Einfahrt verboten? Wie der Umgang mit Vorschriften und Regeln gelingt: Ein beschilderter Leitfaden [1 ed.] 9783666404993, 9783525404997


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Einfahrt verboten? Wie der Umgang mit Vorschriften und Regeln gelingt: Ein beschilderter Leitfaden [1 ed.]
 9783666404993, 9783525404997

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Dirk Purz

Einfahrt verboten?

Wie der Umgang mit Vorschriften und Regeln gelingt Ein beschilderter Leitfaden

Dirk Purz

Einfahrt verboten? Wie der Umgang mit Vorschriften und Regeln gelingt Ein beschilderter Leitfaden

Mit Verkehrsschildern, künstlerisch umgestaltet von Clet Abraham und fotografiert von Dirk Purz

Mit 23 Abbildungen und 39 Fotografien

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rebel Sumo in Dublin, why not? © Clet Abraham Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40499-3

Inhalt

Das Verbot der Einfahrt: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil 1:   Alles geregelt, alles vorgeschrieben? Die Welt der Verbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Begriffserläuterungen:  Wovon sprechen wir hier eigentlich? 17 In welchen Bereichen unseres Lebens treten Verbote und Regeln auf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Welche Geltung haben Verbote und Regeln? . . . . . . . . . . . . . 20 Welche Aufgaben und welchen Nutzen haben Verbote und Regeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil 2:  Verbote fordern heraus: Der Blick in den Spiegel oder vom individuellen Umgang mit Regeln . . . . . . . . . . . . 23 Kein Zugang von dieser Seite:  Verbote bedeuten Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Darf ich das oder lasse ich es mir verbieten? Verbote rufen unser Normensystem auf den Plan . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Das beeindruckt mich nicht:  Widerstand als nützliches Mittel, um unsere Freiheit wiederherzustellen . . . . . . . . . . . 31 Keine Diskussion: Wenn  Verbote zum blinden Nachfolgen verführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Nichts ist so unnett  wie ein Etikett: Verbotssituationen als Nährboden für Vorurteile und Attributionen . . . . . . . . . . . . 38 Das haut mich um:  Wenn Blockaden und Verbote verletzen 41 Inhalt

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Da passiert schon nichts: Verbote und Risikobereitschaft . . Mir geht es gut damit:  Aus Verboten das Beste machen . . . Balance herstellen: Das Selbstverbot der Zufriedenheit aufheben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mal heiter, mal wolkig: Resilienz und die Kunst der Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich bekomme das hin: Coping oder der unterschiedliche Umgang mit schwierigen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles im Lot: Wie die Reduktion von Dissonanzen uns hilft, den Alltag zu meistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bis hierher und nicht weiter:  Vom Anreiz, den passenden Schlüssel für den Umgang mit Verboten zu finden . . . . . . . .  Tun wir die richtigen Dinge und tun wir die Dinge richtig? Enttäuschung und das Bedürfnis nach Verifizierung . . . . . . Ich kriege es nicht mehr aus dem Kopf: Ein Problem festhalten und auf das Gründlichste durchdenken . . . . . . . . Als hätte ich nicht genug zu schleppen: Verbote rufen unser Gerechtigkeitsempfinden auf den Plan . . . . . . . . . . . . Das kann ich mir nutzbar machen: Wenn Verbote Probleme lösen und bereitwillig akzeptiert werden . . . . . . . Zusammenfassung des zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 3:  Verbote haben Folgen: Ein Blick hinter den Spiegel oder vom verantwortungsvollen Einsatz von Regeln . . . . . 75 Drüberklettern und abstürzen? Über den Umgang mit Krisensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das wird jetzt dauerhaft ein Problem: Wenn Verbote Chronifizierungen nach sich ziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hier ist absolut Ende:  Vom Umgang mit Grenzen . . . . . . . . Ich gehöre dazu: Von der Freiheit der Zugehörigkeit und wie sich Commitment entwickeln kann . . . . . . . . . . . . . . . . . My Home is my Castle: Von der gestaltenden Kraft der Spiel- und Freiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich will hier raus: Vom Umgang mit der Angst . . . . . . . . . . . Was steckt wohl dahinter? Die Mausefalle oder die Spekulationen über die Folgen eines Verbots . . . . . . . . . . . . 6

Inhalt

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Gleich knallt’s oder das geht nicht gut aus: Über die Wut und den Ärger, den Verbote auslösen können . . . . . . . . . . . . Hilfe, ich ertrinke:  Vom Umgang mit Intrigen und anderen psychologischen Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hast du schon gehört? Wie die Gerüchteküche in Organisationen funktioniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das gehe ich direkt an: Das Rösselsprungphänomen oder wie sich das Aufschieben von Problemen gestalten lässt . . . Kann ich dich noch lieben? Über Treue, Nachfolge und Bindungen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das nehme ich persönlich: Wie das Gefühl der Untreue Bindungen infrage stellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des dritten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 4:  Verbote brauchen Bedingungen: Ein Blick auf den Rahmen oder wie Interaktion gelingt . . . . . . . . . . . . . . 119 Das macht alles viel schwerer: Das Atlas-Phänomen und seine Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle mal herhören: Sanktionen, Regeln und Verbote erregen Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich weiß noch nicht, was es wird, aber ich habe Lust, es zu gestalten: Strategieentwicklung als künstlerischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was nicht passt, wird passend gemacht: Welche Bedeutung »gute« Kommunikation in Systemen hat . . . . . . . . . . . . . . . .  Trotzdem mache ich es uns schön: Das Anschlussmotiv und seine Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verbot ist König: Wie Vorurteile unsere Wahrnehmung und Beurteilung beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht macht Macht: Das Motiv der Macht und in welchen Formen es uns begegnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jetzt spreche ich: Über direkte und indirekte Redeverbote . Wie soll das gehen? Über die Nicht-Nachhaltigkeit und (un)gewollte Selbstwirksamkeit von Verboten . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des vierten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Das Verbot der Einfahrt: Abschließende Gedanken . . . . . . . . 147 Die Frage nach dem Warum einer Reaktion . . . . . . . . . . . . . Vom produktiven handelnden Umgang mit Verboten . . . . . Es ist immer einen Versuch wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbote prüfen und infrage stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einladung zur kreativen Wahrnehmung von Verboten . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Inhalt

Das Verbot der Einfahrt: Eine Einführung

Das Schild mit der Verkehrszeichen-Nummer 267 regelt das Verbot der Einfahrt. Wer ein Fahrzeug führt, darf nicht in die Fahrbahn einfahren, für die das Zeichen angeordnet ist. Es steht entweder rechts oder auf beiden Seiten der Fahrbahn. Was heißt das? Es ist verboten, in diese Einfahrt hineinzufahren. Es muss aber trotzdem auf die Fahrzeuge geachtet werden, die herauskommen können. Was bedeutet das? In diese Straße bzw. Einfahrt dürfen Sie nicht hineinfahren. Dies gilt für alle Verkehrsteilnehmer, abgesehen von denen, die zu Fuß unterwegs sind – sofern kein weiteres Zusatzschild für Radfahrer vorhanden ist. Trotzdem können aus der Straße Fahrzeuge kommen, wenn es beispielsweise eine Einbahnstraße ist. Zuwiderhandlungen werden mit einem Bußgeld bestraft. Einbahnstraßen sind lästig. Sie erfordern Umwege, um ans Ziel zu kommen, manchmal sehr aufwendige und schwierige. Diese Schilder verhindern den gewünschten und direkten Zugang. Obwohl man das Ziel schon fast vor Augen hat, kommt man nicht weiter. Sie gehören abgeschafft, oder? Wohl eher nicht, denn ihre Existenz lässt sich sowieso nicht leugnen. Einbahnstraßen sind ja nicht nur eine Frage des Straßenverkehrs. Metaphorisch gesehen begegnen sie uns täglich in unserem privaten Umfeld, an unseren Arbeitsstellen oder dort, wo wir unsere Freizeit verbringen. Sie lösen Emotionen aus, beeinflussen unser Verhalten, verändern unsere Arbeits- und Umgangsformen. Seit Ausbruch der Corona-Krise wissen wir sogar darum, wie es sich anfühlt, wenn Verbote nicht mehr begrenzt ausgesprochen werden, sondern bundesweit für alle Bürger und Bürgerinnen gelten. Eine Einführung

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Da ist kein direkter Zugang zu einem Familienmitglied möglich. Also wird ein Umweg über die Mutter, den Vater, die Geschwister gewählt. Manchmal bewusst, aber oftmals wie selbstverständlich und als gäbe es keine Alternative. Andere Personen müssen eingeschaltet werden. Es gilt, sie zu überzeugen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Beruflich ist das kaum anders. Der Weg zum Chef geht nur über das Sekretariat. Die Schulleitung kontaktieren wir schon lange nicht mehr direkt. Da gehen wir stets den Umweg über andere Kollegen oder schalten den Lehrerrat ein. Ebenso lange Umwege gibt es in Organisationen. Anträge, Entscheidungen, Auskünfte gehen nur über Dritte, über Dezernate, über bestimmte Abteilungen, über einzelne Sachbearbeiterinnen. Was, wenn der Weg dorthin versperrt ist? Nun sind aber Zugangsverbote nicht zwangsläufig in Stein ge­­ meißelt und schon immer da, sondern ergeben sich auch plötzlich und unerwartet. Eine Pandemie, eine Umstrukturierung an der Arbeitsstelle, ein Wechsel in der Leitung, eine neue Ordnung sorgen für Umwege und deutlich erschwerte Zugänge und lösen oft Ärger, Streit und Konflikte aus. Direkte Zugänge sind plötzlich verboten. Die Idee zu diesem Buch verdanke ich dem französischen Künstler Clet Abraham. Auf Reisen sind mir immer wieder seine künstlerisch gestalteten Verkehrsschilder aufgefallen. Heute lebt er in Florenz, wo man diese Schilder überall finden kann: humorvolle Modifikationen, die die eigentliche Bedeutung der Schilder trotzdem noch erkennen lassen. Ganz besonders haben mich die Schilder zum Thema »Verbot des Zugangs« angesprochen. Im Gespräch erklärte er mir, dass seine Idee nicht einfach auf Komik abziele, sondern darauf, der vordergründigen Bedeutung eine weitere hinzuzufügen, die die betrachtende Person auf andere Ebenen des Lesens und der Interpretation leite. Daraus ist meine Idee entstanden, mich mit Blockaden und Zugangsverboten im Berufs- und Lebensalltag zu befassen. Ich danke Clet Abraham, dass er mir erlaubt, seine Kunstwerke zu veröffentlichen. In diesem Buch soll es also darum gehen, dem »Verbot des Zu­­ gangs« nachzuspüren. Clet Abraham bietet uns ein breites Spektrum an Möglichkeiten, um sich mit einem Verbot auseinanderzusetzen. Denn Verbote blockieren unser Dürfen. Wir dürfen etwas nicht und das reizt uns. Unser Wollen und unser Können fragen uns: Wieso 10

Das Verbot der Einfahrt

darf ich das nicht? Ich will aber und ich kann das! Ganz schlimm wird es, wenn auch unser Sollen betroffen ist: Ich soll das erledigen, warum darf ich das jetzt nicht direkt tun? 1

* Diesen Fragen und Situationen möchte ich nachgehen und im Sinne des Künstlers Möglichkeiten aufzeigen, wie wir reagieren, wie wir agieren, welche Alternativen wir haben und hätten. Und so ganz vielleicht macht es dem einen oder der anderen ja auch bewusst, wie die eigenen Reaktionsmuster ablaufen, zu welchem Verhalten wir neigen. Und Alternativen zu diesen schematischen Handlungsweisen werden sich auftun. Und so ganz nebenbei: Obwohl ich mit Clet nicht darüber ge­­ sprochen habe, vermute ich, dass er selbst mit seinen Schildern Pate für dieses Buch ist. Auch er wird Zugangsverbote erlebt haben, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Straßenverwaltungen von Florenz, Paris oder London leichten Weges die neuen Schilder zugelassen und aufgestellt haben werden. Die Schilder sorgen nicht nur im Straßenverkehr für neue Perspektiven, sondern haben auch mich als Coach und Berater auf einen Gedanken gebracht: Warum die Schilder nicht in Beratungsprozessen einsetzen? Oftmals berichten Klientinnen von Schwierigkeiten in ihren Organisationen. Alles wird »durchreglementiert«,  *1 Alle im Buch abgedruckten Grafiken bzw. Abbildungen wurden vom Autor selbst erstellt. Eine Einführung

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ständig gibt es neue »Ordnungen«, die mit Verboten und Blockaden einhergehen. Aber wie gehen Ratsuchende mit Verboten um? Aufregung pur? Depression? Es gibt ungemein viele Möglichkeiten, auf Verbote zu reagieren. Wir gehen nicht immer nur konfrontativ oder resignativ mit ihnen um. Sie haben für uns auch einen Wert, sie befreien uns von Aufgaben, weil sie uns gewisse Tätigkeiten untersagen, sie schaffen Freiräume, weil sie diffuse Sachlagen klären und ordnen, sie erlauben uns »bis hierher und nicht weiter« zu sagen. Sie belasten uns zuweilen jedoch auch und erschweren unseren Alltag. Ich habe angefangen, nach dem Sinn und Gewinn, dem Wahnsinn und dem Unsinn von Verboten in Organisationen zu fragen. Ich habe psychologische Verhaltensweisen unter die Lupe genommen und immer mehr gemerkt, wie perfekt wir Menschen als soziale Wesen in sozialen Organisationen Verbote nutzen, sie einsetzen, sie durchhalten, sie umgehen, sie für andere strikt anordnen. Und vieles tun wir, um unsere Ziele zu erreichen, die Absichten der Organisation zu sichern oder uns zu positionieren und zu behaupten. Je umfangreicher unser Repertoire im Umgang, in der Auseinandersetzung und im Erteilen von Verboten ist, desto erfolgreicher erleben wir uns. Diejenigen, denen nicht so viele Möglichkeiten der Bewältigung von Blockaden zur Verfügung stehen, erleben sich als schwach und herabgesetzt. Im äußersten Fall sind so dramatische Erkrankungen wie Depressionen oder Burn-outs nicht weit. Übrigens sind Verbote auch vorzüglich geeignet, um Bore-outs in Organisationen zu generieren. Verbiete deinem Mitarbeiter nur genug und er wird sich bei bestem Gehalt unglaublich langweilen. Wie gesagt, ich habe mich umgeschaut. Nun wäre es in einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch nur recht und billig, alle Erkenntnisse mit Belegen und Fußnoten zu untermauern. Aus meiner Sicht verringert ein solches Textbild den Spaß am Lesen erheblich. Es gibt aber noch einen anderen Grund. Wissenschaftlich erlesenes Wissen überlappt sich ständig mit Beobachtungen aus der Praxis. Es entstehen neue Zusammenhänge und Dinge geraten miteinander in Verbindung oder in die Kontroverse. Diese Bezüge sind durch Quellenangaben nicht nachzuweisen. Manchmal versteht 12

Das Verbot der Einfahrt

man als Analyst und Berater doch selbst nicht, warum sich plötzlich Dinge verknüpfen und einen »neuen« Sinn ergeben. Darum verzichte ich hier darauf, Belege genauestens auszuweisen, und führe am Schluss einige Quellen auf, die mich besonders unterstützt haben. Der Aufbau des Buches ergibt sich sachlogisch und gleichzeitig intuitiv. Zum Einstieg bedarf es im ersten Teil eines bewussten Hintergrundwissens über Verbote und Regeln, Hindernisse und Blockaden, Begriffserläuterungen, in welchen Bereichen sie auftreten, welche Bedeutung und Geltung, welche Aufgabe, welchen Nutzen sie haben. Das hat in mindestens zweifacher Weise einen Sinn. Vieles werden geneigte Leserinnen und Leser bereits wissen. Es ist ihnen aber nicht differenziert bewusst. Ich bin immer wieder erstaunt, wie erhellend es für mich ist, wenn mir Dinge »neu« begegnen und mein Gehirn diese neu verknüpfen kann. Außerdem ist es ein Zugewinn, wenn vielleicht das ein oder andere Vorwissen und Vorurteil über Verbote infrage gestellt oder bezweifelt wird. Keine Angst davor, irritiert zu werden, das macht Freude und ermöglicht – gepaart mit einem Lächeln – andere Zugänge. Darauf folgt im zweiten Teil, wie könnte es anders sein, die Auseinandersetzung mit Bewältigungsmechanismen, mit dem Umgang mit Verboten, Regeln, Hindernissen und Blockaden auf individueller und Gruppenebene. Dafür ist es wichtig, wahrzunehmen, dass Verbote herausfordern und wir in den Spiegel schauen sollten, um zu erkennen, wie wir individuell unseren Umgang mit Regeln gestalten. Für mich haben sich bei der Beschäftigung mit diesen Themen neue Aspekte aufgetan – sei es im Zusammenhang mit Beratungen und Coachings, mit Selbstreflexionen und dem täglichen Tun. Damit sind wir beim »Warum« und beim »Wozu« dieses Buches angelangt. Und, wenn wir schon dabei sind, auch bei der Frage »Für wen« es geeignet, lesenswert, hilfreich, empfehlenswert unverzichtbar ist. Dies ist ein Buch für Menschen, die unterwegs sind, die Verbote erleben, erleiden, aussprechen, andere begleiten und sich mit sich selbst auseinandersetzen. Es ist es ein Buch für jeden, der sich aus persönlichem Anlass einmal gründlich mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Darum ist auch an das Ende eines jeden Abschnitts ein kurzer Absatz mit Fragen zur Reflexion zusammengestellt. Sie können diese Eine Einführung

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für sich allein reflektieren, aber vielleicht können Sie die Fragen ja auch mit anderen besprechen? Oder man legt sich ein Notizbuch daneben, in dem man seine Gedanken dazu oder die ein oder andere Idee festhält? Bitte zählen Sie nicht mit, aber ich werde es noch oft sagen: Reglementierungen, Verbote, Blockaden sind ein Bestandteil unseres Alltags. Wir befolgen und akzeptieren sie gedankenlos oder bewusst. In unser Bewusstsein treten sie, wenn sie mit unserem Wollen und unseren Zielen in Konflikt geraten. Dann geht es los: Wie bewältige ich meinen Ärger, meine Resignation? »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu« (Horváth, v., 1978, S. 67). Ich könnte mehr, besser, weiter, schneller, aber diese Verbote! Damit sind wir beim dritten Teil angekommen. Verbote haben Folgen, sie lösen etwas in uns aus. Wir müssen hinter den Spiegel schauen und uns über einen verantwortungsvollen Umgang mit Verboten auseinandersetzen. Im vierten Teil betrachten wir die Bedingungen, die es braucht, um Verbote auszusprechen, sie zu implementieren und aufrechtzuerhalten. Grundsätzlich sind wird gut beraten, wenn wir ein fundiertes Wissen und einen reflektierten Umgang mit Verbotsangelegenheiten haben. Im Führungscoaching ist es stets die Frage, wann man als partizipativer Chef Verbote einsetzt. Eher Top-down orientierten Führungspersönlichkeiten hilft vielfach ein Bewusstmachen über die Auswirkungen von Verboten. In systemisch orientierten Teamberatungsprozessen die offenen und verdeckten Verbote aufzuspüren, ist spätestens dann angesagt, wenn sich die Teilnehmenden Denkblockaden auferlegen und ständig fragen, was denn wohl die Leitungsetage dazu sagt und ob sie diese kreativen Ideen auch wirklich in Auftrag gegeben hat. Aber geht es wirklich immer nur um den beruflichen Bereich? Wann verbieten Eltern ihren Kindern etwas? Wann schreitet ein Staat ein und spricht rigorose Verbote aus? Sie sind notwendig, also sollten wir reflektieren, wann wir sie einsetzen. Seinen Abschluss findet das Buch in einem Fazit, das zusammenfasst und gleichzeitig Impulse geben möchte, der Frage nachzuspüren, welchen Niederschlag das Thema in meinem Leben findet, in meinen privaten Kontakten und in meinen beruflichen Kontex14

Das Verbot der Einfahrt

ten. Wie reagieren Sie auf ausgesprochene Verbote? Wie gehen Sie als Angestellte, als Führungskraft oder auch als Beraterin oder Coach, als Bürger, als Eltern, als Freunde mit diesem Komplex um? Wie können Sie eine eigene und hilfreiche Haltung entwickeln? Soweit zur Diktion des Buches. Nun wünsche ich ein erwartungsfrohes Lesen, ein selbstverzeihliches Erschrecken und ein gelingendes Nachdenken.

Eine Einführung

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Teil 1  Alles geregelt, alles vorgeschrieben? Die Welt der Verbote

Wenden wir uns zunächst einigen Begriffserläuterungen zu, damit wir eine gemeinsame Sprache finden und nicht unzählige Vorstellungen im Raume stehen. Das ist insofern wichtig, als Sie, ebenso wie Ihr Gegenüber, Wortverständnisse und Sprachgebräuche in sich tragen, die bei diesem sensiblen Thema sehr schnell und sehr leicht zu erheblichen Diffusionen führen können. Nichts ist unleidlicher, als mit Beratungskunden Wortklaubereien ausfechten zu müssen.

Begriffserläuterungen:   Wovon sprechen wir hier eigentlich? Verbote sprechen eindeutig aus, was nicht getan werden darf. Sie sagen »Nein« und definieren, was unterlassen werden muss. Da sie nur das beschreiben, was nicht zu tun ist, bieten sie keine Alternativen, keine Gegenvorschläge. Das ist ihre ungemeine Schwäche, denn während sie handfest eine Grenze setzen, beschreiben sie nicht immer, wo diese endet und mit welchen Abweichungen man sich noch im Bereich des Verbots und wo man sich schon wieder im Zulässigen befindet. Sie fordern, dass man selbst erkennt, was noch verboten und was bereits wieder erlaubt ist. Außerdem sind Verbote nur hilfreich und erfüllen ihren Zweck, wenn auch definiert ist, welche Sanktionen im Falle eines Verstoßes drohen. Denn diese sind es eigentlich, die das Verbot wirkungsvoll Die Welt der Verbote

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machen. Sie verdeutlichen, was bei Übertretungen passiert. In Ruhrgebietsdeutsch ausgedrückt: »Am allerschlimmsten ist, wenn nix passiert – dann ist in die Luft geblasen.« Ein wesentlicher Aspekt darf nicht unterschlagen werden. Verbote müssen nicht allgemeingültig sein. Sie können für bestimmte Personen oder Zielgruppen ausgesprochen werden und sie können temporär begrenzt sein. Aber, egal wie sie ausgesprochen worden sind, sie beschränken die Autonomie und setzen dem KÖNNEN, WOLLEN, DÜRFEN ein deutliches Ende. Nur dem SOLLEN geben sie eine Anweisung, was es zu unterlassen hat.

Auf eines ist noch hinzuweisen: Verwechsle niemals Verbote mit Geboten. Letztere können das Verhalten richtungsweisend lenken, sie können fördern. Zudem beschreiben sie auch häufig, was zu tun ist, sind also Aufforderungen. Da gilt es, im Beratungsgespräch Sorgfalt beim eigenen Sprachgebrauch walten zu lassen. Regeln unterscheiden sich von Verboten schon dadurch, dass sie selten solitär stehen. Zumeist sind sie in ein Netz aus weiteren Regeln eingebunden und dienen der Ordnung eines sozialen Systems. Ein weiterer Unterschied zum Verbot besteht darin, dass ein Regelverstoß als weniger schwerwiegend gilt als der Bruch eines Verbots. Mit Regeln richten Familien, Organisationen und Einzelpersonen ihr tägliches Leben aus. Mit der Zeit ist ein ganzes Reglement entstanden. Schwierig ist, dass es oftmals zu den Artefakten eines sozialen Systems gehört, das aus kommunizierten und verborgenen Regeln besteht. »Alle« wissen, wie man sich verhält, »alle« kennen die Spielregeln und erst, wenn man sie sich erschlossen hat, gehört 18

 Alles geregelt, alles vorgeschrieben?

man als »Neuer« dazu. In diese Regelsysteme sind oftmals die Verbote, also die absoluten Tabus mit eingewoben. Außerdem ist es deutlich einfacher, ein Verbot zu implementieren als eine neue Regel einzuführen. Ein ausgesprochenes Verbot steht für sich. Eine Regeländerung bedarf eines langen Prozesses, bis sie sich im Regelwerk etabliert hat. Zudem müssen Regeln akzeptiert und praktiziert werden. Verbote müssen lediglich eingehalten werden. Bei Hindernissen und Blockaden handelt es sich nicht um eigenständige Elemente, die gesondert definiert werden müssen. Vielmehr sind es die Zwecke und Folgen, die sich aus Verboten und Regeln ergeben. Alle Verbote sind auch Blockaden, weil sie unmissverständlich ein Ende setzen, eine Grenze ziehen. Bei Hindernissen, die man auch als Erschwernisse bezeichnen kann, verhält es sich insofern anders, als diese selten direkt beabsichtigt sind. Sie ergeben sich aus dem Regelwerk einer Organisation oder einer Person. Wenn nicht alles frei und möglich ist, dann muss es zwangsläufig zu Einschränkungen und Beschwernissen kommen. Diese bemerkt man aber erst dann, wenn man auf sie stößt. Außerdem ist es in sozialen Systemen völlig normal, dass Behinderungen eine Definitionssache sind. Was die einen als ein Hindernis empfinden, ist für die anderen überhaupt kein solches, sondern eine dringend gebotene Angelegenheit oder es ist zu einer Normalität geworden: »Dat is’ eben so.« Dieser Aspekt ist wesentlich für Beratungen. Denn es gilt sorgfältig zu eruieren, ob andere (Einzelberatung), ob alle (Gruppenberatung) das auch so empfinden. Klärt man dies nicht, hat man unterschiedliche mentale Modelle im Raum, die schlimmstenfalls nicht miteinander kompatibel sind.

In welchen Bereichen unseres Lebens treten Verbote und Regeln auf? Diese Frage ist kurz und knapp zu beantworten. Es gibt keinen verbotsfreien Raum und kein regelfreies soziales System. Und: Es gibt kein psychisches System, also keinen Menschen, der nicht Verbote für sich (und andere) aufstellt und der nicht für sich (und andere) ein Regelwerk entwickelt hat. Einen anarchistisch lebenDie Welt der Verbote

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den Menschen oder ein verbots- und regelfreies System gibt es nicht. Das klingt sehr apodiktisch. Ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen, wenn sich mir eine solche Person vorstellt oder mir ein so geartetes System gezeigt wird. Die Problematik liegt auch gar nicht in der Existenz von Verboten und Regeln, sondern in der Bedeutung, dem Nutzen und den Aufgaben, die sie zu erledigen haben und für die sie eingesetzt werden.

Welche Geltung haben Verbote und Regeln? Mit der Geltung anzufangen mag beinahe unsinnig erscheinen, solange die Funktion noch nicht geklärt ist. Da ist etwas dran, aber erst die Bedeutung, also der Wert und die Wichtigkeit, bestimmen den Nutzen und die Aufgaben. Die grundsätzliche Wichtigkeit von Regeln und Verboten ist kohärent mit der Autorität derer, die sie erlassen und ebenso mit der Akzeptanz durch diejenigen, die sie ausführen, erhalten und beachten sollen. In Top-down gesteuerten Organisationen ist ihre Bedeutung ex­ trem hoch. Denn nur mit Verboten und Regeln ist das System zu leiten und zu führen. Sie sind also normierende Führungsinstrumente. In jungen Organisationen spielen sie zunächst eine sehr untergeordnete Rolle, bis das System aus der Gründungsphase in die Stabilisationsphase wechselt, die auch »Norming-Phase« genannt wird. Jetzt gibt sich das System eine Ordnung. Sie wird ausgehandelt oder ergibt sich quasi von selbst. Sie ist variabel und lange Zeit sanktionsfrei. In modernen, partizipativ geleiteten Systemen haben besonders Regeln offiziell eine nachrangige Bedeutung, aber einen ungemein intrinsischen Wert. Es ist der Codex, die »hidden agenda«, für alle gültig und doch nicht ausdifferenziert und schon gar nicht gültig kommuniziert. Verbote sind in solchen Systemen der letzte Strohhalm, um »die Ordnung wiederherzustellen«. Oftmals ist gerade die Möglichkeit, Verbote aussprechen zu können, die Bestätigung für leitende Personen, dass sie es zu etwas gebracht haben. Dann haben Verbote die Bedeutung, dass sie Funktionen und deren Inhaber bestätigen. Fasst man die hier kurz skizzierten unvollständigen Bedeutungsformen von Verboten und Regeln zusammen, kann man sich Niklas 20

 Alles geregelt, alles vorgeschrieben?

Luhmann anschließen, der festgestellt hat, dass sie die Bedingungen beinhalten, von denen man die Zuteilung von Achtung abhängig macht. Denn im Grunde verhält es sich so. Wer sich an die Regeln hält und die Verbote befolgt, gehört dazu und erhält unsere Gunst.

Welche Aufgaben und welchen Nutzen haben Verbote und Regeln? Bezüglich der Funktion herrscht weitestgehend Konsens. Es geht darum, die Ordnung in psychischen und sozialen Systemen zu beschreiben und zu erhalten. Das ist im Grundsatz die Hauptaufgabe. Unklarheit und dringender Handlungsbedarf ergeben sich aus dem »Wie« von Geboten und Regeln und dem »Wie« der Ein- und Durchführung. Es ist unbestritten, dass zu einem gelingenden sozialen Leben die Verabredung von Regeln nötig und unabdingbar ist. Bereits in der Urgeschichte der Menschheit gibt es regulative Vereinbarungen und drastische Verbote. Ohne sie können Menschen nicht miteinander leben. Tiere übrigens auch nicht. Bezüglich der Frage des Nutzens liegen die Streitpunkte im Ver­­bor­genen. Denn nebst dem gelingenden Miteinander treffen wir auf die Befriedigung der Hauptmotive eines jeden Menschen. Anerkennung, Wichtigkeit und Solidarität müssen hinlänglich für jede einzelne Person gesättigt sein – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Läuft alles wie geschmiert, sind alle zufrieden, weil sie anerkannt und wichtig sind, weil ihnen solidarisches Verhalten begegnet. Da dies leider selten der Fall ist, bleiben individuelle Bedürfnisse unbefriedigt. Wir empfinden Ungerechtigkeiten, Vernachlässigung und Herabsetzung. Die Welt der Verbote

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Im gleichen Moment aber werden Anerkennung und Wichtigkeit anderer sehr hochgradig angefüllt, weil sie sich durch die eigene Überordnung gegenüber anderen ungemein wichtig und anerkannt fühlen. Diese Dilemmata sind an der Tagesordnung des privaten, beruflichen und übrigen sozialen Lebens. Manchmal kommt man in eine Organisation und merkt sofort, dass es hier nur einen gibt, dem es alle recht zu machen haben. Nun werden solche Unternehmen seltener, aber immer wieder setzen Führungskräfte besonders gern Verbote für einzelne Mitarbeitende ein, um sich ihrer Wichtigkeit zu vergewissern. »Weil ich es kann« erhält man zwar selten, aber in ehrlichen Momenten als Antwort. Sehr oft spürt man auch, dass Kontrolle die Zwillingsschwester von Macht oder Unsicherheit ist. Verbote und Regeln sind nun einmal auch Kontrollinstrumente.

Egal, wie wir es drehen und wenden, letztendlich regeln wir unser Leben so, dass wir emotional und physisch überleben. Dabei geraten wir mit anderen, die dasselbe Anliegen verfolgen, aneinander. Wir parken zuweilen quer in ihren Galaxien oder sie in unserer oder beide beim anderen. Dann handeln wir Regeln aus, sprechen Verbote aus und hoffen, dass das scheinbar »Ungelingbare« gelingt. Wenn es gar nicht mehr geht, wenden wir uns an Dritte. In beruflichen Kontexten sind das dann Beraterinnen, Coaches, Supervisorinnen, Mediatoren. Privat sind es Freunde, Eltern oder Menschen, deren Urteilsvermögen wir vertrauen.

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 Alles geregelt, alles vorgeschrieben?

Teil 2 Verbote fordern heraus: Der Blick in den Spiegel oder vom individuellen Umgang mit Regeln

Verbote und Blockaden stellen Herausforderungen dar. Sie provozieren uns, verleiten oder verpflichten uns zu einem Verhalten. Sie lösen Einverständnis oder Widerstand aus, sie nötigen uns oder ermöglichen uns Neues. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selbstreflexion. Sprich: Wie gehe ich mit Verboten und Regeln um und wie ist meine eigene Haltung zu ihnen? Wir werden sehen, dass wir über ein breites Spektrum an Reaktionen und Verarbeitungsmöglichkeiten verfügen. Manches ist uns nicht bewusst, anderes kennen wir bestens an uns. Die eigenen Bewältigungsmechanismen gehören einmal auf den Prüfstand gestellt, damit wir Sicherheit im Umgang mit Verboten finden oder uns aneignen können.

Der Blick in den Spiegel

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© Clet Abraham

Kein Zugang von dieser Seite:  Verbote bedeuten Veränderung

Und plötzlich ist alles anders. Hier gibt es keinen Zugang mehr, zumindest nicht von dieser Seite. Ist es unerwartet, hat es sich entwickelt oder war es gar angekündigt? Erst einmal ist es jetzt ein Fakt, und da ich mich nicht darauf vorbereitet habe, auch überraschend. Solche Verbote stellen die unangenehmste aller Situationen her, denn – sie verlangen die Veränderung. Ab heute werden die Wege andere sein. Gewohnte Routinen sind hinfällig. Veränderungen sind zunächst stets unangenehm und vollziehen sich oftmals in Phasen. Zuerst setzt das Stadium der Sorglosigkeit ein: Das macht nichts. Das halten die nicht durch. Das ändern die morgen wieder. Es entsteht erst einmal kein Problembewusstsein und auch keine Veränderungsabsicht. Dann aber wird uns bewusst, dass ein Problem vorliegt und wir beginnen, uns darauf vorzubereiten. Wir fassen erste Entschlüsse, nehmen Beratung in Anspruch. Das nächste Stadium ist das der Handlung. Wir überlegen, welche Kosten jetzt auf uns zukommen und kalkulieren die bewusste Investition 24

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von Zeit, Geld und psychischem Aufwand. Zu guter Letzt verinnerlichen wir die Veränderung und routinisieren die neuen Gegebenheiten: Unsere neuen Wege sind keine Umwege mehr. Wir sind im Stadium der Stabilität angekommen. Der Veränderungsprozess durch ein Verbot ist alles andere als gradlinig. Jegliche Form von Wandel konfligiert mit unserem Wunsch nach Routine und Kontrolle und löst eine emotionale An­­ span­­nung aus. Dazu aber später mehr. Zunächst ist kurzfristiges Denken erforderlich, um die Situation überhaupt bewältigen zu können. Hinzu kommt, dass ein Verbot in der Regel erst einmal negativ aufgenommen wird. Einschränkungen mögen wir überhaupt nicht. Gleiches gilt für Verbote. Wir müssen zuerst unseren emotionalen Pegel in den Griff bekommen, sodass wir wieder handlungsfähig werden, denn wenn wir uns erst einmal so richtig aufregen und in Rage geraten, sind wir quasi handlungsunfähig. Wenn wir uns so in die Situation eingefunden haben, dass wir bereit sind, uns mit ihr auseinanderzusetzen, können wir eine Veränderung einleiten. Dazu gehören Erinnerung und Einsicht, sodass sich im Falle eines neuen Verbotes unsere Veränderungsbereitschaft auf eine vorangehende Veränderung bezieht. Natürlich steigt unsere Motivation, wenn wir das Verbot nachvollziehen und verstehen können, wenn es gut kommuniziert und angekündigt worden ist. Haben wir aber das Gefühl, dass es willkürlich oder unsinnig ist oder gar nur uns persönlich betrifft, wird der Veränderungsablauf unserseits langwierig und von stetigen Infragestellungen und Blockaden begleitet. Im schlimmsten Fall werden wir uns mehr damit beschäftigen, wie wir das Verbot umgehen oder unbemerkt brechen können. Wir werden das Ausmaß der »Strafen« dafür kalkulieren und uns innerlich permanent im Widerstand befinden. Sind wir vom Typus etwas milder gestimmt, werden wir passiv-­aggressiv, erklären uns einverstanden, aber ignorieren es, wo wir nur können. Oder erledigen die Aufgaben nicht, die mit dem Verbot in Zusammenhang stehen. Wir überlassen es anderen, die Umwege zu gehen, bitten unsere Kollegen und Kolleginnen, den Zugang zu ermöglichen oder sammeln viele Dinge an, um dann nur einmal mit dem Verbot in Kontakt zu kommen – was wiederum alles sehr verlangsamt.  Verbote bedeuten Veränderung

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Wann verändern wir unser Verhalten und Erleben?

Wenn wir ein Problembewusstsein entwickeln und nomologische Erkenntnisse über die Bedingungen, Dynamiken und Zusammenhänge von Problemen haben. Zudem aktivieren wir Veränderungswissen. Also Wissen über Alternativen, Strategiewissen über Verän­ de­rungsprozesse. Dabei sind wir auf unsere Motivation angewiesen, uns mit der neuen Situation auseinanderzusetzen und unsere neuen Ausführungen aufrechtzuerhalten. Folglich ist der Grundmechanismus der Veränderung eine funk­ tionierende Bewältigungskompetenz, die uns den Erwerb der stö­ rungs­spezifischen Anpassungsfähigkeiten ermöglicht. Sehr stabil wird diese, wenn wir über ein positives Selbstkonzept und starkes Selbstvertrauen sowie einen ausgeprägten Optimismus verfügen. Wenn dazu noch eine gewisse Risikotoleranz und die Offenheit für Erfahrungen, eine angemessene Ambiguitätstoleranz und eine starke Ressourcenaktivierung treten, mobilisieren wir Kräfte zur Veränderung. Das ganze »Paket« ist eine starke Kombination von hoher wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Zusammen ist es die beste Voraussetzung zur Kompensation negativer Effekte von Veränderungen. Internalisierung und Externalisierung von Verboten

Gleich nach der Wahrnehmung des Verbots verlangt es uns ab, zu entscheiden, wie wir es angehen und es in uns platzieren. Werden wir es uns zu eigen machen oder schieben wir es nach außen? Wir 26

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werden eilends eine Hauptrichtung einschlagen, aber zugleich ­werden wir beides tun, wir werden es internalisieren und externa­ lisieren. Reflexion: Was ist mir (wieder) neu bewusst geworden? Wann bin ich zu Veränderungen bereit, unter welchen Bedin­ gungen lehne ich sie rigide ab? Wozu neige ich, Internalisierung oder Externalisierung?

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Darf ich das oder lasse ich

es mir verbieten? Verbote rufen unser Normensystem auf den Plan

Ein sehr hauptsächlicher Teil von uns ist unser expliziter und impliziter Regel- und Normenapparat. Er meldet sich sofort und versucht, uns augenblicklich dabei zu unterstützen, die neue Situation zu bewältigen. Er ist gewissermaßen unser innerer und äußerer Rahmen. Unsere Darf-, Muss-, Kann- und Sollnormen, unsere universalistischen und partikularen Normen, unsere privaten und sozialen Normen, unsere akzeptierten und verinnerlichten, unsere verhassten und abgelehnten Regeln melden sich und wir gehen sie geradezu rasterweise durch – völlig unbewusst natürlich und in einer rasanten Geschwindigkeit. Erst wenn wir uns mit ihnen »auseinander« gesetzt haben, können wir entscheiden, wie wir uns gegenüber dem Verbot verhalten. Die Regeln und Normen, die wir in sozialen Kontexten erworben und vermittelt bekommen haben, werden unsere Handlungsweise und unsere Haltung maßgeblich beeinflussen und regulieren, denn sie stellen die groben und speziellen Richtlinien für uns dar. Unsere 28

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sozialen Normen sind allgemein akzeptierte Regeln für unser Denken, Fühlen und Verhalten. Sie regulieren unsere Handlungsweise, ohne dass es uns bewusst ist, und sie haben und sind eine wichtige und maßgebliche Kontrollinstanz. Zum Teil sind sie explizit formuliert und wir können sie wie aus der Pistole geschossen zitieren. Oftmals sind sie es aber nicht und repräsentieren allgemeine, gesellschaftlich geteilte Erwartungen, bilden Standards, können komplementär oder konfligierend zu unseren persönlichen Werten sein, sind internalisiert oder gelernt. Ihre Existenz wird uns oft erst bei einer Verletzung der Norm bekannt. Wir verfügen über ein ungemeines Regelwerk in uns und nur selten ist es uns gewahr und zugänglich. Normen als Filter unserer Wahrnehmung

Dabei ist dieses Wirrwarr an Normen so wichtig. Es gibt uns Orientierung und subjektive Sicherheit sowie Antworten in unsicheren Situationen. Es regelt unsere soziale Verantwortung. Wie bereits gesagt: Es ermöglicht uns, unser Verhalten wahrzunehmen und zu planen und es hat eine immense Filterfunktion. Aber warum springt der Regel- und Normenapparat an, wenn wir auf ein Verbot treffen? Warum reagieren wir geradezu alarmiert und fühlen uns augenblicklich in den Aktionsmodus versetzt? Das liegt auf der Hand. Denn Verbote sind ja neue Normen und Regeln, und wenn sie neu sind, dann müssen wir überprüfen, ob sie zu unserem eigenen System passen oder damit in Konflikt geraten. Und da wir mit unserem inneren Ordnungssystem in der Regel sehr einverstanden sind, braucht es blitzschnell eine Überprüfung. Wir lassen doch nichts ohne Prüfung in uns eindringen. Ist das neue Verbot nur eine Variante zu bisherigen Normen? Ist es institutionalisiert, also objektiviert? In welche Gruppe von Normen fällt es? Hat es eher einen informellen Charakter oder handelt es sich um eine Herrschaftsnorm und ist Ausdruck sozialer Machtkonstellationen? Welche Spielräume lässt es zu, kann ich es in mein Regelwerk integrieren oder steht es diesem diametral entgegen. Welche Bereiche tangiert das Verbot? Setzt es neue Gruppennormen und sogar öffentliche Normen oder ist es eher auf einen kleinen Kreis Verbote rufen unser Normensystem auf den Plan

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beschränkt? Ist es human und sozial verträglich? Ist es eine eher instrumentelle Norm, die hilft, reibungslose Funktionsabläufe zu organisieren? Wenn ja, ist sie dann auch entsprechend zweckmäßig? Wann rufen Verbote Widerstände hervor?

Berührt das Verbot unsere ureigenen, internalisierten Normen? Wenn dies der Fall ist, kann das Verbot nur hoffen, mit ihnen im Einklang zu stehen. Denn nur so können wir mit ihm konform gehen. Andernfalls werden wir die Konfrontation suchen und diese beharrlich ausfechten. Und dabei verstehen wir überhaupt keinen Spaß. Ein Verbot können wir auf viele Weisen in uns zur Akzeptanz führen, aber ganz und gar nicht, wenn es konträr zu unseren internalisierten Normen steht. In diesem Fall verlassen Personen Organisationen, suchen sich neue Arbeitgeber, beenden Partnerschaften und zerstören Familien. Kompromisse sind nicht möglich, die Trennung ist absehbar und die Frage, ob ich in den Widerspruch gehen darf, stellt sich dann nicht mehr. Sie ist zu einem Muss geworden. Reflexion: Wie organisiert sich mein persönliches Regelkonzept? Welche sozialen Normen sind darin integriert? Sind es meine Regeln oder habe ich im Laufe meines Lebens die Regeln von anderen übernommen?

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Das beeindruckt mich nicht:  Widerstand als nützliches Mittel, um unsere Freiheit wiederherzustellen

Was bitte? Zufahrtsverbot? Da hebe ich doch mal gepflegt mein Bein und tue meine Meinung kund. Reaktanz und Widerstand sind recht komplexe Abwehrreaktionen, die bei Einschränkungen der Freiheit ausgelöst werden. Ihr Ziel ist die unmittelbare Wiederherstellung der Freiheit und des sozialen Einflusses. Sie fallen unterschiedlich heftig aus, je nach Wichtigkeit der ein­­ geengten Freiheit, des Umfangs oder der Stärke der Einengung. Zudem ist das Ausmaß der Widerstände von den jeweiligen Persönlichkeiten abhängig. Personen mit hohen Reaktanzwerten sind dominant, individua­­ listisch, wenig tolerant, unabhängig, narzisstisch, selbstsicher, handeln tendenziell ohne Berücksichtigung der Konsequenzen. Sie verstoßen gegen Verbote, neigen zur Aggression. Personen mit niedrigen Reaktanzwerten suchen eher den passiven Protest. Sie lassen sich Zeit, reagieren passiv-aggressiv, verstummen, stellen unbemerkt ihre Beteiligung ein. Widerstand als nützliches Mittel

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Unabhängig davon, welchen psychologischen Stil wir haben, fühlen wir uns verletzt oder benachteiligt, werden kreativ. Es lohnt ein ausführlicher Blick auf die vielen Formen des Widerstands. Zum einen, um uns bewusst zu machen, zu welchen wir selbst neigen oder welche wir uns gut aneignen könnten, zum anderen, um sie in unserem Umfeld erkennen und angemessen darauf reagieren zu können. Aus dem Füllhorn des Widerstands: Eine Auswahl

Beginnen wir mit den aktiven Abwehrmechanismen. Zuallererst versuchen wir uns vor einem bedrohlichen Einfluss von außen zu schützen. Die dafür einfachste Strategie ist die der Unterdrückung, Verleugnung, Vermeidung oder Verdrängung der Ernsthaftigkeit einer Bedrohung. Einher geht dieses oftmals mit der Niederhaltung von Gefühlen oder Motiven durch entgegengesetzte Gefühle oder Motive. Man könnte auch von einem Regulativ sprechen. Darüber hinaus neigen wir dazu, in Belastungssituationen die immer gleichen Verhaltensweisen zu durchlaufen – ein probater Abwehrmechanismus, um das seelische Gleichgewicht wiederherzustellen. Ebenfalls von Bedeutung ist das Verlagern von Fantasien und Impulsen von einer Person auf eine andere, sodass die ursprünglich gemeinte Person unberührt bleibt. Ähnlich funktioniert der Versuch, das Ereignis ungeschehen zu machen. Hier wird versucht, faktisch unwirksame Handlungen und Rituale einzusetzen, mit dem Ziel, eine Strafe bei Verbots- und Gebotsübertretungen abzuwenden. Eine dritte aktive Widerstandform ist die Externalisierung, die eigene psychische Inhalte und Selbstanteile anderen Personen zu­­ schreibt oder die Introjektion, die einer Identifikation gleichkommt. Hier wird die Angst vor Bedrohungen dadurch abgewehrt, dass Werte, bestimmtes Verhalten, Anschauungen und Normen einer anderen Person in die eigene Ich-Struktur integriert werden, sodass das Individuum sie nicht mehr als Drohungen von außen erleben muss. Sogenannte surrogierende Abwehrmechanismen sind die Intellek­ tualisierung, die eine Entfernung vom unmittelbaren konfliktu­ösen Erleben durch Abstraktionsbildung und theoretisches Analysie­ ren beschreibt und die Rationalisierung, die dann vorliegt, wenn 32

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betroffene Personen rational-logische Handlungsmotive als alleinige Beweggründe für Handlungen angeben oder vorschieben. Innere Abwehr kommt mitunter auch in körperlichen Sympto­ men zum Ausdruck. Treten Somatisierungen auf, geht das oft damit einher, dass wir Konflikte in ihrer eigentlichen Gestalt nicht wahrnehmen. Dann kann es passieren, dass diese sich in Form von körperlichen Beschwerden »Gehör« verschaffen. Immer wieder nutzen wir auch die sogenannte Affektualisierung, was zur Folge hat, dass wir ein Ereignis oder Verhalten dramatisieren. Leider treten auch Formen aggressiver Abwehrmechanismen immer wieder auf. Unter diesen verstehen wir alle Formen des Angriffs gegenüber dem aus unserer Sicht identifizierten Verursacher unseres Ärgers. Die Umkehrung davon ist die Autoaggression. Sie beschreibt ein Verhalten, bei dem Menschen aggressive Impulse gegen die eigene Person richten und dementsprechend nicht die Person treffen, der sie ursprünglich gelten sollten, um die Beziehung zu dieser nicht zu gefährden. Warum kann Reaktanz sinnvoll sein?

Je nach Position im System, haben wir eine unterschiedliche Sicht auf Reaktanzen und Widerstände. Stehen wir auf der Seite der Verantwortlichen, wollen wir möglichst keine erleben, sind wir Betroffene, haben wir Verständnis dafür. Reaktanzen sind aber wichtig und unvermeidlich. Sie ermöglichen uns, Abstand zum Ereignis zu gewinnen, damit wir ­wieder handlungsfähig sind. Und, was weitaus wichtiger ist, sie zeigen Führungskräften, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre An­­ ordnungen aufnehmen. Ist das Maß des Widerstandes sehr hoch, sollten sie gut überlegen, ob ein Verbot die richtige Maßnahme ist. Außerdem zeigen Reaktanzen, dass den anderen nicht alles gleichgültig ist und dass sie sich mit dem Geschehen auseinandersetzen. Wie also mit Reaktanzen umgehen? Es ist ratsam, auf sie einzugehen und im möglichen Umfang Verständnis zu zeigen. Dann gilt es aufzuzeigen, welche Handlungsalternativen im Vergleich zum Verbot bestehen und diese gemeinsam zu erschließen, zu erarbeiten und nach Möglichkeit verbindlich zu vereinbaren. Widerstand als nützliches Mittel

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Und noch einmal: Niemand mag Widerstände als Reaktion auf das eigene Handeln. Und trotzdem: Sie zeigen uns, dass wir uns noch mit der Sache auseinandersetzen, sie uns berührt. Gleichgültigkeit wäre die Alternative. Aber können wir die wirklich wollen? Reflexion: Welche Formen des Widerstandes sind mir vertraut? Unter welchen Umständen neige ich zur Reaktanz? Welchen »Widerstandsstil« möchte ich einmal ausprobieren?

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Keine Diskussion: Wenn  Verbote zum blinden Nachfolgen verführen

Während die einen murmeln und nur schwer ihre Emotionen unter Kontrolle halten, folgen andere Verboten weitgehend kritiklos und ohne zu murren. Während die einen sich mit einer Blockade abmühen und Widerstand organisieren, haben andere eine gegenteilige Einstellung dazu. Was sich zunächst nach Fatalismus und kritiklosem Ja sagen anhört, kann sich bei näherem Hinschauen als eine spezielle Haltung entpuppen. Der Fachbegriff hierfür lautet Autoritarismus. Was ist Autoritarismus?

Autoritarismus bedeutet, dass Menschen geneigt und gewillt sind, sich etablierten und mächtigen Personen zu unterwerfen. Sie verstehen sich selbst als loyale Gefolgsleute des Systems und empfinden sich als durchaus berechtigt, anderen »weniger Solidarischen« gegenüber autoritär aufzutreten. Dieses Verhalten geht leider oft mit ausgeprägten Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber Wenn  Verbote zum blinden Nachfolgen verführen

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sozialen, ethnischen und nationalen Minderheiten einher. Es setzt sich aus normativen Überzeugungen zusammen und ist leider eine immer häufiger zu beobachtende starke Disposition gerade in der gebildeten Mittelschicht. Warum wir Verbote kritiklos hinnehmen

Autoritarismus setzt sich aus den Komponenten autoritäre Unterwürfigkeit, autoritäre Aggression und Konventionalismus zusammen. Erkennbar ist er an seiner äußeren Konformität, seinem Gehorsam, der Anpassung und Fügsamkeit. Die Einschmeichelung ist eine Sonderform. Vorhanden sind eine innere Konformität, eine un­­gemei­­ ­ne Akzeptanz und Verinnerlichung. Ausgelöst wird dieses durch das Bedürfnis nach Sympathie, Anerkennung oder die Vermeidung von Ablehnung oder Sanktionen. Haben wir ein sehr hohes Leistungsmotiv, ermöglicht dieses ein effektives gemeinsames Handeln mit unserem Gegenüber. Wir beabsichtigen damit den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer stabilen Beziehung. Gepaart ist das Ganze oft mit dem Bedürfnis nach externaler Kontrolle. Gewisse Konformitäten werden aber auch nur so lange aufrechterhalten, wie die Situation besteht oder ein Nutzen daraus zu ziehen ist. Manchmal liegt lediglich ein Mangel an Kraft und Energie vor. Das Verhalten, sich einzufinden oder zu akzeptieren sieht gleich aus, ist aber völlig anders motiviert. Da gilt es, gut hinzuschauen. Genau hinschauen und kritisch bleiben

Was also oft harmlos aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine durchaus problematische Form des Konventionalismus. Von daher lohnt es sich zu eruieren, warum Personen in Organisationen Widerstand oder eine kritische Haltung ablehnen. Denn gegenüber Personen, die aus autoritaristischen Motiven handeln, sollte man sich tunlichst vorsichtig verhalten, wenn man mit ihnen über konfliktträchtige Situationen in der Organisation sprechen möchte.

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Reflexion: Wie kann ich mich meinen Anpassungsbedürfnissen entgegenstellen? Wo erkenne ich bei mir einen Zusammenhang zwischen meiner Anpassung und der Abwertung anderer? Wann stimme ich einem Verbot aus Kraftlosigkeit zu? Wie stelle ich mich Personen entgegen, die unkritisch Verbote befolgen?

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Nichts ist so unnett  wie ein Etikett: Verbotssituationen als

Nährboden für Vorurteile und Attributionen

Die Etikettierung von Menschen ist eine äußerst vitale Fähigkeit von uns, die oftmals unbewusst vonstattengeht, in der wir aber ungemein geübt sind. Sie stellt eine Form der Kausalanalyse dar, mit der es gelingt, das Handeln von Personen auf zugrunde liegende Ursachen zurückzuführen, um sie zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren. Die Attribution ermöglicht also ursächliche Erklärungen. Dies hat einen hohen funktionalen Wert, denn mit ihrer Hilfe erlangen wir schnellstmöglich wieder die Kontrolle über eine Situation: »Das machen Sie, weil Sie so und so sind« oder »Das kann ich berechnen, das kann ich planen, das kann ich mir zu Nutzen machen«. Denken wir und sind hyper überzeugt von uns. Wir können also getrost davon ausgehen, dass wir in Situationen der Verunsicherung oder Unsicherheit Kausalattributionen automatisch vornehmen. Zudem bleiben diese in der Regel in uns abgespeichert, weil wir ja mit weiteren Begegnungen rechnen, und dann können wir unsere Schublade aufziehen und die Etikette 38

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herausziehen. Leider bewahrheitet sich Albert Einsteins These, dass es leichter ist, einen Atomkern zu spalten als einen Menschen von einer gefassten Meinung abzubringen. Haben wir erst einmal die ersten Attribute erstellt, werden weitere folgen oder wir erhalten wenige unglaublich stabil aufrecht. Aus der Schublade kommen wir dann nicht mehr raus. Leider unterlaufen uns viele Attributionsfehler. Diese sind informations- und motivationsbedingt. Wer sich einmal als schwierige Person für uns erwiesen hat, gilt quasi »für immer« als kompliziert und wir versuchen, andere zur Übernahme unserer Etiketten zu überzeugen. Wir übertragen also. In gleicher Weise sind wir Hellseher und Hellseherinnen. Wir meinen, wir könnten die Zukunft vorhersagen. Wir tätigen Vorhersagen über künftiges Verhalten, sogenannte »Selffulfilling Prophecies« und legen großen Wert darauf, dass wir recht behalten. Aus welchen Gründen wir häufig falsche Etikette kleben

Der immense Vorteil und Nutzen von Attributionen ist, dass wir uns nicht immer wieder neu einstellen müssen. Wir treten Personen und Ereignissen mit einer Erwartungshaltung gegenüber und – komme, was da wolle – es wird so werden, wie wir es angenommen haben, weil wir es durch unsere Brille ansehen und erleben. Vermeiden und verändern können wir dies nur, wenn wir uns Attributionen bewusst machen und Kenntnis über ihr Zustandekommen und ihre Konstruktion erlangen. Das aber vermeiden wir in der Regel vehement und sehr geschickt, weil die Aufgaben und der Zweck der Etikettierung in der Bildung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstkonzeptes liegen. Wir irren uns nicht und schätzen alles »richtig« ein. Und nur so können wir uns angemessen einstellen, vorbereiten und die Kontrolle behalten. Mit der Zeit baut sich eine »Positive Illusion« auf, eine unrealistische Sicht auf die eigene Person durch übertriebenes Vertrauen in die Kontrollierbarkeit wichtiger Ereignisse und durch einen unrealistischen Zukunftsoptimismus. Je höher unsere Position oder Funktion in einer Organisation ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass an uns gezweifelt wird. Warum sollten wir selbst es dann tun? Verbotssituationen als Nährboden für Vorurteile

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Attribuierung hat Folgen für unseren Umgang mit Verboten

Für Verbote und Blockaden hat die Attribuierung eine verheerende Bedeutung, denn viele dieser Maßnahmen werden anhand unserer selbst gewonnenen und nicht reflektierten Sichtweisen beschlossen und vorgenommen. Wir stellen also Verbote auf, weil wir auf der Basis unserer Etikettierungen ein Verhalten erwarten. Wir prognostizieren Handlungsweisen und verbieten diese. Es ist also richtig absurd. Reagieren die Betroffenen dann auch noch gemäß unserer Verheißungen, sind wir kräftig bestätigt und enorm gestärkt. Ein hermeneutischer Teufelskreis, den wir gezielt durchbrechen sollten, es aber nur dann tun, wenn uns die Muse der Weisheit intensiv küsst. Fatal ist es darüber hinaus, Verboten mit einer vorgefassten Mei­­ nung zu begegnen. Dann ergründen wir nicht deren Ursache, ­sondern versuchen den Blockaden auf der Basis völlig falscher An­­nah­­men zu begegnen. Das wird nicht gelingen. Reflexion: Zu welchen Etikettierungen neige ich? Welche meiner Etikettierungen haben schon einmal zu elementaren Fehleinschätzungen geführt? Welche meiner Verbote beruhen auf vorgefassten Sichtweisen? Unter welchen Zuschreibungen leide ich selbst?

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Das haut mich um:  Wenn Blockaden und Verbote verletzen Ach, wie unterschiedlich sind doch die Menschen! Während die einen sich nur kurz schütteln, das Krönchen richten und weiterlaufen, wälzen sich die anderen vor Schmerz auf dem Boden und kommen vor Qualen beinahe um. Nun kann man weder das Schmerzempfinden eines Menschen messen, noch ihm seine Verletzlichkeit absprechen. Die Vulnerabilität ist die genetisch oder biographisch erworbene Verletzlichkeit. Sie findet ihren Ausdruck in psychosomatischen Symptomen, in Depressionen, Selbstschädigungstendenzen, Süchten, aber auch in Bravheit und Selbstmitleid. Wann wird es besonders belastend?

Grundlegende Vulnerabilitätsfaktoren sind unsichere soziale Netzwerke, fehlende Entlastungsmöglichkeiten oder negative Selbstkon­ zepte. Attributionsstile haben wir schon identifiziert. Auch lang­­ anhaltende Be- und Überlastung sind Verletzungsfaktoren. In der Regel ist es so, dass mehr als einer dieser Faktoren vorliegt und Wenn Blockaden und Verbote verletzen

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sich diese addieren. Erhöht wird die Vulnerabilität auch durch Diskontinuitäten oder Übergänge (z. B. Berufswechsel) bis hin zu kritischen Lebensereignissen (z. B. Krankheit, Scheidung, Arbeitslosigkeit), aber auch durch »daily hassles«, also kleinere, alltägliche Unannehmlichkeiten und Ärgernisse, Mikrostressoren des Alltags. In der Regel versuchen wir, unsere verletzlichen Bereiche mit rigiden Abwehrmustern zu schützen. Wir verweigern die Teilnahme an bestimmten beruflichen Aktionen, lehnen Zusatzaufgaben ab. Je gesünder wir uns fühlen, je höher unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstwirksamkeitserwartung sind, desto geringer ist unsere Verletzbarkeit. Jedoch lässt sich nichts aus dem Hut zaubern und auch nicht per Knopfdruck aktivieren. Körperliche Symptome als Ausdruck unserer Verletzbarkeit

In unseren Systemen und unserem Umfeld haben wir Menschen, die bereits eine lange Geschichte von Verletzungen in sich tragen. Sind diese Personen Mimosen? Eher nicht. Sie sind Menschen, denen kontinuierlich der Aufbau eines selbstbewussten Egos verweigert wurde. Darum nehmen sich die Mitmenschen in unseren Organisationen auch Verbote und Blockaden unterschiedlich schwer zu Herzen. Sie schlagen ihnen auf den Magen, sie beschweren sie, bereiten ihnen Kopfzerbrechen, um nur einige der somatischen Erscheinungen zu benennen, die unser »Volksmund« bereits seit Jahrhunderten kennt. Außerdem wissen Verantwortliche, dass sie mit Maßnahmen wie dem Aussprechen von Verboten zu den stärksten Interventionen greifen und heftige Wirkungen auslösen. Wie bereits mehrfach gesagt, sollte deren Einsatz gut überlegt sein. Reflexion: Wann hatte ein Verbot für mich eine verletzende Wirkung? Wie kompensiere ich Verletzungen durch andere? Wie verletze ich andere? Wie gehe ich mit leicht verletzbaren Menschen um?

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Da passiert schon nichts:  Verbote und Risikobereitschaft Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, im Allgemeinen neigen Personen zu unrealistischem Optimismus und unterschätzen die eigene Gefährdung im Vergleich zu anderen sehr. Während sie anderen zur Vorsicht raten, lehnen sie selbst diese für sich ab. Woher das kommt? Wer gern Risiken eingeht, ist mit seinem Leben in der Regel zufriedener. Sind also zufriedene Menschen gerade aufgrund ihrer Zufriedenheit optimistischer und damit risikofreudiger? Oder nimmt, wer das Risiko nicht scheut, sein Leben eher in die Hand und gestaltet es so, dass er damit zufrieden ist? Zudem scheint Risikobereitschaft mit Bildung zu korrelieren. Statistisch gesehen haben gebildete Eltern risikobereiteren Nachwuchs. Wesentliche Aspekte der Beziehung von Person und Risiko sind die Vertrautheit mit der Risikoquelle, die Freiwilligkeit und das Gefühl, das Geschehen beeinflussen und kontrollieren zu können. Eine gelernte Sorglosigkeit kann noch hinzukommen. Haben Personen mit riskanten Aktionen Erfolg, entsteht eine Art Kontingenz, Verbote und Risikobereitschaft

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die sie glauben lässt, dass das Ergebnis von ihnen vorhergesehen oder beeinflusst worden ist. Die Folge ist eine fortschreitende bis zur Generalisierung reichende Sorglosigkeit. Und die kann gefährlich sein. Risiken am Arbeitsplatz – warum bleiben sie unerkannt?

Wenden wir uns den Organisationen zu. Organisationale sicherheitskritische Einflussfaktoren sind Zeitdruck, unklare Rollenanfor­ derungen, Stresssituationen, hoher Leistungsdruck und ­private Konflikte, die so stabil sind, dass sie mit an den Arbeitsplatz ge­­ bracht werden. Zudem ist der heute übliche, andauernde soziale Informationsaustausch mit dem privaten Umfeld während der Arbeitszeit ein ungemeines Risikopotenzial, weil es eine permanente Ablenkung darstellt, die aber rigoros, hartnäckig und vehement abgestritten, geleugnet und negiert wird. Es gibt sie einfach nicht. Eine gesellschaftlich so weit verbreitete und anerkannte Risikoverneinung hat es wohl noch nie gegeben. Empfinden wir aber etwas als riskant, reagieren wir mit Angst, Übermüdung und Motivationsverlust. Oder wir entwickeln unangemessene Bewältigungsreaktionen, wir vermindern die Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, haben ein fehlerhaftes Urteils- und Entscheidungsvermögen und neigen zu riskantem und sicherheitskritischem Verhalten. Führungspositionen sollten das Risikoverhalten ihrer Mitarbei­ tenden kennen und einschätzen können. Sie sollten wissen, dass sie mit intransparentem Verhalten, willkürlichen Verboten und nicht nachvollziehbaren Blockaden Stress verursachen, der nur mit einem gewissen risikobehafteten Verhalten zu bewältigen ist. Nun ist es aber außerordentlich unklug, sein Umfeld zu riskanten und existenzbedrohenden Handlungen zu veranlassen. Herausforderungen sind wertvoll, wenn sie zu bewältigen sind

Wer die Risikobereitschaft der Mitarbeitenden einschätzen möchte, sollte ihnen Herausforderungen anbieten, die sie bewältigen und an denen sie sich ausprobieren und bewähren können. Verbote sind dafür völlig und absolut ungeeignet, weil diese Regelverletzungen, 44

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absichtliches Übertreten von Vereinbarungen und somit eine in­­ adäquate Einstellung verlangen. Das kann aber nicht das Ziel sein, wenn man wissen will, wie risikobereit die Belegschaft ist. Wer aber denkt, dass dieser Weg der richtige ist, der ist gerade in Absurdistan gelandet und sollte seine Führungsposition zurückgeben – was er oder sie aber niemals tun würde. Leider sind auch Vorgesetzte keine guten Vorbilder im Hinblick auf die Einschätzung von Risiken. Die von ihnen erreichten Positionen lassen sie oftmals in eine Hybris verfallen. Jedoch ist auf ihrer Stufe die Fehlertoleranz in der Regel höher als bei anderen Mitarbeitenden. Zumal sie dazu neigen, mit sich selbst großzügiger umzugehen als mit anderen – leider. Reflexion: Wann habe ich schon einmal ein Verbot trotz großem Risiko übertreten? Welche Erkenntnis hat mir das eingebracht? Wie hoch ist meine Risikobereitschaft? Was hemmt mich, ein Risiko einzugehen?

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Mir geht es gut damit:  Aus Verboten das Beste machen Mit Akzeptanz und Toleranz Krisen bewältigen

Nicht jedes Verbot ist an sich schlecht. Wenn ich irgendwo Zutrittsverbot habe, dann brauche ich mich auch nicht mehr darum zu kümmern. Ich kann loslassen und mich zurücklehnen. Das, was auf den ersten Blick wie eine passiv-aggressive Reaktanz aussieht, sind hier aber Akzeptanz und das Können, sich in die Freiheit zu begeben. Ich muss nicht immer kämpfen, ich kann mich auch dem Wohlbehagen überlassen. Das Verbot schenkt mir ein Stück Wohlgefühl. Zufriedenheit als Motivator

Wohlgefühl schenkt Zufriedenheit und diese ist eng mit unserem Motivationsinventar verbunden. Dauert sie an, ist es also eine stabilisierte Zufriedenheit, ein positiver Ist-Soll Vergleich liegt ihr zugrunde. Wir bleiben motiviert und können uns gleichzeitig entspannen. Unser Anspruchsniveau und unsere Leistungsmotivationen bleiben unverändert hoch. 46

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Eine andere Form der Zufriedenheit ist die progressive. Hier wird das Anspruchsniveau erhöht, der Sollwert muss steigen. Aber Vorsicht ist geboten, denn ein Gefühl des Wohlbehagens lässt sich nicht unendlich steigern. Besonders schwierig ist die diffuse Zufriedenheit, die leicht in eine allgemeine Unzufriedenheit umschlägt. Noch komplizierter wird es, wenn eine resignative Arbeitszufriedenheit vorliegt. Dann ist der Soll-Ist-Vergleich negativ und zur Kompensation sinkt das Anspruchsniveau oder die Situation wird verfälscht (z. B. geschönt) wahrgenommen. Arbeitszufriedenheit ist ein Prozess und folglich kein dauerhafter und stabiler Zustand. Die resignativen Formen machen deutlich, dass Arbeitszufriedenheit und Arbeitsfreude nicht synonym sind. Gute Leistungen, Erfolg oder akzeptable Arbeitsbedingungen können aber eine hohe Zufriedenheit auslösen, denn besonders Leistung und Zufriedenheit beeinflussen sich gegenseitig. Leider ist Zufriedenheit aber auch abhängig von Persönlichkeitsmerkmalen. Es gibt Menschen, denen es nie gelingen wird, sich mit einem Verbot zu arrangieren und einen Vorteil daraus zu generieren. Reflexion: Wann bin ich zufrieden? Wie genieße ich Zufriedenheit? Was brauche ich, um zufrieden zu sein? Wann habe ich mir schon einmal etwas vorgemacht, um mit einer blockierenden Vorgabe zufrieden zu sein?

Aus Verboten das Beste machen

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Balance herstellen: Das Selbstverbot der Zufriedenheit aufheben

Es fällt schwer, über Zufriedenheit zu sprechen, denn oftmals wird sie  – besonders in protestantischen Kreisen  – als nicht ehrenwert und selbstgefällig wahrgenommen. Unzufriedenheit ist eher akzeptiert, weil sie angeblich einen Ansporn zu mehr Leistung und neuen Ideen erzeugt. Dies gilt aber überhaupt nicht, wenn es sich um die bereits dargestellte resignative Arbeitszufriedenheit handelt. Der negative Soll-Ist-Vergleich senkt, wie bereits gesagt, das Anspruchsniveau erheblich herab. Gleiches gilt für die PseudoArbeitszufriedenheit. Der Soll-Ist-Vergleich ist auch hier negativ und das Anspruchsniveau bleibt unverändert, die Situation wird verfälscht wahrgenommen, meist geschönt. Besonders schlimm ist es mit der fixierten Arbeitsunzufriedenheit. Der Soll-Ist-Vergleich ist in diesem Fall extrem negativ und das Anspruchsniveau bleibt unverändert. Auf Lösungsversuche wird verzichtet. Veränderungen sind nur bei einer konstruk­tiven Arbeitsunzufriedenheit möglich. Obwohl der Soll-Ist-Vergleich negativ ist, bleibt das Anspruchsniveau unverändert hoch und man arbeitet an Lösungsversuchen. 48

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Warum wir uns mit der Zufriedenheit so schwertun

Es ist sehr fragwürdig, dass wir uns nicht mehr Zufriedenheit gönnen, denn der Soll-Ist-Vergleich fällt doch viel öfter positiv aus, als wir es uns eingestehen wollen. Wir sind es, die ihn gern »herunterspielen«. Objektiv betrachtet wollen wir einfach nicht wahrhaben, dass wir das erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben. Und manchmal sind wir sogar so gemein zu uns, dass wir uns selbst sabotieren und es verhindern, unsere Ziele zu erreichen. Es ist »sooo schön«, wenn es etwas zu Nörgeln gibt. Also erhöhen wir den SollWert, um unzufrieden zu sein. Wenn dann noch ein Verbot des Weges kommt, ist uns das ganz recht. Wann lässt uns Zufriedenheit aus dem Vollen schöpfen?

Besser ist es, wir lassen das sein. Erst ernsthaft auswerten, dann sich die Zufriedenheit und Freude über das Erreichte gönnen, um dann mit einer progressiven Zufriedenheit das eigene Anspruchsniveau zu erhöhen. Dies führt dazu, dass unsere Arbeitsbereitschaft ansteigt, denn Zufriedenheit und Motivation sind eng miteinander verbunden. Leistung und Zufriedenheit beeinflussen sich zudem gegenseitig. Zufriedenheit wird dann selbst zu einem Ansporn. Es bleibt uns selbst überlassen, ob wir stets durch das Tal der Unzufriedenheit waten wollen oder ob wir quasi mit einem kleinen Handstreich, also mit einem schnellen Schnitt, das Selbstverbot der Zufriedenheit beseitigen und aus ihr heraus unser Arbeiten und Befinden gestalten wollen. Das Selbstverbot der Zufriedenheit aufheben

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Reflexion: Wie gehe ich mit meinen Unzufriedenheiten um? Wann kann ich richtig zufrieden sein? Was liebe ich an meiner Unzufriedenheit und wozu nutzt sie mir?

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Mal heiter, mal wolkig: Resilienz und die Kunst der Krisenbewältigung

Ein wesentliches Moment ist, wenn uns ein Verbot vorgesetzt wird und wir nicht einseitig positiv oder negativ reagieren, sondern in den Prozess der Abwägung kommen und Makel mit Vorzügen korrespondieren. In diesen Momenten geschieht unsere Urteilsbildung auf der Basis der Diagnose. Unsere Tatsachen- oder Wahrnehmungsurteile, Wert- oder Bezie­ hungsurteile und Willens- oder intentionalen Urteile führen uns und münden in die Entscheidungsfindung. Unsere Entscheidung wird dann zur Zielsetzung der Durchführung. Diese dynamische Urteilsbildung ist ein Frageweg, der aus mehr als drei Fragezeichen besteht. Sie berücksichtigt, dass wir Menschen fünf Grundfähigkeiten haben, von denen wir im Wachzustand mindestens eine immer betätigen. Das sind Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Darum klären und ordnen wir zunächst, schauen, was wir bewegen und beleben können, um die Beziehungen zu verbessern. Gelingt uns dies, werden wir zum Handeln motiviert. Resilienz und die Kunst der Krisenbewältigung

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Wie gelangen wir zu ausgewogenen Urteilen?

Zu einer solchen Urteilsfindung sind wir dann fähig, wenn wir über eine hinreichende Selbstregulation und Selbstkontrolle verfügen, also eine Selbststeuerungskompetenz haben. Diese brauchen wir zur Zielverfolgung, denn wir wollen Ziele auch dann aufrechterhalten und gegen äußere und innere Hemmnisse durchsetzen, wenn Schwierigkeiten und Ablenkungen auftauchen. Damit das gelingt, unterstützt uns die Steuerungsform der Selbstkontrolle. Gemeint ist damit die Abschirmung einer Absicht gegen alle konkurrierenden Impulse, Bedürfnisse und Wünsche, positiv wie negativ. Sie korrespondiert mit der Selbstbestimmung, der Fähigkeit, in Übereinstimmung mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Überzeugungen zu handeln. Das macht unser Ich flexibel und ermöglicht uns die Selbstregulation. Diese benötigten wir wiederum zur Realisierung von Zielen, zur Bildung selbstkongruenter Ziele und zu deren umsichtiger Umsetzung. Das ganze Zusammenspiel gleicht einer »inneren Demokratie«, bei der viele Stimmen zu eigenen und fremden Bedürfnissen, Gefühlen und Werten in Bezug auf unsere Entscheidungen gleichzeitig berücksichtigt und integriert werden müssen. Es beruht weitgehend auf unbewussten, parallelen und intuitiv-holistischen Verarbeitungsprozessen. Wie Bewältigungsstrategien funktionieren

Vier kognitive Systeme sind an Strategien zur Bewältigung beteiligt: Das Intentionsgedächtnis dient zur Aufrechterhaltung von Absichten und zur Selbstkon­ trolle und wird unterstützt durch Planen und analytisches Denken.

Das Extensionsgedächtnis bezeichnet ein ausgedehntes assoziatives Netzwerk, das die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation unterstützt.

Das Objekterkennungssystem ist besonders sensibel für Abweichungen von Erwartungen, Standards oder Zielvorgaben.

Die intuitive Verhaltenssteue­ rung ist an der Umsetzung bewusster Absichten durch weitgehend unbewusst gesteuerte Routinen beteiligt.

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Verbote fordern heraus

Die Selbstkontrolle hat diverse ungemein wichtige Funktionen. Sie beugt Vergesslichkeit vor, vergegenwärtigt uns unsere Ziele, unterstützt bei der Bewältigung von Misserfolgen und ermöglicht Selbstdisziplin. Sie ist zu vergleichen mit der Ich-Kontrolle. Sie schützt uns davor, auf unsere Ziele zu verzichten und aufzugeben, sie verhindert eine Willenshemmung, die unter Belastung schnell eintreten kann und sie bewahrt uns davor, voreilig zu handeln. Reflexion: Wie funktioniert meine »innere Demokratie«, wenn ich mich selbst regulieren muss oder will? Welche Selbstwahrnehmungsmethoden kann ich anwenden? Wann verliere ich die Selbstkontrolle?

Resilienz und die Kunst der Krisenbewältigung

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Ich bekomme das hin: Coping oder der unterschiedliche Umgang mit schwierigen Situationen

Menschen gehen sehr unterschiedlich mit schwierigen Situationen um. Während die einen erschrecken, angstvoll reagieren und handlungsunfähig werden, verfügen andere über Kompetenzen, die sie eine bedrohliche Lage eher gelassen und souverän einschätzen lassen. Kurz und bündig gesagt: Die einen bleiben im Schrecken stecken, die anderen lassen sich durch Schrecken wecken. Letztere Personen verfügen über Bewältigungsstrategien, das sogenannte Coping, was es ihnen ermöglicht, ihr Verhältnis zur Umwelt kognitiv neu zu bewerten, um so adäquat damit umgehen zu können. Das Hauptziel liegt für sie darin, eine Belastung eher als Herausforderung zu sehen, weil ein Lebensumstand so positiv bewertet wird und dadurch Ressourcen frei werden. Dies gelingt ihnen, weil sie konkrete Problemlösungsansätze finden. Sie verfügen über verschiedene Bewältigungsstrategien und kombinieren diese miteinander. Der hauptsächliche Erfolg liegt darin, dass sie die Unsicherheit drastisch reduzieren, was sich als langfristig 54

Verbote fordern heraus

und ­nachhaltig vorteilhaft erweist. Sie suchen Lösungen, probieren sofort verschiedene Schlüssel aus, um die verschlossene Tür zu öffnen. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, aber es gibt die Sorte Mensch, für die Probleme Herausforderungen sind und es ist gut für Organisationen, wenn sie solche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben. Verbote stacheln sie an, andere Wege zu suchen. Und was ganz erstaunlich ist – sie werden sie finden. Von erfolgreichen Bewältigungsstrategien anderer profitieren

Aber leider verstehen sich die »Angstbesetzten« und die »Stressbewältiger« nicht miteinander. Was ihnen gegenseitig fehlt, ist das Vertrauen in die andere Seite. Während die Aktivisten manchmal Hals über Kopf mitten in den Schlamassel hineinlaufen, weil sie die Warnungen der Zurückhaltenden nicht ernst nehmen, bleiben letztere wie das Kaninchen vor der Schlange stehen, weil sie den Stressbewältigern und ihren Bemühungen nicht vertrauen. Richtig gut wird es, wenn beide Seiten voneinander wissen und sich gegenseitig schätzen lernen. Denn dann kann es zu einer guten Balance zwischen dem jeweiligen Problem als faktischem Knackpunkt und den mit dem Problem verbundenen Emotionen kommen. Kritische Situationen werden folglich differenzierter und komplexer wahrgenommen und analysiert, Handlungsstrategien Coping oder der unterschiedliche Umgang mit schwierigen Situationen

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vielschichtiger. Die Wahrscheinlichkeit einer Bewältigung wird deutlich erhöht. Warum Wissen über Coping hilfreich ist

Kenntnisse über Bewältigungsstrategien und eine auf Austausch basierende Kommunikation zwischen Bedenkenträgern und Handlungsorientierten eröffnet viel mehr Möglichkeiten, um mit problematischen Angelegenheiten umzugehen. Hier steckt großes Potenzial im Umgang mit Verboten und Blockaden sowie deren Bewältigung. Reflexion: Bewältige ich Stress oder bin ich eher angstbesetzt? Wie gehe ich prinzipiell mit Problemen um? Welche Methoden der Problemlösung sind mir vertraut?

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Verbote fordern heraus

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Alles im Lot: Wie die Reduktion von Dissonanzen uns hilft, den Alltag zu meistern

Plötzliche Blockaden oder Verbote bringen uns aus unserem Wohlbehagen. Wir machen uns Gedanken, fragen nach dem »Warum« und »Wieso«. Wir streben nach Möglichkeit ein Gleichgewicht in unserem kognitiven System an. Dissonanz erzeugt folglich die Motivation, schnell wieder kongruente Beziehungen herzustellen. Zuerst ändern wir die Konditionen mit dem geringsten Änderungswiderstand, das heißt, wir sind grundsätzlich darum bemüht, unsere Einstellungen unseren Verhaltensweisen anzupassen. Damit das gelingt, ist es wichtig, Folgendes zu beachten: Zur Veränderung der Einstellung muss sich erst das Verhalten ändern. Ein anderes Verhalten zieht eine überzeugende Einstellungsveränderung nach sich. Wir halten also fest: Dissonanz ist eine triebähnliche innere Spannung, die auf Beseitigung drängt.

Reduktion von Dissonanzen

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Wir sind Meister darin, Dissonanzen abzubauen

Als Strategien des Dissonanzabbaus können wir die implizite Disso­ nanzreduktion einsetzen: Entweder wir reduzieren die Bedeutsamkeit eines Verbotes oder wir interpretieren einzelne Teile der Blockade einfach um. Kaum zu glauben, aber wir kriegen das hin und können uns selbst so entlasten. Mit der expliziten Dissonanzreduktion versuchen wir, soziale Interaktionen auszulösen. Wir werben für das Verbot oder suchen Verbündete für die Umsetzung desselben oder wir nehmen eine Verhaltensänderung vor, damit wir damit klarkommen. Was auch immer wir unbewusst anwenden, wir haben nur ein Ziel: Wir wollen unbedingt unser inneres Gleichgewicht wiederherstellen. Wir wollen konform mit unserer Umwelt sein und dies gelingt uns nur, wenn wir ausgeglichen sind und in uns ruhen. Vom Nutzen der Dissonanzen

Nun ist es aber kaum möglich, in Organisationen permanent ohne Dissonanzen auszukommen. Einen unglaublich guten Effekt haben diese, weil sie Verhaltensveränderungen initiieren können. Wer also dringend Prozesse dieser Art in seinem System anstoßen will, der sollte gezielt Verbote aussprechen. Zudem sind klare Blockaden auch im gegenseitigen Miteinander von Arbeitskolleginnen und -­ kollegen ein probates Mittel, um beim Gegenüber ein verändertes Verhalten zu provozieren. Reflexion: Welche Dissonanzen kann ich gut aushalten? Wann sind Dissonanzen für mich unerträglich? Implizite oder explizite Dissonanzreduzierung – wozu neige ich?

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Verbote fordern heraus

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Bis hierher und nicht weiter:  Vom Anreiz, den passenden Schlüssel für den Umgang mit Verboten zu finden

Zugangsverbote sind in der heutigen komplexen Welt an der Tagesordnung. Ohne Administrationsrechte können wir Computerpro­ gramme nicht nutzen oder installieren. Ohne Generalschlüssel bleiben Türen verschlossen. Dies erschwert das Leben zum Teil, ist aber aus vielen Gründen auch zu verstehen und nachvollziehbar. Ein akzeptiertes Zugangsverbot löst Kreativität aus. Irgendwie muss, will ich ja dahin, wo ich hin möchte. Also lasse ich mir etwas einfallen. Nehme ich den Umweg in Kauf? Lasse ich das Auto stehen, gehe per pedes weiter? Ich gebrauche meine Fähigkeit, Neuartiges und Angemessenes zu schaffen. Gestaltungskraft beginnt da, wo ich das Problem annehme, es akzeptiere und mir Gedanken mache, was jetzt zu tun ist. Ab diesem Moment entsteht eine »Flüssigkeit der Ideen«, sie werden flexibel oder wie ich gern sage: Die Ideen gelangen in die Schwebe, sie werden leicht. Ich erhalte die innere Freiheit, meine Fähigkeiten zur Analyse, Synthese und Bewertung neu zu ordnen. In meinem Gehirn Schlüssel für den Umgang mit Verboten

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arbeiten die kreativen und analytischen Teile gemeinsam und progressiv. Psychologisch gesprochen: Ich bin durch ein externes Ereignis intrinsisch motiviert. Es darf eine Weile dauern. Ich entwickle Spaß und erlebe Genuss und Befriedigung. Und wenn ich Glück habe, entwickelt sich ein Flow. Einfallsreichtum, Ideenreichtum, Fantasie sind frei. Das Verbot ist kein Hindernis, sondern eine Aufforderung. Dann eben auf einem anderen Weg. Jetzt sogar gern. Handlungsorientierung als Gestaltungskraft

Menschen, die auf Einschränkungen und Probleme aktiv und kreativ reagieren, nennt man handlungsorientiert. Ihr Vorgehen heißt: Tu’ was! Ändere was! Sie bedenken Handlungsalternativen, kreieren neue. Sie leben in der Zeitdimension von Gegenwart und Zukunft. Ihre Gefühlsund Gemütslage ist eine handlungsfördernde Erregung. Sie wollen herauskommen aus der belastenden Situation. Sie suchen Aktivitäten zur Veränderung der Ist-Lage in Richtung einer künftigen Soll-Lage. Gerne werden sie als »Macher«, »Vorantreiber« und »Alles-undnichts-Könner« bezeichnet. Diese Attribute haben sie ihrer Ge­­ schwindigkeit zu verdanken. Sie planen nicht immer präzise. Sie sind gelegentlich auch Personen, die dazu neigen, in Wildwestmanier viel zu schießen. Irgendein Schuss wird schon treffen. Vor- und Nachteile einer ausgeprägten Handlungsorientierung Nachteile

Vorteile

Handlungsorientierte Menschen

Handlungsorientierte Menschen

• kommen zu schnell zu Ergebnissen • ermöglichen Entwicklung • treffen unüberlegte Entscheidungen

• reduzieren die Informationsbreite auf das Wesentliche

• halten Prozesse nicht aus

• beschleunigen Prozesse

• überblicken nicht die Konsequenzen • motivieren andere

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• berücksichtigen Bedenkenträger nicht

• haben keine Angst vor zukünftigen Problemen

• strapazieren die Geduld

• treffen Entscheidungen und sind fehlertolerant

Verbote fordern heraus

Bei der Handlungsorientierung geht es darum, voranzukommen, etwas zu verändern oder zu lernen. Sie hilft dabei, sich von Misserfolgen zu erholen, das zukünftige Vorgehen zu planen und umzusetzen. Sie ist eine Fähigkeit zur Regulation und sorgt dafür, aus einem unerwünschten Ereignis einen positiven Affekt ziehen zu können. Dabei gibt es eine erhebliche Korrelation zwischen Intention und Ausführung einer Handlung. Handlungsorientierte Menschen legen wenige oder keine Selbstzweifel an den Tag, sie fragen nicht, ob etwas funktioniert. Sie haben die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren und blocken S­ törungen ab. Im Falle eines Misserfolgs beherrschen sie ein rasches Umschwenken auf die nächste Aufgabe und suchen sich aus den Handlungsmöglichkeiten zügig eine aus (auch wenn diese nicht optimal ist). Sie wollen nie »zu viele« Informationen. Sie nehmen das Risiko von Fehlern in Kauf. Sie fragen: Was könnte ich tun und wie? Wie komme ich voran? Wie kann ich das ändern? Leider kommt die Abwägung von Für und Wider oft zu kurz. Faszinierend ist die für sie typische Entscheidungsfähigkeit: Ich halte mich nicht mit Alternativen auf. Wenn ich einen Fehler mache, dann wähle ich eben danach eine andere Möglichkeit. Dumm ist nicht, wer einen Fehler macht, sondern wer zweimal denselben Fehler macht. Dysfunktional ist die Handlungsorientierung immer dann, wenn zu wenige Informationen vorhanden sind, sprich, keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung oder Handlung gegeben ist. Oder wenn man handelt, ohne Konsequenzen bedacht zu haben. Leider handelt es sich in diesen Situationen nicht immer um eine zu hohe Handlungsbereitschaft. Überforderung sowie ein Zuviel an Komplexität der Aufgabe oder an Zeitdruck führen ebenfalls oft zu einem übereilten Handeln. Erfolgreiche Führungspersonen neigen auch dazu, weil sie keine Lust auf mehr Arbeit haben und stochastisch auf ihren Erfolg zählen. Solches Verhalten gilt es zu identifizieren. Rechnet man es ausschließlich der Handlungsorientierung an, beschädigt man deren Nutzen. Deckt man es in der Organisation nicht auf, verstärkt man irrationale Fehlerquellen und lobhudelt die falschen Personen. Denn eines muss klar sein: Geht es Schlüssel für den Umgang mit Verboten

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daneben, stehen die Leitungsverantwortlichen in der Regel nicht dafür gerade. Ansonsten könnte die Welt ohne die Handlungsorientierten nicht existieren. Sie suchen den Ausweg, nehmen den Umweg, während ihr Pendant, die Lageorientierten, noch das »Weh und Ach« beklagen. Dafür nehmen sie gern in Kauf, dass man sie nicht immer gut leiden kann. Reflexion: Was fasziniert mich an der Handlungsorientierung? Was erschrickt mich, wenn ich über Handlungsorientierung nachdenke? Wo wäre ich gern handlungsorientierter?

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Verbote fordern heraus

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 Tun wir die richtigen Dinge und tun wir die Dinge richtig? Enttäuschung und das Bedürfnis nach Verifizierung

Was ein Verbot bewirkt, das wir nicht »richtig« finden

Tief in uns schlummert die zentrale Frage, ob wir die richtigen Dinge tun oder die Dinge richtig tun. Wir stellen die Frage nach der Richtigkeit, denn wir wollen durch sie Kontrolle erreichen und die Komplexität beherrschen. Die Gegenfrage: Ist es in einer komplexen und globalen Welt noch angemessen, die Frage nach den »richtigen« Dingen oder der »richtigen« Handlung zu stellen? Wir mögen sie nicht, denn wir haben die Sehnsucht des Kritischen Rationalismus in uns, der fordert, dass Theorien explizit, logisch widerspruchsfrei, empirisch überprüfbar und präzise sein sollen. Wir wissen zwar, dass Begriffe nicht wahr oder falsch sind, sondern brauchbar oder unbrauchbar. Wir wissen, dass Ansichten und Meinungen nicht richtig oder falsch, sondern gültig oder ungültig sind, aber, wir möchten es »richtig« machen und erwarten, dass andere es auch tun. Enttäuschung und das Bedürfnis nach Verifizierung

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Es ist auch kein Fehler daran, wenn man gern gültige, nachhaltige, verifizierte, also richtige Entscheidungen treffen möchte, die lang andauernde Erfolge garantieren, Probleme endgültig lösen oder grundsätzlich vermeiden. Aber irgendwie wissen wir auch, dass das angesichts der heutigen Komplexität kaum noch möglich ist. Ein gutes Stück leben wir mit dieser Paradoxie. Was sagt uns unsere Enttäuschung über ein Verbot?

Ereignen sich schwierige oder unliebsame Situationen, treffen wir plötzlich auf ein Verbot, dann prüfen wir es augenblicklich auf seine »Richtigkeit«. Können wir diese erkennen, treten wir in ein Agreement. Andernfalls sind wir enttäuscht. Enttäuschung fühlt man zunächst einmal, wenn ein erwartetes Ereignis nicht eingetreten ist. Je intensiver das Ereignis herbeigesehnt wurde und je mehr man in das Ziel investiert hat, desto heftiger ist sie. Je stärker uns das Ereignis verletzt oder einschränkt, desto größer ist sie. Enttäuschung bezeichnet das Gefühl, uns sei eine Hoffnung zerstört oder auch unerwartet ein Kummer bereitet worden. Leider werden uns Enttäuschungen in unserem Leben nicht erspart bleiben. Denn sie werden durch unsere inneren Normen und Werte ausgelöst, wenn diesen nicht entsprochen wird. Wichtig ist, dass wir diesen Zustand nicht in uns manifestieren, sondern als Moment aufnehmen und verarbeiten. Der Wut, die oftmals mit der Enttäuschung einhergeht, sollten wir Ausdruck verleihen und es ist durchaus verständlich, dass wir ein als »unrichtig« empfundenes Verbot am liebsten zerknüllen wollen. Einen Versuch ist es wert, gelingt es nicht, sollten wir andere Bewältigungsstrategien anwenden. Reflexion: Welche Emotionen lösen Verbote in mir aus? Welche Emotionen liegen bei mir »obenauf«? Mit welchen Emotionen kann ich nicht umgehen, wenn sie mir begegnen?

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Verbote fordern heraus

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Ich kriege es nicht mehr

aus dem Kopf:

Ein Problem festhalten und auf das Gründlichste durchdenken

Eigentlich ist man am Ziel und dann springt einen das Zugangsverbotsschild an. Okay! Nein, alles andere als »okay«. Das kann doch so nicht sein. Jetzt stehe ich hier und wie geht es nun weiter? Warum, wieso? Was soll das? Das Kopfkino geht an und alle erdenklichen Varianten werden durchgespielt. Analysiere, mache dir ein ganz genaues Bild der IstLage. Hole alle erdenklichen Informationen ein. Frage alle und jeden und ganz wichtig: Prüfe alle Informationen. Betreibe eine exzessive Informationsverarbeitung. Kennen Sie? Kommt Ihnen bekannt vor? Hier haben wir das Gegenstück zur Handlungsorientierung, die Lageorientierung. Wir bewegen uns in den Zeitdimensionen Gegenwart und Vergangenheit. Was ist und was war. An Gefühlen ist alles relevant, was passieren könnte, wenn wir handeln würden. Der Konjunktiv und die konjunktivische Verschränkung bestimmen die Sprache, was alles schief gehen kann, das Denken. Was bereits alles nicht geklappt hat, Ein Problem festhalten und auf das Gründlichste durchdenken

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ist jederzeit abrufbar in unseren inneren Ordnern abgespeichert. Ein handlungshemmendes Misstrauen hat die Regierung in uns übernommen. Über allem thront die Frage: Traue ich mir das zu? Wie Lageorientierung funktioniert

Lageorientierte Personen fokussieren einen vergangenen oder zu­­ künf­tigen Zustand. Sie blockieren mit grüblerischen Gedanken die Handlungsintendierung. Sie beschäftigen sich stets mit einer Absicht, auch wenn die Ausführung gar nicht unmittelbar ansteht. Sie haben eine ungewollte mentale Fixierung auf eine eingetretene oder vorgestellte Lage. Ihnen fehlen Handlungskontrollstrategien.

Ganz schlimm ergeht es Lageorientierten nach einem Misserfolg. Sie sind unfähig, negative Emotionen als Folge eines belastenden Erlebnisses zu regulieren und sie können keine positiven Affekte für eine andere anstehende Aufgabe rekrutieren. Sie grübeln viel, der Kopf wird nicht mehr frei. Völlig übermäßig verarbeiten sie Informationen, ziehen Alternativen in Erwägung und bewerten Bedeutungen. Die Folge ist, dass die Lageorientierten unkonzentriert sind und im zwischenmenschlichen Kontakt sehr leicht verletzbar. Sie zweifeln an sich und ihrer Leistungsfähigkeit, sind in sich gekehrt und beschäftigen sich nach (subjektiven und objektiven) Fehlern lange und hinlänglich mit den Konsequenzen. Nach Misserfolgen brauchen sie einen hohen Energieaufwand für kurzzeitige (Hoch-)Leis66

Verbote fordern heraus

tungen. In solchen Zeiten handeln sie oft entgegen der eigenen Präferenzen und Bedürfnisse. Das alles erzeugt hochgradig Stress und unzählige negative Affekte. Das Allerschlimmste aber ist: Sie reduzieren den Zugang zum eigenen Selbst. Dauerhaft bleiben sie oft in der Absicht und in Planungen haften. Vor- und Nachteile einer ausgeprägten Lageorientierung

Die Vorteile lageorientierter Menschen liegen darin, dass sie Schnellschüsse verhindern und für eine gründliche Informationsbreite sorgen. Sie entschleunigen Prozesse, wägen Angelegenheiten gründlich ab und erkennen kommende Probleme. Sie erzeugen ein sicheres Gefühl bei Entscheidungen und stimmen erst bei Überzeugung und Machbarkeit zu. Dem allerdings stehen die Nachteile entgegen. Leider kommen Lageorientierte oft nicht zu Ergebnissen und treffen keine Entschei­­ dungen. Sie verzögern Prozesse, verhindern Entwicklung und demotivieren andere – oder (ver-)ärgern diese, indem sie deren Geduld strapazieren. Vom achtsamen Umgang mit Lage- und Handlungsorientierung in der Arbeitswelt

Lageorientierte Menschen übernehmen in Organisationen oft verweilende Tätigkeiten, also Routinetätigkeiten oder von außen kontrollierte Aufgaben. Gerne werden sie als »Schwierigkeitensucher«, »Zögerer« oder »Verhinderer« bezeichnet. Andere wiederum lieben sie, weil sie als »entschleunigend« gelten. Sie »bremsen« alles aus. Ebenso werden sie wertgeschätzt, weil sie gründlich sind und man sich darauf verlassen kann, dass sie alles durchdacht, alle Alternativen in Erwägung gezogen haben. In Organisationen kommen beide Stile mehr oder weniger ausgeprägt vor. Nun können nicht alle Menschen »Macher« sein und es sollten nicht alle Menschen »Zögerer« sein. Was kann man also tun? Zunächst sollte man die beiden Stile identifizieren, wenn sie sich nicht eh schon durch extremes Verhalten offenbart haben. Dann Ein Problem festhalten und auf das Gründlichste durchdenken

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gilt es dafür zu sorgen, dass sich beide Seiten anhören und einander wertschätzen. Der Königsweg ist ein gleichberechtigtes Argumentieren. Für die Zusammenarbeit ist es wichtig, Gruppen gemischt zu besetzen. Denn Lage- und Handlungsorientierung sind nicht nur Gegensätze, sondern ersetzen auch das, was bei der jeweils anderen Person fehlt. Sehr viel Sorgfalt ist auch in Bezug auf das jeweilige Tempo der Arbeitsgruppen angebracht. Es muss Stück für Stück erhöht oder verlangsamt werden. Und es gilt darauf zu achten, dass alle Zeitformen (Zukunft – Gegenwart – Vergangenheit) Berücksichtigung finden. Gut gestaltet, können die Mitarbeitenden dann Zutrittsverbote konstruktiv integrieren oder infrage stellen. Reflexion: Was liebe ich an meiner Lageorientierung? Wann behindert und blockiert mich meine Lageorientierung? Worum beneide ich handlungsorientierte Personen?

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Verbote fordern heraus

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Als hätte ich nicht genug

zu schleppen:

Verbote rufen unser Gerechtigkeitsempfinden auf den Plan

Nein, das Leben ist kein Ponyhof und die Arbeit kein Zuckerschle­ cken. Für Menschen mit einem Handicap können Zugangsverbote neue Barrieren bedeuten, die niemand bedacht hat. Gerechtigkeit geht anders. Eher haben wir es dann mit sozialer Dominanz zu tun. Gemeint ist damit das Ausmaß, in dem Individuen gruppenbezogene Hierarchien und die Herrschaft durch überlegene Gruppen wünschen und unterstützen. Leider dient sie der Diskriminierung anderer, besonders der von Minderheiten. Gerechtigkeit ist erstrebenswert, aber wird niemals erreicht, wenn ein Verbot für alle gilt. Dann gerät die Gleichheit ins Wanken. Gerechtigkeit gelingt im Allgemeinen nur durch Selbstverzicht, braucht Ideale und ist eigentlich eine Utopie, denn sie ist nicht erreichbar. Als Beispiel: Besonders in den jeweiligen Altersstufen wird sie ganz unterschiedlich wahrgenommen, verarbeitet und gelöst. Sie setzt auf die Bereitschaft, kurzfristig auf Bedürfnisbefriedigung zugunsten langfristiger Belohnungen zu verzichten Verbote rufen unser Gerechtigkeitsempfinden auf den Plan

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und ist mit der Frage verbunden, ob man ein Klima der Gerechtigkeit schaffen kann. Gerechtigkeit hat vielfältige Ausprägungen

Es gibt verschiedene Formen der Gerechtigkeit. Die Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit. Die austeilende Gerechtigkeit, die Rechte und Pflichten der Einzelperson gegenüber der Gemeinschaft regelt und die ausgleichende, die Rechte und Pflichten der Einzelnen untereinander regelt. Erreichbar ist Gerechtigkeit durch verhaltenswirksame Strategien, die sich unmittelbar auf die Arbeitsleistung auswirken. Dabei sollte man nicht übersehen, dass das Gerechtigkeitsgefühl stets relativ und subjektiv ist. Es kann bei jeder Person anders entwickelt sein. Wir entwickeln unser Gerechtigkeitsgefühl aus zwischenmenschlichen Interaktionen. Es kann sich auf Ergebnisse, Verfahren oder Werte beziehen. Ungerechtigkeit geht unter die Haut

Das Gegenteil, die Ungerechtigkeit, löst negative Emotionen und ein Verlangen nach Vergeltung aus. Die Opfer wollen reale Veränderungen, während den Tätern die kognitive Wiederherstellung genügt. Schlimm wird es, wenn Ungerechtigkeit unser Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Wenn wir uns elementar benachteiligt fühlen und uns darum als minderwertig einschätzen. Aus diesen Gründen gilt es, die Fragen der Gerechtigkeit zu stellen. Gibt es eine Alternative zum Handeln, zur Situation? Hätten die Führungskräfte anders handeln können? Entspricht die Entscheidung, ein Verbot auszusprechen, ethischen Standards? Reflexion: Wann kann ich Ungerechtigkeit gut aushalten? Welche Ungerechtigkeit bringt mich auf die Palme? Was muss sich ereignen, dass ich mich für die Rechte anderer einsetze?

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Verbote fordern heraus

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nutzbar machen:

Das kann ich mir Wenn Verbote Probleme lösen und bereitwillig akzeptiert werden

Und manchmal ist alles ganz anders. Ein Verbot? Eine Blockade? Oh, wie wunderbar! Ich freue mich. Was die einen erschrickt, löst große Freude bei anderen aus. Es kann dazu kommen, dass Verbote geradezu herbeigesehnt werden, weil sie Ordnung schaffen, etwas im System klären, einem Verdruss Einhalt gebieten oder schlicht und ergreifend äußerst kompatibel mit den persönlichen Interessen bestimmter Personen sind. Die Corona-Krise mit dem einhergehenden Lockdown ist ein Paradebeispiel dafür. Das heißt, Verbote können auch auf Partizipation, also auf Teilhabe, Teilnahme, Beteiligung und Unterstützung stoßen. Endlich ist es da! Geradezu herbeigesehnt. Nicht erschrecken, das ist nicht per se schlimm, das muss man sich ansehen. Innere und äußere Antreiber für die Annahme von Verboten

Bei einer direkten Partizipation, also sehr persönlich motivierten Teilhabe an einem Verbot, sollte man der annehmenden Person die Wenn Verbote Probleme lösen

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Möglichkeit einräumen, diese zu erklären. Vielleicht sieht sie ja Vorteile, die mir bisher entgangen sind. Schwieriger ist es, wenn eine indirekte bzw. repräsentative Partizi­ pation angenommen wird. Das sind die Augenblicke, in denen Personen für ein Verbot einstehen, weil sie vermuten, dass es für andere gut ist und es für sich ohne Probleme akzeptieren können. Diesen Partizipationen muss man allerdings nachgehen und abklären, ob es sich wirklich so verhält und die »vermutlichen« Nutzer des Verbots das auch wirklich selbst so sehen. Die integrierte bzw. kontinuierliche Partizipation beschreibt die relativ reibungslose Integration von Verboten in Arbeitsabläufe. Sie werden entsprechend schnell akzeptiert. Auch dann gestalten sich die Analysen kompliziert, denn niemand nimmt sich die Zeit zu reflektieren, warum das so ist. Schwieriger wird es mit der Beteiligung, wenn erklärt wird, dass dieses Verbot in anderen Systemen hervorragende Dienste leistet. Dann sollte man mit einer ungeprüften Übernahme ins eigene System zurückhaltend sein und genau beobachten, ob die Übertragung gelingt. Von den positiven Folgen »richtiger« Verbote

Wenn Verbote in Organisationen eine hohe Akzeptanz finden und man partizipativ mit ihnen umgeht, hat die Leitung eine vollkommen richtige Entscheidung getroffen, dieses Verbot einzuführen. Gerade bei so diffizilen Angelegenheiten wie Einschränkungen löst die bewusste Teilhabe daran eine höhere Bindung und Identifikation mit der Organisation aus und Vertrauen baut sich auf. Kann man der Führung auch bei Blockaden vertrauen, steigen Motivation und Effektivität. Reflexion: Wie müssen Verbote und Blockaden beschaffen sein, damit ich partizipatorisch mit ihnen umgehen kann? In welchen Momenten halte ich Verbote für das Mittel der Wahl? An welchen Stellen in meinem Leben könnten Verbote etwas zum Positiven ordnen oder regeln? 72

Verbote fordern heraus

Zusammenfassung des zweiten Teils In unserer bisherigen Annäherung an das Thema haben wir eindeutig erkennen können, dass Verbote und Blockaden Grenzen setzen und somit unmittelbar zu einer Herausforderung werden. Ob sie nun eine Machtdemonstration sind, einer Situation oder einem Thema ein Ende setzten, als Provokation eingesetzt werden, eine Angelegenheit regeln, als Einschränkungen fungieren oder eine Schutzfunktion übernehmen, ist dabei beinahe nebensächlich. In allen Formen werden wir herausgefordert, unsere Einstellung zum Verbot zu finden, uns zu verhalten, uns zu positionieren. Wir kommen gar nicht umhin, es zu tun. Selbst eine Auseinandersetzung scheuen und einfach hinnehmen ist eine aktive Einstellung zu einem Verbot. Dies aufzuzeigen und in seiner ganzen Bandbreite zu durchschreiten, ist das Anliegen des zweiten Teils. Sind wir uns dessen bewusst geworden, können wir uns dem Umstand zuwenden, dass Verbote nicht nur Herausforderungen darstellen, sondern zugleich auch Wirkungen erzielen.

Zusammenfassung

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Teil 3 Verbote haben Folgen: Ein Blick hinter den Spiegel oder vom verantwortungsvollen Einsatz von Regeln

Im privaten wie im beruflichen Kontext besteht der Sinn von Verboten darin, dass sie Wirkung zeigen, in den jeweiligen Systemen etwas initiieren. Sie sollen ein bestimmtes Verhalten oder Handeln verhindern. Darum gehören Verbote auch in den Bereich der Ver­ meidungen. Sie zielen nicht darauf ab, dass etwas geschieht, sondern sie versuchen, etwas zu verhindern. Über ihre eigentliche Intention hinaus lösen sie aber viele andere Interaktionen in oder zwischen Personen aus. Darum ist es wichtig, sich mit dem zu beschäftigen, was Verbote bewirken und freisetzen, denn die Kenntnis über ihre möglichen Folgen sollte den Einsatz dieser äußerst starken Intervention beeinflussen. In diesem Sinne: »Schauen wir uns also an, wie die Menschen diejenigen behandeln, die in Abhängigkeit von ihnen leben. Und in dieser moralischen Prü­ fung hat die Menschheit … ein so grundlegendes Debakel erlitten, dass alle anderen davon herrühren« (Nunez, 2020, S. 190).

Ein Blick hinter den Spiegel

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Drüberklettern und abstürzen? Über den Umgang mit Krisensituationen

Genau das habe ich jetzt gerade überhaupt nicht gebraucht. Eine tägliche Situation. Plötzlich geht es nicht so weiter, wie ich es mir gedacht habe. Zugangsverbot. Unsicherheit macht sich breit. Eine Krise ist ausgelöst. Unter einer Krise versteht man einen belastenden und temporä­ ren Veränderungsprozess. Klar ist, es wird nicht bleiben, wie es war, es braucht eine Umstellung. Der von mir gewählte Weg ist so nicht zugänglich. Daran wird sich jetzt nichts ändern, ich kann es nicht verändern. Ich muss mich umstellen, mich einstellen. Ich muss mich auf die Suche nach einer Alternative begeben, wenn ich glaube, dass dieses Zugangsverbot nur für eine gewisse Weile von Bedeutung ist, oder ich muss auf Dauer einen grundlegend anderen Weg finden. Habe ich diese Veränderung vollzogen, mich umorientiert, ist die Krise bewältigt und der Prozess der Veränderung bei mir abgeschlossen. Möglicherweise aber nicht in meinem Umfeld. Nun geht es leider nicht immer so schnell. In ihrem Verlauf und ihren Folgen ist eine Umgestaltung ein offener Prozess. Es ist nicht 76

Verbote haben Folgen

gesagt, dass ich mit den neuen Arrangements zufrieden und glücklich sein werde. Sie können belastend sein, sich auf an­­dere Arbeitswege und Kommunikationsstrukturen erheblich auswirken. Schlimmstenfalls können weitere Krisen ausgelöst werden. In komplexen Organisationen werden Entscheidungen getroffen, deren Tragweite nicht absehbar ist. Ein Zugangsverbot aufzustellen bedeutet nicht automatisch, dass man in der Stadtplanung weiß, wie der Weg in die gesperrte Straße nun zu gestalten ist. Der Dominoeffekt oder wie Krisen weitere Krisen hervorrufen

Ganz dramatisch wird es, wenn ein Dominoeffekt ausgelöst wird. Dieses Phänomen ist gekennzeichnet durch eine Abfolge von – meist ähnlichen – Ereignissen, von denen jedes einzelne zugleich Ursache des folgenden ist und die alle wiederum auf ein einzelnes Ereignis am Anfang zurückzuführen sind. Also: Ein Anfang setzt so viel Energie frei, dass eine Serie von Begebenheiten zwangsläufig entsteht. Leider hört diese Wirkung erst auf, wenn »der letzte Stein« gefallen ist. Der Dominoeffekt lässt sich durchaus in sozialen, kommunikativen und organisatorischen Ereignissen feststellen. Jedoch sind bei Planungen und Entscheidungen die entstehende »Energiebilanz« der »gesellschaftlichen« Prozesse und die dabei grundsätzlich unvollständige Kenntnis aller »Dominosteine«, ihrer »Position« zueinander und damit auch die möglichen Wechselwirkungen nicht vorhersehbar, weil es dynamische Systeme sind. Dementsprechend lösen Krisen oftmals weitere Krisen oder zumindest kritische Situa­ tionen aus. Wie kommen wir aus der Krise heraus?

Eine Krise ist zudem gekennzeichnet durch eine Unterbrechung der Kontinuität des Erlebens und Handelns. Die eigene Handlungsorganisation ist destabilisiert. Dies liegt daran, dass Krisen einerseits externe Aspekte und zugleich interne Aspekte, nämlich unsere subjektiven Bewertungen, beinhalten. Sie können eine Infragestellung des eigenen Selbstbildes auslösen, verbrauchen immer Zeit und sind stets mit Kosten verbunden. Dummerweise blockieren sie unsere Über den Umgang mit Krisensituationen

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freiwillige Veränderungsdynamik, weil wir jetzt etwas Ungewolltes machen müssen und unsere eigenen Ressourcen deshalb besetzt sind. Zudem behindern sie unsere Handlungsfähigkeit. Das alles geht mit abnehmender Ordnung, Desorientierung und Verunsicherung einher. Was folgt, ist ein sehr hoher Bedarf an einer sogenannten Redyna­ misierung. Wir müssen wieder in Bewegung kommen und das funktioniert nur, wenn wir unsere Steuerungshoheit wiederherstellen können und wir den Zugang zu unseren Ressourcen zurückerhalten. Krisenbewältigung – ein Spiegelbild der Persönlichkeit

»Bleibe also nicht im Schrecken stecken – lasse dich durch Schrecken wecken!« Solche Sinnsprüche sind schnell gelernt und noch schneller ausgesprochen. Wie beschrieben, ist eine Krise für die einen eine echte Motivation und Herausforderung. Sie haben Lust, sich dem zu stellen, es ist genau die Abwechslung, die die Angst vor Langeweile abwendet. Andere wiederum fühlen sich in ihrer Ruhe und Komfortzone gestört, leiden unter den Neuerungen. Dann gibt es diejenigen, die sich tierisch aufregen, das Geschehen unglaublich dramatisieren. Sie finden schnell Freunde unter denen, die paranoid alle möglichen Verdächtigungen und Gründe aufzählen. Wieder andere lehnen sich gelassen zurück und reagieren passiv, lassen es auf sich zukommen, während die Emsigen und Angepassten bereits die Umwege sondiert haben. Krisen lösen ein buntes Spektrum an Reaktionen aus, das von den jeweiligen Persönlichkeitsstilen geprägt und bestimmt ist. Ein Zugangsverbot, und Sie lernen Ihre Kolleginnen und Mitarbeiter kennen. Clet Abraham scheint das aufmerksam beobachtet zu haben. Reflexion: Wie sind meine ersten Reaktionen auf kritische Momente? Wie kann ich mich aus Krisensituationen kontrolliert zurückziehen? Was brauche ich, um mich Krisen stellen zu können?

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Verbote haben Folgen

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Das wird jetzt



dauerhaft ein Problem:

Wenn Verbote Chronifizierungen nach sich ziehen

Den Begriff der Chronifizierung kennen wir am ehesten aus dem Gesundheitswesen. Dort beschreibt er den Übergang von der vorüber­­ gehenden zur dauerhaften (chronischen) Präsenz einer Erkrankung oder eines Symptoms, insbesondere von Schmerzen. Bezüglich der Auseinandersetzung mit Verboten und Blockaden ist es mehr als angemessen, sich über den Prozess der Chronifizierung in sozialen Systemen Klarheit zu verschaffen. Medizinisch markiert die Chronifizierung den Endpunkt der diagnostischen und therapeutischen Bemühungen. Heilbarkeit ist nicht mehr gegeben und das ist gleichbedeutend mit dem Verlust der Aussicht auf Heilung. Den Patienten und Patientinnen bleibt nur noch die Hoffnung auf Linderung der Beschwerden. Werden Verbote in einem System eingeführt, durchlaufen diese genau die gleiche Entwicklung, die sich auch bei der Chronifizierung einer Erkrankung beobachten lässt.

Wenn Verbote Chronifizierungen nach sich ziehen

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Stufen von Chronifizierung

Zunächst zur ersten Stufe, der Abwehr. Wie bereits beschrieben, lassen sich jetzt Bagatellisierung und Verleugnung im System finden. Den Betroffenen gehen Gedanken durch den Kopf wie: Es wird so schlimm nicht sein … das ist doch nicht möglich …das ist bestimmt bald vorbei … Nach der Abwehr kommt die zweite Stufe, die Wut und der Ärger: Warum muss das gerade mir passieren? Warum gerade jetzt? Warum dauert das so lange? So ein Mist, das kann ich jetzt nicht gebrauchen. So oder so ähnlich fühlen sich Betroffene. Dann folgt als dritte Stufe die Resignation. Es kommt zu deutlichen Merkmalen von Depression und Resignation. Hier beginnt der soziale Rückzug. Die Betroffenen werden immer passiver, sie kapseln sich ab. Gleichzeitig kehren die Menschen in ihrer Umgebung ihnen ihrerseits den Rücken zu. Möglicherweise tauchen erste Gedanken bezüglich eines Weggangs oder einer umfassenden Veränderung auf.

Erst wenn diese Stufen durchlaufen sind, erfolgt die vierte Stufe – die der Neuorientierung. Im Gesundheitswesen erreichen diese Stufe nur wenige Menschen. In Organisationen aber ist sie ungemein wichtig. Jetzt wird das Verbot in das weitere Arbeiten, Leben, Ver80

Verbote haben Folgen

halten integriert. Realistische neue Ziele und Zukunftspläne »im Einklang mit der Blockade« werden aufgebaut. Diese Stufe wird häufig nur mit der Hilfe anderer erreicht. Der Wert einer gelungenen Einführung von Verboten

Wer also dauerhaft Verbote in seinem System etablieren will, muss die Phasen der Chronifizierung kennen, sie erkennen können und sie gestalten, aushalten und bis zur vierten Phase begleiten und leiten. Behutsamkeit, Achtsamkeit, Geduld und Zuwendung sind dabei wesentliche Leistungen, die von der Leitung unabdingbar zu erbringen sind. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, die Stufen der Chronifizierung schadenfrei durchlaufen zu können. Dann wird es zu einem Agreement kommen, das die Chance hat, sich im System zu etablieren. Reflexion: Wann neige ich zu Chronifizierungen? In welchen Phasen kann ich den Ablauf von Chronifizierungen erkennen und unterbrechen? Wo konnte ich eine Blockade sinnvoll integrieren?

Wenn Verbote Chronifizierungen nach sich ziehen

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Hier ist absolut Ende:  Vom Umgang mit Grenzen Begründet können wir das Leben als ein Grenzphänomen bezeichnen. Denn mit unserer Geburt wissen wir, dass unser Leben begrenzt ist. Vielleicht ist es das, was für uns den Reiz ausmacht – dass wir uns im Leben engagieren und versuchen, es zu bewältigen. Denn Grenzen stellen Herausforderungen für uns dar. Sie sind Orte der Berührung und Begegnung, das Getrennte kommt zusammen und bleibt durch die Grenze getrennt. Sie sichern nach Innen und sind gleichzeitig Orte der Ambivalenz, der Entfaltung oder auch der Einkehr und Klausur. Grenzen können sehr unterschiedlich sein. Zum Teil sind sie weithin sichtbar und sehr massiv, zum Teil aber auch fein und kaum wahrnehmbar. Sie sind akustisch oder olfaktorisch und bedürfen unserer Sinneswahrnehmungen, um erkannt zu werden. Die Grenze einer Person ist ihre Haut, die einer Rolle die Kleidung, die eines Teams der Raum und die der Organisation das Gebäude. Grenzen wirken sich auf Beziehungen aus, unseren Einfluss und unser Verhalten. Wir selbst erleben an uns Grenzen der Belastbarkeit, denn wir verfügen nur über ein gewisses persönliches Maß an Kraft. Es 82

Verbote haben Folgen

schmerzen uns oftmals die Grenzen der Einflussnahme, wenn wir nicht allen helfen können. Unsere Grenzen der Begabungen erschüttern uns oder fordern uns heraus und die Grenzen des eigenen Verhaltens beschweren oftmals unsere Beziehungen, weil wir manchmal das tun, was wir nicht wollen. Weitere Eigenschaften von Grenzen sind ihre Beschaffenheit.

Sie können flexibel und offen, aber auch starr und fest sein. Bei der Gestaltung von Beziehungen setzen wir beide Arten gern ein. Der Theologe und Philosoph Paul Tillich hat es so formuliert: »Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, ein Wieder-Zurückkehren und Wieder-­Überschreiten, ein Hin und Her […]« (1962, S. 7). Grenzen fordern uns zur Entscheidung heraus

Wir sind also immerzu von Grenzen umgeben. Mit manchen setzen wir uns auseinander, andere übertreten wir notgedrungen ständig. In diesem Zusammenhang habe ich von Franz Meurer den Grundsatz der Epikie (die Billigkeit, das Angemessene) kennengelernt. Er beschreibt das Momentum, in dem das Ziel des Rechts durch Übertretung von Gesetzen gesichert werden muss. Es beschreibt also eine Situation, in der wir selbst entscheiden müssen, ob wir ein Verbot für einen guten oder besseren Zweck überschreiten müssen. Das verlangt uns ab, unsere Grenzen zu erweitern und dabei permanent ethisch zu reflektieren, wie weit wir gehen können, dürfen, wollen und sollen. Denn schließlich markieren Grenzen auch unsere Möglichkeiten zum Wachstum. Vom Umgang mit Grenzen

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Die Grenze als Marke der Zugehörigkeit

In ihrer Wirkung beschreiben Grenzen ganz banal, was innerhalb und außerhalb liegt. Sie kennzeichnen die Innen- und Außenseite und definieren somit Merkmale der Mitgliedschaft. Durch Kommunikation wird unterschieden, welche Aktionen und Akteure zum System gehören und welche nicht. Ferner ist die Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung von Akteuren abhängig von der Befolgung identitätsstiftender Spielregeln des jeweiligen sozialen Systems, denn schließlich erhalten soziale Systeme ihre Identität, weil Akteure ihre Regeln befolgen. Umgekehrt verschaffen sich die Akteure ihre Identität, weil sie sich als Mitglieder des sozialen Systems an die Ordnungen halten. Soziale Systeme reagieren mit Immunreaktionen, also ausgrenzend, auf abweichendes Verhalten von Einzelnen, wenn dadurch ihre Identität infrage gestellt wird. Wer dazu gehören will, muss charakteristische Verhaltensweisen zeigen. Wer nicht ausgegrenzt werden möchte, darf bestimmte Verhaltensweisen wiederum nicht zeigen. Mithilfe von Geboten wird das notwendige Benehmen beschrie­ ben und Verbote definieren das zu unterlassende Verhalten. Sie sagen nicht, was erlaubt und somit möglich ist, was vorgeschrie­ben und erwartet, ja, notwendig ist. Dies zu erkennen obliegt der einzelnen Person. Zudem schaffen Verbote »Egalité«, »Fraternité«, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Zugehörigkeit, Bindung, Wärme, leider aber auch oftmals Kreativitätsverbot, Unfreiheit, Innovationsstop, Langeweile, Lernunfähigkeit. Um zu verhindern, dass innovative Ideen untersagt werden, braucht es Grenzgänger und Grenzgängerinnen. Diese müssen eine besondere Paradoxie aushalten können. Sie müssen zugleich die Verhaltensweisen des Insiders realisieren, um nicht rausgeworfen zu werfen und die des Outsiders, der aber als Mitglied nicht »dazugehört«.

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Verbote haben Folgen

Wie wichtig Grenzgänger sind

Grenzgänger und Grenzgängerinnen benötigen eine sogenannte Polykontexturale Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, unterschiedliche (kulturelle) Spielregeln zu erfassen und zu beherrschen. Dies führt oftmals zu extremen Grenzerfahrungen, ist aber für eine Organisation absolut überlebenswichtig, denn nur so erhält sie Impulse von außen, die sie aufgrund ihres internalisierten Regel- und Verbotssystems nicht zulassen würde. Was, wenn Verbote sich widersprechen?

Es ist beinahe überflüssig festzuhalten, dass Verbote und Blockaden Grenzen ziehen und somit das gesamte Repertoire der damit automatisch einhergehenden Erfahrungen und Erlebnisse initiieren. Außerdem verändern sie das System in seinem Wesen und seiner Struktur. Besondere Situationen ergeben sich, wenn Verbote und Blockaden zunächst ausgesprochen werden und dann »unwissentlich« mit anderen Verboten in Konflikt geraten. Es kommt in komplexen Organisationen durchaus vor, dass bestimmte Angelegenheiten einerseits nicht durchgeführt werden dürfen, andererseits aber schon. Besonders in ungeklärten Sicherheitsfragen ist immer wieder zu beobachten, dass ein und dieselbe Sache ausdrücklich erlaubt und gleichzeitig verboten ist. Auch tritt häufig der Fall ein, dass Blockaden und Verbote andere Verbote verstärken. Spätestens dann sollte eines der beiden aufgehoben werden, denn sonst hat man im System so etwas wie »Verbotstürmchen«. Und es kann nicht gut sein, wenn der Eindruck entsteht, Blockaden würden gestapelt. Reflexion: Welche Grenzen akzeptiere ich sofort und weiche zurück? Welche Grenzen würde ich gern einmal überschreiten? An welche Grenzen möchte ich mich einmal herantasten? Welche Grenzen habe ich zum Wohle aller überschritten?

Vom Umgang mit Grenzen

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Ich gehöre dazu:  Von der Freiheit der Zugehörigkeit und

wie sich Commitment entwickeln kann

Ein wesentlicher Aspekt in Organisationen jeglicher Art ist die Wahrnehmung der Identifikation ihrer Mitarbeitenden. Das Gefühl der Zugehörigkeit und zugleich der Verpflichtung ist von ungemeiner Bedeutung und sollte behutsam behandelt und wertgeschätzt werden. In ihm sind die Bindung, das Engagement und Verhalten, die Hingabe und das Bekenntnis, also die innere Einstellung eines Menschen einer Sache oder der Organisation gegenüber, angelegt. Man nennt dies auch Commitment. Ein stark ausgeprägtes Einverständnis fördert Produktivität und Einsatzbereitschaft. Es ist eine stabilisierende Kraft, welche die Bindung zum Unternehmen aufrechterhält. In der Regel korreliert sie stark mit dem Gerechtigkeitsempfinden und ist dann immens verletzt, wenn ein Gefühl von Ungerechtigkeit auftritt.

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Verbote haben Folgen

Warum wir lieben, was uns nutzt

Das Commitment ergibt sich aus dem Nutzen, den ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in ihrem oder ihrer Tätigkeit sieht. Von diesem werden die Kosten abgezogen und die eigenen sowie die Fremdinvestitionen dazugerechnet. Zu guter Letzt subtrahiert man noch die Alternativen und daraus ergibt sich die Intensität der eigenen Identifikation mit dem Unternehmen. Es handelt sich also um einen hochkomplexen, sich unbewusst vollziehenden Rechenvorgang, der affektive, normative und rationale Anteile miteinander verbindet. Die affektiven Teile beziehen sich auf die persönliche Bedeutung der Organisation für die beschäftigte Person: Sie möchte gern dazugehören. Kann sie die Werte und die damit verbundenen Verpflichtungen akzeptieren, passt es auch auf der normativen Ebene. Rational betrachtet geht es um die Beständigkeit der Beziehung. Ist sie stark und belastbar, sind die Wechselkosten bei Verlassen der Organisation keine Option.

Identifikation lässt uns Verbote sogar bewachen

Führungskräfte können das Commitment ihrer Mitarbeiter und Mit­arbeiterinnen begünstigen, indem sie transparente und ehrliche Überzeugungsarbeit leisten und so die Vertrauensbasis in den Beziehungen zu ihren Angestellten ausbauen. Im Rahmen von Verän­ de­rungsprozessen schaffen ausführliche Informationen über Hintergründe, Ziele und das beabsichtigte Vorgehen eine gute Grundlage. Von der Freiheit der Zugehörigkeit

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Gelingt dieses, können Mitarbeitende auch dazu bewogen werden, die Torhüter von Blockaden und Verboten zu werden. Identifizieren sie sich stark mit ihrem Unternehmen oder ihrer Organisation, bedarf es dazu nicht einmal einer Aufforderung. Lediglich der Widerstand der anderen bedroht das eigene Zugehörig­keitsgefühl und deren Grundlage, das Unternehmen. Er stellt deren »Richtigkeit« infrage und das können Angestellte mit einer starken Identifikation nicht zulassen. Ohne diese Identifikation mit der eigenen Arbeit und dem dazugehörigen Arbeitgeber funktioniert das Arbeitsleben nicht. Jedoch darf das Ausmaß der Identifikation nicht dazu führen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Vorgesetzten blindgläubig und unkritisch folgen. Um eine erfüllte Identität in einer Organisation zu erleben, sind Akzeptanz und Distanz gleichermaßen notwendig. Letztere ermöglicht ein kritisches Hinterfragen. Gute »Doorkeeper« haben eben den besten Blick auf das ganze System. Reflexion: Was brauche ich, um mich als Teil eines Systems zu fühlen? Wann fühle ich mich unwohl und ausgeschlossen? Wie signalisiere ich anderen, dass auch sie dazugehören? Welches Verbot beschütze ich und warum?

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Verbote haben Folgen

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My Home is my Castle:  Von der gestaltenden Kraft der Spiel- und Freiräume

Damit wir uns mit unserem Arbeitsplatz gut arrangieren können, benötigen wir den Freiraum, ihn individuell zu gestalten. Je nach Typ Mensch braucht es Fotos aus dem privaten Umfeld, eine Pflanze oder eine besondere Anordnung der Möbel im Raum, nach Möglichkeit auch eine zeitgemäße Ausstattung an technischen Geräten, damit wir uns als Mitarbeitende wohlfühlen. Über diese »Äußerlichkeiten« h ­ inaus bewegen uns noch weitere Fragen zum Thema Gestaltungsmöglichkeiten: Können wir unsere Arbeitszeit selbst gestalten? Bietet die Organisation Inhalte zur Persönlichkeits- und Kompetenzgestaltung? Wir suchen nach Räumen, in denen wir aktiv sein, handeln, lernen und gestalten können – oftmals mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass uns unsere Gesundheit am Herzen liegt. Denn schlechte Arbeitsbedingungen führen dazu, dass wir uns nicht mehr erholen können, schlecht schlafen und unzufrieden sind.

Von der gestaltenden Kraft der Spiel- und Freiräume

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Über das Grenzmanagement von Organisationen

Organisationen müssen dementsprechend sehr genau und sehr differenziert festlegen, wie ihre Angestellten ihre Arbeitsplätze gestalten dürfen – ein gutes Management ist gefragt. Sie müssen regeln, wie hoch die Freiheit der Mitarbeitenden bezüglich der räumlichen Gestaltung sein soll, wie sie diese technisch ausstatten und welche Spielräume sie den Angestellten einräumen möchten. Leider ist dies oft schlecht organisiert oder überhaupt nicht vereinbart worden. Im täglichen Arbeitsablauf kommt es immer wieder zu kleineren Konflikten, weil z. B. elementare technische Geräte nicht vorhanden sind oder Aufgaben nicht nachvollziehbar organisiert werden. Ziele, Regeln und Ressourcen passen also nicht zueinander. Und auch die expliziten Ziele stimmen nicht mit den informellen Erwartungen überein. Quantitative oder qualitative Überforderungen sind die Folge. 90

Verbote haben Folgen

Mitarbeitende brauchen sogenannte Flexibilisierungsspielräume, um ihre Ideen zu Veränderungen der internen Organisationsstruktur einbringen oder sich verändertes Know-how aneignen zu können. Sie brauchen die Freiheit, sich individuell selbst zu organisieren. Was es ausmacht, selbst Grenzen ziehen zu dürfen

Dazu gehört unweigerlich und vielleicht auch etwas überraschend die Erlaubnis, Verbote aufstellen zu können. Denn in einem an­­gemes­­ senen Rahmen sollten Beschäftigte selbstverständlich dazu ermächtigt sein, Verbote auszusprechen und Regeln zu setzen. Andernfalls könnten Sie ihre Arbeit nicht organisieren. Wie Führungskräfte müssen sie diese in ihrem unmittelbaren Umfeld kommunizieren und einen Konsens herbeiführen. Die Möglichkeit der »Grenzziehung« gehört zur Arbeitsplatzgestaltung dazu und sollte kompetenten und selbständigen Mitarbeitenden nicht verwehrt werden. Wird sie untersagt, kommt es zu permanenten Verletzungen der nicht veröffentlichten Grenzen der Mitarbeitenden. Der Unmut steigt exponentiell an, ist aber lange nicht sichtbar. Eine solche Problematik sollte man nicht ins System einbringen, indem man Mitarbeitenden die hier aufgezeigten Freiheiten verwehrt. Reflexion: Welche Freiräume brauche ich unbedingt, um mich gut in ein System eingliedern zu können? Welche Spielräume kann ich bei anderen zulassen?

Von der gestaltenden Kraft der Spiel- und Freiräume

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Ich will hier raus:  Vom Umgang mit der Angst Eine kurze Einführung in das Thema Emotionen

Bevor wir uns dem Umgang mit der Angst zuwenden, gestatten wir uns einen kurzen Abstecher in das weite Feld der Emotionen. Es gibt Menschen, die sagen: »Emotionen sind die Feinde der Sachlichkeit.« Andere weise Personen meinen, dass sterile Strategien unbrauchbar seien und sie ohne Emotionen nicht könnten. Wie verhält es sich nun mit den Urreaktionen der Menschheit? Brauchbar oder irrational? Hinderlich oder förderlich? Vielleicht sollten wir schnell einen Blick auf die Funktion der Emotionen werfen. Sie sind das unmittelbare Frühwarnsystem für uns und unsere Umwelt. Bevor wir denken, haben sie schon reagiert und sagen uns Dinge wie: »Du empfindest Zuwendung« oder »Du empfindest Ablehnung und bist verärgert«. Gleichzeitig kann unser Gegenüber dieses an der Mimik in unserem Gesicht eindeutig erkennen. Emotionen sind also eine blitzschnelle Kommunikation unseres Gemütszustandes nach innen und nach außen. Wer diese Signale und die darin offenkundigen Informationen für zu vernachlässigen hält, dem ist nicht zu helfen. 92

Verbote haben Folgen

Eine der widrigsten Erscheinungen und Wirkungen von Verboten ist, dass sie Angst auslösen können und leider auch sollen. Durch die von ihnen erzeugte Verunsicherung, die mit der Frage einhergeht, welche Sanktionen bei Missachtung oder Überschreitung des Verbots folgen werden, liegt es auf der Hand, dass Angst als basale Emotion des Menschen bewirkt werden kann. Wie Angst funktioniert und was sie bewirkt

Zunächst ist Angst ein akuter, vorübergehender emotionaler Zustand, der sich leider auch manifestieren kann. Sie ist ein als unangenehm erlebter Erregungs- und Spannungszustand und tritt in Situationen auf, die wir als bedrohlich erleben. Ein äußerst fatales Element der Angst ist es, dass sie stets zukunftsorientiert ist. Sie ist die Erwartung weiterer sehr beschwerlicher Ereignisse und ist somit sehr stressintensiv und höchst anstrengend. Diese beiden Faktoren führen zu einer starken Einschränkung unserer Denkfähigkeit, weil unser Stammhirn uns zur Flucht rät. Ständig suchen wir nach Möglichkeiten, dem angstmachenden Element auszuweichen, es zu vermeiden. Denn schließlich sind Angst und Furcht Schutzemotionen, die unser Überleben sichern wollen.  Vom Umgang mit der Angst

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In sozialen Kontexten führt dies zu sozialer Gehemmtheit, denn niemand geht unbeschwert mit anderen um, wenn Angst im Raum ist. Eher neigen wir zu Sprechangst, umgehen Bewertungen, im Extremfall sogar Bewegungen und neigen stark zu einem Vermeidungsverhalten. Oftmals brechen wir auch Handlungen ab, weil wir uns nicht mehr konzentrieren können und uns stark blockiert fühlen. Nervosität herrscht in uns vor und wir sind aufgeregt und reizbar. Warum das so ist? Wir sind permanent mit der Einschätzung der drohenden Gefahr beschäftigt und versuchen unsere eigenen Ressourcen zu taxieren, um diese zu umgehen oder ihr auszuweichen. Wir sind in einem Alarmzustand, sind sehr aufmerksam. Unser Körper reagiert mit unangenehmen Erregungszuständen wie Anspannung, Nervosität, Unruhe, Zittern, Schwitzen, flauem Magengefühl. Und es kommt hinzu, dass wir sofort Erfahrungen von anderen Angstsituationen präsent haben und daraus die negativen Erkenntnisse nutzen. Angst und Leistung passen nicht zusammen

Angst wirkt sich nur selten leistungsfördernd aus. Nur wenige Menschen können aus ihr Energie ziehen und in den geordneten Widerstand gehen. Flucht, Vermeidung und Unterwerfung sind die normalen und gängigen Reaktionen. Aus diesem Grund sollten Führungspersonen und Organisationen sich gut überlegen, ob sie mit Verboten Angst schüren wollen. Wenn Verängstigung gewollt ist und als Führungsmittel eingesetzt werden soll, muss man sich auch der Konsequenzen bewusst sein. Was auf den ersten Blick als der leichtere Weg erscheint, um seine Ziele zu erreichen, erweist sich auf Dauer unter Umständen als sehr nachteilig. Das Vertrauen geht verloren, die Bereitschaft, sich einem solchem Klima zu entziehen, ist extrem hoch. Und dennoch ist es leider immer noch ein beliebtes, weil so einfaches Mittel. Oft auch eines, das die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Führung selbst ausdrückt. Wer Angst einsetzt, dem fehlen andere kommunikative und strategische Methoden. Oder es handelt sich um die reine Freude am Machtgehabe, sodass jegliche Menschlichkeit und ethisches Reflexionsvermögen untergehen. 94

Verbote haben Folgen

Verbote angstfrei initiieren

Es steht außer Zweifel, dass in jeder Form von Organisation Verbote zur Regulierung des Alltags eingesetzt werden müssen. Aber sie sollten dabei nicht verängstigen. Angst wird dann reduziert, wenn der Mensch das Gefühl bekommt, dass er etwas tun kann. Wenn er sich mit dem Verbot auseinandersetzen kann, Spielräume bekannt und definiert sind und geklärt ist, welche Konsequenzen im Falle einer Überschreitung auf ihn zukommen. Unter diesen Umständen können sich alle Beteiligten auf ein Verbot einstellen und sein schlechtes Image ist insoweit gebannt, als alle wissen, was sie zu erwarten haben. Auf diese Weise wird zumindest der Versuch angestrebt, eine angstfreie Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Reflexion: Was löst bei mir unmittelbar Angst aus? Welche sind meine drei ersten Reaktionen, wenn ich ängstlich bin? Wie begegne ich verängstigten Menschen? Wann konnte ich mich angstfrei auf eine Veränderung einlassen?

 Vom Umgang mit der Angst

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Was steckt wohl dahinter? Die Mausefalle oder die Spekulationen über die Folgen eines Verbots

Ein Verbot ist nicht nur eine Hinderung, sondern auch ein Auslöser für viele Spekulationen. Natürlich fragen sich die Mitarbeitenden eines Systems, warum es ausgesprochen worden ist. Sie sind unsicher, wie ernst sie es nehmen sollten und welchen Sinn es macht. Sie wollen wissen, mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen haben, wenn sie es überschreiten. Über die Angst vor den Konsequenzen

Es gibt Personen im System, denen das Verbot als solches weniger Angst macht als die von ihnen vermuteten Konsequenzen. Das Verbot selbst ist nur der Vorbau, es steckt weit mehr dahinter. Sie vermuten Lüge, Bestrafung, Taktik oder anderes und hegen Misstrauen. Sind diese Mitarbeitenden paranoid? Eher nicht – sie leiden unter Angststörungen. Viele Dinge lösen Ängste in ihnen aus, die andere subjektiv als unbegründet empfinden. Dabei ist das grundsätzliche 96

Verbote haben Folgen

Problem der Angst das Verhältnis, die Beziehung der Person zur Angst. Sinnvollerweise sollte sie sich der Angst direkt stellen. Vermeidung, Tricks, Unterdrückung, Ablenkungen sind nicht funktional. Und die schlechte Nachricht: Keiner wird Angst jemals los. Aber ein guter Umgang mit ihr ist erlernbar. Eine angemessene Reaktion auf beängstigende Situationen und ein friedvolles Leben mit der Angst lassen sich möglicherweise sogar zum eigenen Vorteil nutzen. Im Allgemeinen löst Angst starke Einschränkungen der Lebensqualität und einen hohen Leidensdruck aus. Angstvorstellungen entwickeln sich in der späten Jugend und im Übergang zum frühen Erwachsenenalter. Manchmal haben sie konkrete Gründe, oft aber auch nicht. Sie gehen mit Muskelanspannung, leichter Ermüdbarkeit, Ruhelosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit und Schlafstörungen einher. In besonders schweren Fällen kommt es zu heftigen episodischen Panikattacken. Für andere sind diese Angststörungen rational und auch emotional nicht nachvollziehbar und deshalb isolieren sie die Betroffenen oftmals. Das macht es nicht leichter, denn für die von Ängsten Erschütterten wäre es wunderbar, wenn andere nicht den Gegenstand der Angst mit ihnen diskutierten, sondern die Tatsache ihrer Angst wahrnähmen und sie nicht allein ließen. Angstvolle Skepsis strategisch umlenken

Lösen neue Blockaden und Verbote in der Organisation unverhält­ nismäßige Angstzustände aus, gibt es nur eine echte Strategie. Sprechen Sie miteinander und lassen Sie sich als Vorgesetzter oder Vorgesetzte erzählen, worin die Angst besteht. Nehmen Sie ihr Gegenüber unbedingt ernst. Stellen Sie Vertrauen her und seien Sie transparent. Wenn Sie können, dann räumen Sie Ängste aus. Entwickeln Sie gemeinsam Bewältigungsstrategien und individuelle Kompetenzen zur Problemlösung. Dies kann zu einer systematischen Desensibilisierung führen. Entwickeln Sie bildliche Vorstellungen und sprachliche Artikulationen. So generieren Sie gemeinsam neue Erfahrungen und es kommt zu einer Aufmerksamkeitsumlenkung. Als Führungskraft können Sie das alles natürlich auch als Unsinn abtun und nicht weiter ernst nehmen. Dann müssen Sie bloß damit Spekulationen über die Folgen eines Verbots

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leben, dass Sie stark verängstigte Personen in Ihrem Umfeld haben. Sollten sich jedoch deren Ängste durch die eingeführten Verbote bestätigen und das auch noch mehrfach, dann haben Sie »Propheten« im System, die man sehr ernst nehmen wird. In Hinblick auf die Emotion Angst und ihre Varianten lässt sich mit Sicherheit festhalten, dass Verbote und Blockaden immer auch diese Emotion auslösen. Damit haben wir stets als eine der ersten Wirkungen eine der schlechtesten Erregungen bewirkt, die wir uns wünschen können. Als unmittelbare Folge gilt es, die von einem Verbot Betroffenen »über den Rubikon zu führen«, sodass sie wieder in eine angstfreie Zukunft schauen und diesen Blick verinnerlichen können. Reflexion: Wann fange ich an, über die Konsequenzen und Folgen von Verboten besorgt zu sein? Ist es mir möglich, auch positive Szenarien zu entwerfen? Wo ist es mir schon einmal gelungen, die angstvolle Skepsis einer anderen Person umzulenken?

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Verbote haben Folgen

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Gleich knallt’s oder das geht nicht gut aus: Über die Wut und den Ärger, den Verbote auslösen können

Menschen geraten völlig unsachlich in einen Rausch der Wut und machen aus ihrem Ärger keinen Hehl. Eine Neigung zum Ärger zählt zu den sozial universellen Emotionen und ist verwandt mit Zorn. Sie tritt sowohl als Zustand als auch Disposition auf und ist ein potenzieller Auslöser für Aggression und Gewalt sowie destruktiven Ärger. Erkennbar ist sie unmittelbar an ihrer Mimik. Sie beruht auf der Einschätzung oder Bewertung von Situationen und macht Personen für ihr Verhalten verantwortlich. Merkmale und Auslöser von Wut und Ärger

Typische Merkmale von Ärger sind Hyperaktivität, motorische Unruhe, Kontrollverlust, Anspannung, Stärke und Macht sowie eine starke Gewaltbereitschaft. In konfliktträchtigen Situationen bewirken sie Abgrenzung und Energetisierung. Manchmal richtet sich der Ärger auch gegen die eigene Person und die eigenen Über die Wut und den Ärger

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als dysfunktional empfundenen Komponenten. Meist jedoch soll er eine interpersonale Beziehung regulieren. Zudem ist Ärger eine ungemein schnelle Emotion mit unberechenbaren Folgen. Man sollte nicht vernachlässigen, dass es sich bei Ärger eigentlich um eine Notfallreaktion des sympathischen Nervensystems handelt, die den Körper für direkte Reaktionen aktiviert. Auslöser für Ärger sind Frustrationen im Sinne von Handlungsoder Zielblockaden. Verbote stehen als »Erreger« also hoch im Kurs, weil sie Bedürfnissen und Motiven in der Regel massiv entgegenstehen. Werden das Selbst oder die eigene Persönlichkeitssphäre dann noch verletzt oder ein Verbot als Regelverstoß wahrgenommen, steht Krach unmittelbar bevor. Leider treten Wut und Ärger in immensen Formen wie physischen und verbalen Angriffen, Provokationen, überzogener Kritik, Beleidigung und Herabwürdigung auf. Was meist lediglich zur Schwächung der eigenen Position führt und dadurch den Ärger nur verstärkt. Ein schlimmer Kreislauf des Hochschaukelns wird in Gang gesetzt. Im Allgemeinen tendieren Männer dazu, ihren Ärger offener auszudrücken als Frauen, die eher dazu neigen, ihn zu unterdrücken und in sich selbst zu verarbeiten. Was tun, wenn mir Wut begegnet?

Um den ausgelösten Ärger zu bewältigen, sollte man auf gar keinen Fall selbst in einen Wutausbruch geraten, ebenso ineffektiv ist es, sich zu unterwerfen. Konstruktiv ist es, wenn man seine Aufmerksamkeit von der Quelle des Ärgers weglenkt und ein klares Feedback gibt. Dies schafft Distanz. Der Königsweg beinhaltet zudem eine gute Prise Humor. Wobei man diese so gut platzieren muss, dass sich der oder die Verärgerte nicht auf den Arm genommen fühlt. Da sind gutes Timing und viel Empathie empfehlenswert. Wenn möglich, sollte man anbieten, den Anlass für den Ärger zu beseitigen. Für Führungspersonen in Organisationen ist das Ausmaß an Ärger übrigens ein guter Indikator für die Bedeutung eines Verbots. Obwohl wir uns über den Wutausbruch einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters ärgern, diesen unangemessen finden und uns eigentlich verbitten, zeigt er uns dennoch, dass wir mit dem Ver100

Verbote haben Folgen

bot einen Nerv getroffen haben. Wollten wir das erreichen? Dann ist es okay. Überrascht es uns, sollten wir das Verbot schnell noch einmal überdenken. Reflexion: Wann kocht der Ärger in mir hoch? Welche Möglichkeiten habe ich, um meine Wut zu regulieren? Wie reagiere ich, wenn mir Personen wütend begegnen?

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Hilfe, ich ertrinke:  Vom Umgang mit Intrigen und anderen psychologischen Spielen

Hier betreten wir ein sehr unsicheres Terrain. Bereits 1969 hat Eric Burn mit seinem Buch »Spiele der Erwachsenen« die Spielebene in Kommunikationsabläufen beschrieben. Rainer Sachse hat dies wieder aufgenommen. Unsicher ist dieses Terrain deshalb, weil wir alle diese Spielstrukturen kennen, aber ungern darüber sprechen. Wagen wir also einen Streifzug durch die Spielekiste unserer Psyche. Das »Armes-Schwein-Spiel«: Wer übernimmt Verantwortung?

Manche Menschen schreien Zeter und Mordio, führen einen regelrechten Affentanz auf, wenn sie einem Zugangsverbot begegnen. Dann geht nichts mehr. »Ich muss aber unbedingt hier durch«, denken sie. Oder: »Wenn ich das nicht tun darf, geht alles den Bach runter!« Und schon springen eilfertige Helferlein zur Seite. Sie trösten, suchen Lösungen oder sagen: »Ach, lass’ mal, ich mache das für dich.« 102

Verbote haben Folgen

Halten Sie den Autoren nicht für hartherzig, aber an einem Zu­­ gangsverbot ist noch nie jemand ertrunken! Bei Menschen, die zum dramatischen Stil neigen, löst ein Verbot den »Armes-SchweinReflex« aus. Sie stellen sich als leidend und massiv beeinträchtigt dar. In ihrer Vorstellung sind sie hilflos und den Symptomen gnadenlos ausgeliefert. Sie sind auf die Hilfe anderer angewiesen. Sie haben das Selbstimage: »Mir geht es total schlecht. Das ist nicht zu ertragen und schon gar nicht zu tolerieren. Und das Schlimmste ist, dass ich nichts dagegen tun kann.« Parallel dazu senden sie ihre Appelle aus: »Tue du etwas!« Ganz nach dem Motto: »Man würde ja gern etwas dagegen tun, aber man kann einfach nicht.« Sie sind dringend darauf angewiesen, dass eine andere Person ihnen hilft, Verantwortung übernimmt, Belastungen abbaut usw. Hier noch einige beliebte Varianten:

Vom Umgang mit Intrigen

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Das »Armes-Schwein-Spiel« ist eines der wichtigsten und weitverbreitetsten psychologischen Spiele. Es appelliert an den Hilfsreflex gutmütiger, prosozialer Menschen, es nutzt sie aber auch aus. Kaum jemand spricht offen über diese »Taktik«, denn wer will schon als hart gelten, weil er oder sie das Bedürfnis nach Hilfe in Zweifel zieht? Wer das »Armes-Schwein-Spiel« leugnet, tut es unter anderem auch, weil er oder sie es selbst gut spielt und es schützen möchte. Oft wird es auch von Personen mit einem extremen Hilfs- oder Retterkomplex abgestritten. Sie brauchen Menschen, die es spielen, denn diesen können sie helfen und somit haben sie eine besondere soziale Funktion. Andere Spielvarianten

Psychologische Spiele gehören zu unserem Alltag. Sie werden selten entlarvt, aber wir alle kennen den Gedanken: »Jetzt geht das wieder los!« Ein recht ähnliches Spiel ist das »Blöd-Spiel«. Die Beteiligten streben an, sich als dumm, unbeholfen und unfähig darzustellen, was oftmals ermöglicht, unangenehme Aufgaben an andere abzuschieben. Mit viel Glück gelingt es sogar, dem Interaktionspartner oder der -partnerin ein Gefühl der Wichtigkeit zu vermitteln, sodass das Gegenüber die Aufgabe gern übernimmt. Ein letztes Spiel, das ebenfalls in die »Opfer-Kategorie« gehört, ist das »Opfer der Umstände oder anderer Personen-Spiel«: »Ich bin schwach und hilflos, tue niemanden etwas, bin friedlich, aber andere tun mir etwas an, mobben mich, verbieten mir Dinge. Sie werten mich ab und ich kann nichts dafür und mich nicht dagegen wehren. Ich brauche dringend Solidarität.« Ganz anderer Natur ist das »Mords-Molly-Spiel«: »Ich bin so toll, unschlagbar. Ich habe alles im Griff und behalte immer den Überblick. Was kann mir schon ein Verbot anhaben und wenn ich es übertrete, mir kann nichts passieren. Jemanden wie mich wird man nicht sanktionieren. Bewundert mich, wie ich damit umgehe.« Ist man nicht in der Position einer Führungskraft, kann dieses Verhalten ungemein danebengehen. Im schlimmsten Fall findet man sich plötzlich mit einer empfindlichen Zurechtweisung oder gar einer Abmahnung auf dem Flur wieder. 104

Verbote haben Folgen

Sehr beliebt ist auch das »Ich kann nichts dafür-Spiel«: Die Spielenden erklären, warum sie ein Verbot nun einführen und durchsetzen müssen. Sie verkaufen sich als die Boten, andere haben schließlich die Entscheidung getroffen. Leider ist es oft so, dass diese Aussagen nicht der Wahrheit entsprechen. Nicht zu unterschätzen ist das »Moses-Spiel« – eine ganz beson­ dere Spielform, die häufig in Verbindung mit Verboten auftritt: »Ich darf das Verbot vermitteln, denn ich habe es aus erster Hand. Ich bin der Hüter des Verbots, ich kenne mich mit den Regeln aus, folgen Sie mir und stellen Sie mich nicht infrage.« In jedem System gibt es Menschen, die ihren Selbstwert daraus beziehen, dass sie ein Verbot verkündigen dürfen. Für mich wurde das in der Corona-Krise an vielen Stellen sehr deutlich. Intrigen: Ein Angriff auf Organisationskulturen

Über die Spiele hinaus verursachen Verbote oftmals ein Netz von Intrigen, von Mutmaßungen darüber, wer wohl durch sein oder ihr Verhalten das Verbot verschuldet hat, bis hin zu den kollegialen »Nettigkeiten«, die dazu führen, dass man sich gegenseitig zum Verbotsübertritt animiert. Im Hin und Her von Akzeptanz und Widerspruch entsteht ein weites Feld an Möglichkeiten für Ränkespiele, Schiebungen und andere Machenschaften. Bis zu einem gewissen Level kommen diese in allen sozialen Systemen vor. Es gilt nur, sorgfältig darauf zu achten, dass Verbote und Blockaden diese nicht verstärken und die Kultur des Systems langfristig negativ verändern. Eine besondere Form der Unkultur schauen wir uns als Nächstes an. Reflexion: Welche psychologischen Spiele sind mir bekannt und welche kann ich eindeutig erkennen? Zu welchen Spielen neige ich selbst? Welche Strategien habe ich, wenn Personen mich mit psychologischen Spielen für sich einnehmen wollen? Wie reagiere ich auf eine echte Intrige?

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Hast du schon gehört? Wie die Gerüchteküche in Organisationen funktioniert

Verbote sind geradezu dafür prädestiniert, zu Gerüchten zu werden. Schnell verbreitet sich die Nachricht über das »neue« Verbot und nimmt die klassische Form eines Gerüchtes an. Der Inhalt wird kürzer, weniger detailliert und komplex, bestimmte Aspekte werden selektiv betont und übertrieben. Zudem tritt eine Assimilation ein, das heißt, dass das Gerücht in Einklang mit existierenden Vorurteilen und Interessen gebracht und verzerrt wird. Ob und wie wir solche Informationen verbreiten, hängt vom Ausmaß der Angst der Zuhörerinnen und Zuhörer sowie der im System etablierten Kultur ab. Dazu kommt, dass negative Gerüchte die positiven überschatten. Sie können gezielt lanciert werden, um Reaktionen zu erzwingen. Ständige Gerüchte können das Vertrauen in die offizielle Kommunikation abbauen.

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Kaffeetratsch und Flurfunk: Wie ein Gerücht entsteht

Man kann die »Gerüchteküche« auch als einen Ort kontrafaktischen Denkens bezeichnen. Den Startschuss dafür gibt ein tatsächliches Geschehen. Dazu wird eine fiktive Vorstellungswelt konstruiert, in der Aspekte des Vorgangs verändert und die sich daraus ergebenden Konsequenzen durchgespielt werden. In der Regel wird dadurch alles nur verschlimmert und erhält eine gehörige Portion an Dramatik.

Wer die Gerüchte kennt, kann frühzeitig für Transparenz sorgen

Aber Gerüchte sollten nicht nur hinsichtlich ihrer negativen Aspekte und Ziele betrachtet werden. Eigentlich sind sie ein Frühwarnsystem. Sie wollen sensibilisieren, um künftig ähnliche Geschehnisse durch früheres Erkennen zu vermeiden. Darum übertreiben sie, stellen die vermeintlichen Gefahren extrem heraus und versuchen ein Stimmungsbild gegen den Sachverhalt oder gegen Personen zu erzeugen. Ihr Image ist berechtigterweise sehr schlecht, sie gelten als intrigant. Wie gesagt, Gerüchte verschlechtern die Kommunikation extrem. Es zählt auch hier die Erkenntnis, dass die unreflektierte, schlecht kommunizierte und nicht konsensfähige Einführung von Wie die Gerüchteküche in Organisationen funktioniert

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Verboten äußerst prekäre Situationen schaffen kann, die nur schlecht wieder einzufangen sind, besonders, wenn erst einmal die Töpfe der Gerüchte auf dem Herd stehen. Reflexion: Wann beteilige ich mich an der Gerüchteküche? Wann haben Gerüchte ihren Vorteil und Nutzen? Wie begegne ich in der Regel Personen, die mir ein Gerücht zutragen wollen?

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Verbote haben Folgen

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Das gehe ich direkt an: Das Rösselsprungphänomen oder wie sich das  Aufschieben von Problemen gestalten lässt

Kommen wir zu einer anderen, durchaus gravierenden Wirkung von Verboten. »Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt!« (EG 394). Mit diesem Vers aus einem Kirchenlied von August Hermann Francke wird treffend zum Ausdruck gebracht, wie wir uns effizientes Arbeiten und einen tatkräftigen Umgang mit Blockaden vorstellen. Konsequent an die Sache herangehen, sie ansprechen, sie zum Thema machen, den Unmut und die Nachteile benennen. Eben geradeheraus, zielorientiert und handlungsbewusst. Nun fällt aber genau diese Geradlinigkeit vielen schwer und oftmals können wir das Rösselsprungphänomen in Organisationen beobachten. Es ist benannt nach der Bewegungsweise der Springer im Schachspiel. Sie bewegen sich niemals geradeaus, sondern stets mit einem Wechsel der Linie. Das Phänomen beschreibt, wie Menschen in unseren Systemen eben nicht zielstrebig und geradeheraus Entscheidungen anstreben oder Wege gehen. Zwanghaft brauchen sie einen »Knick« im Weg und können nur über Umwege an das Das Rösselsprungphänomen

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angestrebte Ziel oder Ergebnis herankommen. Sie steuern das Ziel quasi über Eck an und legen dabei eine bedeutend weitere Wegstrecke zurück als nötig. Versuchen Sie doch einmal, mit einem Pferd auf einem Schachbrett ein bestimmtes Feld zu erreichen. Sie werden verwundert sein, wie lange es dauert und wie viele Züge sie brauchen, bis es ihnen gelingt. Was sind die Motive, solch komplizierte Wege einzuschlagen? Über den taktischen Sinn von Umwegen

Zum einen ermöglicht der Rösselsprung, dass wir ein Ziel umkreisen können. Wir nähern uns an, können es von allen Seiten betrachten, haben stets die Option des Rückzuges, halten ausreichend Distanz ohne verdächtig zu werden und wissen, wenn wir wollen, dann können wir auf dem Punkt landen und unser Anliegen vorbringen. Der Rösselsprung ist außerdem eine gute Verzögerungstaktik: Ich erkläre mir selbst oder anderen, dass ich das Verbot oder die Blockade als empörend empfinde und mich unmittelbar auf den Weg mache, dagegen vorzugehen. Aber der Weg ist lang. Bevor ich das Zimmer des Verursachers erreiche, halte ich mich im Kopierraum oder im Büro einer Kollegin auf. Dann ist Mittagszeit und ich begebe mich in die Kantine. Bevor ich mich erneut auf den Weg mache, erledige ich ein paar dringende Dinge an meinem Arbeitsplatz. Jetzt muss ich mein Vorhaben auf morgen verschieben, denn für ein konstruktives Gespräch ist bis zum Feierabend nicht mehr genügend Zeit. Vom Vorteil des indirekten Weges

Nachdem wir nun zwei Vermeidungstaktiken des Rösselsprungs beschrieben haben, sollten wir noch auf einen seiner wesentlichen Vorteile hinweisen. Mithilfe des Rösselsprungs kann man exzellent Hindernissen ausweichen und sich dennoch einem Ziel nähern. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus, vermeidet die direkte Konfrontation und kommt dennoch dazu, das Wesentliche zur Sprache zu bringen. Obwohl es eher wie eine Verhinderungsstrategie wirkt, ist das Rösselsprungphänomen auch sehr effektiv, wenn es konsequent und 110

Verbote haben Folgen

zielstrebig eingesetzt wird. Es ermöglicht ein besonnenes Vorgehen, verschafft Zeit zum Überlegen und ermöglicht ein gutes Timing. Aufmerksame Gegenüber nehmen bereits wahr, dass es zu einer Begegnung kommen wird und können sich darauf vorbereiten und fühlen sich nicht überfallen. Zum konstruktiven Umgang mit Blockaden und Verboten eine durchaus verwendbare Taktik, wenn sie von dem festen Willen geleitet ist, dass es irgendwann doch noch zu einem Gespräch kommt. Reflexion: In welchen Momenten neige ich dazu, Dinge aufzuschieben? Wann macht es Sinn, einen Umweg zu gehen? Wann habe ich mich auf meinen Umwegen verlaufen?

Das Rösselsprungphänomen

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Kann ich dich noch lieben? Über Treue, Nachfolge und Bindungen in Organisationen

Verbote stellen eine wesentliche Komponente unseres sozialen Um­­ gangs infrage, nämlich die besondere Form der sozialen Bezie­hung, die Bindung. Denn diese zeichnet sich durch emotionale Sicherheit und Vertrauen aus. Verbote sind zum Aufbau von Bindung äußerst kontraproduktiv, denn sie drücken Misstrauen und Unsicherheit aus. Der hohe Wert von Bindung am Arbeitsplatz

Nun ist der Arbeitsplatz nicht unbedingt ein Ort für Gefühlsbezie­ hungen, wobei diese auch hier nicht unterschätzt werden dürfen. Zumindest positive oder negative Bewertungen von Personen oder Objekten sind auch in der Arbeitswelt allgegenwärtig und hilfreich. Vorherrschend aber ist die sogenannte Einheitsbeziehung, die den Zustand der Zusammengehörigkeit beschreibt. Auch in beruflichen Kontexten wünschen wir uns sichere Bindungen sehr. Ihnen ist zu eigen, dass wir auch als Erwachsene keine 112

Verbote haben Folgen

Angst vor Nähe haben oder die Sorge, vom beruflichen Partner oder der Partnerin im Stich gelassen zu werden. Wir möchten einen vertrauensvollen Umgang pflegen, suchen Unterstützung, haben länger andauernde Beziehungen und konstruktive Konfliktlösungsstrategien. Wir brauchen das Gefühl, beschützenswert zu sein. Dann haben wir auch im Beruf die höchste Beziehungsqualität. Ganz anders verhalten wir uns in unsicheren, vermeidenden Bindungen. Wir verzichten auf Nähe, weil wir Unabhängigkeit bevorzugen, lösen Probleme allein, haben eine geringe Bereitschaft, Verbindlichkeit herzustellen, unser Bindungssystem ist nur schwer aktivierbar. Eher sind wir ängstlich unterwegs und gehen Beziehungen aus dem Weg, weil wir Angst vor Enttäuschung haben. Obwohl wir uns grundsätzlich soziale Kontakte wünschen, haben wir aus Erfahrung ein mangelndes Vertrauen und Angst vor einem Dämpfer, wir sind misstrauisch. Wie Verbote Arbeitsbeziehungen beeinflussen

Verbote sorgen dafür, dass wir die Bindungen rationalisieren. Wir gehen also kognitive Beziehungen ein, die durch reines Kalkül zustande kommen und eine ausschließlich positive Austauschbeziehung beinhalten. Diese Bindungen beruhen auf einem »Arbeitsverhältnis«, das rechtlich konstituiert ist. Man kann auch von normativen Bindungen sprechen. Wir vermeiden persönliche Dinge, ziehen uns aus allem zurück, was private Anteile hat (Feiern, Betriebsausflüge). Ständig berechnen wir den Nutzen und die Kosten, wägen unsere sozialen Investitionen ab und wählen dann die Distanz als Alternative. Wann immer es ein Problem gibt, fragen wir nach »Law and Order«. Wir akzeptieren auf der normativen Ebene die Organisationswerte sowie die Verpflichtungen der Mitarbeitenden bezüglich der erwarteten ethischen und moralischen Werte. Eine Bindung mit emotionalen Anteilen werden die einzelnen Mitarbeitenden nur haben, wenn, aus welchen Gründen auch immer, die Organisation eine große persönliche Bedeutung für sie hat und sie der Organisation unbedingt angehören wollen. Diese Geltung der Organisation ist die Grundlage der Beziehung, wird sie belastet oder zerstört, verweilt der oder die Mitarbeitende völlig bindungslos Über Treue, Nachfolge und Bindungen in Organisationen

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im System und wird es alsbald verlassen. Kann er oder sie das aus wirtschaftlichen Gründen nicht, dann wird die Arbeitsbeziehung zu einem zähen innerlichen Kampf, der in der Regel psychosomatische Folgen mit sich bringt. In sogenannten konstruierten Beziehungen, zu denen Arbeitsverhältnisse nun einmal zählen, gehen alle Beteiligten Bindungen mit Zurückhaltung ein. Es wird kein bedingungsloses Vertrauen und keine vollherzigen emotionsbasierten Beziehungen geben können. Jedoch sollten sich Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen überlegen, inwiefern sie in ihren Systemen Zuversicht und Zutrauen stärken. Ein Weg ist sicherlich, dass man mit Verboten sehr reduziert umgeht. Ganz zu vermeiden sind willkürlich aus einer Emotion ­heraus erlassene Verbote. Und wenn es unvermeidbar erscheint, ein solches zu auszusprechen, sollte man es mit den Beteiligten kommunizieren und gemeinsam vereinbaren, sodass es zu einem Einverständnis kommt. Reflexion: Welche Bindungen gehe ich in Arbeitskontexten ein? Wie sehr brauche ich das Gefühl, »verbunden« zu sein? Wann kann ich auf Bindungen verzichten?

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Verbote haben Folgen

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Das nehme ich persönlich:  Wie das Gefühl der Untreue Bindungen infrage stellt

Obwohl Arbeitsverhältnisse zu den gestalteten Beziehungen ge­­ hören, sind sie nicht frei von Emotionen. Im täglichen Umgang des Personals bauen sich Vertrauen, Verlässlichkeit, Respekt sowie Konkurrenz, Ablehnung und andere beziehungsrelevante Motive auf. Bindungen im Berufsleben

Ist die Bindung im Allgemeinen verlässlich und gut und wird sie dann durch ein oder mehrere Verbote beschwert, bleibt es nicht aus, dass die daraufhin ausgelösten Reaktionen emotional gesteuert werden. Je besser und persönlicher die Beziehung war, desto heftiger fallen die Erschütterungen aus. Oft steht plötzlich das Gefühl der Untreue im Raum. Das Empfinden eines »Quasi-Vertragsbruchs«, der den Fortbestand der Beziehung gefährdet. Die Unzufriedenheit steigt sprunghaft an, das Wie das Gefühl der Untreue Bindungen infrage stellt

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Commitment sinkt rapide und die Bereitschaft sich zu engagieren, fällt ins Unermessliche. Arbeitsbeziehungen vertrauensvoll gestalten

Nun steht reichlich Arbeit an, will man die Beziehung wieder kitten. Denn die Reaktionen auf die vermeintliche Untreue können heftig sein. Eifersucht, Aggression, Rache an Kollegen und Konkurrentinnen, verstärkte Kontrolle und Überwachung oder eine Trennung stehen an. Leider geht die Verlustbearbeitung oftmals mit einer Depression einher.

Ist ein solches Klima des gefühlten Treuebruchs erst einmal entstanden, ist dieser nicht durch Sachlichkeit und Reflexion wieder umkehrbar. Liegt der Organisation an den betroffenen Mitarbei­ tenden, sollte sie die emotionale Ebene realisieren und akzeptieren. Vertrauen gezielt aufbauen, Fehler einräumen, um Vergebung bitten und Verzeihen sind hier nötig. Nur so lässt sich ein für die Zukunft tragfähiges Vertrauensverhältnis schaffen. Reflexion: Welche Formen der »Untreue« kann ich tolerieren? Was brauche ich, um wieder Vertrauen aufbauen zu können, wenn dieses infrage gestellt ist? Wie bauen andere Vertrauen zu mir wieder auf, wenn sie mir etwas persönlich nehmen?

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Verbote haben Folgen

Zusammenfassung des dritten Teils In ihrem Buch »Die süße Einsamkeit« sagt Irène Némirovsky sehr treffend, dass der Mensch ein »Minimum an Luft zum Atmen« braucht und »Illusion, um Leben zu können« (2012, S. 260). In einem gewissen Maß sind das Grundbedingungen, um sich in sozialen Kontexten gut zurechtzufinden und etablieren zu können. Verbote und Blockaden sind beschneidende Eingriffe in das soziale Umfeld. Sie setzen nicht nur markante Zeichen, sie bewirken diverse, zum Teil nachhaltige und gravierende Veränderungen in Systemen. Bindungsverlust als Folge inakzeptabler Verbote

Tangieren Verbote das Bindungsverständnis von Personen, ist das Gefühl des Bindungsverlustes nur ein Aspekt. Mit diesem können sich Menschen insofern erst einmal arrangieren, als sie dann die Beziehung neu in sich konstituieren. Gelingt ihnen das nicht, beenden sie diese. Ist ein Beenden nicht möglich, nehmen sie eine sehr schwierige und kaum korrigierbare Haltung ein – sie gehen in die innere Emigration. Ist dieser Zustand erst einmal erreicht, ist die Beziehung beinahe irreparabel zerstört: Ich bin noch da, ich mache, was ich zu tun habe, aber mein gesamtes Inneres ist nicht mehr anwesend. Ich beginne und ich gehe pünktlich, ich lasse mir nichts zuschulden kom­ men. Du bekommst meinen Dienst, aber mein Herz ist verschlossen. Viele große Stahlunternehmen im Ruhrgebiet haben genau diesen Zustand bei ihren Mitarbeitenden erlebt, als die Gründerfamilien ihre Anteile an große Unternehmen aus dem Ausland verkauft und diese sogleich eine neue Ordnung eingeführt haben. Burn-out und Bore-out als systembedingte Konsequenzen

Wenden wir uns einer anderen, nicht weniger schwerwiegenden Folge von Verboten zu. Wie erwähnt, lösen diese Ängste aus. Das hat zur Folge, dass in unserem Körper Stresshormone freigesetzt werden. Das ist nicht weiter schlimm, wenn die beängstigende Situation aufgelöst und die Hormone auch wieder abgebaut werden. Bleibt die Zusammenfassung

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Angst aber bestehen und wird zu einem Dauerzustand, befindet sich der Körper permanent in einer Stresssituation. Das überfordert ihn, die Folge ist ein Burn-out. Dies kann nicht nur nicht gewollt sein, es ist auch ungemein teuer für das System, egal, ob es privat ist oder ein Unternehmen. Eine andere Variante ist der sogenannte Bore-out. Von der Symp­ to­matik her ist er dem Burn-out sehr ähnlich – völlige Erschöpfung tritt ein. Die Ursache ist nur eine andere, denn der Stress ist nicht durch Angst oder Überlastung ausgelöst, sondern durch Langeweile: Die Blockaden und Verbote haben mich quasi beschäftigungs­ los gemacht. Ich habe nur noch einen Bruchteil der bisherigen Arbeit. Mein Stress entsteht jetzt dadurch, dass ich diesen Umstand verbergen muss. Ständig habe ich damit zu tun, mich geschäftig und beschäftigt zu zeigen. Ich muss meine Arbeit so einteilen, dass ich sie über den Tag strecke. Ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht, das ist ein extremer Stress und die Folgen sind ungemein schwerwiegend. Auch das ist ein Grund, warum beim Einsatz von Verboten, die ja immer mit einer Hinderung einhergehen, überprüft werden muss, ob trotzdem genügend zu tun ist. Es bleibt: Verbote bewirken etwas, prüfe die Folgen!

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Verbote haben Folgen

Teil 4 Verbote brauchen Bedingungen: Ein Blick auf den Rahmen oder wie Interaktion gelingt

»Wir können heute noch nicht sagen, was einst als ernst und wichtig oder als närrisch erscheinen wird.« Mit dieser bis heute gültigen Erkenntnis lässt sich in etwa aus Anton Tschechows Theaterstück »Die drei Schwestern« zitieren. Vorhersagen sind ein schwieriges Metier. Prognosen wirken solider und Stochastiken erwecken aufgrund ihrer Berechnungen den Eindruck von Validität, sind aber auch nur Wahrscheinlichkeiten. Ob im Großen oder Kleinen, wir wissen ja noch nicht einmal, was wir gesagt haben, bevor wir nicht gehört haben, was unser Gegenüber verstanden hat. Folglich haben wir nicht den Hauch einer Ahnung, was ein Verbot in einem sozialen System bewirken oder anrichten kann. Darum sollte es nicht beliebig sein, wem es in die Verantwortung gegeben wird, Verbote auszusprechen. Die dazu berechtigten Personen brauchen das Vertrauen und die Autorität qua Amt oder Position. Sie benötigen einen konstruierten Rahmen, der ihnen das Aussprechen von Verboten organisatorisch erlaubt. Es verlangt eine hohe Gewissenhaftigkeit und Reflexion, zu dieser massiven Intervention zu greifen und sie nachvollziehbar zu gestalten. Leider greifen wir immer wieder zu diesem Mittel, weil uns andere fehlen und wir darauf hoffen, dass ein Verbot schon seine – wenn auch unvorhersehbare – Wirkung entfalten wird. Ein Blick auf den Rahmen

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Das macht alles viel schwerer: Das Atlas-Phänomen und seine Auswirkungen

Kein Zugang und ein Verbot – das löst Umstände aus, die als Lasten empfunden werden. In den griechischen Sagen wird Atlas als Strafe von Zeus die Last des Himmelgewölbes aufgebürdet. Auch in unseren Organisationen treffen wir auf Erscheinungsformen, die ich Atlas-Phänomen nenne. Die individuelle und die systemische Variante

Dieses Phänomen begegnet uns in vielschichtiger Form. Individuell: Einzelne im System signalisieren, dass sie die ganze Last der Arbeit, der Entscheidungen, der Verantwortung, der Finanzen etc. tragen. Dann komplex: Teams verstehen sich als das ganze tragende Element: Wenn wir nicht funktionieren, dann läuft hier gar nichts, dann bricht hier alles zusammen, dann stehen hier die Räder still.

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Verbote brauchen Bedingungen

Delegation als Mittel, die Lasten auf geeignete Schultern zu verteilen

Was können wir also tun, um mit der Last umzugehen? Zum einen gilt es zu prüfen, ob wir wirklich eine zentrale Position innehaben. Manchmal überschätzen wir uns und denken, wir stemmen den ganzen Laden. Die anderen tragen die Noten, wir aber das Klavier. Sollte es tatsächlich so sein, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Möglichkeiten der Delegation zu nutzen. Nur leider geben wir nicht gern etwas aus der Hand. Also ist die nächste Aufgabe, dass wir unseren Widerstand gegen das Delegieren abbauen und dazu müssen wir Vertrauensmaßnahmen zu anderen und Verantwortungsbewusstsein bei anderen entwickeln. Das wird nicht einfach, denn wir müssen auch mit dem Verlust unserer tragenden Rolle rechnen. Das wird uns schwerfallen, der Gewinn an Lebens- und Arbeitsqualität aber wird überwiegen. Wen können wir auswählen und wer darf Sanktionen, Verbote und Blockaden aussprechen? Reflexion: Welche Lasten werden mir zu viel? Welchen »Vorteil« hat es für mich, eine Last allein zu tragen? Wann möchte ich meine Lasten ablegen?

Das Atlas-Phänomen und seine Auswirkungen

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Alle mal herhören: Sanktionen, Regeln und Verbote erregen Aufmerksamkeit

Eines ist unbestritten: Verbote erregen Aufmerksamkeit und wir brauchen sie. Denn sie setzen Grenzen und diese wiederum sollte man aufmerksam wahrnehmen und einhalten. Somit regen Verbote zwei Arten von Aufmerksamkeit an: die willentliche, endogene, die sowohl strategisch als auch zielorientiert ist und die von Reizen gesteuerte, reflexive und exogene.

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Verbote brauchen Bedingungen

Im Bann der Verbote

Darüber hinaus veranlassen Verbote uns dazu, in einen Zustand der gesteigerten Wachheit oder Anspannung zu treten. Dabei werden unser Wahrnehmen, Denken und Handeln auf den Gegenstand der Aufmerksamkeit, nämlich das Verbot, reduziert. Nimmt uns das Verbot sehr in Beschlag, dauert es lange, bis die Kapazität unserer Aufmerksamkeit wieder steigt und wir in der Lage sind, auch andere Dinge wahrzunehmen. Je nach Intensität kann es zu einer starken Fokussierung der Aufmerksamkeit kommen, die so exklusiv ist, dass alles andere zur Nebensache verkommt. Das liegt daran, dass Personen keine Kontrolle darüber haben, wem oder was sie ihre Aufmerksamkeit zuweisen.

Also stellt sich die Frage: Wann gewinnt etwas unsere Beachtung? Vornehmlich bei persönlichem Interesse oder Priorität. »Um Inte­ resse bei einer betrachtenden Person zu erwecken, sind zwei Zutaten nötig: Eine, die ihr bekannt genug vorkommt, um verständlich zu sein, und eine, die ihr so unbekannt ist, dass sie ausreicht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen« (frei zitiert nach Cusanit, 2019, S. 266). Was läuft in uns ab, wenn wir nur noch auf das eine fokussiert sind?

Und was passiert in bestimmten Lebensphasen mit uns, wenn gerade etwas besonders negativ hervorsticht oder durch besondere Umstände in den Fokus des Interesses rückt? Die Hauptfunktion von Aufmerksamkeit ist im Wesentlichen die Signalentdeckung, damit wir wachsam sind und uns nicht entgeht, was für uns wichtig und relevant ist. Es kommt zu einer Konzentration, einer leistungsSanktionen, Regeln und Verbote erregen Aufmerksamkeit

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bezogenen, kontinuierlichen und fokussierenden Reizselektion. Damit geht eine Abschirmung gegenüber irrelevanten Stimuli einher. Die Aktivität der sensorischen Netzwerke wird organisiert, wir befinden uns in einem Zustand intensiver und konzentrierter, aber auch höchst selektiver Wahrnehmung. So fokussiert die Aufmerksamkeit bündeln, ist eine begrenzte Ressource, denn diese willentliche Steuerung ist auch ein Akt von Ein- und Ausblendung von Informationen. Das sollte nicht allzu lange anhalten, denn wir reduzieren die Komplexität erheblich und verlieren in einer solchen extre­men Fokussierung auch die Fähigkeit zur Kreativität. Aufmerksamkeit kann man steuern

Darum muss man sich gut überlegen, wie ein Verbot implementiert werden soll. Denn eine so starke Intervention wird die Aufmerksamkeit aus vielen Gründen auf sich ziehen und in besonderen Fällen lange festhalten. Diese Konzentration bündelt viele Ressourcen im System. Die fortlaufenden Interaktionen mit der Umwelt werden unter der Bedingung stattfinden, dass ein Großteil des Interesses bereits stark auf ein anderes Thema gelenkt ist. Unsere limitierten mentalen Kapazitäten sind somit gebunden. Berücksichtigt man diese Aspekte, dann ist es geradezu selbstredend, dass Verbote und Blockaden in Systemen nicht spontan und aus der Hüfte geschossen erlassen, sondern gut geplant und nachvollziehbar eingeführt werden sollten, weil sie unbewusst oder bewusst viel Interesse und Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden und somit andere wichtige Interaktionen blockieren oder verlangsamen können. Reflexion: Was muss passieren, damit etwas meine Aufmerksamkeit gewinnt? Wann verlieren Dinge mein Interesse? Welche Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung, meine Aufmerksamkeit gezielt zu lenken? Wann hat mich ein Ereignis oder eine Entscheidung so in den Bann gezogen, dass ich nicht mehr handlungsfähig war?

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Verbote brauchen Bedingungen

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Ich weiß noch nicht, was es wird, aber ich habe

Lust, es zu gestalten:

Strategieentwicklung als künstlerischer Prozess Je komplexer und dynamischer unsere Welt wird, desto eher benö­ tigen wir Strategien zur Bewältigung der anliegenden Aufgaben oder Vorhaben. Darum ist die Strategieentwicklung in der systemischen Spielart eine nicht delegierbare Führungsaufgabe (Nagel u. Wimmer, 2006, S. 341)! Um jedoch heute Strategien konzipieren und Konzepte entwerfen zu können, bedarf es nicht nur systemischer Kompetenzen, sondern auch des Mutes, sich quasi in eine Paradoxie zu begeben. Die Zukunft ist, wie wir wissen, nicht planbar und doch sollen jetzt die Pläne für morgen erstellt werden. Leider wird darum Strategieentwicklung oftmals mit dem Finden von Lösungen verwechselt. Darum geht es gerade nicht. Vielmehr ist das »Erfinden einer kreativen Zukunftsperspektive« (S. 21) gefragt. Zurzeit erleben wir jedoch, dass es zwar einen Boom an Aufträ­ gen für Konzeptentwicklungen gibt, diese aber nur sehr begrenzt an durchdachte Strategien gekoppelt sind. Konkret sieht man dies im Schulbereich bei der Umsetzung der Inklusion: Man erwartet schulinterne Konzepte zur Durchführung, es liegt aber keine Grund­­ Strategieentwicklung als künstlerischer Prozess

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Verbote brauchen Bedingungen

strategie zur Realisierung vor sowie keine Planung von F ­ ortbildungen, Kompetenzerweiterungen etc. Ebenso wird in Bezug auf die Digitalisierung in Schule und Industrie verfahren. Der allgemeinen Forderung der Implementierung liegt eben nur dieser vermeintlich gute Wille zugrunde und die strategische Umsetzung wird ausgelagert und partiell vor Ort delegiert. Die Folge ist eine absolute Partikularisierung eines eigentlich gesamtstrategischen Vorhabens. Wie Verbote kreative Prozesse verhindern

Wenn dieser Zustand einsetzt, kommt man um Regularien nicht herum. Also »Law and Order«, sprich, Verbote. Denn die Führung versucht die Umsetzung nicht strategisch systemisch zu inszenieren, sondern per Rahmung zu steuern. Jetzt ist das Paradoxon perfekt. Zum einen brauchen komplexe Aufgaben den Freiraum, sich flexibel in Organisationen zu etablieren und hierfür die kreative Mitarbeit vieler, um akzeptiert zu werden. Zum anderen braucht es gewisse Freiheiten, um strategische Prozesse auszuprobieren und deren Wirkung im System zu analysieren. Durch strikte Verbote wird dies maßgeblich blockiert und aus einem Strategieprozess wird die Top-down angeordnete Einführung einer Neuerung, die auf erhebliche Widerstände stoßen wird. Infolgedessen setzt die Arbeit der Lobbyisten ein, die prüfen, wie sie sich aus der Affäre der Umsetzung herausziehen oder sie zum eigenen Vorteil durchführen können. Strategie und Verbote – ein gespanntes Verhältnis

So schön man Verbote auch gestaltet, so kreativ man sie auch formt – bei der Implementierung komplexer Vorhaben verhindern sie mehr, als sie nutzen. In Strategieentwicklungen gehören sie ganz ans Ende. Wenn die Strategie umgesetzt ist, gilt es zu überlegen, welche Rahmensetzung zur Fortführung notwendig ist und welche Verbote zur Regulation.

Strategieentwicklung als künstlerischer Prozess

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Reflexion: Wie entwerfe ich meine Strategien für ein Vorhaben? Was bringe ich kreativ ein, wenn es darum geht, strategisch vorzugehen? Wann hat ein Verbot meine ganze Kreativität blockiert? Wie lange bleibe ich während Strategieprozessen bei der Stange?

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Verbote brauchen Bedingungen

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Was nicht passt, wird passend gemacht: Welche Bedeutung »gute« Kommunikation in Systemen hat

»Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit«, »Nichts ist so ste­­ tig wie der Wandel.« Wer kennt sie nicht, die klugen und prägnan­ten Sprüche hinsichtlich des Wandels in unserer Gesellschaft, in unseren Arbeitsgefilden, in unseren Partnerschaften? Wer ist des »ewigen« gebetsmühlenartigen Redens über die Veränderung nicht müde? Und dennoch wissen wir, dass nichts bleibt, wie es ist und wir uns bewusst oder unbewusst auf Veränderungen einstellen müssen. Warum wir Widersacher des Wandels sind

Leider ist uns die Haltung zu eigen, dass wir massiv dazu neigen, mit Aggression und Wut oder mit Depression und Stagnation auf Wandlungen zu reagieren. Wir suchen nach dem Mehrwert, lehnen diesen konsequent ab, ziehen den Sinn in Zweifel und machen dicht. Das kann heißen, dass wir offen in die Opposition gehen oder still ins »Innere Exil«. Und das nicht nur bei Abbau-, sondern auch Welche Bedeutung »gute« Kommunikation in Systemen hat

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bei Aufbauprozessen! Bei Veränderungsansagen macht jeder blitzschnell eine Rechnung auf. Ist die Veränderung zu aufwendig, macht sie Arbeit, beinhaltet sie Mühen, schafft sie Unsicherheiten – dann lieber nicht. Erfolgsaussichten haben Veränderungsinitiativen nur, wenn es eine erkennbare Entwicklung gibt, die auf validierten Prognosen gründet. Es bedarf der klaren Zielvorgaben und einer Balance zwischen Bewahren und Wandel. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Abschied und Trauer dazugehörige emotionale Prozesse sind. Unverzichtbar ist auch, dass die Befürchtungen oder Motivationslagen, die dem Gedanken zur Veränderung zugrunde liegen, transparent gemacht werden. Wie sieht Vertrauen schaffende Kommunikation von Veränderungen aus?

Darum braucht der Wandel die Kommunikation und den Dialog. Leider sinken in Phasen der Unsicherheit die Bereitschaft und die Befähigung und darum müssen Führungskräfte unbedingt sprachfähig sein und mit prägnanter Sprache die wesentlichen Dinge sagen. Sie dürfen nichts verklausulieren und müssen bedenken, dass Informationsvermittlung noch keine Kommunikation ist. Die Dosierung von Information und Kommunikation ist die Kunst. Eine weitere Gefahr besteht, wenn der als Wandel bezeichnete Prozess in Wirklichkeit ein radikaler und schneller Wechsel ist. Das wird zur »Rosskur« für alle Beteiligten, weil es einen substanziellen Wandel ungewollten Ausmaßes mit sich bringt. Von daher sollten die Mitarbeitenden von Beginn an mit einbezogen werden. Die Aufgaben gilt es zu definieren, die Codes zu spezifizieren, spezielle Tools zu entwickeln und die Organisation zu analysieren. So kann sich eine gute Vertrauenskultur entwickeln, die ein zentrales Merkmal für Change ist. Denn ohne Vertrauen entstehen und agieren kontraproduktive Handlungsmuster. Jegliche Form von Change geht mit emotionalen Reaktionen einher. Die Emotionsregulierung ist Führungskraftaufgabe und braucht Spannungstoleranz. Die Emotionen (Angst, Wut, Rache, Sorge, Är­­ ger) müssen von den Vorgesetzten aufgenommen werden. Hier ist 130

Verbote brauchen Bedingungen

der Ort, wo sie zu Menschen werden. Leider gilt der Satz: Konflikt(un)fähigkeit führt zu Sprach(un)fähigkeit von Führungskräften. Wandel braucht Freude an Veränderung, die persönliche Fähigkeit zur Veränderung und das Wissen darüber, wann etwas »good enough« ist. Darum ist es wichtig, dass man es konsequent macht. Denn erst der unabdingbare Mut zur Courage ermöglicht den Wandel. Man kann keine Organisation in den Wandel führen und dabei alle alten Regeln, Verbote und Blockaden aufrechterhalten. Freies und innovatives Denken braucht Raum und Platz und Möglichkeiten, sich zu entfalten. Mit der Initiierung von Veränderung beginnt auch die Aufhebung der Blockaden im System. Später müssen dann neue gefunden werden. Reflexion: Wie gestalte ich Veränderungen? Wann wird mir der Wandel zu viel? Was liebe ich an Veränderungen?

Welche Bedeutung »gute« Kommunikation in Systemen hat

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 Trotzdem

mache ich es uns schön:

Das Anschlussmotiv und seine Wirkung

Mit der Installation eines Verbots wird augenblicklich ein starker Eingriff in die Beziehung zu unserem Gegenüber vorgenommen. Die Kommunikation benötigt nun andere Regeln und einen neuen Bezugsrahmen. In normalen Arbeitskontexten lösen Verbote deshalb oftmals eine starke Vermeidung aus. Die Angst vor Zurückweisungen bestimmt dann die Beziehung. Wir versuchen, die Begegnung zu vermeiden. Flüchten uns in Förmlichkeiten und bemühen uns, keine Nähe aufkommen zu lassen. Den Anschluss wiederherstellen

Nun gibt es aber auch Menschen, die sind vom sogenannten An­­ schlussmotiv geprägt. Sie haben eine geradezu unbeirrbare Hoffnung auf Anschluss und versuchen trotz einer belastenden Situa­ tion, hartnäckig und beharrlich Nähe herzustellen. Mit ihrer star­­ken Hoffnungskomponente pflegen sie einen Umgangsstil mit un­­ge­­ brems­­ter Vertraulichkeit. Als gäbe es keine Beziehungsstörun­gen 132

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durch ein Verbot, suchen sie das Gespräch, plaudern über per­­ sönliche Dinge und signalisieren, dass sie keinerlei Angst vor der Begegnung verspüren. Sie ignorieren dabei das Verbot nicht, aber sie sind zutiefst davon überzeugt, dass dadurch die persönliche Zusammenarbeit nicht beeinträchtigt wird. Wie Menschen mit Anschlussmotiv das Team stärken

Das hat Auswirkungen. Menschen mit einem hohen Anschlussmotiv sind ungeheuer gute Teamplayer und erreichen in Arbeitsgemeinschaften ihre individuellen Höchstleistungen. Zudem können sie sehr effektiv Strategien auswählen. Ihre große Hoffnung auf Anschluss hat sie ein Leben lang gelehrt, sich anderen Menschen anzunähern. Sie sind spezialisiert im Zugang zu anderen und beherrschen viele Taktiken, um ihr Umfeld für gemeinsame Unternehmungen zu gewinnen. Es wäre fatal, ihr Verhalten als ignorant oder oberflächlich abzustempeln. Mitarbeitende mit dieser Motivlage sind vielleicht etwas lästig, weil sie einem immer nahekommen, aber sie sind die »Retter und Retterinnen des Betriebsklimas« in belasteten Situationen. Sie strahlen diese anmutende Leichtigkeit aus, die den anderen in Verbotssituationen verloren gegangen ist. Sie thematisieren nicht den Ärger, sondern suchen Wege des Miteinanders und der Verständigung. Sie sind gewissermaßen die »guten Geister des Teams«. Reflexion: Was schätze ich an Menschen mit einem hohen Anschlussmotiv? Wann ist mir das »Miteinander« zu viel des Guten? Wie entziehe ich mich Personen mit einem hohen Anschlussmotiv?

Das Anschlussmotiv und seine Wirkung

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Das Verbot ist König:  Wie Vorurteile unsere Wahrnehmung und Beurteilung beeinflussen

Sicherlich ist es unsere Sache, wie wir mit einem Verbot und den Urhebern oder Urheberinnen desselben umgehen, welche Bedeutung wir ihm zumessen und welchen Raum wir ihm in unserem Leben zubilligen. Aber leider haben wir das nicht komplett in der Hand. Denn wir sind aufgrund unseres sozialen Umfeldes gefüllt mit Vorurteilen, Stereotypen und Stigmata. Je nach Prägung, sind diese sehr festgelegt oder flexibel. Grundsätzlich handelt es sich hier um Beurteilungen, die vor einer Begegnung stattfinden. Es sind also Verzerrungen, die als Folge von sozialen Schemata entstehen, sogenannte Kategorisierungs­ prozesse. Ihre Funktion besteht in der schnellen Zuordnung und Strukturierung des Lebens. Sie helfen uns, eine Sache unmittelbar einzuschätzen und uns auf sie einzustellen.

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Warum wir Vorurteile, Stereotype und Stigmata brauchen

Vorurteile sind emotionale, meist feindselige Bewertungen von anderen Menschen und basieren nicht auf Fakten, sondern auf Meinungen. In der Regel liegen ihnen fehlerhafte, aber rigide Generalisierungen zugrunde. Leider lassen sie sich nicht einmal durch Fakten korrigieren. Sie basieren auf eigenen Erfahrungen oder auf Informationen durch wichtige Bezugspersonen. Es erscheint logisch, dass sie oftmals diskriminierendes Verhalten auslösen. Häufig treten sie bei autoritären Persönlichkeiten mit einer sozialen Dominanzorientierung auf. In diesen Fällen korrespondieren die Vorurteile mit dem individuellen Selbstwert der jeweiligen Person. Ähnlich verhält es sich mit Stereotypen. Darunter versteht man Eigenschaften, die anderen zugewiesen werden. Sie sind die kognitive Basis für Vorurteile und funktionieren nach dem Schema: Erst urteilen, dann hinschauen. Ihr Ziel: Gewinn von Übersicht bei Verlust von Differenzierung. Sie bauen auf Kategorisierungsprozessen auf und basieren auf der Zuschreibung von Eigenschaften, Fähigkeiten und Motiven – basierend auf wahrgenommener Unterschiedlichkeit. Sie funktionieren automatisch, beeinflussen unsere Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit, Interpretation, unser Gedächtnis und unsere Schlussfolgerungen. Die Wurzel dieser sehr festen Vorverurteilungen sind die so­­ ge­nannten Stigmata. Hier handelt es sich um Etikettierungen. Wie bereits beschrieben, neigen wir dazu, Label zu kleben. Also Merk­­­male, Eigenschaften, Verhaltensweisen zu setzen, die in der Begeg­nung mit anderen eine negative Diskrepanz zwischen der gedachten und der wirklichen Identität konstruieren. Stigmata werden durch soziale oder kulturelle Lernprozesse aufgebaut und durch Konflikte ausgelöst. Sie können nicht vor anderen verborgen werden und sind das Ergebnis eines gesellschaftlichen Definitionsprozesses. Sie sind es, die Vorurteile, Stereotype und soziale Diskriminierung auslösen.

Wie Vorurteile unsere Wahrnehmung und Beurteilung beeinflussen

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Mithilfe dieser drei Verblendungen versuchen wir, uns in einer komplexen Welt zurechtzufinden und Verhaltenssicherheit in unbekannten Situationen zu gewinnen. Dafür nehmen wir die negativen Konsequenzen, ein äußerst diskriminierendes Verhalten, gern in Kauf. Wie wir einem Verbot durch Vorurteile zur Macht verhelfen

Im Hinblick auf Verbote haben unsere Befangenheit und Einseitigkeit eine verheerende Wirkung. In Nullkommanichts wissen wir, warum diese ausgesprochen werden, wir fragen nicht nach einem möglichen oder nötigen Sinn oder Zweck. Ganz im Gegenteil – die »Vorurteilsmaschinerie« läuft auf Hochtouren. Wir fragen nicht nach, suchen keine Erklärungen, wir wissen schon alles und können es ablehnen: Dieses Verbot kommt von »oben«, es ist Schikane, damit wollen die uns nur gängeln. Spätestens hier wird deutlich, dass Verbote und Blockaden sehr einfache Mittel sind, die auf unzulängliche und wenig reflektierte Informationen zurückzuführen sind. Oft dienen sie der Demonstration von Macht. Wenn wir gut drauf sind, springt auch noch der Matthäus-Effekt an: »Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er 136

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hat« (Mt 25,29). Umgangssprachlich wird dieses Phänomen auch mit den Sprichworten »Wer hat, dem wird gegeben«, »Es regnet immer dorthin, wo es schon nass ist« oder auch »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen« wiedergegeben. Damit erklären wir, dass diejenigen, die »an der Macht« sind, immer mehr Befugnisse und Ermächtigungen bekommen. Spätestens jetzt haben wir das Verbot, ohne es zu wollen, zum König gemacht. Denn gegen unsere Vorurteile können und wollen wir nicht angehen und darum akzeptieren wir das Verbot trotz völliger Ablehnung. Manchmal führen wir uns selbst ad absurdum. Reflexion: Zu welchen Beobachtungsfehlern und vorschnellen Urteilen neige ich? Mit welchen Stigmata wurde ich selbst schon belegt? Unter welchen Umständen bin ich bereit, meine Einschätzung von Personen zu verändern?

Wie Vorurteile unsere Wahrnehmung und Beurteilung beeinflussen

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Macht macht Macht: Das Motiv der Macht und in welchen Formen es uns begegnet

»Macht bahnt den Weg zur Macht und sie lässt sich einsetzen, um mehr Macht zu bekommen«, so Gareth Morgan (2002, S. 267). Macht ist eine asymmetrische Interaktionsbeziehung und kommt besonders in komplementären Rollenbeziehungen (Eltern-Kind, Offizier-­ Soldat, Führungskraft-Angestellte) vor. Im Grunde bezeichnet sie »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber, 1922, § 16), denn sie ist kein psychologischer Begriff, sondern ein soziales Phänomen. Sie ist kein dauerhaftes Attribut, sondern ein dynamisches Merkmal einer Beziehung. Macht als Kompensation von Unsicherheit

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Macht ein Submotiv der allgemeinen Kontrollmotivation ist und keine Sättigungsgrenzen kennt. Dem möchte ich mich insoweit anschließen, als mir sehr oft 138

Verbote brauchen Bedingungen

Menschen mit einem hohen Machtmotiv begegnet sind, die zutiefst unsicher waren und die soziale Ausübung von Macht benötigten, um die Kontrolle über ihre Beziehung zur Umwelt zu erhalten sowie über die für sie relevanten »Zonen der Unsicherheit«. Obwohl es vordergründig so aussieht, als ginge es um die Lust an der Macht, erscheint es mir immer mehr, als bräuchten diese Personen eine Befehlsgewalt, damit sie ihre eigenen Unsicherheiten kaschieren, ihre Umwelt für sich überschaubar und ihre Rolle durchführbar gestalten können. Selbstbewusste Führungspersonen setzen zwar auch hierarchische Führungsinstrumente ein, aber stets erst da, wo sie keine gelingenden Kommunikationsprozesse gestalten können. Am deutlichsten wird diese Annahme bestätigt, wenn völlig autonome Parteien aufeinanderstoßen, keine Machtbeziehung zwischen beiden existiert und nur noch der Ausweg der Drohung und der Gewalt besteht, um die eigenen Ansprüche durchzusetzen. Welche Machtmittel in der Arbeitswelt genutzt werden

Im Alltag von Organisationen erleben wir in der Regel den Einsatz von drei Machtmitteln, die gebräuchlich sind: Die Belohnungsmacht, die Zwangs- und Bestrafungsmacht sowie die Macht durch Emotion. Welche Führungskraft fühlt sich nicht gut und besonders, wenn sie einem Mitarbeitenden oder einer Mitarbeitenden ein Zugeständnis, einen Gefallen oder einen »Dienst« erweisen kann. Geltungsdrang und Aufmerksamkeitsbedürfnis werden ungemein befriedigt und das Top-down-Verhältnis auf eine »nette«, zugewandte Weise manifestiert. Weniger Akzeptanz erreichen Leitungskräfte durch die Anord­ nung von Bestrafungen. Viele Arbeitsgesetze hindern sie daran, aber der Mangel an Machtmitteln bremst nicht die Freude an der Unterwerfung anderer. Darum werden subtile Verbote und Blockaden erlassen, die spitzfindig und raffiniert die Betroffenen an den Pranger stellen. Solche Maßnahmen sind zwar kostenintensiv, verringern die Attraktivität eines Unternehmens und rufen Resistenz und Reaktanz hervor, aber zur Festigung der eigenen Position können diese Auswirkungen locker verkraftet werden. Das Motiv der Macht und in welchen Formen es uns begegnet

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Etwas spezieller ist die dritte Form des Machteinsatzes, die Macht durch Emotion. Wenn es Führungskräften gelingt, die Emotionen der Mitarbeitenden zu beeinflussen, sie Angst, Schuldgefühle, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit gut vermischt einsetzen, verfügen sie oftmals über einen charismatischen Führungsstil. Dieser ist zunächst wenig kostspielig, basiert auf legitimierter Macht und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Vorbildcharakter der Position. Wie Macht machtvoll stabilisiert wird

Glaubwürdigkeit und Attraktivität sind das Fundament, auf dem diese Machtform beruht. Werden diese Attribute infrage gestellt, setzt die Furcht vor dem Verlust der eigenen Macht mit voller Wucht ein, denn die Angst vor der Gegenmacht der anderen Seite ist enorm, ebenso die vor der Erfolglosigkeit des eigenen Handelns. Deshalb muss Macht immer wieder bestätigt und ausgeübt werden: Anweisungen geben, blockieren, sanktionieren, einschmeicheln, rationalisieren, koalieren, höhere Instanzen einschalten, inspirierende Appelle aussprechen, Konsultationen einholen – je nach Machtstil dienen diese Mittel der Legitimierung. Sehr kompliziert wird es, wenn die Machtausübenden diese auf »Bereiche« ausdehnen, sie also unmittelbaren Einfluss auf Personen, Interaktionen, organisationale Kontexte oder Teilbereiche des sozialen Lebens ausüben wollen. In diesen Situationen geht es um die »Allmacht« und die Vorstellung, dass nichts und gar nichts ohne den Einfluss der Mächtigen geschieht. Ist dieser Status erreicht, nimmt die Anzahl der an den Pranger Gestellten, der unter Blockaden Leidenden und der Abwanderungswilligen drastisch zu. Jedoch auch die Zahl derer, die sich arrangieren und ihren Nutzen daraus ziehen. Wird Letzteres im System positiv bewertet, bleibt bis auf Weiteres auch keine andere Möglichkeit – leider! Reflexion: Wo erlebe ich positive, hilfreiche und nützliche Machtstrukturen? Welche Machtmittel setze ich persönlich ein? Wann erlebe ich Macht als glaub- und vertrauenswürdig? Wann haben mich Machtstrukturen ohnmächtig gemacht? 140

Verbote brauchen Bedingungen

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Jetzt spreche ich: Über direkte und indirekte Redeverbote

Jetzt spreche ich und Sie haben zu schweigen. Ich dulde keinen Wider­ spruch. Sie dürfen mich nicht vor anderen kritisieren. Sie werden die Firma (Schule, Institution) nicht mehr öffentlich vor anderen vertreten. Darüber dürfen Sie nicht mit anderen sprechen. Das muss unbedingt unter uns bleiben. – So oder so ähnlich werden direkte oder indirekte Redeverbote innerhalb von Organisationen ausgesprochen. Manche sind offensichtlich, andere eher durch eine Vertraulichkeit versteckt und müssen erst als Sprechverbot entlarvt werden. Über Willkür, Macht, Kontrolle und Kontrollverlust

Der Sinn dieser Verbote ist offensichtlich. Es soll verhindert werden, dass andere miteinander ins Gespräch kommen, Inhalte diskutieren oder einzelne Personen vor anderen ihre Position, ihre Ansicht vertreten. Wie dem auch immer sei, eines löst diese Verbotsform stets aus – nämlich Unsicherheit. Und sie schüchtert erheblich ein. Was kann Über direkte und indirekte Redeverbote

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ich denn jetzt noch tun, wie muss ich mich gegenüber anderen ver­ halten, wenn sie mich fragen, wie weit genau diese undifferenziert aus­ gesprochene Vorschrift reicht? Unmittelbar spüren wir ein Unbehagen oder eine Hemmung in zwischenmenschlichen Situationen. Es ist ein absolut unerwünschter Zustand, der uns daran hindert, unsere eigenen Ziele zu verfolgen. Wir werden verlegen und zögerlich oder erleben uns vollständig gelähmt und bekommen Furcht. Wir empfinden augenblicklich einen starken sozialen Druck. Wir zeigen also alle Anzeichen von Schüchternheit. Und das ist auch gewollt, denn schließlich will man genau das bei uns erreichen: Verunsicherung und Befangenheit. Ein Sprechverbot ist dafür ideal geeignet, weil es sich immer dadurch auszeichnet, dass es nicht eindeutig und nicht abgegrenzt ist. Es setzt machtvoll Grenzen und zieht bei gleichzeitigem Verbieten vermeintlich ins Vertrauen. Ein genialer Trick geradezu. Was also tun, wenn man sich nicht verschrecken lassen will? Was tun, um einem Redeverbot zu begegnen?

Zunächst gilt, dass man die versteckten Redeverbote möglichst un­­ mittelbar entlarvt und dann zurückfragt, was genau damit gemeint ist. Nach Möglichkeit sollte man sich nicht ohne eine Klärung und Differenzierung verabschieden lassen. »Was genau ist mit … gemeint?«, »Wie lange genau soll ich das Geheimnis bewahren?«. Das sind Fragen, die dem Gegenüber verdeutlichen, dass Sie wachsam und nicht so ohne Weiteres einzuschüchtern sind. Wenn Ihnen die Dimensionen erst nach dem Gespräch bewusst werden, dürfen Sie auch noch einmal ein Nachgespräch führen, in dem sie diese Fragen stellen. Das Besondere an einem Redeverbot ist nämlich, dass es sehr selten darum geht, Sie mundtot zu machen, sondern vielmehr da­­ rum, Sie nachhaltig zu verunsichern. Dem kann man mit freundlich zuwandten Fragen und Bitten um Klärung sehr wirkungsvoll begegnen. Reflexion: Wem möchte ich gern den Mund verbieten? Wie fühlt es sich an, wenn ich zum Schweigen verdammt bin? 142

Verbote brauchen Bedingungen

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Wie soll das gehen? Über die Nicht-Nachhaltigkeit und (un)gewollte Selbstwirksamkeit von Verboten

Ein neues Verbot, kein Zutritt, ein versperrter Zugang. Aber irgendwie scheint mir das nicht plausibel und ich habe das berechtigte Gefühl, dass es den Personen, die dafür verantwortlich sind, nicht anders geht. Ich sehe hochgezogene Schultern, wenn ich sie darauf anspreche. Es ist nicht durchdacht, das wird nicht lange so bleiben. Durchdenken für Nachhaltigkeit

Manches von dem, was ich über Organisationen zu wissen meine, habe ich den Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen in meinem Umfeld zu verdanken. Diese gehen ständig mit Systemen um und so habe ich z. B. schon oft das Phänomen der Diffu­ sion beobachtet. Gemeint ist ein physikalischer Prozess, der zu einer gleichmäßi­ gen Verteilung von Teilchen und somit zur vollständigen Durchmischung zweier Stoffe führt. Die Bedeutungen sind je nach Bereich Über die Nicht-Nachhaltigkeit und (un)gewollte Selbstwirksamkeit

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ein wenig unterschiedlich, meinen aber immer die Durchmischung. In der Chemie geht es um die gegenseitige Durchdringung von Gasen, Flüssigkeiten oder Lösungen durch die Eigenbewegung der Moleküle. In der Betriebswirtschaft wird der Begriff gern für die Einführung und Verbreitung von Innovationen in einem sozialen System benutzt und in der Kultur wird er bei der Verbreitung von Kulturelementen durch Übernahme und Wanderung verwendet. Diffusion ist also ein passiver Transportprozess von Stoffen zwischen flüssigen Körpern. Durch die andauernde Bewegung durchmischen sich die gelösten Teilchen in benachbarten Räumen. Diffusionen können lediglich angestoßen, also initiiert werden. Nicht möglich ist, sie zu kontrollieren und zu strukturieren. Akzeptanz gegen Verflüssigung

Sind Verbote also nicht wirklich durchdacht und von allen akzeptiert, dann verflüssigen sie sich. Wenn dann niemand für »Ordnung« sorgt und das Verbot verfestigt, es also weiterhin dynamisch bleibt, wird es diffus. Diffusion ist ein langsamer, fortlaufender Prozess, der sich so lange vollzieht, bis ein Gleichgewicht herrscht. In unserem Fall bedeutet das, dass das Verbot entweder verifiziert und gut aufgestellt ist oder es niemand mehr kennt und wahrnimmt. Als strukturierender Prozess für eine Implementierung von Verboten ist »Verflüssigung« also ungeeignet. Aber oftmals hoffen Personen trotzdem, dass sie schon irgendwie ihren Weg gehen. Reflexion: Wann haben Verbote, nach meiner Erfahrung, keine Wirkung? Welche Verbote nehme ich nicht ernst? Wie muss ein Verbot gestaltet sein, damit es mich erreicht?

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Verbote brauchen Bedingungen

Zusammenfassung des vierten Teils Wie eingangs zu diesem Kapitel bemerkt, brauchen Verbote und Blockaden besondere Umstände, denn diese ermöglichen es erst, Verbote einzusetzen und auszusprechen. Einer der wesentlichen Gründe dafür liegt darin, dass wir das Ganze doch nie wirklich sehen, »weil es sich ständig verändert, und je mehr wir uns darauf besinnen, desto stärker bewegt es sich, wie wenn man hinter jemand herläuft, der immer schneller rennt« (Felder, 2019, S. 17). Aber wir wollen den Überblick und wir brauchen ihn, um uns sicher zu fühlen und handeln zu können. Also setzen wir Maßnahmen ein. Verfügen wir nicht über ein hinreichendes Repertoire, wollen wir blitzschnellen Erfolg, dann müssen es eben Verbote sein. Vorausgesetzt, wir verfügen über die dafür benötigte Position und Prokura. Dabei ignorieren wir die Weisheit, dass voreilige Schlüsse jedoch auf Irrwege führen können (Atwood, 2019, S. 563) sehr gern. Was bleibt, sind diejenigen, die einem solchen verbotgebenden und blockadensetzenden Verhalten ausgesetzt sind. Augenblicklich ist es an der Zeit, sich selbst in Szene zu setzen, Grenzen zu ziehen und in die Verhandlung einzutreten. Lawrence Osborne hält in seinem Roman »Welch schöne Tiere wir sind« fest, dass es mutig war, einen Eroberer allein durch Worte, allein durch Protest zu bezwingen (2019, S. 289). Verbote erobern und setzen Grenzen, stecken Territorien ab – also gilt es, den Eroberern und Eroberinnen die Stirn zu bieten und die eigene Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Zusammenfassung

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Das Verbot der Einfahrt: Abschließende Gedanken

Es wurde umfangreich aufgezeigt, dass Verbote Herausforderungen sind, Wirkung erzielen und Bedingungen benötigen, um ausgespro­ chen zu werden. Auf der Ebene der Systemtheorie heißt das, Verbote brauchen drei Elemente: die Aussprechenden, die Betroffenen und den System-Rahmen, in dem die Interaktion zwischen diesen drei Komponenten ablaufen kann. Wie diese Elemente miteinander interagieren und wie Verbote dann eingeführt und umgesetzt werden, hat die Corona-Krise allumfassend gezeigt. Sie hat aber auch deutlich gemacht, dass Verbote mit stark beschneidenden Ausmaßen nur temporär aufrechtzuerhalten sind und ein ungemeines Maß an Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit benötigen. Von den Faktoren einmal abgesehen, kann ein gelingender Um­­ gang mit Verboten nur geschehen, wenn alle daran Beteiligten einander zugewandt miteinander kommunizieren. Nur dann lässt sich vermitteln, dass ein Gebot nicht aus Willkür ausgesprochen wird, sondern in zwei Richtungen fürsorglich begründet ist. Zum einen beinhaltet es die Tendenz der Verhinderung. Es versucht, eine faktische oder prognostische Gefährdung oder Belastung zu unterbinden. Zum anderen möchte das Verbot etwas ermöglichen, es entstehen Freiräume. Mit diesem, durch das Verbot blo­ ckierte Thema, muss ich mich nicht mehr beschäftigen. In diesem Sinne schützen und befreien Verbote. Diese akzeptablen Aspekte lassen sich jedoch nur erreichen, wenn sie unbedingt ehrlich sind. Sind sie das nicht, handelt es sich um »Pseudoverbote« im Sinne von: Ich muss Ihnen das untersagen, aber eigentlich sollen Sie das tun. Liegen den Verboten die Aspekte zugrunde, die wir im Vorfeld ausgeführt haben, sind sie immens Abschließende Gedanken

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gefährlich und es entstehen komplizierte, verletzende und nur schwer zu bewältigende Situationen.

Die Frage nach dem Warum einer Reaktion Damit wir uns selbst gut in solchen Situationen zurechtfinden und angemessen reagieren können, bleibt uns der Blick in den Spiegel nicht erspart. Wir kommen nicht darum herum, wir müssen uns anschauen, wie wir auf die Herausforderung reagieren, wenn uns gegenüber Verbote ausgesprochen und Blockaden errichtet werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir dabei erstaunen, erschrecken oder schnell den Kopf einziehen. Ist das der Fall, dann heißt es: Gut durchatmen, sich Zeit nehmen und sich fragen, warum man in einer bestimmten Weise auf ein Verbot reagiert. Dieses »Warum« ist entscheidend. Wenn ich mir darüber Klarheit verschafft habe, kann ich anfangen, über Alternativen nachzudenken. Nun sind wir nicht immer die Mutigsten. Vielleicht ist es ja ein provokanter Satz, der Sie aus der Reserve lockt: Dummheit ist unwissend sein. Blödheit ist unwissend sein wollen. Waren wir bisher unwissend, weil wir uns damit noch nicht auseinandergesetzt haben, ist es okay. Aber wollen wir es weiterhin bleiben? Letztlich können wir nur das verändern, wofür wir auch die Verantwortung tragen. Wir sind nicht verantwortlich für die Verbote, die andere aufstellen. Ganz klar. Aber die Verbote sind auch nicht dafür verantwortlich, wie wir unsererseits mit ihnen umgehen. Das obliegt ganz uns selbst. Dafür, also für uns selbst, können und sollten wir dringend die Verantwortung übernehmen. Diese etwas längere Ausführung ist nötig, weil wir so gern alles externalisieren, um uns aus der Affäre zu ziehen. Mag ich lieber »Opfer« sein und das »Arme-Schwein-Spiel« spielen, kann ja alles so bleiben, wie es ist. Ansonsten darf ich auf Entdeckungsreise gehen und Auswege suchen. Letztlich bleibt: Wer unglücklich sein will, der muss sich ebenso anstrengen, wie der, der glücklich sein möchte. Ich muss mich nur fragen, wofür ich meine Energie lieber einsetze.

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Das Verbot der Einfahrt

Vom produktiven handelnden Umgang mit Verboten Entscheide ich mich dafür, zu handeln, muss ich denen eine Chance geben, mich zu verstehen, die nicht in meinem Kopf sitzen. Folglich muss ich sprechen. Nur denken reicht nicht. Ich muss aktiv werden. Besonders, wenn es mir schwerfällt und mich Verbote eher einschüchtern und blockieren, mich gedankenschwer machen, sollte ich über etwaige Belastungen mit Vertrauten ins Gespräch kommen. Dann lösen sich die ersten Blockaden, weil ich anfange zu formulieren – der Anfang eines kreativen und produktiven Prozesses. Außerdem kommuniziere ich mit anderen und erhalte Feedback, Anregungen und kann Ideen kreieren. Auch wenn Vorschläge dabei sind, die für mich überhaupt nicht infrage kommen, höre ich, dass es Alternativen zu meinen Einfällen gibt. Es funktioniert also auch anders, als es mir gerade durch den Sinn geht.

Abschließende Gedanken

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Dieser Austausch eröffnet Perspektiven. Was ich nicht kenne, kann ich kennenlernen. Es gibt Dinge, Ideen, die gibt es schon und die kann man nicht mehr erfinden, die kann man nur für sich selbst entdecken. Die Einmaligkeit liegt in der Entdeckung für mich und was ich daraus mache und wie ich damit umgehe. Mehr als »Nichts« ist »Gar Nichts«. Das kann ich verhindern. Oder wie meine Frau gern formuliert: »Nein hast du, Ja kannst du kriegen.« Dem schrecklichen Empfinden, sich gegängelt zu fühlen, kann man nur mit Aktivität begegnen. Wollen wir mehr agieren als reagieren, möchten wir Handlungsoptionen bekommen, möchten wir andere Wege einschlagen, bleibt uns nur der Schritt in Richtung Tätigkeit. Und manchmal hat man keine Fakten oder Beweise zur Hand, auf die man sich stützen könnte. Dann bleiben einem nur der innere Weg, den man gegangen ist, die Beobachtungen, die man gemacht hat, die Gedanken, die man gedacht hat, die Gefühle, die man gefühlt und erlebt hat, die Begegnungen, die man gehabt hat und das Leben, das man gelebt hat. Man muss dem vertrauen, was man sieht und entsprechend handeln. So trivial es klingt, aber vom Senf allein wird man nicht satt, man braucht auch eine Wurst dazu.

Es ist immer einen Versuch wert Nun wird die eine oder der andere kopfschüttelnd denken: Der hat gut reden, typisches Berater- oder Coachgehabe. Schließlich kommt man nicht aus seiner Haut heraus. Dem stimme ich zu und erlaube mir darauf hinzuweisen, dass wir durch unsere soziale Umwelt zu denen geworden sind, die wir sind. Dementsprechend darf ich auch sagen, wenn sich diese Umwelten geändert haben, darf mich als Erwachsener damit auseinandersetzen und mich aktiv arrangieren. Ich darf privat und beruflich für mich zu guten Lösungen kommen, ohne dadurch auf ein rücksichtsvolles bzw. produktives Miteinander zu verzichten. Ich darf dafür sorgen, dass die Arbeit gelingt und meine Beziehungen sich bewähren und tragfähig und verlässlich sind. So können wir mehr Selbstwirksamkeit erlangen und uns mehr Denk- und Handlungsfreiheit ermöglichen, wenn es um Verbote und Blockaden geht. 150

Das Verbot der Einfahrt

Verbote prüfen und infrage stellen Zu guter Letzt wende ich mich denen zu, die Verbote aussprechen. Wenn sie im guten Sinne nötig sind, kommunizieren Sie diese nachvollziehbar und verdeutlichen Sie die Absicht dahinter. Wenn Sie Verbote mangels anderer kompetenter Handlungsoptionen einsetzen, haben Sie die Klugheit, dies zu erkennen und suchen Sie sich als Leitungsperson einen guten Coach, der Sie darin unterstützt, Ihr Handlungsrepertoire zu erweitern. Erkennen Sie, dass ein Verbot mehr Schaden als Nutzen nach sich zieht, sollten Sie es auch aufheben. Gemäß der Konrad Adenauer zugeschriebenen Devise: »Man kann immer seinen Standpunkt ändern, weil dir niemand verbieten kann, klüger zu werden.« Nur eines sollten Sie nie tun, glauben Sie nicht, die anderen würden es nicht merken: Einer der größten Fehler, die ein Mensch begehen kann, ist, dass er fest davon überzeugt ist, dass der andere so dumm ist, wie er sich das wünscht. Das wird auch Ihnen nicht gelingen. Die anderen, wenn auch nicht alle, werden merken, dass Sie einen Fehler begangen haben. Wenn dem so ist, begehen Sie diesen Fehler mit Anstand und korrigieren Sie ihn.

Einladung zur kreativen Wahrnehmung von Verboten Am Ende dieses Buches bin ich immer noch davon überzeugt, dass die von Clet Abraham umgestalteten Straßenschilder eine wertvolle und kreative Anregung sind, sich mit Verboten und Blockaden auseinanderzusetzen. Sie zeigen viele Möglichkeiten auf, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und neue Pfade jenseits der ausgetretenen zu entdecken. Ich hoffe, Sie haben Ideen erhalten und Möglichkeiten kennengelernt, um für sich und Ihr Umfeld einen neuen oder veränderten Umgang mit Verboten zu gestalten. Und wenn alles gut geht, haben Sie Neues über sich und Ihr Regelkorsett erfahren. Für dieses letzte Kapitel habe ich ein Einbahnstraßenbild ohne alles ausgewählt. Es soll zeigen, dass ich selbst aktiv, kreativ werden muss und mir überlegen sollte, wie mein(e) Schild(er) auszusehen hat (haben) oder welche Varianten ich für mich wähle bzw. ablehne. Dafür wünsche ich viel Erfolg, Geduld und Selbstbewusstsein. Abschließende Gedanken

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Literatur

Atwood, M. (2019). Die Zeuginnen. München: Piper. Cusanit, K. (2019). Babel. München: Carl Hanser. Felder, A. (2019). Quasi Heimweh. Zürich: Limmat. Horváth, Ödön v. (1978). Gesammelte Werke (2. Aufl.). Berlin: Suhrkamp. Morgan, G. (2002). Bilder der Organisation (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Nagel, R., Wimmer, R. (2006). Systemische Strategieentwicklung. Modelle und Instru­mente für Berater und Entscheider (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Némirovsky, I. (2012). Die süße Einsamkeit. München: Knaus. Nunez, S. (2020). Der Freund. Berlin: Aufbau Verlag. Osborne, L. (2019). Welch schöne Tiere wir sind. München: Piper. Tillich, P. (1962). Grenzen. Dankesrede Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. https://www.textlog.de/7312.html (Zugriff am 10.12.2020).

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Literatur

Literaturempfehlungen

Bierhoff, H. W., Frey, D. (Hrsg.) (2006). Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie. Göttingen et al.: Hogrefe. Brandstätter, M., Otto, J. H. (Hrsg.) (2009). Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Motivation und Emotion. Göttingen et al.: Hogrefe. Sachse, R. (2003). Klärungsorientierte Psychotherapie. Göttingen et al.: Hogrefe. Sachse, R., Fasbender, J., Breil, J., Püschel, O. (2009). Grundlagen und Konzepte klärungsorientierter Psychotherapie. Göttingen et al.: Hogrefe. Schuler, H., Sonntag, K. (Hrsg.) (2007). Handbuch der Arbeits- und Organisationspsychologie. Göttingen et al.: Hogrefe.

Literaturempfehlungen

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