öffentlichen Räumen verbannt worden. Die Dynastie konnte aber aus der Erinnerung nicht einfach gelöscht werden und blieb vielfach, wie in den Amtsräumen der Hofburg und der Ministerien, präsent. Auch das Stadtbild von Wien prägten nach wie vor die gewaltigen Bauten der MonDarmstadt 1986, S. 1–72, Kap. IV, hier S. 51, 53–59, 62 f.; Hinweise auf weitere Sparta-Literatur, die der NS-Ideologie gefolgt ist, S. 502 f. – Vgl. auch Berves zwischen 1930 und 1960 maßgebliche Griechische Geschichte, 2 Bde. (Geschichte der führenden Völker, Bd. 4), Freiburg i. Br. 1931–1933; zum Kosmos von Sparta, 1, S. 155–160, zur Schlacht am Thermopylenpass, S. 247–249 mit Tafel des sogenannten Leonidas (um 480) im Nationalmuseum Athen (2. überarb. Aufl., ebd. 1951–1952). – Zu Berve (geb. Breslau 1896, gest. Hechendorf / Oberbayern 1979, Kriegsfreiwilliger 1914/15, Ordinarius in Leipzig 1927, Prorektor 1937–1939, Rektor 1940–1943, Ruf nach München 1943, 1945 entlassen, Ordinarius in Erlangen seit 1954, jeweils mit bedeutendem Schülerkreis) der Nekrolog seines Schülers Alfred Heuss, in: Historische Zeitschrift 230 (1980), 779–787. – Entschieden kritischer Karl Christ, Helmut Berve, in: Ders., Neue Profile der alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 125–187, bes. Kap. V, VI u. S. 352 f. – Auch Volker Losemann: Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Fachs Alte Geschichte 1933–1945 (Historische Perspektiven, Bd. 7), Hamburg 1977, S. 48, 80–86, 109 f., 112. – Aus dem populärwissenschaftlichen Schrifttum, gestützt auf Berve und in Anlehnung an Darrés Auffassung von Sparta als idealem Bauernstaat, Hans Lüdemann, Sparta. Lebensordnung und Schicksal, Leipzig, Berlin 1939. – Vgl. nun (ohne auf die literarische Rezeption einzugehen) Anuschka Albertz, Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart (Ordnungssysteme, Bd. 17), München 2006. 101 Vgl. Max von Boehn, Der Tanz, Berlin 1925, S. 120–130.
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archie. Leonidas verkörpert die „altösterreichische Beamtentradition“ (25), die – das bestimmte die Widersprüchlichkeit der politisch-sozialen Realität – zusammen mit der alten Gesellschaft über 1918 hinaus den Ton angab. Der zeithistorische Bezug liegt darin – und damit beginnt die Novelle –, dass Dr. Vera Wormser achtzehn Jahre nach der Affäre mit Leonidas (9, 11) nach Wien reist, sich im Parkhotel Hietzing, in der Nähe von Leonidas’ Villa, einquartiert und diesem einen Brief schreibt, dessen „blaßblaue Frauenschrift“ auf dem Couvert Amelies Argwohn hervorruft. Leonidas erhält den Brief am 8. Oktober 1936, wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag102, am Morgen eines „lauen Oktobertages“, der in seiner „launisch gezwungenen Jugendlichkeit einem Apriltag glich“ (3)103. Die Wettersymbolik begleitet und spiegelt fortlaufend die Handlung und Leonidas’ inneres Seelenleben. Dieser ist vor „wenigen Monaten“ im „Ministerium für Kultus und Unterricht“ zum Sektionschef aufgerückt, gehört also, wie der Erzähler das Gewicht der hohen Bürokratie im autoritären Ständestaat zutreffend charakterisiert, „zu den vierzig bis fünfzig Beamten“, „die in Wirklichkeit den Staat regierten“ (3): „Die Minister spielten“ in den Augen der Bürokratie „nur die Rolle politischer Hampelmänner, mochten sie dem Zeitstil gemäß auch noch so diktatorisch einhertreten.“ Die Sektionschefs waren die eigentlichen Ressortchefs, „sie hielten die Fäden in der Hand. Man brauchte sie. Mit dem preziösen Hochmut von Mandarinen blieben sie bescheiden im Hintergrund“, „Leonidas noch mehr als alle andern, denn er war reich und unabhängig“ (34). Er ist „nicht nur Sektionschef, sondern ein großer Herr“ und kann sich, ohne zu übertreiben, „zu den obersten Hundert“ zählen (77). Es hat seine tiefere Bedeutung, dass Leonidas im Unterrichtsministerium arbeitet, dem Schlüsselministerium des Ständestaats. Hier war die Österreichidee entwickelt worden, die den „deutschen Stamm“ des Österreichertums, aber ebenso die „europäische Mission“ Österreichs in der Geschichte (als zivilisierender und ausgleichender Faktor unter den rivalisierenden slawischen Völkern im Donauraum) und in der Gegenwart (als Repräsentanz des besseren 102 Der Brief ist datiert „7. Oktober 1936“ (14). – Brunner, Werfel, 47, datiert die Novelle „Mitte der dreißiger Jahre“. – In der Verfilmung von Rittig / Corti erhält Leonidas den Brief an seinem 48. Geburtstag. – Der Brief ist unterschrieben „Vera W.“; an der „steilen, strengen Frauenschrift in blaßblauer Tinte“ (11) erkennt Leonidas den Absender. Obwohl Vera mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet, erwägt Leonidas – eine von vielen kleinen Unstimmigkeiten –, ob sie verheiratet sei (14). 103 Der Novellentitel lautet im Manuskript „April im Oktober“, die Überschrift des ersten Kapitels „Eine blaßblaue Frauenschrift“. Werfel hat dann beide ausgetauscht. Vgl. Werfel-Katalog, S. 62.
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Deutschtums gegenüber dem Nationalsozialismus) betonte, den katholischen Staatsgedanken als Gegenidee zur antichristlichen NS-Ideologie aufbaute und das Bekenntnis von Wissenschaft und Kunst zu dieser Österreichidee einforderte. Mit der Hauptfigur des Beamten, seiner ‘impressionistischen’ Lebenseinstellung und der Thematisierung der ‘jüdischen Frage’ steht Werfels Novelle in der österreichischen Literaturtradition des 19. Jahrhunderts. In dem erwähnten Brief bittet Vera ihren Ex-Geliebten um die Intervention für einen jungen Mann (14). Dieser sei siebzehn Jahre alt, komme aus Deutschland, dürfe „aus den allgemein bekannten Gründen“ – gemeint sind die auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1935 verkündeten, die jüdischen Deutschen diskriminierenden Gesetze104 – das Gymnasialstudium nicht fortsetzen und wolle es in Wien vollenden. Dies soll ihm Leonidas ermöglichen, der sofort folgert, der Vater dieses jungen Mannes, also eines ‘halbjüdischen’ Sohnes zu sein – das „Resultat seines einzigen echten Liebesrausches im Leben“ (10). Damit ist das Thema von „Wahrheit“ (15) und Verantwortung exponiert (Kap. 2). Werfel entfaltet es in einem großen Monolog, in dem sich Leonidas in einer Art Lebensbeichte vor einem fiktiven Hohen Gerichtshof rechtfertigt (Kap. 3)105. Hineinverwoben ist die politische Thematik. Die Novelle spielt nach dem JuliAbkommen von 1936, in dem zwar das Deutsche Reich die „volle Souveränität“ Österreichs anerkannt hatte, sich aber Österreich als „deutschen Staat“ betrachten und jeder deutschfeindlichen Politik enthalten musste, seine Außenpolitik „unter Bedachtnahme auf die friedlichen Bestrebungen der Außenpolitik der deutschen Reichsregierung zu führen“ hatte und sich Schuschnigg verpflichten musste, „Vertreter der bisherigen sogenannten ‘nationalen Opposition in Österreich’ zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen“106. Im Zuge dieses Abkommens wurden betont Nationale wie Ed104 Reichsbürgergesetz und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre v. 15.9.1935. Vgl. Reichsgesetzblatt 1935, Tl. I, 16.9.1935, S. 1146 f. (mit anschließenden Verordnungen). – Zu Entstehungsgeschichte und weiterem Tauziehen um den Judenbegriff vgl. Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, S. 134–173. 105 Dabei zeigt sich, dass Leonidas die genaue Erinnerung an die Affäre gelöscht hat. Er sieht Vera nicht mehr mit seinem „inneren Auge“ (18, 21, 26). Heidelberg ist für ihn „Tabu, der verbotene Raum meiner Erinnerung“ (25). Er sieht Veras Gesicht und den Ort nicht mehr, an dem sie sich ihm ergab: „Alles ist Schwarz“, „aber das Gefühl des herrlichen Augenblicks trage ich in mir“ (26) – eine von mehreren Stellen, die an Freuds Psychoanalyse bzw. Traumdeutung anknüpfen. 106 Das Abkommen vom 11.7.1936, zwischen Bundeskanzler Schuschnigg und dem deutschen Gesandten Franz von Papen vereinbart (das Gentlemen’s Agreement wurde nicht
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mund Glaise von Horstenau (ehemaliger k.u.k. Offizier) Minister ohne Portefeuille und Guido Schmidt Staatssekretär für Auswärtiges. Außerdem musste Schuschnigg eine „weitreichende politische Amnestie“ für die inhaftierten 17.000 Nationalsozialisten zugestehen, darunter die meisten Gauleiter und höheren SA- und SS-Führer. Damit war der NS-Agitation nach dem Parteiverbot im Juni 1933 neuer Raum gegeben. Deutschland hob im Gegenzug die 1933 verhängte „Visumsgebühr“ von 1000 Reichsmark auf, wodurch Hitler Österreich vom deutschen Tourismus abgeschnitten hatte107. In dieser sowohl außen- wie innenpolitisch veränderten Situation malt sich Leonidas (im inneren Monolog) aus, welche Konsequenzen es für ihn haben könnte, wenn er, wie er sich bürokratisch korrekt ausdrückt, einen „israelitischen Jüngling“ protegiert: „Man lebte hier in der gefährlichsten Nachbarschaft Deutschlands. Niemand wusste, wie sich die Dinge hierzulande entwikkeln würden. Es war ein ungleicher Kampf. Von einem Tag zum andern konnten hüben dieselben Gesetze in Kraft treten wie drüben. Schon heutzutage war für einen hohen Staatsbeamten die gesellschaftliche Berührung mit Veras Rasse [...] höchst unstatthaft“ (18). Der Antisemitismus war im Ständestaat weiterhin virulent (gängig blieb in Wien die Parole der Schönerianer „Ohne Juda, ohne Rom / Bauen wir den deutschen Dom“). Zwar kam es zu keinen die Juden diskriminierenden Gesetzen. Im Gegenteil: Die Juden waren in das korporativistische System integriert, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien Dr. Desider Friedmann war Mitglied des Staatsrats und die Kultusgemeinde in der Wiener Bürgerschaft vertreten. Die Juden Österreichs, darunter viele Emigranten aus Deutschland, sahen im Ständestaat den schützenden Wall gegen den Nationalsozialismus108. Die „Vaterländische Front“ lehnte den Rassenantisemitismus ab, den die Katholische Kirche – Kurie, Papst Pius XI. und Bischöfe – in aller veröffentlicht), ist erstmals gedruckt in: Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgerichtshof, Wien 1947, S. 480–482. – Faksimiledruck bei Gabriele Volsansky, Pakt auf Zeit. Das Deutsch-Österreichische Juli-Abkommen 1936 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 37), Wien, Köln, Weimar 2001, S. 285–292. 107 Vgl. Durchführung des Gesetzes über den Reiseverkehr mit Österreich, 24. August 1936, in: Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler, Bd. 3: 1936, bearb. v. Friedrich Hartmannsgruber, München 2002, S. 488–491. 108 Friedmann überreichte Schuschnigg noch am 10.3. und 11.3.1938 zum Zweck der Wahlwerbung gegen den Nationalsozialismus zwei Schecks der Israelitischen Kultusgemeinde in Höhe von 800.000 Schilling. Vgl. Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, S. 340.
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Schärfe verurteilt hatte109. Der „Rasse“-Begriff war im Ständestaat verpönt und der rassische Antisemitismus wurde eindrucksvoll verurteilt110. Andererseits war der tradierte christliche Antijudaismus als eine Art Zivilreligion, verstärkt durch ökonomische Motive, seit der Monarchie wesentlicher Bestandteil der politischen Kultur des Landes, vor allem der Christlichsozialen und in deren Parteiprogramm von 1926 verankert111. So stimmte das Schuschnigg-Regime stillschweigend zu, die überproportional hohe Zahl der Juden im Bankenwesen, in der Ärzteschaft und Justiz, wo sie seit langem den Zugang nichtjüdischer Bewerber erschwerten oder verhinderten, auf den prozentualen Anteil der Juden an der Bevölkerung zu reduzieren112. Ein weitergehender, aber nicht verwirklichter Vorschlag sah vor, die Juden unter Sondergesetz zu stellen, die „jüdische Nation“ vom Mehrheitsvolk zu trennen und ihr eigene politische Vertretungskörperschaften zuzuweisen113. Große Firmen mit engen Handelsbeziehungen nach Deutschland entließen ihre jüdischen Mitarbeiter. Brennpunkt der antisemitischen Ausschreitungen war die Universität Wien. Der Gewerbebund veranstaltete im Herbst 1937 Kampagnen mit dem Slogan 109 Das Hl. Offizium hatte am 25.3.1928 vor den Irrlehren des Antisemitismus eindringlich gewarnt; die Note des Hl. Stuhls vom 14.5.1934 an die deutsche Reichsregierung, ausgearbeitet von Kardinal-Staatssekretär Pacelli (eine von 34 Noten und 12 Briefen zwischen Herbst 1933 und Mitte 1936 an die Reichsregierung, deren wichtigste der Hl. Stuhl 1934 und 1936 als Weißbuch publizierte), enthielt die zentrale Aussage: Die „letzte Verankerung“ „menschlicher Normen“ „kann nicht liegen in einem gewillkürten ‘Göttlichen’ der Rasse. Nicht in der Verabsolutierung der Nation. Ein solcher ‘Gott’ des Blutes und der Rasse wäre weiter nichts als das selbstgeschaffene Widerbild eigener Beschränktheit und Enge“, in: Dieter Albrecht (Bearb.), Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der deutschen Reichsregierung, Bd. 1 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 1), 2. Aufl., Mainz 1974, S. 124–164, hier S. 146 f. – Papst Pius XI. klagte den Rassismus in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ am 14.3.1937 auch öffentlich an (ebd., S. 404–443) und verurteilte in einer weltweit beachteten Ansprache vor belgischen Pilgern am 6.9.1938 den Antisemitismus: „Geistlich sind wir alle Semiten.“ 110 Vgl. Staudinger, Österreich-Ideologie, S. 306 f. 111 Vgl. Österreichische Parteiprogramme, hier Salzburger Programm, S. 478–482. – Antijüdisch war auch die „Reichspost“, die in der Monarchie bzw. Republik erscheinende Tageszeitung der Christlichsozialen unter Karl Lueger und Ignaz Seipel. – Vgl. Anton Staudinger, Christlichsoziale Judenpolitik in der Gründungsphase der österreichischen Republik, in: Jahrbuch für Zeitgeschichte [Wien] 1978, S. 11–48. 112 Hierzu und zum Folgenden Helmut Wohnout, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich. Katholischer Antisemitismus in den Jahren vor 1938, in: Geschichte und Gegenwart 13 (1994), 3–16. 113 So der Gesetzentwurf des Christlichsozialen Leopold Kunschak 1936, der damit an seinen Gesetzentwurf vom November 1919 anknüpfte. Vgl. Staudinger, ÖsterreichIdeologie, hier S. 306. – Ders., Christlichsoziale Judenpolitik, hier S. 36–39, Abdruck des Gesetzentwurfs von 1936, S. 40–42.
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„Christen kauft bei Christen“, und Ende 1937 wurden die Fensterscheiben vieler jüdischer Geschäfte in Wien eingeschlagen – Aktionen, die Werfel selbst erlebt hat. Er spitzt denn auch das Thema in der Novelle bald zu. Der Brief mit der „blaßblauen Frauenschrift“ trifft pikanterweise an dem Morgen ein, an dem im Unterrichtsministerium über die Besetzung von sechs Lehrkanzeln zu entscheiden ist, darunter die für Innere Medizin in Wien. Es geht darum, ob Professor Lichtl berufen werden soll, der „bisher nur in der Provinz“ gelehrt und nicht viele Publikationen vorzuweisen hat, den aber Fakultät und Akademischer Senat vorziehen, oder der berühmte Herzspezialist, achtfache Ehrendoktor europäischer und amerikanischer Universitäten und Nobelpreisträger Alexander Bloch, der es bisher nur zum außerordentlichen Professor gebracht hat, weil er Jude ist (40)114. Werfel erörtert diese Berufungssache im vierten Kapitel, das genau die Mitte der Novelle bildet. Darin entwirft er eine Typologie der hohen Bürokratie, indem er die in der dämmerigen, von Zigarettenrauch geschwängerten Atmosphäre (39) des roten Salons im Ministerium um den Minister versammelten Beamten charakterisiert. Werfel lässt zunächst Leonidas über sein Selbstverständnis räsonieren: Es sei „nicht Sache dieses Beamtentums, mit offenem Visier zu kämpfen. Man benutzte gelenkig die Strömung der Welt, von der man sich mit Umsicht treiben ließ, um die unerwünschten Klippen zu vermeiden und die erwünschten Halteplätze anzustreben“ (45). Um so stärker wirkt Leonidas’ Bruch mit der Konvention, als er gegenüber dem Minister die offene Konfrontation sucht. Er verliest in der Ministerrunde mit sonorer Stimme „die Lebensläufe, die Taten und Werke der zu berufenden Professoren“ (38). Dann aber ereignet sich das Unerwartete: Obwohl Leonidas alle gängigen Vorurteile des Salonantisemitismus teilt, die psychologisch in seiner Furcht vor der immer wieder thematisierten intellektuellen Überlegenheit der Juden gründen (12, 64), obwohl er noch „jüngst bei einem glänzenden Gesellschaftsabend“ den Erfolg von „Bloch und 114 Die Vielzahl von Blochs Würden wirkt, wie manches in der Novelle, allzu plakativ; es ist unwahrscheinlich, dass einem Nobelpreisträger die Berufung versagt geblieben wäre. Der Nobelpreisträger für Chemie von 1936, Otto Löwi, aus Frankfurt a.M. gebürtig, seit 1909 Ordinarius in Graz, emigrierte 1939 nach New York. Mehr auf der Hand liegt die Parallele zu Siegmund Freud, der es als Demütigung empfand, 17 Jahre lang auf die Ernennung zum außerordentlichen Professor (1902) an der Wiener Medizinischen Fakultät warten zu müssen, während die Wartezeit im Durchschnitt acht Jahre betrug. (Freud durfte am 4.6.1938 nach London emigrieren, seine vier Schwestern kamen im KZ Theresienstadt ums Leben). Vgl. Kurt R. Eissler, Sigmund Freud und die Wiener Universität. Über die Pseudo-Wissenschaftlichkeit der jüngsten Wiener Freud-Biographik, Bern, Stuttgart 1966, S. 24 f., 181–184.
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Konsorten“ „der wechselseitigen Förderung der Israeliten in der Welt“ und der „ihr hörigen Presse“ zugeschrieben hat, obwohl ihm der „Fall Bloch zum Gähnen langweilig“ (45) und er noch am Vortag mit den Kollegen übereingekommen war, dass die Berufung Blochs „unmöglich“ sei, plädiert er nun für diesen: „Ein kleines Land wie das unsrige kann es sich nicht leisten, eine solche Größe zu übergehen oder zu kränken“ (40). Keine Frage: Veras Brief sitzt Leonidas im Nacken. Er spricht von Bloch, hat aber seinen Sohn vor Augen, sein Eintreten für Bloch ist der Kampf für seinen Sohn. Der einzige, der in den überkommenen Bahnen der Bürokratie denkt und handelt, ist der Kabinettschef Jaroslav Skutecky, „ein Mann Mitte Sechzig“, dessen Name und „harte Aussprache“ auf polnische Herkunft deuten und der mit seinem Habitus („altertümlicher Gehrock“, „eisengrauer Spitzbart“) das bei den Polen – anders als bei den Tschechen – ausgeprägt kaisertreue Fachbeamtentum in der Tradition der Monarchie verkörpert (35). Skutecky erweist sich – was Leonidas zu spät erkennt – „wieder einmal als Meister seines Faches“, der nach der „negativen Methode“ verfährt. Er protegiert Lichtl nicht offensiv, sondern führt formale Einwände gegen Bloch ins Feld, „nicht etwa den nackten antisemitischen Grund, sondern den objektiven und gerechteren Grund seines vorgerückten Alters“ (45). Denn Bloch ist schon 67 Jahre alt und hätte nur noch zwei Jahre Lehrtätigkeit vor sich, wenn man das Ehrenjahr115 nicht einrechnet (41). Dies kommentiert Leonidas mit der ironischen Bemerkung: „Früher war Bloch zu jung für ein Ordinariat. Jetzt ist er zu alt. Und zwischendurch hatte er das Pech, Abraham [!] Bloch zu heißen“ (41). Leonidas hört förmlich im inneren Monolog, was daraufhin die anderen über ihn denken: „Natürlich! Der Mann einer Paradini. Mit soviel Geld und Beziehungen gesegnet, darf man sichs herausnehmen, gegen den Strom zu schwimmen. Die Paradinis gehören zur internationalen Gesellschaft“ (41). Werfel führt das gängige Klischee vom (Finanz-)Judentum ein, das über die international agierenden Paradinis Einfluss auf Leonidas genommen habe. Die Gegenfront führt Professor Schummerer an. Er ist der Vertrauensmann der Universität beim Ministerium und der Günstling des Ministers, zu dessen Rechten er sitzt (37). Werfel überzeichnet Schummerer zur Karikatur (schlürfender Gang, rothaarig, poröse Nase, sprechender Name). Dieser ist Prähistoriker, dessen Geschichtswissenschaft – wie der Erzähler doppeldeutig sagt – „genau dort beginnt, wo das geschichtliche Wissen zu Ende ist“. Schummerer ist der nur äußerlich den Ständestaat tragende Beamte und typisch für die vie115 Das „Ehrenjahr“, die Emeritierung ein Jahr nach Erreichen der üblichen Altersgrenze von 69 Jahren, konnten die Fakultäten besonders verdienten Gelehrten genehmigen.
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len illoyalen Elemente in der „Vaterländischen Front“, der sein Fähnchen in den Wind hängt, „das feinste Ohr für das verschlungene Hin und Her der Beziehungen, Einflüsse, Sympathien und Intrigen“ besitzt und dessen „Forschergeist gewissermaßen im Trüben fischte“ (37). Seine Meinung, die er schwermütig und zugleich drohend vorträgt, lautet: Der große Nachbar habe „die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert“. Da wäre die Berufung von Bloch „eine Demonstration, ein Faustschlag ins Gesicht des Reiches“, den sich Österreich nicht leisten könne. Dabei schiebt der Antisemit Schummerer das Juli-Abkommen nur vor: „Wir wollen doch, um unsre Unabhängigkeit zu verteidigen, diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen“ (41). Der Erzähler entlarvt Schummerer sogleich als Heuchler, indem er anfügt: „Das Gleichnis von dem Winde, den man dem künftigen Steuermann aus den Segeln nehmen wollte, war recht beliebt in diesen Tagen.“116 Die Metapher hatte Bundeskanzler Dollfuß am 13. März 1933 vor dem Wiener christlichsozialen Parteirat geprägt117. Im roten Salon ist noch ein jüngerer Ministerialbeamter anwesend. Er hat keinen Namen, wird nur der „schwammige Subalterne“ genannt, steht „dienstfertig hinter dem Minister“ und sekundiert Schummerer. Sein „wasserheller Blick“ „strahlt solch einen Haß aus, daß Leonidas ihm kaum standhalten“ kann (41). Der „Schwammige“ verkörpert die 164.000 „illegalen“ NSDAP-Mitglieder (darunter 43.000 „alte Kämpfer“ aus der Zeit vor 1933), die im März 1938 mit Stolz ihr Parteiabzeichen ansteckten118. Der Erzähler sagt: „Der bloße 116 Dieser Satz findet sich wörtlich in Alma Mahlers Tagebuch im Juli 1936: „Antisemitismus wurde unter dem Tisch getrieben, und als ich unseren Unterrichtsminister Pernter deshalb interpellierte, antwortete er mir: ‘Um den Nazis den Wind aus den Segeln zu nehmen’.“ Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, Frankfurt a.M. 1960, S. 252 (irrtümlich unter Juli 1935 eingeordnet); Pernter gehörte mit Felix Hurdes und Leopold Figl – alle waren nach 1938 KZ-Häftlinge – 1945 zu den Mitbegründern der ÖVP. Alma gerierte sich fanatisch katholisch, antisozialistisch (im Spanischen Bürgerkrieg ergriff sie Partei für Franco) und antisemitisch und zwang Werfel bei der Heirat 1929 zum Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft. Vor allem ihr Antisemitismus belastete die Beziehung zu Werfel ununterbrochen, auch im Exil. Vgl. Jungk, Franz Werfel, S. 293, 299, 301, 307. 117 „Ich bin der Meinung, daß man die nationalsozialistische Bewegung nicht damit bekämpfen kann, daß man unter Rückendeckung der Sozialdemokraten den Nationalsozialismus mit allen Mitteln der Technik und der Schikane bekämpft [...]. Wenn wir das bekämpfen, was sich in den letzten Jahren unter marxistischem Einfluß an unmöglichen Situationen ergeben hat, dann ist das die beste Art, um dem Nationalsozialismus den Wind aus den Segeln zu nehmen.“ Wiener Zeitung, 15.3.1933. 118 Vgl. Gerhard Botz, Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem „Anschluß“, in: Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 429–455, hier S. 436, 438.
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Name Abraham [!] Bloch hatte genügt, dieses phlegmatisch breite Gesicht mit Zornesröte zu entflammen“ (41 f.). Leonidas erkennt im „Schwammigen“ den „Haßblick einer neuen Generation, die ihre fanatische Entscheidung getroffen hatte und ‘Unsichere’ wie ihn erbarmungslos auszurotten gedachte“ (45). Im „Schwammigen“ und in Schummerer zeichnet Werfel das nationale Lager, das mit dem Nationalsozialismus sympathisierte. Es drang nach dem JuliAbkommen, gefördert von der gemeinsamen deutschnationalen Grundstimmung, auf legale Weise sowohl in die Ortsgruppen der „Vaterländischen Front“, in die „Volkspolitischen Referate“119 als auch in die Führungspositionen des Ständestaates ein. Dieses Lager hatte die ständestaatliche Österreichidee als künstliches Erzeugnis stets abgelehnt, vollzog den Regimewechsel im März 1938 aus Überzeugung bzw. in der Hoffnung auf einen Karrieresprung mit und ermöglichte die NS-Machtübernahme innerhalb weniger Wochen120. Wir verdanken Friedrich Heer – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber seinem spekulativen Geist – den Hinweis, dass Schummerer ein reales Vorbild gehabt haben könnte: den Wiener Vor- und Frühhistoriker Oswald Menghin, dessen Karriere der von Schummerer gleicht. Menghin, 1888 in Meran geboren, Mitglied des Cartell-Verbands „Rudolfina“, lehrte als Ordinarius von 1922 bis 1945 in Wien, von 1930 bis 1933 auch in Kairo, war korrespondierendes, dann wirkliches Mitglied (1927 bzw. 1936) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1928/29 Dekan der Philosophischen Fakultät, 1935/36 Rektor der Universität, 1936/37 Mitglied des Führerrats der Wiener „Vaterländischen Front“ und seit dem 11. März 1938 (bis Ende Mai) Unterrichtsminister im Übergangskabinett von Arthur Seyß-Inquart, wenn auch ohne eigentliche Entscheidungskompetenz. Menghin gehörte mit Seyß-Inquart, den Schuschnigg 1937 in den Staatsrat berufen hatte, zu den katholischen Brückenbauern zum Nationalsozialismus, ohne der Partei anzugehören. Trifft Heers Beobachtung zu, so hat die Novelle die Qualität eines Schlüsselromans; der Leser konnte zumindest in einer der scheinbar fiktiv dargestellten Personen eine reale wiedererkennen121.
119 Diese wurden im Februar 1937 innerhalb der „Vaterländischen Front“ eingerichtet und sollten neben den Vertretern der nationalen Opposition die Nationalsozialisten einschließen, um sie auf den Ständestaat zu verpflichten. Vgl. Bärnthaler, Vaterländische Front, S. 141–153. 120 Vgl. Jagschitz, Die österreichischen Nationalsozialisten, hier S. 246. – August Walzl, „Als erster Gau ...“. Entwicklungen und Strukturen des Nationalsozialismus in Kärnten, Klagenfurt 1992, S. 32 f., 40. 121 Vgl. Friedrich Heer, Nachwort, S. 176. – Menghin, 1937 Ehrendoktor der Göttinger Philosophischen Fakultät, lehrte seit 1948 als Professor in Buenos Aires, seit 1957 in
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Das gilt mit Einschränkungen auch für den Minister Vinzenz Spittelberger. Er wird als typischer Christlichsozialer gezeichnet, stammt aus einem der Alpenländer, hat sein ganzes Leben in großen Städten zugebracht, davon zwanzig Jahre in der Hauptstadt, ist nachlässig gekleidet und ungepflegt und unablässig auf Parteiversammlungen (es müsste heißen: Appellen der Vaterländischen Front) unterwegs. Von Dollfuß weiß man, dass er „ein merkwürdiger Kurzschläfer war“, der um Mitternacht andere weckte, um sie zu Gesprächen zu sich zu bitten122. Von Spittelberger sagt der Erzähler, dass er tagsüber bei jeder Gelegenheit „Schlaf“ „sammelt“, ja „hamstert“, den er dann „der Nacht entziehen“ kann (38), wenn er sich in die „Wollust der Verschwörungen“ verstrickt: „Heute spielt“ er „noch den Fachminister. Morgen aber wird“ er „vielleicht die ganze Macht im Staate an sich reißen“ (38). Zusammen mit dem Hinweis, er sei „ein kleiner Mann“ (36), entsteht eine Art Dollfußgestalt. Es ist bezeichnend für die Situation nach dem Juli-Abkommen, dass Spittelberger die zum Nationalsozialismus tendierenden Kräfte, Schummerer und den „Schwammigen“, fördert und an sich bindet. Spittelberger fragt die Sektionschefs ironisch „Habt ihr kein größeres Kirchenlichtl auf Lager als diesen Lichtl?“ (39). Doch besteht kein Zweifel, dass er Lichtl berufen will; daher versucht er, Leonidas zum Einlenken zu bewegen. Sein Kompromissvorschlag, Lichtl zu berufen und Bloch das große goldene Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft zu verleihen und den Titel eines Hofrats dazu, vermag Leonidas nicht umzustimmen. Er riskiert den Eklat. Die Atmosphäre ist zum Bersten gespannt – jedem geht es um das eigene Interesse: Leonidas um seinen ‘Sohn’, Spittelberger um die reibungslose Zustimmung des Ministerrats (Kabinetts) zu seinem Berufungsvorschlag, den hohen BeamLa Plata, seit 1957 war er österreichischer Pensionär. Er starb 1973 in Argentinien. Vgl. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1940/41, Bd. 2, Sp. 161 f.; 1961, Bd. 1, Sp. 1315 f. – Menghins Hauptwerk ist die Weltgeschichte der Steinzeit, Wien 1931; daneben erschien: Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934; Bildung, Wissenschaft und Leben. Kundgebungen und Ansprachen während meines Rektorjahres, Wien 1936. – Vgl. Otto H. Urban, „Er war der Mann zwischen den Fronten“. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologica Austriaca 80 (1996), 1–24; Ders., „... und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much“ – der Nestor der Urgeschichte Österreichs? Mit einem Anhang zur Urgeschichte in Wien während der NS-Zeit, 2. Teil, ebd. 86 (2002), 7–43, hier 23–25 (mit Hinweis auf Werfels Novelle), S. 43 (Abdruck von Menghins „Tagelied“ aus einem Schul-Lehrbuch von 1919). 122 So der Gedenkartikel von Friedrich Funder, Engelbert Dollfuß. Was er war und was er wollte – Österreichs Kampf gegen die Übermacht, in: Rheinischer Merkur, Nr. 30, 23.7.1954 (Funder war Chefredakteur der christlichsozialen „Reichspost“, seit 1938 KZ-Häftling, nach 1945 Herausgeber der „Österreichischen Furche“, der großen linkskatholischen Wochenzeitung).
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ten um geschickte Anpassung an den politischen Kurs, um nicht ihre Karriere zu gefährden. Niemandem geht es um Österreich! Auf diesem Siedepunkt entlädt sich die schwüle Gewitterluft des „Apriltages im Oktober“ in einen laut prasselnden Platzregen; man hört einen Donner vergrollen, ohne dass ein Blitz vorausgeht (43). Leonidas schnappt nach Luft, reißt das Fenster auf, kann durch den Regen nicht einmal mehr die Minoritenkirche erkennen und hört, gleichsam in den fernen Donner hinein, den „Lärm einer Kavallerieattacke“ „über Dächer und Pflaster“ „knattern“. Bezogen auf 1936 ist dies nicht realistisch zu lesen, sondern symbolisch. Angesichts der Fronten im roten Salon steigt in Leonidas die Erinnerung an den Bürgerkrieg vom Februar 1934 herauf. Es bleibt kein Zweifel, dass Leonidas nur einen Augenblick lang bereit ist, sich dem Unrecht an Bloch entgegenzustellen und dass er 1938 zu denen gehören wird, die sich dem neuen Regime beugen. Denn der Erzähler sagt (42), dass Leonidas „als erster die Augen“ vor „diesem Feinde“ (dem Schwammigen) „senkte“, „der ihm plötzlich erstanden war“. Dies wird am Ende des Kapitels noch einmal bekräftigt (43): „Leonidas wähnte [!], jetzt stark genug zu sein für die Wahrheit und für die Erneuerung seines Lebens“. Dass Leonidas dazu nicht bereit ist, bestätigt sich gleich dreifach: 1. Schon eine Stunde später, beim Mittagessen mit Amelie (Kap. 5), gelingt es ihm nicht, seiner Gattin die Wahrheit über den unehelichen Sohn zu beichten. Es kommt zwar zu einer Beichte, aber „nicht der richtigen“, wie die Kapitelüberschrift ankündigt. Vielmehr bittet Amelie Leon wegen ihres Misstrauens in seine eheliche Treue, das nur allzu berechtigt ist (Leonidas gesteht sich „nur noch neun bis elf gegenstandslose Seitensprünge“ ein) (14), um Verzeihung und demütigt sich vor ihm aus lauter Eifersucht. Das ist durch die Vorgeschichte, die von Amelie durchgesetzte Liebesheirat, psychologisch gut begründet. Leonidas wird offenbar von der Reaktion seiner Frau überrascht. 2. Es kommt schließlich zur persönlichen Wiederbegegnung zwischen Leonidas und Vera in einem der Gesellschaftszimmer in Veras Hotel in der Dämmerung des hereinbrechenden Abends (Kap. 6). Vera belässt es bei einer kühlen, förmlichen Unterredung, worauf sich Leonidas in seiner Meinung über den „Hochmut“ und die „empörende Überheblichkeit“ der jüdischen Rasse bestätigt sieht (64). Vera teilt ihm mit, binnen kurzem Deutschland verlassen und nach Montevideo emigrieren zu wollen; ihre letzte Sorge ist die Unterbringung des jungen Mannes. Leonidas erfährt nun auch seinen Namen: Emanuel – im Buch Jesaia (7, 14) der symbolische Name des erwarteten Sohnes einer jungen Frau. Leonidas ist hoch erregt, will mehr über Emanuel wissen und erfährt nun
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– was den Leser genauso überrascht –, dass dieser hochbegabt und der Sohn von Veras bester Freundin ist. Diese ist vor kurzem verstorben, ihr Mann wenige Wochen zuvor von den Nationalsozialisten zu Tode gequält worden. Leonidas mag dies gar nicht glauben und tut es innerlich als „Greuelmärchen“ ab (75). Er ist darin der Vertreter seiner Klasse, die (moderat) antijüdisch denkt und fühlt, aber den Rasse- und Radauantisemitismus ablehnt, geschweige denn den Angriff auf Leib und Leben gutheißt. Wäre er Rassenantisemit, hätte er sich nicht in Vera verlieben können. Im selben Augenblick erfasst ihn ein Gefühl „unbeschreiblicher Erleichterung“ – er hat keinen siebzehnjährigen Sohn, den er „vor Amelie und vor Gott verantworten muß“ (68). Alles kann „beim alten bleiben“. Die „spielerische Überlegenheit“, die er durch Veras Brief am Morgen verloren hat, gewinnt er nun zurück (69). Allerdings erfährt Leonidas eine weitere Neuigkeit, die ihn erschüttert und die man im Anschluss an Goethes berühmte Novellendefinition als die „unerhörte Begebenheit“ bezeichnen kann: Die Frucht seines Zusammenseins mit Vera vor 18 Jahren war ein Sohn namens Joseph, der mit zweieinhalb Jahren verstorben ist123. 3. Leonidas besucht am Abend mit Amelie die Staatsoper. Werfel deutet durch Personen und Handlung der ersten Szene (76) an, dass der „Rosenkavalier“ aufgeführt wird. Im Spiel auf der Bühne, dem Bruch ehelicher Treue durch die alternde Marschallin, die sich auf den jungen Oktavian eingelassen hat, sieht der alternde Leonidas wie in einen Spiegel. Nach der Begegnung mit Vera wenige Stunden zuvor kann er die Opernhandlung nur mit Angst verfolgen. Er zieht sich auf die hintere Logenbank zurück. Inmitten der „obersten Tausend“ (77) fasst er im Halbschlaf124 den Entschluss, sich am nächsten Tag bei Spittelberger für die Differenzen zu entschuldigen125. Er will nun den Vorschlag unterstützen, Lichtl zu berufen und Bloch zu dekorieren. Seine Worte sollen sein: „Wir müssen uns endlich auf unsre nationalen Persönlichkeiten besinnen und sie gegen die internationale Reklame durchsetzen.“ Und die von Leonidas erhoffte Replik des Ministers soll lauten: „Danke Ihnen, Herr Sektionschef! 123 Werfels Freund Max Brod, Bemerkungen, sah in Vera die eigentliche Heldin der Erzählung, die „durch die Vornehmheit ihrer Gesinnung“ Leonidas hoch überrage. Im Werk Werfels, der „von einem seltsamen jüdischen Minderwertigkeitskomplex behext“ gewesen sei, träten die jüdischen Gestalten meist karikiert und als Scheusale, manchmal als „Zerrbilder rührend hinfällig“ auf, Vera Wormser bilde eine Ausnahme. – Ähnlich Jungk, Franz Werfel, S. 270. 124 Wenn „der Traum die (verkleidete) Erfüllung eines (verdrängten) Wunsches“ ist (so Freuds Traumdeutung, Kap. IV), dann ist hier der Halbschlaf die antizipierte Wirklichkeit. 125 Rittig / Corti lösen das Problem des Halbschlafs in der Verfilmung so auf, dass eine persönliche Begegnung zwischen Leonidas und Spittelberger im Foyer der Staatsoper herbeigeführt wird.
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Ich habe nicht einen Moment daran gezweifelt, daß Sie meine einzige Stütze sind hier im Haus. Im Vertrauen, falls ich demnächst ins Kanzleramt übersiedle, nehme ich Sie als Präsidialisten mit. [...] Gestern waren Sie halt ein bißl enerviert durchs Wetter“ (75). Dabei hat Leonidas den Wetterbericht des Radios im Ohr, der sich bei ihm im Halbschlaf zur politischen Parole verfremdet: „Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug“ (75) – der Wetterbericht am 8. Oktober ist die Prophetie für den 25. Oktober, den Abschluss des deutsch-italienischen Abkommens, das Österreich jeder Hoffnung beraubte, von Italien Hilfe zu erhalten. Die „Achse Berlin-Rom“ wurde nun zum „Spieß“, an dem Österreich „braun gebraten“ wurde126. Die Sturm-Parole war Bestandteil der politischen Propaganda sowohl des Ständestaats127 als auch bei der Linken128, die beide Österreich von vielen Gefahren umstellt sahen. Die Wettersymbolik wird bis zum Schluss durchgehalten und bezieht sich wieder auf Leonidas’ Befindlichkeit, denn er leidet am Abend an Herzbeklemmungen, kann kaum atmen und fühlt sich gealtert; auch Amelie sieht in sein „zerknittertes und graues Gesicht“ (73)129. Die 126 So Jean Rodolphe von Salis, Weltgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 3, Zürich 1960, S. 594. – Vgl. Angelo Ara: Die italienische Österreichpolitik 1936–1938, in: Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 111–129. 127 Sie klingt u.a. im Titel der Wochenzeitung „Sturm über Österreich“ an (1933–1938, Auflagenhöhe 1937: 29.000 Stück), die zunächst das Ende der Parteienherrschaft forderte, später gegen die katholischen Brückenbauer zum Nationalsozialismus agitierte und für die Habsburgerrestauration eintrat. Sie war das Propagandablatt der „Ostmärkischen Sturmscharen“, des von Dollfuß als Gegengewicht zu den faschistischen Heimwehren geförderten katholischen Wehrverbands, dem Schuschnigg als „Reichsführer“ vorstand (seit 1930) und dessen Leitung er als Bundeskanzler beibehielt. Sturmschärler (wie Hans Pernter) standen in der Leitung des Unterrichtsministeriums. – Vgl. Walter Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen. Für Gott und Ständestaat (Europäische Hochschulschriften, R. 3, 864), Frankfurt a.M. [u.a.] 2000 (phil. Diss. Graz 1997), S. 367– 378, 469 f. – Der erste Chefredakteur des „Sturm über Österreich“ Anton Klotz publizierte unter gleichem Titel ein Buch, hg. Bundeskommissariat für Propaganda (Wien 1934). – Die Sturmparole findet sich auch im Titel des „österreichischen Breviers“ (so das Werbeband), das im Verlag der Landesleitung der Tiroler Ostmärkischen Sturmscharen erschien: Skorpil, Sturm in die neue Zeit („Dem Herrn Bundeskanzler von Österreich Dr. Kurt von Schuschnigg“ „aus seelisch-geistiger Verpflichtung heraus in Treue gewidmet!“). Skorpil war Mitherausgeber der Jugendzeitschrift „Jung-Österreich“. 128 Vgl. Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter (Bratislava, 19. Februar 1934), erster Abschnitt: Sturm über Österreich; Neudruck in: Ders., Werkausgabe, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Wien 1976, S. 957–997. 129 Der Schluss der Novelle ist kunstvoll mit dem dritten Kapitel verwoben. Leonidas zieht sich müde in den Hintergrund der Opernloge zurück und erinnert sich im Traum an den abgelaufenen Tag. Im Unterbewusstsein sieht er sich (Freuds Psycho-
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letzte Wettermeldung wird verstärkt durch die politische Komponente, die sie nun zusätzlich gewinnt. Eine Opernbesucherin begrüßt Leonidas mit der Bemerkung, sie hoffe, „daß England und Frankreich mit uns Einsehen haben werden. Und Amerika, vor allem Amerika!“ (76). Die Dame erwähnt Italien, das noch 1935 in Stresa zusammen mit Frankreich und Großbritannien eine Front gegen HitlerDeutschland gebildet hatte, wohlgemerkt nicht mehr. England hatte den deutschen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands im März 1936 und die Verletzung des Locarno-Vertrags hingenommen und der Aufhebung der Völkerbundssanktionen gegen Italien im Juni 1936 nach Mussolinis Sieg im Abessinienkonflikt im Mai zugestimmt. Dies alles hatte dem Bemühen um kollektive Sicherheit in Europa weitere Schläge versetzt. Der Ständestaat erscheint bei Werfel in denkbar ungünstigem Licht. Dies ist um so bemerkenswerter, als Werfel Exponent der mit dem Ständestaat sympathisierenden Intellektuellen und Künstler war. Er führt die obere Klasse, die die Staatsidee an erster Stelle hätte repräsentieren müssen, weil die Massenmobilisierung nach italienischem und deutschem Vorbild nicht gelang und Schuschnigg (anders als Dollfuß) jede Ausstrahlung fehlte und alles andere als eine charismatische Führergestalt war130, in der Staatsoper mit ihrer Extravaganz und Oberflächlichkeit vor. Die erwähnte Dame ironisiert die ständestaatliche Ideologie: „Wir sind schließlich das letzte Bollwerk der Kultur in Mitteleuropa“ – eine Hauptparole des Ständestaats. Leonidas antwortet darauf „gereizt“ und „grimmig“: „Kultur haben, das heißt, anders ausgedrückt, einen Stich haben. Wir alle hier haben einen Stich, weiß Gott. Ich rechne mit keiner Macht, auch mit der größten nicht. Die reichen Amerikaner kommen im Sommer gerne nach Salzburg. Aber Theaterbesucher sind keine Verbündete. Alles hängt davon ab, ob man stark genug ist, sich selbst zu revidieren, eh die große
analyse steht wieder Pate) schlafend auf einer Parkbank sitzen. Sein Gesicht ist das des schlafenden, verarmten „alten Mannes“, dem er am Vormittag im Schönbrunner Schlosspark begegnet ist. Dieser, erst 51 Jahre alt, wirkt wie der glücklose Zwillingsbruder von Leonidas (29–31). Das Alter sitzt Leonidas, dessen verführerische Schönheit (14) eingangs betont wird, plötzlich im Nacken. Die „Zufahrt-Straßen des Lebens“, die er im Gesicht des alten Mannes erforscht hat, erkennt er im Traum in seinem eigenen Gesicht wieder. Nur hier, im Unterbewusstsein, gesteht er sich seine „Lebens-Schuld“ (78) ein. 130 Alma Mahler über ihn: „Unser armes Österreich hängt im Netz Hitler-Deutschlands. Schuschnigg ist ein schwaches, kultiviertes Männchen. Ich kann unseren jetzigen Führern keine Kraft zutrauen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, so sehe ich keinen Weg. Sollten es die Habsburger noch einmal sein? Kaum!“, in: Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 238 (irrtümlich unter 1933 eingeordnet).
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Revision kommt...“ (76). Damit kann nur der Nationalsozialismus gemeint sein, und Leonidas hat dabei das hasserfüllte Gesicht des Schwammigen vor Augen. Indem Werfel dem Sektionschef Leonidas im staatstragenden Unterrichtsministerium in den Mund legt, Kulturbewusstsein für einen „Stich“ zu halten, unterstreicht er noch einmal die Fragwürdigkeit von dessen Existenz. Leonidas begreift nicht, dass er selbst die Möglichkeit ausgeschlagen hat, die „große Revision“ abzuwenden, die ihm im Fall von Alexander Bloch gegeben war, und dass er zu denen gehört, die mit ihrem Opportunismus den Staat untergraben. Wenn in seinem Bewusstsein die hohe Bürokratie der eigentliche Träger des ständestaatlichen Regimes ist (der diese Bedeutung neben Adel, Geistlichkeit, Bundesheer, Polizei und Gendarmerie tatsächlich zukam), dann ist sein schließlicher Kotau vor Spittelberger um so gravierender. Werfel wollte offenbar die Brüchigkeit des Ständestaats am Beispiel eines Ministers, der hohen Bürokratie und der „obersten Tausend“ zeigen und mit dichterischen Mitteln veranschaulichen, warum der Übergang zum Nationalsozialismus im März 1938 so reibungslos gelingen konnte. Hier wird ein Werk der Dichtkunst zu einer aufschlussreichen Quelle für die nach wie vor umstrittene Frage, ob sich der Anschluss Österreichs 1938 mehr durch äußere Gewalt oder innere Erosion vollzogen hat131. Die Einschätzung, das Politische bilde den Kern der Novelle, belegen die Schlussbemerkungen. Leonidas wisse, so der Erzähler, „daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird“ (78). Das Angebot lag nicht darin, das an Vera begangene Unrecht gut zu machen und die alte Schuld durch eine neue Bindung an sie zu sühnen; Vera lässt keinen Zweifel, dass sie mit Leonidas und der Welt, die er verkörpert, abgeschlossen hat und emigrieren wird. Nur das Schicksal Emanuels, nicht der Versuch, Leonidas an sich zu binden, hat sie für kurze Zeit nach Wien zurückgeführt. Das Angebot für Leonidas konnte auch nicht darin liegen, Amelie endlich die Wahrheit zu beichten, denn der Erzähler lässt keinen Zweifel, dass sie die Wahrheit nicht ertragen und die daraus folgende Trennung nie verwinden würde, weil sie Leonidas abgöttisch liebt. Die beiden Frauen dienen nur als Katalysatoren in Leonidas’ Selbsterkennungsprozess, der ihm sein Versagen bewusst macht, ohne dass er daraus Konsequenzen zieht. Nein – das Angebot an Leonidas war ein politisches gewesen: für Bloch und damit für Gerechtigkeit und Wahrheit einzutreten, wie es Leonidas seine eigene Einsicht eine kurze Zeit lang gebietet – die im vierten Kapitel, genau in die Mitte der Novelle gerückte Thematik. Als Leonidas Bloch 131 Vgl. die kontroversen Auffasungen dazu in: Österreich, Deutschland und die Mächte.
Kommentar I
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fallen lässt, überlässt er auch Emanuel seinem Schicksal, so wie er Vera nach ihrer beider Affäre sich selbst überlassen hat. Die Psyche von Leonidas ist eine Parabel für die Geschehnisse des Jahres 1936. Die jüngere Forschung hat die inneren Voraussetzungen für die Machtergreifung des Nationalsozialismus „von oben“ und „von unten“132 eingehend analysiert und die aus der Not des Jahres 1945 geborene Theorie von Österreich als erstem Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands zurückgewiesen133. Die ästhetische Analyse der Novelle zeigt, woran der Dichter erinnern wollte und worin er die tiefere Ursache für den Untergang Österreichs sah. Er kannte die innere Haltung vieler Regierungsmitglieder, hoher Ministerialbeamter und der oberen Wiener Gesellschaftsschicht, weil sie alle, vom Burgschauspieler bis zum Bundeskanzler, in der prunkvollen, mit Oskar Kokoschkas Porträt von Alma und mit den Partituren Gustav Mahlers dekorierten Jugendstilvilla seiner Gattin auf der Hohen Warte im XIX. Wiener Gemeindebezirk verkehrten134. Alma führte „unter den rivalisierenden Wiener Salons“ den „spektakulärsten“ und „am aufwendigsten geführten“, in dem „vorwiegend das Auswahlprinzip der Prominenz und des Popularitätsgrades“ herrschte, „durchmischt mit Adel und katholischer Geistlichkeit und den jeweiligen bevorzugten Lieblingen der Hausfrau“135. Hier fanden die
132 So Botz, Zwischen Akzeptanz und Distanz, hier S. 429. – Walzl, Entwicklungen des Nationalsozialismus in Kärnten, hier S. 63. 133 Vgl. Forschungsbericht Matthias Pape, Die völkerrechtlichen und historischen Argumente bei der Abgrenzung Österreichs von Deutschland nach 1945, in: Der Staat 37 (1998), 287–313. – Österreichs Opferrolle betont (mit Blick auf die außenpolitischen Vorgänge und Pressionen Hitler-Deutschlands) Gerald Stourzh, Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung, in: Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 319–346. 134 Vgl. Werfel-Katalog, S. 50 f. – Jungk, Franz Werfel, S. 195–198, 225, 239. – Schuschnigg, „der in schwärmerischer Liebe“ für Alma „brannte“, besuchte noch spät abends ihren Salon und ließ sich von Franz Werfel Hölderlin (!) vorlesen. So Friedrich Heer, Nachwort, S. 173. – Vgl. auch Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, S. 245, 251. 135 Dubrovic, Veruntreute Geschichte, S. 75. – Dieses (jüdische) Bohemienleben hat einen Dichter wie Josef Weinheber abgestoßen, der hohe lyrische Qualität bis 1938 bitteren Lebensumständen abringen musste und urteilte: „Was Kunst in der Lyrik sei, bestimmten abgebrühte, auf jede Art von Sensation versessene Juden und ihr snobistischer Anhang. Wer hätte wahrhaben wollen, daß an Matthias Claudius mehr zu lernen, mehr zu gewinnen sei als an dem ‘weltberühmten’ Werfel? An dem stillen Hölderlin mehr als an dem frechen Kästner?“ Josef Weinheber, Die Referentensitzung, Erstdruck in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. Josef Nadler u. Hedwig Weinheber, Bd. 4, Kleine Prosa, Salzburg 1954, S. 29–33, hier S. 30. – Dazu abwägend Albert Berger, Josef Weinheber (1892–1945). Leben und Werk – Leben im Werk, Salzburg 1999, S. 151, 254–258.
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„rauschende[n] Nächte“ statt wie bei einem „Tanz auf dem Vulkan. Unten tobten wir, oben arbeitete er, allein, der Werfel“136. Es ist bemerkenswert, zu welchem Urteil über den Ständestaat Werfel aus dem zeitlichen Abstand von nur wenigen Jahren und aus der räumlichen Distanz in der Emigration gelangt, während er sich noch im April 1936 in seinem Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“ zum Ständestaat bekannt hatte. Es ist aber auch erstaunlich, wie nahe Werfels zeitgenössische Wahrnehmung neueren sozialpsychologischen Analysen kommt. Werfel wollte mit der Novelle der Nachwelt sein Bild Österreichs vor dem Untergang im Jahr 1938 ins Gedächtnis festschreiben. In der zwischen den politischen Lagern geteilten Erinnerungskultur der Zweiten Republik könnte dieser literarische Text als Regulativ wirken. Zweifellos nimmt die Novelle im kulturellen Gedächtnis Österreichs einen wichtigen Platz ein. Liest man sie oberflächlich, tritt allein das Psychologische hervor137. Erst durch die philologische Einzelanalyse konnten der Spannungsbogen zwischen Psychologischem und Politischem und die vom Autor gezeigte politisch-moralische Labilität des Ständestaats, also die eher verborgene politische Schicht der Novelle und tiefere Absicht des Autors im Sinne der „Erinnerungsgeschichte“ nachgewiesen werden. Die Untersuchung mag gezeigt haben, dass dem gedächtnistheoretischen Ansatz der Kulturwissenschaft nicht durch übermäßigen theoretischen Aufwand, sondern durch ein philologisch-ästhetisches Interpretationsverfahren am besten gedient ist.
136 So referiert Friedrich Heer, Nachwort, S. 173, die Erinnerung Fritz Wotrubas. – Zur Wiener Salonkultur auch Zuckerkandl, Österreich intim. – Alma pflegte in der Emigration in den USA um 6 Uhr aufzustehen, eine Flasche Champagner zu trinken, eine Stunde lang aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ zu spielen und im Morgengrauen Freunde anzurufen, um sie zum Frühstück einzuladen. Vgl. Friedrich Torbergs Nachruf: Alma Mahler-Werfel. Ein Denkmal ihrer selbst (1964), wieder in: Ders., Die Erben der Tante Jolesch, Neudruck München 1990, S. 421–427. 137 So Paulsen, Franz Werfel, der die Gestaltung der „zauberhaften Liebesgeschichte“ (S. 232) und die „Charakterstudie“ von Leonidas (S. 233) hervorhebt und in der Novelle eine „die Bereiche des Zeitromans streifende Erzählung“ (S. 224), auch eine „Auseinandersetzung mit der fatalen österreichischen Mentalität“ sieht, „ohne die ein Hitler in Österreich kaum denkbar gewesen wäre“ (S. 231). Paulsen erkennt indes nicht die vielen Bezüge zum Ständestaat.
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Verfassungshistorischer Hintergrund Die Erzählung lässt sich chronologisch klar einordnen. Die „blaßblaue Frauenschrift“ datiert den derart schon äußerlich bemerkenswerten Schlüssel-Brief mit 7. Oktober 1936. Damit befinden wir uns mitten in einer besonderen Periode der österreichischen Staatsentwicklung1, die in vielerlei Weise charakterisiert zu werden pflegt: „Austrofaschismus“2 zumindest hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes, von linker Seite „Österreichischer Faschismus“ im Gegensatz zum „Nazifaschismus3 bzw. „Mussolinifaschismus“ zur Unterscheidung vom „Hitlerfaschismus“, auch „Klerikofaschismus“4, weiter „autoritärer Staat“5 wegen der tatsächlichen Verfassungssituation, „Ständestaat“6 zufolge der berufsständischen Gliederung der Bevölkerung in bewusster Verdrängung des demokratischen Prinzips und nicht zuletzt „ständisch-autoritär“ gemäß der Präambel der seit 1934 geltenden Verfassung: Sie bezeichnete Österreich als „christlichen deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage“, für den das „österreichische Volk“ eben diese Verfassung „erhält“, sich in autoritärer Weise also nicht selbst gibt7. Am 4. März 1933 traten in und zufolge einer turbulenten Sitzung des Bundesparlaments, des Nationalrates, sukzessive dessen drei Präsidenten zurück, die ratlosen Abgeordneten verließen den Sitzungssaal. Dies kam der Bundesregierung, die nur über eine Stimme Mehrheit im Parlament verfügte, gerade recht: Sie interpretierte diesen Vorgang als „Selbstausschaltung“. Die durchaus mög1 2 3 4 5 6 7
W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., Wien 2009, 231 ff., für die folgenden Details. U.a. O. Helmer, 50 Jahre erlebte Geschichte, Wien 1957, 141, 158; abgelehnt bei E. Nolte, Die faschistischen Bewegungen (= dtv-Weltgeschichte 4), München 1966, 256. U.a. J. Deutsch, Ein weiter Weg, Zürich – Leipzig – Wien 1960, 224. So u.a. K. Renner, Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs, Wien 1945, 7, 15. L. Jedlicka, Ein Heer im Schatten der Parteien, Graz – Köln 1955, 104 ff. U.a. U. Kluge, Der österreichische Ständestaat 1934–1938, München 1984. A. Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935.
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liche Reparatur dieser Panne unterband sie im Einvernehmen mit dem Bundespräsidenten letztlich dadurch, dass sie den abermaligen Zusammentritt des Nationalrats, einberufen durch den zuletzt zurückgetretenen, nunmehr sozusagen geschäftsführenden Präsidenten, am 15. März 1933 mit einem Polizeiaufgebot verhinderte. Dies und weitere Maßnahmen wie die Ausschaltung der Ländervertretung des Bundesrates, die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes und vor allem der Erlass von Regierungsverordnungen aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) aus 1917 verdichteten sich rasch zu einem „Staatsstreich von oben“. Schon im Herbst 1933 hatte der Bundeskanzler, Engelbert Dollfuß, verkündet: „Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei“8. Bis zum Jahre 1934 hatten tatsächlich sämtliche politischen Parteien zufolge unterschiedlicher Zwangsmaßnahmen die politische Bühne verlassen. An ihre Stelle trat die „Vaterländische Front“, die als „Träger des österreichischen Staatsgedankens“ die Stellung einer Staatspartei erhielt. Vor allem aber wird am 1. Mai 1934 eine neue Verfassung proklamiert, die „Verfassung 1934“. Ihr Wesenmerkmal besteht in der Abkehr von der parlamentarischen Demokratie. Als Rechtfertigung galt: „Die Demokratie wurde durch den Parlamentarismus, der Parlamentarismus wiederum durch seine Überspitzung als Parteiherrschaft in Frage gestellt und entwurzelt“, verbunden mit der Ansicht, man könne „nicht übersehen, daß eine vom wahren Volkswillen getragene ständische und selbst autoritäre Verfassung der Grundidee der Demokratie [...] besser dienen kann als eine demokratische Verfassung, die ihren Halt im Volkswillen verloren hat“9. Das grundsätzliche Wesen der Verfassung veranschaulicht die schon zitierte Präambel. Erarbeitet wurde die Verfassung im Schoß der Regierung, nicht im parlamentarischen Weg. Diesen vermied die Regierung auch für das Inkraftsetzen. Es erfolgte durch eine Regierungsverordnung aufgrund des KWEG 1917 wie auch aufgrund des im doch wieder einberufenen Bundesparlament zustandegekommenen Ermächtigungsgesetzes 1934. Beides war höchst fragwürdig. Das KWEG 1917 gestattete nur die Wirtschaft betreffende Regierungsverordnungen, für das Ermächtigungsgesetz 1934 konnte im Bundesparlament vor allem zufolge der Aberkennung der sozialdemokratischen Mandate das Präsenzerfordernis nicht erfüllt werden. Was gemäß der Präambel der Verfassung deren Inhalt betraf, so bestand die „ständische Grundlage“ darin, dass die Körperschaften der Landes- wie der Bundesgesetzgebung nicht aus Volkswahlen hervorgingen, sondern von Berufsorganisationen zu beschicken waren. Dazu wurden sieben „Berufsstände“
8 9
H. Andics, 50 Jahre unseres Lebens, Wien 1968, 220. Merkl, wie Fn. 7, 5, 9.
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gebildet: Land- und Forstwirtschaft; Industrie und Bergbau; Gewerbe; Handel und Verkehr; Geld-, Kredit- und Versicherungswesen; Freie Berufe; Öffentlicher Dienst. Allgemein verständlich beschrieben10 bedeutete „Berufsstand“ die „Gesamtheit aller in einem Erwerbszweig Beschäftigten. Dazu gehören die Unternehmer wie auch die Angestellten, die Arbeitgeber wie auch die Arbeitnehmer“. Das autoritäre Prinzip verwirklichte die Bundesregierung, deren „Führung“ dem Bundeskanzler zustand. In der bezeichnenden Broschüre „Unser Staatsprogramm: Führerworte“ von 1935 hieß es zum Beispiel: „Es ist der Sinn des modernen, sich in der Welt immer mehr und mehr durchsetzenden Führerprinzips, daß sozusagen eine oberste Stelle da ist, die berufen ist, gewisse Grundlinien, gewisse Grundsätze aufzustellen, denen sich alle zu fügen haben“11. In den Worten des Dollfuß-Nachfolgers Kurt Schuschnigg: „Das Gemeinwohl im Staate [...] ist nach unserer festen Überzeugung heute nur durch die autoritäre Führung des Staates zu erreichen“12. Insbesondere entfiel eine Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundesgesetzgeber. Ihre Stellung stärkte überdies das Ermächtigungsgesetz 1934 mit der Möglichkeit von Regierungsverordnungen auch verfassungsrechtlichen Inhalts. In der Gesetzgebung spielten sie tatsächlich eine übergroße Rolle13. Die Charakteristik einer „Regierungsdiktatur“ drückt dies aus. Der „christliche Staat“ der Präambel war in Wahrheit ein solcher des Katholizismus, Teile des Konkordats 1933 erhielten Verfassungsrang, die Katholische Kirche damit Einfluss insbesondere auf das Schulwesen und das Eherecht. Das Bekenntnis, „deutscher Staat“ zu sein, besaß nicht verfassungssystematische, sondern politische Bedeutung. In den Worten Bundeskanzler Schuschniggs hieß dies unter anderem14: „Nationalpolitik ist jene Politik, die das Stück deutschen Landes im österreichischen Raume lebend erhält und ihm den Fortschritt verbürgt“ bzw. kurz „Österreich ist deutsch und bleibt deutsch“. Damit ist der in unterschiedlicher Weise seit 1918 verfolgte Anschlussgedanke fallengelassen, jedenfalls für die Zeit der Herrschaft der NSDAP im Deutschen Reich. Das nunmehr, wie es sich verstand, „Neue Österreich“ trat allerdings bewusst als gesamtdeutsche Alternative zum NS-Reichsgedanken auf. Dies kam jetzt auch in der neuen Staatssymbolik zum Ausdruck: Der republikanische einköpfige Adler wurde
10 11 12 13 14
O du mein Österreich, Wien – Leipzig 1935, 66: Eine auch für den Schulgebrauch zugelassene Broschüre. Unser Staatsprogramm: Führerworte, Wien 1935, 69. A. Tautscher, Schuschnigg spricht, Graz – Wien 1935, 68. W. Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933 – 1938 (= Rechtshist. Reihe 109), Frankfurt/Main etc. 1993, insbes. 192 f. Tautscher, wie Fn. 12, 56.
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durch den doppelköpfigen Adler des Hl. Röm. Reiches ersetzt; das als deutsches Symbol verstandene Krukenkreuz trat dem Hakenkreuz entgegen15. In seinen äußeren Erscheinungen16 – Feiern, Kundgebungen, Aufmärsche, Wehrverbände – trug der Staat ein Gepräge wie vom faschistischen Italien und mehr noch vom nationalsozialistischen Deutschland bekannt. Bilder der Bundesregierung zeigen deren Mitglieder in unterschiedlichsten Uniformen und als besondere Staffage dienten bei öffentlichen Anlässen kirchliche Würdenträger sowie Erzherzöge in kaiserlicher Uniform. Zu ihrem Schnitt kehrte übrigens das Bundesheer zurück, das bisher eine der deutschen Reichswehr äußerst ähnliche Uniform trug, sozusagen in Erwartung eines irgendwann doch kommenden Ausschlusses. Für die politischen Gegner freilich, vor allem Sozialisten und Nationalsozialisten, wurden Anhaltelager eingerichtet. Einen bedeutsamen Hintergrund unserer Erzählung bildet das sogenannte „Juliabkommen 1936“, abgeschlossen am 11. Juli 1936 zwischen Österreich und dem Deutschen Reich. Am Handlungstag zu Beginn des Oktobers 1936 war es gerade erst knappe drei Monate alt17. Mit ihm sollte der österreichischen NSDAP, die 1933 verboten worden war, wieder Handlungsspielraum verschafft werden. Er aber wurde in einem so bescheidenen Maße von Österreich gewährt, was zum permanenten Streitobjekt mit dem Deutschen Reich führte18. Die österreichische NSDAP erwartete sich jedenfalls eine politische Betätigungsmöglichkeit, während die österreichische Regierung nur Einzelpersonen des „nationalen Lagers“ im Rahmen der Staatspartei und der Bundesregierung heranzog. Im Zentrum des Abkommens stand die Verpflichtung Österreichs zu einer Politik, „die der Tatsache, daß Österreich sich als deutscher Staat bekennt, entspricht“. Daran knüpften sich einerseits Hoffnungen auf eine Lockerung der „Regierungsdiktatur“, andererseits Befürchtungen: „Von einem Tag zum anderen konnten hüben dieselben Gesetze in Kraft treten, wie drüben“, sinniert Leonidas (18)19, und meint dabei die Nürnberger Rassegesetze. Das innenpolitische System schlägt sich in unserer Erzählung nur wenig nieder, das Juliabkommen 1936 aber umso mehr. Jenes lässt sich am ehesten in der Feststellung erkennen, die Hauptfigur Leonidas gehöre als Sektionschef im 15 16 17 18 19
W. Brauneder, Österreichs Staatssymbolik seit 1918, in: ders., Studien III, Frankfurt a.M. etc. 2002, 279 ff., 285 ff. Nachweise dazu bei Brauneder, wie Fn. 15, 294 ff. Text u.a. bei R. Lorenz, Der Staat wider Willen, Berlin 1960, 248 ff. Zu den unterschiedlichen Standpunkten etwa G. Zernatto, Die Wahrheit über Österreich, New York – Toronto 1938, 147 ff.; Lorenz, wie Fn. 17, 126 ff. In der Folge beziehen sich Ziffern im Text auf die Seiten dieser Ausgabe.
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Unterrichtsministerium „zu den vierzig bis fünfzig Beamten, die in Wirklichkeit den Staat regierten“ (3). Wenngleich dies als Spitze gegen die wechselnden Minister gedacht war, entspricht es insoferne dem autoritären System, da die Regierungs- und oberste Verwaltungstätigkeit nicht mehr parlamentarisch überprüfbar war. „Die Minister spielten“ in den Augen der hohen Bürokratie „nur die Rolle politischer Hampelmänner, mochten sie dem Zeitstil gemäß auch noch so diktatorisch einhertreten“ (33). Dieser „Zeitstil“ meint – „diktatorisch“ – das erwähnte faschistische Erscheinungsbild. Die Bemerkung, die „Minister wurden von den Parteien empor- und wieder davongespült“ traf allerdings jetzt nicht mehr zu (33), da es eben keinen Parteienpluralismus mehr gab. Auf die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb der Staatspartei, den ihr zugewandten Organisationen und Cliquen kann dies freilich bezogen werden. Davon aber hören wir nichts. Unerwähnt bleiben auch die Schauplätze des bürgerkriegsähnlichen Szenarios vom Februar 1934, als das Bundesheer in Wien gegen die Wohnblocks der Sozialdemokraten sogar mit Kanonen vorging, bzw. vom Juli 1934, als es vielerorts in Österreich zu einem Aufstand der Nationalsozialisten kam, der vor allem in Wien Bundeskanzler Dollfuß das Leben kostete. Im Kontrast dazu geht Leonidas durch die „Alleestraße des Hietzinger Viertels“ (17), einen Villenvorort Wiens, auch geographisch sein Westend. Es dehnt sich in Anschluss an das Schloss Schönbrunn und seinen Park aus. Hier grüßen Leonidas „die pensionierten Beamten und kleinen Bürger dieser ehrerbietig konservativen Gegend“, „das Kreischen der Elektrischen“, der Straßenbahnlinie 58 oder 59 oder 60, „der Straßenlärm fern und nah klang wie gepolstert“ (17). Leonidas spaziert weiter „an der Stirnseite des Hietzinger Parkhotels vorbei“: „Freundlich grüßten die Balkonreihen“, die „Fenster gingen auf den Schönbrunner Park hinaus, rechts auf den Tiergarten, links auf das sogenannten ‘Kavaliersstöckel’ des ehemaligen kaiserlichen Schlosses“ (29). Die Gemeindebauten mit ihren Einschusslöchern liegen weit davon entfernt. Ein wenig Ständestaatshintergrund bringt ein anderer Schauplatz: „Herrlicher Alpensommer in St. Gilgen. Leonidas und Amelie [...] wohnen in dem entzükkenden kleinen Hotel am Seeufer. Man hat sich heute mit Freunden zu einer gemächlichen Bergpartie verabredet. In wenigen Minuten wird an der Landungsstelle dicht vor dem Hotel das Dampferchen anlegen, das man besteigen muss, um zum Ausgangspunkt des geplanten Spazierganges zu gelangen“ (10). Dabei handelt es sich um eine Fahrt nach dem Gasthof Fürberg gegenüber St. Gilgen, Ausgangspunkt eines Weges über einen Vorberg des Schafbergs hinweg nach St. Wolfgang, von wo bequem mit dem Schiff zurück nach St. Gilgen zu fahren ist. Für Leonidas wird St. Gilgen plötzlich zum Ort unangenehmen Geschehens. Von seiner Ex-Geliebten Vera erfährt er, dass hier das ihm
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bisher unbekannte gemeinsame Kind an „Genickstarre“ starb: „Ja, genau in jenem Jahr hatte die Epidemie so viele Kinder im Salzburgischen hingerafft“ (72), wozu auch St. Gilgen gehört. Da der von Leonidas zu Protegierende, den er vorerst für seinen Sohn hält, vor 15 Jahren im Alter von zweieinhalb Jahren verstorben war (9, 14, 72), fiele dieses Kindersterben in das Jahr 1921. Diese Rückrechnung in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entspricht jedoch keineswegs der historischen Chronologie, was noch zu zeigen sein wird. Damit erübrigt sich die Frage nach einer auffallenden Kindersterblichkeit im Jahre 1921. Tatsächlich aber gab es in der Zwischenkriegszeit mehrere Fälle von „Genickstarre“, also epidemischer Gehirnhautentzündung, im Land Salzburg; das könnte Werfel bekannt gewesen und für St. Gilgen genutzt worden sein. Damit nicht genug in Bezug auf St. Gilgen: Die ständestaatliche Propaganda hatte sich den Ort für ein festliches Ereignis ausgesucht, das unter „St. Gilgener Hochzeitsfest“ in zeitgenössische Wochenschauen einging. Dabei handelte es sich um die vom Staat finanziell unterstützte Heirat einer Magd mit einem Waldarbeiter unter Teilnahme von Bundeskanzler Schuschnigg. Dieses Hochzeitsfest fand am Wochenende des 8. und 9. August 1936 statt, war propagandistisch aufgezogen und aufbereitet worden. Dazu gab es freilich ein gleichfalls durch Wochenschau verbreitetes Gegenstück in der Hochzeit einer Enkelin Kaiser Franz Josephs mit einem Mitglied der Linie Habsburg-Toskana schon im April 1936. Zwei ständestaatliche Ereignisse: dort die Volksverbundenheit in schlichtem bäuerlichen Gewand, hier mit kaiserlichen Uniformen die hochadelige Tradition. Werfel wird sicherlich Kenntnis davon gehabt haben. Freilich benötigte St. Gilgen derartige Propaganda nicht, denn es zählte damals zu den faschionabelsten Urlaubsorten in Österreichs ohnedies schon faschionablem Salzkammergut – in nächster Nähe übrigens zu dem durch die Operette „Im Weißen Rössl am Wolfgangsee“ noch bekannteren St. Wolfgang. Nicht nur mit St. Gilgen ragt ein Stück verflossener Kaiserzeit in das Jahr 1936 herein. Aus dem „Hofmobiliendepot“ (das aber bereits Bundesmobiliendepot hieß) stammt die Einrichtung von Leonidas‘ Dienstzimmer mit u.a. einer „vergoldeten Stehuhr aus der Kongreßzeit“, d.h. des Wiener Kongresses von 1815, und „Bilder irgendwelcher verschollener [gemeint: vergessener] Erzherzöge und Minister“ (34), was sich allerdings bis heute nicht radikal verändert hat. Und dann: „Ein Frack! Wer ihn besitzt, darf Bälle und andere gesellschaftliche Veranstaltungen besuchen. Wer in seinem Frack gut aussieht und überdies ein besonderes Tänzertalent besitzt wie Leonidas, der erweckt rasch Sympathien, schließt Freundschaften, lernt strahlende junge Damen kennen, wird in ‘erste Häuser’ eingeladen“ und damit „begann die Karriere des armen Hauslehrers“ (4). Denn er begegnet seiner künftigen, reichen Frau „damals am Juristenball“ (54), dieser auch heute noch einer der ersten Bälle Wiens. Nahezu unverändert
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auch die Opernatmosphäre: „Leonidas steht in der Opernloge hinter Amelie“, sie trägt ein „sehr kostbares Pariser Modell“ (73), und meint, „das Opernglas an die Augen führend: ‘Was für ein schönes Haus heute!’ [...] Alles was Rang und Namen besitzt, hat sich an diesem Abend in der Oper versammelt“, man tauscht hin zu anderen Logen Grüße aus mit einer Prinzessin, bürgerlichen „Bösenbauers“ (vielleicht die Klavierbauer Bösendorfer?), mit dem englischen Gesandten, einer jungen Fürstin und als Kontrast dazu sagt Amelie: „In der Regierungsloge sitzt schon dieser unmögliche Koloss, das Weib vom Spittelberger, ich glaub, sie hat einen Wolljumper an“ (74), und meint damit die Frau des Ministers, des Chefs von Leonidas. Alt-Österreich, wie man das nennt, verkörpert auch „der Kabinettschef des Hauses, Jaroslav Skutecky“, angetan mit einem „altertümlichen Gehrock“ und „einer harten Aussprache“ (35, 43), charakterisiert von Amelie als „dieser böhmische Dorfschullehrer“ (48): Skutecky stammt also nicht aus dem Staatsgebiet Österreichs von 1936, ist vielmehr aus dem großen vor 1918 sozusagen übergeblieben. Amelie fährt fort: „Was für ein Niveau das ist, das heute regieren darf...“, worauf Leonidas erwidert: „Die Fürsten und Grafen von ehemals haben zwar besser ausgesehen, aber doch schlechter regiert“ (48). Auch im Standesunterschied zwischen Amelies Familie, den Paradini, in die Leonidas eingeheiratet hat, und gerade dem seines Kollegen Skutecky dauert Alt-Österreich fort. Leonidas war durch seine Heirat „ein großer Herr“ geworden (77), wohnt im schon erwähnten Hietzing, von der Terrasse beim Frühstück – „Amelie löffelte langsam eine Grapefruit aus“, die sich damals kaum jemand leisten konnte – blickt man „über das Gartenmeer der westlichen Vorstadt von Wien hinaussehend bis zu den Bergen, an deren Hängen die Metropole verebbte“ (3). Damit lässt sich sogar noch Villa samt Terrasse ziemlich genau lokalisieren. Der Blick „weit über das Gartenmeer“ setzt eine etwas höhere Lage voraus, wie es sie in Hietzing mit Villen in parkähnlichen Gärten, wie etwa die Botschaftsresidenz der USA, nur in einem dem Park des Schlosses Schönbrunn benachbarten Teil gibt. So ist Leonidas „ein eingefleischter Hietzinger“ und es wäre für ihn „schon ein schwerer Entschluss, in einen anderen Bezirk zu übersiedeln“ (65). Zwei, drei Autos standen zu seiner Verfügung, er kannte aber sehr wohl „die spartanischen Grenzen des Beamtentums“, „die Pflicht, eine gewisse karge Bedürftigkeit hervorzukehren“, so „daß er mit seinem großen Wagen niemals am Portal des Ministeriums vorfuhr“ (59). Die Durchschnittsbeamten hingegen kennzeichnet eine „grenzenlose Banalität des kleinbürgerlichen Lebens“, „die ihre bevorzugte Stellung durch äußerst magere Bezüge abbüßten. (Der Beamte hat nichts, das aber hat er sicher, sagt der Wiener Komödiendichter.)“ (36). Während Leonidas, wie erwähnt, in St. Gilgen schon als junger Ministerialbeamter den Urlaub verbringt, schwärmt Skutecky von seinem Urlaubsort „wie
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ein Schmuckkästchen, keine Elegance, [...] mit Freibad und Tanzgelegenheit [...], mit Autobus in jede Richtung [...] sage und schreibe fünf Schilling pro Kopf. Das Essen [...] alles mit Butter oder bestem Fett zubereitet“ (36). Leonidas eigene Jugend: Da sein Vater früh starb, mussten „die Mutter und fünf Geschwister von zwölfhundert Gulden Pension leben. Als drei Jahre später die arme Mutter starb, war auch die Pension nicht mehr da. [...] Wieviele sind auf der Stufe des Hauslehrers [...] steckengeblieben“ (77). Und so verstand er, Leonidas, „es nun, daß so viele unter seinen Amtsgenossen der Versuchung erlagen und Schmiergelder nahmen“ (58). Nicht ganz in das System des Ständestaates, ja der Zwischenkriegszeit überhaupt (das Heute sei ausgeblendet), passt die Karriere von Leonidas. Zu seinem 50. Geburtstag zählt er zu den ganz wenigen ranghöchsten Beamten eines Ministeriums. In dem von der Vaterländischen Front beherrschten Staatsapparat war dies ohne politische Protektion – wie ähnlich auch schon zuvor – unmöglich. Der Leser bleibt aber insgesamt im Glauben, Leonidas habe seine Laufbahn allein seinen Fähigkeiten zu verdanken. Von einem politischen Hintergrund ist nie die Rede. Als ihm ein solcher entgegenschlägt, bleibt er sprachlos, denn er zählt doch unter den Beamten schlicht zu „den erprobtesten“ (42). Die politische Welt um 1936 trifft allerdings im besonderen Maße die Charakteristik des Unterrichtsministers Vinzenz Spittelberger. Werfel zeichnet hier nicht eine Person, sondern einen Typ. Just im Jahre 193620 gab es nämlich vorerst keinen eigenen Minister an der Spitze des Bundesministeriums für Unterricht, vielmehr war mit „der Leitung betraut“ Kurt Schuschnigg, Bundeskanzler seit 1934, den ein Staatssekretär vertrat, der ab Mai 1936 dann doch als Minister das Ministerium führte: Dr. phil. Hans Pernter. An den Tagen unserer Handlung, am 9. Oktober, gab er beispielsweise „in den Festräumen des Ministeriums“ einen Empfang aus Anlass des „7. internationalen Brucknerfestes“21. Die höchsten Beamten des Ministeriums waren drei Sektionschefs: Pernter, sodann Dr. iur. Egon Loebenstein und Dr. phil. Josef Pohl. Die Leonidas zugeschriebenen Angelegenheiten der Gymnasien (amtsdeutsch „mittlere Lehranstalten“) fielen in den Zuständigkeitsbereich des erstgenannten Sektionschefs. Insoferne entspricht Leonidas Aufgabenbereich in etwa der Realität. Um diese sozusagen bürokratische Wirklichkeit aber ging es Werfel ja nicht. Wie Leonidas feierte Pernter Anfang Oktober seinen Geburtstag, als Jahrgang 1887 allerdings im Jahr 1936 erst seinen neunundvierzigsten. Geboren war er 20 21
Das Folgende nach: Österreichischer Amts-Kalender für das Jahr 1936, 57. Wiener Zeitung 278/9. 10. 1936, 9.
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in Wien22. Er zählte zum innersten Führungskreis des autoritären Machtapparats. So hatte er 1936 in den Worten Schuschniggs als einer „der verdienstvollen Mitglieder des alten Führungsstabes“ der Ostmärkischen Sturmscharen diesen „Wehrverband“ übergeführt in eine „Kulturgemeinschaft“23. Dies wie auch seine Zugehörigkeit erst zur katholischen Studentenverbindung „Norica“, dann zur von ihm mitbegründeten „Marco-Danubia“ im Cartell-Verband (CV) machen es verständlich, dass man „für national verdächtige Kollegen bei Minister Pernter“ eintreten musste, aber eben auch konnte24. Was Minister Spittelberger als Typ anlangt, so ist er als solcher sehr wohl zu lokalisieren: Es ist dies der typisch christlich-soziale Politiker wie er neben jenen aus der sogenannten Frontgeneration, kenntlich an ihrem Auftreten in vielerlei Uniform, schon aus der Zeit vor 1933/34 in die Ständestaats-Epoche hinein andauerte und ab 1945 weiter fortlebte. Schon sein Gruß beim Eintritt in den Beratungsraum zur entscheidenden Sitzung ist bezeichnend: „Grüß Gott die Herren alle miteinand‘, Servus, Servus...“ (36). Er „stammte aus einem der Alpenländer, nannte sich selbst in jedem zweiten Satz einen Bauern“, – „Ich bin nur ein einfacher Mensch, ein harmloser Bauer“ (39) – „war‘s aber keineswegs, sondern hatte sein ganzes Leben in Großstädten zugebracht, zwanzig Jahre davon in der Hauptstadt, als Lehrer und zuletzt Direktor einer Fortbildungsschule“; in den Tagen vor dem Geschehen hatte er „eine Reihe von politischen Versammlungen im ganzen Lande abgehalten“ (37). Gerne pflegte er zu sagen: „Ich bin expeditiv“ (37). Eine typische christlich-soziale Politikerkarriere: Spekulation mit bieder-bäuerlichem Milieu (wie übrigens auch Kanzler Dollfuß), Lehrerlaufbahn bis zum wohl politisch protegierten Schuldirektor (Dollfuß in der Landwirtschaftskammer von Niederösterreich), die wiederholte Feststellung: „Ich bin expeditiv“ (Dollfuß bescheinigte man „initiative Arbeitsenergie“25). Das – vorgeblich – bäuerliche Milieu diente den Christlichsozialen typischerweise der Abgrenzung zum städtischen Proletarier und der Kennzeichnung eines bodenverwurzelten Heimatbewusstseins. Dollfuß 1933: Im „Bauernhause, wo der Bauer mit seinen Knechten [...] aus der gleichen Schüssel seine Suppe ißt, da ist berufsständische Zusammengehörigkeit, berufsständische Auffassung“26. Dollfußnähe vermittelt Spittelberger weiters als 22 23 24 25 26
Zu ihm grundlegend I. M. Strobl, Dr. Johannes Pernter, Phil. Diss. Wien 1966; E. R. Starhemberg, Memoiren, Wien – München 1971, 339. K. Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, 2. Aufl., Wien – München – Zürich 1969, 93. W. Posch, Clemens Holzmeister, Salzburg – Wien 2010, 253, 270. „Unser Kanzler. Österreichs Erwachen!“, herausgegeben vom Generalsekretariat der christlich sozialen Partei Österreichs, wohl zweite Jahreshälfte 1933. Wie Fn. 11, 77.
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„ein kleiner Mann“ (36). Die prophezeite Laufbahn vom „Fachminister“ zur Person, welche „die ganze Macht im Staate“ erlangen könne (38), entsprach jener von Dollfuß. Der reale Unterrichtsminister Pernter gab für Werfels Minister Spittelberger wohl kein Vorbild ab. Als Wiener konnte jener nicht von sich behaupten, „ein harmloser Bauer“ zu sein, war27 zwar wie Spittelberger „von eher kleiner Statur“, hatte aber „etwas schütteres Haar“ keineswegs in „Bürstenform“, sondern links gescheitelt, besaß keine „schlecht rasierten Backen“, auch keinen „Spitzbauch“ wie jener (37), dafür „eine markant geformte Nase“. Ein Kokettieren mit dem Nationalsozialismus lag ihm fern, im Gegenteil: „Eine Vergötzung der Nation, die sich zu den Verirrungen eines Mythos von Blut und Rasse versteigt“, lehnte er öffentlich ab28. Das Vorgehen gegen deutschnational gesinnte Universitätsprofessoren wurde ihm nach dem Anschluss 1938 als einem „CVFreunde Schuschniggs“ angekreidet29. Dem Juliabkommen 1936 stand er reserviert gegenüber30, Kulturabkommen mit anderen Staaten, etwa Italien und Ungarn, forcierte er. Ganz anders als Spittelberger und insbesondere dessen „Günstlinge“, wie gleich zu beschreiben, zeigte er sich vom Juliabkommen 1936 nicht in seiner Handlungsfreiheit beengt. Als er im Oktober 1937 eine offizielle Einladung nach Prag annahm, das just in diesen Tagen in höchst getrübter Beziehung zu Berlin stand, riet ihm davon der Leiter des Außenamtes ab: „Wie kannst du es dir mit Berlin so verderben“ – Pernter flog dennoch in die tschechische Hauptstadt. Nahezu alle Jahre von 1938 bis 1945 verbrachte er entweder in Haft oder in Konzentrationslagern und stand 1944 vor dem Volksgerichtshof. So war er im Jahre 1945 Österreichs Politik wieder willkommen und gehörte bis 1949 als Abgeordneter dem Nationalrat an. Die entscheidende Sitzung plaziert Werfel in einen Raum, wo „zumeist die intimeren Sitzungen des Ministeriums“ stattfanden; es war dies der „Rote Salon“, „ein ziemlich kleiner, muffiger Raum“ (35). Diesen gab es tatsächlich. An der beschriebenen Sitzung nehmen auch zwei „Günstlinge“ (37, 41) Spittelbergers teil. Von ihnen ist Professor Schummerer der gewichtigere zufolge seiner „Rolle eines Vertrauensmannes der Universität beim Ministerium“, ein „Prähistoriker von Fach“ (37). Er besaß eine besondere Gabe: „Auf welche Seite er sich neigte, das war zuversichtlich die Macht von morgen“ (37). Das 27 28 29 30
Nach Foto des Kabinetts Schuschnigg vom 16. 2. 1938: Andics, wie Fn. 8, 299; Strobl, wie Fn. 22, 6, 20, 28. Strobl, wie Fn. 22, 63. Lorenz, wie Fn. 17, 136. Das Folgende bei Strobl, wie Fn. 22, 92 ff., 96.
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belegt – aus Werfels Sicht von 1940 – dessen Sitzungsbeitrag: „Unser großer Nachbar [...] hat die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert“, so dass Schummerer eine Berufung des jüdischen Kandidaten Bloch für eine medizinische Lehrkanzel als „Faustschlag ins Gesicht des Reiches“ wertet (41). Just hier nun schaltet sich der zweite „Günstling“ ein, einer der „zwei jüngeren Ministerialräte“ (36), unsympathisch gezeichnet als der „schwammige Subalterne hinter dem Stuhl des Ministers“, der Schummerer beipflichtet: „Sehr richtig!“ (41). Diese Szene charakterisiert einmal treffend die Stimmung nach dem Juliabkommen 1936 als ein befürchtetes vasallenstaatsähnliches Verhältnis Österreichs zum Deutschen Reich. Aber nicht nur dies. „Der wasserhelle Blick des Feisten“, eine weitere negative Charakteristik des Ministerialrates, „strahlte solch einen Hass aus, daß Leonidas ihm kaum standhalten konnte“: Ein Hass, gespeist von Antisemitismus wie auch einer Abneigung gegenüber Leonidas, „den erprobtesten [Beamten] in diesem Hause“ (42). Aber noch mehr: Beide „Günstlinge“ kennzeichnen den Gunstspender Spittelberger: Der österreichische Minister ist mit ihnen umgeben von Leuten, welchen nicht unbedingt etwas an der Unabhängigkeit Österreichs liegt, die vielmehr nach dem Deutschen Reich schielen, was auch dem Antisemitismus „des Feisten“ entspricht. Damit steht auch Spittelberger im Zwielicht: Seine Günstlinge stimmen nicht gegen jene Entwicklung, die das Juliabkommen 1936 erahnen lässt – eingekleidet in die Worte eines Wetterberichts als „Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug“ (75). Da „Prähistoriker von Fach“ fällt als Vorbild für Schummerer sogleich das Auge auf den Prähistoriker an der Universität Wien, Professor Oswald Menghin31. Dies umso mehr, als er ab dem Juli 1936 dem „Führerrat“ der Wiener Organisation der Vaterländischen Front angehörte, dann jedoch in der Regierung des Anschluss-Bundeskanzlers Arthur Seyß-Inquart als Unterrichtsminister fungierte, allerdings erst 1940 der NSDAP beitrat. Während Menghin ein international anerkannter Fachmann war, von 1930 bis 1933 Professor in Kairo und ab 1948 an südamerikanischen Universitäten, zeichnet Werfel Schummerer als „rothaarigen Zwischenträger“ (41), womit er deutlich abfällt gegen Bloch als „weltberühmt, Nobelpreisträger für Medizin, Ehrendoktor von acht europäischen und amerikanischen Universitäten“ (40), dem Menghin eher nahesteht als Schummerer. So sind Zweifel geboten, ob Menghin zum konkreten Vorbild32 für Schummerer diente. „Daß er sich sicherlich eine Zeit lang bei der 31 32
Vgl. Beitrag Pape in diesem Band, 116, mit weiterer Literatur. Vgl. allerdings Beitrag Pape in diesem Band, 116. Das folgende nach Richard S. Geehr, Oswald Menghin, ein Vertreter der katholischen Nationalen, in: Isabella Ackerl – Rudolf Neck, Geistiges Leben in Österreich der Ersten Republik, Wien 1986, 16, 19.
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NSDAP einschmeicheln wollte“ wird auf die Zeit „kurz vor und nach seiner Ernennung zum Unterrichtsminister“ bezogen, also auf das Jahr 1938, und im September 1939 galt für die NSDAP, es müsse Menghins „unbedingte Zuverlässigkeit erst erprobt werden“; 1934 hatte er sich in einem Schreiben an das Unterrichtsministerium dagegen verwehrt, als Sympathisant NS-Deutschlands verdächtigt zu werden: Das traf wohl auf 1936 zu. Für Wertel freilich mag dies aus der Perspektive von 1940 anders ausgesehen haben, nämlich weniger diffizil, und ihm Menghin als „Typus“ erschienen sein. Das Abbilden einer tatsächlich zeithistorischen Person passt auch weniger in die Erzählung, als das Zusammenfügen von Typen zu einem insgesamt fiktiven Personenkreis, der aber – wohl gerade deshalb – die Situation im Erzählungszeitraum charakterisiert. Das betont bäuerliche Gehabe Spittelbergers korrespondiert mit einer Distanziertheit gegenüber dem jüdischen Kandidaten, seinem offenbar gewohnten politischen Taktieren der Vorschlag, diesen mit einer hohen Auszeichnung zu bedenken und den Ruf an einen Grazer Mediziner zu erteilen (43). Diese Erwägung und schließliche Entscheidung wie auch der Eindruck auf Leonidas, mit der Jüdin Vera Wormser ein Kind zu haben, also ein halbjüdisches, und dazu noch ein uneheliches, verweisen gleichfalls auf den zeithistorischen Hintergrund des Juliabkommen 1936. So lautet auch ein Argument gegen die Berufung des jüdischen Kandidaten, sie wäre „eine Demonstration, ein Faustschlag ins Gesicht des Reiches“, man müsse doch gerade im Gegenteil, um Österreichs „Unabhängigkeit zu verteidigen, diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen“ (41). Im Gespräch mit Vera Wormser wird der Vertragspartner Österreichs, das nationalsozialistische Deutschland, mit einigen herben Strichen gekennzeichnet – freilich aus dem Wissensstande Werfels im Jahre 1940. Als Vera ankündigt, sie „gehe nicht wieder nach Deutschland“, zeigt sich Leonidas verständnisvoll: „Es muß jetzt nicht besonders angenehm sein, in Deutschland zu leben“, was tatsächlich ständestaatlicher Propaganda entsprach33; Vera aber hält dagegen: „Für die meisten Deutschen ist es sehr angenehm, nur für unsereins nicht...“ (64), was sie mit dem Hinweis verstärkt, man habe den Mann ihrer besten Freundin aus rassischen Gründen „zu Tode gemartert“, worauf auch diese verstorben sei (68). In einem „patriotischen Anlauf“ schlägt Leonidas ihr vor, nach Österreich „in die alte Heimat zu übersiedeln“, was Vera ablehnt, denn „endlich möchte auch unsereins freie und reine Luft atmen“, womit sie die Diktatur in Österreich nahezu in einen Topf 33
Z.B. wie Fn. 11, 29 f.; „Katastrophale Wirtschaftslage im Dritten Reich“: Kanzler wie Fn. 25, 7.
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mit jener in Deutschland wirft (64). Äußerlichkeiten faschistisch-nationalsozialistischen Zuschnitts konnten dazu beitragen wie etwa auch das von Pernter verpflichtend eingeführte „Hochschullager“ als „Leben in militärischer Zucht und Ordnung“34. Als Leonidas hört, sein halbjüdischer Sohn lebe nicht mehr, fällt ihm eine Last von der Seele. Auch unter dem Eindruck des als hochmütig empfundenen Gehabe Vera Wormsers, das in ihm dasselbe Empfinden weckt wie schon als Hauslehrer in ihrer Familie, fühlt sich Leonidas „als Erbeingesessener“, der doch sehr wohl in Österreich atmen könne, was Vera in Abrede gestellt hatte (75). Derart, man kann sagen: wieder aufgerichtet wird er sich dem Ordens- und Berufungsvorschlag des Ministers anschließen (75). „Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug“ vernimmt er aus dem Radio, starrt aber dabei „mechanisch ins Leere“ (75): Er erkennt die Zeichen der Zeit nicht, das deutet Werfel damit an, denn an den (realen) Wetterbericht zu Oktoberanfang 1936 wird er sich 1940 wohl kaum noch erinnert haben; übrigens lautet er beispielsweise am 10. Oktober just gegenteilig: „Besseres Wetter, aber noch kühl“ mit dem Detail „Weitere Wetterbesserung“35. Wie Leonidas Veras Bericht über den Tod des Vaters ihrer Freundin zu glauben ablehnt, sieht er auch keine möglicherweise drohenden Folgen für Österreich aus dem Juliabkommen 1936. Weitsichtigkeit bzw. Einsichtigkeit in die Realität zeigt er allerdings doch auch. Eine Bekannte in der Oper meint in Bezug auf Österreichs mögliche Bedrohung: „Ich hoffe nur, daß England und Frankreich mit uns Einsehen haben werden. Und Amerika, vor allem Amerika! Wir sind schließlich das letzte Bollwerk der Kultur in Mitteleuropa...“, was in der kurzen Zeitspanne bis 1938 auch Hoffnung in Regierungskreisen war. Dagegen aber Leonidas: „Ich rechne mit keiner Macht, auch mit der größten nicht. Die reichen Amerikaner kommen im Sommer gerne nach Salzburg. Aber Theaterbesucher sind keine Verbündeten“; und zur Kultur: Sie zu haben bedeute nur „anders ausgedrückt einen Stich haben. Wir alle hier haben einen Stich, weiß Gott“. In diesen Beziehungen erweist sich Leonidas als Realist (76). Wie schon gesagt, handelt es sich bei unserer Erzählung keineswegs um eine historische Novelle im Sinne chronologischer Treue, das Historische dient als Schicksalskolorit, ohne welches das Erzählte freilich so nicht erzählbar wäre. Dies zeigt besonders jener Teil, der insoferne im Zentrum steht, als er die Romanze zwischen Leonidas und Vera Wormser enthält, die grundlegend wird für das Atmosphärische des Jahres 1936. Zum Zeitpunkt des blassblauen Brie-
34 35
Strobl, wie Fn. 22, 50. Wiener Zeitung 279/10.10.1936, 6.
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fes erhält Leonidas Gratulationen, da er „erst vor kurzem seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert“ hatte (3). Er ist also im Jahre 1936 fünfzig Jahre alt. Leonidas „war einunddreißig Jahre alt“ (25), da hatte sein „Ministerium den Beschluß gefasst, [ihn] nach Deutschland zu schicken, damit [er] dort die vorbildliche Organisation des Hochschulstudiums aus der Nähe kennen lerne“ (19). Das war also vom 50. Geburtstag im Jahre 1936 zurückgerechnet vor neunzehn Jahren gewesen, d.h. in den Jahren 1916/17 – mitten im Ersten Weltkrieg! Von ihm hören wir nun gar nichts. Im Gegenteil: Die Erwähnungen der „giebligen Städtchen und Ortschaften des Taunus, des Schwarzwalds, des Rheinlands“ samt den „vielen Gaststuben, Weinlauben, Wirtsgärtchen“ vermitteln ebenso Friedensatmosphäre wie „die schönsten Geschäfte“ Frankfurts mit dortigem Wühlen „in Damast, Leinen, Seide, in Bergen von florzarten Damenstrümpfen“ (27 f.). Auch die Topografie stimmt nicht immer. Dass Leonidas von seinem Schreibtisch im Ministeriumsgebäude „durchs hohe Fenster über die Bäume des Volksgarten hinweg“ blicken konnte (57) ist ein Irrtum, denn zwischen dem Volksgarten an der Ringstraße und dem Ministeriumsgebäude am Minoritenplatz liegt eine Häuserzeile beginnend mit dem Bundeskanzleramt am Ballhausplatz und endend mit dem liechtensteinischen Stadtpalais hinter dem Burgtheater. Dabei handelt es sich offenkundig um einen Irrtum Werfels im fernen Sanary-sur-Mer Südfrankreichs, denn diese Szene ist für die Handlung unerheblich und somit nicht dichterischer Freiheit geschuldet. Anders der die Erzählung abschließende Opernabend. Am 8. Oktober gab es als „Festvorstellung anlässlich des siebenten internationalen Brucknerfestes“ eine Aufführung von „Lohengrin“ unter Hans Knappertsbusch, es folgten „Madame Butterfly“ am 9. Oktober und am 10. Oktober „Aida“36. Werfel aber bringt mit der von ihm geschilderten Szene den „Rosenkavalier“ auf die Bühne (76): Die „Primadonna, eine ältere Dame“, also die Feldmarschalls-Gattin, und die „Hosenrolle“, ihr Liebhaber Oktavian, stehen sozusagen in vertauschtem Alter für Vera Wormser und Leonidas. Er aber findet das Bühnengeschehen „widerlich“ und so „zieht er sich in den Hintergrund der Loge zurück“, „gähnt inbrünstig. Es ist alles glänzend abgelaufen. Die Sache mit Vera ist endgültig aus der Welt geschafft“ – vor allem sein halbjüdischer Sohn. So wird er, dem Juliabkommen 1936 gemäß, der Ordens- und Berufungslösung Spittelbergers voll zustimmen. Zeitgenössisch interessant ist übrigens ein Hinweis in der Beschreibung des Opernabends: „Ein hoher Würdenträger des Auslandes wird erwartet“ (74). Wie erinnerlich spielt die Erzählung unmittelbar nach dem 7. Oktober 1936.
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Wiener Zeitung 271/2.10.1936, 9.
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Am 9. Oktober weilten tatsächlich sogar zwei „hohe Würdenträger“37 in Wien. Einer war der italienische Außenminister Graf Galeazzo Ciano, der allerdings um 22.15 Uhr eintraf, „im Auto eine Rundfahrt durch die Stadt“ machte und um 23.50 Uhr nach Budapest weiterfuhr: also kein Opernbesuch! Der zweite „Würdenträger“ war der „preußische Ministerpräsident General Göring“, er weilte „privat einige Stunden in Wien“ – ein Opernbesuch wäre also durchaus möglich gewesen, freilich: „privat“.
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Das Folgende nach Wiener Zeitung 279/10.10.1936, 6.
Juristische Zeitgeschichte Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen Abteilung 1: Allgemeine Reihe 1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLG-Bezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006)
22 Katrin Stoll: Strafverfahren gegen ehemalige Angehörige der Sicherheitspolizei für den Bezirk Bialystok (2011)
Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte – Symposium der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810–1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NS-Strafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)
Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)
23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011)
Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) 2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) 3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) 4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) 5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) 6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) 7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) 8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) 9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)
Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)
7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peace-keeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011)
Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001) 4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001) 8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung (2001)
9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007) 30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007)
31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010)
Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)
Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006) 3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007)