Ehrliche Erfindungen: Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne 9783839433195

International perspectives on the narrative art of Felicitas Hoppe, between connections to tradition and transmodern poe

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German Pages 446 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Dank. Oder: ,Wie dankt man richtig?‘
Sollen sie pfeifen und winken!
Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Eine Einführung
Erzählen und literarische Tradition
Felicitas Hoppe als letzte deutsche Weltreisende. Zum Geleit
„Wie krönt man richtig?“. Heiligsprechung und Kanonbildung in Hoppes Johanna (2006)
„Familiengeschichten allesamt“. Familienkonstellationen im Werk Felicitas Hoppes
Die magischen Künste des großen Humbug. Zur Bedeutung der kinderliterarischen Intertexte in Felicitas Hoppes Roman Hoppe (2012)
„Ein Kosmos der Ähnlichkeiten“. Felicitas Hoppes Benjamin-Analogien in Picknick der Friseure (1996)
Erzählverfahren
Zyklisches Erzählen bei Felicitas Hoppe. Die Rahmenhandlung als Reenactment in Paradiese, Übersee (2003)
,Erzählbrücken‘ als Element ,neo-aggregativen‘ Schreibens. Zu den mittelalterlichen und romantischen Strukturelementen in Felicitas Hoppes Roman Paradiese, Übersee (2003)
„Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind?“. Sprünge über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion bei Felicitas Hoppe
Ikonisches Erzählen als Einheit von Realität und Imagination. Zum Verhältnis von ästhetischer Reflexion und narrativer Realisation im Werk von Felicitas Hoppe
Historische Maskerade. Felicitas Hoppes Romane als Bachtin’scher Karneval
Erzählen von Raum und Zeit
Metafiktionale Räume. Topografien der Historie in Felicitas Hoppes Johanna (2006)
„Ich mache die Orte zu meinen Sehnsuchtsorten“. Die Destabilisierung der strukturbildenden Elemente und ihre Funktion im Werk Felicitas Hoppes
„Aber was sind schon Grenzen!“. Zur Raumdarstellung in Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager (2004) und Johanna (2006)
Transmoderne Autofiktionen und Autorschaftsinszenierungen
„Am Rand eines Kraters“. Grenzgänge narrativer Identitätskonstitution in Hoppes Eis und Schnee (2004)
Auto(r)fiktionen. Metaisierung als Wechsel narrativer und sozialer Frames am Beispiel von Felicitas Hoppes Hoppe (2012)
„Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin.“. Autorschaft, Autorität und Authentizität in Felicitas Hoppes Hoppe (2012)
„Vor dem Hintergrund von Hoppes Mehrsprachigkeit zeigt sich die Diskussion um ihr Werk heute unvermutet in einem neuen Licht.“. Zur Inszenierung von Mehrsprachigkeit in Felicitas Hoppes Hoppe (2012)
Epilog
Gretzky & ,Hoppe‘ – vom Spiel ,auf dünnem Eis‘ zu poetischen Freiheiten. Eine essayistische Annäherung an Hoppe (2012)
Autorinnen und Autoren
Abkürzungsverzeichnis
Register. Personen- und Werkverzeichnis
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Ehrliche Erfindungen: Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne
 9783839433195

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Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen

Lettre

Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.)

Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Larissa Frank Lektorat & Korrektorat: Svenja Frank, Julia Ilgner Satz: Julia Ilgner Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3319-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3319-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 9 Sollen sie pfeifen und winken!

Felicitas Hoppe | 11 Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Eine Einführung

Svenja Frank & Julia Ilgner | 15

E RZÄHLEN UND LITERARISCHE TRADITION Felicitas Hoppe als letzte deutsche Weltreisende. Zum Geleit

Ritchie Robertson | 45 „Wie krönt man richtig?“ Heiligsprechung und Kanonbildung in Hoppes Johanna (2006)

Ernest Schonfield | 53 „Familiengeschichten allesamt“. Familienkonstellationen im Werk Felicitas Hoppes

Michaela Holdenried | 71 Die magischen Künste des großen Humbug. Zur Bedeutung der kinderliterarischen Intertexte in Felicitas Hoppes Roman Hoppe (2012)

Lena Ekelund | 87 „Ein Kosmos der Ähnlichkeiten“. Felicitas Hoppes Benjamin-Analogien in Picknick der Friseure (1996)

Julia Boog & Kathrin Emeis | 109

E RZÄHLVERFAHREN Zyklisches Erzählen bei Felicitas Hoppe. Die Rahmenhandlung als Reenactment in Paradiese, Übersee (2003)

Franz Fromholzer | 135 ,Erzählbrücken‘ als Element ,neo-aggregativen‘ Schreibens. Zu den mittelalterlichen und romantischen Strukturelementen in Felicitas Hoppes Roman Paradiese, Übersee (2003)

Sandra Langer | 155 „Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind?“ Sprünge über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion bei Felicitas Hoppe

Maria Hinzmann | 175 Ikonisches Erzählen als Einheit von Realität und Imagination. Zum Verhältnis von ästhetischer Reflexion und narrativer Realisa tion im Werk von Felicitas Hoppe

Svenja Frank | 207 Historische Maskerade. Felicitas Hoppes Romane als Bachtin’scher Karneval

Veronika Schuchter | 237

E RZÄHLEN VON R AUM UND ZEIT Metafiktionale Räume. Topografien der Historie in Felicitas Hoppes Johanna (2006)

Erik Schilling | 259 „Ich mache die Orte zu meinen Sehnsuchtsorten“. Die Destabilisierung der strukturbildenden Elemente und ihre Funktion im Werk Felicitas Hoppes

Sonja Arnold | 273 „Aber was sind schon Grenzen!“ Zur Raumdarstellung in Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager (2004) und Johanna (2006)

Nadine Schneiderwind | 301

TRANSMODERNE AUTOFIKTIONEN UND AUTORSCHAFTSINSZENIERUNGEN „Am Rand eines Kraters“. Grenzgänge narrativer Identitätskonstitution in Hoppes Eis und Schnee (2004)

David Wachter | 321 Auto(r)fiktionen. Metaisierung als Wechsel narrativer und sozialer Frames am Beispiel von Felicitas Hoppes Hoppe (2012)

Florian Lippert | 343 „Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin“. Autorschaft, Autorität und Authentizität in Felicitas Hoppes Hoppe (2012)

Antonius Weixler | 359 „Vor dem Hintergrund von Hoppes Mehrsprachigkeit zeigt sich die Diskussion um ihr Werk heute unvermutet in einem neuen Licht.“ Zur Inszenierung von Mehrsprachigkeit in Felicitas Hoppes Hoppe (2012)

Dirk Weissmann | 389

E PILOG Gretzky & ,Hoppe‘ – vom Spiel ,auf dünnem Eis‘. Eine essayistische Annäherung an Hoppe (2012)

Uwe Dörwald | 413

Autorinnen und Autoren | 425 Abkürzungsverzeichnis | 431 Register | 433

Dank Oder: ,Wie dankt man richtig?‘

Die hier versammelten Beiträge gehen wesentlich auf die internationale Tagung Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne zurück, die im Rahmen des Writer-in-Residence-Programms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) mit der Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe vom 30. November bis 1. Dezember 2012 an der University of Oxford stattfand.1 Für die finanzielle Unterstützung, die zuvorkommende Gastlichkeit und den reibungslosen Ablauf vor Ort, die inspirierende Frei- und Denkräume überhaupt erst ermöglichen, sind wir dem Lincoln College, The Queen’s College sowie dem St Hilda’s College verbunden. Dr Charlie Louth und Dr Charlotte Ryland hatten entscheidenden Anteil am Gelingen der Gastdozentur sowie der gemeinsam mit den Studierenden organisierten öffentlichen Lesung Felicitas Hoppes. Taylor-Professor Dr Ritchie Robertson (Oxford) und Prof. Dr. Michaela Holdenried (Freiburg) sind wir für die Übernahme der Welcome Speech beziehungsweise der Keynote Speech herzlich verbunden. Benjamin Schaper (Oxford) hat die Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen im Tagungsbericht für H-Germanistik festgehalten.2 Ohne die großzügige materielle Förderung durch den DAAD wären weder Felicitas Hoppes Aufenthalt als Writer in Residence in Oxford noch das wissenschaftliche Begleitprogramm zustande gekommen. Für ihre uneingeschränkte Unterstützung danken wir daher im Allgemeinen der Außenstelle London sowie im Besonde-

1

Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne, internationale Tagung an der University of Oxford, 30. November bis 1. Dezember 2012. Das Tagungsprogramm ist unter folgender Webadresse einsehbar: http:// www.germanistik-im-netz.de/wer-was-wo/29535 [13.11.2012], 1.1.2015.

2

Benjamin Schaper, „Wenn wir „ich“ sagen, neigen wir dazu zu lügen“, in: H-Germanistik, http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=H-Germanistik&month=1305& week=d&msg=XfLOfMjUeXRlnYbbE%2BLUUg [23.3.2013], 1.1.2015.

10 | S VENJA FRANK & J ULIA I LGNER

ren Dr. Andreas Hoeschen, Christian Strowa und Judie Cole. Die Faculty of Medieval and Modern Languages hat die Durchführung zusätzlich dank der Gewährung eines Conference Grant erleichtert. Dank gilt auch der Graduiertenschule Kulturund Sozialwissenschaften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (GSKS) sowie ihrer Nachfolgeinstitution, der Graduiertenschule Humanities, namentlich Prof. Dr. Barbara Korte und Prof. Dr. Birgit Studt, für die Bezuschussung des Vorhabens im Rahmen der Doktorandenförderung. Dem Bielefelder transcript Verlag, insbesondere Anke Poppen von der Programmabteilung sowie Kai Reinhardt und Roswitha Gost von der Vorschauredaktion, sind wir für das von Beginn an bestehende Interesse an dem Projekt und die Aufnahme in die Reihe Lettre verbunden. Gero Wierichs verdankt der Band seine redaktionelle Betreuung – auch in typografisch ausweglosen Situationen. Larissa Frank von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe hat mit unerschütterlicher Geduld und technischer Professionalität den Umschlag des Bandes gestaltet und ein visuelles Konzept für den Titel entwickelt. Nikolaus Krebs sind wir für die freundliche Bereitstellung der Zeichnung, die dabei verwendet wurde, verbunden. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern danken wir für ihr andauerndes Interesse, ihr großes Engagement und die stete Bereitschaft, miteinander im Dialog zu bleiben. Um mit Felicitas Hoppe zu fragen: ,Wie dankt man richtig?‘ Auch wir wissen es nicht, doch unser abschließender Dank gilt der Autorin selbst: für ihr ungebrochenes Interesse an unserem Vorhaben, ihre Lesungen in Oxford, London und Windsor Park sowie ihre Arbeit mit den Studierenden, denen ihr Aufenthalt unvergessen bleibt – kurzum: für ihre (Geistes-)Gegenwart.

Hamburg/Göttingen, im Winter 2015

Die Herausgeberinnen

Sollen sie pfeifen und winken! F ELICITAS H OPPE

Die schlecht rasierten Liebhaber stehen abends immer paarweise an den Ecken vor dem Museum. Sie tragen ungebügelte Hosen und unpassende Hemden und warten darauf, daß ich meine Arbeit beende, um mit ihnen ein neues Leben zu beginnen. Aber ich vertiefe mich nicht in ihren Anblick. Sollen sie pfeifen und winken, ich bin nicht glücklich und habe nicht die Absicht, es zu werden. (Picknick, S. 75)

So beginnt die siebzehnte von insgesamt zwanzig Geschichten meines Debüts, Picknick der Friseure, die den schlichten Titel Leben und Werk trägt. Sie könnte auch Hemd und Hose heißen oder Neue Leben, von mir aus auch Glück. Aber da ist nichts zu machen, der Titel war (was mir nicht selten geschieht) lange vor seiner Geschichte da, mithin ein Auftrag, denn [a]uf meinen Schultern ruht die Hoffnung einer ganzen Familie, die ihre Arbeit tut und nach getaner Arbeit den Schlüssel an immer denselben Haken hängt. Ich werde meinen Posten nicht verlassen. (ebd.)

Auf meinem Posten war ich bereits mit sieben; hinter mir, was (angeblich) noch gar kein Leben war, aber vor mir schon ein fantastisches Werk, das einzig aus meiner Einbildung lebte, neben den üblichen Kinderlektüren die einzige Nahrung meines fröhlichen Schreibens; dass dieses Werk eines eigenen Lebens bedürfte, um tatsächlich Inhalt und Form anzunehmen, stand nicht zur Debatte: Wozu seine Zeit mit einem Leben verschwenden, das sich im Werk wie von selbst erfindet und haltbarer als jedes Tagwerk ist. So denkt und schreibt nur ein Kind, das noch jede Legende für Wahrheit hält und das ich bis heute geblieben bin: ein denkendes Kind, das sich in Größe hineinträumt und schreibend den Zugang zu einer Welt erschafft, die mir (wie ich umgekehrt ihr) immer fremd bleiben wird, das aber (immerhin) weiß, dass sich die Ge-

12 | FELICITAS HOPPE

schichte des Lebens nicht in ein Buch binden lässt, sondern sich unablässig weitererzählt und weiterschreibt, von Text zu Text und Buch zu Buch und über die Ränder der Bücher hinaus, ohne Aussicht auf Rettung und Ende, scheinbar absichtslos hinein in die Welt, die sich sowieso nicht erzählen lässt. Die letzten Sätze werden die ersten sein und die ersten die letzten, und immer so fort, bis ich eines Tages (niemand weiß, wann), den Stift endlich aus der Hand legen darf. Was übrigens die Hände betrifft: [D]ie Kontrollen sind streng. Die Hände liegen nicht unter dem Tisch, sondern neben dem Teller. Gesprochen wird während der Mahlzeiten nie, auch nicht gesungen [Hoppe singt nachweislich gern!/fh]. Allerdings ist es möglich, daß ich mir einmal mit der Serviette über die Stirn fuhr, anstatt nur die Mundwinkel zu betupfen. Es ist heiß in den Kantinen, denn die Fenster bleiben geschlossen, und man legt die Uniform nicht ab. (ebd.)

Leben und Werk trägt seine Uniform jedenfalls mit Stolz, nimmt die Kantinenhitze gelassen und lässt sich auch jenseits des Titels nicht lumpen, was die Aussicht auf Frischluft und die Kraft der Behauptung zum Gesamtwerk betrifft: Der Aufstieg ist aber unaufhaltsam. Ich weiß, daß ich eines Tages, aufrecht der Gang, die Knöpfe poliert, das oberste Stockwerk erreiche, um von da an für den Rest meines Lebens das Angesicht der schönen Tochter eines Müllers zu bewachen, die, in einem kostbaren Rahmen auf einem hölzernen Schemel hockend, unermüdlich Stroh zu Gold spinnt. (ebd., S. 75f.)

Stroh zu Gold blieb von sieben bis dreißig meine märchenhaft produktive Devise. Ich schrieb, ich war glücklich, ich hielt mich für groß (fast für unsterblich), Leben und Werk für eine einzige Einheit. Erst als ich zu publizieren begann (Eintritt in die wirkliche Welt), verlor das Werk schlagartig an Übertreibungskraft und zerfiel, so plötzlich wie unerwartet, in einzelne Bücher und Texte, die (Zeichen meines Erfolgs?) eines Tages sogar zu versteuern sein würden. Tatsächlich ist es die Steuer gewesen, die meinen Werkbegriff auf den Punkt gebracht hat und mich endlich das wirkliche Leben lehrte, das nötige Unterscheidungsvermögen, das mir die praktische Buchführung näher brachte und Ruhm und Ehre auf eine Definition, die mit der meiner Ritter und Duellanten nur wenig gemeinsam hatte. Es schlug die Stunde der Kategorie, es gab plötzlich Preise, und Preisgelder sind steuerpflichtig, wenn sie in einem untrennbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit einer Einkunftsart des Einkommensteuergesetzes stehen; dies ist anzunehmen, wenn die Preisverleihung den Charakter eines leistungsbezogenen Entgelts hat und sowohl Ziel als auch Folge der ausgeübten Tätigkeit ist.

S OLLEN SIE PFEIFEN UND WINKEN!

| 13

Preisgelder sind hingegen steuerfrei, wenn der Preis ein Lebenswerk oder Gesamtschaffen würdigt, eine persönliche Grundhaltung auszeichnet oder eine Vorbildfunktion herausstellt. In diesen Fällen besteht kein Zusammenhang mit einer Einkunftsart. (Die Inhalte der Verfügung entsprechen den Grundsätzen aus dem BMF-Schreiben vom 5.9.1996 [BStB1 I S.1150] und vom 23.12. 2002 [BStB1 2003 I S.76].)

Grundhaltung und Vorbild sind fantastisch praktische Wörter, zumal für ein Kind, das seit sieben an einem Gesamtwerk sitzt, das mit keiner Einkunftsart in Zusammenhang steht und keinen Gedanken an Trennung verschwendet; nichts, was einzeln verhandelbar oder womöglich versteuerbar wäre. Schon im Picknick ist alles vorhanden, wovon später genauer die Rede sein wird: Die Meerfahrt mit Pigafetta, der Ritter aus Paradiese, die Flüchtlinge aus Verbrecher und Versager, die Not und Tugend einer Johanna, und, last but not least, Leben und Werk von fh in Hoppe. Nur die Kostüme haben gewechselt und die Kulissen hinter der Bühne, auf der alles, immer wieder von vorn, zu ein- und derselben Aufführung kommt: derselbe Ritter mit demselben Rucksack, der sich vor Jahren auf den Weg gemacht hat, um ein Abenteuer zu suchen, das ihn bis heute nicht findet. Was die Frage nach der Versteuerbarkeit allerdings nicht ins Unrecht setzt; denn irgendetwas ist anders geworden, die Stimme ist nicht ganz dieselbe geblieben, sie ist, bei näherem Hinhören, natürlich allmählich älter geworden, trennschärfer, selbstreflexiver, unfreier, in anderen Worten: befangen; spricht nicht mehr nach vorn, sondern plötzlich nach hinten. Und während ich hinten sitze und schreibe (auf Bestellung der Wissenschaft in eine Selbstbetrachtung versunken, die meinem Schreiben nicht zuträglich ist), kommt eine leise Erinnerung auf: an das Jahr 96, in dem ich die ersten Preise bekam und zum ersten Mal ernsthaft an Buchhaltung dachte; in einem kleinen Saal vor einem kleinen freundlichen Publikum, vor dem ein großer Moderator mich nachsichtig fragte, ob meine Geschichten aus Picknick nicht in Wahrheit kleine Romane seien, nichts als flüchtige Exposés, die bis heute auf ihre romanhafte Durchführung warten. Vielleicht hatte er recht, und die Wahrheit ist, dass ich mein Werk von hinten nach vorne erzähle, in anderen Worten: Das Ende ist Picknick und Hoppe ist folglich nichts als der Anfang einer allzu langen Geschichte, die, statt als Lebensgeschichte versteuert zu werden, vor ihrer Zeit in einem einzigen Satz aufging, der niemals versteuerbar war. Denn Romane interessieren mich nicht. Sollen sie pfeifen und winken. Ich habe nicht die Absicht, glücklich zu werden, weil ich längst unterwegs zum Gipfel bin. Allerdings ist es möglich, dass ich mir, einmal, auf dem Weg nach oben, mit der Serviette über die Stirn fuhr, anstatt nur die Mundwinkel zu betupfen. Der Aufstieg ist aber unaufhaltsam. ___________________________________________________________________ fh/5.2015

Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne Eine Einführung S VENJA F RANK & J ULIA I LGNER Gerade sie, die Traditionen und Vorbilder jederzeit rigoros von sich weist, befindet sich damit in einer langen Tradition – eine unverbesserlichere Romantikerin werden wir in der Postmoderne kaum finden. (HOPPE, S. 295)

Seit Beginn der 1990er Jahre rückt der Begriff des ,Autors‘ und der ,Autorschaft‘ wieder verstärkt in den Fokus literaturwissenschaftlicher Theoriebildung. 1 Im Unterschied zu den subjektkritischen Konzepten der Postmoderne, insbesondere denjenigen des Poststrukturalismus, die in Roland Barthes’ These vom Tod des Autors (1967) wohl am prominentesten widerhallen,2 gewinnt die Autorfunktion als legitime Bezugsgröße im interpretatorischen Zugriff auf den literarischen Text wieder an Bedeutung. Auch der Werkbegriff erhält infolge dieser Aufwertung des textgenerierenden Subjekts in Praxis und Theorie neue Aufmerksamkeit. 3 Im Falle von Felicitas Hoppe wird über diesen Kontext hinaus die Betrachtung eines einzelnen Autorenwerks auch intrinsisch durch ihre Texte nahegelegt. Die inhaltliche und sprachliche Kontinuität zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten, die enge

1

Vgl. einschlägig JANNIDIS u. a., 1999.

2

Vgl. BARTHES, 2000 [1968].

3

Vgl. stellvertretend für die jüngste Forschungsdiskussion das von Lutz Danneberg, Annette Gilbert und Carlos Spoerhase initiierte Symposium „Wiederkehr des Werks?“, das vom 21. bis 23. Oktober 2015 auf Schloss Herrenhausen in Hannover abgehalten wurde. Für den Tagungsbericht von Elisabeth Weiß vgl. WEISS, 2016.

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auto-intertextuelle Verknüpfung sowie Hoppes ästhetischer Autonomieanspruch verlangen in besonderer Weise nach einer Fokussierung des autorspezifischen Werkzusammenhangs. Am 22. Dezember 1960 in Hameln geboren hat Felicitas Hoppe in Hildesheim, Tübingen, Eugene (Oregon), Berlin und Rom Germanistik, Rhetorik, Religionswissenschaft, Italienisch und Russisch studiert. Nachdem im Selbstverlag der Kurzprosaband Unglückselige Begebenheiten (1991) erschienen war, gelang ihr mit den absurd-grotesken Prosaminiaturen Picknick der Friseure (1996), die noch im selben Jahr mit dem Literaturpreis der ZDF-Kultursendung aspekte ausgezeichnet wurden, der literarische Durchbruch. Seither hat sie in vielseitigem Spiel mit literarischen und kulturellen Traditionen zahlreiche Erzählsujets, -formen und -genres aufgegriffen, nicht ohne dabei stets die poetische Eigenständigkeit des Werkes zu betonen: Das Spektrum reicht vom Abenteuer- und Seefahrtsroman (Pigafetta, 1999, Paradiese, Übersee, 2003) über das metabiografische Porträt (Verbrecher und Versager, 2004), den metahistoriografischen Campusroman (Johanna, 2006), den Artusroman (Iwein, 2008) bis hin zur fiktionalen Meta(auto)biografie beziehungsweise zur Autofiktion (Hoppe, 2012).4 Hinzu kommen mehrere in geringer Auflage bei der Berliner Handpresse erschienene Kinder- und Jugendbücher mit zum Teil aufwändiger Bildausstattung durch die Berliner Illustratoren Ingrid Jörg und Michael Sowa (Drei Kapitäne, 1998, Die weiße Frau, 2008, Der begnadigte Truthahn, 2010). Übersetzungen (Grünes Ei mit Speck, 2011), poetologische Essays (Auge in Auge, 2007, Über Geistesgegenwart, 2008, Im geheimen Garten, 2010), Poetikvorlesungen in Augsburg (Sieben Schätze, 2009), Göttingen (Abenteuer – was ist das?, 2010), Wiesbaden (Das geographische Geheimnis der Ewigkeit, 2010) und Dortmund (Schreiben, 2016) sowie Interviews, Kritiken und Miszellen ergänzen das Erzählwerk. Auf den aspekte-Literaturpreis folgten weitere Auszeichnungen und Stipendien, darunter der Klagenfurter Ernst-Willner-Preis (1996), der Heimito von Doderer-Literaturpreis (2004), der Nicolas-Born-Preis (2004) und der Literaturpreis der Stadt Bremen (2007). Im Jahr 2012 wurde das Gesamtwerk schließlich mit dem Georg-Büchner-Preis, der bedeutendsten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, prämiert. Ungeachtet dieser offiziellen Anerkennung stellt Felicitas Hoppes komplexe Erzählprosa zahlreiche Herausforderungen an ihre Leserschaft, vor allem auch an die professionelle und wissenschaftliche Rezeption: Dabei antizipiert Hoppe die Vorstellung, dass sich poetische Schönheit weder durch Literaturkritik noch durch Literaturwissenschaft dingfest machen lässt, in variierenden Sprachbildern: Schätze las-

4

Eine Typologie der historiografischen Metafiktion hat Ansgar Nünning in seiner Habilitationsschrift entworfen: NÜNNING, 1995. Zur Metabiografie vgl. zudem die Dissertation von Julijana Nadj: NADJ, 2006.

F ELICITAS HOPPE ALS E RZÄHLERIN ZWISCHEN TRADITION UND T RANSMODERNE

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sen sich nicht heben, die fabelhafte Berbiolette entwischt zuverlässig dem Schmetterlingsnetz – „was bleibt, ist ein Rätsel“ (Johanna, S. 11). Diese Bilder verknüpft Hoppe darüber hinaus sowohl in ihren fiktionalen Erzähltexten als auch im essayistischen Schreiben mit einem deutlich konturierten Alter Ego und einer performativ eingenommenen Autorenrolle, etwa wenn sie in den Augsburger Vorlesungen erklärt „Der Schatz bin ich“ (Schätze, S. 99), und überträgt damit die generelle Auffassung, Kunst und Literatur seien letztlich nicht greifbar, auf ihr Werk und ihre Autorenrolle insgesamt. Dabei stellt Hoppe nicht nur die Deutbarkeit ihrer Texte allgemein infrage: Zahlreiche fiktive literaturkritische und -wissenschaftliche Zitate, Werturteile und Kategorisierungen zeugen von einer Vertrautheit sowohl mit dem Wertungssystem des deutschen Feuilletons als auch mit der Sprache und der Methodik der Literaturwissenschaft, die auch ihr dezidiert ,anti-akademischer‘ Habitus nicht in Abrede stellt.5 Besonders deutlich ist diese paratextuelle Lektürelenkung in der parodistischen Erschreibung des eigenen Metadiskurses in der Autofiktion Hoppe.6 Die Frage nach der ,Deutbarkeit‘ eines unabgeschlossenen Werkes, die sich für die Gegenwartsliteraturforschung grundsätzlich stellt, ist für Hoppes Werk aufgrund dieser charakteristischen Metakommentare sowie seiner Autointertextualität von besonderer Relevanz. Wie mit der fortschreitenden Semantisierung des Werkes zu verfahren ist, kann in den Beiträgen dieses Bandes, die vorranging der textanalytischen Erschließung von Hoppes Werk gewidmet sind, nicht umfassend methodisch erörtert werden, soll aber als besondere Herausforderung benannt sein. Beispielsweise steht die Klärung der Frage, inwiefern die Bedeutungsveränderungen, die die Texte durch Folgeveröffentlichungen permanent erfahren, einbezogen werden können (und sollen), derzeit noch weitgehend aus.7 Auch kann an dieser Stelle nicht tiefer darauf eingegangen werden, wie mit den zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Produktion und Rezeption innerhalb der Gegenwartsliteratur zu verfahren ist, sondern lediglich darauf verwiesen werden, dass Hoppe die Rezeption des eigenen Erzählwerks in besonderer Weise beeinflusst, indem sie in Inter-

5

Dass Felicitas Hoppe allerdings gleichzeitig – als studierte Philologin und praxiserfahrene Sprachdozentin – gezielt akademische Foren besucht (Göttingen, Augsburg, Dortmund), an wissenschaftlichen Fachkonferenzen (Oxford, Hamburg) teilnimmt und eine Dichterlesung auf dem Deutschen Germanistentag absolviert (Bayreuth), relativiert den anti-akademischen Habitus.

6

Für eine differenzierte Typologie schriftstellerischer Inszenierungspraktiken nach ihrem Ort (lokale Dimension) und ihrer Art und Weise (habituelle Dimension) vgl. JÜRGENSEN/KAISER, 2011, sowie den Beitrag von Antonius Weixler im vorliegenden Band.

7

Manche Interpretationsansätze der Intertextualitäts- und Intermedialitätstheorie stellen im Gegenzug zur Diskussion, ob sich die Bedeutung von Prätexten durch spätere literarische Bezugnahmen sogar über den Werkkontext eines Autors hinaus neu konstituiere.

18 | S VENJA FRANK & J ULIA I LGNER

views, Vorlesungen, Essays und fiktionalen Texten als Kommentatorin ihres Schreibens agiert.

1. T RADITION : H OPPES K ANON UND L EKTÜREN Dass sich eine markante Autointertextualität einerseits und eine intensive Dialogizität mit dem literarischen Erbe andererseits keinesfalls ausschließen müssen, zeigt ein Blick auf das Traditionsverhalten der poeta docta Felicitas Hoppe. Die Bezugnahmen und produktiven Lektüren, die das fiktionale Erzählwerk ebenso grundieren wie die essayistischen Texte, gleichen einer panoramatischen Kanonschau und reichen von der Vormoderne bis in die jüngste Gegenwartsliteratur: begonnen bei der mittelalterlichen Epik und Sangspruchdichtung mit Hartmann von Aue (um 11601210) und Walther von der Vogelweide (um 1170-1230)8 über frühneuzeitliche Reiseberichte,9 die Novellistik der Romantik (Adelbert von Chamisso, 1781-1838, E. T. A. Hoffmann, 1776-1822),10 das Erzählgut der Grimm’schen Märchen und Sagen,11 die Weimarer Kunstepoche mit Johann Wolfgang von Goethe (17491832), Friedrich Schiller (1795-1805) und dem ,anderen‘ Klassiker Heinrich von Kleist (1777-1811),12 den literarischen Vormärz (Georg Büchner, 1813-1837)13 bis

8

Zu Hoppes Adaptation von Hartmanns Iwein vgl. insbes. BENZ, 2012, KAMINSKI, 2014 sowie HAMANN/PLOTKE, 2015. Zu Walther von der Vogelweide als Hoppes „deutsche[m] Lieblingsdichter“ vgl. Schätze, S. 65 (zit. n. ebd.), HOPPE, 2008c, S. 15.

9

Vgl. Hoppes Würdigung von Marco Polos Il Milione (1298/99) als ihr persönliches „Schutz- und Trutzbuch“ in Uwe Naumanns Leseanthologie (HOPPE, 2003b, S. 97). Zur Gattung des Reiseberichts vgl. auch den Beitrag von Ritchie Robertson in diesem Band.

10 Die Forschung hat wiederholt auf den Einfluss Hoffmanns sowie konkret auf Prinzessin Brambilla (1820) als möglichen Prätext von Paradiese, Übersee verwiesen. Die Figur des ,Leutnants aus Frankfurt‘ aus Hoppes Meister-Porträt wurde indes als literarischer Wiedergänger von Chamissos Schlemihl gelesen (vgl. NEUHAUS, 2003). 11 Vgl. HOPPE, 2000, S. 98. Unter den Grimm’schen Märchen hat Hoppe in einem Interview für die Frankfurter Rundschau den Teufel mit den drei goldenen Haaren sowie die vergleichsweise wenig bekannte Kluge Else favorisiert (s. HOPPE/GEISSLER, 2012). Vgl. auch ihre Grimm-Nachdichtung für das Audiobook Es war einmal ‒ Autoren auf Grimms Spuren (2013). Dass sich Hoppes Märchenrezeption nicht allein auf den nationalliterarischen Kanon der deutschen Romantik beschränkt, indizieren ihre Antworten im Interview mit Literaturblatt-Herausgeberin Irene Ferchl (HOPPE/FERCHL, 2010). 12 Befragt nach ihren Lieblingsheldinnen benennt Hoppe Kleists Käthchen von Heilbronn (HOPPE, 2012). Zu ihrer ironisch-dekonstruktiven Auseinandersetzung mit Goethe (HOPPE, 2002) vgl. BERS, 2015, S. 13f.

F ELICITAS HOPPE ALS E RZÄHLERIN ZWISCHEN TRADITION UND T RANSMODERNE

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hin zur Klassischen Moderne mit Franz Kafka (1883-1924), Walter Benjamin (1892-1940), Stefan Zweig (1881-1942) oder Bertolt Brecht (1898-1956)14 und schließlich der deutschen Nachkriegsliteratur mit ihren ,Übervätern‘ Günter Grass (1927-2015) und Martin Walser (*1927).15 Dass ein derart summarischer Querschnitt in seinen Ergebnissen prima vista wenig Überraschendes birgt und mithin keinen fallspezifischen Forschungswert besitzt,16 liegt auf der Hand, spiegelt er doch eine vergleichsweise zeittypische Lesebiografie und den repräsentativen Literaturgeschmack einer bestimmten Generation wider. Auch Hoppe erweist sich somit in ihrer literarischen Akkulturation zunächst als ein Kind ihrer Zeit: sozialisiert im linken Bürgertum und geprägt von den philosophisch-ästhetischen Debatten der 1980er Jahre und 1990er Jahre.17 Es bedarf daher einer eingehenderen Betrachtung von Hoppes Leseverhalten, die es erlaubt, die Lektüren im Hinblick auf ihren produktionsästhetischen Stellenwert zu bewerten. Als Ergebnis könnte, schematisch vereinfacht, folgendes Differenzmodell stehen: Hoppes Werk verrät, erstens, eine grundlegende Vertrautheit mit dem weltliterarischen Kanon, der im Wesentlichen dem bürgerlichen Zeitge-

13 Zu Hoppes anlassbedingter ,Relektüre‘ des ,strapazierten Klassikers‘ vgl. ihre Büchnerpreisrede sowie ihren Eröffnungsvortrag an der Gießener Justus-Liebig-Universität im Rahmen des Büchnerjahres 2013 (HOPPE, 2013). 14 Zu Hoppes Lektüre von Zweigs biografischem Roman Magellan (1938) im Kontext der Arbeit an Pigafetta vgl. HOPPE/ZETSCHE, 2012: „Ich habe da ganze Säcke voller Seefahrerliteratur, u. a. eine Biographie über Magellan von Stefan Zweig, die ich sehr schwülstig fand, sehr pathetisch geschrieben, aber: große Männer, große Abenteuer“. Zur Brecht-Rezeption vgl. Schätze, S. 154-161; mit dem Einfluss der Benjamin’schen Erinnerungspoetik auf Hoppes frühe Prosa befassen sich Julia Boog und Kathrin Emeis im Band. 15 Hoppe macht keinen Hehl daraus, dass die deutsche Literatur nach 1945 für sie von keiner größeren Prägekraft gewesen sei: „Da sind gute Bücher, natürlich, aber es ist nichts da, woran ich mich ernsthaft orientieren könnte.“ (HOPPE/SPIEGEL, 2007). 16 Es geht in diesem Rahmen weniger um eine ganzheitliche Erfassung nachweisbarer Einflusstexte denn um eine approximative Skalierung und summarische Übersicht ‒ basierend auf den Befunden der bisherigen Forschungsliteratur und den Beiträgen dieses Bandes. Auf den wissenschaftlich prekären Aussagewert der bloßen Akkumulation von Quellenreferenzen hat bereits Andreas Böhn (BÖHN, 2015) verwiesen. 17 Ihre ansehnliche Foucault- , Eco- und Lacan-Lektüre ließe sich hierfür beispielhaft anführen. Dass sich Hoppe auch angesichts der Kontextgebundenheit der eigenen Literaturproduktion keiner Illusion hingibt, zeigt sich im Rahmen ihres Essays über Literarische Vorbilder: „Immer schreibt man in den Fesseln der Zeit, immer ist man Nachlaßverwalter, Erbschleicher, Dieb, Sklave und Sekundant“ (HOPPE, 2000b, S. 97).

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schmack des ausgehenden 20. Jahrhunderts entspricht.18 Es speist sich, zweitens, aus einem nicht unerheblichen Fundus einer anlassgebundenen Lektüre, die in der Regel als literarische Auftragsarbeit (Poetikdozenturen, Preisreden, Hommagen anlässlich literarischer Jubiläen, Vor- und Nachworte) zeitlich und situativ begrenzt sowie unter bestimmten restriktiven Bedingungen erfolgt.19 Als werkkonstitutiv im eigentlichen Sinne erweist sich, drittens, lediglich eine genuine Hoppe-Tradition, die sich durch ein über die Jahre gewachsenes, von literarischen Moden unabhängiges Korpus an persönlichen Favoriten, an „Lieblingsdichtern“ und „Lieblingsbüchern“, auszeichnet (Schätze, S. 65, S. 200). Nur dieses autorspezifische Repertoire, oder ‒ mit den Worten des galicischen Dichters Álvaro Cunqueiro (1911-1981) gesprochen ‒ dieser „Schatz“ (zit. n. ebd., S. 22), wird der klassischen Autoritätsreferenz mit legitimatorischem Anspruch wertgeachtet und das fremde Dichterzitat dem eigenen Dichterwort gleichgestellt.20 Die auffällige zeitliche Beständigkeit und innere Geschlossenheit dieses Kanons erklärt sich insbesondere durch Hoppes kindliche und juvenile Lesesozialisation, die wesentlich durch die divergierende Medialität der Vermittlung geprägt ist: Entscheidend für die Aneignung von Literatur waren demnach nicht nur die eigene Lektüre und mehrfache Relektüre einzelner Texte, sondern desgleichen eine ausgeprägte ,Zuhörtradition‘ im familiären Kreis sowie im institutionalisierten Kontext der katholischen Kirche.21 So konditionierten neben der Predigt des Pfarrers mit ihrem appellativen Duktus und der direkten Höreransprache insbesondere der Vater als passionierter „Geschichtenerzähler“22 und die Mutter als ,Oralrezensentin‘ von Klassikern23 Hoppes Auffassung von Literatur als Vortragskunst. Mit dem Vor-

18 Vgl. die vorangegangene kursorische Betrachtung sowie Hoppes intertextuelle ,Abarbeitung‘ am literarischen Kanon im Essay Mein Blaubartzimmer (vgl. HOPPE, 2008a). 19 So verlangte etwa die Augsburger Poetikvorlesung im Rahmen der Bertolt-Brecht-Gastprofessur eine Auseinandersetzung mit dem Dichtersohn der Stadt ebenso wie die Dankesreden zum Büchner- oder Dodererpreis mit deren Namensgebern (vgl. HOPPE, 2013). 20 Eine solche intertextuelle Verfahrensweise kennzeichnet beispielsweise Hoppes Rekurse auf den russischen Dichter Ossip Mandelstam (1891-1938). Dass Hoppes ,Traditionʻ in weiten Teilen nicht mit dem klassischen germanistischen Kanon identisch ist, sondern sich vielmehr intensiv aus anderen Nationalliteraturen, wie der südamerikanischen, italienischen, polnischen oder russischen (und deren Erzählverfahren), speist, stellt auch die Forschung vor besondere Herausforderungen und eröffnet Chancen für komparatistische Lektüren sowie für die Beteiligung benachbarter Philologien (vgl. etwa WILLMS, 2015). 21 Hoppe hat sich wiederholt zu ihrer Lesebiografie geäußert, vgl. insbes. HOPPE, 2008a. 22 HOPPE, 2003a, S. 153. 23 Ein illustres Beispiel mütterlicher Literaturvermittlung betrifft Tolstois großen Ehebruchsroman Anna Karenina (1878): „Anna Karenina gehört zu meinen Lieblingsbü-

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lesen, der Rezitation und Deklamation, dem freien (Nach)erzählen oder der theatralen Aufführung von Poesie als Kaspertheater erfolgte die häuslich-private Literaturaneignung in variablen Modi und trug einen dezidiert performativen, mitunter auch experimentell-imitativen bis kompetitiven Charakter. Die geschwisterliche oder kameradschaftliche Konkurrenz um die Deutungshoheit von Texten generierte ein dynamisches mikrosoziales Kommunikationsgefüge für eine unbefangene, zugleich aber hochgradig interaktive sowie autonome Rezeption und Produktion von Literatur jeglicher Art und Provenienz ‒ vom identifikatorischen Nachspiel bis hin zur Klassikerdemontage.24 Auf die elterliche Affinität für den literarischen Höhenkamm reagierten die Kinder (entwicklungspsychologisch absolut folgerichtig) mit ästhetischem Distinktionsverhalten, indem sie bewusst zu Alternativen griffen und einen generationellen Anti-Kanon etablierten. Die Abwesenheit von massenmedialen Erzählinhalten sowie Vermittlungsformaten und damit von stereotypisierten audio-visuellen Interpretamenten begünstigte eine Konzentration auf die Lektüre beziehungsweise auf Wörter und Geschichten zusätzlich, sodass der Literatur als Unterhaltungsmedium ein Exklusivstatus zukam, der auch das familiäre Geschmacksprofil konturierte. An die Stelle einer ererbten Bibliothek, die sich wesentlich aus dem nationalliterarischen bürgerlichen Kanon der Vorgängergeneration(en) gespeist hätte,25 trat stattdessen, auch bedingt durch den vollständigen Verlust des materiellen Kulturbesitzes der aus Schlesien geflohenen Eltern, eine durch den Familiengeschmack geprägte individuelle und lebendige Sammlung,26 die nicht nur unabgeschlossen und damit erweiterbar, sondern grundsätzlich auch korrigierfähig war.

chern, obwohl ich es nie gelesen habe. Besser gesagt, Anna Karenina gehört zu meinen Lieblingsbüchern, weil ich es nie gelesen habe. Ich liebe eines der bekanntesten Bücher der Weltliteratur ausschließlich aufgrund meiner Erinnerung an mündliche und mütterliche Überlieferung.“ (Schätze, S. 200; Hvhbg. i. Orig.). Dass die indirekte, orale Vermittlung weder ein ausschließliches Phänomen der Kindheit noch des familiären Kontextes war, zeigt Hoppes Hölderlin-Rezeption anhand der Rezitation des Schweizer Schriftstellers und Wort-Performers Christian Uetz (vgl. ebd.). 24 Ein solches ,Schicksal‘ widerfuhr beispielsweise Schillers Sturm-und-Drang-Stück Die Räuber (1782), als dieses ‒ aufgrund emotionalen und sprachlichen Missfallens der tragischen Ausgangsszene (Amalias Tod) ‒ von Hoppe und ihren Spielgefährtinnen kurzerhand umgeschrieben wurde (vgl. HOPPE, 2009b). 25 Dass sie in einem „Haus ohne Kanon“ aufgewachsen sei, hat Hoppe verschiedentlich betont (HOPPE, 2008a, S. 37f.). 26 Ein Umstand, auf den Hoppe auch in ihren Augsburger Vorlesungen nicht ohne Stolz verweist: „In unserem Haus gibt es keine ungelesenen Bücher“ (Schätze, S. 200).

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Da sich Hoppes Akte ,schöpferischer Anverwandlung‘ nicht allein auf den Bereich der schönen Literatur beschränken, sei ein abschließender Blick auf andere Kunstformen wie Malerei, Grafik und insbesondere Musik gestattet. Denn dass die feuilletonistische Literaturkritik Hoppes Prosa wiederholt eine „sprachliche Musikalität“27 beziehungsweise einen genuinen „Hoppe-Sound“28 attestiert hat, legt nahe, dass auch altromediale Vorbilder, Gestaltungsprinzipien und Diskurse jenseits der Literatur produktiv in ihre Erzählwelt Eingang finden. So arbeitet die gleichsam musisch wie musikalisch erzogene Autorin, die selbst mehrere Instrumente spielt und leidenschaftlich gern singt,29 nicht nur mit thematisch-motivischen Bezügen und expliziten Musik(er)referenzen ‒ etwa auf Wolfgang Amadeus Mozart (17561791), Ludwig van Beethoven (1770-1828), Johann Sebastian Bach (1685-1750) oder den Klaviervirtuosen Glenn Gould (1932-1982) ‒,30 sondern nutzt auch Tonarten als Charakterbarometer für einzelne literarische Figuren. Insbesondere aber korreliert auf formal-struktureller Ebene die der Musik entlehnte Leit- und Wandermotivtechnik in evidenter Weise mit der dynamischen Erzählbewegung in Hoppes Texten, sodass diese als hermeneutisches Kompositionsmodell auch das semantische Referenzsystem des Werks erhellen.31 Eine analoge Funktion als potenzielles Vorbild für Hoppes mehrstimmiges Erzählverfahren dürften gleichsam Fuge und Kontrapunkttechnik erfüllen.32 Dass die Autorin schließlich selbst in ihrem poetologischen Sprechen und Schreiben über (eigene und fremde) Literatur kontinuierlich auf musiktheoretisches Vokabular, insbesondere aus Komposition und Rhythmuslehre, rekurriert, verdeutlicht, wie sehr ihr erzählerisches Werk und damit auch ihr Dichtungsverständnis an sich von anderen Kunstformen bestimmt sind. 33

27 CASPARI/HÄRTEL, 2014. 28 NEUHAUS, 2004. 29 Zu Hoppes musikalischer Erziehung im Rahmen einer gymnasialen Musikförderklasse vgl. stellvertretend HOPPE/GEISENHANSLÜKE, 2012. 30 Auf die ästhetische Bedeutung Goulds als musikalische (Leit)figur hat auch Michaela Holdenried in diesem Band aufmerksam gemacht (s. Anm. 28 ihres Beitrags). Vgl. ferner die Figur der Klavierlehrerin und ekstatischen Bach-Jüngerin Lucy Bell in Hoppe, S. 65-69, sowie kontrastiv Hoppes beharrliche Wagner-Schelte (HOPPE, 2012). 31 Vgl. Hoppes Ausführungen im Interview mit Peer Trilcke und Jana Wolf (TRILCKE/ WOLF, 2015). 32 Auf das strukturelle Analogieverhältnis zur musikalischen Kompositionsfigur der Fuge hat an anderer Stelle bereits Heinrich Detering verwiesen (DETERING, 2012). 33 Dass Hoppe die musikalische Dimension von Dichtung insbesondere auch im philologischen Sprechen über dieselbe vermisst, indiziert ihr eigenes Vorgehen im Rahmen der Gießener Vorlesung, in welcher sie Büchner unter dem Aspekt seines „spezifischen TON[S]“, eines „Ton[s] weltanschaulicher Kälte“, würdigt (HOPPE, 2013, S. 8f.).

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Einfluss und Prägekraft besitzt, wenn auch nicht in vergleichbarer Intensität, auch der Bereich der bildenden Künste ‒ sei es in Form der ekphrastischen Memorierung von Miniaturen aus der Manessischen Liederhandschrift (um 1300-1340), die das heimische Wohnzimmer der Eltern zierten (vgl. Abenteuer, S. 31f.), der attestierten Wesensverwandtschaft von Hoppes Narrativik und der enigmatischen Bildkunst M. C. Eschers (1898-1972)34 oder als inspiratorischer Schreibanlass für die eigene Biografie wie im Fall der affektiven Betrachtung eines Jugendbildnisses des kanadischen Eishockeystars Wayne Gretzky. Dass Visualität mitunter sogar zum konstitutiven Element in Hoppes eigener Prosa avancieren kann, belegt die korrelative intermediale Gestaltung von bildlichgrafischem und literarischem Porträt in Verbrecher und Versager. Vor allem aber pflegt Hoppe als freischaffende Autorin intensiv den künstlerischen Dialog und geht immer wieder projektbezogene Allianzen mit bildenden Künstlerinnen und Künstlern ein, wie etwa mit den eingangs erwähnten Illustratoren Ingrid Jörg und Michael Sowa,35 den beiden gestaltenden Künstlern Alexej Meschtschanow und Jana Müller im Rahmen des Reiseprojekts Das eingeschossige Amerika (2011) auf den Spuren der sowjetischen Autoren Ilja Ilf (1897-1937) und Jewgeni Petrow (1903-1942)36, mit der ,Schriftstellerfotografin‘ Renate von Mangoldt37 oder dem serbischen Maler Goran Djurović, den Hoppe in ihrem Vorwort zu dessen Dresdner Werkschau (2008) in identifikatorischem Gestus als ,Spion‘ und ,großen Reisenden‘ apostrophiert. Als „Meister der Verhüllung und Kostüme“ und „Kulissenschieber“ spricht sie dem Bildkünstler poetologische Eigenschaften und Fähigkeiten zu, die begrifflich-topisch ihrem eigenen Erzähl(er)konzept entlehnt sind.38 Am Beispiel Djurovićs wird somit ersichtlich, welche Ursachen und Motive bei der Konstituierung von Vorbildern im Falle Hoppes wirksam werden: Die Auswahl und Favorisierung einzelner Künstler und Kunstwerke richtet sich nicht wesentlich nach einem etablierten, verbindlichen Kanon, der sich allgemeiner Vertrautheit und Zustimmung erfreut, sondern erfolgt vielmehr aufgrund eines inhärenten Analogieverhältnisses zu Hoppes eigener Poetik. Daraus resultiert ein durch und durch indivi-

34 Vgl. hierzu HOLDENRIED, 2005, S. 15, sowie HAMANN, 2008, S. 109-111. 35 Vgl. Hoppes Kinder- und Jugendbücher Drei Kapitäne (1998), Vom Bäcker und seiner Frau (1999), Ingrids Affen (2006), Iwein Löwenritter (2008), Die weiße Frau (2008) sowie Der begnadigte Truthahn (2010). 36 Zu Ilf und Petrow, die zur Zeit des stalinistischen Terrors im Auftrag der Prawda die USA bereisten und die Eindrücke ihrer etwas anderen Grand Tour in einem „eigenwilligen Reiseroman“ festhielten, vgl. HOPPE, 2011 (zit. n. ebd.), und HOPPE/ROSEN, 2015. 37 Vgl. Hoppes Vorwort im Interviewformat für Mangoldts epochalen Porträtband Autoren. Fotografien 1962-2012 (2013): HOPPE/MANGOLDT, 2013. 38 HOPPE, 2008b, S. 8.

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duelles, autorspezifisches Referenzkorpus ohne konventionelle Vermittlerfiguren oder präfigurierte Interpretamente, das dem philologischen Begehr, die Autorin qua Traditionsreferenz einer eindeutigen literarischen Strömung zuzuordnen und ästhetisch zu verorten, kategorisch zuwiderläuft.39 Von der intertextuellen und literaturhistorisch ausgerichteten Autorenforschung erfordert dies nicht zuletzt die Notwendigkeit einer präzisen Kenntnis von Hoppes eigenem Erzählkosmos und den hier operierenden wirkungsästhetischen Prinzipien, um von diesen auf bedeutungsstiftende Prätexte und Vorbilder rückschließen zu können.

2. „W IR SCHREIBEN JA VON DER L ITERATUR H OPPES INTERTEXTUELLES E RZÄHLEN

AB .“

Hoppe ist eine so unbekümmerte wie produktive Ausbeuterin und Plagiatorin des literarischen Fundus und hat daraus auch niemals ein Hehl gemacht: „Nichts“, schreibt sie in ihrem kurzen Aufsatz Abschreiben (2008) „ist langweiliger als der ständige Versuch, originell zu sein, weil er auf einem grundsätzlichen Irrtum beruht, dem Glauben nämlich, in diesem ganzen Gewirr und Gewimmel von allem, was da ist, der Erste zu sein. Wer auf das Neue aus ist, hat schon verloren und kommt bestenfalls bei der Zeitung unter.“ (Hoppe, S. 234, Hvhbg. i. Orig.)

Felicitas Hoppes ,Lektürehorizont‘, ihre rezeptiv erworbenen wie produktiv verwerteten Vorbilder und Prätexte auch nur annäherungsweise rekonstruieren zu wollen, ist, wie gesehen, ein in pragmatischer wie wissenschaftlicher Hinsicht strapaziöses und wenig zweckdienliches Unterfangen. Gleichwohl scheint die Autorin die philologische Bestimmung ihres eigenen literarischen Geschmacksprofils implizit zumindest insofern zu forcieren, als sie vermittels ihres dominant metapoetischen und autokommentierenden Rezeptionsverhaltens selbst stetig und bereitwillig Auskunft über literarische Vorbilder und Einflussfelder gibt.40 In der Forschung haben sich, nachdem zuvor exemplarische Fallstudien und komparatistische Lektüren die spezifischen Selektionsmodi und Vertextungsstrate-

39 Vgl. hierzu die Ausführungen im Abschnitt 5 dieser Einleitung zur Transmoderne als alternative Epochenkategorie zur Postmoderne. 40 Hoppe hat sich im Rahmen von Poetikvorlesungen, Essays und Interviews wiederholt mit dem literarischen Kanon auseinandergesetzt und eigene Traditionsbezüge offengelegt: Vgl. HOPPE, 2000a, 2000b, 2003b, 2008a, 2009a, 2013, HOPPE/SPIEGEL, 2007, sowie die Augsburger Vorlesung Sieben Schätze, S. 197-230.

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gien von Hoppes Traditionsaneignung im Einzelfall perspektiviert haben, 41 zuletzt Anna Bers und Andreas Böhn in systematischer beziehungsweise intertextualitätstheoretischer Perspektive mit Hoppes Dialogizität befasst.42 Diesen Ansätzen liegt fast ausnahmslos die Annahme zugrunde, dass es sich bei Hoppe um eine produktive Leserin handele, die Literatur- und Kulturzeugnisse vorangegangener Generationen nicht lediglich passiv rezipiere, sondern sich diese zum Zwecke einer souveränen Wiederverwertung für die eigenen künstlerischen Zwecke schöpferisch anverwandle43 ‒ ein Traditionsverhalten, das die Autorin in poetologischen Äußerungen selbst wiederholt bekräftigt hat.44 Als konstitutiv in poeticis erweist sich dabei zum einen die dichtungstheoretische Reflexion sowie zum anderen die alternative Funktionalisierung von Hoppes Dialogizität. Formal umfasst ihr Rekurs auf die Tradition die ganze Skala intertextueller Referenzialität: von (onomastisch oder typografisch) markierten und unmarkierten wörtlichen Zitaten über motivische, symbolische, figurale oder konstellative Analogien, den Import verschiedenster Erzähl- und Gattungsmuster bis hin zur Pseudo-Intertextualität in der Autofiktion Hoppe.45 Qualitativ vermeidet die Autorin jedoch nahezu kategorisch die mimetisch-imitative Bezugnahme als Ausdruck eines affirmativen oder gar adorierenden Gestus gegenüber der zitierten Autorität, sondern sucht die konstruktive Konfrontation und über diese die metaliterarische Verhandlung. Dass sich die Bezugnahmen nur selten in bedeutungsstiftende Einzelverweise überführen lassen, sondern vielmehr scheinbar zufällige Reminiszenzen sowie en-passant-Allusionen den Erzähltext grundieren, ist einer wirkungsästhetisch motivierten Unbestimmtheitspoetik geschuldet. Verfahrenstechnisch gelingt dies, indem das zu adaptierende textuelle Material ästhetisch-

41 Vgl. GUTJAHR, 2009, MAIERHOFER, 2012, und WILLMS, 2015, sowie zur Rezeption biblischer Stoffe und christlich-religiöser Motivik SEIP, 2003, WIESMÜLLER, 2008, NEUHAUS, 2010, und STOCKINGER, 2015. 42 Vgl. BERS, 2015, sowie BÖHN, 2015. 43 Dass es sich bei Hoppe um eine Autorin mit „einem bemerkenswerten intertextuellen Selbstbewusstsein“ handele (SPIEGEL, 2012, S. 22) beziehungsweise dass Intertextualität ein inhärenter Bestandteil ihrer Poetik sei, wurde der Autorin verschiedentlich attestiert. Vgl. stellvertretend HELLSTRÖM, 2008, und GUTJAHR, 2009. Vgl. auch die Kategorisierung bei POROMBKA/KUTZMUTZ, 2007, S. 11f. 44 Vgl. TRILCKE/WOLF, 2015, S. 76: „Ich komme ja vom Nacherzählen, vom Fabulieren, auch im Sinne der Fabel, des Märchens, der Sage, der Legende. Das sind die Formen, die mich schon als Kind angeregt haben, die mich bis heute am meisten anregen.“ 45 Mittels welcher Strategien die Autorin die Funktionen und Bedingungen von Intertextualität in Hoppe reflektiert, wäre im Einzelnen noch zu zeigen, insbesondere im Hinblick auf das Verfahren der ostentativen Stilimitation, die mit Journalismus, Philologie, Geschichts- und Musikwissenschaft ganze Felder nicht-fiktionalen Erzählens umfasst.

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kognitiv durchdrungen und sprachlich assimiliert wird: Durch den Prozess einer systematischen ,Verfremdung‘, der eigentlich ein Prozess der ,Vereinnahmung‘ ist, einer alle Text- und Erzählebenen umfassenden Idiosynkratisierung, wird das Substrat des Ausgangstextes im Hinblick auf den Zieltext poetisch transformiert. Vormals vorhandene generische, stilistische oder lexikalische Differenzen werden nivelliert beziehungsweise überformt und dem eigenen Erzählstil angepasst. Als Ergebnis dieses Assimilationsprozesses durchzieht eine Art intertextuelle Resonanz die Texte, welche die konventionelle Zitat- und Bezugspoetik durch eine implizite irreferenzielle Literarizität ersetzt und dem Erzählwerk ein konstitutiv polyfones Gepräge verleiht.46 Dem Leser eröffnen sich dadurch literarische Assoziationsräume jenseits der verifizierbaren Einzelreferenz, sodass das inkorporierte Material aufgrund systematischer Dekontextualisierungen und Rekombinationen nicht mehr primär intertextuelle Allusionen, sondern vielmehr intra- oder autotextuelle Binnenechos erzeugt, je nachdem über welche individuellen Rezeptionsdispositionen (und vorangegangene Hoppe-Lektüren) dieser verfügt. Das gleichsam provokative wie progressive Moment, das dieser Methode eingeschrieben ist, zielt auf nichts weniger als einen radikalen Traditionsbruch ‒ jedoch, in nur scheinbar paradoxaler Wirkungsabsicht, zum Zwecke des Traditionserhalts: Denn „Traditionen sind dazu da, um gebrochen zu werden, nur wer notorisch übertreibt, stößt auf Neuland“ (Schätze, S. 7). Hinter Hoppes negierendem Traditionsverhalten verbirgt sich eine dichtungstheoretisch motivierte Skepsis ‒ weniger gegenüber der Tradition an sich als gegenüber der literarischen sowie institutionellen Traditionsbildung als artifizielle, interessengeleitete oder, schlimmstenfalls, willkürliche Konstruktion von Zusammenhängen, die „[w]omöglich nur Suggestion, der Wunsch nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Zeitgenossenschaft, Stellungnahme und Position“ ist.47 Denn jede Form der Hierarchisierung, Priorisierung und erst recht der Prämierung läuft immer auch Gefahr, den individuellen Autor normativ zu reduzieren und ideologisch zu vereinnahmen, bis dieser, wie etwa im Falle Büchners, „unter Zuschreibungen und Attributen seiner Nachwelt begraben liegt“.48 Hoppes Kritik zielt damit nicht zuletzt auf die diesem Prozess inhärente Erwartungshaltung, die von Publikum, Presse und Wissenschaft gleichermaßen auch und gerade an zeitgenössische Literatur herange-

46 Hoppes spezifische Adaptationstechnik literarischen Materials wurde schon verschiedentlich diskutiert und begrifflich umschrieben, etwa als ,unbewusste Intertextualität‘ oder als „kalkulierte Ungenauigkeit“ (BÖHN, 2015, S. 253). 47 HOPPE, 2000b, S. 97. Dass sich Hoppes Misstrauen nicht vornehmlich gegen die Klassiker selbst, sondern vielmehr gegen die Instanzen, Generatoren und Prozesse der Klassikergenese richtet, ist auch Gegenstand des Beitrags von Ernest Schonfield im Band. 48 HOPPE, 2013, S. 10.

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tragen wird, nämlich dass das Neue dem Alten gegenüber unentwegt zu einem referenziellen Devotionsakt verpflichtet sei. Ein wesentlicher Grund, weshalb sich Hoppe einem solchen autoritätengestützten Schreiben verweigert, liegt in der gehaltlichen und sprachlich-formalen Restriktion, die konventionelle Modi der Bezugnahme, so denn sie als solche erkennbar sein wollen, unwillkürlich mit sich führen, allen voran der „Wiederholung des ewig Gleichen“ (Schätze, S. 211), gleichzusetzen mit ästhetischem Stillstand. Was Hoppe stattdessen für sich zu vindizieren sucht und was sie selbst mit Begriffen wie ,Inspiration durch Geistesgegenwart‘, ,Traum‘, ,Fantasie‘, ,Imagination‘ oder eben ,ehrliche Erfindung‘ umschreibt, ist eine poetische Lizenz, das grundsätzliche Recht des Schriftstellers auf die gestalterische Freiheit seines Werks auch jenseits etablierter Konventionen und Erwartungen.

3. T RANSMODERNE Das Erzählwerk Felicitas Hoppes zeichnet sich somit einerseits durch die vielgestaltige Aufnahme literarischer Traditionen und andererseits durch seinen ästhetischen Autonomieanspruch aus – ein Befund, der ihre Verortung in einer ohnehin problematischen Periodisierung der zeitgenössischen Literatur zusätzlich erschwert. Aufgrund formaler Kritierien, der komplexen nicht-linearen Erzählstruktur, der prägenden Metafiktionalität und der Dichte des intertextuellen Verweissystems wurde Hoppes Werk wiederholt der Postmoderne zugeordnet.49 Allerdings konkurrieren mit dieser Zuschreibung Positionen, die die Funktion derselben erzählerischen Mittel anders bewerten und stattdessen für den Vergleich mit romantischen Erzählpoetiken argumentieren. Der Gehalt von Texten wie dem Reiseroman Paradiese, Übersee sei vielmehr der literarischen Romantik verpflichtet50 beziehungsweise einer neoromantischen Strömung oder transmodernen Überschreitung der Postmoderne zuzuordnen.51 Die folgenden Ausführungen sind sich ihres vorläufigen Charakters angesichts der offenen Kanonisierungs- und Historisierungsprozesse in der Gegenwartsliteraturforschung bewusst,52 erachten jedoch das Erkenntnispotenzial zeitgenössischer Betrachtung als wichtigen Baustein. Wie eingangs dargelegt, ist die theoretische und literarische Rekonstruktion des Autor- und Werkbegriffs für das Erzählwerk von Felicitas Hoppe von besonderer Bedeutung. Ihre Inszenierung von Autorschaft

49 Vgl. SCHOLZ, 2008, 2012. FREUDENTHAL, 2015, S. 90, liest Johanna als narrative Antwort auf das Posthistoire. 50 Vgl. CONTER, 2008, sowie FRANK, 2015. 51 Vgl. hierzu FRANK, 2014, sowie den Beitrag von Sandra Langer in diesem Band. 52 Für eine Zusammenfassung dieser Debatte vgl. auch SPOERHASE, 2014.

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in der Erzählprosa führt die Genese des literarischen Textes wieder auf ein kreatives Individuum zurück und steht damit im Kontext einer allgemeinen Rekonzeptualisierung des Subjekts, die in kulturdiagnostischen Auseinandersetzungen mit der Gegenwart wiederholt als Teilaspekt eines Paradigmenwechsels nach der Postmoderne begriffen wurde. Gute Gründe sprechen dafür, ihre Texte auch verstärkt innerhalb dieser konstatierten Entwicklungen zu kontextualisieren.53 Besonders in der anglistischen, amerikanistischen und slawistischen Theoriebildung hat sich eine Vielzahl an Begriffen und Bezeichnungen herausgebildet, die der Wahrnehmung Ausdruck verleihen, dass sich die Auffassungen von Realität, Identität und Sprache seit der Postmoderne grundlegend gewandelt haben: ,Postpostmoderne‘, ,meta-modernism‘, ,performatism‘, ,remodernism‘54 und ,Transmoderne‘ – um nur einige der derzeit virulenten Epochenbezeichnungen für die begriffliche Fixierung der Gegenwart zu nennen – teilen die terminologisch markierte Auffassung, dass die Postmoderne entgegen ihrer theoretischen Prämissen durch eine neue Phase abgelöst werde. Diese Ansätze diagnostizieren eine konstruktive Neufassung von Weltanschauung und Werten, die jedoch nicht hinter die radikalen Einwände der Postmoderne zurückfalle. Vielmehr sei die Jetztzeit gekennzeichnet durch den pragmatischen Anschluss an die Fragen der Moderne nach Wirklichkeit, Subjekt und Wissen, wobei der Konstruktcharakter solcher Kategorien permanent mitreflektiert werde. Die Kulturtheoretiker Timotheus Vermeulen and Robin van den Akker etwa definieren diesen Widerspruch als Sinnstiftung im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit: „The metamodern is constituted by the tension, no, the double-bind, of a modern desire for sens and a postmodern doubt about the sense of it all“ [Hvhbg. i. Orig.].55 Der Neologismus ‚Transmoderne‘, dem für den vorliegen-

53 Für eine Diskussion der Transmoderne in Abgrenzung zu anderen Bezeichnungen der gegenwärtigen Epoche und eine Verortung von Felicitas Hoppe anhand ihres Romans Johanna vgl. auch FRANK, 2014. 54 Hierbei handelt es sich im Unterschied zu den gesellschaftsdiagnostischen Ursprüngen der weiteren Epochenbezeichnungen um eine dezidierte Künstlerbewegung. Die Wiederaufnahme von Aspekten des Modernismus und die Abgrenzung von einer als metaphysisch leer bezeichneten Postmoderne geht auf ein Manifest des englischen Sängers, Malers und Schriftstellers Billy Childish (*1959) und seines Künstlerkollegen Charles Thomson (*1953) aus dem Jahr 2000 zurück (CHILDISH/THOMSON, 2000). 55 VERMEULEN/VAN DEN AKKER, 2010. ZAVARZADEH, 1975, S. 75, prägte bereits 1975 den Begriff metamodernist in Bezug auf den zeitgenössischen amerikanischen Roman und meint damit vor allem die Vermischung von Fakten und Fiktionen als eine literarische Bezugnahme, die der Welt entspricht, wie sie sich Ende des 20. Jahrhunderts darstellt. Diese Vorstellung einer adäquaten Darstellung der Wirklichkeit durch Fiktion (oder bei Hoppe durch das Märchen) scheint Hoppes Poetik nahe zu stehen.

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den Kontext der Vorzug gegeben wird, exponiert diese Verbindung zur Moderne, bei gleichzeitiger reflektierter Fortführung ihrer Fragestellungen. Die spanische Philosophin Rosa María Rodríguez Magda, auf deren Essay La sonrisa de saturno. Hacia una teoría transmoderna (1989) der Begriff ursprünglich zurückgeht, hat auch in ihrem jüngsten Beitrag zur Debatte erneut bekräftigt, dass der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassende Paradigmenwechsel als Synthese von Moderne und Postmoderne zu betrachten sei.56 Der pragmatische Ausgangspunkt dieser Neuordnungen bestehe darin, die ethischen, subjekttheoretischen oder gesellschaftsutopischen Herausforderungen anzugehen, indem man die Konstruiertheit der zugrundeliegenden Konzepte – Transzendenz, Identität und Wirklichkeit – akzeptiere.57 Die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Konstruktionen bildet die Grundlage für eine neue Ernsthaftigkeit, die auf die ironische Skepsis der Postmoderne folge. „Il est utile“, fasst Rodríguez Magda zusammen, „de reprendre les valeurs, après la perte de leur fondement métaphysique, comme des idéaux régulateurs, des simulacres opératifs en accord avec une nécessité pragmatique, logique et sociale.“58 Vergleichbare Tendenzen werden auch in der germanistischen Gegenwartsliteraturforschung hervorgehoben, auch wenn diese neuen Epochenbezeichnungen bislang noch mit Zurückhaltung begegnet. So habe die deutschsprachige Gegenwartsliteratur die Postmoderne vielfach überschritten.59 Seit der Jahrtausendwende biete die Erzählprosa vielmehr Beispiele für die Rückkehr eines linearen Zeitverständnisses oder unironischer Subjektkonstitutionen – wider die vorausgehenden Dekonstruktionen.60 Auch metaphysische Fragestellungen werden erneut aufgegriffen, wie die Verbindung von Welten mit unterschiedlichem ontologischem Status im fantastischen Erzählen zeigt. Dieses wird nämlich nicht mehr mit dem „ontological domi-

56 Vgl. RODRÍGUEZ MAGDA, 2014, S. 16, S. 21: „La Transmodernité prolonge, continue et transcende la Modernité. C’est le retour, la copie, la survivance d’une Modernité fragile, rabaissée ou light. L’ère contemporaine, traversée par toutes les tendances, tous les souvenirs, toutes les possibilités, transcende et rend apparente à la fois – de façon volontairement syncrétique – sa «multichronie». Ce retour, distancié, ironique, accepte sa fiction utile. La Transmodernité est donc le postmoderne sans son innocent aspect de rupture.“ 57 Vgl. AMIAN, 2008. 58 RODRÍGUEZ MAGDA, 2014, S. 23. 59 Vgl. den Tagungsband von KRUMREY, 2014. 60 Vgl. SCHILLING, 2013, S. 178 sowie S. 186f. Für die Situation in Deutschland scheint die Erklärung naheliegend, dass sich die Literatur im Zuge der politischen und sozialen Neuordnung nach 1989 in besonderer Weise ihrer Bedeutung für die „gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen“ bewusst geworden sei und historische, soziale und lokale Sinnkonstruktionen verfolge. Vgl. dazu auch SCHRAMM, 2010, S. 23.

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nant“,61 der radikalen Infragestellung des Seins und der Wirklichkeit als Kennzeichen des Postmodernismus in Verbindung gebracht,62 sondern – in expliziter Abgrenzung davon – mit einer neoromantischen Transzendentalpoetik. 63 Die vorläufige Skizze der gegenwärtigen Umbrüche – als literarische und gesamtgesellschaftliche Phänomene – zeigt, dass sich das poetologische und erzählerische Werk von Felicitas Hoppe, für dessen Verbindungen mit der literarischen Romantik argumentiert wurde,64 instruktiv in diesem Kontext der Transmoderne verorten lässt. Die Analyse von Einzelaspekten hat wiederholt demonstriert, dass die formal postmodernen Schreibweisen bei Hoppe eine andere Funktionalisierung erfahren: So veranschauliche etwa der hohe Grad an Intertextualität nicht die Auflösung des sprechenden Subjekts in sich überlagernde Diskurse, sondern vielmehr eine markante Individualstimme – die damit wiederum Autor- und Werkbegriff akzentuiere.65 Dass Hoppes Protagonisten im Verlauf der Erzählung häufig verschiedene Rollen annehmen, wurde als konstruktive Erweiterung der Postmoderne gelesen: Die Figuren offenbaren die „Gestaltungsmöglichkeiten des Subjekts, die zugleich Möglichkeiten der Literatur“ seien.66 Dies verweist bereits auf den Fiktionscharakter, der gemäß den transmodernen Voraussetzungen hingenommen und später auch im Oxymoron der „ehrlich erfunden[en]“ Identitätskonstitution wieder aufgegriffen wird (Schätze, S. 85, vgl. auch Johanna, S. 47). Im Sinne dieses Erzählprinzips legen Hoppes Texte kontinuierlich ihren Fiktionsstatus offen und beschäftigen sich gleichsam mit philosophischen und metaphysischen Konzepten: Wahrheit und Erlösung sowie ein moralischer Impetus kennzeichnen sowohl die Erzähltexte als auch die poetologische Reflexion. Auch die spezifische Entkopplung von faktischen und fiktiven Quellen auf der einen und authentifizierenden und fiktionalisierenden Schreibweisen auf der anderen Seite gründet auf einem romantischen Weltzugang, der die Trennung von Realität und Literatur als hinfällig erachtet. Insbesondere in Hoppes expliziten metahistoriografischen und meta(auto)biografischen Kommentaren kommt zum Ausdruck, dass die Konstruktion von Geschichte und

61 Vgl. MCHALE, 1987, S. 20. Für McHale bestimmt sich der Übergang vom Modernismus zum Postmodernismus über einen veränderteren Weltzugang, der sich durch eine Fokusverschiebung von epistemologischen zu ontologischen Fragestellungen auszeichnet („How can I interpret this world of which I am a part?“ – „Which world is this?“, S. 9f.). 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. HERRMANN, 2013, S. 64. Entsprechend dieser literaturwissenschaftlichen Befunde verstehen sich auch einige der erwähnten Epochendiagnosen als neoromantisch, vgl. etwa die Beschreibung des metamodernism bei VERMEULEN/VAN DEN AKKER, 2010. 64 Vgl. CONTER, 2008, sowie den Beitrag von Sandra Langer in diesem Band. 65 Vgl. HOLDENRIED, 2005. 66 NEUHAUS, 2008, S. 39.

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Identität stets Fiktion sei (Hayden White),67 ebenso wie jede Form von Realitätsrepräsentation. Mit dieser postmodernen Reflexion des Fiktionsstatus von Wirklichkeit und dessen transmodernem Inkaufnehmen als ‚ehrliche Erfindung‘ entspricht Hoppes Poetik dem philosophischen Gehalt der besprochenen Epochendarstellungen: Die Fiktion wird zum einzig adäquaten Modus des Wirklichkeitsbezugs, da ein anderer nicht mehr möglich ist – Rodríguez Magda spricht in diesem Zusammenhang daher von einer „simulation qui se sait réelle.“68

4. AUFBAU

DES

B ANDES

Die erste Sektion Erzählen und literarische Tradition widmet sich der produktiven Auseinandersetzung Felicitas Hoppes mit einzelnen Epochen, Autoren, Genres sowie Sujets der Weltliteratur. So liest eingangs Ritchie Robertson (Oxford) den Reiseroman Pigafetta und dessen textgenetische Vorstufe, die in mehreren Folgen unter dem programmatischen Titel Reise um die Welt (1997) im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war, im Kontext prägender Vorbilder der europäischen Reiseliteratur – wie Georg Forster (1754-1794), Adelbert von Chamisso (1781-1838) und Ida Pfeiffer (1797-1858) – und der Erfindung einer ,Romance of the Pacific‘, der auch Felicitas Hoppe als letzte deutsche Weltreisende Referenz erweise. Nicht der Tradition selbst, sondern vielmehr dem institutionellen Prozess der Traditionswerdung gilt das Interesse Ernest Schonfields (Glasgow). In vergleichender kulturhistorischer und -soziologischer Lektüre parallelisiert er unter der ,Kardinalfrage‘ Wie krönt man richtig? die Heiligsprechung und Kanonbildung in Hoppes Roman Johanna (2006) und damit die Amtskirche sowie die Universität als Instanzen der Kanonisierung. Unter Rekurs auf Pierre Bourdieu und Judith Butler wird vor allem drei Faktoren, der Kirche als Machtinstanz, dem Geschlechterkampf und der Sprache, besondere Bedeutung zugemessen. Dabei erweist sich Johanna von Orléans (um 1412-1431) insofern als Musterfall für die kritische Infragestel-

67 Vgl. WHITE, 1986 [1978] sowie 1991 [1973]. Vgl. stellvertretend für die kritischen Repliken von philologischer Seite, insbesondere zu Whites problematischem Fiktionsbegriff als Folge der Gleichsetzung von Textstrukturierung (emplotment) und Literarisierung (fiction-making), auch NÜNNING, 1999. 68 RODRÍGUEZ MAGDA, 2014, S. 22. Zur Fiktion als notwendigem Ausgangspunkt vgl. auch Raoul Eshelmans Verständnis von performatism (ESHELMAN, 2000/2001) sowie den Beitrag von Florian Lippert in diesem Band, der die Unmöglichkeit der Rückbindung von Sinnkonstruktionen an eine stabile Realität Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) entlehnt.

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lung des Kanonbildungsprozesses als sie selbst tradierter Gegenstand literarischer Profilierung (Schiller, Brecht, Seghers) ist. Nach der diskursiven Verhandlung der Verfahrensweisen und Repräsentanten kirchlicher und akademischer Konsekration am Beispiel des Blaubartzimmers sowie der beiden Figuren des Professors und Peitsches steht am Ende die Vision einer ,Wertschätzungsgemeinschaft‘ als neue, partnerschaftliche Kanoninstanz. Dass der Roman durch seine eigene Fortschreibung des literarischen Johanna-Mythos allerdings auch selbst an der Traditionsbildung partizipiert, ließe sich schließlich als performativer Akt der Autokanonisierung lesen. Dass sich die intertextuelle Dialogizität in Hoppes Romanen und Erzählungen nicht allein auf den etablierten Kanon der europäischen Literatur beschränkt, sondern auch virulente zeitgenössische Diskurse und Gattungen berührt, zeigt Michaela Holdenried (Freiburg) am Beispiel ausgewählter Familienkonstellationen im Werk Felicitas Hoppes. Dabei folge Hoppe jedoch nicht den konventionellen Zugriffsweisen familialen oder generationellen Erzählens (re- beziehungsweise dekonstruktiv), sondern erprobe in der kontrafaktischen Variation verschiedener Familiendynamiken eine genuine Methode, die verfahrenstechnisch in divergierenden Erzählstrategien (motivisch, konstellativ oder paratextuell) ihren Ausdruck finde. Dem (literarischen) Resonanzraum ,Familie‘ widmet sich auch Lena Ekelund (Hamburg), die in ihrem Beitrag die kinderliterarischen Intertexte in Hoppe (2012) perspektiviert. Die Verfasserin liest den Roman – in autobiografischer Annäherung – als implizite (Kinder-)Lesebiografie der realen Autorin Felicitas Hoppe, vor allem aber als literarische Hommage an das kindliche Lesen selbst. Das panoramatische Spektrum der alludierten Referenzen, die von den Gebrüdern Grimm über Jules Verne (1828-1905), Mark Twain (1835-1910) und Astrid Lindgren (1907-2002) bis zu Carlo Collodi (1826-1890) und Hoppes ,Lieblingsbuch‘ Pinocchio (1883) reichen, fungiert damit als rezeptionsanleitendes Plädoyer für die Rückkehr zu einer eskapistischen Lektüre, da allein diese aufgrund ihrer emanzipatorischen Wirkung eine autonome wie intellektuelle Auseinandersetzung mit der außertextuellen Welt ermögliche. Den Abschluss der Sektion bildet mit Julia Boogs und Kathrin Emeis’ (beide Hamburg) komparatistischer Lektüre von Walter Benjamins autobiografischer Erinnerungsschrift Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (posthum 1950) und Hoppes Erzähldebüt Picknick der Friseure eine exemplarische Fallstudie, die Hoppes Benjamin-Analogien anhand korrespondierender Erzählverfahren nachzeichnet. Mit der Schilderung sogenannter ,Urszenen‘, der mnemopoetisch aufgeladenen Dingsymbolik oder der kindlichen Erzählperspektive betreffen die Anleihen gleich mehrere Ebenen der Narration und weisen Benjamins Erinnerungsskizzen als konstitutives Erzählmodell für Hoppes Prosaminiaturen aus. Die zweite Sektion widmet sich tradierten Erzählverfahren der Weltliteratur, die Hoppe ausgewählten Vorbildern oder Diskursen entnimmt und zu idiosynkratischen

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Strategien mit veränderter Textfunktion transformiert. Einleitend nimmt Franz Fromholzer (Augsburg) mit dem zyklischen Erzählen am Beispiel von Hoppes Paradiese, Übersee ein narratives Ur-Modell in den Blick, das auf Vorbilder wie die morgenländische Erzählung von Tausendundeiner Nacht (um 1450) oder Boccaccios Decamerone (1349-1353) rekurriert, bei Hoppe jedoch neu funktionalisiert wird. Vor dem Hintergrund angelsächsischer Theorien des Reenactment offenbart sich das Wiedererzählen als performativer Akt, der die erzählenden Figuren sowie die jeweilige Erzählgemeinschaft immer wieder rekonstituiert und somit der programmatischen Notwendigkeit einer kontinuierlichen Vergegenwärtigung im Erzählen Rechnung trägt. Ein vergleichbares rekursives Moment kennzeichnet auch Sandra Langers (Siegen) Annahme sogenannter ,Erzählbrücken‘ als Element ,neo-aggregativen‘ Schreibens, einer Spielart der formalistischen Intertextualität, über die Texte beziehungsweise Darstellungsmodi früherer Epochen alludiert werden. Konkret diagnostiziert Langer in Hoppes Paradiese, Übersee eine Analogie zur vormodernen Versepik wie dem mittelhochdeutschen Artusroman oder dem Nibelungenlied. Deren ,aggregative‘ Narration einer fragmentarischen Offenheit und kausallogischen Inkohärenz, die aus dem Wechselverhältnis von Oralität und Literalität resultiere, werde in der literarischen Transmoderne wieder aufgegriffen und bestimme als ,neoaggregatives‘ Schreiben programmatisch auch die Erzählpoetik Felicitas Hoppes. Nicht die Inter-, sondern die spezifische Intra- und Autointertextualität steht sodann im Fokus der Analyse von Maria Hinzmann (Wuppertal), die sich unter Bezugnahme auf die linguistische Wortfeldtheorie (Busse, Clarke/Nerlich) den Sprüngen über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion widmet. Am Beispiel der polyvalenten und kulturgeschichtlich hochgradig semantisierten Erzählfigur des ,Löwen‘ aus Safari (2004) und Iwein Löwenritter (2008) wird paradigmatisch die Funktionsweise der Referenzstruktur vermittels semantischer Felder nachgezeichnet. Im Gegensatz zu konventionellen Formen inter- und intratextuellen Erzählens sei die Hoppe’sche Verweispoetik konstitutiv durch ein Prinzip der ,variierenden Wiederholung‘ bestimmt, das Kohärenzbildung einerseits gezielt initiiere, diese andererseits aber wiederum auch unterlaufe und diesen Akt einer permanenten Sinnrevision beziehungsweise einer verhinderten Disambiguisierung selbst zum Erzählprogramm (einer poetologischen Kohärenz) erhebe. Der Beitrag von Svenja Frank (Göttingen) setzt Kunstideal und Erzählstrategie in Hoppes Schreiben zueinander in Beziehung. Aus den essayistischen Texten der Autorin erschließt sich ihre poetologische Zielsetzung: Literarische Imagination soll aus der genauen Beobachtung von Realität hervorgehen. Nachdem zunächst gezeigt wird, wie dieses Ideal in den Erzähltexten bildlich dargestellt ist, wird nach seiner eigentlichen Umsetzung gefragt. Diese, so die These, ist in einer spezifischen Verbindung von konkreter und abstrakter Bedeutungsebene des Textes gegeben, die

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unter Bezug auf Charles S. Peirces Ikonbegriff als ,ikonisches Erzählen‘ gefasst wird. Unter dem Titel der Historischen Maskerade perspektiviert Veronika Schuchter (Innsbruck) das Phänomen des Karnevalesken als poetische Traditionslinie (Rabelais, Cervantes, Grimmelshausen) sowie als textdynamisches Element in Hoppes Erzählprosa. Analyseleitend ist hierbei Michail Bachtins Definition des Karnevals als eine okkasionelle ,Umkehrung tradierter Hierarchien‘ (1971), die mittels Maskierung und Polyfonie erzählerisch transformiert werde. Dass und inwiefern die ,literarische Karnevalisierung‘ in stofflich-motivischer, rhetorisch-topischer oder generisch-struktureller Hinsicht gleich mehrere Aspekte der Narration und Textkonstitution umfasse und damit zu einem werkkonstitutiven Paradigma der Erzählerin Hoppe avanciere, zeigt die Autorin im Rahmen einer formalanalytischen Lektüre der Romane Paradiese, Übersee, Johanna und Hoppe. Unter dem Titel Erzählen von Raum und Zeit widmet sich die dritte Sektion einem konstitutiven Prinzip von Hoppes Erzählkunst, das in dynamischkontextorientierter Funktionalisierung die jeweilige Narrationsstruktur einerseits bedingt und sie andererseits durch die systematische Erzeugung von Brüchen und Zwischenräumen wiederum autopoietisch thematisiert. So basiert Erik Schillings (München/Oxford) Beitrag über die metafiktionalen Räume und die Topografien der Historie in Johanna auf der Annahme, dass die raum-zeitliche Repräsentation in Hoppes Geschichtsroman nicht ausschließlich auf die diegetische Ebene der Erzählung beschränkt, sondern zugleich poetologisch motiviert sei. Mittels deiktischer Symbolik, der Parallelisierung von Handlungs- und Referenzorten oder der Gestaltung transitorischer Schwellensituationen eröffnen sich im Zuge der Raumevokation quasi prismatisch weitere Fiktionsräume und erzeugen eine narrative Polyfonie, die es ermöglicht, Gegenwart und Vergangenheit (und ihre etablierten Darstellungsmodi) metafiktional zu reflektieren und dadurch alternative Zugangsweisen zur Historie anzubieten. Der Evokation alternativer Welten als innerfiktionale Sehnsuchtsorte durch die Destabilisierung von strukturbildenden Elementen gilt auch das Erkenntnisinteresse Sonja Arnolds (Wuppertal). In einer textimmanenten Analyse ausgewählter Erzählungen Hoppes (Pigafetta, Paradiese, Übersee, Johanna, Der beste Platz der Welt) gelingt es ihr, unter Rekurs auf Paul Ricœurs Theorie der Mimesis (1983) nicht nur das inhärente Funktionspotenzial der Destabilisierungsprozesse aufzuzeigen, sondern auch deren Genese zum erzählkonstitutiven Modell. Die Außerkraftsetzung der kausallogischen Raum-Zeit-Disposition generiert temporäre Imaginationsräume von transgressivem Status und hohem rezeptivem Potenzial, die es ermöglichen, die tradierten Bedingungen des eigenen Erzählens metapoetisch zu reflektieren und in transmoderner Wirkungsabsicht alternative Schreibweisen zu erproben. Abschließend fokussiert Nadine Schneiderwind (Aachen) in ihrer Untersuchung der Raumdarstellung insbesondere die Rahmen- und Binnengeschichten sowie de-

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ren situative Grenzüberschreitungen in drei Porträts des Erzählbandes Verbrecher und Versager (Marathon, Eis und Schnee, Safari) und im Roman Johanna. Erkenntnisleitend ist die Annahme, dass die narrative Konfiguration von Raum zugleich Rückschlüsse auf die Erzählpoetik erlaube: So erweist sich unter Anwendung von Katrin Dennerleins theoretischen und analytischen Maximen einer Narratologie des Raumes (2009) die räumliche und zeitliche Trennung von Binnen- und Rahmenebene als zunehmend brüchig und permeabel. Die fortschreitende Auflösung und die rituelle Überschreitung ehemals etablierter Grenzen und Ordnungskategorien eröffnen dabei ,freie‘, metafiktionale Räume für die selbstreflexive Infragestellung des Verhältnisses von Repräsentation und historischer Wirklichkeit, die als Referenzebene der vermeintlichen Geschichtserzählungen nicht mehr länger Gültigkeit besitzt und durch eine ,neue Wirklichkeit‘ ersetzt wird. Die abschließende vierte Sektion untersucht transmoderne Autofiktionen und Autorschaftsinszenierungen als konstitutives Narrationsmodell in ausgewählten Erzählungen sowie im Roman Hoppe. Eine Scharnierfunktion zwischen Sektion drei und vier nimmt David Wachters (Jena) Beitrag über Grenzgänge narrativer Identitätskonstitution in Hoppes Eis und Schnee ein, einem der fünf literarischen Porträts aus Felicitas Hoppes Erzählband Verbrecher und Versager, denn auch seine Analyse stützt sich auf den Ausgangsbefund einer fehlenden Linearität und einer Aufkündigung der raum-zeitlichen Einheit. Geschuldet sei diese erzählerische Konfiguration dem bewusst fragmentarischen Status des Porträts als ,Entwurf einer Existenz in Bewegung‘, der es erlaube, am Beispiel der Grenzen einer narrativ evozierten Identität die (Un)möglichkeit und Bedingtheit literarischer Lebensrepräsentation an sich zu reflektieren. Konkret erfolge dies in Eis und Schnee vermittels einer programmatischen Überkreuzung des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ (respektive des ‚Vertrauten‘ und des ‚Fremden‘), einer für die Bildung von Identität konstitutiven Begriffsopposition, die Andrea Polascheggs Studie Der andere Orientalismus (2005) entlehnt ist. Eine solche Poetik der Verfremdung invertiere etablierte Ordnungen und Perspektiven bis hin zur Verschmelzung von Erzählerfigur und Protagonist, um Identitäts- und Alteritätskonstruktionen jenseits konventioneller Lebensschreibweisen auszuloten. Sodann widmet sich Florian Lippert (Groningen) am Beispiel der Autofiktion Hoppe der Metaisierung als Wechsel narrativer und sozialer Frames und unterscheidet hierfür einleitend mindestens vier narrative beziehungsweise ontologische Ebenen. Unter Einbezug soziologischer und kunstästhetischer Kategorien, insbesondere von Erving Goffmans Konzept der sozialen Rahmungen (1974), argumentiert er, dass der Fiktionsstatus der mehrfachen diegetischen Einbettungen nicht immanent, sondern primär durch ihre Rahmung entschieden werde. Im Roman Hoppe reflektieren die variantenreichen Metalepsen jedoch weiterhin, dass Rahmung und Erzählung nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden können. Gerade in der Überschreitung von als Fiktion und als Realität gerahmten Ebenen

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stelle die Erzählerin ihr poetologisches Prinzip der ‚ehrlichen Erfindung‘ aus und schaffe so eine fiktionale Auto(r)biografie, die dem Gegenstand möglicherweise näherkomme als Formen verbürgten (auto-)biografischen Schreibens. Die komplexen wechselseitigen Wirkzusammenhänge von Autorschaft, Autorität und Authentizität analysiert Antonius Weixler (Wuppertal) ebenfalls am Beispiel des Romans Hoppe. Sein Fokus liegt dabei insbesondere auf der Unterscheidung von textimmanenten und referenziellen Authentizitätszuschreibungen, die im Roman permanent durchkreuzt werden. Die erzähl- und autorschaftstheoretische Untersuchung, die auch das paratextuell konstituierte Rezeptionsverhalten und den öffentlichen Auftritt der ‚realen‘ Autorin im Blick behält, weist die Fiktion als metaautobiografischen Modelltext aus, der diskursiv und narrativ die Möglichkeiten literarischer Identitätskonstitution reflektiert. Kritik an konkreten Tendenzen marktorientierter Autorschaftskonstruktion im deutschsprachigen Literaturbetrieb der Gegenwart übt die Autorin Felicitas Hoppe, so die These Dirk Weissmanns (Paris), mittels einer fiktiven Inszenierung von Mehrsprachigkeit in ihrer Autofiktion Hoppe. Mit ihrer ,Traumbiographie‘, die Hoppes faktische Kindheit und Jugend in der niedersächsischen Provinz durch einen ebenso kosmopolitischen wie polyglotten Werdegang ersetzt, parodiere sie nicht nur das öffentliche Interesse an der Person des Autors beziehungsweise der Autorin, sondern wende sich auch gegen eine vielfach suggerierte Korrelation von ereignisreicher Biografie und ästhetischer Qualität des Werks. Dabei fungiere die Migrationsliteratur als Beispiel einer solchen Fokusverschiebung in Bezug auf die Literaturkritik und die Kanonisierung. Mit einer essayistischen Annäherung an die literarische Figur ‚Felicitas‘, wie sie in Hoppe gezeichnet wird, beschließt Uwe Dörwald (Buchen) den Band. Indem er die Trainings- und Übungsphasen der Eisläuferin und Musikerin ,Felicitas‘ als Metapher für die künstlerische Tätigkeit des Schreibens im fiktionalbiografischen Dichterroman Hoppe fasst, vermag er zugleich auch Rückschlüsse auf das Autonomieverständnis und die Schreibmotivation der fiktiven Autorin ‚Hoppe‘ zu ziehen.

L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Das Weserbergland. Idyllen des Verschwindens, in: Deutsche Landschaften, mit Fotografien von THERESE HUMBOLDT hg. von THOMAS STEINFELD, Frankfurt a. M. 2003, S. 149-155 [2003a]. DIES., Die Leiden des jungen Werthers. Felicitas Hoppe über Goethe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.5.2002, S. 47.

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DIES., Fragebogen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage zur Buchmesse, 10.10.2012, S. 19, http://www.faz.net/dynamic/buchmesse/Zeitung_zur_Buch messe-10-10-2012.pdf, 1.1.2015. DIES., Glück und Unglück des studierten Schriftstellers, in: Texte, Wissen, Qualifikationen. Ein Wegweiser für Germanisten, hg. von THOMAS RATHMANN, Berlin 2000, S. 197-198 [2000a]. DIES., Il Milione – die Wunder der Welt, in: Verführung zum Lesen. 52 Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten, hg. von UWE NAUMANN, Reinbek 2003, S. 95-97 [2003b]. DIES., Im geheimen Garten. Von der Notwendigkeit, Kinderbücher zu lesen. Festvortrag zum 60. Geburtstag der Internationalen Jugendbibliothek, in: Das Bücherschloss 1 (2009), S. 8-15 [2009a]. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Kolumbus geht an Land, in: ILF, ILJA/PETROW, JEWGENI, Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos von ILJA ILF in Schwarz-Weiß und Briefen aus Amerika (Die andere Bibliothek 320/321), 2 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 2011, S. 19-30. DIES., Literarische Vorbilder? Dreizehn Zitate und ein Schulaufsatz, in: Helden wie Ihr. Autoren über ihr Schreiben, hg. von JÜRGEN J. BECKER/ULRICH JANETZKI, Berlin 2000, S. 96-101 [2000b]. DIES., Mein Blaubartzimmer. Felicitas Hoppe liest wie eine Bäuerin, in: Unwürdige Lektüren. Was Autoren heimlich lesen, hg. von THOMAS KEUL, München 2008, S. 35-40 [2008a]. DIES., Meister und Schüler zugleich – Goran Djurović reist weiter, in: Goran Djurović. Ich sehe was, was du nicht siehst, hg. i. A. des LEONHARDI-MUSEUM DRESDEN anlässlich der Ausstellung Goran Djurović vom 12. April bis 8. Juni 2008, Ostfildern 2008, S. 7-11 [2008b]. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. DIES., Tintenklecksendes Säkulum, in: Sturm und Drang. Junge Autoren blicken auf eine Epoche, hg. von HANS-GERD KOCH, Düsseldorf 2009, S. 272-273 [2009b]. DIES., Wie lobt man richtig? Relecture eines strapazierten Klassikers, http://www. schwarz-auf-weiss.org/index.php?id=12&tx_ttnews[tt_news]=170&cHash=0d3 19b7da169c14cde4293fc6c1ccc31, [8.6.2013], 1.1.2015. DIES./FERCHL, IRENE, „Wir sind alle Nomaden“. Felicitas Hoppe äußert sich zu Stipendien, Gastprofessuren und dem Unterwegssein, in: Literaturblatt 5 (2010), S. 6-8. DIES./GEISENHANSLÜKE, RALPH, „Ich betrete den Saal, die Leute klatschen. Und ich bin die Dirigentin“, in: Zeitmagazin 32 (2012), http://www.zeit.de/ 2012/32/Traum-Felicitas-Hoppe [2.8.2012], 1.1.2015.

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DIES./GEISSLER, CORNELIA, Andere trinken Schnaps, in: Frankfurter Rundschau Online, http://www.fr-online.de/literatur/felicitas-hoppe-andere-trinkenschnaps,1472266,21136198.html [17.12.2012], 1.1.2015. DIES./MANGOLDT, RENATE VON, Eine Porträtierte fragt. Felicitas Hoppe im Gespräch mit Renate von Mangoldt, in: R. V. M.: Autoren. Fotografien 19632012, Göttingen 2013, S. 9-23. DIES./SPIEGEL, HUBERT, Haben Sie Überväter, meine Damen? Felicitas Hoppe und Sibylle Lewitscharoff im Gespräch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.3. 2007. DIES./ZETSCHE, CORNELIA, [Interview für Bayern 2 im Rahmen des Münchner Literaturfests 2012], https://www.youtube.com/watch?v=mS4jePVRLNQ [21.11.2012], 1.1.2015. TRILCKE, PEER/WOLF, JANA, Das Erfundene rettet einen vor gar nichts. Im Gespräch mit Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe (Text + Kritik 207), hg. von P. T., Göttingen 2015, S. 74-79. Sekundärliteratur AMIAN, KATRIN, Rethinking Postmodernism(s). Charles S. Peirce and the Pragmatist Negotiations of Thomas Pynchon, Tony Morrison, and Jonathan Safran Foer (Postmodern Studies 41), Amsterdam/New York 2008. BARTHES, ROLAND, Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. und komment. von FOTIS JANNIDIS, Stuttgart 2000 [DERS., La mort de l’auteur, in: Manteia 5 (1968), S. 12-17]. BENZ, JUDITH, Die Zähmung des Truchsessen. Die Keiefigur in Felicitas Hoppes Iwein Löwenritter und Hartmanns von Aue Iwein, in: Geschichte des Reisens – Reisen zur Geschichte. Studien zu Felicitas Hoppe (Schwedische Studien zur deutschsprachigen Literatur 1), hg. von THOMAS HOMSCHEID/ESBJÖRN NYSTRÖM, Uelvesbüll 2012, S. 137-157. BERS, ANNA, Hoppe und die alten Herren. Zum Umgang mit Kanoninstanzen und Klassikern bei Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe (Text + Kritik 207), hg. von PEER TRILCKE, Göttingen 2015, S. 9-16. BÖHN, ANDREAS, Schatzsuche und falsche Fährten. Intertextualität bei Hoppe, in: Felicitas Hoppe: Das Werk (Philologische Studien und Quellen 251), in Zsarb. mit STEFAN HERMES hg. von MICHAELA HOLDENRIED, Berlin 2015, S. 253-266. CASPARI, MARIA/HÄRTEL, STEPHANIE, Wo das Wort endet, in: Theo, http:// www. theo-magazin.de/2014/02/20/wo-das-wort-endet [20.2.2014], 1.1. 2015. CHILDISH, BILLY/THOMSON, CHARLES, Remodernism – ‘towards a new spirituality in art’, http://www.stuckism.com/remod.html [1.3.2000], 1.1.2015. CONTER, CLAUDE D., Felicitas Hoppes romantische Modernekonzeption. Zum Roman Paradiese, Übersee, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachi-

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Erzählen und literarische Tradition

Felicitas Hoppe als letzte deutsche Weltreisende Zum Geleit R ITCHIE R OBERTSON

Als Auftakt zu diesem Sammelband, nicht als wissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinn, biete ich hier eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrages, mit welchem ich bei der Konferenz Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne die Autorin im Namen der Subfaculty of German in Oxford willkommen geheißen und ihr zum Büchnerpreis gratuliert habe, der ihr im Oktober 2012 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen worden war. Ich möchte dabei insbesondere kurz auf Felicitas Hoppes ersten Roman Pigafetta (1999) eingehen und ihn sowie sie als Reisende in den Kontext anderer deutscher und österreichischer Schriftstellerinnen beziehungsweise Schriftsteller stellen, die ebenfalls die Welt bereist haben. Sollte mir dabei ein Fehler unterlaufen, möge mir Frau Hoppe verzeihen und sich an Rainer Maria Rilkes (1875-1926) Worte erinnern: „Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen sammeln.“ 1 Der Titel Pigafetta zollt dem italienischen Seefahrer Antonio Pigafetta (um 1480-1534) Tribut, der selbst die Welt umsegelt hat. 1519 meldete sich Pigafetta als Freiwilliger für die Expedition Ferdinand Magellans (1480-1521), die für die Erdumrundung drei Jahre benötigen sollte. Auf dieser Reise entdeckte Magellan die Meerenge, die heute nach ihm benannt ist und den Atlantik mit dem Pazifik am südlichsten Ende des amerikanischen Kontinents verbindet. Magellan wurde später auf den Philippinen getötet; Pigafetta aber kehrte mit seinen Notizbüchern nach Spanien zurück: Sie enthielten detaillierte Beschreibungen der Flora, Fauna und der Urbevölkerung, der er während seiner Reise begegnet war. Allerdings sollte man

1

RILKE, 1996 [1903], S. 405.

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Pigafettas Bericht nicht ganz für bare Münze nehmen. Er erzählt zum Beispiel von einem Riesen, auf den er und seine Begleiter in Patagonien gestoßen seien und der „so groß war, dass selbst der größte unter uns nur bis zu seiner Taille reichte.“ 2 Damit begründete Pigafetta den Mythos der patagonischen Riesen, der sich für mehrere Jahrhunderte halten sollte. Diese Mischung aus Fakten und Fiktionen lässt Pigafetta zum geeigneten Schutzpatron von und für Felicitas Hoppe werden. Hoppes Roman Pigafetta weist mehrere Gemeinsamkeiten mit ihrer eigenen Weltreise auf, die sie 1997 auf einem Containerschiff unternommen und mit dem Preisgeld für ihre Kurzgeschichtensammlung Picknick der Friseure (1996) finanziert hatte. In ihrer fiktionalisierten Autobiografie, oder Autobiografiefiktion, Hoppe (2012), verweist sie auf „jene vielzitierte Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff“ (Hoppe, S. 13) und lädt uns spielerisch ein, daran zu zweifeln, ob sie die Reise tatsächlich jemals unternommen hat. Wie auch immer sich das Verhältnis von Wahrheit und Erfindung in Pigafetta gestalten mag, es ist eine unterhaltsame und detaillierte Erzählung mit zahlreichen Geheimnissen und vielen großen Geschichten. Die Erzählerin wird begleitet von Pigafettas Geist, dessen Stimme sich an manchen Stellen fast ununterscheidbar mit der ihren vermischt; Hoppes eigene Reise ist durchdrungen von den Ereignissen, die Pigafetta auf seiner Reise unter der Leitung des ,Generalkapitän[s]‘ widerfahren. Die reisejournalistischen Texte, die dem Roman vorausgingen und teilweise in veränderter Form in Pigafetta eingeflossen sind, erschienen in den Sommermonaten 1997 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel Reise um die Welt.3 Felicitas Hoppe schreibt sich damit in eine Tradition deutscher Schriftsteller ein, die selbst Erzählungen mit dem Titel Reise um die Welt verfasst haben. Eine Weltumrundung beinhaltet unvermeidlich eine Überquerung des Pazifik, so haben diese Reisenden zu etwas beigetragen, was man wohl als ,Romance of the Pacific‘ bezeichnen könnte – eine romantische Vorstellung, die sich insbesondere auf die Insel Tahiti bezieht. Mein erster Zeuge ist natürlich Georg Forster (1754-1794), der als junger Erwachsener gemeinsam mit seinem Vater die Weltumsegelung Captain James Cooks (1728-1779) begleitete und der zunächst auf Englisch und später auf Deutsch einen Bericht über diese Reise verfasste (A Voyage Round The World, 1777, dt. Reise um die Welt, 1778-1780). Forsters erster Blick auf Tahiti ist berühmt, aber es lohnt, ihn noch einmal zu zitieren: Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten

2

PIGAFETTA, 1999 [1524-1534], S. 178.

3

HOPPE, 1997.

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Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich, mit Waldung bedeckt, und mit verschiednem anmuthigen Grün und herbstlichen Braun schattirt waren. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene empor ragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren.4

Forsters Bild von Tahiti als ein locus amoenus, der dem Paradies auf Erden sehr nahekommt, sollte sowohl auf die deutsche als auch auf die englische Literatur einen bleibenden Eindruck haben. Dieser Primitivismus spiegelt sich etwa im 20. Jahrhundert wider: So beschwört Georg Trakl (1887-1914) den Mythos des SüdseeParadieses in seinem Gedicht Psalm (1912): Es ist eine Insel der Südsee, Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln. Die Männer führen kriegerische Tänze auf. Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen, Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.5

Die Romance of the Pacific kehrt auch bei Gottfried Benn (1886-1956) wieder – der, wie es der Zufall will, im Jahre 1951 der erste Büchnerpreisträger war. Seine Schilderung in dem Gedicht Palau (1922) hat jedoch einen unheimlichen, morbiden Unterton: „Rot ist der Abend auf der Insel von Palau Und die Schatten sinken –“ Singe, auch aus den Kelchen der Frau Läßt es sich trinken, Totenvögel schreien Und die Totenuhren Pochen, bald wird es sein Nacht und Lemuren.

4

FORSTER, 1965 [1778-1780], S. 217f.

5

TRAKL, 1987 [1912], S. 55.

48 | RITCHIE R OBERTSON Heiße Riffe. Aus Eukalypten geht Tropik und Palmung, Was sich noch hält und steht, Will auch Zermalmung Bis in das Gliederlos Bis in die Leere Tief in den Schöpfungsschoß Dämmernder Meere.6

Selbst wenn Forster die Romance of the Pacific in der deutschen Literatur etabliert, ist sein Primitivismus nicht unproblematisch. Man könnte seine Reise um die Welt sogar als eine fortwährende Suche nach dem edlen Wilden betrachten, die fortwährend enttäuscht werden muss. Er betrachtet Tahiti als „eine[n] der glücklichsten Winkel der Erde“,7 doch selbst dort trifft er auf Wahnsinn, Laster, soziale Ungleichheit und all den Opportunismus, der mit dem Leben am Hofe einhergeht. Die armen Leute züchten Schweine für die Tafeln der Reichen. Der König bedient sich arglistig einer „Maskerade von Heucheley und Verstellung“. 8 Seine Höflinge sind angenehm, aber unaufrichtig. Forsters Erwartung, auf Tahiti „eine gewisse frugale Gleichheit“9 vorzufinden, macht den Schock nur noch größer, als er auf einen ausgesprochen dicken Mann trifft, dem zwei Diener Früchte des Brotbaums in den Mund schieben. Seine Hoffnungen auf primitive Gleichheit werden zunichtegemacht von dem „Anblick dieses trägen Wollüstlings, der sein Leben in der üppigsten Unthätigkeit ohne allen Nutzen für die menschliche Gesellschaft, eben so schlecht hinbrachte, als jene privilegierten Schmarotzer in gesitteten Ländern“. 10 Die Begegnungen zwischen Polynesiern und Europäern höhlen die Romance of the Pacific weiter aus. Die Frauen sind nur allzu gern bereit, ihre Körper im Austausch gegen materielle Güter anzubieten: „Es ist würklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisierten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben.“11 Natürlich kam es weiterhin zu solchen Begegnungen. Möglicherweise litten die Insulaner unter dem moralischen Zerfall, gewiss aber unter den ansteckenden

6

BENN, 1982 [1922], S. 142.

7

FORSTER, 1965 [1778-1780], S. 261.

8

Ebd., S. 256.

9

Ebd., S. 249.

10 Ebd. 11 Ebd., S. 254.

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Krankheiten, den ökologischen Katastrophen wie dem Einschleppen von Ratten und anderem Ungeziefer sowie unter der von den Europäern ausgeübten Gewalt. Die Bevölkerung Tahitis wird zu Zeiten Cooks auf 35.000 Bewohner geschätzt, im Jahr 1797 war sie jedoch bereits auf 16.000 geschrumpft und weite Teile der Bevölkerung waren den Pocken, dem Typhus, der Grippe, Geschlechtskrankheiten oder dem Alkohol zum Opfer gefallen. Diese Auswirkungen schildert ein späterer Reisender, der seine eigene Reise um die Welt (1836) verfasst hat, Adelbert von Chamisso (1781-1838). 1815 brach Chamisso auf dem russischen Schiff Rurik unter dem Kommando Ottos von Kotzebue (1787-1846), dem Sohn des bekannten Bühnendichters August von Kotzebue (1761-1819), zu einer wissenschaftlichen Entdeckungsreise auf. Chamisso war Botaniker und entdeckte auf seiner Reise mehrere neue Pflanzenarten, und sogar eine Insel wurde nach ihm benannt. Er führte ein Tagebuch, das nicht nur Lesevergnügen bereitet, sondern auch sehr viel zuverlässiger als Pigafettas Aufzeichnungen ist. Chamisso stellte fest, dass die Schönheit und die Freuden des Lebens auf den Inseln durch den Einfluss der Zivilisation verdorben worden seien und bedauerte, dass kein Maler die Tänze der Einwohner festgehalten habe: „Es wird nun schon zu spät. Auf O-Taheiti, auf O-Waihi verhüllen Missionshemden die schönen Leiber, alles Kunstspiel verstummt, und der Tabu des Sabbats senkt sich still und traurig über die Kinder der Freude.“12 Dabei ist die Schuld nicht allein bei den Missionaren, sondern auch bei gewalttätigen Seeleuten zu suchen. Chamisso besuchte die Osterinsel (heute unter dem Namen ‚Rapa Nui‘ bekannt) und die Ekstase, mit der er seinen ersten Blick beschreibt, erinnert an Forsters Eindruck von Tahiti. Beim Landgang bemerkten die Europäer jedoch das Misstrauen und den Argwohn, den ihnen die Einwohner entgegenbrachten. Chamisso fand heraus, dass ein amerikanischer Kapitän namens Alexander Adams (1780-1871) einige Jahre zuvor eine Gruppe von Einwohnern entführt hatte, um sie auf eine unbewohnte Insel zu bringen. Dort sollten sie Seeotter fangen, deren wertvolles Fell man begehrte. Trotz des kämpferischen Widerstandes, den die Insulaner leisteten, gelang es Adams, zwölf Männer und zehn Frauen gefangen zu nehmen. Die Männer sprangen, sobald sie von ihren Fesseln befreit worden waren, über Bord, und zogen das Ertrinken der Gefangenschaft vor; die Frauen hätten es ihnen gleichgetan, wären sie nicht mit Gewalt zurückgehalten worden. Diese Episode folgt einem nur allzu bekannten Muster der pazifischen Geschichte, die die Misshandlung der Einwohner und die Plünderung natürlicher Ressourcen verbindet – in diesem Fall des Seeotters, der einstmals häufig vorkam, nun aber selten geworden ist. Die nächste ‚Reise um die Welt‘ wurde mit Ida Pfeiffer (1797-1858) von einer Frau verfasst: 1797 in Wien als Ida Reyer geboren, wollte sie ihren eigenen Aussa-

12 CHAMISSO, 1975 [1836], S. 137f.

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gen zufolge schon immer auf Reisen gehen und konnte dies schließlich auch nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1838 tun. Ihre erste Reise führte sie entlang der Donau nach Istanbul und von dort aus weiter ins Heilige Land. 1845 reiste sie dann nach Skandinavien und Island und versuchte von dieser abgelegenen Insel so viel wie möglich zu sehen; sie bestieg sogar den Vulkan Hekla. Diese Reisen, die sie ganz ohne Begleitung unternahm, schürten ihren Appetit auf mehr: 1846 begab sie sich auf eine Weltreise, besuchte Brasilien und Chile, umschiffte das Kap Horn, überquerte den Pazifik mit einem Zwischenstopp auf Tahiti und besichtigte schließlich China, Indien, Persien, Kleinasien und Griechenland, bevor sie 1848 nach Wien zurückkehrte. Die Früchte dieser Reise schlugen sich in Eine Frauenfahrt um die Welt (1850) nieder. 1851 fuhr sie nach England und von dort aus weiter nach Südafrika, mit der Absicht, das Innere Afrikas zu durchqueren; zwar ließ sich dieser Plan nicht durchführen, jedoch reiste sie stattdessen weiter zum Malaiischen Archipel, wo sie mehrere Kopfjägerstämme auf Borneo und Sumatra besuchte. Im Anschluss an eine Reise nach Australien fuhr sie weiter nach Kalifornien, Oregon, Peru und Ecuador und dann in nördlicher Richtung zu den Großen Seen und langte 1854 wieder in der Heimat an. Ihre zweite Erzählung, Meine zweite Weltreise, wurde 1856 in Wien veröffentlicht. Ihre letzte Reise führte sie schließlich nach Madagaskar, einer Insel, die unter Europäern damals fast unbekannt war, regiert von einer wahnsinnigen Königin, die einen beträchtlichen Anteil ihrer Untertanen niedermetzeln ließ. Pfeiffer gelang es, obwohl sie in einen erfolglosen Komplott gegen die Königin verwickelt war, Madagaskar wieder heil zu verlassen. Die Entbehrungen der Reise zurück an die Küste fügten ihrer Gesundheit jedoch großen Schaden zu und sie starb im Jahr 1858. Pfeiffers Reisebücher sind lebendig und detailliert, verfasst in einem schlichten Stil, der einen starken und reizvollen Eindruck ihrer Persönlichkeit vermittelt. Der Ton ist erfrischend sachlich und faktentreu. Das Erste, was wir von ihr beispielsweise über Tahiti erfahren, ist, dass die Einfahrt des Hafens Papeete aufgrund der Felsen und der Brandung äußerst gefährlich sei, und weiter, dass die Insulaner genauso habgierig wie die meisten zivilisierten Europäer seien. Um einen kurzen Eindruck von ihrem Schreiben zu vermitteln, sei hier wiedergegeben, wie Pfeiffer ihren Umgang mit den Tahitianern schildert: Noch war der Anker nicht gefallen, so umgaben uns schon ein halb Dutzend Piroguen (Kähne) mit Indianern, die von allen Seiten auf das Deck kletterten und uns Früchte und Muscheln anboten, aber nicht wie einst, gegen rothe Lappen oder Glasperlen, – diese goldenen Zeiten für die Reisenden sind vorüber – sie verlangten Geld und waren in ihrem Handel so gewinnsüchtig und geschickt wie die civilisirtesten Europäer. Ich bot einem der Indianer ein Ringelchen von Bronce; er nahm es, beroch es, schüttelte den Kopf und gab mir sogleich zu verstehen, daß es nicht von Gold sei. Er bemerkte einen Ring an meinem Finger, faßte nach meiner Hand, beroch ebenfalls den Ring, verzerrte das Gesicht in ein freundliches Lächeln und deutete mir an, ihm diesen zu geben. – Ich hatte späterhin mehrfache Gelegenheit zu bemerken,

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daß diese Insulaner das echte Gold vom falschen durch den Geruch zu unterscheiden verstehn.13

Dieser Auszug ist typisch für Ida Pfeiffer in seiner Lebendigkeit, in der Konzentration auf eine kleine Begegnung mit einem scharf gezeichneten Individuum, in seiner illusionslosen Sicht menschlicher Motive und in seiner ethnografischen Wissbegierde. Offensichtlich hat ihr Forschungseifer Pfeiffer dazu veranlasst, weitere Beispiele zu finden, die ihre Beobachtung bestätigen, die Tahitianer könnten Gold allein an seinem Geruch erkennen. Pfeiffers Bücher, die schon bald nach ihrer Veröffentlichung ins Englische und Französische übersetzt wurden, verdienen einen weit größeren Bekanntheitsgrad, als ihnen bislang zugekommen ist. In einem Essay über die Kunst des Reisens vergleicht Felicitas Hoppe den intellektuellen Reisenden, sehr zu dessen Nachteil, mit den Reisenden, die ohne über ihr Ziel oder mögliche Hindernisse nachzudenken, keck vorauspreschen. Sie zitiert Vasco da Gama (um 1469-1524), der seine Navigationsinstrumente über Bord warf und seinen Männern befahl: „Vorwärts Kinder, das Meer zittert vor euch!“ Sie fügt hinzu: „[D]iese furchtlos Reisenden sind [...] niemals Träumer, sondern gefährlich, immer hellwach und reaktionsschnell, gegenwärtig im Geist.“ (Schätze, S. 70). Diese Beschreibung trifft auf Ida Pfeiffer und vermutlich auch auf Felicitas Hoppe zu, obwohl sie sich im gleichen Essay bescheiden als ,Stubenhocker‘ ausgibt – aber diese Selbstbeschreibung klingt mehr nach einem weiteren der faszinierenden Spiele, die sie mit ihren Leserinnen und Lesern treibt.

L ITERATUR Primärliteratur BENN, GOTTFRIED, Palau [1922], in: DERS., Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, hg. von BRUNO HILLEBRAND, 4 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 142. CHAMISSO, ADELBERT VON, Sämtliche Werke, 2 Bde., Bd. 2: Reise um die Welt [1836], München 1975. FORSTER, GEORG, Reise um die Welt, 1. Teil [1778-1780], in: DERS., Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, 20 Bde., Bd. 2, hg. von GERHARD STEINER, Berlin 1965. HOPPE, FELICITAS, Reise um die Welt (I-VII), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.6.-30.8.1997.

13 PFEIFFER, 1850, S. 151f.

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DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. PFEIFFER, IDA, Eine Frauenfahrt um die Welt. Reise von Wien nach Brasilien, Chili, Otahaiti, China, Ost-Indien, Persien und Kleinasien, 2 Bde., Bd. 1, Wien 1850. PIGAFETTA, ANTONIO, Relazione del primo viaggio attorno al mondo [15241534], hg. von ANDREA CANOVA, Padua 1999. RILKE, RAINER MARIA, Auguste Rodin [1903], in: DERS., Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bdn., Bd. 4: Schriften, hg. von HORST NALEWSKI, Frankfurt a. M. 1996, S. 405. TRAKL, GEORG, Psalm [1912], in: DERS., Dichtungen und Briefe, 2 Bde., Bd. 1, hg. von WALTHER KILLY/HANS SZKLENAR, 2., erg. Aufl., Salzburg 1987, S. 55.

„Wie krönt man richtig?“ Heiligsprechung und Kanonbildung in Hoppes Johanna (2006) E RNEST S CHONFIELD [S]chuf sie sich auch ihren eigenen historischen Kanon von Nothelfern und Stellvertretern, um [...] mit sich und ihren Angelegenheiten ins Reine zu kommen. (HOPPE, S. 106)

In Felicitas Hoppes Roman Johanna (2006) geht es nicht um die historische Johanna von Orléans (um 1412-1431) selbst, sondern um eine namenlose Ich-Erzählerin, die sich auf ihre mündliche Disputation im Fach Geschichte vorbereitet. Der Roman spielt nicht im 15., sondern im 21. Jahrhundert. Die Protagonisten sind die IchErzählerin, die über Johanna von Orléans promoviert, ein Professor der Geschichtswissenschaft und sein Assistent, der von der Erzählerin auf den Spitznamen „Peitsche“ getauft wird (Johanna, S. 11). Es geht also nicht um eine Märtyrerin, die von Geistlichen verhört und verurteilt wird, sondern um eine Doktorandin, die von einem Historiker mündlich geprüft wird. Anstelle des Todesurteils wird die Promovendin aus dem akademischen Betrieb ausgeschlossen. Es lassen sich also deutliche Parallelen zwischen den beiden Schicksalen erkennen. In beiden Fällen – ob innerhalb der Kirche oder der Universität – geht es um eine geistige Institution, die von Männern beherrscht wird und ihren eigenen ‚Kanon‘ pflegt. Die Kirche bewahrt den Kanon der Heiligen; die Universität perpetuiert durch die Historiografie einen Kanon der wichtigsten Persönlichkeiten der Geschichte. In beiden Fällen werden die Argumente der Frau von den männlichen Juroren nicht akzeptiert beziehungsweise nicht ernst genommen. Diese Gemeinsamkeiten gilt es in diesem Beitrag vergleichend zu analysieren. Beide Institutionen, Kirche und Universität, sind Instanzen der Kanonisierung. Der kulturgeschichtliche Zusammenhang lässt sich kurz zusammenfassen. Seit der Romantik konkurriert die Kunst mit der Religion als

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,Garant‘ der heiligen Botschaft: Um 1800 entsteht die sogenannte „Kunstreligion“. 1 Die staatserhaltende beziehungsweise staatsstiftende Funktion der Kunst wird zugleich anerkannt und, im Zuge der allgemeinen Säkularisierung im 19. Jahrhundert, werden Künstler als säkulare Heilige oder als Vertreter des nationalen Geistes gefeiert. Die literarische Kultur wird zunehmend vom Staat und der Universität gepflegt: Am Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Germanistik als selbstständige Wissenschaft durch Georg Friedrich Benecke (1762-1844), die Brüder Jacob (17851863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) und Karl Lachmann (1793-1851) begründet. Der erste Lehrstuhl für Germanistik entsteht im Jahre 1810. Die moderne Geschichtswissenschaft wird um 1820 von Leopold von Ranke (1795-1886) begründet. Die Gedenkstätte Walhalla wird im Jahre 1842 eröffnet. In der Zeit des Nationalismus kommen der Literaturgeschichte und der Geschichtsschreibung überhaupt zentrale Bedeutung zu. Die moderne Universität wird zur Behörde, zur Autorität, die das kulturelle Kapital der Nation bewahrt und verwaltet. 2 Johanna von Orléans, deren eigene Kanonisierung erst im Jahre 1920 erfolgte, wurde auch in der deutschen Literatur mehrfach rezipiert, etwa von Friedrich Schiller (1759-1805), Bertolt Brecht (1898-1956)3 und Anna Seghers (1900-1983).4 Insofern als Hoppes Johanna zum Teil auf den ursprünglichen Protokollen des Johanna-Prozesses basiert, steht der Roman dem Hörspiel von Anna Seghers am nächsten. Darin geht es ebenfalls um den Prozess, den die Kirche gegen Johanna führt. Die Seghers-Biografin Christiane Zehl Romero weist darauf hin, dass die Bearbeitung Seghers den Geschlechterkampf betont, da die Jungfrau den politischen Widerstand verkörpere, „während die Männer, dem System fester verhaftet, nicht nur die Richter, sondern auch die Bewacher und Henker stellen“. 5 Dieser Aspekt des Geschlechterkampfs wird auch in Hoppes Johanna weitergeführt, aber zugleich wird auch verhandelt, wie die Tradition reflektiert und weitergeschrieben wird. Die Ich-Erzählerin steht vor ihren männlichen Richtern: „Denn die Richter sind immer vor uns da und halten die Karten deutlich ins Licht.“ (Johanna, S. 68). Der Roman Johanna kann somit als kritische Hinterfragung des Kanonbildungsprozesses ge-

1

Zur Kunstreligion vgl. MEIER u. a., 2011/2012.

2

Vgl. BOURDIEU, 1988.

3

Brechts Bearbeitung des Stoffes liegt in drei Fassungen vor: (1) Die heilige Johanna der Schlachthöfe (entst. 1929-1932; EA 1931; UA 1959); (2) Die Gesichte der Simone Machard (entst. 1942-1943; EA 1956; UA 1957); (3) Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431/The Trial of Joan of Arc in Rouen in 1431 (UA 1952, EA 1953; nach dem Hörspiel von Anna Seghers).

4

SEGHERS, 1985 [1965, EA 1937]; Bühnenbearbeitung von Brecht (1952). Vgl. WAINE, 1998.

5

ZEHL ROMERO, 2000, S. 335.

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lesen werden: Durch die im Roman gestellte Frage „Wie krönt man richtig?“ (Johanna, S. 32) wird die literarische Kanonbildung selbst problematisiert. 6 Deshalb wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwiefern der Fall Johannas als Musterfall für den Prozess der literarischen Wertung und Kanonbildung gedeutet werden kann. Eine weitere Analogie besteht auch zu Friedrich Schiller: In Die Jungfrau von Orleans (1801) und Wilhelm Tell (1804) befasst sich dieser mit der Frage, wie ein Nationalheld oder eine Nationalheldin entsteht beziehungsweise erschaffen wird. 7 Schillers Jungfrau von Orleans geht zum Teil den Spuren nach, wer Johanna eigentlich sei und worauf ihre Autorität beruhe. Das Leserverständnis der Schiller’schen Jungfrau hängt damit davon ab, wie sie von den anderen Figuren gesehen wird – als Hexe, Wahnsinnige oder Prophetin. Die Zuschreibungen, mit denen Johanna belegt wird, wirken sich auf ihr Schicksal aus. Wenn Johanna sich durchsetzen will, dann muss sie als übernatürlich anerkannt werden. In Schillers Stück wird die Namensgebung als wichtiger Teil des politischen Prozesses angesehen. Schillers Johanna muss sich nicht nur in der Kriegsführung als stark erweisen, sondern auch im Reden. Sie steht nicht nur als Kriegerin da, sondern auch als politische Rednerin.8 Sie behauptet sich durch Sprache und Gebärden, zum Beispiel ganz am Anfang, wenn sie den Helm beansprucht („Gebt mir den Helm!“ 9) und Bertrand den Helm entreißt. Geschlechterkampf, die Kirche als Machtinstanz und die Macht der Sprache: in Hoppes Johanna werden dieselben Themen aufgegriffen, die schon bei Schiller und Seghers vorgebildet sind. Bei Hoppe aber werden diese Themen ganz anders reflektiert, indem die Inszenierung des zeitgenössischen Bildungswesens die Frage aufwirft: Wodurch wird der Kanon gebildet und aufrechterhalten? Oder, kurz gesagt: „Wie krönt man richtig?“ (Johanna, S. 32).

6

In Hoppe wird die Frage „Wie krönt man richtig?“ als „persönliche Zentralfrage“ für Hoppe gekennzeichnet (Hoppe, S. 107). Allerdings wird in Hoppe (2012) diese Phrase entscheidend revidiert: „Nicht ‚Wie krönt man richtig‘ ist ihre Devise, sondern ‚Kröne dich selbst, sonst krönt dich keiner!‘ [...] Hoppe ist und bleibt eine Meisterin der Selbstkrönung“ (ebd., S. 295).

7

Vgl. MAIERHOFER, 2012, S. 83-107.

8

Zur politischen Rede vgl. GÖTTERT, 2015.

9

SCHILLER, 1996 [1806], S. 157, V. 191.

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K ANONBILDUNG : F ORSCHUNGSÜBERBLICK UND DIE U NIVERSITÄT ALS M ACHTINSTANZ Erst in den letzten zwanzig Jahren hat die literaturwissenschaftliche Forschung begonnen, auch ihre eigene Rolle innerhalb der Kanonbildung zu thematisieren. Die Germanistik reflektiert zunehmend, dass sie selbst maßgeblich an der Bildung des literarischen Kanons beteiligt ist.10 Dem Kanon- und Rezeptionstheoretiker Karlheinz Fingerhut zufolge wird ein Werk kanonisiert, indem seine Verbindungen mit dem bereits bestehenden Kanon explizit benannt werden: „Kanonisierung bedeutet die Vernetzung des zu kanonisierenden Autors mit anderen Bewohnern des kulturellen Parnass,“11 eine Arbeit, die oft von Literaturwissenschaftlern geleistet wird. Laut Renate von Heydebrand und Simone Winko sind die Grundfunktionen literarischer Kanones: erstens, „die Selbstdarstellung und Identitätsstiftung einer Gruppe oder Gesellschaft“ und, zweitens, „die Rechtfertigung und Abgrenzung der Gruppe gegen andere“.12 Laut Winko resultiert also die Kanonisierung aus dem Zusammenspiel soziokultureller und institutioneller Mächte. Winko bezeichnet die Schule und die Universität als „zwei wichtige Instanzen der Kanon-Bildung und -Pflege“.13 Die Grundlage für diese Auffassung des Literaturbetriebs als soziales Kräftefeld wurde vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu in Les règles de l’art (1992) gelegt.14 Für Bourdieu ist das Künstlertum selbst ein kulturelles Konstrukt, das innerhalb des literarischen Betriebs entsteht: Das heißt, ein Schriftsteller wird erst durch seine kritische Rezeption zum Dichter. Bourdieu behauptet, dass „der Künstler, der das Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes erschaffen wird: durch all jene nämlich, die ihren Teil dazu geben, dass er ‚entdeckt‘ wird und die Weihe erhält als ‚bekannter‘ und anerkannter Künstler – die Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthändler usw.“15 Kulturelle Produktion wird von Bourdieu in zwei Subfelder unterteilt: erstens, eine kommerzielle Produktion mit kurzem Produktionszyklus, die einer schon existierenden Nachfrage entspricht; und zweitens, eine relativ autonome, anspruchsvolle Produktion mit langem Produktionszyklus (à cycle de production long).16 Für Bourdieu wird der Erfolg der Produktion mit langem Zyklus

10 Eine Reihe von Studien behandeln dieses Thema: vgl. stellvertretend ASSMANN/ASSMANN, 1987; ARNOLD, 2002; SAUL/SCHMIDT, 2007. 11 FINGERHUT, 2002, S. 158. 12 WINKO, 2001, S. 597. Zit. n. SPRINGER, 2002, S. 119f. 13 WINKO, 2002, hier S. 9. 14 Das Buch wurde unter dem Titel Die Regeln der Kunst im Jahre 1999 ins Deutsche übertragen: BOURDIEU, 1999 [DERS., 1998 [1992]]. 15 Ebd., S. 271 [ebd., S. 280]. 16 Ebd., S. 229 [ebd., S. 236].

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zunächst durch Autoren und Kritiker bedingt; langfristig aber hängt der Erfolg des Kunstwerks vom Bildungssystem ab, „das als einzige Institution in der Lage ist, auf lange Sicht ein Publikum von Überzeugten zu schaffen.“17 Sogenannte ‚autonome‘ oder ‚reine‘ Kunstwerke brauchen somit die Unterstützung der Universität, wenn sie auf Dauer weitergelesen werden wollen. Die Universität wird also von Bourdieu als eine moderne Entsprechung der mittelalterlichen Kirche verstanden, eine geistige Instanz der Kanonisierung, die die kulturellen Werte der Gesellschaft pflegt und aufrechterhält: „Sein Platz [der Platz des Bildungswesens, Anm. E. S.] ist homolog zu dem der Kirche, die nach Max Weber die Aufgabe hat, […] abzugrenzen, was als heilig gilt oder nicht, und dies dem Glauben der Laien einzuprägen.“18 In diesem Sinne bestehen einige Gemeinsamkeiten zwischen der Kanonisierung Johannas durch die Kirche, die fünfhundert Jahre gedauert hat, und der Kanonisierung durch die Philologie, die manchmal auf sich warten lässt: So wurde zum Beispiel Georg Büchner (1813-1837) erst sechzig Jahre nach seinem Tod gewürdigt und kanonisiert. Und Autorinnen wie Luise Gottsched (1713-1762), Benedikte Naubert (1752-1819), Therese Huber (1764-1829), Elsa Bernstein (18661949), Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) oder Gabriele Tergit (1894-1982) sind überhaupt erst in den letzten zwanzig Jahren von der feministischen Literaturwissenschaft wiederentdeckt worden. „Der Tod dauert kurz, das Heiligwerden dafür umso länger.“ (Johanna, S. 150). Mit Bourdieu gesprochen: Das Bildungswesen, welches das Monopol auf Kanonisierung der Werke der Vergangenheit und auf die Produktion und Weihe (anhand der Diplomvergabe) der konformen Konsumenten beansprucht, gewährt erst post mortem und nach einem langwierigen Prozess dieses unfehlbare Siegel der Konsekration: die Kanonisierung der Werke als klassische kraft ihrer Aufnahme in die Lehr- und Studienpläne.19

Dieser Theorie zufolge sind Literaturwissenschaftler auch ‚Mitschreiber‘ und als solche an der literarischen Produktion beteiligt, indem sie das Werk rezipieren, kommentieren und klassifizieren. Wer nicht von der Literaturwissenschaft mitgeschrieben und weiterhin kommentiert wird, droht in Vergessenheit zu geraten. 20

17 Ebd., S. 237 [ebd., S. 244]. 18 Ebd. [ebd., S. 244f.]. 19 Ebd. [ebd., S. 245]. 20 Laut Gabriele Feulner hat Bourdieus Theorie zu einem „Paradigmenwechsel“ in der Literaturwissenschaft geführt. Vgl. FEULNER, 2010, S. 34.

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S PRACHE

ALS PERFORMATIVE

M ACHT

Auf die Grenzen der Bourdieuʼschen Theorie hat Judith Butler hingewiesen. Für Bourdieu wird die Sprache nur dann zur kanonbildenden Macht, wenn sie von einer Autorität geführt wird. Bei Bourdieu wird also die Sprache zum reinen Epiphänomen, sie spiegelt die sozialen Verhältnisse schlicht wider. Butler meint dagegen, dass die sozialen Verhältnisse erst durch die Sprache mitkonstruiert werden 21 und schließt die Möglichkeit nicht aus, dass auch Menschen, die keine Inhaber einer Machtposition sind, durch die Sprache mitwirken und ein soziales Kräftefeld mitbestimmen können.22 Hoppes Roman Johanna zeigt ein ähnliches Verständnis von Sprache als einer performativen, wirklichkeitsbildenden Macht. Das Spiel „ERKENNE DEN KÖNIG“ (Johanna, S. 17), das die Erzählerin und Peitsche spielen, berührt den Kern der Johanna-Legende. Nur durch die Anerkennung und Unterstützung Johannas in Schillers Bearbeitung der Legende wird Karl VII. (1403-1461) König: Johanna ist eine Außenseiterin, die durch ihr performatives Spiel mit Worten und Gesten das soziale Machtfeld neu arrangiert. Slavoj Žižek fasst dieses Ereignis treffend zusammen: „[W]e, the subjects, think that we treat the king as a king because he is in himself a king, but in reality a king is a king because we treat him like one. And this fact that the charismatic power of a king is an effect of the symbolic ritual performed by his subjects must remain hidden.“23 Das Gleiche gilt auch für die literarische Kanonbildung. Indem wir als Literaturwissenschaftler ein Kunstwerk erforschen, schreiben wir an dem Diskurs des Werks mit und bestätigen zugleich unseren ,guten Geschmack‘. Indem wir das Genie loben, loben wir auch unsere eigene Sensibilität, die es uns ermöglicht hat, den König beziehungsweise die Königin erkannt zu haben. Solche performativen Akte wirken sich auf den Kanon und auf dessen Genese aus. Doktor Peitsche bemerkt, man verändert die Vergangenheit, indem man sie erzählt: „Worauf kommt es in der Geschichte an? Nicht darauf, dass man Geschichten erzählt, sondern, wie man Geschichte macht, wenn man erzählt.“ (Johanna, S. 47). Und man beeinflusst die Wirklichkeit am effektivsten, indem man Lob spendet oder indem man den Dingen den passenden Namen gibt – oder wie der Professor sagt: „Vorsicht bei der Wahl eines Namens, […] ein Name wiegt schwerer als jeder Helm“ (ebd., S. 49). Dies lässt sich zu Ernesto Laclaus Konzeptionalisierung in Verbindung setzen: „The essentially performative character of naming is the pre-

21 BUTLER, 1999, hier S. 122: „[Bourdieu] fails to take account of the way in which social positions are themselves constructed through a more tacit operation of performativity.“ 22 BUTLER, 1999, S. 124. 23 ŽIŽEK, 2008, S. 163.

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condition for all hegemony and politics“.24 In Johanna versteht sich die Erzählerin ja als eine Täuferin,25 die ihrem Kollegen einen neuen Namen gibt: „Ich werde ihm einen Spitznamen geben, den er nie wieder loswerden wird. Den soll er tragen, ein großes Geschenk, mit dem der Schenker den Träger bestraft und, umgekehrt, der Träger den Schenker“ (ebd.). Namensgebung erzeugt also ein Machtverhältnis. Im Umkehrschluss verunsichert die Unmöglichkeit terminologischer Erfassung: „Wie unruhig macht uns der fehlende Name“ (ebd., S. 91). Die vorläufige Antwort auf die Frage „Wie krönt man richtig?“ (ebd., S. 32) würde dann lauten: mit der richtigen Bezeichnung, indem man richtig tauft, das heißt indem man den Dingen die richtigen Namen gibt26 – wie die Erzählerin in Johanna selbst feststellt: „nicht das Ding hat Bedeutung, sondern wir sind es selbst, die den Dingen ihre Bedeutung geben“ (ebd., S. 83). Es geht in Johanna also nicht zuletzt um die performative Macht des Wortes. Die richtigen Wörter können Achtung einflößen. Durch das Lob wird einer Person, Gruppe oder Sache Glanz verliehen, sie werden heiliggesprochen. Es gibt Textstellen in Johanna, die von der Faszination des festlichen Akts handeln, zum Beispiel von der Dreikönigsnacht oder dem „Kostümfest“27 (ebd., S. 129). Der Gegenbegriff zur Lobrede ist im Englischen hate speech, der von Judith Butler erforscht worden ist.28 Schon im 19. Jahrhundert betonte Friedrich Nietzsche (1844-1900) den aggressiven, rhetorischen Charakter der Sprache, indem er die Wahrheit als „ein bewegliches Heer von Metaphern“ beschrieb.29 Auch Bertolt Brecht betrachtete das Wort als eine harte Waffe, die auch körperlich verwunden könne.30 Fluchen ist ein wiederkehrendes Thema in Johanna. Für Johanna, die ins

24 LACLAU, 1989, S. xiv. 25 Hier ließe sich auf eine onomastische Bibelreferenz verweisen: Der Name ,Johanna‘ alludiert den Namen des biblischen ,Täufers Johannes‘. 26 Vgl. „Wie tauft man richtig?“ (Johanna, S. 149). Zum Motiv der ‚Taufe‘ vgl. auch Hoppe, S. 254f. 27 Das Kostümfest ist nicht festlich, im Sinne von ,feierlich‘ beziehungsweise ,zeremoniell‘, sondern intendiert hier möglicherweise eine Persiflage des historischen Romans. Zur Bedeutung des Motivkomplexes des Kostümfests beziehungsweise des Karnevals und seiner literaturtheoretischen Konzeption bei Michail Bachtin vgl. auch den Beitrag von Veronika Schuchter im vorliegenden Band. 28 BUTLER, 1997 [DIES., 1998]. 29 NIETZSCHE, 1973 [1870-1873], S. 374. 30 BRECHT, 1994 [1920], S. 158 [Montag, 6. September 1920]: „Das Schlimmste, wenn die Dinge sich verkrusten in Wörtern, hart werden, weh tun beim Schmeißen, tot herumliegen. Sie müssen aufgestachelt werden, enthäutet, bös gemacht, man muß sie füttern und [...] abrichten.“

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Feld muss, „gelten die alten bekannten Regeln: Die Waden polieren, auf Schultern klopfen, den Gegner verfluchen“ (ebd., S. 66); und „immer den richtigen Fluch auf den Lippen“ (ebd., S. 67). Das heißt, dass Johanna das Wort als Waffe bewusst einsetzt: Sie prahlt lieber, als dass sie flucht (vgl. ebd., S. 38) – aber, wie die Erzählerin treffend bemerkt: „Vom Prahlen zum Fluch, das ist ja nur ein Gedankensprung“ (ebd.). Sich selbst schönreden, ist ja eine implizite Weise, seinen Gegner herabzusetzen. Die Erzählerin weiß also, dass jeglicher Sprechakt auch als aggressiver Überredungsversuch gedeutet werden kann. Indem die Erzählerin das Sprechen mit dem Prügeln gleichstellt, dem sich nur die stumme Materie widersetzen kann, gelangt sie zu der Erkenntnis, dass die Sprache Gewalt über den Menschen ausübt: „Geduld der Materie! Hartes Leder und stumpfes Holz! Wie gelassen ertragt ihr das Reden der Menschen, das endlose Schimpfen, das Schreien und Hauen mit Stecken und Stab, mit Knüppel und Prügel.“ (Johanna, S. 38). In diesem performativen Sinne ist jedes ‚Wortgeflecht‘ zugleich auch ein ‚Wortgefecht‘.

I M B LAUBARTZIMMER ( UND DER K ULTUR

AUF DEM

S CHLACHTFELD )

In Hoppes Johanna bewegt sich die Ich-Erzählerin in einem sozialen Machtfeld, das Universität heißt. Sie bereitet sich auf ihre Disputation vor, die von Bedeutung ist, weil die Verleihung des Doktorgrades eine Art von Generationenwechsel und von Machtübernahme darstellt. Pierre Bourdieu spricht von der Notwendigkeit des obsequium, der unbedingten Achtung vor der existierenden Ordnung, die der Promovierende zeigen muss.31 Der Professor verweigert sich dieser Handlung und spricht der Ich-Erzählerin die wissenschaftliche Kompetenz ab; ihm wäre es lieber, wenn sie „Frauengeschichte[n]“ schreiben würde (Johanna, S. 123). Der Ablauf der Prüfung gleicht dem Prozess, den der Bischof Cauchon von Beauvais (um 13701442) gegen Johanna von Orléans führte, insofern, als der Professor der Erzählerin eine angemessene Anhörung verweigert. Er misst ihrer Aussage keinen Wert bei und versucht vielmehr, diese gegen sie zu gebrauchen. Genauso wie der Bischof Cauchon von Beauvais im Hörspiel von Anna Seghers verfügt der Professor in Johanna über ,Beisitzer‘, die ihn unterstützen und das Protokoll führen. Die Erzählerin kennt die Protokollanten aus dem Hörsaal und würde lieber „faule Karpfen“ essen, als „das Lächeln der Beisitzer“ sehen zu müssen (ebd., S. 114). 32 Diese schreiben mit, als der Professor die Erzählerin „aufs Kreuz legt“ (ebd., S. 118). Die

31 BOURDIEU, 1988, S. 87. 32 Das Motiv der faulen Karpfen findet auch bei Anna Seghers und Bertolt Brecht Erwähnung. Vgl. BRECHT, 1992, S. 98.

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mündliche Prüfung wird folglich als ein religiöses Martyrium beschrieben, wobei die Beisitzer „mit von der Partie“ sind (ebd.). Das Prüfungszimmer ist somit ein Ort der Gewalt und wird in Verbindung mit dem Blaubartzimmer gebracht: „Ich habe dieses Zimmer niemals betreten“ (ebd., S. 117), es ist ein „Nebenzimmer“, „erstaunlich klein“ (ebd.). Das Blaubartzimmer wird im Roman als „das siebte Zimmer, das Zimmer der Angst“ bezeichnet (ebd., S. 23). Die Anspielung auf Charles Perraults (1628-1703) literarische BlaubartFigur ist von zentraler Bedeutung hier. Die Blaubart-Legende ist in der neueren deutschen Literatur vielfach rezipiert worden.33 Mererid Puw Davies zufolge beweisen die Anspielungen auf Blaubart bei Ingeborg Bachmann (1926-1973) und Unica Zürn (1916-1970), dass die Figur als Prinzip der patriarchalen Unterdrückung verstanden werden kann, das von den Protagonistinnen verinnerlicht wird.34 Blaubart ist selbst Bestandteil der Johanna-Geschichte und wird im Roman hervorgehoben. Johannas Waffenbruder Gilles de Rais (1404-1440), der später ein berüchtigter Kindermörder geworden ist, diente Perrault als Vorbild für Blaubart (La barbe bleue, 1695). Die intertextuellen Referenzen auf Blaubart in Johanna legen eine Lesart nahe, der zufolge die Literatur- oder Geschichtswissenschaft ein ‚soziales Spielfeld‘ ist, in dem die – zumeist männlichen – Professoren und deren Assistenten als Schiedsrichter fungieren. Als Vermittler der Kultur sind sie auch deren Schiedsrichter, die Gewalt ausüben, indem sie bestimmte Werke sowie Künstlerinnen und Künstler ins kulturelle Gedächtnis einschreiben und andere dem Vergessen preisgeben. Dichterinnen und Dichter, die sich nicht dem künstlerischen Ernst verpflichten, werden von den Schiedsrichtern des Kanons verwiesen. Der Ernst beziehungsweise der spielerische Ernst, der oft implizit als ‚männlich‘ verstanden wird, ist die Grundbedingung der positiven Rezeption eines Künstlers. Das heißt nicht, dass alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller humorlos sein müssen, sondern dass es eine Schreibweise des Ernstes in den Werken geben muss, jenseits allen Humors. Man muss als ernsthafter Künstler wahrgenommen werden, wenn man ernst genommen werden will. Wer diese Prüfung nicht besteht, wer nicht den nötigen Einsatz aufbringt, kann nicht bestehen.35 Diese Regeln gelten aber nicht nur für die Kunstwelt, sondern auch für die Welt im Allgemeinen. In einem gewissen Sinne kann die Gesellschaft als ein Spielfeld beziehungsweise als ein Schlachtfeld verstanden werden,

33 Vgl. DAVIES, 2001. Zu diesem Thema vgl. auch TATAR, 2004, POLLOCK/ANDERSON, 2009, und NEUBAUER-PETZOLD, 2009. 34 Vgl. DAVIES, 2001, S. 226. 35 Man denke beispielsweise an die Recherchearbeit, die viele Autoren der (deutschsprachigen) Gegenwartsliteratur als Siegel der ästhetischen Qualität ihres Werkes unternehmen, wie zum Beispiel Friedrich Christian Delius (*1943), Ilija Trojanow (*1965) oder Kathrin Röggla (*1971).

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das sich wiederum aus verschiedenen Schlachtfeldern zusammensetzt; man denke an Ingeborg Bachmanns Malina (1971): „Die Gesellschaft ist der allergrößte Mordschauplatz“36. Malina erklärt der namenlosen Ich-Erzählerin, dass es auch einen ständigen Krieg im Innern gebe: „Es gibt nicht Krieg und Frieden. [...] Es ist Krieg. Und du bist der Krieg. Du selber“.37 In Hoppes Johanna findet sich eine ähnliche Textstelle, als die Erzählerin wiederum feststellt: „Denn wir befinden uns jederzeit doppelt im Krieg, einer nach außen und einer nach innen, auch wenn kein Lehrer das zugeben wird“ (Johanna, S. 164). Dies kann als eine mögliche Anspielung auf Malina gelesen werden. Wenn man sich auf einem gesellschaftlichen Spielfeld beziehungsweise Schlachtfeld behaupten will, dann muss man sich nach innen und nach außen einsetzen. Die Erzählerin bezieht sich auf diesen Zweifrontenkrieg, wenn sie bemerkt: „Denn es kommt drinnen wie draußen aufs Schuhwerk an [...] auf inneren Einsatz und äußersten Mut“ (ebd., S. 64). Die Geistlichen, die Johanna verurteilen, und die (männlichen) Geisteswissenschaftler, die die Ich-Erzählerin durch die Prüfung fallen lassen, fungieren analog zur Blaubart-Figur, weil sie Akteure in einem kulturellen Feld sind, das von Männern dominiert wird. Streng genommen fällt die Ich-Erzählerin auch gar nicht durch, sondern die Prüfung wird ihr vielmehr verweigert; sie wird nicht einmal mit der Beurteilung durch die Vertreter des Faches gewürdigt, sondern als außerhalb desselben begriffen. Diese Männer versuchen, Frauen aus der akademischen Welt auszuschließen. Zwar üben sie keine körperliche Gewalt aus, jedoch die Gewalt des bösen Wortes, die das weibliche Opfer im sozialen Sinne verderben kann. Durch solche Wörter wird zum Beispiel der Erzählerin die Salonfähigkeit abgesprochen. In Johanna wird, wie bereits erwähnt, das Sprechen explizit mit Prügeln gleichgestellt: „Wie gelassen ertragt ihr das Reden der Menschen, das endlose Schimpfen, das Schreien und Hauen mit Stecken und Stab, mit Knüppel und Prügel.“ (ebd., S. 38). In der Prüfungsszene versucht der Professor, die ihn herausfordernde Frau sprachlich zu unterjochen und aus dem Fach, seinem Hoheitsgebiet, auszuweisen.

D ER P ROFESSOR Der Professor ist „ein habilitierter Krönungsexperte“ (Johanna, S. 41). Seine Hauptfrage, „Wie krönt man richtig?“ (ebd., S. 32), bezieht sich auf seine eigene Berufstätigkeit. Als Gelehrter ist es ja sein Beruf, den richtigen Menschen zum König zu salben, das heißt, die entscheidenden Handlungsträger geschichtlicher Prozesse zu erkennen und hervorzuheben. Der Professor erteilt Anerkennung durch

36 BACHMANN, 1971, S. 290. 37 Ebd., S. 193.

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„Konsekrationsakte“38. Der Erzählerin aber spricht er jegliche intellektuelle Kompetenz ab (vgl. ebd., S. 123). Durch den Professor wird die Literaturgeschichte als Prozess im gerichtlichen Sinne dargestellt. In diesem Prozess mit langem Produktionszyklus (Bourdieu) sind die Richter die Professoren, die den literarischen Kanon aufrechterhalten, indem sie vorschnelle Beiträge und nicht ernstzunehmende Künstlerinnen und Künstler abweisen. Der Professor stellt eine Instanz der patriarchalen Gewalt dar, dem „Kindheitsgeschichten“ (ebd., S. 95) und „Frauengeschichte[n]“ unerträglich sind (ebd., S. 123). Implizit stellt er das ‚Weibliche‘ mit dem ‚Kindlichen‘ gleich, indem er die Erzählerin fragt: „Sie lieben das Einfache, kann das sein?“ (ebd., S. 124).39 Er behauptet den Studenten gegenüber: „Wir sind nicht mehr neunzehn“ (ebd., S. 32); die Erzählerin meint dagegen am Ende des Romans „Ich bin immer noch neunzehn“ (ebd., S. 169), wodurch ihre Identifikation mit Johannas Alter zum Zeitpunkt der Hinrichtung akzentuiert wird. Vorschnelles Sprechen erträgt der Professor ebenso wenig. So sagt er an einer Stelle: „Wir haben Zeit. Zögern Sie ruhig, bevor sie entscheiden […] Zögern adelt, ein Zeichen von Klasse, eine höhere Form der Präzision.“ (ebd., S. 32). Das Zögern wird hier als Beweis der Ernsthaftigkeit verstanden, als eine notwendige Zeitinvestition, die als Bedingung der Teilnahme am „ernsthaften Spiel“ der Geisteswissenschaft zu betrachten ist.40 Wer nicht zögert, wird als unmündig, als dem Berufe nicht gewachsen angesehen. Das Zögern ist das typische Merkmal der Bourdieuʼschen Produktion mit langem Produktionszyklus. In den Geisteswissenschaften muss alles langsam und genau abgewogen werden, wie der Professor sagt: „Lassen wir uns Zeit mit dem Urteil“ (ebd., S. 33). Im letzten Kapitel heißt es hingegen: „Wer zögert, verliert“ (ebd., S. 163). Die Erzählerin emanzipiert sich am Ende also vom Wissenschaftsdiskurs und wählt die narrative Geistesgegenwart41. Durch das Zögern wird man nicht Meister, sondern höchstens ein guter Lehrling. Der Professor führt Johanna als negatives Beispiel vor: „Was lehrt uns Johanna? […] Überstürzung ist ungesund und gefährlich“ (ebd., S. 32). Wer zu schnell reagiert, wer den Respekt vor den Regeln der Pädagogik nicht zeigt, wird als infantil und mithin als untauglich bezeichnet. Seinem eigenen Urteil zum Trotz wird der Professor selbst mehrmals als jungenhaft dargestellt (vgl. ebd., S. 69, S. 98, S. 123),42 was zu dem Eindruck führt, dass der Professor sich gern jugendlichen

38 BOURDIEU, 1999, S. 273. 39 Peitsche stellt die gleiche Frage, fügt aber hinzu: „Aber das macht nichts, ich möchte es trotzdem hören.“ (Johanna, S. 42). 40 BOURDIEU, 1999, S. 34 [DERS., 1998 [1992], S. 36]. 41 Vgl. dazu HOPPE, 2007. 42 Zur Kindlichkeit des herrschenden Bürokraten vgl. die Beschreibung Bürgels in Kafkas Roman-Fragment Das Schloß (1926): KAFKA, 2004 [1926], S. 404f.: „die Wangen kind-

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Launen hingibt, was er jedoch bei anderen nicht duldet. Sein eigenes Benehmen widerspricht dem Rat, den er selbst den Studenten erteilt.43 Der Professor versucht also, der Erzählerin ihren Sachverstand abzusprechen. Beim Erwachen entdeckt sie plötzlich, dass ihre eigene Krone verlorengegangen ist: „[I]ch bin in die Knie gegangen, aus Gründen, die mir entfallen sind. Dabei habe ich Kopf samt Krone verloren“ (ebd., S. 34). Dann wird sie sich dessen bewusst, dass sie sich vor der Stimme des Professors hüten muss. Deswegen zieht sie das Bett dem Hörsaal vor: „Ich verehre den Schlaf, wohin sonst soll man sich vor den Stimmen retten? Vor den Krönungsexperten und Mützenexperten, die ständig in Streit miteinander liegen […] und sich hartnäckig in unseren Träumen einnisten. Wir sind ja umzingelt von Scheiterhaufen“ (ebd., S. 36). Oder, später im Roman, noch klarer ausgedrückt: „Wir sind ja umzingelt von Krankenakten“ (ebd., S. 57); „Wir sind ja umzingelt von falschen Zeichen“ (ebd., S. 66); „Wir sind ja umzingelt von falschen Stimmen“ (ebd., S. 141). Die Stimme der Erzählerin wird also durch die Stimme des Professors gefährdet, was durch das Verlieren der eigenen Krone angedeutet wird (vgl. ebd., S. 34). Auch die Stimme Loiseleurs stellt eine Gefahr dar: „[W]ann darf ich schlafen? Um endlich die Stimmen zu vergessen, allen voran die Stimme Loiseleurs […], damit ich jetzt endlich beginne zu sprechen.“ (ebd., S. 138). Bei der Hinrichtung Johannas seien achthundertachtzig Damen anwesend gewesen, „die alle riesige Hauben trugen, die nicht lange auf ihren Köpfen blieben. War der Wind schuld […]?“ (ebd., S. 35). Es scheint, dass nicht der Wind, sondern eher „[d]ie Predigt Midis“ (ebd.) Schuld daran trägt, dass alle anwesenden Damen ihre Hauben verlieren. Johanna wird von den Männern exemplarisch bestraft und durch deren Stimmen zum Schweigen gebracht. Sie wird zur Hexe erklärt und verbrannt. Dies geschieht in der Absicht, den anwesenden Damen einen Schrecken einzujagen, um einer weiteren Ausschreitung vorzubeugen. Die Erzählerin aber wird von der Angst nicht weggejagt, sondern von dieser vielmehr geleitet („die Angst nimmt mich bei der Hand und führt mich“, ebd., S. 12) und zwar zu Doktor Peitsche.44

lich rund, die Augen kindlich fröhlich waren […][.] Es war wohl die Zufriedenheit damit, die Zufriedenheit mit sich selbst, die ihm einen starken Rest gesunder Kindlichkeit bewahrt hatte.“ 43 Die Figur des Professors rekurriert auf die Tradition der Gelehrtensatire. Vgl. dazu KOŠENINA, 2003. 44 Zur Funktionalisierung der Angst in Johanna vgl. SCHOLZ, 2012, S. 81.

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D OKTOR P EITSCHE In Johanna verliebt sich die Erzählerin in Doktor Peitsche, den Assistenten des Professors. „Peitsche“ ist ein Spitzname, den ihm die Erzählerin gibt, vielleicht wegen seiner schnellen Rede, vielleicht weil er den anderen Studenten ein guter ‚Einpeitscher‘ oder ,Einpauker‘ ist – und nicht zuletzt, weil er ein guter Schwimmer ist, dessen Arme „wie zwei zierliche Flossen sind“ (Johanna, S. 52), die das Wasser ,durchpeitschen‘. Peitsche wird im Roman mit Nicolas Loiseleur verglichen. Loiseleur wurde von Bischof Cauchon als Spion gesandt, der Johanna gegenüber behauptete, er komme aus Lothringen genau wie sie, und er habe Nachrichten aus ihrer beider Heimat, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Schließlich wurde Loiseleur zu Johannas Beichtvater, er hat Johanna mehrmals die Beichte abgenommen und den Prozess gegen sie mit vorangetrieben.45 Im Prolog des Romans springt Loiseleur auf Johannas Karren und bittet sie um Vergebung für das Unrecht, das er ihr angetan hat (vgl. ebd., S. 9). In Johanna nennt die Erzählerin Peitsche „[v]erfluchter Spion“ (ebd., S. 43). Auch wird behauptet, dass die literarische Figur des Historikers Jerome Keith Chester aus Hoppe (2012) Modell für Doktor Peitsche, den Meisterschüler des Professors, gestanden habe (vgl. Hoppe, S. 118): „Der schönste und beste Schüler von allen, der vorn in der ersten Reihe sitzt, wie auf dem Kutschbock“ (Johanna, S. 11). Leider hat Peitsche „längst keine Lust mehr [...] mitzuschreiben, weil [...] er sich vor seiner Handschrift fürchtet, die sich vom Lernen nicht trennen kann“ (ebd.). Seine Bildung ist Peitsche ein Hindernis geworden: Er hat so viel gelernt, seine Hand hat so viel mitgeschrieben, dass er seiner eigenen Stimme nicht mehr traut. Daher zieht er sich lieber zurück in sein „Hobbyzimmer“, „das siebte Zimmer der Angst“ (ebd., S. 23). Durch diese Bezeichnung wird Peitsches Zimmer mit dem Blaubartzimmer, einer Folterkammer, in Verbindung gebracht: Die Erzählerin weist Peitsche die Rolle des Blauen Ritters zu, was er als Kompliment auffasst, obwohl er weiß, dass sie das Gegenteil meint (ebd., S. 19). Peitsche fungiert also als ein komisch-pathetischer Wiedergänger Blaubarts. Da er sich nicht an der Disputation beteiligt, übt er auch keine Gewalt im direkten Sinne, sondern eher eine kognitive Gewalt aus. Er verbringt seine Zeit nicht mit Folter, sondern fertigt „Papiermützen, die er abends faltet, nachts beschriftet und morgens im Hörsaal prüfend ins Licht hält.“ (ebd., S. 11). Peitsche ist also kein Verbrecher, sondern nur ein verbissener Geisteswissenschaftler, der in seinem Privatzimmer gern pseudo-wissenschaftliche Versuche unternimmt. Wie Gerhard Scholz bemerkt hat, stellen Peitsches Mützenfaltversuche „den direkten Bezug zur wissenschaftlichen Textproduktion her, ist doch jede einzelne der Mützen ein wissenschaftliches

45 TAYLOR, 2006, S. 326f.

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Werk“.46 Damit wird zugleich die Verbindung zwischen Universität und Kirche evoziert, da die Papiermützen als „[e]ine wachsende Kathedrale aus Papier, schwerelos und von größtem Gewicht“ (ebd., S. 20) beschrieben werden. In seinem Zimmer kann Peitsche sich als geistige Machtinstanz, also als Instanz der Konsekration inszenieren: Er kann den Heiligen vom Ketzer unterscheiden, er kann nach Belieben „Schandmützen“ (ebd.)47 vergeben und am Kanon mitwirken. Als „Zöllner“ (ebd., S. 63) und mithin als Wächter steht er gleichsam an der Schwelle des Kanons und entscheidet, wer in die offizielle Geschichtsschreibung aufgenommen wird und wer nicht.

F AZIT : D IE B EFREIUNG P EITSCHES

DURCH DIE

E RZÄHLERIN

Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen Peitsche und Nicolas Loiseleur, dem Mann der Kirche, der Johanna verraten hat. Loiseleur ist konsequent gegen Johanna vorgegangen, er ist dem Bischof treu geblieben; Peitsche hingegen, der Meisterschüler des Professors, wird von der Ich-Erzählerin verführt. Er lauscht der Erzählerin, wie sie im Schlaf spricht und ist davon sehr angetan. Er meint, ihre Rede im Traum sei „[v]iel besser als der Text des Professors, Sie sprechen im Schlaf ja wie abgeschrieben“ (Johanna, S. 42). Auf diese Weise verliebt er sich in die Erzählerin und lässt sich von ihr entführen – weg vom Professor. Am Anfang des Romans träumt die Erzählerin davon, eine große Befreierin gleich der historischen Johanna zu werden und die anderen Studentinnen und Studenten vom Bann des Professors zu befreien: „Wäre ich des Französischen mächtig, ich würde sie ohne zu zögern erlösen, alle auf einmal. Gemeinsam würden wir aufstehen und gehen.“ (ebd., S. 33). Dieser Befreiungsakt gelingt ihr bei Peitsche: Statt wie üblich in den Hörsaal zu gehen, bleibt er bei der Erzählerin und frühstückt mit ihr (oder ist diese Szene nur ein Wunschtraum?) – worauf sie zufrieden bemerkt: „Allerdings, der Professor wird Sie vermissen, niemand lauscht ja so gut wie Sie.“ (ebd., S. 43). Peitsche, der von der Erzählerin „geliebter Gegner“ (ebd., S. 15, S. 102, S. 168) genannt wird, ist aber kein Todfeind, sondern ein „Gegner“ im Sinne eines ‚Gegenspielers‘. Für die Erzählerin gehört Peitsche zur anderen Mannschaft („denn auch Peitsche ist nichts als Teil einer Mannschaft, die sich immer wieder aufs Neue bemüht“, ebd., S. 65), aber sie bringt ihn dazu, überzulaufen. Die Tatsache, dass Peit-

46 SCHOLZ, 2012, S. 62. 47 Nach Grimms Wörterbuch ein zugespitzter Hut oder eine Mütze, „welche denen in Welschland pfleget aufgesetzet zu werden, die auf dem esel gestrichen, und der stadt oder des landes verwiesen, oder anderwerts beschimpfft werden.“ Zit. n. http://woerterbuch netz.de /DWB/?lemid=GS04389, 1.1.2015.

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sche sich in die Erzählerin verliebt, ließe sich abschließend dahingehend deuten, dass die jüngeren Hochschullehrer sich dem Konzept eines weiblichen Kanons gegenüber positiver verhalten werden. Und was machen die Erzählerin und Peitsche, als sie eine neue Mannschaft bilden? Sie spielen einfach weiter. Vielleicht lieben sie einander nicht wirklich, vielleicht haben sie sich einfach in das Spiel verliebt: „Kann doch sein […][.] Wir haben uns nur in ein Spiel verliebt, ERKENNE DIE JUNGFRAU, in Rüstungen und in lachhafte Hauben, in Mützen, die wir weder falten noch ablegen können.“ (ebd., S. 139). Am Ende des Romans beginnen die Erzählerin und Peitsche, nach den ihnen zugedachten Kronen zu tauchen. Sie begründen eine Partnerschaft, a mutual appreciation society, das heißt eine kleine Gemeinschaft, die auf gegenseitiger Wertschätzung beruht. Indem die Erzählerin und Peitsche zu zweit ihre eigene Institution gründen und nach Kronen tauchen, bilden sie eine eigene Instanz der Konsekration, eine autonome ,Kanonisierungsgesellschaft‘ und Mannschaft auf dem Spielfeld beziehungsweise auf dem Schlachtfeld des Lebens. „Denn es kommt ja nicht darauf an, heilig zu werden, sondern nur darauf, wer uns heiligspricht.“ (ebd., S. 150).

L ITERATUR Primärliteratur BACHMANN, INGEBORG, Malina, Frankfurt a. M. 1971. BRECHT, BERTOLT, Die heilige Johanna der Schlachthöfe [1931], in: DERS., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 31 Bde., Bd. 3: Stücke, hg. von WERNER HECHT u. a., Frankfurt a. M. 1988, S. 127-234. DERS., Die Gesichte der Simone Machard [1956], in: DERS., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 31 Bde., Bd. 7: Stücke, hg. von WERNER HECHT u. a., Frankfurt a. M. 1991, S. 117-180. DERS., Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 [1953/54], in: DERS., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 31 Bde., Bd. 9: Stücke, hg. von WERNER HECHT u. a., Frankfurt a. M. 1992, S. 83-125. DERS., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 31 Bde., Bd. 26: Journale I, hg. von WERNER HECHT u. a., Frankfurt a. M. 1994. HOPPE, FELICITAS, Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. KAFKA, FRANZ, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, 21 Bde., Bd. S [Textbd.]: Das Schloß [1982, EA 1926], hg. von MALCOLM PASLEY, Frankfurt a. M. 2004.

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chigen Literatur 1), hg. von THOMAS HOMSCHEID/ESBJÖRN NYSTRÖM, Uelvesbüll 2012, S. 83-107. MEIER, ALBERT u. a. (Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, 2 Bde., Berlin/New York 2011/2012. NEUBAUER-PETZOLD, RUTH, Märchen und Mythen, Mörder und Märtyrer: Alfred Döblins Der Ritter Blaubart und seine synkretistische Montagetechnik, in: Alfred Döblin. Paradigms of Modernism (Publications of the Institute of Germanic Studies 95), hg. von STEFFAN DAVIES/ERNEST SCHONFIELD, Berlin/New York 2009, S. 74-101. NIETZSCHE, FRIEDRICH, Kritische Gesamtausgabe der Werke, 40 Bde. in 9 Abt., Abt. 3, Bd. 2: Nachgelassene Schriften, 1870-1873, hg. von GIORGIO COLLI/MAZZINO MONTINARI, Berlin/New York 1973. POLLOCK, GRISELDA/ANDERSON, VICTORIA (Hg.), Bluebeard’s Legacy. Death and Secrets from Bartók to Hitchcock, London/New York 2009. SAUL, NICHOLAS/SCHMIDT, RICARDA (Hg.), Literarische Wertung und Kanonbildung, Würzburg 2007. SCHOLZ, GERHARD, Zeitgemäße Betrachtungen? Zur Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte in Felicitas Hoppes Johanna und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (Angewandte Literaturwissenschaft 15), Innsbruck u. a. 2012. SRINGER, MIRJAM, „Kein Auge thränenleer“. Schillers Bürgschaft und der Kanon, in: Literarische Kanonbildung, hg. von HEINZ LUDWIG ARNOLD, München 2002, S. 118-128. TATAR, MARIA, Secrets Beyond the Door. The Story of Bluebeard and his Wives, Princeton 2004. TAYLOR, CRAIG (Hg.), Joan of Arc. La Pucelle. Selected Sources, übers. und komment. von DEMS., Manchester 2006. WAINE, ANTHONY, Persecution and Faith in Anna Seghers’ Radio Play Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431, in: Anna Seghers in Perspective, hg. von IAN WALLACE, Amsterdam 1998, S. 75-91. WINKO, SIMONE, Literarische Wertung und Kanonbildung, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hg. von HEINZ LUDWIG ARNOLD/HEINRICH DETERING, 4. Aufl., München 2001, S. 585-600. DIES., Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen, in: Literarische Kanonbildung, hg. von HEINZ LUDWIG ARNOLD, München 2002, S. 9-24. ZEHL ROMERO, CHRISTIANE, Anna Seghers. Eine Biographie 1900-1947, 2 Bde., Bd. 1, Berlin 2000. ŽIŽEK, SLAVOJ, The Sublime Object of Ideology, London/New York 2008.

„Familiengeschichten allesamt“ Familienkonstellationen im Werk Felicitas Hoppes M ICHAELA H OLDENRIED

1. F AMILIE IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN G EGENWARTSLITERATUR Die Renaissance des Familien- oder Generationenromans in der (nicht nur deutschsprachigen) Gegenwartsliteratur ist in zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre zum Gegenstand gemacht worden.1 Um diese Wiederkehr eines Totgeglaubten rankten sich alsbald polemische Debatten, aus denen man ersehen konnte, dass es um weit mehr als das Wiedererstarken eines literaturwissenschaftlich recht schwammig definierten, unter Abgrenzungsschwächen (Familien- versus Generationenroman) leidenden, ästhetisch eher traditionellen Genres ging. Definitionsversuche wie derjenige der amerikanischen Komparatistin Yi-ling Ru brachten den Familienroman (scheinbar unauflöslich) in Zusammenhang mit den Kriterien der Verfallsgeschichte, der Chronologizität, der Schilderung integraler Familienriten und insbesondere mit einem unhintergehbaren Realismus der Darstellung.2 Dass der Umgang mit dem Thema ,Familie‘ über alle eher literarischen Koordinaten hinaus aber vor allem als Seismograf gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen verstanden wurde, zeigten schon die Kontroversen um den Stellenwert von Familie im deutschen Feuilleton, in dem etwa die Zeit-Literaturkritikerin Iris Radisch „[d]ie elementare Struktur der Verwandtschaft“ gegen die „Monaden“ 3 der Gegenwartsliteratur in Stellung brachte: Gedeutet wurde die ‚Rückkehr‘ der Familie so zugleich als Indiz für eine Sehnsucht nach traditionellen Strukturen, ge-

1

Vgl. etwa BRINKER-VON DER HEYDE/SCHEUER, 2004; LÖFFLER, 2005; JAHN, 2006; COSTAGLI/GALLI, 2010.

2

Vgl. RU, 1992, S. 2.

3

RADISCH, 2012, S. 106.

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richtet gegen die Zersetzungskraft der Postmoderne, gegen das Single-Dasein als Lebensform. Andere wie Sigrid Löffler sahen in genauer Umkehrung der Werteskala gerade im Wiederauftauchen familiärer Narrative das konservative Revival einer spätestens mit Heimito von Doderers (1896-1966) Merowinger-Roman (1962) durch Hyperbolisierung in sich kollabierten Gattung.4 Weitere Kontroversen betrafen die Herstellung von (zu) engen Filiationen zwischen Familien- und Erinnerungsdiskurs, für die maßgeblich Aleida Assmanns Veröffentlichungen herangezogen wurden. In Absetzung davon votierte unter anderem der Züricher Germanist Julian Reidy vehement dafür, ,Gedächtnisorientierung‘ und die Beschäftigung mit der Generationenliteratur zu entkoppeln. Die Konzentration auf die „erinnerungskulturelle Funktion von Generationenromanen“ 5 führe, so Reidys Argumentation, zu starken Verkürzungen, weil andere als historische Bezugsgrößen, etwa ökonomische und soziale, gar nicht erst in den Blick gerieten. Statt von einem ,rekonstruktiven‘ Paradigma, das Reidy in einem bedeutenden Segment der Forschung ausmacht, gelte es – um der Diversität des Generationenromans gerecht zu werden 6 – von einer „Entheroisierung des Generationenbegriffs“7 auszugehen. Ein diachrones Interesse an Familiengeschichte sei nicht mehr ohne weiteres vorauszusetzen. Dass ein so stark auf gesellschaftlich sich wandelnde Lebensformen bezogenes literarisches Genre wie der Familienroman zugleich unabweisbarer Ausdruck dieses Wandels ist, zeigten über Untersuchungen zu seiner sozio- oder memorialkulturellen Funktion hinaus auch solche, in denen eine interdisziplinär angelegte Bestandsaufnahme von Familie als Soziotop (einschließlich seiner interkulturellen Hybridisierung) sowie der damit verbundenen Narrative unternommen wurde.8 Eine diese Entwicklungen aufgreifende Definition des Familienromans 9 lautet entsprechend:

4

Vgl. LÖFFLER, 2005. Dass Löfflers Argumentation nicht kohärent ist, da einerseits der Anachronismus der Gattung behauptet, andererseits deren durchaus innovative Auffächerung auch im internationalen Maßstab beschrieben wird, sei hier nur am Rande vermerkt.

5

REIDY, 2013, S. 8.

6

Damit hinterfragt Reidy auch die fortdauernde Gültigkeit des Generationenbegriffs von Karl Mannheim (1893-1947), dessen These von der Formierung generationeller Kohorten über prägende historische Großereignisse in Zeiten der ‚Generation Praktikum‘ nicht mehr aussagekräftig sei. Vgl. MANNHEIM, 2009.

7

REIDY, 2013, S. 18.

8

Vgl. HOLDENRIED/WILLMS, 2012.

9

Die Abgrenzung von Familien- und Generationenroman scheint mir, anders als REIDY, 2013, S. 7, nicht besonders problematisch zu sein. Keineswegs ist mit Sigmund Freuds (1856-1939) Ausführungen zum ‚Familienroman‘ die Bezeichnung generisch kontami-

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Der Familienroman kann [...] als eine Gattung erfasst werden, die sich inhaltlich auf ein symbolisches System Familie bezieht und in einer mindestens zwei, meist drei Generationen umfassenden, jedoch nicht mehr unbedingt chronologisch-linear angelegten Erzählform sowie oft mit hybriden Erzählstrategien die Geschichte dieser Familie aufzeichnet – wobei diese perspektivisch auf die identitäre Verortung der Protagonisten fokussiert ist.10

Eine Übertragung dieser Definition auf andere Texte, in denen Familie thematisch wirksam wird, ist in den Kernpunkten möglich: So beziehen sich ‚Familienerzählungen‘ ebenfalls auf das symbolische System Familie; die Erzählformen sind häufig nicht linear, sondern eher hybrid oder multiperspektivisch. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist nun die Beobachtung, dass Familie im Werk von Felicitas Hoppe eine zentrale Dimension der Diegese darstellt, jedoch weder unter ein ‚rekonstruktives‘ Paradigma – die familiengeschichtliche Kontextualisierung also – noch vollständig unter das gegenläufige Paradigma der Dekonstruktion, der ,Auslöschungsarbeit‘,11 zu subsumieren ist. In der Forschung ist das Thema in seiner Zentralstellung bei Hoppe noch gar nicht wahrgenommen worden, auch wenn es Publikationen gibt, die sich mit dem unmittelbaren Umfeld des Familienthemas beschäftigen, etwa im Zusammenhang mit Heimat (und Heimatverlust)12 sowie der kindlichen Erzählperspektive.13 Auch in der Verlängerungslinie des Inzest-14 oder des Hochzeitsmotivs15 ist der Komplex Familie stets mitzudenken. Möglicherweise rührt die gleichwohl zu beobachtende Abstinenz der Forschung gerade daher, dass Hoppes Auseinandersetzung mit dem Thema – anders als

niert oder desavouiert; vielmehr halte ich sie für die geeignetere Wahl, da sie den thematischen Bezug zur Familie zentral setzt. 10 HOLDENRIED, 2012, S. 17. 11 Eine solche ist vielfach für neuere Familienromane wie Arno Geigers Es geht uns gut (2005) vermerkt worden. Zu Recht hat man jedoch die Koexistenz gegenläufiger Erzählstrategien betont: Während Geigers Protagonist sich – auch topologisch extraterritorial verortet – auf der Vortreppe des ererbten Hauses sitzend der Familiengeschichte zu verweigern sucht, stellt sich narrativ, gleichsam in seinem Rücken, ein erzähllogischer genealogischer Zusammenhang her. Vgl. HAMANN, 2010, S. 148, der sich wiederum auf John von Düffels Charakterisierung des Familienromans als ,Anatomie des Verfalls‘ (2007) bezieht. 12 Vgl. stellvertretend TODTENHAUPT, 2007. 13 Zur Bedeutung und erzählerischen Funktion der Kinderperspektive bei Hoppe vgl. die Beiträge von Lena Ekelund sowie von Julia Boog und Kathrin Emeis im vorliegenden Band. 14 Vgl. FRANK, 2015. 15 Vgl. KLATT, 2015.

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die eines Autors wie John von Düffel (*1966) – quer zu den gängigen ‚Paradigmen‘ liegt. Hoppes Werk kann als kontrafaktisches Durchspielen verschiedener Familiendynamiken in je unterschiedlicher narrativer Gestaltung betrachtet werden: Statt um geschichtliche Rekonstruktion in genealogischen Ketten oder ,Kohorten‘ im Mannheimʼschen Sinne geht es meist um (an ihrer Familie leidende, nach ihr sich sehnende) Solitäre; es geht um Doppelfiguren (‚Zwillinge‘), aus der Heimat/Familie ausgestoßene Sonderlinge, um die Ablehnung ‚naturwüchsiger‘ und die Suche nach (selbstgewählter) genealogischer Kontinuität. Gemeinsames Moment dieser ‚Familienerzählungen‘ ist das Paradigma der ‚Entheroisierung‘, das jedoch nicht identisch ist mit dem ‚dekonstruktiven‘ Paradigma im Sinne der oben genannten Forschungsbeiträge. Hoppes Bezugnahme auf die Familie ist indessen auch nicht reine spielerische Schöpfung, sondern bezieht sich durchweg auf Topoi eines soziokulturell verortbaren Symbolfeldes Familie.

2. D IALEKTIKEN UND I DYLLE

DES

F AMILIÄREN

ZWISCHEN

G EWALT

Während Felicitas Hoppes Alter Ego in ihrem autofiktionalen Roman Hoppe (2012) bereits bündig formulierend die große Spannbreite des Familiären im Werk – „Variationen ein und desselben Themas“ (Hoppe, S. 242) – betont, ist der Fokus der Forschung bislang lediglich auf einen Aspekt gerichtet worden, wofür Monika Shafis Beitrag exemplarisch ist: auf die Familie als Ort der Gewalt. 16 Damit wird ein für die literaturwissenschaftliche Familienforschung besonders relevanter Untersuchungsgegenstand benannt, wie ihn etwa auch Toni Tholen in seinem Beitrag zur identitätskonstituierenden Rolle der Familie als „Macht- und Gewaltfeld“17 hervorhebt. Betrachtet man Hoppes Werk in toto, so lässt sich zeigen, dass die absurdkomischen Gewaltdarstellungen des Frühwerks anderen Formen weichen, welche die groteske Übertreibungskunst – etwa in der Prosaminiatur Der Balkon (aus dem Band Picknick der Friseure, 1996) – durch weniger auffällige narrative Strategien ersetzen, ohne indes das Gewaltpotenzial familiärer Dynamiken auszublenden. Hinzu kommen jedoch andere Momente familiärer Verstrickungen. So ist der Ritter- und Abenteuerroman Paradiese, Übersee (2003) auch lesbar als die Schilderung der Lebensreise eines Geschwistertrios, das sich immer wieder in imaginäre Welten begibt, sich aber im Rekurs auf die Kindheit, für die das Echternachzimmer der Wirtin Conzemius steht, der gemeinsamen Erinnerungen versi-

16 Vgl. SHAFI, 2006. 17 THOLEN, 2009, S. 38.

F AMILIENGESCHICHTEN ALLESAMT

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chert. Analog zum Kindheitsgeschmack der Proustʼschen Madeleine zieht der Duft der Conzemius’schen Brote „noch heute durch die Treppenhäuser meiner Erinnerung“ (Paradiese, S. 91), und entsprechend der Außerzeitlichkeit der geschwisterlichen Erinnerungen altert Frau Conzemius nicht: „Sie hat kein einziges graues Haar.“ (ebd., S. 182). Und so unterschiedlich die Lebensreisen auch aussehen mögen, kreuzen sich die Pfade der Geschwister familienrituell doch jedes Jahr im elterlichen Zuhause: „Schließlich versammeln wir uns jedes Jahr um die Weihnachtszeit um den Esszimmertisch, um einander vor Augen zu halten, wie weit wir gekommen sind.“ (ebd., S. 83). Fester Bestandteil von Familienerzählungen sind unter anderem Familiengeheimnisse – und ein solches dominiert denn auch die Schlusssequenz des Romans, in der das Erzähler-Ich sich als Geheimnisträger zu erkennen gibt. Doch wird sein Wissen – anders als in etlichen Familienromanen der Gegenwart 18 – in keiner Weise funktionalisiert: etwa als „nachgeholte Selbstkreation“19 durch therapeutisches Erzählen. Es dient auch gerade nicht einer Auslöschung der Vergangenheit: Vielmehr löst sich das Geheimnis in einer Folge figuraler Überblendungen in nichts auf. Narzissmus und Geschwisterrivalität, wie sie den Text durchweg grundieren, 20 stehen zu der hier vorgelegten Deutung nicht im Widerspruch; bedeutsam sind sie jedoch vor allem für eine Lesart des Romans, in der stärker die identitätskonstitutiven Funktionen des Geschwisternarrativs herausgearbeitet werden. Dagegen wurde hier eher das Moment familiärer Selbstkonstitution durch das Erzählen von Geschichten – in ihren widersprüchlichen, ja sich ausschließenden Perspektivierungen – in den Blick genommen. Geschwisterkonstellationen spielen auch in anderen Werken Hoppes eine zentrale Rolle. In dem Seefahrerroman Pigafetta (1999) ist es die Schwester, die sich aus dem Familienrahmen löst, der die Erzählung vom Aufbruch in ferne Welten in ein Vorher und ein Nachher gliedert, welche in die narrative Gleichzeitigkeit verwoben wird. Das erzählende Ich, dessen Geschlechtszugehörigkeit, wie so häufig in Hoppes Texten, nicht eindeutig bestimmbar ist, erzählt dem Generalkapitän von der Schwester, weil diese als Einzige nicht nur an die Existenz der seit der Antike in den Reisebeschreibungen tradierten Wunderwesen glaubt, sondern sogar für den Seefahrer und Geschichtsschreiber Pigafetta „schwärmt“ (Pigafetta, S. 81). Mit ihr wird eine Ansprechinstanz ins Geschehen integriert, die – ähnlich schattenhaft geworden, wie es die Gestalt des Generalkapitäns ist („Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, nicht an ihr Gesicht“, ebd.) – die Zeit zwischen den Polen Abfahrt und Heimkunft überbrückt. In gewisser Weise wird sie durch diese Überschreitung

18 Vgl. NEUSCHÄFER, 2010. 19 Ebd., S. 192. 20 Vgl. FRANK, 2015.

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der Grenze zwischen getrennten Räumen (Heimat/Schiff), orientiert man sich an Jurij M. Lotmans Raumsemantik (1973),21 zu einer (vielleicht der einzigen) Heldenfigur dieses Seefahrtsromans.22 Dass auch sie diese Grenze nur im Imaginären überschreitet, tut dem keinen Abbruch. So ist es im Schlussbild – in dem das Familienfoto des Anfangs erneut aufgerufen wird – ausdrücklich die Schwester, die als Rednerin/Erzählerin hervorgehoben wird, gerade weil sie den dramenähnlichen Aufbau (durch ihre Einmischung ins ferne Geschehen) durchkreuzt. Die anderen Familienmitglieder hingegen fügen sich ins Bild eines Dramas von Aufbruch und Heimkehr: „Chor der Daheimgebliebenen und Stotterer, frisch gebügelte Taschentücher und Mütter, die sich um unsere schmutzigen Hemden streiten“ (Pigafetta, S. 155). Im Porträtband Verbrecher und Versager (2004) wird das Familienthema um den Vater-Sohn-Konflikt erweitert, wie er noch die neuere Literaturgeschichte prägt:23 Die sogenannte ,Väterliteratur‘ gilt ja einem erheblichen Teil der literaturwissenschaftlichen ‚Generationenforschung‘ als Negativfolie, auf welche die neuere Familienerzählung mit dem Versuch reagiert habe, statt harter Abgrenzung eine genealogische Kontinuität – die proklamierte ‚Enkelliteraturʻ ist hierfür paradigmatisch – zu erreichen. Für mehrere Protagonisten Hoppes ist das Verhältnis zu ihren Vätern das lebensprägende Moment und Anlass für ihre Fluchten in die Ferne. So stellt der Vater für Junghuhn, den ‚Humboldt von Java‘,24 neben dem Duellgegner Schwoerer eine der lebensbegleitenden Schattenfiguren dar, zeichnet er doch zum einen für die Traumatisierung des Sohns verantwortlich, zum anderen aber – mittelbar – auch für das Glück des Naturforschers, den es nach Java verschlägt, wo er ungestört seiner Obsession, der Erforschung von Vulkanen, nachgehen kann. In Hoppes Abu Telfan (2004) schickt Leonhard Hagebuchers Vater seine gar nicht frommen Gebete an einen Gott, der selbst mit einem Sohn geschlagen ist, der „unberufen die Gegend bewander[te] und Unsinn unter die Leute“ brachte (Verbrecher, S. 139). Der Steuerinspektor aus Wilhelm Raabes Roman (Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge, 1867), auf den sich Hoppe intertextuell weiterfabulierend bezieht, wird erhört, sein Sohn „in die Flucht geschlagen“ (ebd.). Abgerechnet wird auch in dieser seltsamen, literaturgeschichtlich nach hinten verschobenen ‚Väterliteratur‘: Statt von den mutistischen Söhnen, die kaum sprechen und gar nicht schreiben (so die Behauptung der Erzählinstanz), wird den Vätern vom Erzähler-Ich die Klage zugestellt, sie seien mehr am (preußischen) Ruhm denn am Wohl der Söhne interessiert gewesen. Und wenn sich diese nur als Last erweisen, sollen

21 Vgl. LOTMAN, 1973, S. 327-347. 22 Zur Semantik und Funktionalisierung der erzählten Räume bei Hoppe vgl. die Beiträge von Erik Schilling und Nadine Schneiderwind in diesem Band. 23 Vgl. zu diesem persistenten Motiv der Weltliteratur MATT, 1995. 24 Vgl. STERNAGEL, 2011.

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sie „zu den Hottentotten, wenns sein muss auch zu den Baggaranegern“ (ebd., S. 138) gehen, ans entfernteste Ende der Welt jedenfalls. Gericht wird also auch hier gehalten, aber nicht im schrillen Ton der autobiografischen Vatermörder, sondern unter (romantischem) Verweis darauf, dass die vom Vater zugefügten psychischen Blessuren manchmal doch zum Gipfelsturm verhelfen. Dass es neben dem zentralen Vater-Sohn-Konflikt in allen anderen Geschichten auch um die Konstellation feindlicher Brüder geht, sei hier nur nebenbei bemerkt: Es ist dies eine Doppelungsstruktur von Daheimgebliebenen und Fortgegangenen, welche mit dem symbolischen Feld ,Familie‘ rückvermittelt werden kann, selbst wenn es sich nicht um biologische Geschwister handelt. In Hoppe, der autofiktionalen Rekonstruktion einer Familiengeschichte, kann man in gewisser Weise die Summa aller zuvor verfassten Familienerzählungen erkennen, von der grotesk-komischen, ludistischen Version bis hin zum biografischrekonstruktiven Psychogramm. Hier nähert sich Hoppe dem an, was in Referenz auf Freuds Begriff des ‚Familienromans‘ (1909) die Debatten über die neueren Familienromane immer wieder befeuert hat. Die Protagonistin ,Hoppeʻ, unverkennbar das spielerische Alter Ego der Autorin, träumt sich die Hamelner Kindheit nur zurecht – „Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung.“ (Hoppe, S. 14) –, darin ganz denjenigen gleichend, welche bei Freud in Tagträumen eine „Korrektur des Lebens“25 betreiben. Nach Freud gehört bekanntlich „zum Wesen der Neurose und auch jeder höheren Begabung eine ganz besondere Tätigkeit der Phantasie“ 26, und diese ist im gesamten Roman darauf gerichtet, die Eltern loszuwerden. ‚Hoppe‘ träumt sich eine Hamelner Kindheit mit vier Geschwistern zusammen, denen sie (natürlich unbeantwortet bleibende) Briefe schreibt; die Mutter verschwindet sehr früh aus dem Erzählgeschehen, der Vater wird von seiner Tochter als „Entführervater“ denunziert, der sie angeblich „vor Jahren „mit einem Schmetterlingsnetz vom Schulweg wegfing“ und „auf ein Schiff nach Ontario verschleppte““ (ebd., S. 23). Schließlich verschwindet der Vater ebenfalls auf ungeklärte Weise aus der Lebensgeschichte der Protagonistin, und fortan ist ‚Hoppe‘ damit beschäftigt, eine Biografie über ihn zu verfassen, das Buch K. – ein Unternehmen, das erst eingestellt wird, als sie sich in der „ideale[n] Wohngemeinschaft“ (ebd., S. 312) mit dem Literaturwissenschaftler Haman (einer Art Vaterersatz) in Eugene, Oregon, heimisch zu fühlen beginnt. Damit scheint die „Korrektur des Lebens“ zu einem glücklichen Abschluss gekommen zu sein – jene Korrektur, der schon die auffällig heftig betriebene Suche nach Ersatzmüttern unterstellt war. Stets reklamiert die Protagonistin die Mütter ihrer Kinder- und Jugendfreunde auch für sich, sodass der Eindruck entsteht, diese seien das eigentliche Ziel der Suchbewegung. Die Söhne sind solcherart nicht

25 FREUD, 1955, S. 229. 26 Ebd.

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nur libidinös besetzte Gefährten, sondern nehmen in einem imaginären familiären Geflecht zugleich die Position von Brüdern ein. In diesen kanadischen und australischen „Ersatzfamilien“ (ebd., S. 29) geht ‚Hoppe‘ ein und aus, dabei weiterhin von der „fernen Familie in der deutschen Provinz“ (ebd., S. 23) träumend. In der narrativen Anlage von Hoppe ist die (fiktive) Autorin ihren (fiktiven und realen) Deutern wie im Grimm’schen Märchen Der Hase und der Igel (1843) immer schon um Längen voraus: Die Referenzen auf eigene Werke werden nicht nur leitmotivisch in die ‚Autobiografie‘ eingeflochten, sondern überdies schlüssig analysiert. (Der immer zu spät kommenden Wissenschaftlerin bleibt angesichts dieses autotextuellen Vexierspiels nur das Nachsehen). Mit einer Mehrfachvolte, wie sie für Hoppes Erzählstrategien charakteristisch ist, liefert der Roman eine seiner vielfach in die Narration inkrustierten Werkexegesen. Darin wird die Erzählung Die Sommerverbrecher (1996)27 – als Geschichte einer durch das Verschwinden des Vaters auseinanderbrechenden Kleinfamilie – zum Kern des Motivgeflechts ,Familie‘ stilisiert: Liest man die Geschichte im Kontext der anderen im Band [gemeint ist Picknick der Friseure, Anm. M. H.] versammelten Texte (Familiengeschichten allesamt), erscheint Die Sommerverbrecher als Mosaikstein in einem Großen und Ganzen, das sich, wie Hoppes Werk insgesamt, aus zahlreichen Variationen ein und desselben Themas zusammensetzt. (ebd., S. 242)

Auf knapp zwei Seiten wird dann die zentrale Stellung der Familie abgehandelt und die Aufmerksamkeit auf einige exemplarische Erzählungen aus Picknick der Friseure gelenkt; daran schließt sich eine Korrektur gängiger (Pseudo-)Forschungsmeinungen an, für die im Roman ein Literaturkritiker namens Reimar Strat verantwortlich zeichnet. Demgegenüber erhebt die Biografin (,fh‘) den Anspruch auf Letztdeutung: Die Variationen28 zielten „in Wahrheit“ auf die großen Themen der Literatur, auf „globale[ ] Wanderschaften“ (ebd., S. 242), auf wahre Heimat, auf (transzendentale) Heimkunft. Tatsächlich sind die Geschichten im Picknick-Band fast durchweg ‚Familiengeschichten‘ – Geschichten, die Shafi zufolge Familien als

27 Die Erzählung wurde sowohl einzeln veröffentlicht (in der Anthologie Heldinnen des Glücks. Sieben Geschichten vom Aufbruch aus dem Jahr 2010) als auch in den Erzählband Picknick der Friseure aufgenommen. 28 Dem Zusammenhang mit musikalischer Variation, der Ver-Fugung von Hoppes Texten, müsste ein eigener Beitrag gewidmet werden – wie ja auch der musikalische Ton der Werke Thomas Bernhards (1931-1989) immer wieder hervorgehoben wurde. Dabei wäre es gewiss nicht verfehlt, die Wahl etwa Glenn Goulds (1932-1982) als Figur ernst zu nehmen.

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besondere Orte der Gewalt zeichnen.29 Der groteske Effekt30 entsteht dabei häufig durch den Kontrast zwischen einer behaupteten Normalität – „wir sind eine ganz normale Familie“; „unsere Familie lebt nach festen Regeln“ (Picknick, S. 10) – und dem monströsen Geschehen in diesen Geschichten.31 Eros und Gewalt sind Ingredienzien eines düsteren familiären Kosmos von fliehenden, abwesenden Vätern, Entfremdung untereinander, ganz auf aberwitzige Sonderinteressen bezogenen Beschäftigungen einzelner Familienmitglieder (darunter die Studie über den Feldhasen in Am Saum). Jede dieser Geschichten könnte ‚realistisch‘ interpretiert werden, wie dies Shafi versucht hat: Family dynamics are the narrative’s favourite target, and a space where beating, humiliation and exploitation is rendered all the more horrendous because it appears as completely appropriate and reasonable.32

Eine solche dezidiert inhaltsbezogene Lesart trifft zwar die Kayserʼsche Definition des Grotesken als einen auf Entfremdung zielenden Darstellungsmodus,33 doch sollte bei Hoppe stärker auf das Moment des Spielerischen abgehoben werden, das sich im angeführten Bezug auf die Literatur des Absurden zeigt. Das Problem einer affirmativen Haltung zur Gewalt stellt sich denn auch weniger, weil bei Hoppe ein „postmodern universe void of any sense“ 34 gestaltet würde: Vielmehr scheint die überbordende, slapstick- oder comicartige Übertreibung der Gewalt zu jener Lust zu führen, die in Gegenkulturen keimt und dort zum (nützlichen) Ventil für sozialen Unmut wird. Es ist, mit anderen Worten, eher an Bachtins Konzept der Karnevalisierung zu denken, dem der gesamte Tenor der Geschichten ohnehin stärker (als

29 „[F]amilies are depicted as engendering violence and abuse while simultaneously promising love and support.“ (SHAFI, 2006, S. 385). 30 Zum Grotesken bei Hoppe vgl. WILLMS, 2015, sowie DINGER, 2015. 31 Deren Zuschnitt erinnert wohl weniger an Franz Kafka (1883-1924), wie Shafi meint, als vielmehr an Daniil Charms (1905-1942), wie bei Willms und Dinger nachzulesen ist, aber auch an die groteske Kurzprosa Thomas Bernhards (zum Beispiel in Ereignisse, 1969, und Der Stimmenimitator, 1978). 32 SHAFI, 2006, S. 384. Eine solche Lesart greift jedoch zu kurz, auch wenn Stellen wie die folgende sie nahelegen: „[E]r [der Vater; Anm. M. H.] [hat] gerade erst meine Mutter kurz und klein geschlagen […], was ich verstehe, denn sie hat unsere Familie ruiniert durch den Ankauf von Kurzwaren aller Art bei vorüberfliegenden Händlern.“ (Picknick, S. 10f.). 33 Auf Wolfgang Kaysers immer noch maßgebliche Studie über das Groteske bezieht sich Shafi an zentraler Stelle; vgl. SHAFI, 2006, S. 387. 34 Ebd., S. 388.

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Kaysers Groteskentheorie) entspricht.35 In jeder dieser Erzählungen, das sei noch einmal betont, lässt sich ohne weiteres ein ‚realer‘ Kern für die Deutung des Familiären als Kosmos unmotivierter, oft erotisierter Gewalt finden. Doch verfehlt eine solch eingeengte Lektüre das Besondere an den Geschichten: ihr narratives Verpuffen nach einer Kavalkade von Szenen exzessiver Gewaltausübung. So wird in Kopf und Kragen (einer weiteren Miniatur aus Picknick der Friseure) der Sohn vom eigenen Vater zum Tanzbären abgerichtet, in den er sich auch äußerlich immer mehr verwandelt. Sein Kopf wächst unaufhörlich, bis er ihm schließlich „von den Schultern [rollt] und der Stein vom Herzen“ fällt (Picknick, S. 47). Dass der Tanzbär ohne Kopf mit „hängender Zunge und flatterndem Kragen“ (ebd., S. 48) weiterstolpert, ist in der Traumlogik des Absurden durchaus möglich, ebenso die Verwandlung von Vätern in Möbelstücke (in Die Zeugen). Familie wird hier wie in allen anderen Geschichten des Picknick-Bandes nicht narrativ organisiert, sondern einzelne Aspekte werden durch ihre hyperbolische Darstellung, gleichsam überlebensgroß, ins Bild gerückt – und (dadurch) wieder zum Verschwinden gebracht. Was aber lässt sich für die Leser daraus ableiten? Etwa, dass der Tanzbär, seine Abrichtung und sein Verschwinden als Parabel für das Durchkreuzen einer unentrinnbaren genealogischen Kette gelesen werden können? Möglicherweise. Doch liegt der Akzent der Geschichte eher auf dem Unauflösbaren, dem Rätselhaften: Der Vater bleibt zurück, selbst ein einsamer Bär (der „keinen Winterschlaf finden“ wird, ebd.), und der Sohn ist in seiner Abwesenheit weiter präsent – aus seiner Perspektive wird der letzte Abschnitt erzählt. Derlei Rätsel gehören zu einer Poetik, die sich unilinearen Deutungen durch narrative Luftsprünge entzieht, dennoch den Boden gesellschaftlicher Realitäten immer wieder berührt und dem Versuch huldigt, „den Unterschied zwischen Leben und Literatur aufzulösen“ (Hoppe, S. 245).36

3. AKZIDENTIEN

DES

F AMILIÄREN

In ihrer vierten Augsburger Vorlesung (2009) widmet sich Hoppe einem ihrer Lieblingsbücher, dem Lessico famigliare (1963, dt. Familienlexikon) von Natalia Ginzburg (1916-1991). Familiolekte, sprachliche Codes von Familien, sind für Ginzburg – wie für Hoppe – „Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt“ (zit. n. Schätze, S. 101). Der gemeinsame Bezug auf ein

35 Eine auf Bachtin rekurrierende Interpretation ausgewählter Erzählungen Hoppes unternimmt Veronika Schuchter in diesem Band. 36 Im Nachsatz heißt es, dass dieser Versuch „genauso misslingt, wie die immer wieder angestrebte Familienzusammenführung“ (ebd.).

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solches Vokabular gemeinsamer Vergangenheit stelle jene „familiäre[ ] Einheit“ (zit. n. ebd., S. 102) her, welche aus jeder Familie ein unverwechselbares Ganzes macht. Das Blättern in diesem „akustischen Album“ sei aber stets mit der Gefahr verbunden, zu verkürzen und Gesprochenes in „Slogans der Erinnerung“ (ebd., S. 103) zu verfälschen. Das Idyll hat so immer auch eine gefährliche Kehrseite: „Pose und Stilisierung“ (ebd.) legen uns auf etwas fest, dem wir nicht leicht wieder entkommen können. Nur wenn es uns gelingt, so die Autorin, die alten Geschichten neu zu erzählen, sind wir nicht mehr „Gefangene dieses nur scheinbar tröstlichen Vokabulars unserer vergangenen Tage“ (ebd., S. 104). Nur dann also, wenn der Autor seine auctoritas über die Erinnerungen behauptet (seine je eigenen, die von anderen Familienmitgliedern durchaus nicht geteilt werden müssen), seien die Ketten einer familiären ‚Privatsprache‘ zu durchtrennen.37 Das Sprechen über sich selbst – von der „Zeitzeugenindustrie“ (ebd., S. 109) kanalisiert (und korrumpiert) – sei immer dann von besonderem Interesse für die Allgemeinheit, wenn mehrere Faktoren zusammentreffen. Der erste (und uns hier einzig interessierende) ist der einer Verwendung von „einfachen, quasi märchenhaften Archetypen: Immer wieder Familien, Vater, Mutter, Kind, Missbrauch, Not und Vertreibung, Todesangst und Überleben, Verlassenwerden und Wiederfinden.“ (ebd.). Zu diesen archetypischen Elementen zählen ferner die Familienrituale: Hochzeiten und Weihnachtsfeste sowie das Zusammenkommen am runden Tisch erscheinen im Werk Hoppes mit leitmotivischer Konstanz. Ebenso spielen Familiengeheimnisse eine Rolle, wie erwähnt etwa in Paradiese, Übersee und auch in Der beste Platz der Welt (2009).38 In dieser Erzählung wird von den Nachfahren einer ihre Urlaube im Wallis verbringenden Tante nach der verborgenen Wahrheit dieser kleinen Fluchten gesucht – vergeblich, denn „[f]ür den Fall, dass es jemals Spuren gab, hatte sie alle verwischt.“ (Platz, S. 17). Es bleibt so nur die Rekonstruktion von Möglichkeiten in immer neuen Geschichten – „[w]ir mussten alles selber erfinden“ (ebd.) –, die ein erzählerisches Gespinst über Tante und Walliser Berge zugleich legen, in denen das Erzähler-Ich doch den (unlesbaren) Spuren der Verstorbenen folgt. Sind es in Der beste Platz insbesondere die Ansichtskarten, die als mediale Träger eines nicht zu ergründenden anderen Lebens, einer zweiten erborgten Existenz fungieren, so ist es in Pigafetta das Familienfoto, das eine familiäre Einheit konstituiert – aus der sich allerdings eine Person entfernt, „der zweite Esser von rechts“ (Pigafetta, S. 7). Das Foto rahmt die Geschichte von Aufbruch und Heimkehr; das Versprechen des Ausbrechenden lautet, die stationäre Komposition (eines Fami-

37 Wittgenstein verwirft bekanntlich das Konzept einer ‚Privatsprache‘, doch ist für die Familie sehr wohl – Ginzburg folgend – eine Art familiäre Privatsprache zu konstatieren. Vgl. WITTGENSTEIN, 1967 [1953]. 38 Vgl. dazu KANZ, 2015.

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lienmahls) nicht nur kurzfristig zu verlassen, sondern bei seiner Rückkehr (andere) überraschende Bilder zu präsentieren. Überblendet werden in dieser Anfangssequenz gleich zwei Medien zur Überbrückung von Abwesenheiten: das Foto und der Brief. Als Gespräch mit einem Abwesenden39 ist der Brief hier an die gesamte Familie gerichtet – „Ihr Lieben“ (ebd.) –, und diese wird als Hort des ewig Gleichen ins fotografische Bild statischer Szenogramme gebannt. Derjenige, der die festgefügte Familienkonstellation verlässt, um neue Erfahrungen machen zu können, hält doch zugleich über das Medium Brief die Verbindung mit Zuhause. Und nach der Rückkehr will er im Familienbild wieder seinen angestammten Platz einnehmen.

4. „F ÜR F AMILIENMITGLIEDER W ORT !“

GILT DAS GESPROCHENE

Eine letzte Ebene – nunmehr paratextueller – Bezüge auf den familiären Kosmos gilt es noch zu beleuchten: Zu dem unverkennbar hohen Stellenwert, den Familie thematisch und motivisch im Werk Hoppes einnimmt, lässt sich das Spiel mit familienbezogenen Motti hinzufügen. In den Widmungen an ‚meine vier furchtlosen Neffen‘ in Iwein Löwenritter (2008) und zuletzt an die Familie in toto in Hoppe wird auf eine außertextuelle Dialogebene angespielt, auf der das Ineinander von Literatur und Leben zugleich beschworen und negiert wird: „Für Familienmitglieder gilt das gesprochene Wort.“ (Hoppe, Motto, S. 5). Für Familienmitglieder gilt also eine andere Wahrheit als die der romanesken Autobiografie – und dennoch bedarf diese in gewisser Weise eines ‚familiären Paktes‘. Mit der Unterschrift unter diesen Pakt versichert die Autorin, dass es eine andere Geschichte ist, die hier erzählt wird, auch wenn sie (fast) deckungsgleich mit der familiären sein mag – als ihr Vexierbild, ihr kreatives Negativ. Hoppes Werk nimmt in der Gegenwartsliteratur auch in Bezug auf die Familienerzählung eine Sonderposition ein. Alle konstitutiven Gattungsmerkmale des Familienromans sind vorhanden, doch wählt die Autorin andere Zugangspunkte: Es geht ihr weder um die chronologisch-lineare Rekonstruktion von Familiengeschichten in einem anamnestischen Sinn noch um ‚Verfallsgeschichten‘ oder um die Auslöschung familiärer Bande. Dennoch ist auch für Hoppes Erzählen von der Familie festzuhalten, dass es eher dem dekonstruktiven Paradigma folgt, das mit einer ,Entheroisierung‘ verbunden ist. Entpsychologisierung und Dramatisierung des Familientableaus sind die Hoppe’sche Antwort auf ein Genre, das sich als literarische Form genealogischer Psychogenese in den letzten Jahren wieder etabliert hat. Das Kaspertheater, welches schon auf der ersten Seite von Hoppe begegnet, und die An-

39 Vgl. NICKISCH, 1991.

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spielungen auf dieses im weiteren Verlauf des Romans – „Alle DA“ (ebd., S. 227) – markieren eine natürlich auf Goethes Dichtung und Wahrheit (1811-1833) anspielende Verschiebung des statisch Familiären eines Familienfotos und des akustischen Familienalbums auf die private Bühne familiärer Dramen. Der Anstrengung, „sich ständig zum Verschwinden zu bringen“ (ebd.), huldigt Hoppes ‚Familienroman‘ jedenfalls gewiss nicht.

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Die magischen Künste des großen Humbug Zur Bedeutung der kinderliterarischen Intertexte in Felicitas Hoppes Roman Hoppe (2012) L ENA E KELUND „Ich kann leider nirgendwo hingehen“, sagte ich. „Ich habe ein krankes Bein.“ Aber da kam Herr Lilienstengel zu mir und nahm mich bei der Hand. „Spielt keine Rolle“, sagte er. „Spielt gar keine Rolle im Land der Dämmerung.“ (ASTRID LINDGREN, IM LAND DER DÄMMERUNG) In solch farbenbehängte, undichte Welt, wo bei jedem Schritt sich alles verschiebt, wird das Kind als Mitspieler aufgenommen. Drapiert mit allen Farben, welche es beim Lesen und Betrachten aufgreift, steht es in einer Maskerade mitten inne und tut mit. (WALTER BENJAMIN, AUSSICHT INS KINDERBUCH)1

„Aber tatsächlich (und ganz unter uns) kann es natürlich nichts Schlimmeres geben als ein Buch, das plötzlich Wirklichkeit wird“ (Hoppe, S. 250), heißt es in einem Brief der Heldin aus Felicitas Hoppes autofiktionalem Roman 2 Hoppe (2012). Die

1

BENJAMIN, 1988 [1926], S. 151; LINDGREN, 1989 [1969], S. 37.

2

Paratextuelle Marker weisen den Text als „Roman“ (Untertitel) beziehungsweise als „Hoppes Traumbiographie“ (Klappentext) aus. In einem Interview spricht Felicitas Hoppe auch von „Selbstfindung durch Selbsterfindung“ (vgl. RINAS, 2012) und rückt den eigenen Text damit in den Bereich der Autofiktion und des autobiografischen Schreibens, für das „Dichtung, Erfindung und Konstruktion […] keine Notbehelfe“ sind, sondern

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Absage an die Kindersehnsucht, sich unter dem Personal und in der Welt eines geliebten Buches wiederzufinden, wird bereits durch die erste Szene des Romans widerlegt, in der die Protagonistin selbst als Teilnehmerin eines Schauspiels eine Legende zum Leben erweckt: Den Lesern wird eine Kindheitsszene präsentiert, in der die Hauptfigur „als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen“ (Hoppe, S. 13). Das in die Lektüre versunkene Kind, so beschreibt es Walter Benjamin (18921940), betritt „eine Bühne, wo das Märchen lebt“,3 und eben das tut die Protagonistin hier im buchstäblichen Sinne. Hoppe mit seinem vielschichtigen intertextuellen Referenzsystem, dem raffinierten Spiel seiner ‚hakenschlagenden‘ Erzählerstimme(n), ist ein Text voller Sehnsucht nach der Verzauberung durch das Lesen und nach einer romantischen Heimkehr durch die Lektüre, wie sie Kindern vertraut ist. Bücher, die Wirklichkeit werden, Figuren, die aus Geschichten in die Welt des Lesers eintreten, oder umgekehrt, Leser, die geheime Pforten zu fantastischen oder zu fiktionalen Welten aus ihrer Lektüre durchschreiten, gehören zum Inventar kinderliterarischen Erzählens, seitdem Lewis Carrolls (1832-1898) Alice an einem langweiligen Nachmittag dem weißen Kaninchen mit der Taschenuhr in sein Erdloch folgte und sich in Wunderland wiederfand. Eine Alice-Figur ziert als intertextuelle Allusion auch den Einband von Hoppe: Zu sehen ist ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar, vornübergebeugt zum Schnürsenkelbinden.4 Hoppe ist natürlich kein Kinderbuch, sondern das autofiktionale Experiment einer Schriftstellerin, die

vielmehr eine „Möglichkeit autobiografischer Reflexion und Selbstdarstellung“ darstellen (vgl. WAGNER-EGELHAAF, 2008, S. 137). Darüber hinaus kann der Begriff der Metaautobiografie für eine Gattungsbestimmung fruchtbar gemacht werden, vgl. NÜNNING, 2007, S. 275: „Vielmehr stellen sie [die fiktionalen Metaautobiografien, Anm. L. E.] oftmals mehrere autobiographische Geschichten einander gegenüber, die sich, zum Teil in hochgradig selbstreflexiver Weise, widersprechen und eine Vielzahl an intertextuellen und intermedialen Referenzen erkennen lassen. Gerade die Bewusstmachung der Konventionalität der Gattungsschemata sowie das Ausstellen von intertextuellen Echos haben weitreichende Konsequenzen, weil sie die Authentizität und den Zeugnischarakter, der traditionellerweise dem autobiographischen Schreiben zugeschrieben wird, unterminieren.“ Die Frage der Gattungszugehörigkeit diskutieren ausführlich die Beiträge von Florian Lippert und Antonius Weixler in diesem Band. 3 4

BENJAMIN, 1988 [1926], S. 151. Den Hinweis, dass es sich bei dem Coverbild um die Montage einer Kindheitsfotografie der realen Autorin handelt, verdanke ich den Herausgeberinnen.

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bereits selbst Kinderbücher verfasst und übersetzt hat,5 die sich zudem gegen eine strenge Grenzziehung zwischen sogenannter Erwachsenen- und Kinderliteratur ausspricht und dafür plädiert, als Erwachsener die Bücher der eigenen Kindheit erneut zu lesen.6 Und so ist auch in Hoppe die Grenze zwischen sogenannter Kinder- und Erwachsenenliteratur äußerst durchlässig, springen doch bei einer ersten Lektüre bereits zahlreiche Anspielungen auf kanonische Texte der Kinderliteratur wie etwa Carlo Collodis Le avventure di Pinocchio (1883), Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer (1876), Jules Vernes Les enfants du capitaine Grant (1867/68), Frank L. Baums The Wonderful Wizard of Oz (1900) und Astrid Lindgrens Pippi Långstrump (1945-1948) ins Auge. Der autofiktionale Text Hoppe mit seiner Doppelbiografie, einer verleugneten und einer vermeintlich ‚verbrieften‘, mit seinem metaautobiografischen Spiel, stellt sicherlich die Fiktionalität eines jeden autobiografischen Schreibens noch einmal nachdrücklich aus.7 In diesem Spiel ist Felicitas Hoppe die Autorin, deren Wikipedia-Biografie lakonisch im Klappentext angeführt wird. Aber Felicitas Hoppe heißen auch die Erzählerin/Biografin und die Protagonistin, deren Kindheits- und Lebensgeschichte(n) erzählt werden. Dabei zeichnet die literaturwissenschaftlich versierte Erzählerin/Biografin, die den Selbstzeugnissen ihres ‚biografischen Subjekts‘ gern widerspricht und andere Quellen dagegensetzt, mit dem Kürzel ,fh‘. Um der gesamten Konstruktion noch einmal den Boden unter den Füßen wegzuziehen, heißt es am Ende des Romans, eine weitere Figur namens Hans Herman Haman habe die Autorin Hoppe erfunden (Hoppe, S. 326).8 Folgt man jedoch den kinderliterarischen Anspielungen, liest sich der Text auch als implizite (Kinder-)Lesebiografie, die dem Versteckspiel entgegen durchaus Rückschlüsse auf die Leserin zulässt. Hoppe, so entnehmen wir den Worten eines von der Erzählerin und Biografin ,fh‘ zitierten Freundes, hinterlasse stets „winzige Spuren“ (ebd., S. 256). Dabei führt die Spur der wörtlichen und strukturellen Verweise auf die kinderliterarischen Intertexte9 hin zu einer einstigen Verzauberung durch das Lesen.

5

Unter anderem Iwein und GEISEL, 2001. Für ihre Adaption des mittelhochdeutschen Artusromans erhielt Hoppe 2010 den Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln für Kinder- und Jugendliteratur.

6 7

HOPPE, 2010, S. 8-15. Dies betonen auch die Rezensenten, vgl. beispielsweise die Rezension von Ijoma Mangold in der Zeit vom 24. Mai 2012: MANGOLD, 2012.

8

Zum Aufbau des Romans vgl. NEUHAUS, 2012, S. 11f.

9

Michaela Holdenried deutet „den hinweisenden Charakter der Zitationstechnik, den Anspielungsreichtum und den diskursiven Horizont der Anspielungen“ als „Spuren“ einer „Rückkehr zum Konzept selbstbewusster Autorschaft“. Nicht nur an dieser Stelle hat es

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V ERZAUBERTE J ÄGER Der Leser ahnt bald, dass es sich bei der Protagonistin Hoppe um eine verzauberte, ver- und entführte Figur handelt, immer auf der Suche, immer auf der Flucht. Laut ihrer Biografin charakterisiert sie sich selbst am Tisch ihrer kanadischen Ersatzund Wahlfamilie, den Gretzkys, in genau dieser Weise: Aus ihrem für das Patentamt arbeitenden „Erfindervater“ macht sie in ihren Erzählungen einen „Entführervater“, „der angeblich nicht der eigene ist, sondern sie vor Jahren „mit einem Schmetterlingsnetz vom Schulweg wegfing““ (Hoppe, S. 23). Die Biografin bezeichnet das Schmetterlingsnetz als „typisches Hopperequisit“ (ebd., S. 103). Das Schmetterlingsnetz ist natürlich Vladimir Nabokovs (1899-1977) charakteristisches Accessoire, aber auch ein wiederkehrendes Motiv im Werk der realen Autorin Felicitas Hoppe.10 In Hoppe taucht es auf als Anspielung auf den berühmtesten „Entführervater“ der Weltliteratur.11 Humbert Humbert, Protagonist und Erzähler des Romans Lolita (1955), gibt sich als leiblicher Vater seiner Stieftochter Dolores ,Lolita‘ Haze aus und entführt sie mit unlauteren Absichten aus dem Summer Camp, um sie in ein Hotel mit dem klangvollen Namen ,Enchanted Hunters‘ zu bringen. Die ,Enchanted Hunters‘ werden in Lolita zur Metapher für die Besessenheit Humbert Humberts und schließlich auch für den Rausch des Lesers, der dem pädophilen, manipulativ-wortgewandten Erzähler auf die Schliche kommen will, nur um seiner Rede dann doch zu verfallen: As we read about Humbert Humbert and his quarry, we fall under the spell of the words but also remain hunters, active seekers of those glittering portals to forbidden and enchanting

den Anschein, als trete Hoppe in einen Dialog mit der Forschung: HOLDENRIED, 2007, S. 17. 10 Auch Stefan Neuhaus hat bereits die Figur des Doktors mit dem Schmetterlingsnetz in Paradiese, Übersee (2003) als Nabokov-Anspielung interpretiert, vgl. NEUHAUS, 2003: „Ein wenig Halt in der heillosen Geschichte von einem Ritter, einem Pauschalisten und einem Fremdenführer […] geben einige dünne rote Fäden, etwa die Suche nach dem unaussprechlichen, wie einst Vladimir Nabokovs Schmetterlinge jagender Doktor (als vergleichbar stilisierte Figur irrt Nabokov schon durch Texte von W. G. Sebald, 1944-2001), und refrainartig wiederholte Sätze, vor allem: „Woher kommen wir, wo sind wir, wohin gehen wir?““ 11 Neuhaus zeigt darüber hinaus zahlreiche Parallelen zwischen Hoppe und Lolita auf. So habe auch die Protagonistin Hoppe einen älteren Verehrer, zudem präge die Struktur der Reise durch die USA beide Romane, und Lolita sei als metafiktionaler Roman ein mögliches Vorbild für Hoppe, vgl. NEUHAUS, 2012, S. 12.

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lands. Enthralled by words and narratives, we roam the textual terrain, wondering at its beauty and wandering in its lush intellectual precincts.12

‚Enchanted hunting‘, das verzauberte Nachjagen, charakterisiert laut Maria Tatar eine spezifische Art des Lesens, die durch die Hingabe des Lesers an den Rausch der Sprache einerseits, und durch Schönheit angeregte hochaktive intellektuelle Beteiligung andererseits gekennzeichnet ist. In Hoppe tauchen die von Tatar beschriebenen „glittering portals to forbidden and enchanting lands“ immer wieder auf. Wie zu zeigen sein wird, ist es die Jägerfigur des Rattenfängers, die den Weg zu ihnen weist und so wiederholt auf der Handlungsebene des Textes Anleitungen zu einem verzaubert-engagierten Lesen gibt. Untersucht Tatar in ihrer Studie Enchanted Hunters (2009) zur kindlichen Leseerfahrung die Bedeutung der Verzauberung bei jungen Lesern, so beschreibt Rita Felski in Uses of Literature (2008) „enchantment“ allgemeiner als einen von vier verschiedenen Modi der Begegnung von Leser und Text. 13 Mithilfe dieser vier Kategorien geht Felski den Fragen nach, warum wir lesen und auf welche Art und Weise Leser sich Texten zuwenden, sich ihnen aussetzen oder hingeben. „Enchantment“ benennt laut Felski eine Art der Lektüre, die durchaus eskapistische Züge tragen kann und von dem Bedürfnis bestimmt ist, sich im Text zu verlieren: „because one reason that people turn to works of art is to be taken out of themselves, to be pulled into an altered state of consciousness“.14 Immer sei Lesen mit der Fähigkeit verbunden, etwas Abwesendes heraufzubeschwören.15 Dabei könne eine fantastische Welt das Eintauchen des Lesers ebenso bewirken wie ein besonderer Stil. Auch sei enchantment nicht zu verwechseln mit einem fehlenden Bewusstsein für den Unterschied von realer und fiktiver Welt, sondern gleiche eher einer selbstvergessenen Hingabe an die Fiktion mit all ihren Eigenschaften, ihren Fein- und Schönheiten.16 Dabei haftet der Verzauberung der Verdacht eskapistischen Kultur-

12 TATAR, 2009, S. 27. 13 Die vier Kategorien sind recognition, enchantment, knowledge und shock, vgl. FELSKI, 2008, S. 14: „These four categories epitomize what I call modes of textual engagement: they are neither intrinsic literary properties nor independent literary states, but denote multi-leveled interactions between texts and readers.“ 14 Ebd., S. 76. 15 Vgl. ebd., S. 62: „Literature seems akin to sorcery in its power to turn absence into presence, to summon up spectral figures out of the void, to conjure images of hallucinatory intensity and vividness, to fashion entire worlds into which the reader is swallowed up.“ 16 Vgl. ebd., S. 75: „Modern enchantments are those in which we are immersed but not submerged, bewitched but not beguiled, suspensions of disbelief that do not lose sight of the fictiveness that enthrall us.“

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konsums und einer unkritischen Rezeptionshaltung an, gegen den Felski sie energisch verteidigt. Suchende und Verlorene dominieren Hoppe ebenso wie das Motiv der ewig verlorenen Heimats-, Ursprungs- und Kindheitsorte. Dass die Suchenden und Liebenden einander stets verfehlen und die Sehnsuchtsorte nicht mehr erreicht werden können, ist dabei ebenso Programm wie die Tatsache, dass die Leser der Hauptfigur Hoppe bei aller Information, die so wortreich aus Quellen und Zeugnissen präsentiert wird, nicht habhaft werden können. Die Hinweise auf Nabokov und seine verzauberten Jäger, die mit Schmetterlingsnetz und dem immer wieder benannten ,Entführervater‘ so beiläufig-harmlos daherkommen, bergen zugleich die Aufforderung an die Leser, der ewig abwesenden Hoppe durch Ausübung der quasi magischen Praxis des Lesens nachzujagen, ihr Präsenz zu verleihen und ihre in Hoppe aus verschiedenen Quellen erzählte Doppelbiografie zu einer sinnstiftenden Erzählung zusammenzufügen: „Womöglich ist das ihr geheimer Wunsch: zu verschwinden, damit man sie suchen muss, Präsenz durch Abwesenheit“ (Hoppe, S. 184), bemerkt eine der Vaterfiguren des Textes über Hoppe. Claude Conter hat in einem Aufsatz zu Paradiese, Übersee gezeigt, wie Hoppe „anhand literarischer Konfigurationen einen ‚Prozess der Annäherung an die Wahrheit‘“ initiiert, „wobei besagte Wahrheit als erstrebenswert und unerreichbar zugleich erscheinen soll“.17 In Hoppe werden die kinderliterarischen Intertexte Teil dieser romantischen Konzeption. Wenn, wie Conter bemerkt, Hoppes Schreiben auf ein Modell zielt, „in dem die Sehnsucht nach Erlösung und Versöhnung dargestellt wird und das einen Ausweg aus dem Bewusstsein der Entfremdung und der Dissoziation des Menschen von der Welt in Aussicht stellt“,18 dann sind die Anspielungen auf die Texte der Kinderliteratur Spuren einer Sehnsucht nach einem Aufgehen in der Lektüre ebenso wie nach Möglichkeiten, mit der Welt zu interagieren.

V OR DEM K ASPERTHEATER „[T]he story is a series of flights“,19 schreibt Ann Lawson Lucas über Carlo Collodis (1826-1890) vielrezipierten Kinderbuchklassiker Pinocchio. Immer wieder muss die Holzfigur Pinocchio durch Flucht ihr Leben retten, immer wieder drohen Gefahren, soll Pinocchio ertränkt, verbrannt, gehängt werden, weil er sich mal wieder durch Neugier oder Unlust, in die Schule zu gehen, hat in Versuchung führen lassen. Die Fluchten in Pinocchio sind existentiell, ebenso wie der Hunger und die bit-

17 CONTER, 2008, S. 99. 18 Ebd. 19 LUCAS, 1999, S. 162.

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tere Armut, die im Roman thematisiert werden. Pinocchio sollte Kindern zeigen, wie man sich benimmt, aber es wäre zu kurz gegriffen, reduzierte man dieses Meisterstück auf seine eher halbherzigen Erziehungsversuche, denn die Welt, in der Kinder sich gut benehmen sollen, ist selbst nicht gut. Der erste Satz, den Pinocchio im Roman sagt, lautet „Non mi picchiar tanto forte!“20 Pinocchio muss also von Anfang an gegen die Zumutungen der Welt aufbegehren. Es geht in dieser Geschichte einer Holzpuppe immer um Leben und Tod. Wie Hoppe in einer ihrer Augsburger Poetikvorlesungen von 2009 betont, unterscheidet sich die von ihr vielgeliebte Pinocchio-Figur von einer kinderliterarischen Figur wie Peter Pan dadurch, dass sie ihre Abenteuer nicht mit traumwandlerischer Sicherheit besteht und dass diese Abenteuer auch nicht in einer Parallelwelt stattfinden, die nach Belieben wieder verlassen werden kann.21 Als „durchaus heldenhafte Geschichte einer Menschwerdung“22 bezeichnet Hoppe den italienischen Klassiker. Hoppe bewahrt die Struktur der aufeinanderfolgenden Fluchten, die Pinocchio auszeichnet, aber die Motive für das Verschwinden und die Fluchten der Figuren, insbesondere der Figur Hoppe, bleiben unklar, und es gibt weder Strafen noch moralische Verfehlungen, aus denen die Figur lernen könnte. Die Verführer und Betrüger aus Pinocchio, ,il Gatto‘ und ,la Volpe‘, also Kater und Fuchs, tauchen in Hoppe mehrfach als Cater und Fox auf, ebenso das ,Red Crab Inn‘, das in Pinocchio noch „L’osteria del Gambero Rosso“23 heißt. Aber die Verführer, die Pinocchio sein Geld abnehmen, ihn austricksen und in Gefahr bringen, sind in Hoppe alte Freunde geworden, die die Protagonistin freudig begrüßen und ihr einen Weißwein über die Theke reichen. Auch das Puppentheater, bei dem Pinocchio seiner „Familie“, den anderen Handpuppen aus der Commedia dell’arte, Arlecchino, Pulcinella und Rosaura begegnet, ist kein harmloses Kaspertheater, sondern ein Ort der Bedrohung, an dem der Besitzer der kleinen Bühne regelmäßig einzelne Handpuppen verheizt, um sein Essen zu kochen. In Hoppe taucht dagegen eine Kasperbühne für Kinder als vermeintlicher Ort familiärer Geborgenheit und Tradition wieder auf, scheinbar entschärft, bürgerlich und ohne die bunte Schau menschlicher Schwächen und Begierden der Commedia dell’arte:

20 COLLODI, 2009 [1883], S. 6. „Schlag mich nicht so fest“ [Übers. L. E.]. 21 Vgl. Schätze, S. 192f: „Peter Pans Abenteuer […] spielen sich ritualisiert […] auf einer Insel namens Niemalsland ab, […] die man nachts fliegend erreicht und zur Not im Morgengrauen wieder verlassen kann“ (S. 192); „Pinocchio [muss] alle Gefahren am eigenen Leib erfahren und in einer einzigen Welt bestehen.“ (S. 193). 22 Ebd., S. 193. 23 COLLODI, 2009, S. 66.

94 | L ENA E KELUND Die niedersächsische Welt der Felicitas Hoppe, ihre Kindheit in der katholischen Diaspora als drittes von fünf Kindern kleinbürgerlicher, aus Schlesien vertriebener Eltern, die sie immer beharrlich gegen jene andere, unberechenbare Welt ihrer wirklichen Kindheit aufruft, entpuppt sich als Kulisse unaufhörlich neuorganisierter Fluchten nach innen: „Sobald es dunkel wurde, versammelten wir uns vor dem Vorhang des ersten und einzigen Kaspertheaters in Erwartung, dass er sich auftun würde, um uns endlich das Krokodil zu zeigen. Und um die warme Stimme unseres Vaters zu hören, die uns jeden Sonntag von vorne fragt, ob wir noch alle da sind, und die uns jeden Sonntag aufs Neue verrät, dass es das Krokodil gar nicht gibt.“ (Hoppe, S. 17, Hvhbg. L. E.)

Wie sich zeigt, ist auch hier das Puppentheater kein Ort heiterer kindlicher Zerstreuung, sondern vielmehr unmittelbar verknüpft mit einem konkreten historischen Ereignis, nämlich der Flucht der deutschen Schlesier vor der Roten Armee im Januar 1945. Das semantische Feld von ‚Flucht‘, ‚Vertreibung‘ und ‚Diaspora‘ verdeutlicht, dass die Hamelner Kindheit ihre eigenen Fluchten, Verluste und Schrecken bereithält, die im Familienritual der Kaspertheatervorführung wöchentlich beschworen werden müssen. Dabei wird die ,Vertreibung‘ der Eltern mit den ,inneren Fluchten‘ der fabulierenden Tochter in einen direkten Bezug gesetzt und die Familie selbst zumindest im Bezug auf ihre Religion als eine in der ,Diaspora‘ lebende, das heißt in der Fremde, auf Rückkehr an einen eigentlichen Ursprungsort wartend, dargestellt. An anderer Stelle heißt es von der ‚kanadischen Felicitas‘, ihr Blick sei „der Blick eines Kindes, das genau weiß, dass es, wo auch immer, nur Gast ist“ (ebd., S. 30). Das sonntägliche Kaspertheater wird zum bestätigenden Ritus angesichts einer zurückliegenden Erfahrung von Heimatverlust, und das traditionelle Frage- und Antwortspiel, in das eigentlich das Kinderpublikum einstimmen soll – „ob wir noch alle da sind“ – bekommt seine eigene Dringlichkeit, die mit der Beschaulichkeit harmloser Sonntagsvergnügen nichts mehr zu tun hat, sondern an die reale Gefahr erinnert, verlassen, zurückgelassen zu werden. Das Krokodil, Leser von Peter Pan wissen das, bringt den Tod. Im familialen Ritual bleibt der Tod jedoch gebannt durch „die warme Stimme unseres Vaters“, eingerahmt und beherrscht durch die Fassung der häuslichen Bühne. In diesem Setting kann behauptet werden, dass es das Krokodil, also den Tod, nicht gäbe, so, wie man Kinder beruhigt, die unter ihrem Bett ein Ungeheuer vermuten.24 Nur in der Rahmung durch diese Bühne kann

24 Das Motiv der im Krokodil gebannten Angst findet sich auch in einer der Augsburger Vorlesungen wieder: „Wenn das Krokodil bei mir ist, habe ich keine Angst, das Krokodil nimmt mich bei der Hand und führt mich. Mit anderen Worten – solange das Ungeheuer im Spiel ist, ist die Welt buchstäblich in Ordnung, und damit meine ich nicht nur die Welt des Theaters.“ (Schätze, S. 185).

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die erste Flucht thematisiert werden, und die beiden Biografien scheinen einander zu durchdringen, wenn es an einer anderen Stelle der anderen, der Ausreißer- und Abenteurerbiografie, über Hoppes ,Erfindervater‘ heißt: „Erinnern wir uns daran, dass Felicitas’ Vater alles „Rückwärtsgewandte“ entschieden nicht mochte („Vergangenheiten ertrage ich schlecht“) und immer wieder betonte, es komme im Leben einzig und allein darauf an, nach vorne zu blicken.“ (Hoppe, S. 173). Diese Maxime des Karl Hoppe, der mit seiner Tochter erst in Kanada und dann in Australien lebt, schließlich verloren geht und von ihr für den Rest des Romans gesucht werden muss, scheint wie herübergeholt aus der Geschichte des anderen Vaters, des tatsächlichen Flüchtlings und Puppenspielers. Dementsprechend liest sich ein Bericht der Figur Hoppe über ihre Lebensreise wie der erschöpfte, aber disziplinierte Bericht über eine Flucht, die der elterlichen gleicht: „[I]ch habe selbstverständlich nicht aufgegeben, sondern bin einfach weitergegangen, Fuß vor Fuß: von Breslau“ (ebd., S. 268). Nachdem sie die Hoffnung auf ihre Jugendliebe Wayne Gretzky endgültig aufgeben muss, versetzt eine Fieberfantasie die kranke Protagonistin erneut in eine Situation des Fliehens: „Offenbar befand sie sich auf einer längeren Wanderung, auf einem langen und quälenden Marsch, auf dem sie von Gefahren umzingelt war“ (ebd., S. 321). Zwar schiebt Hoppe jeder symptomatischen Lesart sofort den Riegel vor, indem die entsprechenden Diagnosen immer schon von den eingebauten Kritikern gestellt werden. Es fällt dennoch schwer, die eine Flucht aus Schlesien nicht mit den anderen, vielfach zitierten und inszenierten Fluchten des Romans in Verbindung zu setzen. Die Autorin selbst betont in ihren Augsburger Poetikvorlesungen, sie habe die „Flüchtlingsgeschichte meiner schlesischen Eltern“ (Schätze, S. 112) niemals weder in eigenen Texten noch bei Podiumsdiskussionen einsetzen wollen und misstraue auch einer literarischen Aneignung: „Das Wirtschaften mit ererbten Schicksalen, auch wenn sie unweigerlich Teil der eigenen Geschichte werden, erscheint mir bis heute geschmacklos.“ (ebd.). In Hoppe ist nicht ein solches „Wirtschaften“ gestaltet, sondern es wird durch den Intertext eine Spur zur Nach-Erinnerung ausgelegt. Der verlorene Herkunftsort gerät zur märchenhaften Heimat der Familie Hoppe, an dem die Eltern sich kennenlernten, „in einem Land weit weg von hier, das man im Buch der Sagen und Märchen immer noch Schlesien nennt“ (Hoppe, S. 279). Und ein Intertext wie Pinocchio verweist mit seinem Erzählmuster aufeinanderfolgender Fluchten und seiner ewig davonlaufenden Hauptfigur auf eine verborgene Sinnschicht in Hoppe und macht eine transgenerationelle Weitergabe von Familiengeschichte sichtbar, die ebenfalls durch die Fluchtstruktur bestimmt ist.

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D AS ARCHIV

DES

E RZÄHLENS

Das Motiv der Heimatlosigkeit, ebenso wie dasjenige der verlorenen Familie, zieht sich durch den gesamten Roman, potenziert und gespiegelt durch die vielen Helden der kinderliterarischen Intertexte, die ihr Zuhause verlassen, um ihre eigenen Abenteuer zu erleben oder um ihre verlorenen Eltern zu suchen. Neben dem bereits erwähnten Pinocchio suchen die Kinder des Kapitän Grant in Jules Vernes Abenteuerroman Les enfants du capitaine Grant, die Hoppes Herberge ,Grant’s Children‘ in Adelaide ihren Namen leihen, über den ganzen Roman hinweg auf verschiedenen Kontinenten ihren schiffbrüchigen Vater. Dabei werden sie immer wieder verwirrt durch eine rätselhafte Flaschenpost, die sie auf falsche Fährten bringt, weil sie von all den Mitgliedern des hochkarätigen Expeditionsteams fortwährend falsch interpretiert wird. Das Mädchen Dorothy aus Frank L. Baums The Wonderful Wizard of Oz, aus dem wiederum anlässlich der großen Amerikareise Hoppes zitiert wird, ist eine Waise, die nach einigen Abenteuern in Oz unbedingt zu ihrer Tante Em nach Kansas zurückkehren will. Nachdem sie den Zauberer von Oz als Betrüger entlarvt und festgestellt hat, dass auf seine Hilfe kein Verlass ist, bewerkstelligt Dorothy ihre Rückkehr schließlich kraft ihrer eigenen Worte und mithilfe magischer Schuhe: „[S]he clapped the heels of her shoes together three times, saying: „Take me home to Aunt Em!““25 Berühmt ist auch der letzte Satz des Kinderbuchs, in dem Dorothy ihrer Tante mit den Worten „I’m so glad to be at home again!“ 26 in die Arme fällt. Nur eine der Heldinnen aus den Intertexten des Romans bleibt am Ende ihrer Geschichte allein, und das ist Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Eigentlich ein Modell kindlicher Unabhängigkeit und eben aufgrund ihrer Freiheit, ihrer ungeheuren Körperkraft und ihres unerschöpflichen Reichtums zu beneiden, bleibt Pippi für sich in der nachdenklich-melancholischen Szene, die die Trilogie beschließt. Von ihrer Reise zu ihrem Vater in die Südsee kehrt sie zwar mit ihren Freunden, aber nach wie vor elternlos zurück. In der letzten Szene von Pippi Långstrump i Söderhavet (1948, dt. Pippi in Taka-Tuka-Land, 1951) blicken ihre besten Freunde Thomas und Annika zum Nachbarhaus hinüber und sehen Pippi in ihrer Küche sitzen: Pippi saß am Tisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Mit einem träumerischen Ausdruck starrte sie auf ein kleines, flackerndes Licht, das vor ihr stand. „Sie – sie sieht auf irgendeine Weise so einsam aus“, sagte Annika, und ihre Stimme zitterte etwas. „O Thomas, wenn es doch schon morgen wäre, daß wir gleich zu ihr gehen könnten!“

25 BAUM, 1995 [1900], S. 152. 26 Ebd., S. 154.

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Sie standen stumm da und schauten in den Winterabend hinaus. Die Sterne leuchteten über der Villa Kunterbunt. Dort war Pippi. Sie würde immer da sein. Es war wunderbar, daran zu denken. Die Jahre würden vergehen, aber Pippi und Thomas und Annika würden nicht groß werden. […] Neue Frühlinge würden kommen und neue Sommer, Herbst und Winter würde es werden, aber ihr Spiel würde niemals aufhören. […] [S]ie würden immer wieder zur Villa Kunterbunt zurückkehren. […] „Wenn sie hierher schauen würde, dann könnten wir ihr zuwinken“, sagte Thomas. Aber Pippi starrte nur träumerisch vor sich hin. Dann löschte sie das Licht aus.27

Kindlichen Lesern fällt es leicht, diese Passage wörtlich zu nehmen, als Versicherung, dass die Kindheit und ihre Freundschaften ewig währen. Vielleicht bemerken junge Rezipienten nicht, dass hier ein Kindheitsparadies beschworen wird, das irgendwann verloren sein wird, und auch nicht, wie wehmütig diese Passage ist. Pippi blickt nicht zu Thomas und Annika: Sie mag als ein weiblicher Peter Pan am Ort der Kindheit bleiben, aber es gibt genügend Hinweise darauf, dass Thomas und Annika ihr darin nicht folgen können. Lindgren lässt die Leser aus Annikas Perspektive auf Pippi blicken, aus der Perspektive eines Mädchens mit Eltern, und Annika sieht nicht das Bild der starken, unverwundbaren und unerschütterlichen Pippi, sondern das eines einsamen Kindes. Aber Pippi ist, zumindest für den erwachsenen Leser, in dieser Szene längst kein Kind mehr, sondern schon geronnen zu einer Figuration der Kindheit, der kindlichen Fantasterei und des kindlichen spielerischen Erfindungsgeistes, zu einer Art ‚Genius der Kindheit‘. Auch Hoppe endet mit einer solchen Figuration, mit Kerzen, die ausgeblasen werden, und mit dem Bericht eines Museumswächters namens Clark Dark aus der Washingtoner National Portrait Gallery, der beobachtet, dass es […] im Erfinderzimmer alljährlich in der Nacht vom einundzwanzigsten auf den zweiundzwanzigsten Dezember zu einer seltsamen Erscheinung kommt […]: Ein etwa fünfjähriges in ein wasserdichtes graues Rattenkostüm eingenähtes Mädchen betrete, auf dem Rücken einen Rucksack und auf dem Kopf einen Adventskranz mit vier brennenden Kerzen, das Erfinderzimmer (durch welche Tür wisse niemand) und laufe, als ginge es um ihr Leben, immer wieder von vorn, die endlose Reihe ihrer Erfindungen ab […]: Jedes Jahr Schlag eins, so Dark, nehme er (was keine leichte Aufgabe sei) Felicitas am Ende ihrer langen verworrenen Rede behutsam den Kranz vom Kopf, blase vorsichtig die vier Kerzen aus und klopfe ihr auf die rechte Schulter. (Hoppe, S. 328-330).

27 LINDGREN, 1969, S. 182-184.

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Nicht nur wird hier das ehemalige U.S.-Patentamt in Washington, in dem sich heute die National Portrait Gallery befindet, und in dem nach amerikanischem Patentgesetz von jeder Erfindung ein Modell aufbewahrt werden sollte, zu einem Archiv aller Erfindungen Hoppes. Es wird auch das kleine Mädchen mit dem Luciakranz auf dem Kopf als Verkörperung der poetischen Inspiration entlarvt, enthält doch die Liste der Erfindungen alle Namen der in Hoppe auftretenden Figuren, denen je eine Farbe, Tonart, Ziffer oder ein Buchstabe zugeordnet wird – als handele es sich um eine Tabelle der Erzählelemente. Die Kinderliteratur kennt viele ähnliche Archive, man denke etwa an das Archiv der Prophezeiungen im Ministry of Magic in J. K. Rowlings Harry Potter and the Order of the Phoenix (2003, dt. Harry Potter und der Orden des Phönix, 2003), an das Archiv der Träume, das der Gute Riese aus Roald Dahls The BFG, 1982 (dt. Sophiechen und der Riese, 1984) in seiner Höhle aufbewahrt, oder an das Bergwerk der Bilder aus Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979), in dem der Protagonist Bastian Balthasar Bux seine Erinnerung wiederfindet. Wie Pippi, die in Annikas Version ewig die Villa Kunterbunt als ein Reich der Kindheit bewohnt, ist auch das kleine Mädchen im Rattenkostüm eine Art Wiedergängerin, die zwar nur einmal im Jahr erscheint, aber niemals altert. Den Roman eröffnend und beschließend, bewahrt die Figur des kleinen Mädchens in Benjamin’scher Manier die Kindheit als poetisches Reservoir für spätere Dichtung und Schöpfung.

R ATTENFÄNGER

REVISITED

Die Legende des Rattenfängers von Hameln ist der erste explizite Intertext in Hoppe, über den sich die Hauptfigur selbst immer wieder in ihrer Heimatstadt Hameln verwurzelt und so etwas wie ein Zuhause erschafft – wenn auch ihre Biografin diese „Hamelner Biographie“ als „reine Erfindung“ (Hoppe, S. 14) bezeichnet und ihre eigene Lebensgeschichte ,Hoppes‘ erzählt, die diese mit ihrem Vater nach Ontario, später nach Adelaide, durch mehrere Wahlfamilien und schließlich, allein weiterreisend, durch die USA führt, bis sich Hoppes Spuren verlieren und sie sich möglicherweise selbst als literarische Schöpfung entpuppt. Schon in der eingangs zitierten Passage über das Kind, das als Ratte verkleidet bei den Festspielen auftritt, manifestiert sich der Tenor der eigenwilligen Relektüre und Parodierung des Rattenfängers. Wie Tatar feststellt, vermittelt gerade die Erzählgattung des Märchens Kindern ein Bewusstsein für die Fähigkeit, sprechend und somit handelnd in die Welt einzugreifen und Unabhängigkeit zu erlangen: „Fairy tales help children move to a state that may not be full emancipation but that

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marks the beginnings of some form of control over what surrounds us.“ 28 Hoppe interessiert sich ebenfalls für die emanzipatorische Wirkung kindlichen Lesens und zitiert in den Augsburger Vorlesungen einen ähnlichen, von Ted Hughes (19301998) formulierten Gedanken: „Indem es [das Kind, L. E.] der Welt einer solchen Geschichte seine Beachtung schenkt, beginnt es, die imaginative und mentale Kontrolle zu übernehmen.“ (Schätze, S. 191). In Hoppe geschieht dies nun aber wiederum ganz wörtlich in der ersten Szene, denn als Ratte verdient die kindliche Protagonistin sich ,ein Taschengeld‘ und ist danach in der Lage, zu tun, was sie will, nämlich ihren Eltern Geschenke und ihren Geschwistern Eis zu kaufen. Im Folgenden entwickelt sich die Geschichte vom Rattenfänger und den Kindern von Hameln in Hoppe sukzessive zu einer Geschichte des Ausbruchs und kindlicher Emanzipation, zu einer Trostgeschichte gegen das Heimweh und einem Plädoyer für den Aufbruch in die Fremde. Bekanntermaßen handelt die Sage von den Bürgern der Stadt Hameln, die einen durchreisenden Rattenfänger mit der Aufgabe betrauen, ihre Stadt von einer Rattenplage zu befreien. Mit seiner Flöte lockt der Rattenfänger die Tiere aus den Häusern und zieht mit ihnen in den Fluss, in dem diese sodann ertrinken. Nachdem die Bürger jedoch die vereinbarte Bezahlung verweigern, kehrt der Rattenfänger zurück, „jetzt in Gestalt eines Jägers“,29 und diesmal folgen ihm sämtliche Kinder aus der Stadt hinaus, um für immer verschwunden zu bleiben. Eine kinderemanzipatorische Implikation hatten die Göttinger Sprachwissenschaftler Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) wohl nicht im Sinn, als sie diese und andere Sagen zusammenstellten. In ihrer Vorrede zu den Deutschen Sagen (1885/66) betonen sie die „Angst und Warnung vor dem Bösen und Freude an dem Guten“, die die Sage ihren Lesern vermitteln soll, und nennen das Genre im Vergleich zum Märchen eine „stärkere[ ] Speise“, die „mehr Ernst und Nachdenken“ fordere.30 Das „richtige[ ] Maß aller Dinge“, das „der Volksdichtung schon von selbst eingegeben“ sei,31 gilt es in klarer pädagogischer Absicht zu vermitteln. Die Trauer und der Schmerz der für ihren Geiz bestraften Hamelner Bürger sind dementsprechend groß; maliziös hebt der Sagentext einzelne verlorene Kinder hervor, um den Verlust noch greifbarer zu machen. So verleiht etwa „die schon erwachsene Tochter des Burgermeisters [sic]“32 der Verführung des bei seinem zweiten Besuch mit teuflischen Attributen ausgestatteten Rattenfängers zusätzlich noch eine eindeutig sexuelle Komponente.

28 TATAR, 2009, S. 146. 29 GRIMM/GRIMM, 1994a [1856/66], S. 282. 30 GRIMM/GRIMM, 1994b [1865/66], S. 12. 31 Ebd., S. 15. 32 GRIMM/GRIMM, 1994a [1856/66], S. 282.

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Aber Sagen sollen nicht nur moralische Lehren transportieren, sie sollen vielmehr ein innerer Kompass sein, der (nationale) Identität und Orientierung bietet: „Es wird dem Menschen von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet […]. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte“,33 heißt es in der Vorrede der Grimms. Tatsächlich wird in Hoppe die Sage zu einer Wandersgenossin, die die Protagonistin stets und auf allen Kontinenten begleitet: zum einen in den ständigen Verweisen auf den Rattenfänger-Stoff, zum anderen aber auch figuriert in der kanadischen Wahlmutter Phyllis Gretzky.34 Phyllis taucht von nun an als Reminiszenz an den Rattenfänger immer wieder im Roman auf (erwähnt sei etwa ihr Flötenspiel), begleitet die Heldin mit Sentenzen und verschwindet erst, als diese von Waynes Hochzeit erfährt und daraufhin einen Zusammenbruch erleidet. Gleich den heimlichen Drahtziehern der Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meister (1795/96) scheint Phyllis „den großen Plan“ (Hoppe, S. 268) zu haben, und wie die guten Hexen und Feen in The Wizard of Oz und in Pinocchio erscheint sie immer wieder anleitend und beratend. So hält sie „dazu an[], aus der Not eine Tugend zu machen“, „immer weiß“ sie, „was kommt“ (ebd., S. 125), und mit dem letzten Rat, zu „tun […], was man nicht lassen kann“ (ebd., S. 318), entlässt sie die Heldin. Die Figur der Phyllis Gretzky, „mit Kindernöten und Ungereimtheiten von Grund auf vertraut“ (ebd., S. 23), liefert eine erste Neuauflage des Rattenfängers, die das subversive Potenzial der Geschichte freilegt, und es ist sicher kein Zufall, dass diese Sage bei einem Mittagessen und somit als Speise serviert wird: [„]Dann kommst du also aus Hameln und bist tatsächlich ein Glückskind“, sagte sie [Phyllis, L. E.] (und füllte die Teller), „aus der Stadt des berühmten Rattenfängers, der alle Ratten der

33 GRIMM/GRIMM, 1994b [1856/66], S. 11. 34 Dass sich die Protagonistin im Verlauf der Handlung immer wieder Ersatzfamilien sucht – Mütter, Väter und deren Söhne als Geliebte – in Ontario, auf der Überfahrt nach Australien, in Adelaide und dann in Amerika, bleibt den in der Biografie zitierten naseweisen Kritikern nicht verborgen, die Hoppe eine „‚verzweifelt ortlose[] Prosa‘“ (Hoppe, S. 243) attestieren. Das Motiv des mehr oder minder bedürftigen und elternlosen Kindes, das am Tisch fremder Familien Platz nimmt, hat eine lange Tradition in der Kinderliteratur, und seine Hervorhebung durch den Kritiker markiert es einmal mehr als intertextuelle Verortungsstrategie. Das Mädchen Felicitas wird aufgenommen in eine illustre Gruppe kindlicher Helden. Das Spektrum reicht dabei von Pippi Langstrumpf, die mit ihren unerhörten Geschichten bei den Eltern ihrer Freunde Thomas und Annika eine eher biedere Kaffeetafel aufmischt, bis hin zu Harry Potter mit seiner großen Liebe zur Familie seines Freundes Ron Weasley.

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Welt im Schlaf erlegt, jede ein Treffer, und den keiner für seine Patente bezahlt, weshalb er beschließt, die Stadt zu verlassen. Klar, dass er nur die Besten mitnimmt und das sind, natürlich, die Kinder. Ein großer Tag, das könnt ihr mir glauben (an dieser Stelle hebt Phyllis enthusiastisch die Stimme), kein Kind steht beiseite, alles steht Schlange vor dem großen Berg, in dem sie wenig später für immer verschwinden. Aber (Phyllis füllt nach) sie sind natürlich gar nicht verschwunden, sondern unterirdisch weitergewandert, bis sie am anderen Ende des Berges ein großes und strahlendes Licht sehen. Und, Kinder!, was soll ich euch sagen: Da stehen sie plötzlich in Kanada, auf frisch poliertem Eis, lauter glänzende Gesichter, gleich um die Ecke hinter unserem Haus. Damit hatte natürlich keiner gerechnet. Wie groß die Freude war, könnt ihr euch denken. Und das alles hatten sie dem Rattenfänger zu verdanken. Denn hätte der sie nicht mitgenommen, säßen sie bis heute in Hameln und wüssten nichts mit sich anzufangen“ (ebd., S. 23f.).

Die Hamelner Eltern mit ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Kinder, der „Besten“, und somit der Zukunft ihrer Stadt, sind aus dieser Version völlig verschwunden, übrig bleibt die heitere Geschichte einer gelungenen Auswanderung nach Kanada, das mit seiner Lichtmetaphorik an dieser Stelle wie das Paradies erscheint. 35 Zugleich bedient sich Phyllis in dieser Passage des Kontrastes von Schatten und Dunkel versus Helligkeit, Glanz, Frische und Schönheit, der laut Tatar für die Kinderliteratur nicht nur gattungstypisch ist, sondern auch in besonderem Maße dabei hilft, die suggestive Lektüre der kindlichen Leser zu fördern und sie anzuregen, den Text zu erforschen.36 Wie die von Tatar beschriebenen Leser suchen die vom Jäger/Rattenfänger verzauberten Kinder die Tore zu verborgenen Ländern. Phyllis besingt also einen doppelten Aufbruch, der den beiden Biografien Hoppes im Roman entspricht: den tatsächlichen, der nach Kanada führt, und denjenigen, der in die Fiktionen hineinführt. Geht es in dieser ersten Variation der Rattenfängergeschichte noch darum, sie aus der Perspektive der aufgebrochenen Kinder als Emanzipationsnarrativ zu erzählen, so nimmt die Figur Hoppe in den beiden folgenden Anspielungen auf die Sage

35 In einigen Deutungen der Sage erklärt tatsächlich eine Auswanderung der Hamelner Kinder oder auch Bürger (im Sinne von „Stadtkindern“) ihr historisches Verschwinden. Auch ein Kinderkreuzzug oder eine Pestepidemie werden als mögliche Erklärungen angenommen. Vgl. die Webseite der Stadt Hameln: http://www.hameln.de/tourismus/ratten faenger/rattenfaengersage/rattenfaengersage-deutungsansaetze.htm, 1.1.2015. 36 Vgl. TATAR, 2009, S. 80: „What is the effect of that beauty? How do readers respond to words that create beauty? In a world that has discredited that particular attribute and banished it from high art, beauty has nonetheless held on to its enlivening power in children’s books. It draws readers in, then draws them to understand the fictional world it lights up.“

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jeweils Positionen zurückgebliebener Kinder ein, deren Geschichte die Sage ebenfalls anreißt, also eben jener Kinder, die es in Phyllis’ Version nicht in eine lichte, polierte kanadische Eiswelt geschafft haben. So macht sich Hoppe zunächst zu jenem kleinen Jungen („Dieser Junge bin übrigens ich“, Hoppe, S. 75), der auch in der Grimm’schen Version des Stoffs zurückbleibt, „um seinen Rock zu holen“.37 In einer weiteren Abwandlung nähert sie sich schließlich den beiden vom Rattenfänger zurückgelassenen Kindern an, von denen eines blind und eines stumm gewesen sein soll, indem sie selbst, wie das stumme der beiden Kinder, „mit Händen und Füßen“ (ebd., S. 92) spricht. In der Sage sind es gerade jene Kinder, die zu Erzählern und Darstellern des Hamelner Unglücks werden; „also daß das Blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das Stumme aber den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört“.38 Und auch wenn in weiteren Adaptionen der Auszug der Kinder von Hameln als „Chance“ gewertet wird, auf die jeder „ein Recht“ habe, „ein Recht auf die Reise, ein Recht darauf, ein Schiff zu besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu sehen“ (ebd., S. 119), so bleibt doch festzuhalten, dass in den verschiedenen Variationen des Rattenfängermotivs immer beide Seiten Erwähnung finden: diejenigen, die bleiben, und diejenigen, die aufbrechen. Die Figur Hoppe nimmt in den verschiedenen Sagenvarianten beide Positionen ein – wie ein Echo der Benjamin’schen Erzählerfigur, in der sich idealerweise „die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut“39 verbindet. Auch die vielbeschworene „Erfahrung“, die sich im Erzählen mitteilt, bleibt in Hoppe nicht unerwähnt: die Erzählerin/Biografin zweifelt an „Authentizität“ und „eigener Erfahrung“ als Grundlage der literarischen Schöpfungen ihres biografischen Subjekts (ebd., S. 25). Das Wissen darum, dass Märchen und Legenden als Quellen von Authentizität und Erfahrung einmal verfügbar waren, wie Benjamin ausführt, wird in Hoppe mithin bewahrt.

37 GRIMM/GRIMM, 1994a [1856/66], S. 282. 38 Ebd., S. 283. 39 Vgl. BENJAMIN, 1977 [1936], S. 440: „Die reale Erstreckung des Reiches der Erzählung in seiner ganzen historischen Breite ist nicht ohne die innige Durchdringung dieser beiden archaischen Typen denkbar. Eine solche Durchdringung hat ganz besonders das Mittelalter in seiner Handwerksverfassung zustande gebracht. Der seßhafte Meister und die wandernden Burschen werkten in den gleichen Stuben zusammen; und jeder Meister war Wanderbursche gewesen, bevor er in seiner Heimat oder in der Fremde sich niederließ. Wenn Bauern und Seeleute Altmeister dieses Erzählens gewesen sind, so war der Handwerksstand seine hohe Schule. In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut.“

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T HE A RT

OF THE

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G REAT H UMBUG

Der Weg der Hauptfigur führt sie schließlich nach Las Vegas, wo viele der kinderliterarischen Intertexte zusammenlaufen. Las Vegas ist eine ,Spielhölle‘, ein ,Fegefeuer‘, aber es ist gleichzeitig ,das Gelobte Land‘. Auch dieses ironische Oszillieren zwischen Höllen- und Paradiesort erinnert an das Umschlagen vieler Paradiese der Kinderliteratur in höllische Orte. So wird in Pinocchio das zunächst so paradiesisch erscheinende ,Land Dummenfang‘, ,il paese dei balocchi‘, zu einem Ort, an dem Kinder in Esel verwandelt werden, nachdem sie mit dem Versprechen angelockt wurden, den ganzen Tag spielen zu dürfen und nie mehr zur Schule gehen zu müssen. Und die wunderbare Smaragdstadt aus The Wizard of Oz verwandelt sich, sobald man die grüne Brille abnimmt, in eine ganz gewöhnliche Stadt. Im Unterschied zu diesen beiden literarischen Schauplätzen unternimmt Hoppes Las Vegas allerdings keinerlei Anstrengungen mehr, anders zu erscheinen, als es ist: Hier muss der große Humbug nicht mehr entlarvt werden, weil er nie vorgegeben hat, in Wirklichkeit ein mächtiger Zauberer zu sein. Der Geist der Stadt liegt offen zutage: Als „die ehrlichste Täuschung von allen, die keine Täuschung, sondern die Wahrheit ist“ (Hoppe, S. 269), also als ein Ort, der keine Authentizität mehr vorgaukeln will, wird die Stadt zum Inbegriff einer poetischen Offenbarung („Denn hier in Las Vegas, nirgends sonst auf der Welt wird die Schrift sich erfüllen […]“, ebd.) und eines poetologischen Prinzips: Las Vegas steht für ein Schreiben, das die eigene Konstruiertheit immer schon explizit mitausstellt. Vielleicht aber zielt diese stets mitausgewiesene, dargebotene und reflektierte Verfasstheit der Erzählung in Hoppe auf eine neue Art literarischer Camouflage und Inszenierung von Autorschaft, die der Behelfsmagie des Zauberers von Oz gleichkommt: Aus Verzweiflung über seine eigene magische Unfähigkeit verschafft er der Vogelscheuche einfach das ersehnte Gehirn, indem er ihr den Kopf mit einer Mischung aus Stroh und Nägeln ausstopft: The Scarecrow was both pleased and proud at the fulfilment of his greatest wish, and having thanked Oz warmly, he went back to his friends. Dorothy looked at him curiously. His head was quite bulged out at the top of his brains. „How do you feel“, she asked. „I feel wise indeed“, he answered earnestly. „When I get used to my brains I shall know everything.“ „Why are those needles and pins sticking out of your head?“ asked the Tin Woodman. „That is to prove he is sharp“, remarked the Lion.40

40 BAUM, 1995 [1900], S. 119.

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Nicht nur zeigt die Illusion Wirkung – die Vogelscheuche glaubt an ihre neue Fähigkeit, zu räsonieren –, sondern die Glaubwürdigkeit der Illusion oder vielmehr ihre Wahrhaftigkeit wird sogar dadurch noch gesteigert, dass sie so deutlich als solche kenntlich gemacht wird. Sie ist nicht etwa perfekt. Vielmehr präsentieren die Nadeln und Nägel, die aus dem Kopf der Vogelscheuche herausragen, unverstellt die Unzulänglichkeit dieses ,Zaubers‘. Die Unvollkommenheit der Täuschung macht erst ihre Wirkung aus und befördert mit vergnüglicher Doppeldeutigkeit die Geistesschärfe. Hoppe funktioniert nach einem analogen Prinzip: Immer wieder werden die Mechanismen des Textes ausgestellt, kommentieren eingeschobene Stellungnahmen von Kritikern und Literaturwissenschaftlern das Werk der Autorin. Der Leser kann die Künstlichkeit des Textes niemals ignorieren, und dennoch: Folgt man der Logik des Intertextes, dann geschieht die Akzentuierung eben nicht, um einen distanzierenden, verfremdenden Effekt zu erzielen, sondern vielmehr, um die verlorene Verzauberung wieder einzuholen.

S CHLUSS –„ EIN

ZWEITES

M AL

NACH

H AUSE […] KOMMEN “

Die kinderliterarischen Intertexte in Hoppe mit ihrem guten Ende und der (Wieder-) Vereinigung von Eltern und Kindern, der glücklichen Heimkehr nach bestandenen Abenteuern, halten die Kindheit als Zeit intensiver Erfahrung und verzauberter Lektüre im Roman ebenso präsent wie die Erzählmuster, die traditionell die Entwicklung kindlicher Protagonisten vermitteln. Die Figur ,Hoppe‘ jedoch vermag sich der Welt ebenso wie der Literatur der Kindheit nur noch von außen oder vermittelt zu nähern. Sie kann das Haus von Mark Twain besuchen (aber kein Abenteuer erleben, das denen Tom Sawyers vergleichbar wäre) oder die Geburtsstadt von Frank L. Baum aufsuchen (aber fantastische Reisen in andere Welten sind ihr unmöglich). Das Rattenfängersujet mit seinen Aufbruchsfantasien und den Eingängen in einen Berg, die den Ausreißern Passagen in neue Welten eröffnen, deuten darauf hin, dass in neuen Annäherungen an die vielgeliebten Geschichten der Kindheit41 die Hoff-

41 Eine vergleichbare Hinwendung zur Kinder- und Jugendliteratur und die Inspiration, die sich aus einer solchen Relektüre schöpfen lässt, beschreibt Wolfgang Herrndorf (19652013) in seinem Tagebuch Arbeit und Struktur (2013) über die Inspiration zu seinem Roman Tschick (2010), vgl.: „Ich weiß auch noch, wie ich auf die Idee gekommen war. Um 2004 herum hatte ich eine Zeitlang alte Jugendbücher wiedergelesen, alles, was ich als Kind gemocht hatte, einerseits um zu schauen, wie sich das gehalten hatte, andererseits um herauszufinden, was für ein Mensch ich mit zwölf oder fünfzehn gewesen war. […] Zu meiner Überraschung hatten alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten: rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser.“ (HERRN-

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nung auf eine Rückkehr zur Erzählbarkeit und zur Verzauberung durch die Fiktion liegt, auf eine Situation, in der „es kein Draußen und kein Drinnen mehr gibt“ (Hoppe, S. 320). Wenn die Protagonistin sich den zahlreichen Entführer- und Verführerfigurationen des Textes anvertraut, so die Botschaft, sollte der Leser es ihr als ‚verzauberter Jäger‘ nachtun, in einer Kleist’schen Bewegung, immer darauf vertrauend, dass nach der „Reise um die Welt“ das Paradies „hinten irgendwo wieder offen ist“.42

L ITERATUR Primärliteratur BAUM, FRANK L., The Wonderful Wizard of Oz, London 1995 [1900]. BENJAMIN, WALTER, Aussicht ins Kinderbuch [1926], in: DERS., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften, 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1988 [1966], S. 151-157. DERS., Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 2, 2, hg. von ROLF TIEDEMANN/ HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1977, S. 438-465. COLLODI, CARLO, Le avventure di Pinocchio. Storia di un burattino, Stuttgart 2009 [1883]. GEISEL, THEODOR SEUSS, Grünes Ei mit Speck. Das Allerbeste von Dr. Seuss, aus dem Amerikan. von FELICITAS HOPPE, Frankfurt a. M. 2001. GRIMM, JACOB/GRIMM, WILHELM, Die Kinder zu Hameln, in: Deutsche Sagen, hg. von DENS., ed. und komment. von HEINZ ROLLEKE, Frankfurt a. M. 1994 [1865/66], S. 281-283 [1994a]. DIES., Vorrede, in: Deutsche Sagen, hg. von DENS., ed. und komment. von HEINZ ROLLEKE, Frankfurt a. M. 1994 [1865/66], S. 11-24 [1994b]. HERRNDORF, WOLFGANG, Arbeit und Struktur, Berlin 2013. HOPPE, FELICITAS, Im geheimen Garten. Von der Notwendigkeit, Kinderbücher zu schreiben. Festvortrag zum 60. Geburtstag der Internationalen Jugendbibliothek, in: Das Bücherschloss 1 (2009), S. 8-15. DIES., Iwein Löwenritter. Nach einem Roman von Hartmann von Aue, Frankfurt a. M. 2008.

DORF, 2013, S. 112f.). Ähnliches gilt für die österreichische Autorin Julya Rabinowich (*1970), die in ihrem Roman Spaltkopf (2008) über die intertextuellen Verweise auf Märchen und Kinderliteratur die intergenerationale Weitergabe von Traumata lesbar werden lässt. 42 KLEIST, 2005 [1810], S. 559.

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DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. KLEIST, HEINRICH VON, Über das Marionettentheater [1810], in: DERS., Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von KLAUS MÜLLERSALGET, Sämtliche Werke und Briefe, 4 Bde., Bd. 3, Frankfurt a. M. 2005, S. 555-563. LINDGREN, ASTRID, Im Land der Dämmerung, in: DIES., Märchen, Hamburg 1989 [1969], S. 35-47 [DIES., I Skymningslandet, in: DIES., Nils Karlsson Pyssling, Stockholm 1949]. DIES., Pippi in Taka-Tuka-Land, Hamburg 1969 [1951, DIES., Pippi Långstrump i Söderhavet, Stockholm 1948]. Sekundärliteratur CONTER, CLAUDE, Felicitas Hoppes Modernekonzeption – Zum Roman Paradiese, Übersee, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 89-104. FELSKI, Rita, Uses of Literature, Malden/Oxford 2008. HOLDENRIED, MICHAELA, Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt Ottiliens und die Suche nach dem Berbiolettenfell. Anmerkungen zur postmodernen Zitationspraxis und Autorschaft im Werk von Felicitas Hoppe, http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/kk/df/postkoloniale_studien/ holdenried_hoppe.pdf [11.7.2005], S. 17, 1.1.2015. LUCAS, ANN LAWSON, Enquiring Mind, Rebellious Spirits: Alice and Pinocchio as Nonmodel Children, in: Children’s Literature in Education 30, 3 (1999), S. 157-170. MANGOLD, IJOMA, „Ich ist ein Spiel mit Worten“ (2012), http://www.zeit.de/ 2012/22/L-Hoppe [24.5.2012], 1.1.2015. NEUHAUS, STEFAN, Hoppe, Felicitas, in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, http://www.munzinger.de/ document/16000000707 [15.9.2012], 1.1.2015. DERS., Wem die Glocke klingt. Felicitas Hoppe führt uns nach Portugal, nach Indien und in die Irre, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id=5828 [1.4.2003], 1.1.2015. NÜNNING, ANSGAR, Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen, in: Autobiographisches Schreiben in der Fiktionalität und der Erinnerung, 2 Bde., Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung, hg. von CHRISTOPH PARRY/EDGAR PLATEN, München 2007, S. 269-292. RINAS, JUTTA, Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Interview, http://www.haz.de/ Nachrichten/Kultur/Buecher/Schriftstellerin-Felicitas-Hoppe-im-Interview [1.4. 2012], 1.1.2015.

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TATAR, MARIA, Enchanted Hunters. The Power of Stories in Childhood, New York 2009. WAGNER-EGELHAAF, MARTINA, Autofiktion & Gespenster, in: Kultur & Gespenster: Autofiktion 7 (2008), S. 135-149.

„Ein Kosmos der Ähnlichkeiten“ Felicitas Hoppes Benjamin-Analogien in Picknick der Friseure (1996) J ULIA B OOG & K ATHRIN E MEIS Im Jahr 1932, als ich im Ausland war, begann mir klar zu werden, dass ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen. (WALTER BENJAMIN: BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT)1

E INLEITUNG : I M W ERK DIE G ESCHICHTE Mit einem Abschied beginnt eines der in der Literaturgeschichte bedeutendsten Werke über die Umbruchsituation der Moderne: Walter Benjamins (1892-1940) autobiografische Erinnerungsschrift Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (entst. 1933-1938, posthum 1950) eröffnet seine Schilderungen über die Jahrhundertwende mit einem Abgesang auf die Vergangenheit. Benjamin geht dabei in seinem Kindheitsbuch wie ein Archäologe vor, dessen wichtigstes Verfahren, wie sein geschichtsphilosophischer Text Ausgraben und Erinnern (entst. 1931-1933) nahelegt, nicht das Berichten ist, sondern das ‚genaue Bezeichnen‘ des Ortes, „an dem der Forscher wahrhafter Erinnerungen, Anm. J. B./K. E. habhaft wurde.“2 Dabei sind es vor allem Innenräume, Spielzeug und (technische) Gegenstände, die in der Berliner Kindheit über kleinere Szenen die Erinnerung an das Berlin der Jahrhundertwende wachhalten. Burkhardt Lindner sieht deswegen in der Berliner Kindheit auch eine „verschüttete Ding- und Bildwelt freigelegt. Sie ist die Deponie des Unbewuß-

1

BENJAMIN, 1987 [1950], S. 9.

2

BENJAMIN, 1980, S. 400.

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ten und des Vergessenen“,3 aus der immer wieder die Katastrophe des 20. Jahrhunderts herausgehoben wird, die schließlich zu Benjamins Exil führt. Beginnend mit den technischen Errungenschaften der 1920er Jahre und den von außen in das Heim eindringenden Nachrichten wird das Idyll eines wohlbehüteten und gut situierten Lebens im bürgerlichen Haushalt der deutschen Großstadt zerstört. So sind in der Erzählung Das Telefon (posthum 1950) nicht nur die „Drohungen und Donnerworte“ des Vaters zu hören, sondern der Apparat selbst wird zu einem „Alarmsignal, das nicht allein die Mittagsruhe meiner Eltern, sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete.“ 4 Auf diese Weise wird in Benjamins Erinnerungsepisoden Kollektiv- und Individualgeschichte unmittelbar miteinander verknüpft5 und der Autor als geistiger Vorfahr eines neuen Geschichtsbewusstseins erkennbar, das auch für die Rezeption der Prosa Felicitas Hoppes im Kontext der deutschen Gegenwartsliteratur prägend scheint. Besonders in dem schon seiner Form nach an Benjamin angelegten episodenhaften Erzählungsband Picknick der Friseure (1996) werden die Erfahrungen verschiedener kindlicher Erzähler über Wohnsituationen wiedergegeben – wenn auch in anderer narrativer Modulation: Statt konkreter Gegenstände dominieren bei Hoppe abstrahierte Figurenund Familienkonstellationen. Neben dieser Parallele bildet die Vorstellung Benjamins, dass sich das „wahre Bild der Vergangenheit“ in den kleinen Gegenständen und nur im „Vorbeihuschen“ zu erkennen gebe, wie er es in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte (posthum 1942) deutlich macht,6 eine weitere Brücke zum Werk der Gegenwartsautorin Hoppe. Denn das bei Benjamin formulierte Prinzip des ‚Vorbeihuschens‘ findet sich ebenso wie seine damit einhergehende Maxime der „Einfühlung“7 als Erzählverfahren in Hoppes Frühwerk. Während bei Benjamin die „Einfühlung“ allerdings dazu befähigen soll, „im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche de[n] gesamte[n] Geschichtsverlauf“8 nachvollziehen und aufbewahren zu können, ist es bei Hoppe vielmehr der Blick auf das eigene Ich, der durch die Geschichte(n) und ein damit einhergehendes Epochengefühl geschärft werden soll – welches in Zeiten zunehmender Globalisierung und Technisierung vor allem eines der Desorientierung ist. In ihrem Essay Über Geistesgegenwart (2008) betont Hoppe die Sehnsucht des Lesers, „im Text enthalten zu sein, also

3

LINDNER, 1984, S. 27.

4

BENJAMIN, 1987 [1950], S. 18.

5

LEMKE, 2006, S. 653.

6

BENJAMIN, 1991 [1942], S. 691.

7

Ebd., S. 696.

8

Ebd., S. 703 (Hvhbg. J. B./K. E.).

„E IN K OSMOS DER Ä HNLICHKEITEN “

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Zeitgenossenschaft mit dem Buch zu spüren“,9 was in Picknick der Friseure vor allem über die fragmentarische Form und den sogenannten ‚Kosmos der Ähnlichkeiten‘ hergestellt wird. In Hoppes Debüt wird der Leser zu Beginn des Bandes ebenfalls mit einem Abschied konfrontiert. In dem ersten Kurzprosatext Die Handlanger ist es jedoch nicht das Verlassen der Heimat, sondern das des Geliebten, welches das Werk eröffnet: „Kein Zweifel, mein Geliebter will nicht mehr Hand an mich legen, und es ist Zeit, daß ich mich nach neuen Handlangern umsehe.“ (Picknick, S. 7). Aufbruch und Abschied, „geschichtliche Archetypen“,10 wie Theodor W. Adorno (1903-1969) es in seinem Nachwort (1950) zu Benjamins Kindheit formuliert – beziehungsweise ‚Urszenen‘11 – grundieren die narrative Exposition beider Werke und ziehen von diesem Motivkomplex nicht nur eine intertextuelle, sondern auch eine zeitgeschichtliche Brücke von der Klassischen Moderne bis in unsere Gegenwart. Denn gerade das Abschiedsmoment, also der Zerfall der Geschichte, ermöglicht, wie es bei Hoppe heißt, „im Vorübergehen meine Lebensgeschichte zu erzählen“ (ebd.) – eine Sentenz, die in beinahe wörtlicher Konkordanz an das ,Vorüberhuschen der Geschichte‘ bei Benjamin angelegt ist. Es ist dieses Moment des ,Vorübergehens‘, das Nebensächliche und Transitorische, das eben nicht die Darstellung von Gesellschaft und Geschichte beeinflusst, sondern auch die Form des eigenen Werkes gestaltend prägt. Möglicherweise auf gegenwärtige Wanderungsbewegungen und Massenkultur anspielend, packen ihre Erzähler in Picknick immer wieder die Koffer, befinden sich auf Reisen oder werden zu handlichen Paketen verschnürt (ebd., S. 11, S. 15). Der Leser kann sich dabei nie sicher sein, wer gerade erzählt, da neben Orten, Zeiten und Figuren auch die intertextuellen Bezüge (und damit die Textstimmen) durcheinandergeraten und somit nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Bereits Hoppes Debüt weist Charakteristika auf, die später vor allem in den Geschichtsromanen der Autorin weiter ausgebildet und von der Literaturwissenschaft als „Rekonzeptualisierung historischen Erzählens“12 oder „Evolution der Geschichte in fiktionaler Literatur“13 bezeichnet worden sind: Überlieferte Tatsachen würden frei arrangiert und sprachlich so bearbeitet, dass zwischen Fakt und Fiktion nicht mehr zu trennen sei. Immer wieder werden die Orientierungslosigkeit des Lesers und die Schwierigkeit akzentuiert, sich in Hoppes Erzählgeflecht zurechtzufinden.

9

HOPPE, 2008, S. 14.

10 ADORNO, 1987 [1950], S. 111. 11 In Anlehnung an Fittler, die in diesem Zusammenhang von „Ur-Situationen“ bei Benjamin spricht (FITTLER, 2005, S. 412), soll im Folgenden der Begriff der ,Ur-Szenen‘ Verwendung finden, der noch stärker auf die Künstlichkeit der Situationen hinweist. 12 Vgl. NEUHAUS, 2013. 13 Vgl. CATANI, 2012.

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Martin Hellström betont, dass sogar die Erzähler der Werke häufig behaupten, über ihren Erzählgegenstand „nicht genau“ Bescheid zu wissen, und damit Fragen „des Verhältnisses von fiktionaler und nicht-fiktionaler Wirklichkeit“ unmittelbar präsent hielten.14 So wurde Hoppes verstricktes, dabei aber von einer wiederkehrenden Motivik durchzogenes Gesamtwerk von der Forschung auch als „Irrgarten“ oder als „surreale Spiegelungen“ rezipiert.15 Doch es ist vor allem Hoppes Frühwerk, das gerade über die an Benjamin angelehnte Miniaturenform ein aus europäischer Sicht mit der Tragödie des Zweiten Weltkriegs begonnenes und bis in die jüngste Gegenwart reichendes, grundsätzliches Gefühl der Desorientierung einzufangen vermag. Hier setzt mit Hoppes absurdem Sammelsurium an kleinen Geschichten eine noch stärkere Zersplitterung der großen Geschichte ein als bei ihrem Vorgänger: Bevorstehende und vergangene Katastrophe werden zwar ebenso beständig evoziert, aber nie eingelöst. Wie beispielsweise in der Erzählung Was nicht ist, in der eine Ich-Erzählerin und ein ,Herr‘ offenbar auf der Flucht sind, letztlich aber ‚nichts‘ passiert. Trotzdem wohnt dem Schluss etwas eindeutig Bedrohliches inne, will doch der Herr den Hals der Erzählerin nach hinten „unter das Gewölbe des Himmels“ beugen – was sie allerdings nur mit einem Lachen goutiert, „so daß er nichts zu fassen bekam, nicht den Hals, nicht die Lippen und keinen Gedanken, weil unten nicht werden kann, was oben nicht ist.“ (Picknick, S. 74). So wie „unten nicht werden kann, was oben nicht ist“, kann es in dem ‚Nichts‘ der Handlung auch zu keinem finalen beziehungsweise tödlichen Abschluss kommen und dem Leser damit nichts Konkretes an die Hand gegeben werden. Neben all dem Unkonkreten besteht jedoch Kontinuität im Erzählen über das titelgebende Prinzip der ‚Ähnlichkeit‘, das sowohl Benjamins als auch Hoppes Interesse an allen möglichen Ereignissen und Bereichen der lebensweltlichen Realität bedingt: Die Motivwelten ihrer beiden Prosaminiaturen ergeben ein weitverzweigtes Netz aus Wiederholungen und Variablen, die der latenten Unsicherheit und Bedrohlichkeit der Geschichte(n) ein stabilisierendes Erzählelement entgegensetzen. Erst aus der Beschreibung dieses ‚Kosmos an Ähnlichkeiten‘ ergibt sich neben der Heterogenität beider Werke, Hoppes Picknick der Friseure und Benjamins Berliner Kindheit, dann auch unser Versuch, ein großes Ganzes zu bilden.

14 HELLSTRÖM, 2008. 15 GRUB, 2008, S. 71.

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M ETHODE : I M W ERK DAS N ETZWERK Benjamins spezifisches Erzählverfahren – das an späterer Stelle auch in seiner zentralen Metapher vom ‚Engel der Geschichte‘ eingefangen werden soll – ist dasjenige eines Sammlers, der in den Gegenständen und den Gesichtern seiner Zeitgenossen versucht, auf Ähnlichkeitsbeziehungen und damit auf Verbindungen zwischen eigentlich Unverbundenem zu stoßen.16 ,Geschichte‘ stellt sich für Benjamin als eine Konstruktion dar, die sich aus einer Pluralität an gegenwärtigen Momenten ergibt. Diese gilt es, miteinander in Beziehung zu setzen – und nicht nur, sie linear zu ordnen.17 „Dialektiker sein“, so formuliert es Benjamin, „heißt den Wind der Geschichte in den Segeln zu haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.“18 Seine Objekte fungieren damit sowohl als analytisches Instrumentarium als auch selbst als schon die Darstellung gestaltende Ordnungsmuster. Vor allem aus diesem Grund zeugt sein Gesamtwerk von einer solchen Reichhaltigkeit an Textsorten, dass die Forschung es als „Dickicht der Texte“ 19 apostrophiert. Benjamins Erzählperspektive ist dabei vor allem an die „(körperlich-sinnliche) Kindheitswelt“,20 an die realen Gegenstände und Spielzeuge angelehnt: Mit seinem ‚Kosmos der Ähnlichkeiten‘ geht es auch immer wieder um einen „kindlichen

16 Dies macht Benjamin besonders in dem titelgebenden Essay Zur Astrologie (1932) deutlich, in dem er den „Kosmos der Ähnlichkeiten“ nicht nur in den „Gesichtern untereinander“, sondern auch „in Architekturen und Pflanzenformen, in gewissen Wolkenformen und Hautauschlägen“ sieht (BENJAMIN, 1985 [1932], S. 192). 17 Vgl. Doris M. Fittler, die Benjamins Epochenverständnis „immer nur als Konstellation ihrer ähnlichen Züge, nie als Kontinuum oder Kausalzusammenhang von Ereignissen“ beschreibt (FITTLER, 2005, S. 12). 18 Diese Bemerkung macht Benjamin im Rahmen seines Passagen-Werkes (entst. 19291940): BENJAMIN, 1982 [1929-1940], S. 592. Die Nutzung dialektischer Verfahren wird dabei in mehreren von Benjamins Schriften evident, vgl. u .a. HONOLD, 2006, S. 529-531. 19 Der Herausgeber Burkhardt Lindner stellt in dem Kapitel Im Dickicht der Texte des Benjamin-Handbuchs die komplizierte Editionsgeschichte heraus. Demnach bestehe Benjamins Werk „in seinem Hauptteil aus Einzeltexten“, die insgesamt 500 Titel umfassen: „Bei ihm wie sonst wohl bei niemandem anders ist die Qualifizierung von Hauptwerken und Nebenarbeiten völlig hinfällig, ohne daß etwa die textanalytische Unterscheidung zwischen einem Aphorismus, einer Rezension und einer umfangreichen Abhandlung deshalb unwesentlich wäre.“ (LINDNER, 2006, S. XIIf.). 20 ROEDER, 2014, S. 13.

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Kosmos des Spielens und Wahrnehmens“.21 Als eine Art Aufruf ist den Episoden seiner Berliner Kindheit dementsprechend vorangestellt, dass sich „in einer Stadt nicht zurechtfinden“, nicht viel heiße. Das Dichten hingegen bedürfe der „Schulung“, sich in einer Stadt „zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt“ 22 – ein Hinweis auf das wichtige Motiv des Versteckspiels, das Benjamins gesamte Berliner Kindheit durchzieht. Denn erst durch eben dieses Spiel, durch die Fähigkeit, sich in andere Dinge zu verwandeln, sich ‚einzufühlen‘, kann die Erinnerung wieder hervorgeholt werden. Wie es in der Erzählung Verstecke heißt, wird die Wohnung dabei zu seinem „Arsenal der Masken“, hinter denen das Kind sich verbergen und mit denen es spielen kann.23 Es wird geradezu eins mit seiner Umgebung und sein emotionales Erleben entstammt direkt seiner Wahrnehmung: Der Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfers wiegte mich in den Schlaf. Er war die Mulde, in der sich meine Träume bildeten. […] Wieviel Botschaften saßen nicht im Geplänkel grüner Rouleaux, die hochgezogen wurden, und wie viel Hiobsposten ließ ich klug im Poltern der Rolläden uneröffnet, die in der Dämmerung niederdonnerten.24

Die Fantasieleistung des Kindes und sein Nicht-Getrenntsein von den Dingen seiner Umgebung werden zum literarästhetischen Akt verdichtet. Benjamin kommentiert die Möglichkeiten und Bedingungen dieser naiven Form des Erzählens später auch theoretisch in seinen Essays Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen (beide 1933).25 Es ist dabei die von ihm ausgewiesene „Magie der Sprache“, die jene für die Moderne verloren geglaubten „Korrespondenzen und Analogien“ 26 der Dinge zurückholen kann: So werden zugunsten einer beweglichen Konstellation aller Sprachelemente kontinuierlich Analogismen zwischen der Sprache und den Objekten der außertextuellen Welt evoziert.27 Auch ein jüngst erschienener Sammelband hebt hervor, dass die Kindheitsperspektive immer mit einem ‚palimpsestartigen‘ Schreiben in „Transiträumen“ und „utopischen Schlaraffenländereien“ einhergeht.28 In ihnen wird die gewohnte Art der Wahrnehmung oftmals wie nebenbei‘

21 Ebd., S. 12. 22 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 2. 23 Ebd., S. 61. 24 Ebd., S. 11. 25 BENJAMIN, 1977 [1933], S. 204-210 und S. 210-213, wobei Mimetisches Vermögen ein ein Jahr später entstandenes Exzerpt der Lehre vom Ähnlichen darstellt. 26 BENJAMIN, 1977 [1933], S. 211. 27 Vgl. zur Sprachphilosophie ebd., S. 649. 28 ROEDER, 2004, S. 14.

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beziehungsweise im ‚Vorbeihuschen‘ überschritten. Das Kind beobachtet nur und setzt seine Beobachtungen in Zusammenhänge, es bewertet nicht.29 Bei Benjamin hat diese Erzählhaltung eindeutig einen idyllischen Charakter: Das Kind erscheint in der verdorbenen und bedrohlichen Welt der Erwachsenen mit Attributen der Reinheit, Einfachheit und Spontaneität belegt. Damit einher geht ein verklärender, gleichförmiger Erzählton.30 Bei Benjamin herrscht eine eindeutige Trennung zwischen dem erwachsenen, sich selbst als historisches Subjekt erinnernden Ich und dem erlebenden Kind. Deutlich wird dies etwa in der Erzählung Das Fieber, in der der erwachsene Erzähler berichtet, dass er als Kind „viel krank gewesen“ sei und diese Tatsache mit seiner späteren Fantasiefähigkeit als Dichter verknüpft. Das kindliche Ich baut Höhlen aus seinen Kissen und versinkt im Spiel mit den eigenen Fingern: Es „mischten sich die Finger ein und führten selber einen Vorgang auf; oder sie machten ‚Kaufhaus‘ miteinander, und hinterm ‚Tisch‘, der von den Mittelfingern gebildet wurde, nickten die zwei kleinen dem Kunden, der ich selbst war, eifrig zu.“31 Und der Erzähler kommentiert dies rückblickend als Stadium der Naivität und Unbewusstheit: „Denn mit den Graten meiner Kissen war ich zu einer Zeit vertraut, in der mir Hügel und Berge noch nicht viel zu sagen hatten.“ 32 Dabei sind die Wortspiele und der infantile Sprachgebrauch durch Anführungszeichen gekennzeichnet und auf diese Weise vom ‚normalen‘, erwachsenen Sprachgebrauch getrennt. Bei Hoppe werden beide Sprachverwendungen vermischt: Nicht nur sind die kindlichen Erzähler nicht mehr eindeutig als Kinder zu fassen, darüber hinaus haben ihre Erzählungen nichts Idyllisches, Unverdorbenes mehr, oftmals sind es vielmehr die Kinder selbst, die den katastrophalen Verlauf der Handlung forcieren. So führt in Der Balkon ein augenscheinlich kindliches Erzähler-Ich „den Hausverwalter“ in die Wohnung seiner Tante und ermöglicht damit sexuelle Übergriffe, die es selbst nur über ein in Versalien ausgerufenes „NICHT DOCH“ zu hören bekommt und sich daraufhin vom Balkon stürzt (Picknick, S. 14). Zudem gehen Hoppes Sprachspiele direkt in den allgemeinen Erzählfluss über, und oftmals ist nicht mehr zu trennen zwischen einem Wörtlichnehmen von Sprachbildern und ihrer metaphorischen Symbolik. Der infantile Sprachgestus, das körperliche Abtasten von Worten, syntaktische Fehlkompositionen und surreale Verknüpfungen bestimmen die

29 Vgl. in diesem Zusammenhang Emres literarischen und soziohistorischen Überblick über „Kindheit als (kulturelle) Konstruktion“ (EMRE, 2014, S. 29-64). 30 Vgl. Emres Engführung der Literaturgattung „Idylle“ und einer verklärten Kindheitsperspektive, in: „Kindheitsidyllen – psychopathologische Aspekte“ (ebd., S. 39-45, S. 39). 31 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 56. 32 Ebd.

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gesamte Narration, wie in der titelgebenden Geschichte Picknick der Friseure selbst. Hier kommt es einerseits zur Beschreibung von ganz handfesten Tätigkeiten des Friseurs, wie „das Waschen, das Schneiden, das Legen, das Kämmen, das Blondieren, das Färben, das Tönen, das Pflegen, das Ondolieren ..., das Maniküren, das Pediküren“, in die sich ganz nebenbei ein auf Redewendungen basierendes Sprachspiel einschleicht: „das Glätten der Haare gegen den Wind“ (Picknick, S. 22). Andererseits fungiert das Friseurhandwerk als ausgeweitete Metapher für das Erwachsenwerden, wenn die Kinder von ihrer Großmutter flüchten, um in die weite Welt zu ziehen: „Wir konnten nicht warten, wir wollten schön sein .... Wir lernten das Handwerk gründlich und schnell“ (ebd., S. 23). So können sie letztlich auch erste Erfahrungen mit „Mädchen“ sammeln, die mit ihren „Zöpfen das Fett von ihren Wangen“ (ebd., S. 25) wischen. Die Grenzen zwischen dem erzählenden Subjekt und seinem Erzählobjekt werden völlig aufgelöst. Dadurch werden die Erzählübergänge, die Positionen von Kind- und Erwachsensein ebenso fließend wie die Übergänge von Fiktion und Wirklichkeit. Emre spricht im Zusammenhang mit einem sozio-historischen Überblick über die Konstruktion von Kindheit auch von einem Wandel der Kindheit, „der auf gesellschaftlich strukturelle Veränderungen im Zuge der Globalisierung und des Einflusses der Massenmedien zurückgeführt wird“ 33 und vermehrt mit alleinerziehenden Elternteilen sowie einer Enttraditionalisierung einhergeht. Die identitätsstiftende Funktion im Sinne einer Neubegründung und Nacherzählung traumatischer Situationen wird bei Hoppe anders als bei Benjamin nicht erfüllt: Ihre Erzähler verbleiben ebenso wie der Leser in der Desorientierung. Bei beiden – Hoppe und Benjamin – liegt allerdings in der Kindheitsperspektive die Möglichkeit, eine unsicher gewordene Welt darstellen zu können. So heißt es bei Hoppe: Wären wir nicht längst erwachsen, würden wir kein Auge mehr zutun und nachts, Taschenlampen in den Fäusten, unser Haus umschleichen, Fallen aufstellen und unsichtbare Fäden spannen, aber die Köder in den Fallen bleiben unberührt, die Fäden unverletzt, die geharkten Wege ohne Spuren. (Picknick, S. 61)34

33 EMRE, 2014, S. 33. In ähnlicher Weise beschreibt auch Tanja Nause eine Zunahme der Inszenierung von Naivität mit den Krisen und Katastrophen der Nachwendezeit, vgl. NAUSE, 2002. 34 Auch im Falle dieser ,Hecke‘ gibt es eine Analogie zu Benjamin: Dessen kurze Erzählung Die Kaktushecke, die Benjamin 1933 in der Vossischen Zeitung veröffentlichte, wurde unter anderem von Anja Lemke auch als Prätext für die Berliner Kindheit gelesen (vgl. LEMKE, 2006a, S. 656). Hier ist es ein Ire namens O’Brien, der eine ,Meisterschaft

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Dieses ,unsichtbare Fädenspannen‘ – also ein Netzwerk, einen ,Kosmos der Ähnlichkeiten‘ herstellen – ist in den ereignisreichen Welten von Benjamin und Hoppe die eigentliche Gabe des Kindes: Nichts, dem sich das Kind „im Vollbesitz der [Nachahmungs]Gabe“35 nähert, bleibt, wie es ist. So verwandeln sich bei Benjamin Bratapfel, Telefon und Fischotter, Lesekasten oder Tafelsilber, während bei Hoppe Balkone zu Tribünen, ganze Häuser zu Hasenbauten und Mütter zu Clowns umcodiert werden. Gerade in Picknick der Friseure wird der Leser mit einem komplexen Arrangement von autodiegetischen Erzählern konfrontiert, die unter anderem mittels Details wie gemeinsamer Mahlzeiten oder Attributen wie trockenen Lippen oder einer besonderen Stelle am Knie miteinander verknüpft werden. So entsteht ein komplexes motivisches Analogiegefüge und die Wiederholung – markiert oder unmarkiert – wird zum strukturbildenden Moment nicht nur der Benjamin’schen, sondern auch der Hoppe’schen Erzählung.

M OTIVIK : I M W ERK DIE W IEDERHOLUNG Das Kind, so heißt es bei Benjamin, ahmt spielend nach, was eigentlich gar nicht nachgeahmt werden kann: Es „spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn.“36 Auf diese Weise erhält das alte Kinderspiel Verstecken, das in Benjamins Berliner Kindheit im gleichnamigen Kapitel behandelt wird, seinen besonderen Reiz dadurch, dass das Kind sich nicht einfach nur hinter Gegenständen verbirgt, sondern über ein ,als ob‘ in diese eingeht und Subjekt und Objekt zu einem Dritten verschmelzen lässt. Durch die imaginäre Überformung der Wirklichkeit wird das Kind selbst hinter der Gardine zu „etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst“, und „[d]er Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine vier Säulen sind.“ 37 Auch hier herrscht eine geradezu magische Beziehung zwischen dem Kind und der es umgebenden Dingwelt. Auch bei Hoppe ist der Tisch als Dingsymbol und Requisite besonders wichtig, denn er fungiert in vielen Geschichten nicht nur als Ort, an dem sich die Familie zum Essen versammelt, sondern kann gleichsam auch als Versteck dienen – und

im Knotenbilden‘ entwickelt und diese nicht nur als eine praktische, sondern vielmehr als eine geistige Fähigkeit begreift. Auch in dieser Geschichte wird also das ,Fädenspannen‘ und ,Verknoten‘ zur maßgeblichen Arbeit eines (denkenden) Menschen. 35 BENJAMIN, 1977 [1933], S. 206. 36 Ebd., S. 210. 37 Ebd., S. 61.

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zwar sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. In Die Hochzeit ist es die Braut, die sich vor dem Ansturm feierwütiger Gäste schützen möchte: „[Sie] warfen […] sich auf die Braut, die mit den Händen über dem Kopf auf dem Boden hockte und Anstalten machte, unter den Tisch zu kriechen.“ (Picknick, S. 84). In der Erzählung Hochgewachsene Männer macht sich wiederum der Kaufmann während einer Prügelei aus dem Staub, um „unter dem Tisch heimlich die goldenen Uniformknöpfe“ (ebd., S. 43) zu zählen, und auch das kindliche Erzähler-Ich in Der Balkon „kroch in Windeseile unter den Tisch, von wo aus [es] den dreien dabei zusah, wie sie einander die Hälse umdrehten, was ein Vergnügen war.“ (ebd., S. 13). Es ist dabei der in Hoppes Erzählungen noch deutlicher als in Benjamins „bürgerliche[m] Pandämonium“38 markierte Überfluss an Gegenständen, der die Menschen zu überfallen und sie sich selbst in Gegenstände zu materialisieren lassen scheint. So sind es in der Der Balkon zunächst nur „Kisten und Kästen, gefüllt mit Gummizügen, Knöpfen, Wäscheklammern und Schnürsenkeln verschiedenster Sorten und Größen, mit denen hier weiß Gott niemand etwas anfangen kann“, bevor schließlich die Menschen selbst „zu handlichen Paketen verschnürt werden, so daß sie anstandslos abgeholt werden können.“ (ebd., S. 11). Während wir es auf der diegetischen Ebene bei Benjamin also immer noch mit einem dichotomen Verhältnis zwischen magischer, ungeordneter Kinderwelt einerseits und geordneter Erwachsenenwelt andererseits, die sich vor allem im fein-säuberlich arrangierten Interieur der Großstadträume widerspiegelt, zu tun haben, ist bei Hoppe das Chaos nicht nur in die Erzählungen über die Erwachsenen integriert, sondern in gesteigertem Maße auch in die Textur selbst. Das kindliche Beobachten und Benjamin’sche ,Verähnlichen‘ hält bei Hoppe einen noch größeren Moment der Desorientierung bereit. So werden in Picknick der Friseure auch keine Namen genannt: Statt klar konturierter individueller Biografien mit Anfangs- und Endpunkt finden sich lediglich typisierende Berufs- oder Verwandtschaftsbezeichnungen wie „meine Mutter“, „der Rechtsanwalt“ oder „das Brautpaar“. Die jeweilige Erzählinstanz expliziert so noch mehr als bei Benjamin die Unmöglichkeit einer stringent wiederzugebenden Geschichte. Ihre Narrationen mit Briefträgern, Rittern, Friseuren, Schneidern und Wächtern zeigen vielmehr minimalistische Momentaufnahmen aus einem Leben, das droht, aus dem Gleichgewicht zu geraten, oder bereits geraten ist. Aus dieser

38 Benjamin entwirft sein Pandämonium unter der Zwischenüberschrift Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung in dem Text Einbahnstraße (1928, vgl. BENJAMIN, 1972 [1928], S. 88). Die Einbahnstraße gilt in ihrem „Mikrokosmos als Sammlung des Kindes aus Steinen, Blumen, Münzen, Bauklötzen und Kastanien“ und wird, da ebenfalls in kleinen Erinnerungspassagen und Aphorismen geschrieben, wiederum als Vorläufer der Berliner Kindheit gelesen (FITTLER, 2005, S. 31).

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Mischung von kindlicher Weltanschauung und absurder Weltbeschreibung ergibt sich dann Hoppes genuine Erzählperspektive: Die kindlichen Ich-Erzähler entfliehen einer feindlich gesinnten Erwachsenenwelt und machen sich das Reich der Fantasie zu eigen, um einer durch fest etablierte Regeln und Rituale drohenden Erstarrung entgegenwirken zu können. Die Kinder manifestieren sich daher nie in einer klar umrissenen Gestalt, sondern ‚verhüllen‘ sich vielmehr im Text, wie es auch das Kind bei Benjamin noch ganz spielerisch mit seiner Wortschöpfung des ,Mummerehlen‘ tat: „Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen.“ 39 Damit steht die von Benjamin antizipierte Fähigkeit des Kindes, „Analogien zwischen Zeichen- und Dingwelt“40 herzustellen, im Vordergrund: „Der kindliche Erfahrungsraum zeigt sich als eine Welt, in der prinzipiell jedes Ding zum Zeichen werden und jedes Zeichen seine materielle, dinghafte Seite aufscheinen lassen kann.“ 41 Was bei Benjamin über den Neologismus ,Mummerehlen‘ allerdings noch als Wortspiel daherkommt, ist bei Hoppe mehr denn ein „schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten“.42 Denn ihre kindlichen Protagonisten sind ganz konkret gezwungen, sich über Anverwandlungen in labile, aber gleichsam autoritäre Familienstrukturen einzuordnen. So werden in der Erzählung Am Saum die Kinder eines Vaters, der ein Buch über den Feldhasen schreiben möchte und sich für nichts anderes mehr empfänglich zeigt, dem Hasen immer ähnlicher: „Unsere Ohren werden lang und weich unter dem Streicheln unserer Mutter, unser Gang flink und geschmeidig, unsere Augen sanft und wäßrig vom ungewohnten Glück.“ (Picknick, S. 29). Sie hegen und pflegen den Vater, bis dieser sich schließlich als derjenige offenbart, dessen „Feldhasenbücherturm gefährlich zu schwanken“ (ebd., S. 30) beginnt und dessen Augen „so durchsichtig [werden], daß man hinuntersehen konnte bis auf den Grund seines schlecht vernähten Herzens“ (ebd., S. 31). Die Gefahr, sich selbst zu verlieren, geht also nicht mehr wie noch bei Benjamin von der Fähigkeit des Kindes aus, ‚sich ähnlich zu machen‘, sondern vom Unvermögen der Eltern, etwas Unähnliches (an)zuerkennen. Allgemein erweisen sich die Erwachsenen in Hoppes Geschichten oft als fragiler als die Kinder – und greifen vielleicht gerade deswegen häufig zu roher Gewalt, um über die Krise des eigenen Seins hinwegzukommen: Draußen starre ich auf einen vorübergleitenden Flußkahn, den ich freundlich grüße. Mein Vater, der zwischen Bier und Schnaps auf der Fensterbank hockt und mich bei dieser Ver-

39 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 59. 40 LEMKE, 2006a, S. 657. 41 Ebd., S. 657f. 42 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 59.

120 | J ULIA B OOG & K ATHRIN E MEIS gnügung erwischt, prügelt mich grün und blau, obwohl er gerade erst meine Mutter kurz und klein geschlagen hat, was ich verstehe, denn sie hat unsere Familie ruiniert durch den Ankauf von Kurzwaren aller Art bei vorüberfliegenden Händlern. (ebd., S. 10f.)

Wieder wird ein materieller Überfluss, der sich bereits in Benjamins „wohnsüchtige[m] Jahrhundert“43 ankündigte, in Hoppes Gegenwart zum Fallstrick der (Familien-)Geschichte. Darüber hinaus erweist sich ein weiteres Phänomen als maßgeblich: Hoppes Geschichten zeichnen immer wieder den Zusammenbruch der patriarchalen Ordnung nach – ist es doch am Ende oft der Vater, der „von einem leichten Windstoß erfaßt“ wird und „in der Dunkelheit“ (ebd., S. 68) verschwindet oder in Erstarrung „auf den Karren“ (ebd., S. 32) geladen wird und schließlich nicht mehr zu erkennen ist. Während Benjamins neue Form des Schreibens also noch als konkrete Folge von Flucht und Exilierung entsteht,44 sind Hoppes Figuren mit einer (modernen) Form der Heimatlosigkeit konfrontiert, die gerade durch ihre Unkonkretheit so bedrohlich wirkt. Was bei Benjamin beispielsweise in der Figur des Labyrinths als Metapher der Desorientierung im urbanen Raum und in der Masse auftaucht, 45 ist bei Hoppe ein existenzieller Selbstverlust des Menschen. Noch einmal sei exemplarisch auf die Geschichte Der Balkon verwiesen, in der mit dem ,In-der-SchlangeStehen‘ ein bekanntes (Nach-)Kriegsmotiv aufscheint: Denn während man zu Benjamins Zeiten noch eindeutig um Essensmarken und Lohntüten anstand, reihen sich die Menschen in Hoppes Geschichte schon mit „verschwenderisch geschnitten[en] Wurstbroten“ ein und geraten ob der fehlenden Zielrichtung bei „Bewegung der Schlange“ in ein gewaltsames Chaos: „Jeder nahm die Gelegenheit wahr, und so schlugen sie ohne Rücksicht auf Verluste einer auf den anderen ein, was das Zeug hielt.“ (Picknick, S. 13). Das, was sich in der Berliner Kindheit als Übergang von einer natürlichen Kindheitsgeborgenheit zu einem langsam erwachenden Bewusstsein für historische Gräueltaten abzeichnet, ist bei Hoppe zur Konfrontation mit dem Verlust der sozialen Ordnung in toto gesteigert. In den meisten Geschichten wird eine von vornherein gebrochene (Familien-)Idylle offenbar, deren traumatisches Erbe es zu überwinden gilt.

43 Vgl. BENJAMIN, 1972 [1928], S. 89. 44 So treibt Benjamin seine währende Bedrohtheit im Exil sogar noch zu einer Umschrift der Kindheit, die Lemke zufolge „die Notwendigkeit der Verhüllung“ noch deutlicher zu Tage treten lässt (LEMKE, 2006a, S. 659). 45 Vgl. FITTLER, 2005, S. 43.

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Dies wird auch an einem weiteren von Benjamin noch spielerisch eingesetzten Motiv deutlich, demjenigen der „Magie der Farben“,46 das sowohl ein ,Farben Sehen‘ als auch ein ,sich selbst Färben‘ impliziert und bei Hoppe zum ,roten Mahnmal‘ der kindlichen Anverwandlung wird: [I]ch [war] früh auf das Sterben vorbereitet, wobei mich lediglich der Gedanke schwermütig stimmte, ich könnte meine Mutter vor meinem Tod nicht wiedersehen, und so begann ich mit aller Kraft von ihr zu träumen. Ich begegnete ihr oft, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und einer knallroten Perücke auf dem Kopf, denn an ihre wirkliche Haarfarbe konnte ich mich nicht erinnern. In unserem Haus hängen keine Bilder. Und so heftig und häufig gelang es mir, von ihr zu träumen, daß ich eines Morgens selber vollkommen rothaarig erwachte. (Picknick, S. 17)

Das Zitat des mit Benjamin befreundeten Dichters Christoph Friedrich Heinle (1894-1914) – „Wäre ich von Stoff, ich würde mich färben“47 – wird bei Hoppe Wirklichkeit. Das malende, tuschende oder sich in der Farbe verlierende Kind, das Benjamin noch Symbol höchster Konzentration und eines intakten Ichgefühls war, erhält bei Hoppe ein weiteres Indiz drohenden Ichverlusts.48 Begleitet wird dieses Motiv der „Anverwandlung“49 von dem in allen möglichen Variationen in Erscheinung tretenden „bucklichte sic Männlein“,50 das in der Berliner Kindheit den Schlusspunkt der Erzählung markiert: „Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg. Doch sonst tat er mir

46 Vgl. ebd., S. 385. Benjamin beschreibt dieses Verhältnis besonders deutlich in seiner Episode Die Farben, in der sich das Kind im Garten „wie die Landschaft [färbt], die bald lohend und bald verstaubt, bald schwelend und bald üppig im Fenster lag. Es ging mir wie beim Tuschen, wo die Dinge mir ihren Schoß auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke überkam.“ (BENJAMIN, 1987 [1950], S. 70). 47 In den Nachträgen zum Regenbogen (1915) heißt es weiter: „So verweilen nur die Kinder ganz in Unschuld, und im Erröten gehen sie selbst in das Dasein der Farbe zurück“ (BENJAMIN, 1980 [1915], S. 24). 48 Vgl. zu Benjamin dabei Fittler, die in diesem Motiv „keine Ich-Entfremdung sondern nur höchste Geistesgegenwart“ ins Werk gesetzt sieht: „Mehr als an jedem anderen dem Ich auf den Leib rückenden Gegenüber zeigt Benjamin an der Farbe das Ähnlichwerden in seiner beseligenden, aber auch verschlossenen, sublimiertesten und sublimsten, geistigen Ausprägung.“ (FITTLER, 2005, S. 385). 49 Fittler beschreibt eben dieses Motiv auch als ein Austarieren zwischen Befreiung und Selbstbehauptung, als „Anähnelung bis hin zur grauenerregenden Ich-Verwandlung“ (ebd., S. 347). 50 BENJAMIN, 1987 [1985], S. 78.

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nichts“.51 Es ist der über alles wachende Geist – ein Beschützer wie Schabernacktreibender zugleich, der das Kind im letzten Satz der Kindheit noch bittet, ihn in seine Gebete einzuschließen.52 Das „bucklichte Männlein“ ist also von der Souveränität, von der Gabe des Kindes abhängig. In Hoppes Picknick erweist es sich noch um einiges kleiner und beschädigter, ohne jedoch seine Stärke eingebüßt zu haben: „Wichte“ (Picknick, S. 37), „seltsame Gestalten mit langen roten Nasen“ (ebd., S. 20), „kleine Affen nachahmende Väter“ (ebd., S. 16) oder „Einbeinige“ (ebd., S. 45) säumen die Wege der Erzähler und finden ironischerweise in Hochgewachsene Männer ihre eigene Stimme. Denn hier sagt der kleine Großvater so treffend: „Wir können nicht knien, wir sind schon klein.“ (ebd., S. 42). Es ist also bei Hoppe nicht mehr das Kind allein, sondern der Mensch im Allgemeinen, der aufgrund seines geringen Wuchses auch die Chance besitzt, Größe zu zeigen. So indiziert die Figur des buckligen Männleins ein bereits bei Benjamin angelegtes Motiv der Erlösung. Das schon in der Berliner Kindheit fortwährend betriebene „Spiel der Wiederherstellung einer traumatischen Ur-Situation“53 erweist sich nämlich nicht nur als zerstörerisch, sondern auch als therapeutisch: Bei beiden Schriftstellern bringt die Variation des Motivs auch eine „nicht mehr recht ernst zu nehmende, ironischverspielte Version dieser Ur-Situation hervor“.54 Auf diese Weise kann besagter Großvater trotz seiner Kleinwüchsigkeit souverän von sich behaupten: Nur „[e]in großer Geist braucht keinen Schneider“ (Picknick, S. 41) und sich die Hände reiben. Dem fehlenden Einheits- und Zentralitätsgedanken und damit dem geringen Wuchs des Ichs zum Trotz ist es eine damit einhergehende Gedankenfreiheit, die dem Individuum und seiner Geschichte wieder Größe verleihen. Denn ein großer Geist darf spielen wie ein Kind – und, wie es die Benjamin’schen und Hoppe’schen Bilder in ihren Verästelungen und Verrätselungen deutlich machen, auch ,wuchern‘. Wie Emre betont, kann über das Kindliche „als Modus des ‚Uneigentlichen‘“, das zum Ausdruck gebracht werden, „was anders kaum vermittelbar wäre, da es gerade durch sie [gemeint ist die kindliche Erzählmaske, Anm. J. B./K. E.] verborgene[] – zuweilen hochpolitische[] – Subtexte hervorhebt.“55 Die Unzuverlässigkeit des Erzählens, die bei Hoppe noch gesteigert ist, bedingt, dass der (erwachsene) Leser über eigene Logiken und damit soziokulturelle wie politische Praktiken reflektieren muss. An das erzählperspektivische Netz lässt sich also ebenso ein rezeptionsästhetisches anschließen. Der Leser ist es, der, auf die Fährte eines Motivs gebracht, intra-

51 Ebd., S. 79. 52 Ebd. 53 FITTLER, 2005, S. 412. 54 Ebd. 55 EMRE, 2014, S. 61.

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und intertextuelle Querverbindungen und Korrelationen in Hoppes und Benjamins Werk entdeckt. Was in der Berliner Kindheit bereits als „Erlernen einer Lektürehaltung, die die Spuren des Ähnlichen als nicht zu kontrollierende Spuren der Sprache des Traumes und der Erinnerung im Text wahrzunehmen in der Lage ist“,56 beschrieben wurde, hat die Forschung auch in Bezug auf Hoppes Prosa festgestellt: 57 Aufgrund des elaborierten Motivschemas hat der Leser hier die Möglichkeit, ein assoziierendes Vorgehen auszubilden, Relationen herzustellen und wiederum neue Konfigurationen entstehen zu lassen. Und selbst wenn diese dem gemeinen Leserbedürfnis nach einer allgemeingültigen Interpretation mitunter widersprechen mag, so wird doch deutlich, dass jede Darstellung von Geschichte(n) lediglich ein Ausschnitt eines größeren und komplexeren Bildes ist. Der Leser kann das intratextuelle Netz in immer neue Zusammenhänge bringen und so nicht „interpretieren und ... bedeuten, aber ... experimentieren.“58 Das so nicht allein zwischen den Autoren, sondern auch zwischen Autor und Lesern entstehende Benjamin’sche wie Hoppe’sche „Weltennetz“ 59 generiert darüber hinaus ein intertextuelles ,Kraftfeld‘, das im Folgenden modellhaft auf einen gesamteuropäischen Kontext und auf gegenwärtige Debatten übertragen werden soll.

E XKURS : I M W ERK DIE E POCHE Das Prinzip der Wiederholung und Unordnung respektive der diskontinuierlichen Narration scheint nämlich in Abgrenzung zu einer linear erzählten Geschichte insbesondere für die europäische Transmoderne konstitutiv zu sein. Unter anderem stellte Iris Radisch in der Zeit bei dem Versuch, einen europäischen Literaturkanon zu formulieren, 2012 fest, dass dieser „auf einem menschlichen, politischen und kulturellen Trümmerfeld“60 seinen Lauf nehme. Der ungarische Autor Péter Esterházy (1950-2016), betonte diesbezüglich, dass die Geburt der europäischen Literatur offenbar mit einem „Ende des einfachen Erzählens“61 einhergegangen sei.

56 LEMKE, 2006a, S. 657. 57 Vgl. hierzu HELLSTRÖM, 2008, und NEUHAUS, 2008. 58 Ebd. 59 Walter Benjamin nutzt diesen Ausdruck im Zusammenhang mit seinen Protokollen zu Drogenversuchen (1930), wo er von einem „Schauer“ spricht, „de[n] Schatten des Netzes auf dem Leibe. Im Schatten bildet die Haut ein Netz nach. Das Netz aber ist ein Weltennetz. In ihm ist die ganze Welt gefangen.“ (BENJAMIN, 1980 [1930], S. 614). 60 ESTERHÁZY, 2012, S. 45. 61 Ebd.

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Benjamins ,Geschichtssplitterung‘ scheint also nicht nur für Hoppe, sondern darüber hinaus für eine gesamteuropäische Dimension maßgebend, deren Ausgangspunkt in Benjamins ekphrastischer Beschreibung von Paul Klees (1879-1940) Gemälde Angelus Novus (1920) liegt: Der „Engel der Geschichte“ habe „das Antlitz [zwar] der Vergangenheit zugewendet“62 und sehe nur „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“, doch gerade das treibe ihn „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“63 Mit dieser Vorstellung eines in sich verkehrten und verdrehten Engels zielt Benjamin aber nicht nur auf ein Bild des Chaos, sondern ebenso darauf, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“64 Klees Engel fungiert damit bei Benjamin als ambivalente Figur: Sie erscheint als krisengeschüttelt und kraftstrotzend zugleich. Ein Zeitenkonzept – das Einholen der Vergangenheit durch die Zukunft –, das auch Die Zeit als „grundlegende Gemeinsamkeit des Europäischen“ diagnostiziert: Die „Erfahrung der Selbstzerstörung“ führe die „schnell gefundene[n] Nachkriegsformel ... absurd“,65 die gegenwärtiger Status quo und Schöpfungsprogramm zugleich sei. Bereits in den späten 1910er Jahren betonte Paul Valéry (1871-1945) in seinem Essay Die Krise des Geistes (1919), dass unter den Ruinen und Toten tausender „von jungen Schriftstellern und Künstlern […] der Glaube an eine europäische Kultur“66 zwar dahin sei, aus diesem „Chaos [des] geistigen Europas“ aber dennoch eine Bewegung entstehe, die „die einander unähnlichsten Gedanken, die einander entgegengesetztesten Lebens- und Erkenntnisprinzipien“67 zulasse. Eben jene „komplette Unordnung“68 kennzeichnet Valéry zufolge nicht nur die Geschichte, sondern auch das Schreiben in Europa, das von unterschiedlichsten kulturellen und literarischen Impulsen beeinflusst sei.69 Die europäische Literatur stellt sich damit nicht nur als Konglomerat, sondern als das Ergebnis koexistierender Gegensätze dar. Dies bestätigen dann auch die 2012 mit Autoren unterschiedlicher Herkunft

62 BENJAMIN, 1991 [1942], S. 697. 63 Ebd., S. 697f. 64 Ebd., S. 697. 65 ESTERHÁZY, 2012, S. 45. 66 VALÉRY, 2009 [1919], S. 79. 67 Ebd., S. 80. 68 Ebd., S. 79. 69 Ebd., S. 80: „In manchen Büchern […] findet man mühelos: eine Einwirkung des russischen Balletts – ein wenig vom düsteren Stil Pascals – viele Impressionen Goncourtscher Art – etwas von Nietzsche – etwas von Rimbaud – gewisse Effekte, die vom Umgang mit Malern herrühren – zuweilen etwas vom Ton wissenschaftlicher Werke – das Ganze irgendwie schwer bestimmbar, britisch angehaucht!“

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geführten Interviews innerhalb der Europa-Reihe der Zeit, die hier argumentativ als weitere Indizien für die Verortung Hoppes innerhalb eines europäischen Literaturkontextes aufgenommen werden. So verweist etwa Sibylle Lewitscharoff (*1954) darauf, dass die Literatur eine „Erlösung vom Realen“ impliziere. Und diese Realität sei gerade in Europa gekennzeichnet durch ein „Fortschwimmen von Gewissheiten aller Art“.70 Wobei neben der Wahrnehmung in Europa auch die Wahrnehmung von Europa durch ein ,Verschwimmen‘ geprägt zu sein scheint, wie bei dem Niederländer Cees Nooteboom (*1933), der Europa „vor allem [als] einen geistigen Raum“ 71 begreift: Ihm zufolge bestehe das spezifisch Europäische insbesondere in der Vielsprachigkeit seiner Bewohner und deren Affinität zum Reisen. Ähnliches betonen auch mehrere Essays in der von Paul Michael Lützeler edierten Anthologie Hoffnung Europa (1994), in welcher der Herausgeber versucht, den Weg Europas vor allem anhand seiner Literaten nachzuzeichnen.72 Besonders der Berliner Schriftsteller Peter Schneider (*1940) arbeitet darin ein Plädoyer für eine Kultur des Zweifels73 aus: Nachdem mehrere „berauschende“ und „heroische“ europäische Träume „von der kolonialen Beherrschung der übrigen Welt, der Traum von einer britischen, spanischen, portugiesischen, französischen, und schließlich deutschen Hegemonie, der Traum von einer konkurrenzlosen Ausplünderung der unterentwickelt gehaltenen Länder“ bis hin zum „letzten und schrecklichsten, dem deutschen Alptraum von Europa“ unwiederbringlich zerstört seien,74 folge nach 1989 eine Phase des Erwachens und des gemeinsamen Dialogs.75 Folglich lässt sich von Seiten der Schriftsteller als einziges verbindliches Merkmal Europas dessen kultureller Pluralismus ausmachen. Ähnlich stellt es auch

70 LEWITSCHAROFF, 2012, S. 45. 71 NOOTEBOOM, 2012. 72 LÜTZELER, 1994. Er betont in diesem Sammelband einleitend, dass Schriftsteller an der politischen Idee Europas immer schon maßgeblich beteiligt gewesen seien, und zeichnet deren Wege vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach (vgl. LÜTZELER, 1994b, S. 7-27): „Es waren vor allem Schriftsteller, die während der letzten beiden Jahrhunderte mit ihren Analysen und Visionen Beiträge zum Thema der kulturellen und politischen Einheit Europas geleistet haben. Ihre Arbeiten zu unterschätzen, käme einer Geschichtsverfälschung gleich“ (ebd., S. 8) – eine Annahme, die in ihrer Erstellung eines Kulturkanons ganz aktuell auch Die Zeit nachvollzog. 73 SCHNEIDER, 1994. 74 Ebd., S. 488. 75 Vgl. ebd., S. 489: „[Sie] folgt nicht den Gesetzen heroischen Aufbruchs, sondern den Zweifeln und Selbstzweifeln dessen, der aus Schaden nicht unbedingt weise, aber vorsichtig und des Zuhörens fähig geworden ist.“

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Hans Magnus Enzensbergers (*1929) prägnante Bezeichnung von Europa als „fraktales Objekt“76 dar, die ein Gebilde assoziiert, das sich gerade aus seinen Brüchen bestimmt: „Das, was sie Chaos nennen, ist unsere wichtigste Ressource. Wir leben von der Differenz“.77 Darin wird ein Prinzip erkennbar, das nicht nur das Zusammenleben in der europäischen Gesellschaft bestimmt, sondern sich eben auch auf deren geistige Produkte übertragen lässt. Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Nationalstaatlichkeit und der Auflösung der Grenzen innerhalb Europas ist zudem ein interkulturelles Moment verbunden, das von Felicitas Hoppe noch deutlicher aufgegriffen wird als fast ein Jahrhundert zuvor von Walter Benjamin.78 Nicht zuletzt ihre Vorträge im Rahmen der Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik im Jahre 201279 machten deutlich, wie sehr ihre Poetik für das ,Verwischen‘ und ,Kreuzen‘ auch geografischer Grenzen steht: Während sich dies in Picknick der Friseure (1996) noch auf Aufbrüche aus der kleinen Welt der Familie beschränkt, handeln ihre späteren Werke von weltumspannenden Abenteuerfahrten nach Indien80 bis hin zu Paradiese[n] in einer nicht näher zu verortenden Übersee (2003) oder ganzen Weltumsegelungen im Seefahrtsroman Pigafetta (1999). In dem vermeintlich fragmentierten und von Erzählbrüchen geprägten Werk Hoppes offenbart sich damit etwas zutiefst Europäisches, das zuvor bei Benjamin präfiguriert scheint, und von dem türkischen Romancier und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk (*1952) in einem weiteren Zeit-Interview als „säkulare[r] Respekt für Texte“ bezeichnet wurde: „Der Text ist nichts Heiliges mehr, sondern menschlich und kann gedreht und verändert werden, auf dass man die Welt anders sehen kann.“81 Das kindliche Denken und das Denken in Ähnlichkeiten ebenso wie seine ,Verästelungen‘ hin zu einem ,Weltennetz‘ erscheint damit als Gegenpol zu einem rein destruktiven Denken. Gerade mit ihm wird das für die europäische Literatur

76 ENZENSBERGER, 1987, S. 483. 77 Ebd., S. 484. 78 Auch wenn Benjamin mit seinen Schriften zum ‚Übersetzen‘ und seiner aus vielfältigen Quellen geschöpften Weltanschauung sicherlich zu den Schlüsselfiguren einer interkulturellen Theoriebildung zählt, so betont auch Hofmann Benjamins „wichtige Bedeutung für die interkulturelle Literaturwissenschaft“, gerade weil er sich der Aufgabe stellte, „die skizzierte Kontinuität einer Kulturgeschichte zu durchbrechen.“ (HOFMANN, 2006, S. 43). 79 Zu Konzeption und Programm vgl. die offizielle Website: http://www.inpoet.uni-ham burg.de/felicitas-hoppe.html, 1.1.2015. 80 Vgl. u. a. ihre Essays Das letzte Hemd hat keine Taschen oder Wunsch nach Girlanden. Eine Weihnachtsreise nach Indien (beide 2002, HOPPE, 2002, S. 138-142, S. 150-153). 81 PAMUK, 2012.

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formulierte Merkmal der Brüchigkeit und Polyvalenz zur Bedingung für eine poetologische Ganzheit, deren poetische Form gerade nicht im linearen Erzählen zeitgeschichtlicher Ereignisse besteht.

AUSBLICK : I M W ERK DER K OSMOS In abschließendem Rekurs auf Lewitscharoff, die Literatur als „Sinn-Kosmos“ beschreibt, der „selbst wenn er mit Absicht zersplittert aussieht, das Medium gegen die Zerstreuung des Sinns ist“,82 hat die vorangehende Analyse das Wahrnehmungsund Gestaltungskonzept des Benjamin’schen ,Kosmos der Ähnlichkeiten‘ als ein genuines poetologisches Merkmal der europäischen Literatur gefasst. Die Kurzprosa von Benjamin und Hoppe erweist sich dabei als adäquates Beispiel für die Grundkonstitution dieses Geschichtskomplexes: eine sich durch Abhängigkeiten fortsetzende Einheit in der Vielheit. Denn bei Hoppe wie auch bei Benjamin wird diese Bewegung eben nicht nur über vereinzelte Motive und Figuren deutlich, sondern auch über die Form – oder wie Benjamin es in seiner Geschichte Der Strumpf (posthum 1950)83 paradigmatisch vorführt: Sie offenbaren die Korrespondenz von Inhalt und Tasche. Ich musste mir Bahn bis in den hintersten Winkel schaffen; dann stieß ich auf meine Strümpfe, die da gehäuft und in althergebrachter Art gerollt und eingeschlagen ruhten. Jedes Paar hatte das Aussehen einer kleinen Tasche. Nichts ging mir über das Vergnügen, die Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Es war ‚Das Mitgebrachte‘, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt […] bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte ‚Das Mitgebrachte‘ herausgeholt, aber ‚Die Tasche‘, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da.84

Was die Last einer (europäischen) Zerstörungsgeschichte als ,Tasche‘ mit sich bringt, ist bei Hoppe und Benjamin offenbar die Lust an ihren perspektivisch wie ein Prisma aufgebrochenen Erzählungen. Über die Vision eines allseitigen, integralen Zusammenhangs der Dinge, wie sie besonders im Modus der Kindheitsperspektive sichtbar wird, unternehmen sie so eine „kritische Rettung im eigenen Werk“.85

82 LEWITSCHAROFF, 2012, S. 45. 83 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 58. 84 Ebd. 85 Fittler referiert über diese „Theorie der Rettung“ schon einleitend, wobei sie diese, Ullrich Schwarz paraphrasierend, als „natürliche Sinn-Übereinkunft und spontane Kommunikation von Mensch und Welt jenseits des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Dualismus“ versteht (zit. n. FITTLER, 2005, S, 14f.).

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Und wie die Berliner Kindheit oft als eine ,Erinnerungspoetik‘ bezeichnet wird, deren treibende Kraft die „Ich-Konstitution“86 sei, ließe sich Hoppes Picknick der Friseure als ,Ver(w)irrungspoetik‘ beschreiben. Der Prozess des Erinnerns und sich (Wieder)findens ist bei ihr noch verdichteter im Sinne eines ,Dickichts der Texte‘, als bei Benjamin. Die konsequente Verweigerung einer „homogenisierte[n] IchBildung“ rückt bei beiden Schriftstellern „die Frage nach den noch verbleibenden Formen der Identitätsbildung in den Mittelpunkt des Schreibens.“ 87 Vor dem Hintergrund einer als desolat erfahrenen Wirklichkeit scheinen die Berliner Kindheit und Picknick der Friseure die „Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervor[zu]ziehen […] wie die Kinderhand den Strumpf aus ‚Der Tasche‘“.88 Oder wie es in Hoppes Schlussgeschichte Not und Tugend heißt: „[A]m Ende, beim Öffnen der Säcke, kam alles zum Vorschein, Feigheit und Gier und schlechte Gewohnheit und daß wir zu spät und mit Dreck an den Stecken ans Tageslicht gekrochen waren“ (Picknick, S. 88). Doch, und das ist das Wesentliche, „hier ist das Buch unserer Rettung“ (ebd., S. 90), sodass wir „alt [werden können] in Würde“ (ebd., S. 91). Damit birgt, wie Adorno es für Benjamin formuliert, die „Allegorie des eigenen Untergangs“,89 das zersplitterte Geschichtswerk, auch bei Hoppe die Möglichkeit zur Selbstbehauptung.

L ITERATUR Primärliteratur BENJAMIN, WALTER, Denkbilder – Ausgraben und Erinnern [1931-1933], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 4, 1, hg. von ROLF TIEDEMANN/ HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1972, S. 400-402. DERS., Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt a. M. 1987 [1950]. DERS., Das Passagen-Werk. Erster Theil [1929-1940], in: DERS., Gesammelte Werke, 7 Bde., Bd. 5, 1, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1982. DERS., Einbahnstraße [1928], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 4, 1, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1972, S. 88-148.

86 LEMKE, 2006a, S. 658. 87 Ebd., S. 659. 88 BENJAMIN, 1987 [1950], S. 58. 89 ADORNO, 1987 [1950], S. 111.

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DERS., Lehre vom Ähnlichen [1933], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 2, 1, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1977, S. 204-210. DERS., Protokolle zu Drogenversuchen [1930], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 6, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1980, S. 558-619. DERS., Regenbogen [1915], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 7, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1980, S. 19-26. DERS., Über das mimetische Vermögen [1933], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 2, 1, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1977, S. 210-213. DERS., Über den Begriff der Geschichte [1942], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 1, 2, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1991, S. 691-704. DERS., Zur Astrologie [1932], in: DERS., Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 7, hg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1985, S. 192. DELEUZE, GILLES/GUATTARI, FÉLIX, Rhizom, Berlin 1977. ENZENSBERGER, HANS MAGNUS, Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern, Frankfurt a. M. 1987. ESTERHÁZY, PÉTER, Die Diktatur war schlampig, in: Die Zeit, 12.7. 2012, S. 45. HOPPE, FELICITAS, Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Das letzte Hemd hat keine Taschen, in: Ausblicke von meinem indischen Balkon. Neue Reisen deutscher Schriftsteller nach Indien, hg. von MARLA STUKENBERG, Bremerhaven 2002, S. 150-153. DIES., Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Reinbek 2003. DIES., Picknick der Friseure. Geschichten, Reinbek 1996. DIES., Pigafetta. Roman, Reinbek 1999. DIES., Wunsch nach Girlanden. Eine Weihnachtsreise nach Indien, in: Ausblicke von meinem indischen Balkon. Neue Reisen deutscher Schriftsteller nach Indien, hg. von MARLA STUKENBERG, Bremerhaven 2002, S. 138-142. DIES., Über Geistesgegenwart, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 39-53. LEWITSCHAROFF, SIBYLLE, Trostloses will ich nicht lesen [Interview mit ELISABETH VON THADDEN], in: Die Zeit, 23.8.2012, S. 45. NOOTEBOOM, CEES, Schimpfen gehört dazu [Interview mit ULRICH GREINER], in: Die Zeit, 9.8.2012, S. 47.

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PAMUK, ORHAN, „Diese ewige Jammerei“ [Interview mit MICHAEL THUMANN,] in: Die Zeit, 16.8.2012, S. 47. SCHNEIDER, PETER, Plädoyer für eine Kultur des Zweifels (1988), in: Hoffnung Europa – Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, hg. von PAUL MICHAEL LÜTZELER, Frankfurt a. M. 1994, S. 488-499. VALÉRY, PAUL, Die Krise des Geistes [1919], in: Grundlagentexte Kulturphilosophie: Benjamin, Blumenberg, Cassirer, Foucault, Lévi-Strauss, Simmel, Valéry u. a., hg. von RALF KONERSMANN, Hamburg 2009, S. 77-83. Sekundärliteratur ADORNO, THEODOR W., Nachwort [1950], in: WALTER BENJAMIN, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt a. M. 1987 [1950], S. 111-113. CATANI, STEPHANIE, „Wir nehmen nicht wahr, wofür wir keine Sensoren haben.“ Zur ‚Evolution der Geschichte‘ in fiktionaler Literatur, in: Telling Stories. Literature and Evolution/Geschichten erzählen. Literatur und Evolution (Spectrum Literaturwissenschaft 26), hg. von CARSTEN GANSEL/DIRK VANDERBEKE, Berlin 2012, S. 361-376. EMRE, MERLE, Grenz(über)gänge. Kindheit in deutsch-türkischer Migrationsliteratur (Interkulturelle Moderne 5), Würzburg 2014. FITTLER, DORIS M., „Ein Kosmos der Ähnlichkeit“ – Frühe und späte Mimesis bei Walter Benjamin, Bielefeld 2005. HELLSTRÖM, MARTIN, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – zur Position von Erzähler und Leser im Werk von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/DEMS., Innsbruck u. a. 2008, S. 27-38. HOFMANN, MICHAEL, Interkulturelle Literaturwissenschaft – Eine Einführung, Paderborn 2006. HONOLD, ALEXANDER, Karl Kraus, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, unter Mitarb. von THOMAS KÜPPER/TIMO SKRANDIES hg. von BURKHARDT LINDNER, Stuttgart/Weimar 2006, S. 522-539. LEMKE, ANJA, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, unter Mitarb. von THOMAS KÜPPER/TIMO SKRANDIES hg. von BURKHARDT LINDNER, Stuttgart/Weimar 2006, S. 653-663 [2006a]. DIES., Zur späteren Sprachphilosophie. ,Lehre vom Ähnlichen‘/,Über das mimetische Vermögen‘/,Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat‘, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, unter Mitarb. von THOMAS KÜPPER/TIMO SKRANDIES hg. von BURKHARDT LINDNER, Stuttgart/ Weimar 2006, S. 643-653 [2006b]. LINDNER, BURKHARDT, Benjamin lesen... Über die Konzeption des Handbuchs, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, unter Mitarb. von

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Erzählverfahren

Zyklisches Erzählen bei Felicitas Hoppe Die Rahmenhandlung als Reenactment in Paradiese, Übersee (2003) F RANZ F ROMHOLZER

Der Rücklaufknopf eines Diktiergeräts, ewig gesungene Lieder, endlose Fäden und im Kreis laufende Hunde – Felicitas Hoppe hat es ihren Leserinnen und Lesern wirklich nicht leicht gemacht, erzählerische Ordnung in ihren Reise- und Abenteuerroman Paradiese, Übersee (2003) zu bringen. „Silbe für Silbe, Wort für Wort, Satz für Satz, und als er mit Lesen fertig war, begann er von vorne […]“ (Paradiese, S. 161), so liest man vom lesenden Ritter und erhält zugleich eine Rezeptionsanweisung der Autorin höchst persönlich. In Rezensionen des Romans ist verschiedentlich von einem sich im Text manifestierenden ,Erzählfundamentalismus‘ gesprochen worden und der irisierenden Erzählkunst, eine verwickelte Geschichte wirkungsvoll zu entfalten.1 Bisher vorgelegte Forschungsbeiträge fokussieren „die Wiederaufnahme längst tradierter Erzählmuster“ 2 unter dem Vorzeichen einer romantischen Remythisierung (Claude D. Conter) oder verhandeln – angesichts eines Protagonisten mit dem Namen ‚Kleiner Baedeker‘ – die Romanpoetik vor dem Hintergrund von Reiseliteratur (Stefan Neuhaus, Martin Hellström). 3 Mehrfach analysieren Interpreten Hoppes Werk anhand der Leitkategorie des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ (Stephanie Catani, Monika Wolting). 4 Dies betrifft insbesondere das Verhältnis der Erzählerposition zur historischen Vergangenheit, aber auch zu literarischen Prätexten, das in einem dichten Netz an intertextuellen Verweisen aufgezeigt werden kann. Gefragt nach dem Umgang mit Vergangenheit in ihren Texten stellt

1

Vgl. beispielhaft KRUMBHOLZ, 2003; QUASTHOFF, 2003.

2

CONTER, 2008, S. 99.

3

Vgl. NEUHAUS, 2008, S. 45f.; HELLSTRÖM, 2014.

4

Vgl. CATANI, 2009; WOLTING, 2014.

136 | FRANZ FROMHOLZER

Felicitas Hoppe selbst in einem Interview mit dem Kölner Neugermanisten Christof Hamann fest, diese seien durch „das Herausholen des Vergangenen aus der Vergangenheit und das Gespräch darüber in der Gegenwart“ 5 gekennzeichnet. In ihrem Essay Über Geistesgegenwart akzentuiert Felicitas Hoppe, es gehe „nicht um die Frage nach einer Rüstung, sondern um die Möglichkeiten ihrer Vergegenwärtigung.“6 (Über Geistesgegenwart, S. 14). Scheint diese Doppel- und Parallelaktion der Vergegenwärtigung von Geschichte – denkt man an Pigafetta (1999), Paradiese, Übersee, an Verbrecher und Versager (2004) oder Johanna (2006) – auch auf den ersten Blick einleuchtend, so verbirgt sich hinter den genannten Vorgängen doch eine komplexe narrative Struktur. In Paradiese, Übersee tritt der Gesprächscharakter des Romans etwa zuweilen überdeutlich in den Vordergrund. Dies liegt nicht an einer Vielzahl von Dialogen, sondern an einer expliziten Markierung von Teilen der Erzählung als Gespräche. Etwa: „So gehen wir unserer Wege und erzählen uns gegenseitig die Geschichten von unseren Lieblingsheiligen“ (Paradiese, S. 85), worauf Heiligenviten vorgestellt werden und zugleich die Erzählerfiguren wieder in den Hintergrund treten. Als eine sich wiederholende Grundkonstellation fungiert dabei ein „wir“, das an einem Tisch Platz nimmt, um sich in Protagonisten zu verwandeln, die einander „über den Tisch hinweg Geschichten zubrüllten, einer den anderen übertönend, überbrüllend, einer lauter als der andere sich selbst und seine Verdienste preisend. Der eine hatte einen Drachen erschlagen, der andere eine Jungfrau gerettet“ (ebd., S. 59) und so fort. 7 Nennt der Titel Paradiese und Übersee als Schauplätze des Werkes, so taucht mit Wilwerwiltz als zentralem Kapitel des dreigeteilten Romans ein beschaulicher Ort in Luxemburg auf. In Wilwerwiltz findet sich jedes Jahr an Weihnachten eine fünfköpfige Familie ein: Mutter, Vater, Sohn und Tochter sowie ein Kind, das als Ich-Erzähler geschlechtlich unbestimmt bleibt. Die Familie droht allmählich auseinanderzubrechen; Streit, Ärger und Langeweile beschweren die weihnachtliche Familienseligkeit: 8 Zweiundzwanzigster Zwölfter. Dämmerung. Wilwerwiltz. Die Familie versammelt um den runden Wohnzimmertisch. Schlafend, kauend, murmelnd, einer in den Anblick des anderen vertieft. Wir langweilen uns unaussprechlich, um nicht zu sagen zu Tode, weil wir die Ge-

5

HOPPE, 2009, S. 237.

6

HOPPE, 2008, S. 14.

7

Hoppe hat den Gesprächscharakter ihrer Romane selbst hervorgehoben und konstatiert: „Der Roman als Dialog. Als Gespräch. Was die Sache nicht einfacher macht, auch im Gespräch muss man sich an Formen halten – und schreibend zu sprechen, ist schwierig.“ (Auge, S. 59).

8

Zu Familienkonstellationen und ihrer Bedeutung in Hoppes Werk insgesamt vgl. den Aufsatz von Michaela Holdenried in diesem Band.

Z YKLISCHES E RZÄHLEN

BEI

F ELICITAS HOPPE

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schichte nicht mehr hören können, weil jeder von uns immer wieder um diese Jahreszeit am anderen Ende der Dunkelheit davon zu reden beginnt, was aus ihm werden könnte, wenn er sich einmal erhebt. (ebd., S. 67)

An dieser Stelle setzt ein erster Deutungsversuch an: Ließe sich der zitierte Passus nicht als narrative Rahmenhandlung des Romans lesen? Wilwerwiltz, der Ort, an dem von Abenteuern in der Fremde großsprecherisch erzählt wird, um schließlich bei Einbruch der Dunkelheit immer wieder in den gewöhnlichen Luxemburger Familienalltag zurückzukehren: eine Rahmenhandlung, die die überseeischen und paradiesischen Geschichten motiviert. Intertextuelle Referenzen innerhalb des Zitats deuten auf große Vorbilder hin: Tausendundeine Nacht (um 1450), Giovanni Boccaccios Decamerone (1349-1353), Johann Wolfgang von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter (1795) oder auch beispielsweise E.T.A. Hoffmanns Die Serapionsbrüder (1819-1821). Die Gefahr der tödlichen Langeweile sowie die dem Alltag gegenübergestellte Erzählwelt konstituieren die Gemeinschaft. Christine Mielke spricht hierbei von „Erzählen als Selbstvergewisserung und Stabilisierung der personalen wie sozial-kollektiven Identität einer Gruppe“.9 Zwei Beobachtungen führen jedoch auch die spezifisch Hoppe’sche Konzeption der Rahmenhandlung vor: Zum einen ist eine kategorische Trennung von Binnen- und Rahmenerzählung nicht möglich – es zeigen sich permanente metaleptische Transgressionen zwischen Rahmen- und Binnenerzählungen. Die Erzähler berichten in „aberwitzige[n] Perspektivenwechsel[n]“10 Geschichten von sich in dritter Person, sodass die Figuren der Rahmenhandlung in der Binnenerzählung stets präsent bleiben. Das Bekenntnis „DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS ICH“ (ebd., S. 186) in der Handschrift der Schwester macht am Ende des Romans eben jene Verschränkung des Figurenpersonals in Binnen- und Rahmenhandlung kenntlich. Zum anderen sind diese Binnenerzählungen explizit als Wiederholungen ausgewiesen, die keinen Originalitätsanspruch erheben. Die Familie scheint sich aus diesem Bannkreis des geradezu obsessiven Wiederholens nicht lösen zu können. Der folgende Beitrag unternimmt damit den Versuch, die ‚Geschichtsverwicklungen‘ eines ‚erzählerischen Fundamentalismus‘ in Abgrenzung zu bisherigen Deutungen unter dem Aspekt des zyklischen Erzählens und der Wiederholung zu beleuchten. In einem ersten Analyseschritt wird das Verhältnis von Rahmenhandlung und Binnenerzählungen einer Klärung zugeführt, um im Folgenden eine präzisere Charakterisierung der Erzählerfiguren des Zyklus zu ermöglichen. Dabei wird

9

MIELKE, 2006, S. 15. Vgl. auch die Deutung der variierten Wiederholung von Dialogzeilen in Paradiese als identitätsstiftender Familiolekt im Sinne von Natalia Ginzburgs Lessico famigliare (1963) bei FRANK, 2015.

10 HOLDENRIED, 2005, S. 13.

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vorgeschlagen, den Erzählvorgang als performativen Akt zu begreifen, der bei Hoppe als Reenactment inszeniert wird.

1. T OD

DURCH

L ANGEWEILE – W IEDERHOLEN UND L ACHEN

Will man die Wilwerwiltzer Familienrunde als die das Romangeschehen strukturierende Rahmenhandlung begreifen,11 sei zunächst an Wolfgang Kaysers einschlägige Studie Das sprachliche Kunstwerk (1948) erinnert. In einem Rahmenzyklus werde „die Ursituation des Erzählens“12 vorgeführt: Eine Gruppe von Figuren erzählt sich Geschichten und verständigt sich in Gesprächen über die vermittelte Botschaft. Die Erzählwelt dient damit, so die These Kaysers, der gemeinsamen Reflexion. Wie Volker Klotz daran anschließend betont hat, bestehe die Aufgabe des Erzählens vor allem darin, den Tod zu bannen, ihn zu „enttöten“13. Und tatsächlich scheint auch jene Wilwerwiltzer Familie vom Tod durch Langeweile bedroht, vom Schlaf gefährdet, wenn die Erzählung endet.14 Das zyklische Erzählen der Rahmenhandlung fungiert, communis opinio der Forschung, in erster Linie als delectare, dem Zweck der Unterhaltung. Allerdings hat bereits Wulf Segebrecht darauf verwiesen, dass die gesellige Erzählsituation die soziale Identität der Erzählgemeinschaft stabilisiere, wenn nicht gar überhaupt erst konstituiere.15 In diesem Sinne wären die Expeditionen nach Übersee, die Suche nach dem Fell der wundersamen Berbiolette sowie auch der Ritter im Zoo vor allem Versuche einer Selbstvergewisserung und Rückversicherung der eigenen Identität vor den kritischen Familienmitgliedern. Folgt man diesem Ordnungsvorschlag von Rahmen- und Binnenhandlung, so lässt sich für Paradiese, Übersee konstatieren: „Ein ‚Erzählen im Erzählen‘ ist aber immer auch ein ‚Erzählen über das Erzählen‘, ist Metanarration. Erzähltes Erzählen verdoppelt die Erzählsituation“.16 Erprobt werden soll dieser thesenhafte Zugriff exemplarisch anhand des Romananfangs. Welche Folgerungen lässt die Deutung von

11 Der Rahmenhandlung wird in der Forschungsliteratur traditionell die Funktion zugewiesen, das „Erzählgefüge als Ganzes zu ordnen“ und dem häufig disparaten Binnengeschehen damit eine übergeordnete Struktur zu verleihen (STRATMANN, 2000, S. 29). 12 KAYSER, 1983, S. 201. 13 KLOTZ, 1982, S. 319. 14 Die Situation am runden Familientisch verhält sich analog zur gleichfalls von Langeweile geprägten Tafelrunde König Artus’, dem „König der großen Langeweile“ (Iwein, S. 17, vgl. zum Motiv der Langeweile auch S. 9) in Hoppes Bearbeitung von Hartmanns von Aue Ritterroman Iwein (um 1200). 15 Vgl. SEGEBRECHT, 1975. 16 OBERMAIER, 2010, S. 190.

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Paradiese, Übersee als Romanzyklus für den Beginn der Erzählung zu und inwiefern wird diese verdoppelt? Am Vorabend des zweiundzwanzigsten Zwölften betraten der Ritter und der Pauschalist das Festland von der Nordseite her. Während der Ritter sofort vom Pferd sprang, um den Kühen am Straßenrand Ehre zu erweisen, denn Weihnachten, das Fest aller Tiere, stand vor der Tür, war der Pauschalist hoch zu Ross sitzen geblieben, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, wo sie waren und wie sich der Gast zu verhalten hat in einem durch und durch fremden Land. Seit ihrer Abreise fiel ihm der Ritter nämlich zur Last mit seinem ewigen Lied, dass wir nur Gäste auf Erden sind [.] (ebd., S. 7)

Der Verdacht liegt nahe, dass sich hinter dem Ritter und dem Pauschalisten Familienmitglieder aus der Weihnachtsrunde verbergen. Michaela Holdenried deutet den Pauschalisten etwa als den Bruder der Ich-Erzählerin,17 da die Schwester sich am Ende des Romans ja selbst als Ritter vorstellt. Werden solche Entsprechungen einer Interpretation zugrunde gelegt, indem in einer Figur mehrere Personen koinzidieren, so hinterfragen die erzählten Geschichten stabile Ordnungen und Identitäten radikal. Denn Ritter und Pauschalist stellen in verdoppelter Erzählsituation eben auch Figuren dar, die auf der Ebene der Rahmenhandlung mit anderen Figuren aus der Wilwerwiltzer Familie korrelieren. Paradiese, Übersee würde dementsprechend Verlustängste und Identitätskrisen18 – anstelle einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse – in den Vordergrund rücken. Stefan Neuhaus argumentiert folglich, bei Hoppe werde den Figuren der Blick auf sich selbst verstellt. Dies sei für die Erzählung zugleich ein „Gewinn“19. Der exotische Schauplatz, das fremde Indien, kann mit Hoppe als „reine Kulisse“20 der Erzählungen bezeichnet werden. Ein wichtiger Indikator dafür, dass es sich bei der Geschichte von Ritter und Pauschalist um eine Binnenerzählung handele, ist ferner das Imperfekt als Zeitstufe der Geschichte, wohingegen in Wilwerwiltz der Tod durch Langeweile im Präsens droht. Harald Weinrich zufolge grundiere das „Imperfekt als Hintergrundtempus“ 21 die Novellistik seit Boccaccios Novellenzyklus, das Präsens sei demgegenüber der Rahmenhandlung zuzuordnen. Demzufolge setzt die Romanhandlung nicht unmittelbar (in einem ,offenen Anfang‘) ein, sondern rekurriert auf das präsentische Erzählen des zentralen Wilwerwiltz-Kapitels. Weinrich hat insbesondere auf „den

17 Vgl. HOLDENRIED, 2005, S. 14. 18 Vgl. hierzu MIELKE, 2006, S. 30-32. 19 NEUHAUS, 2013, S. 35. 20 HOPPE, 2009, S. 228. 21 WEINRICH, 2001, S. 170.

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nahtlosen Übergang zwischen der erzählten und besprochenen Welt“ 22 aufmerksam gemacht, wie sie zyklischen Erzählungen seit dem Mittelalter eigne. Dieser Annahme zufolge rückt Wilwerwiltz in den erzählerischen Vordergrund, wobei die Metalepsen hin zu den Binnenerzählungen bewusst offen und durchlässig gestaltet sind. Dabei darf zugleich auch von einem Kalkül ausgegangen werden, eine „Invisibilisierung“23 der erzählenden Figuren vorzuführen, um diese dann umso wirkungsmächtiger als Erzähler zu inszenieren. Als Beispiel kann hier der Wandel vom Erzähler-Ich zur Figur des Kleinen Baedecker aus der Binnenerzählung dienen. Das Erzähler-Ich wird im folgenden Beleg mit dem Kleinen Baedecker identifiziert: Genau das hat mein Bruder gestern gesagt, mit Absicht natürlich, am Vorabend meines Geburtstages, und hinzugefügt, dass die Welt viel zu klein geworden ist für Ausnahmen und dass ich mir nichts darauf einbilden soll, dass ich zwischen den Ginsterbüschen sitzen geblieben bin und immer noch Girlanden flechte, den einen oder anderen Stern verteile und darauf warte, dass eines Tages die Glocke zu läuten beginnt. Denn da, rief mein Bruder und schlug triumphierend mit der Faust auf den Tisch, da kannst du lange warten, Kleiner Baedecker, sie wird nicht läuten [.] (ebd., S. 99)

Die Identifizierung des Ich-Erzählers als Kleiner Baedeker durch den Bruder stellt zugleich eine Wiederaufnahme des Erzählfadens aus vorangegangenen Geschichten dar. „Wechselnde Erzähler reichen unmerklich den Stab weiter, eingeführte Figuren begegnen dem Leser in ganz neuer Gestalt“,24 diese Beobachtung Tilman Spreckelsens trifft damit vor allem auf das Verhältnis von vorgeordneter Rahmenerzählung und Wiedererscheinen der Rahmenfiguren in den Binnenerzählungen zu. Und dies umso mehr, da die Erzählung vom Ritter und Pauschalisten immer wieder an den Anfang zurückzukehren droht. Mit fast identischen Formulierungen wird in Übersee die Betretung des Festlandes von der Nordseite her wiederholt. Weder garantiert also der Wechsel der Erzählerinstanzen, dass eine neue Binnengeschichte einsetzt, noch garantiert eine identische Erzählerfigur das lineare Fortschreiten der Geschichte. Rainer Warning hat anhand von zyklischer Rahmenhandlung und Binnenerzählung eine dichotomische Typologie entwickelt, die die aufgezeigten Schwierigkeiten verdeutlicht.25 Die traditionelle Erzähltheorie widmete sich, so Warning, vor allem dem syntagmatischen Erzählen, dem Erzählen einer geschlossenen Geschichte von Anfang bis Ende. Einem solchen Erzählen wohnt eine Teleologie inne: Die

22 Ebd., S. 164. 23 KAMINSKI, 2014, S. 166. 24 SPRECKELSEN, 1998. 25 WARNING, 2001.

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anfängliche Offenheit wird als Kontingenzbewältigung geschlossen. Das paradigmatische Erzählen verfährt nach Warning hingegen kontingenzexponierend und basiert vor allem auf dem Prinzip der Wiederholung. 26 Dieser Typus könne jedoch als dem syntagmatischen Erzählen unter- beziehungsweise zugeordnet betrachtet werden. Im Falle von Hoppes Paradiese, Übersee ist unschwer zu erkennen, dass diese Hierarchien von syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen ins Wanken geraten. Zwar lässt sich die Rahmenhandlung eindeutig einem zyklisch wiederkehrenden Weihnachtsfest zuordnen – die Erzählzeit schreitet vom 22. Dezember bis zum 6. Januar kontinuierlich voran –, doch kann kaum davon gesprochen werden, dass die Reise-, Wallfahrt- und Abenteuergeschichten eine teleologische Kontingenzbewältigung leisten. Insbesondere die Echternacher Springprozession, bei der sich die Pilger jeweils drei Schritte nach vorn und dann wieder um zwei Schritte zurückbewegen (vgl. Paradiese, S. 84), verdeutlicht die Negation teleologischen Voranschreitens. Die Binnenerzählungen unterliegen damit vielmehr selbst dem Prinzip der Wiederholung. In der Wiederholungsstruktur der Binnenerzählungen spiegelt sich die „Bewegung im Kreis“27, die die Reisen der Protagonisten auszeichnet. An die Stelle der narrativen Selbstvergewisserung tritt semantische Vieldeutigkeit und die Destabilisierung tradierter Ordnungssysteme. Hoppes Roman führt somit in einem reichen intertextuellen Verweissystem auf insbesondere mittelalterliche Stofftraditionen jenes Verfahren der Destabilisierung erzählerisch vor. Zwar bieten mittelalterliche Erzählvorlagen Identifikationsmöglichkeiten (Ritter) an, im Wiedererzählen werden jene identifikatorischen Angebote jedoch auch unterwandert und zersetzt: Es handelt sich um Erzähler, die zugleich übersetzen und „damit neu oder umerfinde[n]“.28 Dies soll nun beispielhaft an der Erzählstruktur der Artusepik aufgezeigt werden.29 Mit der Ritterfigur wird zweifellos Vergangenheit in die Gegenwart geholt. Intertextuelle Anspielungen, etwa auf das ‚Verliggen‘ in Hartmanns von Aue Erec (um 1180/90, vgl. Paradiese, S. 167),30 legen die Vermutung nahe, dass das Schema des Romans der Erzählstruktur mittelalterlicher Epik folge – der bekanntlich nach Hugo Kuhn ein „doppelter Kursus“ zugrunde liegt. 31 Die hochmittelalterlichen Artusromane führen ihre Helden in einen Zustand und an eine Stelle, die sie zuvor schon einmal innehatten und lassen ihre Protagonisten damit einzelne Stationen

26 Vgl. ebd., S. 176-180. 27 HELLSTRÖM, 2014, S. 58. 28 HELLSTRÖM, 2008, S. 36. 29 Zum Einfluss mittelalterlicher Erzählmuster auf Paradiese, Übersee am Beispiel des Nibelungenlieds vgl. auch den Beitrag von Sandra Langer in diesem Band. 30 Vgl. hierzu auch BENZ, 2012, und KAMINSKI, 2014. 31 Vgl. die einschlägigen Artikel von KUHN, 1948.

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mehrmals durchlaufen. So entsteht eine Struktur der Wiederholung und der Wiederkehr von Abenteuern, die einem modernen Verständnis von Abenteuern konträr sind. In der fiktiven Welt der mittelalterlichen Aventiure vergeht die Zeit kreisförmig, da sich dasselbe Ereignis oder ein ähnliches jederzeit wiederholen kann. Uta Störmer-Caysa hat bezogen auf die Aventiurezeit konstatiert, dass sich zyklische und lineare Zeit überlagern: „Unter der Wiederholung ist eine schwach akzentuierte progressive Zeit zu denken“.32 In dieser episodischen Reihung der Aventiure, die eine nicht kausale und damit auch beliebige Zeitreihenfolge darstellen kann, scheint mir ein wichtiges Vorbild für das narrative Kompositionsmodell von Hoppes Roman zu liegen. Das Sich-Erheben und Aufbrechen in eine noch offene Zukunft, die die familiäre Erzählsituation jeweils neu imaginiert, kann erzählerisch zwar stets wieder geleistet werden, die Zeit der Rahmenhandlung schreitet aber dennoch progressiv voran. Die Wiederkehr der Protagonisten an die gleiche Stelle und der abermalige Neubeginn lassen sich in Paradiese, Übersee vielfach nachweisen. Paradigmatisch sei hier die Rettung des Zoowärters von Kalkutta durch den Ritter angeführt: Die Luft steht still, und die Zeit steht still, sogar die Menge am Wassergraben verstummt, als der Ritter das andere Ufer erreicht, die Rüstung voll Wasser, das in kleinen Strömen an seinem Körper hinunterlief, was ihn nicht weiter zu kümmern schien, denn er zögerte keinen Moment, dem Brauch zu folgen und die Girlande aus seinem Panzer zu ziehen, um den Tiger zu krönen und zu schmücken, wie es zu Weihnachten üblich ist. Erst als sie wieder am anderen Ufer angekommen waren, der Ritter, sein Hund und der Wärter, den der Ritter auf seinen Schultern durch den Schlamm getragen hatte, erwachte der Wärter aus seinem Traum. Und es ergriff ihn blankes Entsetzen, denn er hatte geglaubt, er hätte schon alles hinter sich. Aber jetzt lebte er wieder und musste noch einmal von vorne anfangen. (Paradiese, S. 28)

Die Auszeichnung des Tigers mit der Girlande als Sieger des mittelalterlichen Kampfes und die Weihnachtsschmuckpraktiken der Erzählgegenwart erscheinen ineinander verschränkt. Die Zeit steht still, Gegenwart und Vergangenheit sind nicht voneinander zu trennen. Das Scheitern des Zoowärters als ritterlicher Held, die neu zurückzulegende Doppelwegstruktur, wird affirmiert, indem der Zoowärter zum Dank gelobt, dem Ritter überall hin zu folgen und somit die Ritterreisen in der Gegenwart zu wiederholen. Doch ist nicht allein dem Ritter die Doppelwegstruktur des mittelalterlichen Epos zugedacht, auch der Pauschalist kann als Figur der Wiederholung und Wiederkehr gelesen werden. Schon sein Name weist ihn nicht als großen und singulären Entdecker, sondern als doppelsinnig pauschalisierenden Journalisten aus, der eine

32 STÖRMER-CAYSA, 2010, S. 365.

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möglichst große Leserschaft zu erreichen sucht. Reisende Journalisten der Gegenwart sind per se ,Nachreisende‘, werden gelenkt von Agenturen und vorgefertigten Informationen, die am Reiseziel nicht der Fremde und dem Unbekannten begegnen. Der Pauschalist spricht ins Diktiergerät und ist insbesondere von der Rücklauftaste des Apparats fasziniert: Da er „immer wieder auf den Rücklaufknopf drückte, um verzückt seinen eigenen Bekenntnissen zu lauschen“ (ebd., S. 153) unterliegt sein Leben der Illusion, immer wieder von vorn beginnen zu können. Die Vergangenheit scheint – unverändert abgespeichert in der Gegenwart – Raum und Stimme zu erhalten. Die eigene, gegenwärtige Identität verfügt über unbegrenzte Möglichkeiten, die Zeit zurückzuspulen. Dieser Form von zyklischem Erzählen wohnt kein progressives Moment inne, der Pauschalist ist vielmehr den vergangenen Geschichten verhaftet, ein „dilettantischer Nachahmer“33 – so wie die Abenteuerreise von Ritter und Pauschalist ein Nachreisen und Wiederholen bleibt. Dem Pauschalisten ist in dieser Hinsicht jeder Sinn für das Neue abhanden gekommen. Nur noch als Zeitungsleser gelingt es ihm, sich anhand der Tagesmeldungen zu vergewissern, dass nichts verloren gegangen sei. Aber mit einer Zeitung in der Hand, fühlte er, wäre er sicher. Nicht nur durch die Nachricht, den Schlüssel zur Welt, das tägliche Wiedererkennen der Zeit, den Kalendervergleich, sondern allem voran durch die herrliche Gewissheit, dass jeden Tag aufs Neue immer noch alles da ist. (ebd., S. 23)

Die Formulierung des vermeintlich extradiegetischen Erzählers, der Pauschalist würde täglich die Zeit wiedererkennen, wendet das progressive Voranschreiten einer linearen Zeit in eine habitualisierte Verhaltensweise, die zweifelsohne repetitive Züge trägt. Die einst häretischen Vorstellungen eines Origines (um 185-254) von der apokatastasis panton, der Wiederbringung aller Dinge am Ende der Zeiten, leisten andererseits die Massenmedien der Gegenwart für den Pauschalisten täglich. Zweifellos handelt es sich dabei jedoch um ein insuffizientes Verfahren. Auf der Ebene der Rahmenerzählung stellt die Erzählerfigur des Bruders fest: „Wir werden so lange davon zehren, [...] bis jeder von uns begriffen hat, dass hier nichts mehr zu holen ist.“ (ebd., S. 67). Maria E. Müller hat unter Bezugnahme auf die mittelalterliche Schwankliteratur davon gesprochen, dass dem zyklischen Erzählen selbst bereits ein komisches Element inhärent sei.34 Die Destabilisierung der sozialen Ordnung, moralische Doppeldeutigkeiten und doppelpolige Protagonisten zielten letzt-

33 GUTJAHR, 2009, S. 260. 34 Vgl. MÜLLER, 2010, S. 83.

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lich auf das Lachen des Rezipienten, seine physische Erschütterung.35 Die sicheren Ordnungen des Pauschalisten verunmöglichen jenes Lachen, das als entscheidendes Movens des Erzählens fungiert: „Eine durch und durch lächerliche Figur, das sieht jeder auf dem kleinen schmutzigen Foto. Aber der Pauschalist konnte nicht lachen“ (ebd., S. 148). Die „unaufhörliche Wiederentdeckung der Kontinente“ (ebd., S. 8), die der Pauschalist anhand vorgefertigter Reisepläne und Führer in der Gegenwart unternimmt, enthält also nicht zuletzt ein komisches Element, da die Wiederentdeckung als Destabilisierung und nicht als Verfestigung einer bestehenden (Welt-) Ordnung und Geschichte begriffen werden kann. Das Stilmittel der Wiederholung trägt nicht unwesentlich zur humoristischen und belustigenden Leseerfahrung des Romans bei.36 Dem „Wunsch nach der bekannten Geschichtenrolle“ (Schätze, S. 207f.), dem wiederholten Erzählen, wohnt letztlich die Erkenntnis inne, eben jene Erzählsituation unwiederbringlich verloren zu haben, nach der sich der Hörer zurücksehnt – auch dies eine befreiende Glückserfahrung (dem humorlosen Pauschalisten ist sie dagegen verwehrt). Denn mit dem Verlust jener Geschichtenrolle sind neue Figuren und Erzählungen möglich geworden. Die Vergangenheit ist damit ,unabschließbar‘. Mit besonderem Verweis auf die Ritterfigur gilt, um mit dem Schweizer Historiker Valentin Groebner zu sprechen: Das Mittelalter hört nicht auf.37 Die Binnenerzählungen treiben folglich eine Destabilisierung der vermeintlich festgefügten Rahmenhandlung voran, indem sie wiederholt Perspektivwechsel forcieren und Figurenidentitäten eine eindeutige Zuweisung verweigern. Erzählen findet folglich in der Konsequenz explizit als „Handlung im Text“ 38 statt. Dem Erzählen selbst wird per se also auch ein performativer Charakter zugesprochen, der Erzählerstimme damit jeweils neu ein Erzählerkörper zugewiesen. Dass der Roman selbst diese performativen Aspekte des Erzählens reflektiert, zeigt die zentrale Funktion, die hier der Inszenierung von Erzählhandlungen und theatralischem Sprechen zukommt. Als Beispiele seien nur genannt: Der reisende Ritter tritt von der „Bühne“ ab (Paradiese, S. 46), das weihnachtliche Krippenspiel ist zentraler Bestandteil der Binnenerzählung („Es war ein lästiges Stück“, ebd., S. 48), die Ich-

35 Vgl. ebd. Hoppes Verfahren, tradierte Erzählmuster einer komischen Destabilisierung zuzuführen, lässt sich etwa am Beispiel der Hagiografie illustrieren: „Schön ist auch die Geschichte von Schetzel, denn er nährt sich von nichts als von Kräutern und Wurzeln, schläft auf der rauen Erde und weiß genau, wer am nächsten Tag auf Besuch kommt in seine heilige Höhle.“ (Paradiese, S. 85). Vgl. auch Veronika Schuchters rezeptionsanalytischen Beitrag über die karnevalesken Elemente bei Hoppe in diesem Band. 36 Vgl. DÖBLER, 2003; NEUHAUS, 2008, S. 46f. 37 GROEBNER, 2008. 38 MIELKE, 2006, S. 13.

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Erzählerstimme als Kastellologe trägt eine Rüstung („meine Rüstung trage ich nicht zum Spaß“, ebd., S. 79), der Rücklaufknopf des Diktiergeräts lässt die Erzählerstimme immer wieder an der gleichen Stelle mit Bekenntnissen einsetzen (vgl. ebd., S. 153). Performatives Erzählen ist in Paradiese, Übersee ganz auf den Aspekt der Wiederholung – sei es eines Bühnengeschehens, einer Museumsführung oder intimer Geständnisse – reduziert, die erneut in die Tat umgesetzt werden. Dem vermeintlichen ‚Wir‘ der Erzählerstimmen aus der Rahmenerzählung haben die schwedischen Philologen Skogström und Skogström-Filler eine „visuelle Funktion“39 zugewiesen, die die gegenseitige Beobachtung und Wahrnehmung der Erzählergemeinschaft hervorhebt. Mit Hoppes Worten: „Das heißt Anschauung. Ein etwas altertümlicher Begriff. Ich jedenfalls brauche das.“40 So lautet jedenfalls das Credo im Essay mit dem gleichfalls bezeichnenden Titel Auge in Auge (2007). Das Erzählen in der Rahmenhandlung rückt in die Nähe eines visuellen Ereignisses, eines ‚verkleideten Texts‘. Im Rückgriff auf jüngere Reenactment-Theorien aus der Kunst- und Kulturgeschichte soll dieses ‚Verhüllen‘ des erzählten Textes, seine visuelle und letztlich performative Dimension abschließend genauer charakterisiert werden, um die Funktion der Rahmenerzählung in Hoppes Roman präziser fassen zu können und um letztlich nach der „Inszenierung des Erzählakts“ 41 zu fragen.

2. K REATIVER ANACHRONISMUS – AUTHENTISCHES R EENACTMENT

ODER

K OSTÜMFEST

Über den in die Gegenwart transferierten Ritter heißt es am Anfang des Romans: Seit ihrer Abreise fiel ihm der Ritter nämlich zur Last mit seinem ewigen Lied, dass wir nur Gäste auf Erden sind, ganz zu schweigen von den kleinen Bündeln gepressten Strohs, die er auf sämtliche Taschen und Fächer seines aufwändig verpackten Körpers verteilt bei sich trug, und einem Rucksack mit Feuerholz, den er jetzt umständlich öffnete, um die Scheite herauszuholen, die er hin und her schichtete und selbstvergessen gegeneinander rieb, als sei er damit beauftragt, das Feuer zu erfinden. (Paradiese, S. 7)

Dieser Ritter trägt einen Rucksack und hat Taschen und Fächer an seinem Körper. Mit den deutlichen Signalen, es handle sich um eine zum Schein aufbereitete Geschichte, um einen glatten Fake, das Brennholz im modernen Backpack, wird die Dichotomie von Ritter und Pauschalist fragwürdig. Lust an der Inszenierung von

39 SKOGSTRÖM/SKOGSTRÖM-FILLER, 1996, S. 164. 40 HOPPE, 2007, S. 57. 41 KAMINSKI, 2014, S. 149.

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Geschichte gerade auch durch das Nachlebenwollen von authentischer Geschichte wird in der Gegenwartskultur gemeinhin unter dem Begriff des ,Reenactments‘ gefasst. Der Begriff ‚Reenactment‘ geht auf den englischen Historiker und Philosophen Robin George Collingwood (1889-1943) zurück.42 Für Collingwood sollte der Historiker im Reenactment Gedanken und Gefühle von Personen der Vergangenheit nachvollziehen, allerdings mit dem Bewusstsein, dass es sich dabei nicht um authentische Gefühle handele, sondern um die in der Gegenwart aktualisierte Wiedererfahrung des Vergangenen. Auch das in Paradiese, Übersee mehrfach thematisierte traditionsreiche kindliche Krippenspiel mit der verhängnisvollen Ankündigung „Die Könige kommen“ kann als Reenactment gefasst werden. Im engeren Sinn wollen Mitglieder von Reenactment-Gruppen jedoch mit Geschichte experimentieren, historische Ereignisse und Situationen nachleben. Hoppes Roman, so die These, greift diese weitverbreiteten Praktiken des Reenactments auf, um sie im Gespräch mit der Vergangenheit auf ihre Bedeutung für die Stabilisierung von Normen und Identitäten hin zu befragen. Die Society for Creative Anachronism etwa, die in den 1960er Jahren im akademischen Milieu von Berkeley gegründet wurde und heute weit über 100.000 Mitglieder zählt, definiert ‚Creative Anachronism‘ als Versuch, die besten Seiten des Mittelalters in der modernen Welt neu zu erschaffen.43 Handelt es sich beispielsweise beim Rucksack tragenden Ritter oder beim Herrn „mit Schmetterlingsnetz und Angel im Wappen“ (S. 174) nicht auch um creative anachronism, um eine produktive Neuschöpfung? Die Society for Creative Anachronism hat großes wissenschaftliches Interesse vor allem seitens der Soziologie und der Ethnologie gefunden, denn in ihr werden kulturelle Umformungen vorgenommen, sodass Mitglieder ,Ritter Sir Monsur ibn Rafi‘ oder auch ,Sir Mons von Goashausen‘ heißen können. Im Sinne eines Medieval Cross Dressing dürfen auch Frauen als Ritter auftreten – man denkt als Hoppe-Leser parallel dazu sofort an die Schwester der Ich-Erzählerin aus Paradiese, Übersee. Mit der Annahme einer vergangenen Identität ist also auch ein geschlechtlicher Wechsel verbunden. Reenactment-Gruppen eignen sich das Erbe einer vermeintlich homogenen, männlich geprägten Vergangenheit an und verwandeln dieses in heterogene, multikulturelle Vergegenwärtigungen.44 Durch die kreative Adaptation der Vergangenheit in der Gegenwart wird Reenactment nicht als historisches Theaterstück im Sinne einer

42 Zum Folgenden vgl. TYLER, 2009, S. 168-175. 43 Vgl. DECKER, 2010, S. 278f. Als Beispiel eines Reenactments im Sinne der SCA vgl. etwa die Krönung ,King Patricks‘: http://www.youtube.com/watch?v=pgiRqpbd1W8, [26.7.2010], 1.1.2015. Im Video sieht man auch Anachronismen wie moderne Bürofunktionsstühle, Schweinwerferbeleuchtung, Sonnenbrillen und Digitaluhren zwischen den Rüstungen hervorblitzen. 44 Vgl. MAGELSSEN, 2003, S. 13f.

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bloßen mimetischen Reinszenierung begriffen.45 Entscheidend für den Status eines Mitglieds innerhalb der Gesellschaft ist die Authentizität, mit der die mittelalterliche Identität angeeignet wird. Die Reenactment-Gruppe hat darauf basierend eine komplexe Hierarchie aufgebaut, die den Status jedes einzelnen Mitglieds innerhalb der Gesellschaft bestimmt, wie das folgende Beispiel belegt: Ein König der Society erlässt ein Dekret: „No tennis shoes on the battlefield.“46 Der innerhalb des Reenactments gefährdeten Authentizität kann nur durch eine Maßnahme begegnet werden, die selbst den Rahmen des historisch Authentischen sprengt. Jenseits der historischen Wahrheiten darf ausgehandelt werden, was unter dieser beschworenen Authentizität zu verstehen sei: „Bridging discourse also allows authenticity to become a fluid and flexible concept that is modified on a daily basis through interactions of members.“47 Historische Authentizität kann innerhalb der SCA-Community nur als flexibles Konzept begriffen werden, das keiner Fixierung standhält. „Das Nachgemachte ist das Echte“,48 so Valentin Groebner, der allerdings unter diesem Gesichtspunkt einen kritischen Blick auf die historistische Methodik seines Faches vorlegt. Im Aushandeln dieser geschichtlichen Authentizität konstituieren die Gruppenmitglieder der SCA jedoch wesentlich ihre Gruppenidentität und zugehörigkeit. Die dargestellten historischen Figuren sind dabei selbst als flexibel und variabel zu denken: „[T]his flexibility ultimately made it possible for the group to survive.“49 Reenactment-Gruppen artikulieren auf spezifische Weise den Wunsch, eine neue Identität anzunehmen. Diese neue Identität gilt es allerdings „eher selten anderen zur Schau zu stellen“.50 Akteurswechsel von der ersten in die dritte Person sind gegenüber Dritten, insbesondere Zuschauern, von entscheidender Bedeutung.51 Kehren wir zu Hoppes Paradiese, Übersee zurück. Es herrscht kein Zweifel, dass die Vergangenheit als historische Ereignisgeschichte für die Romanpoetik nicht interessiert: Die Burgen waren alle verlassen, die Zugbrücken waren verfault, die Ställe leer, die Türen hingen schief in den Angeln, und drinnen, in riesigen Sälen, in denen leere Rüstungen standen und Bilder an den Wänden hingen, auf denen der Ritter sich nicht erkannte und auch nicht der

45 Vgl. hierzu auch Hoppes kritische Ausführungen zum historischen Roman als „Kostümfest“ in ihrem Essay Auge in Auge (HOPPE, 2007, besonders S. 63). 46 DECKER, 2010, S. 282. 47 Ebd., S. 278. 48 GROEBNER, 2008, S. 91. 49 DECKER, 2010, S. 292. 50 FABER, 2008, S. 117. 51 Vgl. ebd., S. 121.

148 | FRANZ FROMHOLZER Hund, saßen auf kleinen Hockern neben den Türen alte Männer und Frauen und schliefen. (Paradiese, S. 57)

Die Szene entwirft das Bild einer toten – und dadurch inauthentischen Vergangenheit. Der Ritter kann sich darin nicht wiedererkennen, die Bezüge zur Gegenwart scheinen abgebrochen. Bezeichnend ist, dass im Gegensatz zur Wilwerwiltzer Familie hier nun tatsächlich alle eingeschlafen und die Erzählstimmen verstummt sind. „Macht über die Geschichte zu haben heißt also, Macht über die Wiederholung von Geschichte zu haben, über Wiederholung von Vergangenheit“.52 In Paradiese, Übersee liefert das Krippenspiel das einprägsamste Beispiel für Reenactment: „Sofern sie aber selbst Könige sind, gehen sie ganz ohne Übertreibung und Übergang zur Verkündigung über, indem sie den Rucksack schnüren, den Stab in die Hand nehmen und sich furchtlos auf den Weg machen“ (ebd., S. 51). Ritter und Pauschalist spiegeln die Gegenwart der Rahmenerzählung in ihren Gesprächen und behalten so ihre Authentizität bei. Neben ihm auf dem Bahnsteig hockte der Ritter und versuchte, ein Feuer in Gang zu halten, das nicht richtig brennen wollte. Er kannte den Text des Pauschalisten in- und auswendig, als wäre in seiner Rüstung Platz für ganze Jahrhunderte schiefen Denkens. Der eine schweigend, der andere unaufhörlich sprechend, hatten sie gemeinsam Europa durchquert [.] (ebd., S. 9)

Die Konstellation macht bereits am Anfang des Romans deutlich, dass es der flexiblen, kreativen Verhandlung bedarf, Gegenwart und Vergangenheit in ein aufrichtiges Gespräch miteinander zu bringen. Historische Authentizität lässt sich nur im Vorgang des Bridging Discourse adäquat vermitteln. Maria Muhle hat bei künstlerischen Reenactments, die die Wiederholung einer Vergangenheit reflektieren, von einer ins Bild gesetzten „Unverfügbarkeit“53 gesprochen. Das Scheitern einer erzählerischen Verfügbarkeit der Rahmenfiguren über die Binnenfiguren steht zweifellos im Zusammenhang mit dem verwickelten Identitätsspiel der Figuren. Erzähler sein, heißt für Hoppe, im Bewusstsein der eigenen Epigonalität als „fröhliche[r] Nachahmer“ (Schätze, S. 204) die Erzählerstimme zu erheben. Als befreiende Inszenierung wird das Rollenkostüm des Epigonen selbstbewusst angezogen, 54 nicht zuletzt, indem nun „das ‚Gleiche‘ als etwas ‚Anderes‘ erscheint.“55 In der Doppelung der

52 MUHLE, 2011, S. 273. 53 MUHLE, 2014, S. 96. 54 Von dieser Beobachtung ausgehend ließe sich an Überlegungen anschließen, wie sie von Svenja Frank im Hinblick auf die ‚Wiedergeburt des Autors‘ unternommen wurden. Vgl. FRANK, 2014. 55 MUHLE, 2013, S. 134.

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Erzählerfiguren gerät diese heitere Imitatio zum visuellen Erzählvergnügen, das beide Identitäten sichtbar werden lässt.

3. F AZIT Vor dem Hintergrund der Reenactment-Theorien wäre in diesem Sinne die Wilwerwiltzer Familie als am Tisch versammelte Society for Creative Anachronism zu begreifen, die sich über das performativ ausgestaltete Geschichtenerzählen als Familiengemeinschaft konstituiert. Allein in der Zeit vom 22. Dezember bis 6. Januar finden sich die längst ihre eigenen Wege gehenden Familienmitglieder ein, erinnern die stets gleichen Geschichten und eignen sich in wechselnden Rollen ein flexibles Verständnis ihrer Familienzugehörigkeit an. Damit ist die Rolle des Pauschalisten etwa nicht starr dem Bruder zugewiesen. Langfristige Fixierungen würden die übergeordnete Identität der Erzählergemeinschaft gefährden. Damit kann die zentrale Funktion, die dem regionalen Luxemburger Umfeld als kultureller Verortung der Binnenerzählungen zukommt, ebenfalls näher bestimmt werden. Es hat die kindliche Vergangenheit der Erzählerfiguren geprägt und dient so gleichsam als gemeinsamer historischer Verständigungsraum. Die Erzählfiguren sind hier gleichsam „immer zu Hause“.56 Dieses Zuhause kann jeweils neu erzählerisch gefunden und erfunden werden. Damit soll hier dezidiert auch gegen eine Deutung Position bezogen werden, die Hoppes Roman in die Nähe von Remythisierungskonzepten rückt. Claude D. Conter hat in seiner Interpretation von Paradiese, Übersee bei Hoppe die Fortschreibung eines romantischen Luxemburg-Narrativs postuliert und eine Traditionslinie hin zu Goethe und Görres thesenhaft vorgestellt. 57 Kontingenzbewältigung, Einheitserfahrung und letztlich Erlösung von moderner Dissoziation, wie Conter sie in der Erzählung vorgelegt findet, lassen sich jedoch nicht im Sinne einer „möglichen Überwindung moderner Welterfahrung“ 58 in Anspruch nehmen. Sie sind implizit Gegenstand einer Erzählergemeinschaft, die sich krisenhaft konstituiert und sich immer neu zu konstituieren hat. Nicht die romantischen Epen, Märchen und Legenden – die Rüstung (um mit Hoppe zu sprechen), stehen damit im Vordergrund des Erzählens, sondern die Möglichkeiten ihrer Vergegenwärtigung. Mit dem Ritter, dem Kleinen Baedecker und dem humorlosen Pauschalisten sind damit auch soziale Funktionen kenntlich, die sich über das Geschichtenerzählen ausbilden und damit die Mitglieder der Rahmenhandlung charakterisieren. Reenactment und Hoppe’sche Erzählung koinzidieren dabei in der Annahme eines a priori

56 HELLSTRÖM, 2014, S. 59. 57 Vgl. CONTER, 2008, insbesondere S. 95f. 58 Ebd., S. 99.

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der Einbildungskraft,59 die den Umgang mit dem vorgefundenen historischen oder literarischen Stoff präfiguriert. Identifikation und zugleich Subversion der vorgegebenen Rolle – beide Verfahren lassen sich in Paradiese, Übersee, wie gezeigt werden sollte, gleichberechtigt aufweisen.

L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Frankfurt a. M. 2006 [2003]. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. DIES., Über Geistesgegenwart, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 11-23. DIES., „Weshalb ich, was Junghuhn betrifft, nichts als eine flüchtige Bekannte bin.“ Felicitas Hoppe im Gespräch mit Christof Hamann, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von CHRISTOF HAMANN/ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 227-237. Sekundärliteratur BENZ, JUDITH, Die Zähmung des Truchsessen. Die Keiefigur in Felicitas Hoppes Iwein Löwenritter und Hartmanns von Aue Iwein, in: Geschichten des Reisens – Reisen zur Geschichte. Studien zu Felicitas Hoppe (Schwedische Studien zur deutschsprachigen Literatur 1), hg. von THOMAS HOMSCHEID/ESBJÖRN NYSTRÖM, Uelvesbüll 2012, S. 137-157. CATANI, STEPHANIE, Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von CHRISTOF HAMANN/ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 143-168. DECKER, STEPHANIE K., Being Period: An Examination of Bridging Discourse in a Historical Reenactment Group, in: Journal of Contemporary Ethnography 39, 3 (2010), S. 273-296.

59 Vgl. MUHLE, 2013, S. 124.

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DÖBLER, KATHARINA, Papierschiffchen sind unsinkbar. Felicitas Hoppe schickt ihre Figuren nach der Logik des Nonsens durch die Welt, in: Die Zeit, 10.4.2003, S. 56. FABER, MICHAEL, Living History – Lebendige Geschichte oder Geschichte (er)leben? Möglichkeiten, Methoden und Grenzen am Beispiel des Rheinischen Freilichtmuseums Kommern, in: Living History im Museum. Möglichkeiten und Grenzen einer populären Vermittlungsform (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 11), hg. von JAN CARSTENSEN u. a., Münster u. a. 2008, S. 117-133. FRANK, SVENJA, „Geliebtes Geheimnis, das bin ja ich selbst.“ Die Initiationsgeschichte in Felicitas Hoppes Johanna (2006) als transmoderne Wiedergeburt des Autors, in: Euphorion 108, 1 (2014), S. 57-83. DIES., Inzest und Autor-Imago im Marionettentheater. Zum Identitätskonzept in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee, in: Felicitas Hoppe. Das Werk (Philologische Studien und Quellen 251), in Zsarb. mit STEFAN HERMES hg. von MICHAELA HOLDENRIED, Berlin 2015, S. 49-68. GROEBNER, VALENTIN, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008. GUTJAHR, ORTRUD, Der Entdeckungsbericht des Anderen. Erreiste Intertextualität in Felicitas Hoppes Pigafetta, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von CHRISTOF HAMANN/ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 239-265. HELLSTRÖM, MARTIN, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Zur Position von Erzähler und Leser im Werk von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/DEMS., Innsbruck 2008, S. 27-38. DERS., „Woher kommen wir, wohin gehen wir, wo sind wir“ – Inszenierungen des Reisens in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee, in: Der reisende Europäer (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 12), hg. von LINDA KARLSSON HAMMARFELT/EDGAR PLATEN, München 2014, S. 43-59. HOLDENRIED, MICHAELA, Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt Ottiliens und die Suche nach dem Berbiolettenfell. Anmerkungen zur postmodernen Zitationspraxis und Autorschaft im Werk von Felicitas Hoppe, in: GoethezeitPortal, http://www.goethezeitportal.de/kommunikation/diskus sionsforen/postkoloniale-studien.html [11.7.2005], 1.1.2015. KAMINSKI, NICOLA, „Ich war schließlich dabei“ oder Die Wiederkehr des wegerzählten Löwen: Chrestien – Hartmann – Hoppe, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 64, 2 (2014), S. 143-173. KAYSER, WOLFGANG, Das sprachliche Kunstwerk, 18. Aufl., Bern/München 1983 [1948].

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,Erzählbrücken‘ als Element ,neo-aggregativen‘ Schreibens Zu den mittelalterlichen und romantischen Strukturelementen in Felicitas Hoppes Roman Paradiese, Übersee (2003) S ANDRA L ANGER

E INLEITUNG Die Freiburger Literaturwissenschaftlerin Michaela Holdenried vergleicht die Textstruktur von Felicitas Hoppes Reise- und Abenteuerroman Paradiese, Übersee (2003) mit den Bildern des niederländischen Bildkünstlers M. C. Escher (18981972). Was diese Konstruktion dem Rezipienten abverlangt, sei „eine eigentümlich andere Rezeptionshaltung als die übliche.“1 Bei manch einem Literaturkritiker herrschte nach der Lektüre schlicht Ratlosigkeit, wie diesem irritierenden Text beizukommen sei.2 Die vermeintlich „mangelnde Gegenständlichkeit und Welthaltigkeit [des] Romans“ aber auch „das Nebeneinander realer und wunderbarer Ereignisse, Figuren und Orte“3 stießen teilweise auf Unverständnis. So bezweifelte etwa der

1 2

HOLDENRIED, 2005, S. 15. Beispielsweise PLATH, 2003, S. 2: „Alsbald aber heben die Spiegelungen, Verweise, Anspielungen an und mit ihnen eine kauzige Drolligkeit, und man begibt sich mit dieser Erzählung furchtlos auf die hohe See hinaus. Kein Wort erscheint überflüssig, noch die abstruseste Wendung ist motiviert und die Phantasie der Erzählerin scheint unerschöpflich. Ist die Prozession dann am Ende, zerfällt sie wieder in ihre Bestandteile, in den nach links, recht oder nach vorn gemachten Schritt. Ratlos steht man da und sucht in krausen Erinnerungen nach Spuren des numinosen Zaubers, der sagenhaften Leichtigkeit und der absurden Komik. Doch da ist kaum etwas. Nur ein Flirren ist zurückgeblieben, ein schönes Gefühl des Weltenthobenseins.“

3

CONTER, 2008, S. 89f.

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Literaturkritiker Uwe Wittstock, dass Hoppes Text überhaupt einen Sinn generiere, und unterstellte der Autorin, dass dies auch nicht ihre Absicht sei. Die Beobachtung, Hoppe knüpfe „zwischen den verschiedenen Kapiteln und Ebenen ihres Buches ein unübersehbares Netz von Verweisen, Korrespondenzen und Anspielungen“ lasse einen verborgenen Hintersinn des Textes erwarten, der dem Leser jedoch vorenthalten bleibe, denn „die Vergeblichkeit aller Bemühungen um Sinn[,] ist zugleich ein Leitmotiv des Buches.“4 Wie bereits Stefan Neuhaus aufgezeigt hat, führte diese Ratlosigkeit zu einem bloßen Aufzählen möglicher historischer und literarischer Vorbilder. Darunter fallen beispielsweise „Märchen und Rittersagen, [...] christliche[] Heiligenlegenden und neuzeitliche[] Reiseerzählungen“,5 zudem die Artusromane und kanonisierte Autoren wie Miguel de Cervantes (1547-1616) oder Franz Kafka (1883-1924).6 Im Folgenden soll daher, mit Schwerpunkt auf dem Roman Paradiese, Übersee, die Struktur von Hoppes Texten vor dem Hintergrund ihrer literaturhistorischen Kontexte aufgeschlüsselt werden. Diese, von der Kritik als irritierend wahrgenommene Struktur basiert auf der Abkehr von üblichen chronologischen und kausallogischen Ordnungsschemata und der gleichzeitigen Hinwendung zu einer Erzählstruktur, die ihren Sinn über variierende Verbindungen einzelner Elemente generiert. 7 In der vorliegenden Untersuchung wird dieses Narrationsschema auf seine historischen Vorbilder hin untersucht, um das schöpferisch ,Neue‘, die innovative Formensprache des Hoppe’schen Erzählens fassbar zu machen. Die heterogenen Textelemente, die jeweils unterschiedlich funktionalisiert sind und die einzelnen Textteile intratextuell sowie den Gesamttext autointertextuell mit den anderen Texten der Autorin verbinden, werden hier mit dem metaphorischen Begriff der ‚Erzählbrücken‘ bezeichnet, da die Verbindung innerhalb eines Textes – und über diesen Text hinaus – ihre zentrale strukturelle Funktion darstellt. Denn „Kohärenz wird durch immer wiederkehrende Figuren und Symbole und von verschiedenen Figuren wiederholte Fragen und Sätze erzeugt.“ 8 Die Erzählbrücken sind äußerst heterogen und können wiederkehrende Figuren ebenso umfassen wie Handlungselemente, Szenarien, Schauplätze, Formulierungen oder Motive. So habe Paradiese, Übersee „mit der landläufigen Vorstellung, ein Roman schildere eine logisch nachvollziehbare, zusammenhängende Geschichte, wenig gemein“,9 wie etwa Wittstock bemerkt. Die verbindenden und sinnstiftenden Erzählbrücken ersetzen

4

WITTSTOCK, 2003, S. 4.

5

PLATH, 2003, S. 2. Vgl. dazu NEUHAUS, 2007.

6

Vgl. NEUHAUS, 2004b, S. 39f.

7

Zur Wirkungsweise dieser Verbindungen vgl. Maria Hinzmann in diesem Band.

8

NEUHAUS, 2007.

9

WITTSTOCK, 2003, S. 4.

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bei Hoppe diese Kohärenz durch ein Geflecht von Bezügen. In Interviews sowie poetologischen Texten (vgl. vor allem die Göttinger Poetikvorlesung Abenteuer – Was ist das?, 2010) hat Hoppe wiederholt den Einfluss der Dichtung und Bildkunst des Mittelalters auf ihr Schreiben betont. In der Tat lassen sich für die Untersuchung von Hoppes Texten strukturelle Parallelen insbesondere zum Nibelungenlied (um 1250) nutzbar machen. Diesen soll, erstens, unter dem Gesichtspunkt der Kohärenzstiftung durch Erzählbrücken genauer nachgegangen werden. Ergänzend wird, zweitens, die Epoche der Romantik, die ebenfalls in Hoppes poetologischen Texten Erwähnung findet, berücksichtigt. In einem dritten und letzten Schritt wird dann nach dem spezifisch ,Neuen‘ gefragt, denn auch unter Rückgriff auf ältere literarische Muster führt im veränderten gesellschaftlichen Kontext die Arbeit des Autors zu einer schöpferischen Neugestaltung. „Welche alten Formen jeweils bevorzugt ummodelliert werden, gehört zu den Eigenschaften der Epoche.“10 Dementsprechend wird es notwendig sein, Modi und Bedingungen der gegenwärtigen, außertextuellen Lebenswelt zu betrachten und das Werk Hoppes daraufhin zu untersuchen. Das avisierte Ziel ist es, die genuinen narrativen Kompositionsstrategien in Hoppes Erzählpoetik herauszustellen, unter denen, so die These, den Erzählbrücken als sinngenerierendes Bindeglied eine besondere Rolle zukommt.

M ÜNDLICHKEIT

UND S CHRIFTLICHKEIT – MITTELALTERLICHE M USTER BEI H OPPE Ein zentrales poetisches Merkmal der Texte Felicitas Hoppes ist das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Dies zeigt sich in Paradiese, Übersee besonders am Beispiel der Figur des Pauschalisten, denn er „spricht alles mit, auf ein Diktiergerät, das, wie man weiß, am Anfang aller Literatur stand. Geschrieben wird erst später.“11 Hier wird ersichtlich, dass die mündliche Wiedergabe des erlebten Abenteuers der schriftlichen Form vorausgeht. Das Aufzeichnen der mündlichen Figurenrede wird als Grundlage für den Text vorausgesetzt. Holdenried und der Literaturkritiker Lothar Müller machen den Pauschalisten explizit für die Textstruktur verantwortlich: „Textstellen wiederholen sich fast wörtlich, weil der Pauschalist immer wieder den Rücklaufknopf seines geliebten Diktiergeräts drückt – oder einfach deshalb, weil sich Geschichte wiederholt“.12 Die Verschriftlichung der Reise ist ihr eigentliches Ziel, wenn auch ein unerreichbares. Noch im Verlauf der Reise wird die Vergeblichkeit der Bemühungen des Pauschalisten um „diesen ganzen ge-

10 STÖRMER-CAYSA, 2010, S. 361. 11 DÖBLER, 2003, S. 56. 12 HOLDENRIED, 2005, S. 15.

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sammelten Text“ reflektiert, denn „nichts davon hatte er zu Papier gebracht, nichts davon in die Welt gesetzt, nichts war veröffentlicht“ (Paradiese, S. 157). Die einzige Figur, die tatsächlich hin und wieder Aufzeichnungen vornimmt, ist die Spiegelfigur des Pauschalisten, der undurchsichtige Doktor Stoliczka.13 Eine weitere Figur der Mündlichkeit ist der Kleine Baedeker, der in der Rolle des Reiseführers auch auf der Handlungsebene als Erzählerfigur gekennzeichnet ist. Er unterhält auch die Matrosen auf dem Schiff nach Indien mit der „Geschichte vom blinden Ritter, der atemlos durch die Lande jagt, unter dem klirrenden Huf die ganze verworrene Karte Europas, gefolgt von zwei gehetzten Kurieren mit nagelneuen Nachrichten von Frauen und Schlachten“ (ebd., S. 133). Und er ist derjenige, der den Pauschalisten infrage stellt, indem er dessen Worte anzweifelt, relativiert und diesem vorwirft: „[N]ur kann er es einfach nicht lassen, immer wieder zur Verkündigung überzugehen, ja, so sehr ist er in seine Stimme verliebt“ (ebd., S. 181). Auf der strukturellen Ebene tritt er allerdings besonders dadurch hervor, dass er mit Beginn des zweiten Romanteils Wilwerwiltz, also ab dem Zeitpunkt seines Auftretens in der Geschichte bis zum Ende dieses Textteils, zum Ich-Erzähler wird. Sein Sprachduktus ist mündlich: „Ja, das habe ich gestern gesagt, jedenfalls glaube ich, dass ich das gestern gesagt habe, vielleicht habe ich mich auch nur hinreißen lassen, denn ich habe Geburtstag und glaube fest daran, dass ich einmal im Jahr das Recht habe, frei meine Ansichten zu äußern.“ (ebd., S. 67). Auch in Hoppes Iwein Löwenritter (2008) wird die Oralität stets durch die Kommentare der Erzählerfigur in den Vordergrund gerückt, der das Gesagte immer

13 Claude Conter widmet sich in seiner Untersuchung einer möglichen ‚Ich-Dissoziation‘ der Hauptfiguren, wobei er davon ausgeht, dass sich diese in einem Zustand der Spaltung befinden, die für den Fall des Kleinen Baedeker im Text explizit beschrieben wird und sich für die Schwester/den Ritter mit dem letzten Satz des Buches zu bewahrheiten scheint. Conter mutmaßt sogar über eine Doppelfigur Pauschalist/Doktor Stoliczka, womit alle Hauptfiguren erfasst wären. Interessanterweise argumentiert Conter für die Doppelfigur Pauschalist/Doktor Stoliczka, indem er auf die sie verbindenden Erzählbrücken hinweist, nämlich zunächst die Aufforderung an den Kleinen Baedeker, seinen Schulabschluss zu machen, die von beiden unabhängig geäußert wird, und die Objekte, die beiden im Text zugeschrieben werden, das Schmetterlingsnetz und der Tropenhelm (vgl. CONTER, 2008, S. 93). Auch Stefan Neuhaus sieht beide Figuren über eine Erzählbrücke verbunden: „Ein Bruder hat Ähnlichkeit mit dem Doktor, denn beide sind ‚unterwegs zum Gipfel‘ (S. 83) oder waren schon dort.“ (NEUHAUS, 2004b, S. 43). Zu bemerken ist hierbei, dass sich auch bezüglich der Dopplung der Figuren Vorbilder in der mittelalterlichen Literatur finden lassen, denn sie „kennt eine Reihe von Phantasmen des scheinbaren Identitätswechsels durch Wechsel der Kleidung oder selbst der Haut“ (MÜLLER, 1998, S. 245).

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ALS

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wieder unter Berufung auf seine Augenzeugenschaft relativiert oder bekräftigt, wobei die Identität der Erzählerfigur zunächst unklar bleibt und sich erst ganz am Ende enthüllt, wo sich der Löwe als Erzähler der Geschehnisse aus erster und auch zweiter Hand zu erkennen gibt: „Denn der Löwe auf dem Burgweg bin ich. Und ich liebe Geschichten. […] Und so gut wie ich erzählt sie euch keiner. Ich war schließlich dabei.“ (Iwein, S. 250). Auf der Handlungsebene ist das Geschichtenerzählen sowohl in Paradiese, Übersee als auch in Iwein Löwenritter eine wiederkehrende Tätigkeit. Sei es der Kleine Baedeker, König Artus oder eine der anderen Figuren, das Geschichtenerzählen dient dem Erwerb von Prestige und Sympathie, wobei stets augenzwinkernd mit dem (mangelnden) Wahrheitsgehalt des Erzählten kokettiert wird. So beginnt Artus während seines Besuchs bei Iwein als neuem Burgherrn des Landes Nebenan, nach langer Zeit wieder selbst mit Hingabe Geschichten zu erzählen. „Er ertappte sich sogar dabei, dass er nicht immer ganz bei der Wahrheit blieb, sondern dass er hier und da etwas hinzufügte oder änderte.“ (ebd., S. 83). In Hoppes Roman Johanna (2006) ist die Erzählsituation schließlich besonders bemerkenswert, denn das Erzählen von Geschichten weicht dem Erzählen von Geschichte im Sinne eines ,Wiedererzählens‘ des historischen Stoffs durch die IchErzählerin, also auch hier im mündlichen Duktus. Im Zentrum der Handlung steht die mündliche Prüfung der Protagonistin, Parallelen zur Befragung und Hinterfragung der historischen Johanna von Orléans (um 1412-1431) scheinen immer wieder auf: „Johanna spricht, ich schweige. Mehr ist dazu ohnehin nicht zu sagen. […] Und das Wenige, was ich sagen wollte, habe ich unterwegs vergessen“ (Johanna, S. 117). Festzuhalten bleibt, dass Hoppes Texte in hohem Maße auf Mündlichkeit basieren beziehungsweise zu mündlicher Erzählprosa stilisiert werden: Es wird ein vages Verhältnis von Oralität und Literalität immer wieder aus anderer Perspektive formuliert, sodass Hoppes Erzählprosa nicht ausschließlich als schriftliche Textform betrachtet werden sollte. Dies legt einen Blick auf entsprechende literaturhistorische Traditionen in den eingangs genannten Epochen – dem Mittelalter und der Romantik – nahe. Der Medienhistoriker Werner Faulstich spricht für den Zeitraum von 800 bis 1400 zwar von einer „ausgeprägte[n] Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit“, bezieht diese jedoch auf eine quantitativ kleine Oberschicht. Für weite Teile der Bevölkerung blieb der „prinzipielle Übergang von der Gedächtniszur Schriftkultur, von den Menschmedien zu den Schreibmedien wohl sehr viel weniger eingreifend“; er resümiert daher, das Mittelalter sei „kommunikationsstrukturell[] eher früheren Kulturstadien vergleichbar und von der späteren Druckkultur ganz und gar verschieden“ gewesen.14 Faulstich verweist dazu auf die in den jeweiligen mittelalterlichen Teilöffentlichkeiten typischen Personengruppen mit gesell-

14 FAULSTICH, 1996, S. 269.

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schaftsrelevanter Erzählfunktion: den Hofnarr, den Sänger sowie die Fahrenden und die berufsmäßigen Erzähler auf den Marktplätzen, macht aber auch die zentrale Stellung religiösen Erzählens deutlich. Besonders aber für die Landbevölkerung sei der Erzähler von Märchen und Geschichten eine spezifische Vermittlungsinstanz gewesen.15 Als besonderer Fall mittelalterlicher Kulturproduktion sei an dieser Stelle das um 1200 entstandene Epos Nibelungenlied hervorgehoben, da sich, neben den motivischen Mittelalter-Anleihen Hoppes, auch strukturelle Parallelen – besonders zu Paradiese, Übersee – erkennen lassen. Der Mediävist Jan-Dirk Müller geht bei seinen Untersuchungen davon aus, dass der Stoff des Nibelungenliedes vor seiner Verschriftlichung „nicht nur in poetischer Form, also als Heldenlied oder Kurzepos, sondern möglicherweise auch als literarisch anspruchslose, von Mal zu Mal abgewandelte Prosaerzählung“16 verbreitet worden ist. Da Formelhaftigkeit als Ausweis mündlichen Erzählens angesehen werden kann und im Nibelungenlied „die Amplitude verhältnismäßig groß“ ist, „scheinen hier formelhafte Wendungen weniger Überbleibsel einer älteren mündlichen Epenschicht als Nachahmung eines mündlichen Erzählstils unter den Bedingungen von Schriftlichkeit; die Formeln dienen als Mittel poetischer Erfindung.“17 Die vorgetäuschte oder bewusst erzeugte Oralität in der schriftlichen Form ist, wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, auch ein wesentliches poetisches Merkmal von Paradiese, Übersee. Für beide Texte hat dies weitere strukturelle Konsequenzen. Primär zu erwähnen ist die von Müller für das Nibelungenlied diagnostizierte „präzise Unschärfe“ beziehungsweise die „kalkulierte Unbestimmtheit“,18 die dem – in der Schriftfassung imaginierten – mündlichen Erzähler Raum für Interpretationen lässt19 und ihm die Möglichkeit bietet, „einen Spielraum konkurrierender Deutungen zu öffnen.“20 Hierzu zählen die achronistische Abfolge des zeitlichen Geschehens sowie die Unbestimmtheit der Handlungsorte, die auch durch gelegentliche authentisierende Ortsreferenzen nicht aufgehoben wird. Bemerkenswert ist, dass bereits im Nibelungenlied Sinnstiftung wesentlich über bestimmte Textelemente, wie etwa Objekte oder Kulissen, erzeugt wird: „‚[D]er‘ Berg, ‚der‘ Baum, ‚der Brunnen‘ genügen als Kulisse, ohne dass sie im Verhältnis zueinander näher bestimmt werden müßten; es kommt auf die Bedeu-

15 Vgl. ebd., S. 93. 16 MÜLLER, 2002, S. 27. 17 Ebd., S. 50. Müller verweist darauf, dass, in Anlehnung an CURSCHMANN (1979, 1985/87, 1989 und 1992) sowie WACHINGER (1981) der Terminus ‚Nibelungisch‘ als „auf eine schriftliterarische Weise formelhaft“ zu verstehen sei (ebd., S. 54). 18 Vgl. ebd., S. 59-63. 19 Ebd., S. 60. 20 MÜLLER, 1998, S. 145.

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tung derartiger Raumsegmente und Requisiten an, die sie dem Geschehen verleihen, nicht auf ihren Platz in einem raumzeitlichen Kontinuum.“ 21 Weitere Kennzeichen dieses vormodernen, pseudo-mündlichen Erzählens, welche mit der Unbestimmtheit verknüpft sind und sich sowohl im Nibelungenlied als auch in den Artusromanen aufzeigen lassen, sind Dopplung22 und Variation23, mit Blick auf die Artusromane ist zusätzlich die Zyklizität24 zu nennen. So schließt der Rekurs auf das ,Paradies‘ der Artusromane in Paradiese, Übersee in Gestalt des Echternacher Pensionszimmers der Wirtin Frau Conzemius den Kreis der erzählten Geschichte analog zur Wiederkehr an den Artushof, „wodurch das Abenteuer seine Anerkennung findet“.25 Es ist der Ort, an dem die Reise begann, das Elternhaus ist durch zahlreiche Umzüge als Bezugspunkt entwertet. Mit Echternach verbinden sich hingegen Konstanz und Verankerung. Der runde Tisch, an dem für die drei Geschwister stets Plätze freigehalten werden, verweist direkt auf die Artusrunde. Hierbei ist zu beachten, dass die Sinnstiftung sich auf unterschiedliche Weise im Rahmen des jeweiligen kulturhistorischen Kontexts vollzieht. Während der mittelalterliche Dichter noch ein einheitliches Grundwissen und feste Normvorstellungen voraussetzen konnte, aus dem der Leser selbstständig ein mehr oder weniger einheitliches Unausgesprochenes zu ergänzen vermochte, ist der Gegenwartsautor mit einer individualisierten, multikulturellen Leserschaft, die über unerschöpfliche Ressourcen von Partikularwissen verfügt, konfrontiert. Unbestimmtheiten werden nicht mehr einheitlich ergänzt und verortet, sondern die Brüche und Inkohärenzen werden mit je eigenen Verstehensstrategien aufgelöst oder bleiben schlicht bestehen. So erzeugt Hoppe wie in Paradiese, Übersee Dopplungen (wie etwa im Fall Pauschalist/Doktor Stoliczka) sowie Wiederholungen und Variationen von Figuren (Ritter, Damen, Matrosen), Handlungselementen (Reiten, Schwimmen, Erzählen, Schreiben, Spie-

21 Ebd., S. 130f. 22 Vgl. ebd., S. 136, und MÜLLER, 2002, S. 56-59. „Variierende Verdoppelungen haben vor allem drei Funktionen: komplexe Konstellationen darzustellen, die Gleichzeitigkeit antagonistischer Motive auszurücken oder aber durch Wiederholung einer teils unveränderten, teils umbesetzten Konstellation ‚Veränderung‘ sichtbar zu machen. Häufig verbinden sich die drei Funktionen miteinander. Was an Wiederholungen als überflüssig oder gar widersprüchlich kritisiert wurde, löst sich insofern meist als funktional sinnvoll auf“ (MÜLLER, 1998, S. 137). 23 Vgl. MÜLLER, 2002, S. 56-59. 24 Uta Störmer-Caysa konstatiert eine kreisförmige Raumzeitstruktur für Hartmanns von Aue Erec (um 1190), Iwein (um 1200) und Wolframs von Eschenbach Parzival (um 1200). Vgl. STÖRMER-CAYSA, 2010, S. 367f., sowie GOLTHER, 2005, S. 175. 25 GOLTHER, 2005, S. 175. Zur Bedeutung und Funktion des zyklischen Erzählens bei Hoppe vgl. ausführlich Franz Fromholzer in diesem Band.

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len), Kulissen (Burgen, Schiffe) und Motiven (Helme, Schwerter, Schachspiel). Auch Formulierungen werden in Abwandlung immer wieder aufgegriffen. Daher sind die Rezipienten darauf angewiesen einen individuellen Zugang zu ihren Texten zu finden. Dem Leser wird mithin in hohem Maße kognitiver Raum zugestanden, um dieser Form der Unbestimmtheit zu begegnen. So verlagert sich der Status des Textes als ,verschriftlichte Mündlichkeit‘ hin zu einem anderen Schwerpunkt, dem Text als Grundlage einer weithin in offenen Dialog zwischen Autor beziehungsweise Erzähler und Rezipient übergegangenen Schriftlichkeit. Martin Hellström macht auf die wiederholten Leseradressierungen in Hoppes Werken aufmerksam, wodurch „dem Rezipienten die Tür dafür geöffnet [wird], die Geschichte in seinen jeweils eigenen Kontext zu übersetzen, sich selbst in das Beziehungsgeflecht der Geschichte hineinzustellen und hineinzuerfinden und sie damit neu zu erzählen.“ 26 Diese gezielte Einbindung eines fiktiven Adressaten in die Erzählwelt korrespondiert mit den deutungsoffenen Strukturen, die einen aktiven Rezeptionsprozess fordern. Hellström stellt bezüglich der Erzähler- und Leserrolle fest, „dass diese nicht prinzipiell zu unterscheiden sind, da der Leser durch sein Lesen zwangsläufig zum (Mit-) Erzähler wird“, er deutet dies aber implizit als Ausdruck von Textqualität, indem er entsprechende Texte als „kunstvoll“ bezeichnet.27

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Auch formal-gestaltliche Bezüge zur Epoche der Romantik durchsetzen Hoppes Texte. Sie selbst greift die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts in ihren poetologischen Texten auf, aber auch die Literaturwissenschaft und -kritik hat die vermeintlichen Romantikbezüge in ihrem Werk mehrfach thematisiert. Roman Bucheli etwa konstatiert, Hoppes „Erzählweise lehnt sich an die einst mündlich überlieferten [Märchen-]Texte an“.28 Aber obwohl Hoppe selbst sich explizit zur Erzählgattung des Märchens bekennt, grenzt sie sich gleichsam doch davon ab: „Natürlich schreibe ich nicht wirklich Märchen. Ich wünschte, ich könnte, ich dürfte es“.29 Der Literaturwissenschaftler Claude Conter sieht in der komplexen Verschränkung narrativer Ebenen in Paradiese, Übersee ebenfalls den Einfluss romantischer Erzählmuster.30 Hoppes Erzählen schlicht als romantisch zu klassifizieren, scheint jedoch vor

26 HELLSTRÖM, 2008, S. 35. 27 Ebd., S. 36. 28 BUCHELI, 2005, S. 46. 29 NEUHAUS, 2004a, S. 7. 30 „Die oftmals irritierende narrative Struktur des Romans ist Ausdruck dieses Rückgriffs auf ein romantisches Erzählen. [...] Die fiktionslogisch nicht immer plausibilisierte Ord-

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dem Hintergrund des zuvor Dargelegten zu restriktiv. Einerseits finden sich im Werk Hoppes Strukturelemente, die an romantische Prosaformen anknüpfen. So gilt etwa der für Paradiese, Übersee als Referenz angeführte Miguel de Cervantes31 als ein großes Stilvorbild des romantischen Romans32 und nach Gerhart Hoffmeister besteht das Wesen dieses Genres „in der Mischung und in der fantastischen, unvollendbaren Form, die alle heterogenen Elemente einschmilzt.“33 Die fantastischen Elemente in Hoppes Texten werden häufig dem Märchen zugeordnet, dabei eignen sie der romantischen Prosa insgesamt. Anders jedoch als in der romantischen Romanpoetik ist Hoppe in ihren Texten nicht an einer Auflösung der tradierten Gattungsgrenzen gelegen, auch wenn Sie durchaus heterogene Elemente erzählerisch miteinander verbindet. Die besondere Nähe zum Märchen zeigt sich jedoch in den Strukturmerkmalen von Hoppes Texten, die den typischen Strukturmerkmalen des Märchens, nämlich „Aufhebung der alltäglichen, rationalen Logik, die zu Raumverschränkungen, Zeitverschiebungen, Aufhebung von Figurenidentitäten, Metamorphosen, Mensch-Tier-Kreuzungen, belebter Dingwelt, Sprachfähigkeit der nichtmenschlichen Natur etc. führt“,34 vergleichbar sind. Auf die Aufhebung von Kausalität, die raumzeitlichen Verschränkungen und den Dualismus von Figuren bei Hoppe wurde bereits eingegangen, allerdings in Bezug auf mittelalterliche Darstellungsformen. Andererseits ist nicht davon auszugehen, dass sich Hoppes Epochenzitate in erster Linie oder gar ausschließlich auf die Romantik beziehen. „Man weiß, dass die Romantik sich dem Mittelalter in einer Beziehung sympathetischer Differenz zuwendet“,35 wobei dem Mittelalter in der Epoche der Romantik der Status des sogenannten ‚Goldenen Zeitalters‘ zukommt, den zuvor die Antike innehatte.36 Beachtet man Hoppes Nähe zum Mittelalter schon in der Wahl von Stoffen, Figuren und Motiven, liegt es nahe, Strukturähnlichkeiten mit romantischen Textformen weniger einer parallelen Romantikrezeption zuzuschreiben, sondern vielmehr einer Bezogenheit auf das Mittelalter, die sich durch das Prisma der Auseinandersetzung mit der Romantik in einem anderen Modus ausdrückt. In diesem Sinne fungiert die Romantik als ein ,doppeltes Mittelalter‘, das den Texten Hoppes zusätzli-

nung des Erzählens oder die sie legitimierenden Elemente aus wunderbaren Welten sind bewusst traditionelle Formen des romantischen Erzählens, die den epistemischen Ort des Romans deutlich machen und die Einheit des Erzählaktes, der Wahrnehmung und des Subjekts zur Disposition stellen.“ (CONTER, 2008, S. 99). 31 Vgl. NEUHAUS, 2004b, S. 39f. 32 Vgl. HOFFMEISTER, 2003, S. 212. 33 Ebd., S. 210. 34 KREMER, 2007, S. 189. 35 STÖRMER-CAYSA, 2010, S. 362. 36 Vgl. SCHWERING, 2003, S. 547f.

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che Strukturelemente zur Verfügung stellt und eine neue Perspektive auf die mittelalterlichen Referenzen ermöglicht. Der Autorin jedoch einen reinen Epochenrekurs auf die Romantik zu unterstellen und davon auszugehen, dass der technisierten, spezialisierten Gegenwart das romantische Ganzheitskonzept entgegengestellt würde, hieße zu verkennen, dass Paradiese, Übersee zwar die glückliche Heimkehr und das Wiedersehen der drei Geschwister erzählt, allerdings darüber hinaus keine weiteren Auflösungen oder Versöhnungen offeriert. Für Hoppe steht nach eigener Aussage weder die Welt in ihrer empirischen Wahrheit noch in ihrer idealisierten Erscheinungsform im Vordergrund, sondern die Welt als autopoetisches Konstrukt. „Die Unmöglichkeit, eine Figur zu fassen oder der Handlung eine gerade Linie zu geben, entspricht meinem Gefühl, diesem Prozess der Annäherung an die Wahrheit.“37 Diese Annäherung vollzieht sich im Text über die Struktur. Hoppe verbindet die drei Romanteile und die narrativen Ebenen in Paradiese, Übersee durch einzelne Erzählbrücken. Zunächst wird die Identität der scheinbar separaten Figuren erzeugt, über Handlungen und Objekte, die der jeweiligen Figur unmittelbar eigen sind. Zugleich schafft die Autorin ihren Figuren einen spezifischen Mikrokosmos durch Objekte, Handlungen, Beziehungslinien und Motive, die ihre Lebenswelt und ihre Einordnung in unterschiedlichen Graden erkennbar machen. Die identitätsstiftenden Erzählbrücken scheinen sich primär nach dem Beruf beziehungsweise der Berufung der Figuren zu richten. Die Schwester bewegt sich im Hotelgewerbe, ihr obliegt die Pflege der Kleidung, sie kennt sich im Umgang mit Menschen aus und lacht wie keine andere Figur im Roman. Besonders auffällig ist, dass Spes, die Hoffnung, alle anderen Hauptfiguren des Romans auf die Reise schickt, denn die Dame ist im Schachspiel eine wichtige Figur, die sich nur scheinbar im Hintergrund hält. Der Pauschalist und Doktor Stoliczka werden als Männer der Bildung vorgestellt: Dies erfolgt mittels Objekten und Handlungen aus dem Bereich der Wissenschaft beziehungsweise der Forschungsreise. Das Lesen und Aufzeichnen obliegt ihnen, das Bedürfnis nach Ruhm ist ihnen eigen. Unter diesen Gesichtspunkten bleibt die Figur des Kleinen Baedeker seltsam unbestimmt, auch wird ihm von Conter keine Komplementärfigur zugewiesen. Dennoch teilt er sich in der Mitte der Romans in zwei Hälften, die noch beide er selbst sind, sodass er in diesem Akt zu seiner eigenen Komplementärfigur wird. Die Objektwelt des Kleinen Baedeker ist nicht die eigene, sondern die des Ritters in reduzierter Form: die unbewohnten Burgen, das heruntergekommene Pferd, der runde Tisch im elterlichen Wohnzimmer. Mit seinem lokalgeschichtlichen Wissen und seiner Vertrautheit mit den örtlichen Museen bewegt er sich in einem Kosmos der Bildung, der aber gegenüber der Welt des Pauschalisten oder Doktor Stoliczkas reduziert ist. Die Objektwelt des Ritters ist Fluchtpunkt der Sehnsüchte des Kleinen

37 HOPPE/KÜCHEMANN, 2003.

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Baedekers: Der Ritterhandschuh, den die Schwester ihm zeigt, versetzt ihn geradezu in Ekstase. Der Pauschalist und Doktor Stoliczka aber legen ihm die eigene Objektwelt nahe, indem sie ihn dazu auffordern, die Schule abzuschließen und in die Welt formaler Bildung einzutreten. Die Objekte charakterisieren Figuren und setzen sie miteinander in Beziehung, weil sie verschiedenen Figuren zugeschrieben werden. Zudem wechseln die Objekte auch Form und Funktion: So trägt beispielsweise der Kleine Baedeker die billige Kopie eines echten Ritterhelms, der dann in den Besitz von Doktor Stoliczka übergeht. Dieser lässt den Helm verschwinden – eigentlich eine Fähigkeit des Pauschalisten, der durch reine Negation Dinge zum Verschwinden bringen kann. Daraufhin muss der Kleine Baedeker auf den Tropenhelm zurückgreifen, der wiederum Hauptmerkmal von Doktor Stoliczka und erst in zweiter Linie des Pauschalisten ist. So verweist jeder Textabschnitt auf eine Vielzahl anderer Aspekte und Szenen, sodass letztlich indirekt jede individuelle Figur mit jeder anderen in einer zumindest vagen Beziehung zu stehen scheint. So fungiert weiterhin das Schachspielmotiv als Verbindungslinie zwischen den beiden Figuren der Schwester und des Ritters dergestalt, dass sie für ihn das Schachspiel erlernt und übt, da der Ritter beschrieben wird als Figur, die „von Karten nichts wusste, weil er das Brettspiel allen anderen vorzog“ (Paradiese, S. 19f.). Außerdem symbolisiert das Schachspiel der Schwester taktisches Agieren, den Ritter an ihrem Arbeitsplatz im Hotel für sich zu gewinnen. Ihr gezieltes Vorgehen wird mit Schachzügen in Verbindung gebracht. Schließlich fungiert das Spiel auch als Erzählbrücke zwischen der Schwester und dem Kleinen Baedeker, der mit dem Schachspiel der Schwester, das hier nicht nur Handlung, sondern auch Objekt ist, den Matrosen bei der Überfahrt nach Indien das Spiel bei, denn „sie hatten nicht die geringste Ahnung vom Brettspiel, [...] und rissen die Augen noch weiter auf, als der Kleine Baedeker jetzt das Schachspiel seiner Schwester aus dem Rucksack zog und in aller Seelenruhe begann, ihnen die Regeln zu unterbreiten“ (ebd., S. 135). Die Ausführungen über das Schachspiel wiederum verändern das Verhältnis des Kleinen Baedeker zu Doktor Stoliczka. Das Farbschema der schwarzen und weißen Schachfelder wird an anderer Stelle auf ein anderes Objekt, den Brief übertragen und fungiert hier wiederum als Brücke zum Pauschalisten: „Er würde sich mit dem Brief in der Hand ans Feuer setzen, den Brief auseinander falten, ihn lesen und alles verstehen. Die schwarzen Felder würden aufgehen in den weißen und endlich eine klare deutliche Fläche ergeben, eine Landschaft, in der man sich sicher und ohne Furcht bewegen kann“ (ebd., S. 163f.). Dies sind lediglich ausgewählte Beispiele der zahlreichen Erwähnungen und Variationen des Schachspiels in Paradiese, Übersee. Die Verbindungen des Schachs reichen jedoch darüber hinaus: So gehört beispielsweise in Iwein Löwenritter das Schachspiel ebenfalls zu den zentralen Handlungen. Es wird vorgestellt als beliebter Zeitvertreib zwischen den Damen und Rittern am Hof. Die Damen werden dadurch charakterisiert, dass sie die Ritter beim Schachspiel bewusst gewinnen las-

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sen und die Figur Lunete zeichnet sich dadurch aus, dass sie die beste Schachspielerin ist, was sie allerdings der Einsamkeit preisgibt. Hoppe selbst bemerkt: „Meine Figuren bekommen keine bestimmten Charaktermerkmale zugewiesen, sondern sie charakterisieren sich fast ausschließlich über ihre Handlungen.“38 Dabei ist das Schachspiel nur eine Variante des Spielmotivs. Das Kartenspielmotiv hingegen mäandert in den Erlebnissen des Pauschalisten in Paradiese, Übersee: Die Schwester legt ihm die Karten, die Inder am Feuer spielen Karten sehr zu seinem Missfallen; der Fehdehandschuh, den der Ritter wirft, weil er sich über den Pauschalisten geärgert hat, wird metaphorisch als ,Karte‘ bezeichnet, die ,im Spiel bleibt‘.39

N EO - AGGREGATIVES S CHREIBEN UND T RANSMODERNITÄT Die an der Textoberfläche erkennbaren narrativen ,Brüche‘ des Nibelungenliedes resultieren aus der Darstellungsart, die sich aus dem dargelegten Verhältnis von Oralität und Literalität ergibt. Müller bezeichnet diese in Anlehnung an Peter Czerwinski als „aggregativ“.40 Die Merkmale des Aggregativen, die sich auf Figuren, Szenen und Episoden beziehen können, sind „Aufbau aus relativ selbstständigen Blöcken, Nicht-Systematizität, nicht lineares Fortschreiten von einem zum anderen, sondern abrupter ‚Sprung‘, Nicht-Integration der Elemente in einen übergreifenden Verlauf oder Sachkomplex“ und diese erfordern eine „Herstellung von Sinnbezügen durch Addition ähnlicher oder widersprüchlicher, jedenfalls aufeinander beziehbarer Komponenten“.41 Müller unterscheidet jedoch deutlich zwischen aggregativem Schreiben in anderen Epen, bei denen „größere Gebilde oft nur durch Addition gleicher oder ähnlicher Elemente entstehen, ohne daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“ und dem Nibelungenlied, das seiner Ansicht nach, „aus einfachen Bauformen ein größeres Ganzes“ erzeugt. „Das Darstellungsverfahren ist zwar beide Male ‚aggregativ‘; aber im Nibelungenlied dient die Aggregation der Herstellung von übergreifenden Sinnbezügen durch Konfrontation verwandter, doch distinkter Elemente.“42 Für den Mediävisten Armin Schulz ist die Struktur des Nibe-

38 HOPPE/KÜCHEMANN, 2003. 39 Auch das Würfelspiel findet wiederholt Erwähnung. 40 ,Aggregat‘: ,mehrgliedriges Ganzes‘, neolat. Bildung des 19. Jahrhunderts zu lat. aggregāre (,anhäufen‘, ,hinzuscharen‘) beziehungsweise lat. gregāre (,zu einer Herde scharen‘). Vgl. KLUGE, 1989, S. 13. 41 MÜLLER, 1998, S. 137. 42 MÜLLER, 2002, S. 56.

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lungenliedes weniger „aggregativ“ als vielmehr „kontiguitär“43 oder metonymisch, um den Gegensatz zu alltäglicher Kausalität zu verdeutlichen. Am Beispiel der dritten Aventuire exemplifiziert er: „kontiguitär, weil die Wiederholung das gleiche thematische Feld aktualisiert und eine entsprechende Äquivalenz herstellt; und metonymisch, weil die jeweils zur Schau gestellte Aggressivität pars pro toto für Sivrits heroisches Wesen steht.“44 An einer weiteren Stelle derselben Aventuire fährt er fort: „Wieder ist die Erzähllogik kontiguitär: Handlungen und Folgehandlungen werden nicht durch Handlungsgründe miteinander verknüpft, sondern dadurch, dass sie im Sinne der Kontiguität ‚benachbart‘ sind und jeweils metonymisch an eben diesem gemeinsamen thematischen Feld partizipieren.“45 Zum Begriff des Aggregativen äußert sich Schulz in einer Bemerkung zu Czerwinski 46 und charakterisiert das Aggregative als „distinkt voneinander geschiedene Aggregatzustände“ ohne Mischung von Stimmung, Eigenschaften und Qualitäten bei den Figuren; weder die entworfene Welt noch die darin lebenden Figuren werden als in diesem Sinne ,gemischt‘ dargestellt. Während Müller also mit dem Begriff ,aggregativ‘ auf die Struktur der Darstellung Bezug nimmt, bezeichnet Schulz mit ,kontiguitär‘ die Verbindung der einzelnen Elemente untereinander. Auf Hoppes durch Oralität geprägten Erzählstil bezogen, wäre das schriftliche Konstruieren einzelner Erzählwelten und Handlungsstränge sowie ihre Verbindung durch Erzählbrücken die zeitgenössische Variante einer vormodernen Darstellungsweise und ließe sich damit als ‚neo-aggregatives‘ Schreiben bezeichnen.47 Struktur- und Inhaltselemente mögen Epochenzitate darstellen, ihre Texte lassen sich auf diese jedoch nicht reduzieren, vielmehr sind sie in einem unkonventionellen Sinn realistisch und wirklichkeitsnah und gerade durch den von ihr gewählten Erzählstil der Gegenwart verpflichtet, auch wenn diese erzählerisch transformiert wird.48 Hoppe greift nach eigener Aussage auf die gegenwärtige empirische Wirk-

43 ,Kontiguität‘: ,Angrenzung‘, ,Zusammenkommen‘ ist dem franz. contiguïté (,ausgrenzend‘) entlehnt, das auf lat. contiguus mit gleicher Bedeutung beziehungsweise lat. contigere (,berühren‘) zurückgeht. Vgl. KLUGE, 1989, S. 400. 44 SCHULZ, 2010, S. 350. 45 Ebd., S. 352. 46 Vgl. ebd., S. 348. 47 Im Gespräch mit Fridtjof Küchemann bezeichnet Hoppe das Buch als dasjenige Medium, das ihrer Vorgehensweise entspricht: „So etwas geht eben nur im Buch. Wir können die Dinge eigentlich nur in unserer Imagination neben einander existieren lassen und die Zeiten überspringen.“ (HOPPE/KÜCHEMANN, 2003). 48 „Ein gutes Buch versucht nicht, die Wirklichkeit abzubilden oder die vermeintliche Realität zu wiederholen, sondern es transformiert die Stoffe der Wirklichkeit, und dadurch entsteht etwas Neues.“ (ebd.).

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lichkeit zurück, welche sich in jeder Hinsicht sehr deutlich von den historischen Wirklichkeiten unterscheidet, aus deren Kunst- und Literatursphären Hoppe zitiert. Die Übertragung vormoderner und romantischer Erzählmuster auf die gegenwärtige empirische Wirklichkeit ist dabei keineswegs willkürlich, sondern ergibt sich aus der Verfasstheit der zeitgenössischen Lebenswelt. Diese wird von Rosa Maria Rodríguez Magda in ihrer Gegenwartsdiagnose wie folgt beschrieben: „Reality becomes constant transformation. Its actual conditions are transcended to become part of an interconnected whole that is infinitely readjusted on a global level.“ 49 Diese Einschätzung der Gegenwart basiert auf den Beobachtungen von Rodríguez Magda, die einen Transformationsprozess postuliert, der sich den Strukturmerkmalen der Postmoderne entzieht: Cultural relativism drowned the universality of principles, and the grand theoretical constructs turned into little more than models of understanding, the certainty of which, as well as being contingent, was basically poetic: fuzzy logic, catastrophe theory, string theory in physics, fractals and black holes all indelibly marked by the finite nature of our theoretical ambitions. […] The world ceased to be a factum, an entity of facts, and increasingly turned into a fictum, a joint collection of simulacra. First the crime was committed against the essences, the noumenal background through which antique metaphysics intended to bestow upon phenomena an underlying scheme. Then later empirical materiality lost the weight of its consistency to become little more than an illusionary construct of our theoretical models. 50

Diese neue Phase empirischer Wirklichkeit, die als Transmoderne51 bezeichnet wird, muss ihre strukturelle Entsprechung in der zeitgenössischen Kunst finden. Die Literatur Hoppes greift dabei in herausragender Weise diese Vielfalt und Gleichzeitigkeit verschiedenster Erscheinungen auf und setzt sie exemplarisch um. Dies wird gerade durch die sich aus dem Rückgriff auf das aggregative Schreiben einerseits und die romantischen Märchen andererseits ergebende Unbestimmtheit ermöglicht, indem die komplexen Vielschichtigkeiten der gegenwärtigen Realität den Zwängen von Kausalität und Chronologie enthoben werden. Warum sollte Literatur linear und kausallogisch strukturiert sein, wenn die Welt, in der sie entsteht, dies verweigert?52 Vor diesem Hintergrund wäre zu diskutieren, ob Felicitas Hoppes Prosa

49 RODRÍGUEZ MAGDA, 2004. 50 Ebd. 51 „Whereas the industrial society had modern culture and the postindustrial society had postmodern culture as their conceptual twins, a globalized society corresponds to a type of culture that I have referred to for some time as transmodern.“ (ebd.). 52 „Ich wollte mit alten Stoffen arbeiten, aber ich wollte sie eben nicht historisieren, sondern sie in unsere Zeit stellen“ (HOPPE/KÜCHEMANN, 2003).

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möglicherweise als Prototyp transmodernen Erzählens betrachtet werden kann. Aus dieser Perspektive wäre Hoppe als ‚neo-aggregative‘ Autorin der Transmodernität zu bezeichnen, ihre Poetik des ,neo-aggregativen‘ Erzählens eine mögliche Art transmoderner Literatur und die Kohärenzbildung über Erzählbrücken die erzählpragmatische Notwendigkeit, um die Kohärenz für das Textverständnis herzustellen. Die Bezugnahme auf die heutzutage allgegenwärtige Netzstruktur liegt nahe: „The constant presence of flux and connectivity forms an emerging process of totality that, rather than hierarchical or pyramidal, follows a network-like model devoid of clear organization or any hegemonic center.“ 53 Die Erzählbrücken Hoppes, die als autointertextuelle Verweise die einzelnen Texte miteinander nicht nur in Bezug setzen, sondern bedeutungsstiftend miteinander verknüpfen, können als Ausdruck dieser Netzstruktur angesehen werden, ebenso wie jeder einzelne Text ein Netz intratextueller Verbindungsbrücken aufweist, was sich im Falle von Paradiese, Übersee und Johanna am markantesten zeigt. Ein weiteres Merkmal der Transmoderne, das der Gesellschaftstheoretiker Marc Luyckx Ghisi anführt, ist in der Prosa Hoppes zu finden. Luyckx Ghisi weist darauf hin, dass der transmodernen Weltsicht eine Rückbesinnung auf Spiritualität innewohne, die aber nicht auf eine konkrete Religion zu beziehen sei. 54 Folglich wäre zu fragen, ob Hoppes mannigfache Bezüge zum Christentum55 in diesem Kontext zu sehen sind oder ob es sich doch lediglich um kulturgeschichtliche Zitate handelt. Im Hinblick auf die Gesamtentwicklung empfiehlt Rodríguez Magda: „Our mode of thinking should become, just as our social reality, ‚transborder‘, fluid, interconnected and unstable.“56 Es liegt nahe, dass Felicitas Hoppe diesen Schritt getan hat.

F AZIT Ein wesentliches Merkmal der von Literaturkritikern als irritierend wahrgenommenen Struktur von Paradiese, Übersee, die sich auch in anderen Texten von Felicitas Hoppe zeigt, basiert auf der Abkehr von üblichen chronologischen und kausallogi-

53 RODRÍGUEZ MAGDA, 2004. 54 Vgl. LUYCKX, 1999, S. 979. 55 Der Löwe als christliches Symbol ist eine zentrale Figur und stellt sogar den Erzähler im Iwein, weiterhin thematisiert Hoppe in Abenteuer – Was ist das? den Löwen gerade in seiner christlichen Symbolik. Darüber hinaus wird in Paradiese, Übersee mehrfach der Begriff ,Verkündigung‘ verwendet, am Ende kommt es gar zu einer Sintflutsituation, und wiederkehrend wird in verschiedenen Texten Hoppes das Wallfahrtmotiv verwendet. Dies sind nur einzelne Beispiele für die zahlreichen christlichen Bezüge. 56 RODRÍGUEZ MAGDA, 2004.

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schen Ordnungsschemata. Die literaturhistorischen Vorbilder dieses Erzählstils wurden in den Epochen des Mittelalters und der Romantik verortet, wobei die Epoche der Romantik wiederum eine starke Bezogenheit auf das Mittelalter aufweist und in diesem Sinne bei Hoppe als ,doppeltes Mittelalter‘ zu verstehen ist. Betrachtungen zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Hoppes Werk zeigten, dass Paradiese, Übersee und andere Texte Hoppes in hohem Maße eine Inszenierung von Oralität im Medium der Schriftlichkeit aufweisen. Das mündliche Erzählen sowie dessen Verschriftlichung spielt nicht nur auf der Handlungsebene eine zentrale Rolle, sondern bildet die Grundlage für Strukturmuster eines Erzählstils, der Felicitas Hoppe von anderen Autorinnen und Autoren der Gegenwart unterscheidet. Wie sich am Beispiel des Nibelungenliedes und der Artusromane zeigte, gehen Strukturelemente wie Unbestimmtheit, Oberflächenbrüche, Zyklizität, Dopplung und Variation auf ein vormodernes Erzählen zurück und ergänzen strukturell die auf der Inhaltsebene immer wieder aufscheinenden vormodernen Textelemente. Ohne dem Fehlschluss zu erliegen, Hoppe würde vormodernes Erzählen praktizieren, bleibt doch festzustellen, dass sich hier deutliche Parallelen aufzeigen lassen. Weiterhin weist die Epoche der Romantik, neben ihrer Bezogenheit auf das Mittelalter, in ihren Prosaformen Strukturmuster auf, die als Inspirationsquelle für Hoppe gelten können, wie etwa die Verbindung von scheinbar unvereinbaren Textelementen und einem Rückgriff auf verschiedenste Formen des Fantastischen. In ihren poetologischen Texten und in Interviews gibt Hoppe an, dass es Ziel ihrer literarischen Arbeit sei, die Wirklichkeit der Gegenwart darzustellen. Es geht ihr also nicht um eine Wiederbelebung älterer Formen als Selbstzweck, sondern vielmehr um die Nutzbarkeit dieser älteren Formen für eine Literatur, die der Gegenwart in ihrer Komplexität beizukommen versucht. In der hier erfolgten Untersuchung wurde über die gängigen Argumentationen, die sich auf die postmoderne Gesellschaft beziehen, hinaus versucht, das neuere Konzept der Transmoderne der Literatur Hoppes als Gegenwartsdiagnose zugrunde zu legen. Die Transmoderne geht insofern über die Postmoderne hinaus, als dass sie neuere Phänomene und Entwicklungen berücksichtigt, die zwar nicht das in der Postmoderne proklamierte Anything goes infrage stellen, aber von einer sich verändernden Perspektive ausgehen und neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster generieren. Mit ihren Brüchen, Uneindeutigkeiten, fehlenden Kausalitäten und der komplexen RaumZeit-Struktur scheint Hoppe diesem Konzept der Gegenwart unbeabsichtigt nahe zu stehen. Ihr Anspruch, die Wirklichkeit abzubilden, scheint sich somit, losgelöst von gängigen Literaturformen, an virulente gesellschaftstheoretische Überlegungen anzulehnen. Hierzu bieten die älteren literarischen Strukturmuster in ihrer Bezogenheit auf mündliche Überlieferung die adäquate Grundlage, auf die Undurchsichtigkeit der Gegenwart literarisch zu reagieren. Konstitutiv für Hoppes als ‚neoaggregativ‘ bezeichneten Texte ist die Verwendung von ,Erzählbrücken‘, die die

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intratextuellen und autointertextuellen Verbindungen erzeugen und somit zentral für die Sinngenerierung sind.

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,E RZÄHLBRÜCKEN ‘

ALS

E LEMENT , NEO - AGGREGATIVEN ‘ S CHREIBENS

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„Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind?“ Sprünge über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion bei Felicitas Hoppe M ARIA H INZMANN Stellt euch jetzt also die Lichtung vor und auf dieser Lichtung zwei wilde Tiere. Einen prächtigen Löwen und einen schrecklichen Drachen, die bis aufs Blut miteinander kämpfen. Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind? Vielleicht habt ihr sogar neulich einen gesehen? Aber ich rede hier nicht von Löwen im Zoo oder im Zirkus, die auf kleinen Hockern sitzen und gähnen, um ihre Zähne zu zeigen, und wenn der Dompteur mit der Peitsche knallt, dann springen sie manchmal durch brennende Reifen. Das sind keine Löwen, das sind große Katzen, die nur so tun, als ob sie Könige wären. (IWEIN, S. 10F., HVHBG. M. H.)

Gleich auf der zweiten Seite von Felicitas Hoppes sogenanntem ,Kinderbuch‘1 Iwein Löwenritter (2008) betont der Erzähler, dass er nicht von Löwen im Zoo oder Zirkus spricht. Gezähmten Zirkus- und Zoo-Löwen begegnen wir jedoch in der Prosaskizze Safari. John Hagenbeck (1866-1940). Das Porträt John Hagenbecks aus dem Erzählungsband Verbrecher und Versager (2004) zeichnet das Bild einer „unumstößlich große[n] Familie“ bestehend aus „Händler[n], Spediteure[n] und

1

Die verlagsseitig notwendige Unterscheidung von Kinder- und Erwachsenenliteratur hat Hoppe selbst mehrfach kritisiert, vgl. dazu auch den Beitrag von Lena Ekelund in diesem Band.

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Schmuggler[n], Kapitäne[n], Spione[n] und Präparatoren, Dompteure[n] vom Zirkus und Zoodirektoren. Ausrichter[n] riesiger Völkerschauen, eine[r] Firma gestopft mit Menschen und Tieren“ (Verbrecher, S. 108f., Hvhbg. M. H.). Neben die domestizierten Löwen tritt in diesem Kontext der getötete Löwe: „Genau wie das Bild des Onkels, der Schnurrbart, sein Tiger, der Helm, das Gewehr, der Fuß auf dem Fell des erlegten Löwen“ (ebd., S. 104). Während in Iwein Löwenritter Zoo und Zirkus also ex negativo aufgerufen werden, sind die Löwen in Safari eng damit verknüpft. Die Verbindung ‚Zoo-Zirkus-Dompteur-Peitsche‘ führt die Löwen beider Texte dialogisch zusammen und zugleich über sie hinaus, denn die verunsichernde Frage des Erzählers in Iwein Löwenritter lässt sich tatsächlich nicht ohne Weiteres textimmanent beantworten. Die hier ausschnitthaft eingefangenen Löwen beider Texte entspringen einer spezifischen Verweisstruktur der Hoppe’schen Poetik, durch die Sinnbildungsprozesse auf dynamische Weise unabschließbar werden. Damit verbundene, verschiedenartige Wiederholungsstrukturen bedingen auf paradoxe Weise Kohärenz und wirken ihr zugleich entgegen. Diese Bewegungen dynamischer, nicht fixierbarer Bedeutungskonstitution forderten bisher in verschiedenen Perspektivierungen die Hoppe-Forschung heraus und prägen mithin auffällig die Terminologie einer ‚Reund De-Dynamik‘: So entscheidet sich Holdenried für den Begriff der „Derealisierungsstrategien“2, Güsken wählt mit Bezug auf Deleuze/Guattari die De- und Reterritorialisierung3, Gutjahr hingegen die Re- und Deinszenierung4. Die Hoppe’sche Poetik lässt sich somit als eine spezielle Verweis- und Zitationspraxis auffassen, welche in ihrer Komplexität die Suche nach einem geeigneten Beschreibungsinstrumentarium geradezu herauszufordern scheint. Zum Teil lässt sich dieses Verweissystem mittels intertextualitätstheoretischer Terminologie charakterisieren: Hoppes Werk entwirft demnach ein vielschichtiges Verweissystem, wobei die intertextuelle Dimension einerseits über die jeweiligen Texte hinausweist, zugleich aber in Form autointertextueller Verknüpfung verschiedener Hoppe-Texte und intratextueller Binnenechos auf bemerkenswerte Weise Bedeutung konstruiert und zugleich dekonstruiert.5 Was sich jedoch darüber nicht erfassen

2

HOLDENRIED, 2008, S. 126.

3

Vgl. GÜSKEN, 2012, besonders S. 16-20.

4

Vgl. GUTJAHR, 2009, S. 265.

5

Wenn hier von intratextuellen Bezügen die Rede ist, so sind (variierende) Wiederholungen innerhalb eines Textes gemeint. Unter autointertextuellen Verweisen werden dem literaturwissenschaftlich konventionalisierten Gebrauch entsprechend (vgl. zum Beispiel PFISTER, 1994, S. 321) jene verstanden, die Verknüpfungen zwischen verschiedenen Texten Hoppes entstehen lassen. Wenn hier von autointertextuellen Verweisen die Rede ist, bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass diese klar ein- oder abzugrenzen wären

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lässt, ist nicht zuletzt die Art und Weise, wie verschiedene Ebenen von frappierend unterschiedlichen Abstraktionsgraden über das Prinzip der ‚variierenden Wiederholung‘ miteinander verknüpft sind. Ausgangspunkt der folgenden Argumentation ist die Beobachtung, dass die Spezifik dieser Poetik stärker als bisher erfasst, von kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, die jeweils komplex miteinander verknüpft sind und zugleich weit über sich hinausweisen, getragen wird. In Hoppes Texten, so die Annahme, ist das Wechselspiel zwischen Sinn- beziehungsweise Kohärenzbildung und -störung sowie der Zusammenhang intratextueller, autointertextueller und intertextueller Verweise auf spezifische Weise an Überlappungen semantischer Felder gebunden – eine Spezifik, die weiterer Untersuchung bedarf. Im Anschluss an eine durch diesen Rahmen perspektivierte Lektüre von Safari im ersten und Iwein Löwenritter im zweiten, möchte ich im dritten Teil Überlegungen zur Interdependenz von semantischen Feldern und intertextuellem Verweissystem beziehungsweise Zitaten in ‚variierenden Wiederholungen‘ darlegen. Im vierten Teil werde ich dies im Hinblick auf folgende vier Fragen weiterführen: erstens, wie mittels gezielter Überlagerung semantischer Felder Ambivalenz und Kohärenz hergestellt werden, zweitens, wie Ordnungen entstehen und gestört werden, drittens, wie kleinere mit größeren Bedeutungseinheiten und -ebenen korrelieren und, viertens, wie Konventionalisiertes aufgerufen wird, um es zu durchkreuzen und anschlussfähig für neue Verknüpfungen zu machen. Diese Relationen zwischen semantischen Feldern werden im Folgenden exemplarisch anhand des Löwen nachvollzogen, dessen Status unklar ist und der sich Fixierungen immer wieder entzieht. Der Löwe steht nämlich auf der Schnittfläche divergierender semantischer Felder. Die zugrunde liegende Annahme ist dabei, dass sich das, was im Folgenden beispielhaft am Löwen gezeigt wird, auch an anderen Überlappungsbereichen semantischer Felder nachvollziehen ließe. Dass die Überlagerungsdichte um den Löwen besonders hoch ist, verdient Aufmerksamkeit. Es gibt wohl kaum ein Tier, dass kulturgeschichtlich stärker aufgeladen ist und ein derart

von anderen Formen intertextueller Verweise und auch nicht von intratextuellen Echos. Beides würde einem weiter gefassten Intertextualitätsbegriff zuwiderlaufen. Dass die Grenze zwischen ‚intratextuellen‘ und ‚autointertextuellen Verweisen‘ keineswegs eindeutig zu ziehen ist, zeigt sich darüber hinaus im Band Verbrecher und Versager auf besondere Weise. Der Text Safari ist eine Erzählung innerhalb dieses Erzählzyklus und steht in Relation zu anderen Porträts: Ob man die Verweise zwischen den einzelnen Porträts nun als intratextuell (also den gesamten Band als Text ansetzend) oder als autointertextuell (die einzelnen Porträts als jeweils abgeschlossene Texte betrachtend) auffasst, ist im Rahmen der hier verfolgten Argumentation nicht relevant.

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weites Repertoire an Konventionalisierungsformen repräsentiert:6 Er kann in seiner Zeichenhaftigkeit auf vielfältige Weise funktionieren, Kohärenz stiften und untergraben, ja in ganz verschiedener Hinsicht (un-)verständlich sein.7 Als ambivalentes Tier changiert er nicht zuletzt zwischen Mut, Stärke und Treue einerseits sowie wilder, bedrohlicher und ungezähmter Macht andererseits. Die Löwen in Hoppes Werk haben das Potenzial zu alldem und lassen sich damit nirgends in vereindeutigender Sinnbildung bannen. Genau darin könnte die Faszination der komplexen Gruppierung semantischer Felder rund um den Löwen in Hoppes Werk liegen – nämlich darin, dass wir ihn in keiner Lektüre – sei es als Figur, als Erzähler, als Motiv, Symbol, Allegorie, Metapher oder Chiffre – endgültig fixieren können.

1. S AFARI . J OHN H AGENBECK (1866-1940) (2004) Noch einmal zurück zur großen Familie in Safari. Sie besteht aus Dompteuren, Zoodirektoren und Ausrichtern riesiger Völkerschauen, doch die Mutter des erzählenden Ichs kann alldem nichts abgewinnen: Im Zirkus bin ich nur heimlich gewesen, denn der Zirkus ist meiner Mutter verhasst, und mit dem Zirkus der ganze Rest. Sie verabscheut die maßlose Übertreibung, dieses grausame Spiel mit der Unwirklichkeit, genau wie den Jahrmarkt, den Zoo und die Filme, das Kino als Welt und die Welt als Theater, wo man im Schutz der Dunkelheit Märchen auftischt und Jungfrauen zersägt [.] (Verbrecher, S. 105; Hvhbg. M. H.)

An mehreren Stellen in Safari werden Zirkus und Zoo sowie Völkerschauen, Theater und Kino enggeführt. Der Schritt vom Zoo zur Völkerschau entspricht einem

6

Er ist das wohl meistverbreitete und zugleich das ambivalenteste Tiersymbol mit den längsten Einträgen in jedem Symbollexikon, ist fester Bestandteil der europäischen und außereuropäischen Mythologie, er taucht in Märchen und insbesondere Fabeln ebenso auf wie in mittelalterlichen Bestiarien. Unter den heraldischen Tieren ist er einer der Favoriten, er ist religiöse Allegorie und zugleich Teil der aristotelischen Ur-Metapher (beziehungsweise des „Musterbeispiel[s] ‚Achill ist ein Löwe‘“ [ZYMNER, 2003, S. 150]).

7

Vgl. hierzu BUSSE, 2012, S. 798: „Für jede Handlung des ‚Interpretierens‘, ‚Deutens‘ ist es gerade charakteristisch, dass sie nur dann unternommen wird, wenn sich das Verstehen gerade nicht eingestellt hat.“ sowie ZYMNER, 2003, S. 146: „So variantenreich metaphorische Bedeutungskonstitution auch ist, so sehr bleibt die Appellstruktur der Uneigentlichkeit in jedem Fall gewahrt: Initialsignal, Transfersignal und Richtungsänderung der Kohärenzbildung.“

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Schritt von der Herrschaft des Menschen über Tiere zur Herrschaft des Menschen über Tiere und Menschen. Diese Bewegung hallt mehrmals im Text nach: Denn wer die Tiere beherrscht, beherrscht auch die Menschen, Somalineger und Eskimos, die mit Pferden und Straußen um die Wette laufen, in Hamburg, in Budapest oder in Wien, überall, wo man sie sehen will, überall, wo man dafür bezahlt. (ebd., S. 114, Hvhbg. M. H.)

Die Herrschaft über das Beobachtungsobjekt bedingt bei den hier beschriebenen Völkerschauen, dass sich die Tier-Mensch-Grenze auf beunruhigende Weise auflöst und durchlässig wird. Ein weiteres Echo dieser instabilen Trennlinie finden wir an folgender Stelle in Form einer ‚Körperverwaltung‘ sowie in der Ungewissheit, wer am Ende Subjekt, wer Objekt der Jagd ist: Lauter Männer in weißen Kitteln, Präparatoren und Ärzte, die Skelette mit frischen Fellen beziehen, die Körper verwalten [...]. Die ganze Tierwelt wird sorgsam vermessen, zerlegt, zerschnitten, zerteilt und verschoben, von vorne vernäht und rekonstruiert, Schneider des Urwalds von neun bis um fünf, die alle Tiere von vorne erschaffen, bis sie wieder zum Leben erwachen, als könnten sie wieder schwimmen und fliegen, als wären sie wieder zuhause auf der Jagd. (ebd., S. 110, Hvhbg. M. H.)

Durch temporale („von neun bis fünf“) und geografische („Urwald“ sowie „in Hamburg, in Budapest oder in Wien“) Wendungen erhält die Vermessung der Tierkörper eine koloniale Konnotation, an die sich über das Messerwerfen auch gleich die auf den Körper abzielende Domestizierung von Menschen anschließt: Doch in Europa hält man sich fest an Zeiten. Messer wirft man von neun bis fünf, danach ist Messerwerfen verboten, genau wie das Trinken von Alkohol. Das alles steht deutlich im Vertrag, und wer nach fünf noch ein Messer wirft, aus Überdruss oder aus reiner Verzweiflung, bekommt sofort die Peitsche zu spüren. (ebd., S. 116, Hvhbg. M. H.)

Von der Objektivierung der Tierkörper wird auf die Dressur des Menschen weiter verwiesen. Während hier das zeitliche Diktum regiert, ist die Peitsche als Requisit des Dompteurs Onkel John allerdings in auffälliger Weise abwesend. Sein Gefahrenbändigungsinstrument ist ein ganz anderes: „Hier läuft der Panther und da Onkel John, mein erster Dompteur und Arenenbeherrscher, den Rohrstock im Rücken“ (ebd., S. 114). Und an anderer Stelle: „Unser allererster Arenenbeherrscher. Er kennt die Tiere, und sie kennen ihn, und sie kennen den Rohrstock im Rücken genau, mit dem man die größte Gefahr dirigiert.“ (ebd., S. 130). Dass durch den Rohrstock die Zähmung der Löwen verschränkt wird mit der Disziplinierung des Menschen, ist evident. Doch dort, wo man eigentlich Gefahren begegnen kann, bleibt der Zirkus-Löwe abwesend: „Die Tropen! [...] Hier hausen

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die Seehunde, nicht in Tonnen, keines der Tiere hört hier auf Namen, kein Löwe, der hier durch Reifen steigt.“ (ebd., S. 112, Hvhbg. M. H.).8 Während im Gefahrenraum des Urwalds der Zirkuslöwe also abwesend ist, tritt Onkel John als Gefahrendirigent dort auf, wo die Zähmung bereits erfolgt ist, nämlich im Zirkus. Dabei muss offen bleiben, wer eigentlich der ‚König der Tiere‘ ist: Für mich bleibt [!] der König der Tiere, der Arenenbeherrscher, mein erster Dompteur, mit nichts als einem Rohrstock im Rücken, mit dem er die große Gefahr dirigiert. Und der Löwe kniet hin und legt sich nieder, dann erhebt er sich wieder und springt auf den Hocker, reißt das Maul weit auf und wartet und gähnt. Woher der Befehl kommt, bleibt ein Geheimnis, er springt durch den Reifen zurück auf den Hocker, gähnt wieder und zeigt dabei alle Zähne, bis das Maul vom Gähnen weit offen steht, damit der Kopf des Onkels dort Platz finden kann. (ebd., S. 104f.)

Es eröffnen sich dadurch, dass der Satz nun nicht heißt ,Für mich bleibt er der König der Tiere‘, sondern auf das ,er‘ und damit die klare Markierung als ,König über die Tiere‘ verzichtet wird, zwei Lesarten: In der ersten, nämlich derjenigen des ,Königs der Tiere‘ als genitivus obiectivus, also als ‚König über die Tiere‘ steht der Onkel als Herrscher in Opposition zu Prinz Dido aus Didotown, von dem es heißt „so stellt man sich fremde Könige vor [...] mit Lendenschurz, Jäckchen und grauem Zylinder“ (ebd., S. 117). In der zweiten Lesart, nämlich derjenigen als genitivus subiectivus, sind wir beim Löwen, der zu Beginn des nächsten Absatzes als solcher benannt wird. Im Maul des ‚Königs der Tiere 2‘ (Löwe) verschwindet dort – nur potenziell – der Kopf des ‚Königs der Tiere 1‘ (Dompteur). Es bleibt also unentschieden, wer die Herrscherposition innehat.

8

Abermals wird hier implizit eine Erwartung aufgerufen, indem sie ex negativo durchkreuzt wird, nämlich die Verknüpfung des ‚exotischen Gefahrenraums‘ Dschungel mit dem Löwen. Der Löwe ist dabei nicht nur als abwesender Zirkuslöwe präsent, sondern auch als abwesender, allerdings durch den Seehund aufgerufener Seelöwe – eine Opposition, die mehrfach wiederkehrt (vgl. Verbrecher, S. 109 und S. 112). Die Assoziation des Gefahrenraums Dschungel beziehungsweise Urwald mit dem Löwen ist an anderen Stellen im Text – und zwar als Frage – präsent, so zum Beispiel „Kennt ihr den Urwald mit seinen vielen Gefahren?“ (ebd., S. 122; vgl. auch S. 111f.). Genau diese Frage weist jedoch auch über Safari hinaus auf einen ihrer ersten, noch unveröffentlichten Texte, zu dem sie sich in einem Interview mit Christof Hamann geäußert hat: „Ich hab mit sieben Jahren einen, wie ich es nannte, Roman mit dem Titel ‚Roy Tiger‘ geschrieben, der mit dem Satz beginnt: ‚Kennt ihr den Urwald mit seinen vielen Gefahren? Dort leben Tiger, Affen und Löwen, dort lebte auch einst Roy Tiger.“ (HOPPE/HAMANN, 2009, S. 228f.).

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Der Löwe steht in Safari jedoch nicht nur in Opposition zum Dompteur, sondern auch in deutlicher Opposition zum Tiger 9 – gestaltet in Form von ‚variierenden Wiederholungen‘. Damit sind neben den Herrschafts- und Machtverhältnissen zwischen Mensch und Tier auch die Bildräume der politischen Zoologie 10 aufgerufen. Die Natur mit politischen Kategorien zu beschreiben oder umgekehrt aus der Natur heraus politische Metaphern zu gewinnen, ist kein Privileg der Poesie, sondern auch in der Naturkunde ein gängiges Verfahren.11 Die Charakterisierung des Löwen hängt jeweils davon ab, zu welchen Tieren er ins Verhältnis gesetzt wird:12 Georges-Louis Leclerc de Buffon verbindet in seiner Histoire Naturelle (1749-

9

Vgl. hierzu Verbrecher, S. 104, S. 107, S. 111 sowie S. 119.

10 Roland Borgards hat im Rahmen einer politischen Zoologie den Zusammenhang zwischen Poetik und Politik des Löwen im Verhältnis zu anderen Tieren im 18. Jahrhundert untersucht und unterstreicht, dass der Löwe in den Bildräumen dieser Zeit weiterhin präsent ist, obwohl Thomas Hobbes (1588-1679) in seiner Begründungslogik der Souveränität das exotische Tier durch den heimischen Wolf ersetzt (vgl. BORGARDS, 2012, S. 149f.). Dabei ist bereits bei Buffon (1707-1788) die Mensch-Löwen-Beziehung kolonial grundiert (vgl. ebd., S. 168). Während Buffon letztlich die Absolutheit der anthropologischen Differenz herausstreicht, ist diese durch die Völkerschauen zum Verschwinden verdammt. So liest Michaela Holdenried die Löwenbewegung in Safari als eine vom „müde gähnenden Zirkuslöwen zur wilden Bestie [...] von einem intratextuellen Symbol zum Platzhalter eines kolonialen Subtextes, über den sich ganze Felder einer postkolonialen Lektüre eröffnen“ (HOLDENRIED, 2008, S. 127). Dies lässt sich an den Darwinismus binden (vgl. ebd., S. 126f.), aber ebenso an eine politische Zoologie des Löwen – eine Richtung, die wohl insbesondere in der ‚Löwen-Tiger‘-Opposition angelegt ist und allgemeiner in der „Gleichsetzung von Mensch und Tier im kolonialen Kontext“ (ebd., S. 126). 11 Vgl. BORGARDS, 2012, S. 164, sowie Zymners Plädoyer gegen eine „Verwechslung von Uneigentlichkeit und Literarizität beziehungsweise Uneigentlichkeit und Polyvalenz beziehungsweise Uneigentlichkeit und Fiktionalität oder allem zusammen“ (ZYMNER, 2003, S. 129). Er macht die wichtige Unterscheidung: „Uneigentliche Bedeutung konstituiert sich nämlich als semantische Designationskonstellation, Fiktionalität hingegen hat etwas mit Referentialisierbarkeit zu tun“ (ebd., S. 150). Der Löwe als eines der zentralen Tiere einer politischen Zoologie bewegt sich – wie viele andere Tiere, jedoch in besonderem Maße – zwischen Fiktionalität und Faktualität, ist sowohl Teil der Naturgeschichte als auch einer politischen Bildsprache, wobei beide – Uneigentlichkeit sowie Fiktionalität – eben als keineswegs kongruent aufzufassen sind. 12 Das trifft ebenso für Buffons wie für Hoppes Texte zu. Vgl. hierzu BORGARDS, 2012, S. 175, sowie neben der ‚Tiger‘-Opposition auch die Variationen der ‚Löwe-SeelöweSeehund‘-Konstellation bei Hoppe (vgl. Verbrecher, S. 109, S. 112).

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1788) mit der Opposition ‚Löwe-Tiger‘ zwei gegensätzliche Herrschaftsformen, nämlich die des Königs und die des Tyrannen. 13 Die Opposition zum Tiger ist bei Buffon tragend, der Löwe verkörpert „die Macht des Souveräns in ihrer reinen Potentialität: groß, gutmütig, ruhig. Geschärft wird dieses Profil durch das Gegenbild des Tigers. Auch dieser ist ein Herrscher, doch zeigt sich in ihm nur die ausagierte Gewalt in ihrer kruden Aktualität.“14 Genau diese Denkfigur des ‚Modus der Potenzialität‘15 ist in Safari durch die variierte16 Szene des ‚offenen Mauls‘ gestaltet. Im ‚Modus der Potenzialität‘ des gähnenden Löwen (in Opposition zum abwesenden Tiger) und der ‚Rohrstock-Zähmung‘ Onkel Johns überlagern sich Herrschafts- beziehungsweise Machtformen,17 sodass am Ende keiner mehr weiß, wer oder was der oder ein König ist.

2. I WEIN L ÖWENRITTER (2008) An anderer Stelle, nämlich in Iwein Löwenritter, wird der Löwe vom Erzähler permanent als ‚König der Tiere‘ bezeichnet. Dieser Erzähler aber ist selbst ein Löwe, doch gibt er sich zunächst nicht als solcher zu erkennen, sondern spricht von sich in der dritten Person: Hier kämpft der Löwe, der König der Tiere, gegen den grausamen Immerwalddrachen. Das ist der schrecklichste Drache von allen. Sein Atem ist Feuer, seine Zunge eine Peitsche, seine Beine sind Säulen, sein Schritt dröhnt wie Trommeln, und sein Leib ist ein Panzer aus Schuppen und Schlamm. (Iwein, S. 132, Hvhbg. M. H.)

13 Vgl. BORGARDS, 2012, S. 163. 14 Ebd. 15 Der Schrecken, den das Königstier verbreitet, entsteht in dieser Denkfigur nicht, weil der Löwe beziehungsweise der Souverän etwas tut, sondern weil er etwas tun könnte: Souveränität gründet auf der Potenzialität, nicht auf der Aktualität von Gewalt (vgl. ebd., S. 159f. und S. 163). Am Beispiel des ‚Modus der Potenzialität‘ lässt sich betonen, wie weitreichende Denkfiguren beziehungsweise diskursgeschichtliche Zusammenhänge mit kleinsten grammatikalischen und semantischen Variationen (unter anderem in Form des Konjunktivs) korrelieren. 16 Vgl. hierzu Verbrecher, S. 104 und S. 130. 17 Dass ausgerechnet der Löwe mit dem ‚Rohrstock‘ ‚dirigiert‘ wird, ist wohl kein Zufall: Er wird bei Buffon zum „Paradigma der Domestizierung“ (BORGARDS, 2012, S. 169) – gerade der Löwe kann (die Macht des Menschen anzeigend) als stärkstes und wildestes aller Tiere genau dazu werden (vgl. ebd., S. 169).

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Die hier erneut evozierte Verbindung ‚Löwe-Peitsche‘, die in Safari bemerkenswert abwesend ist, tritt in Iwein Löwenritter hingegen häufig auf.18 Die Konstellation aus ‚Löwe‘, ‚König der Tiere‘ und ‚Peitsche‘ führt uns aus Iwein Löwenritter heraus und zu anderen Hoppe-Löwen, insbesondere zu jenen in Safari. Und sie führt uns über Hartmanns Löwenritter19 zu demjenigen Chrétiens20 und weiter zu einer langen Tradition entsprechender Symboldeutungsversuche, mit denen der Hoppe-Löwe in einen Dialog tritt.21 Die Frage ist nun aber, auf welche Weise diese in Hoppes Adaption der Adaption mitschwingen. Ist der Löwe im Allgemeinen kulturgeschichtlich vielfältig aufgeladen, so ist es jener (als ein) in dieser Traditions- und Adaptionslinie stehende im Besonderen. Konventionalisierte Bedeutungen des Löwensymbols sind dabei durchaus präsent, werden jedoch auch immer wieder destabilisiert. Das spezifische Verweissystem in Hoppes Texten spielt in diesen Destabilisierungsprozessen insofern eine Rolle, als es symboldeutende Fixierung nämlich gerade deshalb unmög-

18 Vgl. Iwein, S. 148, S. 186-188 et passim: Vor allem in Bezug auf den ‚König der Tiere‘ und dessen sowie Iweins Feinde sind Peitschen von außerordentlicher Präsenz: Die Gegner Iweins tragen Peitschen oder sind sogar wie im Falle des Peitschenmannes nach diesem Instrument benannt. Eine Verbindung von Zwerg und Peitsche (im Mittelhochdeutschen ,geisel‘) findet sich zwar auch bei Hartmann von Aue (1160-1210), allerdings nicht im Iwein (um 1200), sondern im Erec (um 1190), wo sie deutlich seltener auftritt. Die Peitsche ist das Beispiel eines Versatzstückes, dass intertextuell aufgegriffen und dann durch ‚variierende Wiederholungen‘ ausgestaltet wird. 19 Vgl. zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Hartmanns Iwein und Hoppes Adaption die Untersuchung von Benz, die Hoppes Text als „moderne Anverwandlung eines mittelalterlichen Stoffes“ (BENZ, 2012, S. 138) liest. 20 Ertzdorff betont, dass „Hartmann seine Vorlage behutsam umformt, indem er die Beziehung zwischen Mensch und Löwe anders akzentuiert als Chrétien“ (ERTZDORFF, 1994, S. 287). Diese Beziehung stellt in Hoppes Hartmann-Adaption abermals eine zentrale Umakzentuierung dar. 21 Bereits Yvains Löwe trägt allerlei, auch Widersprüchliches, mit sich, „forderte – wie die Fülle von veritablen Decodierungsversuchen zeigt – die Philologen, die zuweilen einem wahren Löwensymbolrausch erliegen, […] heraus“ (RIEGER, 1994, S. 256f.), wurde unter anderem etwa als Symbol für Chrétiens Ideal einer liebenden, loyalen Gattin, als astrologisches Symbol, als Symbol der Kraft, der Macht und der Herrschaft gelesen (ebd., S. 257-270). Dieses Potenzial vielfältiger Decodierungsmöglichkeiten setzt sich in den Adaptionen fort und wird durch diese erweitert.

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lich macht, weil in der dynamischen Überlagerung semantischer Felder eine klare Zuordnung gezielt unterlaufen wird.22 Neben dem Dialog mit den Prätexten ist nicht zuletzt die Erzählposition des Löwen relevant. Erst am Ende von Iwein Löwenritter wird klar, dass der Löwe zugleich auch der Erzähler ist, er spricht vorher an keiner Stelle von sich als ‚ich‘. Wenn zuvor ein Erzähler-Ich auftaucht, das Authentizität beansprucht, dann ist es keineswegs dem Löwen zuzuordnen.23 Ganz am Ende seiner Erzählung gibt er sich jedoch zu erkennen: Als der König der Tiere auf der Schwelle nach draußen stand, küsste Lunete ihm zum Abschied die herrliche Mähne. Und zur Erinnerung band sie ihm fünf Bänder hinein: Zwei blaue, ein weißes, ein grünes, ein rotes. Das weiß ich genau. Und ich weiß auch, dass Lunete noch sehr lange winkte, als sie da oben am Burgtor stand, ich habe mich nämlich umgedreht. Denn der Löwe auf dem Burgweg bin ich. Und ich liebe Geschichten. Besonders nach einem gewonnenen Kampf oder nach einem guten Essen. Und so gut wie ich erzählt sie euch keiner. Ich war schließlich dabei. (Iwein, S. 249f., Hvhbg. M. H.)

Im performativen Akt der Narration verliert der Löwe seinen Symbolcharakter und grenzt sich von seinen Vorgängern ab.24 ‚Erzählendes‘ und ‚erzähltes‘ beziehungs-

22 Zum Erzählverfahren der Destabilisierung strukturbildender Elemente vgl. auch den Beitrag von Sonja Arnold im vorliegenden Band. 23 Vgl. hierzu zum Beispiel Iwein, S. 25, S. 36, S. 117, S. 215. Die Authentisierung des Erzähler-Ichs ist paradox; der Erzähler betont an einigen Stellen, dabei gewesen zu sein, spricht aber – davon losgelöst – bis zum Ende von sich als Löwenfigur in der dritten Person: „Seinen [Iweins] Kopf legte er in den Nacken des Löwen, dahin, wo es ihm am bequemsten war [...]. Wenn ihr wüsstet, wie schön das ist, nach einem gemeinsamen gewonnenen Kampf im Halbschlaf [...]. So lagen sie da und schliefen traumlos und lange.“ (ebd., S. 134f.). 24 Benz verweist auf diesen zentralen Unterschied zu Hartmann und liest die Verschmelzung von Erzähler und Figur als „weitere Straffungsmaßnahme“ (BENZ, 2012, S. 140) neben anderen, deren Funktion sie in einer „für ein jugendliches Publikum besser zugänglichen Darstellung“ (ebd.) sieht, was sicherlich zu kurz greift und außer Acht lässt, dass diese figurale Verschmelzungen und die damit einhergehende Identitätsverschleierungen die Texte Hoppes maßgeblich prägen (vgl. hierzu auch den Begriff der ‚Spektralfiguren‘ von FRANK, 2015, S. 50f.). In Iwein Löwenritter lassen sich diese als ein „Versuch“ lesen, „die Hierarchien zwischen dem Erzähler und ‚seiner‘ Figur aufzubrechen“ (HOPPE/ HAMANN, 2009, S. 231).

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weise ‚erlebendes Ich‘ fallen erst auf der letzten Seite zusammen. 25 Wenn wir Prätexte einbeziehen und Iwein Löwenritter auf die Gestaltung der Freundschaft hin lesen oder wenn wir programmatische Äußerungen aus Hoppes Göttinger Poetikvorlesung Abenteuer – Was ist das? (2010)26 als Leitfäden der Lektüre wählen, dann sind bereits zuvor Hinweise auf die Identität des Erzählers auszumachen – allerdings keine eindeutigen. Unsere Gewissheiten in Bezug auf ‚den Löwen‘ stellt Hoppes (Löwen-)Erzähler nicht zuletzt dadurch infrage, dass er uns lange Zeit seine Identität verschleiert und erst am Ende offenbart: „Denn der Löwe auf dem Burgweg bin ich.“27

3. S EMANTISCHE F ELDER – Z ITATE – ‚ VARIIERENDE W IEDERHOLUNGEN ‘ Dass die hier zur Beschreibung des Verknüpfungssystems in Hoppes Texten vorgeschlagene ‚Feld‘-Terminologie selbst metaphorisch ist, hat schon der als Begründer der Wortfeldtheorie geltende Jost Trier (1894-1970) konzediert.28 Bereits in den Anfängen der ‚Feld‘-Diskussion sind Unklarheiten und Revisionen zu verzeichnen – die Mehrdeutigkeit des linguistischen Begriffs hat sich bis heute gehalten. 29 Das

25 Die dem vorausgehende Entkoppelung und Unklarheit, was das Verhältnis von Löwenfigur und Erzähler angeht, lässt sich als ein Versuch lesen, die Möglichkeiten des Sprechens der Grenze von 1. und 3. Person beziehungsweise an der Grenze von biografischer und autobiografischer Rede zu gestalten. Dass dies ein zentraler Aspekt in Hoppes Werk – und zwar nicht erst mit der ‚Autofiktion‘ Hoppe – ist, wurde bereits mehrfach diskutiert. Dass er auch im sogenannten ‚Kinderbuch‘ Iwein Löwenritter präsent ist, kann eine textvergleichende, ausschließlich die Adaptionslinie fokussierende Analyse leicht übersehen. 26 Vgl. hierzu besonders Abenteuer, S. 49 sowie S. 51f.: „Bei Hoppe ist es der Löwe selbst, der uns Iweins Geschichte erzählt. So hat er, im Gegensatz zu der Rolle, die Hartmann ihm zuweist, eine doppelte Präsenz in der Geschichte. Er ist von Anfang an mit dabei, indem er erzählt.“ 27 Zugleich verweist dieser Satz auf den letzten Satz in Paradiese, Übersee: „DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS ICH“ (Paradiese, S. 186). 28 TRIER, 1973b, S. 195. 29 Vgl. hierzu zum Beispiel HERBERMANN, 1995, S. 286: „Denn es gibt nicht, wie oft leichthin unterstellt, so etwas wie den linguistischen Feldbegriff oder den Wortfeldbegriff und entsprechend eigentlich auch nicht die Wortfeldtheorie, sondern nur eine Vielzahl von z. T. sehr unterschiedlichen Konzepten und Konzeptionen, die alle denselben Ausdruck ‚Feld‘ okkupieren.“

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Augenmerk liegt von Beginn an auf den Interdependenzen von Lexemen, wobei sich die Metaphorik des ‚Feldes‘ auffällig mit derjenigen des ‚Netzes‘ überlagert. 30 Die hier schon von Trier verwendete ‚Netz‘-Metapher taucht in den 1970er Jahren als ‚semantisches Netz‘ wieder auf und spielt seitdem in informationstechnologischen und vor allem in kognitionswissenschaftlichen Annäherungen eine Rolle, im Rahmen derer auch der ‚Frame‘-Begriff fruchtbar gemacht wird.31 So komplex und vielschichtig diese Forschungsgeschichte auch sein mag,32 so lassen sich doch Analogien im Hinblick auf die Untersuchungsgegenstände und Erkenntnisinteressen beobachten.33 Diese lassen sich vor allem in Bezug auf Relationen bedeutungskonstituierender Einheiten ‚natürlicher Sprache‘ oder eben sehr allgemein im Zusammenhang von Denken (beziehungsweise Wissen) und Sprache ausmachen.34 Eine tragende Idee besteht darin, dass die „Bedeutungen von Lexemen, da sie in unserem mentalen Lexikon nicht isoliert, sondern vernetzt abgespeichert sind, [...] in vielfältigen Beziehungen zu den Bedeutungen anderer Lexeme“ 35 stehen. In der linguistischen Semantik sowie in der Semiotik sind im Versuch, die semantischen Relationen zu theoretisieren, semantische Merkmale 36 sowie sich daraus ergebende (keineswegs immer neue)37 Hierarchien von zentraler Bedeutung, die

30 Vgl. TRIER, 1973a, S. 41, sowie TRIER, 1973b, S. 190. 31 Vgl. hierzu besonders das einschlägige Kompendium zur ‚Frame-Semantik‘ (BUSSE, 2012) sowie CLARKE/NERLICH, 2000. Vgl. auch JAHR, 1994, S. 400. 32 TÓTH, 2004, S. 93. Vgl. hierzu auch JAHR, 1994, bes. S. 399. 33 Vgl. hierzu zum Beispiel HERBERMANN, 1995, S. 287, sowie ausführlicher zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Konzepte des ‚semantic field‘ und des ‚semantic frame‘ CLARKE/NERLICH, 2000. 34 Vgl. hierzu CLARKE/NERLICH, 2000, S. 128: „Traditional field semantics took its main theoretical inspirations from post-Humboldtian and neo-Humboldtian studies of the interrelation between language and thought“. Clarke und Nerlich betonen abseits disziplinärer Kämpfe „features that mark the relationship between lexical fields and conceptual frames“ (ebd., S. 131). Den Zusammenhang zwischen semantischen Feldern, Denken und Sprache umschreibt auch Umberto Eco als die „Frage, ob die Form der Kommunikationssysteme die Weltanschauung einer bestimmten Kultur determiniert.“ (ECO, 1972, S. 93). 35 TÓTH, 2004, S. 97. 36 Vgl. zur lexikalischen Semantik und zum Konstrukt ,lexikalische Bedeutung‘ BUSSE, 2009, S. 94-101, sowie zu den semantischen Relationen ebd., S. 102-108. 37 So bemerkt Herbermann zu Coserius’ Unterscheidung zwischen Sem und Archilexem, dass dieses Modell „nichts anderes als eine in strukturalistische Terminologie gekleidete Fortsetzung der [...] Definitionslehre zwischen ‚genus proximum‘ und ‚differentia specifica‘“ (HERBERMANN, 1995, S. 281) sei.

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mit Blick auf Hoppes Texte wenig Relevanz besitzen und auch in der Auffassung der Frame-Semantik von Bedeutungsrelationen als Wissensrelationen eine geringere Rolle spielen.38 Als gemeinsame Basis stellen sich die das Feld organisierenden Ähnlichkeitsund Kontrastbeziehungen dar,39 wobei nicht immer klar ist, auf welcher Ebene sich diese bewegen, ganz basal, ob sie sich auf (Gruppen von) Signifikaten oder Signifikanten beziehen.40 Dabei herrscht – trotz einiger Einengungsversuche – weitgehend die Auffassung, dass die Beziehungen sowohl paradigmatisch (zum Beispiel ‚Löwe‘ – ‚Tiger‘) als auch syntagmatisch (zum Beispiel ‚Löwe‘ – ‚brüllen‘) verlaufen. Beide Formen semantischer Felder sind im Hinblick auf Hoppes Textuniversum relevant. Es wird hier davon ausgegangen, dass man sich semantische Felder als dynamisch-fließend vorstellen kann. Diese Auffassung und auch entsprechende Visualisierungsversuche in Form sich überschneidender Kreise finden sich schon bei Carl Abel (1837-1906), einem Vorläufer Triers. 41 Abel hat bereits 1885 in Bezug auf ‚sinnverwandte Wörter‘ beziehungsweise Synonyme eine Konzeption formuliert, deren Idee in etwa der hier verwendeten Auffassung ‚semantischer Felder‘ entspricht.42 Während die Überlappungsbereiche hier43 noch primär linear als Kette

38 Vgl. BUSSE, 2009, S. 109f., JAHR, 1994, und CLARKE/NERLICH, 2000. 39 Vgl. FEDER KITTAY/LEHRER, 1992, S. 3. 40 Vgl. PEETERS, 1991, S. 51. 41 Vgl. ABEL, 1885, S. 193-196. 42 Vgl. zu den Vorläufern Triers – unter anderem im Umkreis der sprachbezogenen Gestaltpsychologie – HERBERMANN, 1995, S. 268-272. Die Vorstellung dieser von Trier beschriebenen Überlappung ist keineswegs selbstverständlich. Ein direkter Vorläufer Triers, Ipsen, war 1924 mit dem Begriff des ‚Bedeutungsfeldes‘ zwar von einer flächenhaften Anordnung von Bedeutungen ausgegangen, allerdings nicht von Überlagerungen, sondern von einem Puzzle beziehungsweise Mosaik, also Binnendifferenzierungen von Bedeutungsgruppen, deren Einzeleinheiten mit abgrenzbaren Konturen aneinander passen. Trier grenzte sich später an mehreren Stellen in leichter Abwandlung entschieden gegen Ipsen, auf den er sich in seiner wegweisenden Studie Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes von 1931 bezogen hatte, ab. Abel hatte bereits gezeigt, dass lexikalische Gruppen nicht abgeschlossen sind und mit einem Mosaikmodell nicht angemessen erfasst werden können, wobei der zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendete Feldbegriff teilweise recht willkürlich begründet war und vielfältige Anschlussmöglichkeiten zuließ, die ihm möglicherweise bis heute seine Überlebensfähigkeit sichern. Vgl. hierzu HERBERMANN, 1995, S. 263 und S. 270-275, bes. S. 275. 43 Abel geht davon aus, dass Synonyme beziehungsweise ‚sinnverwandte Worte‘ solche Wörter sind, die „in einem Teil ihres Begriffes gleich, in einem anderen aber verschieden

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gedacht sind, lassen sich diese auch als vernetzt vorstellen, als Verknüpfung mehrerer Ketten, womit man bei der flächenhaften Vorstellung eines Feldes wäre und damit bei Ipsen, der sich mittels des ‚Feldes‘ vom Konzept sich an einem Assoziationsfaden aneinanderreihender Bedeutungen absetzen wollte.44 Die Vorstellungen von Kreis-Überlappungen und Vernetzung schließen sich dabei nicht aus: Die Schnittflächen, in denen mehrere Felder zusammenfallen, lassen sich als Punkte abstrahieren, die wiederum mit anderen vergleichbaren Punkten vernetzbar sind. 45 Dass hier der Begriff des ‚semantischen Feldes‘ verwendet und gegenüber anderen verwandten Termini bevorzugt wird, ist vor allem eine pragmatische Entscheidung, die damit einhergeht, dass er in der hier verfolgten Perspektivierung weniger Probleme nach sich zieht als andere Begriffe46 und vor allem hinsichtlich der umstrittenen Frage nach Charakter und Größe beziehungsweise Reichweite eines semantischen Feldes47 eine für die Auseinandersetzung mit Hoppes Poetik produktive Offenheit ermöglicht. Insbesondere das Bild der Überlappungen semantischer Felder ermöglicht es, sich die Relationen als wenig hierarchisch geordnet und dynamisch miteinander verwoben vorzustellen, wobei hier im Bild der Überlappungen

sind“ (ABEL, 1885, S. 191f.). Dies kann mehrere Wörter betreffen und führt bei Abel zu folgendem Schluss: „Wie man aus diesem letzten Beispiel sieht, können[] alle Worte einer Sprache als synonym behandelt werden, wenn man die Kette nur lang genug macht, und die dazwischen liegenden Intervalle durch die geeigneten Bindeglieder ausfüllt. Es giebt keine zwei Begriffe, die sich nicht an einander ketten lassen, wenn man die ganze dazwischen liegende Reihe ihrer Verbindungsglieder aufsucht.“ (ebd., S. 197). 44 Vgl. HERBERMANN, 1995, S. 270. 45 Eine ähnliche Vorstellung scheint entsprechenden Visualisierungsversuchen in der kognitiven Semantik zugrunde zu liegen, die versucht, die Funktionsweise des semantischen Gedächtnisses zu erfassen. Vgl. etwa COLLINS/LOFTUS, 1975, S. 412. 46 Vgl. hierzu zum Beispiel GRANDY, 1987, S. 273: „I choose the term ‚semantic field‘, rather than ‚lexical field‘“. Die Begriffe Wortfeld, Bedeutungsfeld, lexikalisches oder morphosemantisches Feld sind sämtlich enger als der Begriff ‚semantisches Feld‘ in der hier vertretenen Auffassung und ziehen verschiedene Probleme nach sich. Das gilt auch für den in der Literaturwissenschaft etablierteren Isotopiebegriff, der eine spezifische Bedeutungsbeziehung zwischen Lexemen beschreibt und hauptsächlich in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen Verwendung findet, die im engeren Sinne strukturalistisch arbeiten (vgl. GREIMAS, 1971, S. 82-92; ECO, 1972, S. 97-99). Dass das Konzept in diesem Sinne belegt ist, macht es für die Beschreibung des Hoppe’schen Verknüpfungssystems, das nicht vordergründig über Binäroppositionen funktioniert, wenig produktiv. 47 Es herrscht „a great deal of disagreement about the character and size of semantic fields. Writers agree that a semantic field is a collection of related words, but how large a collection and how the items are related is in dispute.“ (GRANDY, 1987, S. 260).

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davon ausgegangen wird, dass ein Wort verschiedenen semantischen Feldern angehört und sich damit an der Schnittstelle mehrerer semantischer Felder befindet.48 Nun ist der Gegenstand der Literaturwissenschaft bekanntermaßen nicht vordergründig die Sprache im Allgemeinen, sondern die (der) Literatur im Besonderen, wobei man davon ausgehen kann, dass „die poetische Konstruktion [...] eine eigene Welt semantischer Annäherungen, Analogien, Gegenüberstellungen und Oppositionen [schafft], die nicht übereinstimmt mit dem semantischen Netzwerk der natürlichen Sprache“.49 Dabei lassen sich gerade über das weitreichende Gültigkeit beanspruchende linguistische Modell die Besonderheiten der ‚poetischen Konstruktionen‘ Hoppes charakterisieren. Dass diese Konstruktionen als Überlagerungen semantischer Felder genauer beschreibbar sind, wird deutlich, wenn man den Charakter der Wiederholungen innerhalb ihrer Verweis- und Zitationspraxis beleuchtet. Bereits bei Jurij M. Lotman (1922-1993) findet sich eine Idee dessen, was hier als ‚Variation in der Wiederholung‘ benannt ist und bei Holdenried auf die Feststellung hinausläuft, dass „[i]n der zitierenden Wiederholung […] stets etwas Neues“50 geschehe.51

48 Das ist nicht evident, es gibt letztlich zwei grundlegend verschiedene Optionen: Die eine (hier vertretene) besteht darin, zu sagen, „that words belong to different semantic fields“ (FEDER KITTAY/LEHRER, 1992, S. 16). Die zweite Option, die letztlich die semantische Reichweite oder Ausdehnung eines Wortes als Feld fasst – „that they have different meanings within one frame or field“ (ebd.; vgl. auch PEETERS, 1991, S. 51) –, hat als Modell weniger Erklärungspotenzial, wenn man Verknüpfungen untersuchen möchte, die sich gerade aus der Vorstellung der Überlappungen ergeben. 49 LOTMAN, 1972, S. 280. 50 HOLDENRIED, 2005, S. 6. 51 Holdenried liest dies in ihrer Analyse der ‚postmodernen Zitationspraxis‘ unter Bezugnahme auf Jacques Derridas ‚dezentrierende Wiederholung‘ sowie Linda Hutcheons ‚kritische Differenz‘ (vgl. ebd., S. 4-7) und spricht sich dabei gegen eine „Dichotomie“ aus, „in der sich poststrukturalistische und kulturwissenschaftliche Positionen einmal mehr gegenüberstünden“ (ebd., S. 8). Ergänzt sei: Auch Grenzziehungen zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus erweisen sich im Hinblick auf das Phänomen ‚Wiederholung‘ als wenig ergiebig. Mit Lotman kann man die ‚Variation‘ als eine „Relation nicht vollständiger Gleichheit“ (LOTMAN, 1972, S. 125) begreifen und die Aufmerksamkeit von der ‚kritischen Differenz‘ oder der ‚Dezentrierung‘ von Wiederholungen in eine andere Richtung (zurück-)lenken, denn für ihn steht zunächst einmal „außer Zweifel, daß eine Vermehrung der Wiederholungen zur Vermehrung der semantischen Vielfalt beiträgt und nicht etwa zur Eintönigkeit des Textes“ (ebd., S. 196). Er beschreibt die Bewegung, dass sich über Wiederholungen „Sinngewebe großer Komplexität“ bilden, die eine „eigene Sinnkonzentration“ (ebd.) schaffen: „Je mehr übereinstimmende Elemente und Aspek-

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Die Wiederholungs- beziehungsweise Zitationsformen autointertextueller, intratextueller Verweise (als speziellen ‚Selbstzitaten‘) ebenso wie intertextueller Verweise (als ‚Zitaten‘ in allgemeinerem Sinne) sowie deren zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten sind für die Bedeutungskonstitution in Hoppes Texten von besonderer Relevanz, insbesondere der damit einhergehende paradoxe Prozess der Annäherung und Entfernung, den Lotman treffend charakterisiert hat. 52 Im Prozess der Annäherung kann die Differenz von Löwe und Tiger hervortreten, während in der Entfernung ihre Ähnlichkeit hervortritt. 53 Und mehrfach eingeebnete Unterschiede zwischen Iwein und seinem Löwen treten dann im Kontrast zwischen ‚König‘ und ‚Ritter‘ besonders hervor: „Und damit du dir keine Sorgen machst, will ich dir sagen, dass ich nicht allein komme und dass ich nicht allein kämpfen werde. Denn an meiner Seite kämpft ein König, der größer und stärker als alle ist. Ich bin nur sein Ritter!“ (Iwein, S. 141).54 Die Frage, wann etwas als ‚Zitat‘ bedeutungstragend wird, hängt mit der Frage nach dem Verhältnis von Variation und Wiederholung zusammen. Bedeutend ist die ‚Variation in der Wiederholung‘, wobei die Voraussetzung gilt, dass das ‚WiederHolen‘ auch in der Variation noch erkennbar sein muss,55 dass das ‚Zitat‘ als solches sein Potenzial entfaltet: etwas wieder- (und damit in den Text hinein-)zuholen und zugleich über den Text hinauszuweisen. Dass die ‚Zitate‘ in Hoppes Texten nicht Wiederholungen einzelner abgrenzbarer Textteile sind, sondern dynamische Konstellationen semantischer Felder betreffen, sei noch einmal im Rückblick auf den ‚Arenenbeherrscher‘ John Hagenbeck verdeutlicht. Über den ‚Arenenbeherrscher‘ ist das semantische Feld ‚Zirkus‘, aber auch dasjenige der ‚Herrschaft‘ des Menschen über Tiere und den ‚König der Tiere‘ im Besonderen aufgerufen. Dies trägt in der semantischen Verknüpfung weiter zur

te in den sich nicht vollständig wiederholenden Textabschnitten vorhanden sind, desto höher ist die semantische Wirksamkeit des differenzierenden Elements“ (ebd., S. 21). 52 Vgl. ebd., S. 196, S. 201. 53 So sind in Hoppes Roy Tiger Löwe und Tiger als Tiere des Dschungels einander ähnlich, wohingegen sie sich in mehrmaliger Wiederholung in Safari voneinander abheben und in der Gestaltung der Opposition im Rahmen einer politischen Zoologie an Verweiskraft gewinnen. 54 Zugleich hat Iwein einen zweiten König, was die Opposition variiert, so zum Beispiel: „Und weil der König mehr Geschichten hören will, als selbst tausend Ritter erzählen können, und weil sie sich vor seinem Hunger fürchten, müssen sie Abenteuer erfinden, die sie noch gar nicht erlebt haben.“ (Iwein, S. 18). 55 Diese Ambivalenz sowie das ästhetische Wechselspiel zwischen Wiederholungen und Verletzungen des Wiederholungsprinzips als komplementären Funktionsweisen findet sich bereits bei Lotman treffend charakterisiert (vgl. LOTMAN, 1972, S. 287).

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Herrschaft über ‚fremde Könige‘ und darüber hinaus hin zu ‚Völkerschauen‘, die wiederum im medialen Feld neben ‚Zoo‘56 und ‚Zirkus‘ an ‚Kino‘, ‚Film‘, ‚Welt als Theater‘ und ‚Theater als Welt‘ gebunden sind. Die in der Arena abwesende Peitsche hallt als zeitliches Regiment europäischer Zeit – ‚von neun bis fünf‘ – intratextuell an mehreren Stellen nach und verweist autointertextuell auf die Figur des Doktor Peitsche in Johanna, währenddessen die oben erwähnte ‚zersägte Jungfrau‘ auf den Hagenbeck’schen Zoozirkus rekurriert. Der ‚Rohrstock‘ als Peitschenersatz des ‚Arenenbeherrschers‘ führt hingegen weiter in den reformpädagogischen Diskurs um 1900. Die jeweiligen Korrelationen von ‚variierenden Wiederholungen‘ und semantischen Feldern bedingen einander wechselseitig und sind, wenngleich fließend, alles andere als beliebig: Einerseits werden durch diese ‚Zitate‘ beziehungsweise interund intratextuelle Verknüpfungen semantische Felder in Beziehung zueinander gesetzt; andererseits werden bestimmte Textteile durch spezifische Konstellationen und Überschneidungen semantischer Felder überhaupt erst als ‚Zitat‘ lesbar. Beide Bewegungsrichtungen bedingen einander, sind unauflösbar verwoben. Über intratextuelle Wiederholungsstrukturen werden Markierungen vorgenommen, die sich dann im Dialog mit anderen Texten verstärken: So wird zum Beispiel die Präsenz der Peitsche und des Peitschenmannes in Iwein Löwenritter im Dialog mit Doktor Peitsche in Johanna verstärkt, gleichzeitig ist die Abwesenheit der ‚Peitsche‘ und die Präsenz des ‚Rohrstocks‘ als Substitut gerade deswegen in Safari besonders auffällig. Der ‚Rohrstock‘ als pädagogisches Disziplinierungsinstrument hat dann wiederum sein Echo im universitären Bildungssystem des Geschichtsdozenten Doktor Peitsche. Die weitreichenden intertextuellen Verweise stehen in einem sie verstärkenden (teilweise auch überhaupt erst ermöglichenden) Dialog miteinander und mit anderen Textteilen innerhalb des Hoppe-Werks, die als intratextuelle Binnenechos funktionieren. Dabei wirken ‚Zitate‘ innerhalb eines Textes immer als Wiederholungen, die durch mehr oder weniger auffällige Variationen Verschiebungen markieren, zum Beispiel die Verschiebung von ‚er‘ zu ‚man‘ zwischen „der Arenenbeherrscher, mein erster Dompteur, mit nichts als einem Rohrstock im Rücken, mit dem er die große Gefahr dirigiert“ (Verbrecher, S. 104; Hvhbg. M. H.) sowie „und sie [die Tiere] kennen den Rohrstock im Rücken genau, mit dem man die größte Gefahr dirigiert“ (ebd., S. 130; Hvhbg. M. H.).

56 Zur Überlagerung von Völkerschauspektakel und Zoorummel, Exotismus und Herrschaftsverhältnissen kommt es dann in der Kannibalen-Fütterungsszene (vgl. Verbrecher, S. 118), die wiederum mit Gerüchten über das Verschwinden Onkel Johns (vgl. ebd., S. 129) korreliert. Vgl. hierzu auch HOLDENRIED, 2008, S. 125f.

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Hierbei können einige Überlappungen weniger (implizit), einige stärker (explizit) markiert oder rezipiert sein als andere. Inwieweit man zum Beispiel die ,zersägte Jungfrau‘ in Safari mit der ‚Heiligen Jungfrau‘ im Jeanne-d’Arc-Roman Johanna (2006) oder auch im Weltumsegelungsroman Pigafetta (1999) verbindet und diese wiederum mit der ,zersägten Jungfrau‘ in Johanna,57 ist abhängig von verschiedenen Faktoren.58 Der offene, keineswegs beliebige, sondern intersubjektiv nachvollziehbare Assoziationsraum wird mit der hier gewählten Terminologie greifbar: Die zahlreichen ‚attribuierten Jungfrauen‘ gehören verschiedenen semantischen Feldern an, die sich in der ‚Jungfrau‘ (ohne Attribut) überlagern. In dieser Hinsicht – in ihrer Funktionsweise als Überlappungsbereich semantischer Felder – gleicht die ‚Jungfrau‘ dem ‚Löwen‘. Zugleich werden die Verknüpfungspotenziale, in diesem Fall beispielsweise vom Löwen über den Zoo zur zersägten Jungfrau, deutlich und in ihren Überlagerungen mit anderen parallelen und einander kreuzenden Verknüpfungen beschreibbar. Derartige Rückkopplungseffekte sind nicht zufällig, sondern über Wiederholungsstrukturen angelegt. Was in diesem Verweissystem eine Peitsche ist, lässt sich ebenso wenig eindeutig beantworten, wie die Frage, was ein Löwe ist. Die Frage trägt jedoch über semantische Felder hin zu sich permanent verschiebenden Antworten, die in der Dynamik dieser Felder aufgerufen sind. Das Bild der Überlappungen semantischer Felder ermöglicht es, sich diese Relationen nicht in Form von Merkmalsmatrizen logisch und hierarchisch strukturiert, sondern als dynamisch inund miteinander verflochten vorzustellen. Wenngleich diese Verknüpfungen im einzelnen Rezeptionsprozess assoziativ funktionieren, so ist das Potenzial dieser Assoziierbarkeit59 intersubjektiv angelegt und als solches beschreibbar. Der Gewinn

57 Vgl. hierzu: „[W]o man im Schutz der Dunkelheit Märchen auftischt und Jungfrauen zersägt“ (Verbrecher, S. 105) sowie „[r]einste und schönste Zauberin, die zersägte Jungfrau!“ (Johanna, S. 132). Die Jungfrau tritt in Johanna in zahlreichen Variationen auf – in Oppositionen („der dicke Höfling die dünne Jungfrau“, ebd., S. 42), mit Attributen („schlaflose Jungfrau“, ebd., S. 43) und in zahlreichen Komposita („Möchtegernjungfrau“, „Jungfrauenatem“, ebd., S. 71, S. 130). Die Jungfrau Johanna hallt wiederum in Hombre nach: „Natürlich will jeder auf die Fortuna oder wenigstens auf die Jungfrau Johanna, unter schönen Namen segelt man besser.“ (Verbrecher, S. 62, S. 56). Auf die „Heilige Jungfrau am Himmel“ (Pigafetta, S. 112) und das „Bildnis der Heiligen Jungfrau“ (ebd., S. 130) treffen wir in Pigafetta. 58 So wird im einzelnen Rezeptionsprozess ‚verstehensbedingendes/relevantes Wissen‘ (vgl. BUSSE, 2012, S. 803) zwar individuell unterschiedlich aktualisiert; dafür muss dieses jedoch als solches (vernetzt und) intersubjektiv nachvollziehbar vorliegen. 59 Parallel zum Begriff des ‚semantischen Feldes‘ fand auch der des ‚assoziativen Feldes‘ Verwendung (vgl. CLARKE/NERLICH, 2000, S. 133), wobei Peeters diese Unterschei-

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des Modells semantischer Felder liegt darin, dass das in einem singulären Verweisoder Zitationssystem angelegte Wirkungspotenzial der Hoppe’schen Texte wissenschaftlich beschreibbar wird: Über ‚variierende Wiederholungen‘ ergeben sich Rückkopplungseffekte zwischen intertextuellen, autointertextuellen und intratextuellen Verweisen, die einander wechselseitig verstärken. Wenn man die Größe der Beobachtungseinheiten (zunächst) verringert, lassen sich diese Rückkopplungseffekte genauer (beziehungsweise zum Teil überhaupt erst) begreifen.60

4. AMBIVALENZ UND K OHÄRENZ – (U N -/U M -)O RDNUNGEN , V ER - UND E NTKNÜPFUNGEN Nun zeichnen sich literarische Texte generell „dadurch aus, dass sie Kohärenzbildung auf verschiedene Weise, etwa durch Mehrdeutigkeit, Brüche, Leerstellen und Widersprüche, unterlaufen“,61 wobei sich komplexe Ordnungs- und Sinnbildungsprozesse im Wechselspiel zwischen Ambivalenz und Kohärenz bewegen, Sinnbildung und Sinnstörung einander bedingen.62 In der Forschung zu Hoppes Texten wurde immer wieder die Störung narrativer Ordnungen im Zusammenspiel mit dem Verweissystem unterstrichen: Verschiedene Formen von Intertextualität laufen, so die sich wiederholende These, eindeutigen Ordnungen (chronologisch, kausal) zuwider.63 Damit geht einher, dass der Versuch, sich Hoppes Texten analytisch zu nähern, häufig mit einer raummetaphorischen Terminologie verbunden ist. 64

dung für unproduktiv hält und alternativ das ‚axiologische Feld‘ vorschlägt. Dass Berührungsängste mit dem Assoziationsbegriff unnötig sind, zeigt sich insbesondere bei Busse (BUSSE, 2012, S. 635). 60 Konstellationen semantischer Felder beziehungsweise die Rekurrenz verschiedener Überlappungen verhalten sich dabei interdependent zum Zitatcharakter ‚variierender Wiederholungen‘. 61 ABEL u. a., 2009, S. 2. 62 Die Herausgeber des Sammelbandes Ambivalenz und Kohärenz betonen zurecht, dass weder der ‚ambiguitätsversessene‘ Blick (unterschiedlicher Spielarten der Dekonstruktion) noch der ‚ambiguitätsvergessene‘ Blick (der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung) dem Phänomen gerecht werde (vgl. ABEL u. a., 2009, S. 2f.). 63 Vgl. hierzu zum Beispiel GÜSKEN, 2012, S. 8 und S. 11f., sowie Gutjahrs Aufsatz zur ‚erreisten Intertextualität‘, in dem es um „Zeitverschiebungen und -überlagerungen“ in Pigafetta geht (GUTJAHR, 2009, S. 247f.). 64 Vgl. dazu unter anderem die analytische Kategorie der ‚Erzählbrücken‘ im Beitrag von Sandra Langer sowie die raumnarratologischen Zugänge Erik Schillings und Nadine Schneiderwinds in diesem Band. Darüber hinaus ließe sich Güskens Ansatz anführen,

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Auch bei Hamann klingt eine solche Tendenz an, wenn er betont, dass „die Hoppe-Geschichten [...] aus Gegenwart und Vergangenheit ein Nebeneinander von Räumen machen, [...] die Grenze zwischen dem Fiktiven und Nicht-Fiktiven in Frage stellen“.65 Dem schließe ich mich an und unterstreiche, dass nicht nur chronound kausallogische, sondern – damit einhergehend – auch ontologische sowie pragmatische Ordnungen zwischen Fiktivem und Realem sowie Fiktionalität und Faktualität in einem paradoxen Wechselspiel aufgerufen und unterwandert werden. 66 Die Rekonstruktion verschiedener historischer Diskurse hat die Hoppe-Forschung gerade in dieser Hinsicht immer wieder herausgefordert, wobei dann häufig zwei verschiedene Bewegungsrichtungen umrissen werden: eine „Verschiebung von nachprüfbaren Fakten ins Reich der Fiktionen“67 sowie die Umkehrbewegung.68 Wenn hier im Titel ein ‚jenseits von Fakt und Fiktion‘ aufscheint, so ist damit genau diese doppelte Durchlässigkeit der Grenze gemeint.69 Als Reibungsfläche ist diese durchaus präsent, wobei es in den von Hoppe-Texten ausgelösten ‚Rekonstruktionen‘ historischer Diskurse nicht darum gehen kann, zu sagen, was oder wieviel jeweils ‚wahr‘ oder ‚erfunden‘ ist. Vielmehr geht es um Sinnoptionen, die sich aus verschiedenen Überblendungen ergeben.70 Die vermeintliche Grenzmauer zwischen Fakt und Fiktion ist dabei in den Diskursen, die als referenzielle Bezugspunk-

„Hoppes Zitationspraxis als De- und Reterritorialisierungsprozess zu beschreiben, um sie als Mittel des geo-narrativen Erzählens, das eine Geschichte hervorbringt, begreifbar zu machen“ (GÜSKEN, 2012, S. 18). 65 HAMANN, 2008, S. 113f. 66 Die Frage, inwieweit die Relation der Pole beider Begriffspaare als Opposition oder als Skala graduell zu denken ist, muss hier nicht entschieden werden. Zweifelsohne bewegen sich Hoppes Texte zwischen beiden Polen – wie man diese Bewegungen beschreibt, ist letztlich eine heuristische Entscheidung, die im Kontext dieser Untersuchung nicht relevant ist. Vgl. hierzu beispielsweise Nyströms Positionierung in Bezug auf den Roman Pigafetta und seine Prätexte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die Literarisierung und Fiktionalisierung des Textes ist jedoch keine Frage der Art, sondern eine des Grades.“ (NYSTRÖM, 2012, S. 54). 67 HOLDENRIED, 2008, S. 124. 68 Vgl. hierzu auch GUTJAHR, 2009, S. 262. 69 Keineswegs soll damit für die Auflösung der Grenzziehung beziehungsweise skalaren Abstufung zwischen Fiktionalität und Faktualität plädiert oder das Begriffspaar als analytische Kategorie für unbrauchbar erklärt werden. Im Gegenteil: Grenzen müssen erkennund beschreibbar bleiben, damit man ihre Durchlässigkeit beobachten kann. 70 So etwa in der Überblendung zwischen ‚Zirkus‘ und ‚Wildheit‘ in Prinz Didos Kleiderordnung bestehend aus ‚grauem Zylinder‘ und ‚Lendenschurz‘ (vgl. Verbrecher, S. 117).

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te gelten können – wie zum Beispiel der ‚illusionistische Exotismus‘71 oder die ‚Illusion ungezähmter Wildnis‘72 –, selbst bereits prekär und hochgradig von Imaginärem durchdrungen. Wie fiktional oder faktual wäre etwa die „Unzuverlässigkeit der Kannibalen, die niemals pünktlich zur Fütterung kamen, was das Publikum hinter den Gittern empörte“ (Verbrecher, S. 118)? Verweist der sich daran anschließende Satz – „Schließlich hatte man Eintritt bezahlt und wollte die Menschen fressen sehen“ – eher auf den Kannibalismusdiskurs des 19. Jahrhunderts oder auf Rainer Maria Rilke (1875-1926), eher auf die „[z]ahlenden Gäste“ in Pigafetta73 oder auf einen der letzten Sätze des Textes: „Engländer, die gekommen sind, um dich für immer hinter Gitter zu bringen, in einen Zoo ohne Zahler und Gäste“ (ebd., S. 131)?74 Dass diese Fragen nicht eindeutig zu beantworten sind, hängt damit zusammen, dass Hoppes Texte permanent dazu herausfordern, Sinnbildungsprozesse aktiv nachzuvollziehen. Auf verschiedenen Wegen wird eine kohärente histoire gebrochen,75 wobei diesen „Brüchen und Verunsicherungen durchaus eine kohärenzstiftende Funktion zukommen“76 kann, Sinn sich aus Ordnungsstörung insofern herstellt, als „eine Erzählung gerade der Problematisierung von Sinnbildung an sich Sinn zuweist“77 – was sich je nach Ausrichtung als ‚metanarrative‘ oder ‚poetologische Kohärenz‘ bezeichnen ließe. Es ist zunächst einmal bemerkenswert, dass ‚Wiederholungs-‘ beziehungsweise ,Zitationsmuster‘ auf ganz verschiedenen Ebenen relevant sind und dass dabei die Größe dessen, was ‚variierend wiederholt‘ wird, sehr stark schwankt: Auf einer Skala von der größeren zur kleineren Einheit kann man vom „Anspielungsreichtum in Bezug auf topische Zusammenhänge“78 beziehungsweise einem „diskursiven Horizont der Anspielungen“79 über das „Formzitat“80, Stoffe und Motive81 bezie-

71 Vgl. HOLDENRIED, 2008, S. 125-128, bes. S. 126. 72 Vgl. AMES, 2003, S. 124. 73 Vgl. hierzu die wiederkehrenden „[z]ahlenden Gäste“ in Pigafetta (S. 14, S. 29, S. 50, S. 84, S. 96) sowie den Widerhall der Formulierung des ‚Bezahlt-Habens‘ (S. 93f.). 74 Es liegt nahe, die beiden Textstellen parallel zu lesen, zugleich hat das „Publikum hinter den Gittern“ für sich genommen das Potenzial zum Beobachtungsgegenstand der ‚Kannibalen vor den Gittern‘ zu werden und damit die gängige Beobachtungshierarchie umzukehren. Vgl. hierzu auch HOLDENRIED, 2008, S. 125. 75 Vgl. ABEL u. a., 2009, S. 7-9. 76 Ebd., S. 9. 77 Ebd. 78 HOLDENRIED, 2005, S. 11. 79 Ebd., S. 16.

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hungsweise motivische Konstanten82 bis hin zu Figuren lesen – Wiederholungen auf der Syntax-83 sowie der Lexemebene84 spielen dagegen bisher eine relativ geringe Rolle. Um die Korrelationen verschiedener Ebenen näher zu untersuchen – und das ist der Gewinn der ‚semantischen Felder‘ – muss man das Sprachmaterial ernst und demnach zunächst möglichst kleine Einheiten in den Blick nehmen. 85 Dabei wird deutlich, dass die ‚variierenden Wiederholungen‘ in Hoppes Texten auf ganz verschiedenen Ebenen – von kleinsten morphologischen Einheiten bis hin zu weitreichenden kulturhistorischen Kontexten sowie gattungshistorischen Konventionen – strukturell ähnlich funktionieren: Elemente werden aufgegriffen und auf ungewohnte beziehungsweise unerwartete Weise ‚verknüpft‘, wodurch wiederum konventionalisierte Verknüpfungen ‚entknüpft‘ werden. Oder in der Umkehrbewegung: Ungewohnte ‚Entknüpfungen‘ ermöglichen neue Verknüpfungen, die weiteres ‚Entknüpfen‘ bedingen können. Dadurch ergeben sich spezifische HoppeKonventionen, die anderen Kohärenzen (wie etwa Chronologie beziehungsweise Linearität, Kausallogik) entgegenlaufen.86 Doch diese ‚temporären Konventionsli-

80 Der durch Böhn geprägte Begriff des ,Formzitats‘ wurde in der Hoppe-Forschung auffällig häufig rezipiert (vgl. zum Beispiel GUTJAHR, 2009, S. 248; FROMHOLZER, 2012, S. 110; HOLDENRIED, 2005, S. 4f., S. 7, S. 10). 81 So sieht zum Beispiel Hellström im „ständige[n] Anknüpfen an befindliche Erzählstoffe und Motive als eine unendliche Geschichte“ (HELLSTRÖM, 2008, S. 30) ein wichtiges Erzählprinzip. 82 Vgl. hierzu HOLDENRIED, 2008, S. 126. 83 Vgl. hierzu zum Beispiel die eingangs zitierte Frage des Erzählers in Iwein Löwenritter „Ihr glaubt, ihr wisst, was Löwen sind?“ (Iwein, S. 11) im Verhältnis zu „Wisst ihr denn nicht, was ein Fischhändler ist?“ (Verbrecher, S. 106) oder auch die Authentisierungsformel des Löwen-Erzählers „Ich war schließlich dabei.“ (Iwein, S. 250) und die Gegenbewegung „Ich war nicht dabei“ (Verbrecher, S. 103f.). 84 So ist es eine Ausnahme, wenn Hamann die „Lexeme ‚Flucht‘, ‚flüchtig‘, Flüchtling‘ bei den Figuren Meister, Hagenbeck & Co.“ (HAMANN, 2008, S. 15) fokussiert. 85 In der Semantik lässt sich innerhalb der Tendenzen einer Text- und Kontextsemantik ein zunehmendes Bewusstsein dafür ausmachen, „dass die linguistische Analyse von Textbedeutungen und dem Beitrag, den einzelne Textelemente (Sätze, Satzteile, Wörter) dazu leisten, eng mit der Analyse von Textstrukturen (sogenannten Kohärenz-Strukturen) verflochten ist. [...] Man kann diese Verschiebung der Perspektive, die zugleich eine Erweiterung des semantischen Blickwinkels ist, daher als zunehmende Kontextualisierung der jeweiligen sprachlichen Einheiten [...] betrachten.“ (BUSSE, 2009, S. 121f.). 86 Die Forschung widmete diesen Störungen narrativer Sinnstiftung in Bezug auf die Chronologie der ‚Geschichte‘ in ihrer Dimension als vermeintlich faktischer und verifizierbarer Vergangenheit beachtliche Aufmerksamkeit. So haben etwa auch die Forschungen

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nien‘ sind nicht stabil (was Sinnfixierungen nach sich ziehen würde): Der ‚Variations‘-Aspekt der ‚variierenden Wiederholungen‘ schafft durch ‚Entknüpfungen‘ immer wieder Voraussetzungen für neue Verbindungen. Über diese wird dann (bedingt durch ‚Wiederholung‘) Kohärenz erzeugt und durch ‚Variation‘ abermals destabilisiert.87 Eine qua Textuniversum ausgelöste Assoziationskette (zum Beispiel Löwe – Peitsche – Rohrstock – Arena – Völkerschau – Fakir – Kannibale – Fütterung – Zoo – Löwe) kann einmalig sein, gewinnt aber durch mehrmalige Wiederholung an Konventionalität. Das Überlappungsnetz der semantischen Felder in Hoppes Texten bleibt durch die einzelnen Ketten in Bewegung, die auf das Netz einwirken, welches wiederum auf jede einzelne Kette wirkt. Auffällig viele Lexeme entstammen dem Stoff-, Symbol- oder Motivreservoir der literarischen Tradition: Dort, wo ein hohes Maß an Konventionalisierung gegeben ist, liegt auch das größte Potenzial, die aufgerufenen Wiedererkennungseffekte oder Denkfiguren zu durchkreuzen und erstarrte Kohärenzbildungen zu dynamisieren. Es scheint sich dabei auch um eine Frage der erzählerischen Ökonomie zu handeln: Je stärker die Konventionalisierung, desto klarer die jeweilige Erwartungshaltung, desto umgrenzter das Aufgerufene in seiner Reduktion, desto deutlicher auch die ‚Entknüpfungen‘ und Neukombinationen. In anderen Worten: Jede Grenzüberschreitung setzt Grenzen, Ordnungen, Konventionen voraus. Zwischen Symbolbereichen und semantischen Feldern lassen sich bemerkenswerte Korrelationen beobachten, die bei Hoppe Relevanz gewinnen, zum Beispiel die Farb-88 und Zahlsymbolik, aber auch die symbolische Opposition ‚links – rechts‘.89

zum metafiktionalen Erzählen, zur historiografischen Metafiktion insbesondere in Hoppes Johanna einen ergiebigen Gegenstand gesehen (vgl. CATANI, 2009, S. 147-154). 87 Oder in anderen Worten: Einer dynamischen Auffassung zufolge wird „Bedeutung [...] in einem kontinuierlichen Prozeß ständiger Bedeutungskonstitution sowohl vorausgesetzt als auch bewirkt“ (JAHR, 2004, S. 410). 88 Vgl. zu den farblichen Codierungsschemata in Iwein BENZ, 2012, S. 140, zur Farbenlehre in Johanna FROMHOLZER, 2012. Dabei ist die Tatsache, dass die Farbsymbolik eine wichtige Rolle bei Hoppe spielt und zugleich eine Art ur-semantisches Feld (vergleichbar mit ‚leo est‘ als Ur-Trope) darstellt, bemerkenswert (vgl. TRIER, 1973b, S. 190, sowie ECO, 1972, S. 88). Im ‚Ur‘ steckt hierbei jeweils nichts Geringeres als ein denkbar hohes Maß an Konventionalisierung. Diese wiederum ist gebunden an Prägnanz, an Wiedererkennungseffekte, vgl. die Schwarz-Weiß-Opposition in Iwein, die zwischen Lunete und Laudine explizit verhandelt wird (vgl. Iwein, S. 236). 89 Vgl. „Ritter Gawein links und Ritter Iwein rechts“ (Iwein, S. 211) oder „Rechtshänderbrüder [...] Linkshänderflosse“ (Johanna, S. 98) sowie FROMHOLZER, 2012, S. 110.

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Auf ganz verschiedenen Ebenen und in unterschiedlich großen Einheiten beziehungsweise auf verschiedenen Abstraktionsebenen werden Kohärenzen gestört, was wiederum poetologische Kohärenz bewirkt: Es ist ein gängiges Verfahren der Hoppe-Forschung, zahlreiche Textaspekte auch poetologisch zu lesen. Dabei hätte man schon früher auf kleinere Einheiten stoßen können, denn: „Vom Schaf zum Schafott, das ist ja nur eine Silbe“ (Johanna, S. 162). Auch können Überlappungen semantischer Felder hochgradig komisch sein:90 „Von der Ketzerei hin zur Heiligkeit, das ist ja nur ein Katzensprung“ (ebd., S. 153). Es ergeben sich somit Überlappungen zwischen Schaf-Schafott und Ketzerei-Heiligkeit. Und strukturanalog lassen sich weitere, auch syntaktisch variierte Wiederholungen beobachten.91 Es mag an einigen Stellen methodisch ratsam sein, eine Trennung zwischen Hoppes literarischen und programmatischen Texten vorzunehmen.92 Jedoch machen die Überlagerungen semantischer Felder in Form ‚variierender Wiederholungen‘ vor dieser Grenze nicht halt – beide Textformen sind wechselseitig bedeutungskonstituierend. Im Zusammenhang mit den semantischen Feldern ist vor allem die Hoppe-Formel der „Präsenz durch Abwesenheit“ von Bedeutung. Sie ist keineswegs auf Figuren beschränkt, 93 sondern in der Art relevant, wie ex negativo Abwesenheit auf histoire-Ebene bei gleichzeitiger Präsenz auf discours-Ebene (und umgekehrt) gestaltet wird. Auf bemerkenswerte Weise ist ‚Abwesendes‘ in den dynamischen Feldkonfigurationen ‚präsent‘. Diese ‚abwesende Präsenz‘ wird wiederum verstärkt durch eine andere Form ‚nicht-einfacher Präsenz‘, nämlich der „doppelten Präsenz“ (Abenteuer, S. 51) des Löwen-Erzählers. Es wäre geradezu erstaunlich, wenn sich für das, was hier als ‚variierende Wiederholung‘ beschrieben wurde, kein

90 Die Vorstellung der Überlagerung semantischer Felder könnte im Hinblick auf ihre Komik wohl größtenteils als übergreifendes Konzept verschiedener rhetorischer Effekte dienen; vgl. etwa den „Laufpass [...], das einzige Reiseticket, das gilt“ (Verbrecher, S. 119). 91 So ist beispielsweise „Der Löwe weiß mehr als sein Ritter und mehr als die Menschen.“ (Abenteuer, S. 50) variiert im Titel Das Pferd weiß mehr als sein Reiter und der darin aufgeworfenen Frage „Von welcher Freiheit träumte ich da? Wahrscheinlich von der Freiheit des Reiters, dessen Pferd mehr weiß, als er selbst.“ (HOPPE, 2002, S. 145). 92 Dabei ist noch nicht gesagt, ob man Hoppe unreflektiert als eine Hoppe-Leserin unter anderen liest (was relativ häufig geschieht) oder ob man sich einer beachtlichen methodologischen Herausforderung stellt – nämlich der, dass die Interviews und Gespräche mit der Autorin sowie ihre poetologischen Texte bedeutungskonstituierend sind beziehungsweise sein können. Dass diese in hohem Maße suggestiv sind, haben Holdenried und Güsken betont (vgl. HOLDENRIED, 2008, S. 119; GÜSKEN, 2012, S. 15). 93 Vgl. „Das alles entfernt uns von Johanna. Der direkte Weg, behaupte ich (und halte es dabei mit Huizinga), ist der Nichtauftritt der Hauptfigur. Präsenz durch Abwesenheit. Platz für die eigene Vorstellungskraft“ (Abenteuer, S. 23).

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Echo in den programmatischen Texten finden würde – man beachte die ‚endlose Variation‘ als poetisches Programm: [A]uch wenn ich ähnliche Gegenstände und Themen mit unterschiedlichen Mitteln umkreise, aber ich konzentriere mich doch immer schon unbewusst auf bestimmte Dinge, auf jene, die mir tatsächlich wichtig sind, und die man endlos variieren kann; man kann Themen ausbauen und ausbreiten.94

Auch die Sprünge von einem Überlappungsbereich semantischer Felder zu einem anderen scheinen einen Widerhall – nämlich in der ‚Staffelübergabe‘ – zu finden: Es ist eher so, dass ich meine Figuren durch Zeit und Raum reisen lasse. Sie geben alle Requisiten, die in diesem Spiel vorkommen, aneinander weiter, sozusagen wie eine Staffel, nichts geht verloren, alles bleibt im Spiel und das fordert sowohl vom Schreibenden als natürlich auch vom Lesenden ein großes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit.95

Dass die Wiederholungs- beziehungsweise Zitationsmuster auf ganz verschiedenen Ebenen korrelieren und einander wechselseitig verstärken, soll abschließend noch einmal exemplarisch ausgeführt werden. Erinnert sei hier an Onkel Johns ‚Rohrstock im Rücken‘ und die abwesende Peitsche in Safari, die dann jedoch überraschend aufblitzt als eine, die derjenige zu spüren bekommt, der „nach fünf noch ein Messer wirft“ (Verbrecher, S. 116). Über den Rohrstock im Rücken des ‚Arenenbeherrschers‘ Onkel John machen wir eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert und an den Anfang des 20. Jahrhunderts und folgen einer Verknüpfung der Zähmung des Tieres mit der Erziehung des Menschen. Die Einebnung des Mensch-Tier-Gegensatzes in der Zähmung beziehungsweise Erziehung ist auf beunruhigende Weise wenig metaphorisch. Von Onkel John kommen wir zu seinem Bruder Carl Hagenbeck, der in Von Tieren und Menschen Tiere als ,Mitglieder der Familie‘, das heißt ,wie Kinder‘ behandelte.96 In der Methode der ‚zahmen Dressur‘, die sich bald als Standard für Zoo- und Zirkustiertrainer durchsetzte, waren Erziehung, Zähmung und Dressur nicht weit voneinander entfernt.97 Über die ‚Illusion ungezähmter Wildnis‘98 bei

94 HOPPE/KASATY, 2007, S. 157f. 95 Ebd., S. 151. Vgl. hierzu auch Güsken, die dies als ein ‚deterritorialisierendes Anknüpfen‘ liest (vgl. GÜSKEN, 2012, S. 20). 96 Vgl. hierzu AMES, 2003, bes. S. 133f. 97 Vgl. ebd., S. 132f. Ames konstatiert diesbezüglich: „Ungeachtet seines Originalitätsanspruchs im Falle der ‚zahmen Dressur‘ profitierte Hagenbeck von allgemeineren Ansätzen der Reformpädagogik der Zeit.“ (S. 133). 98 Vgl. ebd., S. 124.

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Hagenbeck stoßen wir auf einem weiteren Weg und über mehrmalige ‚variierende Wiederholungen‘ auf den kolonialen Diskurs und die Völkerschauen – und in der ‚Arena‘ (dem Zirkus, dem Zoo, der Völkerschau) auf die Medialisierung von Herrschaftsverhältnissen. Ist der ,Rohrstock‘ fiktionaler als die ,Peitsche nach fünf Uhr‘? Oder sind diese wiederum faktualer als die Peitschen, mit denen Iweins Löwenritter zu kämpfen hat? Ist die abwesende, durch den Rohrstock ersetzte Peitsche im zoologischzirzensischen Hagenbeck-Universum fiktional oder faktual? Die Frage der Referenzialität der Herrschaftsformen und -instrumente lässt sich angesichts der Überlappungen semantischer Felder kaum eindeutig beantworten, was keineswegs heißen soll, dass sie obsolet wäre. Ganz im Gegenteil ist ihre Virulenz in Hoppes Texten, insbesondere in Iwein und Safari (und in enger Bindung an den ‚Löwen‘) gestaltet: als verunsicherndes Zusammenspiel von An- und Abwesenheiten, als ‚Modus der Potenzialität‘. Mit jedem weiteren Hoppe-Text geraten die ohnehin beweglichen, verschiebbaren semantischen Felder erneut in Bewegung. Fasst man den Vorbehalt gegenüber linearem Erzählen als Grundlage der Poetologie Hoppes, so lässt sich dieser auch auf ihre eigene ‚Werkgeschichte‘ beziehen. Dinge kehren wieder und weisen auf zeitlich Früheres zurück. So wie in Hoppes intertextuellem Verweissystem Zeitreisen in die Geschichte unternommen werden, so ziehen sich im autointertextuellen Verweissystem Zeitreisen durch Hoppes Werkgeschichte. In beiden Fällen wird eindeutige narrative Sinnbildung durch permanente De- und Resemantisierung gestoppt, die ‚endlose Variation‘ wirkt auf bereits geschriebene Texte zurück, schreibt sie weiter. Dass die Überlappungshäufigkeit der semantischen Felder um den Löwen herum besonders auffällig steigt, verdient gesonderte Betrachtung. Es könnte mit dem Verhältnis der anthropologischen Opposition ‚Mensch versus Tier‘ zur ethnologischen ‚Mensch versus Mensch‘ zusammenhängen, mit Alteritätskonstruktionen und -dekonstruktionen. Es könnte ebenso durch das außerordentliche kultur- und speziell literaturgeschichtliche ‚Gepäck‘ bedingt sein. Dass bemerkenswert viele ‚Nachbarn‘ des Löwen auf dieser semantischen Felderkarte des Hoppe’schen Textuniversums literarisch bereits präfigurierte Wörter sind, ist kein Zufall. Über die Löwen in Safari und Iwein Löwenritter sind hochgradig disparate Aspekte und Ebenen miteinander verschränkt. Die Korrelation dieser Ebenen ist gebunden an die Gestaltung semantischer Felder, die um den Löwen angeordnet sind – die ihn einschließen und von denen ausgehend unterschiedliche diskursive Horizonte miteinander verknüpft werden. Das Verhältnis des Löwen zum Menschen sowie die

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Mensch-Tier-Grenze insgesamt (diverse Überschreitungen eingeschlossen) sind zentral, aber eben in beiden Texten auf unterschiedliche Weise.99 Der Zugang über semantische Felder schließt bisherige Überlegungen in anderen Terminologien keinesfalls aus, sondern spezifiziert diese vielmehr und richtet die Aufmerksamkeit auf das Sprachmaterial.100 Am Ende steht die Abwesenheit der Behauptung, nun zu wissen, was Löwen sind – sie in ihren ‚Sprüngen‘ durch das Hoppe’sche Textuniversum nachzuvollziehen, bedeutet mehr ‚auf‘ als ‚hinter‘ die Sprache zu blicken.101

99 Auf verschiedenen Ebenen geht es in Iwein Löwenritter um die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, zum Beispiel in der Gestaltung des Ritter-Löwe-Verhältnisses (Freundschaft, Treue „Löwenherz [...] Menschenherz“, Iwein, S. 136), aber auch in der Begegnung Iweins mit dem Mann in Gestalt eines Ungeheuers, der die wilden Tiere hütet. Insbesondere auch Iweins Verwandlung im Wald, die als eine Verwandlung ins Tier beschrieben wird, fällt in dieser Hinsicht ins Auge (vgl. ebd., S. 108). In Safari hingegen sind die Mensch-Tier-Grenze und ihre Überschreitungen mit ganz anderen historischen Diskursen (Kolonialismus, Reformpädagogik usw.) und nicht zuletzt einer ‚politischen Zoologie‘ verknüpfbar. 100 In diesem Sinne hebt auch Busse das Potenzial der Überlagerungen zwischen linguistischer Semantik und Intertextualitätstheorie im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Semantik hervor, in deren Rahmen die Frame-Semantik an die Diskursanalyse anknüpfend einen Beitrag liefern und die literatur- und kulturtheoretische Rezeption Saussures durch den Poststrukturalismus (Barthes, Kristeva, Lacan, Lévi-Strauss) weiterdenken könne (vgl. BUSSE, 2012, S. 815f.). 101 In Heiterkeit „[m]ag man mit dieser Einschätzung auch der ‚meisterhaften Suggestion‘ der Autorin selbst verfallen“ (GÜSKEN, 2012, S. 151) oder verfallen sein. Abschließend sei hierzu ein ‚Suggestions‘-Echo aus einem Interview Hoppes mit Kasaty zitiert: „Ich bin kein Fallensteller, sondern ich gehe mit Bildern so um, wie ich sie sehe, wie ich sie für ursächlich stimmig halte. Literaturwissenschaft geht aber immer dahinter. Dabei geht es doch einzig darum, auf die Dinge und nicht hinter die Dinge zu schauen“ (HOPPE/KASATY, 2007, S. 142).

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L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Abenteuer – Was ist das? (Göttinger Sudelblätter), Göttingen 2010. DIES., „Das Pferd weiß mehr als sein Reiter“, in: Sprache im technischen Zeitalter 40 (2002), S. 142-155. DIES., Iwein Löwenritter. Erzählt nach dem Roman von Hartmann von Aue, Frankfurt a. M. 22009 [2008]. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2008 [2006]. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Frankfurt a. M. 2006 [2003]. DIES., Pigafetta. Roman, Reinbek 1999. DIES., Verbrecher und Versager. Fünf Porträts, Frankfurt a. M. 2006 [2004]. DIES./HAMANN, CHRISTOF, „Weshalb ich, was Junghuhn betrifft, nichts als eine flüchtige Bekanntschaft bin“ – Felicitas Hoppe im Gespräch mit Christof Hamann, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von C. H./ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 227-237. DIES./KASATY, OLGA OLIVIA, Ein Gespräch mit Felicitas Hoppe, in: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur, hg. von O. O. K., München 2007, S. 131-168. Sekundärliteratur ABEL, CARL, Über die Unterscheidung sinnverwandter Wörter und das Werden des Sinns, in: DERS., Sprachwissenschaftliche Abhandlungen, Leipzig 1885, S. 189-226, http://www.archive.org/details/sprachwissensch00abel, 1.1.2015. ABEL, JULIA u. a., Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz. Einführung, in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Strukturbildung (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), hg. von DERS. u. a., Trier 2009, S. 1-11. AMES, ERIC, Wilde Tiere. Carl Hagenbecks Inszenierung des Fremden [aus dem Engl. von ALEXANDER HONOLD], in: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen (Zeitschrift für Germanistik. Beiheft N. F. 2), hg. von A. H./KLAUS R. SCHERPE, Bern u. a. 22003, S. 113-136. BENZ, JUDITH, Die Zähmung des Truchsessen. Die Keiefigur in Felicitas Hoppes Iwein Löwenritter und Hartmanns von Aue Iwein, in: Geschichten des Reisens – Reisen zur Geschichte. Studien zu Felicitas Hoppe (Schwedische Studien zur deutschsprachigen Literatur 1), hg. von THOMAS HOMSCHEID/ESBJÖRN NYSTRÖM, Uelvesbüll 2012, S. 137-157.

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Ikonisches Erzählen als Einheit von Realität und Imagination Zum Verhältnis von ästhetischer Reflexion und narrativer Realisation im Werk von Felicitas Hoppe S VENJA F RANK

„Ich kann euch sagen, dass die Sache nicht einfach war. Man muss dabei nämlich sehr vorsichtig sein, weil so ein Herz sehr empfindlich ist. Schließlich war Iweins Herz an Iweins Brust gewöhnt, und Laudines Herz war an Laudines Brust gewöhnt.“ (Iwein, S. 70). Wenn der Artusritter Iwein und die Burgherrin Laudine am Tag ihrer Hochzeit Herzen tauschen, dann ist dies in Felicitas Hoppes Artusroman Iwein Löwenritter (2008) ein schwieriges Unterfangen. Denn in Hoppes Adaption der mittelhochdeutschen Vorlage Hartmanns von Aue begreift sie den „Herzenstausch“ nicht als figuratives Sprechen, sondern als reale Handlung. Das zeigt sich vor allem darin, dass das Leben mit dem Herz des Anderen fortan als irreversible Tatsache ganz praktische Konsequenzen für die Protagonisten nach sich zieht. Dieses Textbeispiel scheint einen zentralen Aspekt in Hoppes Ästhetik zu berühren, setzt sie es doch exponiert ans Ende ihrer Göttinger Poetikvorlesung (2008) und erklärt in einem expliziten Lesehinweis: „denn der Tausch der Herzen ist kein Symbol, sondern die große Essenz der ganzen Geschichte, er ist nämlich buchstäblich ernst gemeint und als das zu lesen, was es wirklich ist, eine ganz und gar physische Operation“ (Abenteuer, S. 53). Warum Hoppe den Symbolbegriff ablehnt und stattdessen wiederholt die Gegenstandsbezogenheit ihres Schreibens hervorhebt, erläutert sie an dieser Stelle nicht weiter. Ihre Haltung lässt sich jedoch erhellend zu weiteren ästhetischen Überlegungen in ihren essayistischen und literarischen Texten in Beziehung setzen. Im Folgenden sollen deshalb zunächst vereinzelte Aussagen zusammengeführt werden, aus denen sich ein poetologisches Kernthema ihres Schreibens erschließt: Als Kunstideal gilt Hoppe eine spezifische Verbindung von ‚Realität‘ und ‚Imagina-

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tion‘, die letztlich auch in der oxymoronischen Selbstbezeichnung ihrer Texte als ‚ehrliche Erfindung‘ mitschwingt, die von Literaturkritik und -wissenschaft so häufig aufgegriffen wurde. In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass dieses ästhetische Ideal in den literarischen Texten mehrfach bildlich dargestellt ist. Nach dieser Präzisierung der poetologischen Zielsetzung stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die explizit-essayistischen und implizit-fiktionalen Reflexionen zur literarischen Praxis stehen. Daran schließt die Hauptthese dieses Beitrags an: Die Bildlichkeit von Hoppes Texten lässt sich zeichentheoretisch als ‚ikonisches Erzählen‘ spezifizieren und hier liegt eine narrative Form vor, die die angestrebte Verbindung von ‚Realität‘ und ‚Imagination‘ umsetzt. Auf der Basis eines vom Symbolbegriff abgegrenzten Ikonbegriffs wird argumentiert, dass in Hoppes Texten die konkrete Ebene inhärente Ähnlichkeitsbeziehungen zu einer abstrakten Ebene aufweist. Bedeutungszuschreibungen, so die Folgerung, lassen sich entsprechend dem Autonomieanspruch der Autorin, für ihre Texte weitgehend durch Abstraktions- und Analogisierungsverfahren ableiten. Werden poetologische Reflexion und literarisches Verfahren eines Werkkontextes aufeinander bezogen, so setzt sich der Interpret bewusst der auktorialen Rezeptionssteuerung aus. Da eine solche intentionalistische Lesart insbesondere für den Bereich der Gegenwartsliteraturforschung verschiedene Probleme beinhaltet, sollen sowohl die poetologischen Reflexionen und ihre Darstellung als auch das narrative Phänomen durch detaillierte textimmanente Analysen erschlossen werden. Wenn im Folgenden für einen Zusammenhang der beiden Ergebnisse – Hoppes Kunstideal und Formen ikonischen Erzählens – argumentiert wird, weil er Erkenntnispotential für die Lektüre birgt, so soll damit keinesfalls ein einfaches Kausalverhältnis angezeigt sein.

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Wenn Hoppe ihre Erzähltexte als „ehrlich erfunden“ (Schätze, S. 85, vgl. hierzu auch Johanna, S. 47)1 beschreibt, so führt sie eine Linie häufig ähnlich paradoxal formulierter Aussagen über Kunst und Literatur fort, die sich alle auf einen Grundgedanken zurückführen lassen: Dichtung kann auch dann, wenn ihre Sätze im Einzelnen unwahr sind, als Ganze Wahrheit erzeugen. Dass die Formel der ‚ehrlichen

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Auch in den fiktionalen Texten zitiert Hoppe diesen poetologischen Gedanken zum Teil scheinbar beiläufig, etwa wenn der Erzähler in der Porträtsammlung Verbrecher und Versager mutmaßt, unter John Hagenbecks Gästen seien „sogar ein paar Reiseschriftsteller. Spezialisten der wahren Erfindung“ (Verbrecher, S. 124-125) gewesen.

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Erfindung‘ damit zunächst Allgemeinplatz bleibt,2 zeigt sich darin, wie sehr sie beispielsweise einem Zitat des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Raymond Federman (1928-2009) ähnelt. In seinen eingehenden Reflexionen über das Verhältnis von faktischer Wirklichkeit und Imagination im autobiografischen Schreiben hält er fest: „Paradoxical as it may seem, only fiction is real, only fiction is true.“3 In seiner Verknüpfung von fiktionalem und literaturwissenschaftlichem Diskurs, die er selbst als critifiction bezeichnet hat, laden Federmans metaautobiografische Überlegungen zum Vergleich mit Hoppes Autofiktion Hoppe (2012) ein. Wenn Hoppe eine fiktive Biografie über eine Schriftstellerin namens Felicitas Hoppe verfasst, dann bedient sie sich einer Erzählsituation, die der performativen Außensicht auf die eigene Person bei Federman vergleichbar ist: Der Literaturwissenschaftler Raymond Federman schreibt in der dritten Person über den Schriftsteller Raymond Federman. Im Einzelnen sind diese Gemeinsamkeiten durchaus bemerkenswert, vor allem demonstriert der Vergleich der ähnlich gefassten Paradoxa bei Federman und Hoppe jedoch eines: Für sich genommen deutet Hoppes vielzitierte ‚ehrliche Erfindung‘ recht unspezifisch auf die Vorstellung von Wahrheitserzeugung im fiktionalen Sprechen. Ziel der folgenden Überlegungen ist es deshalb, die Auffassung über das Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination, wie es sich in Hoppes Texten darstellt, weiter zu präzisieren. Da die Autorin eine poetische Programmatik als Einschränkung ihrer Schaffensfreiheit ablehnt, finden sich keine ausführlichen Stellungnahmen, die ihre literarischen Verfahren erläuterten oder sie in den Zusam-

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Dass sich die Auffassung im Grunde bis Aristoteles zurückverfolgen lässt, zeigt etwa SCHAEFFER, 2013: „Most classical literary theories which assert that fiction possesses its own truth value do so by reactivating some form or another of the Aristotelian distinction between ‘mere’ factual truth representing contingent actualities and a more ‘general’ type of truth, that of verisimilitude or of necessity, representing onto-logical possibilities.“

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FEDERMAN, 1993b, hier S. 90. Auch in mehreren weiteren Passagen wird deutlich, dass Federman die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion insbesondere in Bezug auf autobiografische Genres programmatisch für irrelevant erklärt: „‚I believe that a fiction writer should never apologize for writing autobiographical novels. On the contrary ‚a writer should have the courage of his own narcissism,‘ as I once told an interviewer who seemed disturbed when I openly admitted to him (without apologizing) that indeed my fiction is based on experiences of my life – ‚real or imagined‘, I emphasized without trying to be factitious.“ (Hvhbg. i. Orig.) Vgl. neben dem Aufsatztitel Federman on Federman: Lie or Die. (Fiction as Autobiography / Autobiography as Fiction) selbst zum Beispiel auch die Zwischenüberschrift THE LIE OF AUTOBIOGRAPHY / THE TRUTH OF FICTION, ebd., S. 94.

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menhang weiterer ästhetischer Reflexionen stellten. Allerdings ergibt sich aus den Äußerungen in Interviews, Essays und Poetikvorlesungen ein Kernaspekt ihres Literaturverständnisses. Besonders aufschlussreich ist es, die verschiedenen dichotomischen Gegenüberstellungen zueinander in Beziehung zu setzen. Hoppes literarästhetisches Ideal definiert sich vornehmlich durch Abgrenzung von bestimmten Texttypen, namentlich historischen Romanen und analog verstandenen Reisetexten,4 die im konventionellen Sinne realistisch-illusionistisch erzählen. Hoppe kritisiert an dieser Darstellungsform, deren Qualität sich im Diskurs der zeitgenössischen Literaturkritik nach dem Recherchefleiß des Autors bemesse, dass sie eine faktische Realität simuliere, obwohl diese literarisch niemals eingeholt werden könne. Dieser „Fake“, die „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ (Abenteuer, S. 27; vgl. auch Schätze, S. 212-213) steht semantisch komplementär zum Prinzip der ‚ehrlichen Erfindung‘. Auf dieser moralisch-ästhetischen Ebene sind sämtliche Erzähltexte Hoppes demnach bereits durch die charakteristische Ausstellung des Fiktionsstatus „ehrlich erfunden“. 5 Der eigentliche Angelpunkt der Kritik scheint sich dabei jedoch an einem anderen Gedanken festzumachen: Der Kontext weiterer poetologischer Aussagen suggeriert, dass Hoppe den Reise- und Geschichtsroman deshalb ablehnt, weil ihm an Imagination, kreativer Transformationsleistung und damit letztlich an Kunstcharakter mangle.6 In Hoppes Göttinger Poetikvorlesung spezifiziert sie ihre Kritik an der Simulation von Wirklichkeit im Historienroman nämlich folgendermaßen: „Das Problem des historischen Romans […]“ ist seine „Entführung in die Vergangenheit,

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Dass die Reflexionen über den literarischen Umgang mit Raum und Zeit analog zu verstehen sind, darauf deuten zahlreiche Parallelisierungen in den Erzähltexten und in den essayistischen Schriften hin. An dieser Stelle sei nur die paradigmatische Rückführung des Kompositums ‚Zeitraum‘ auf seine Bestandteile erwähnt: „Der Begriff des Zeitraums ist deshalb so nützlich, weil er illustriert, dass Zeit und Raum nicht voneinander trennbare Größen sind.“ HOPPE, 2010, S. 59.

5

Für die These, die Markierung von Fiktionalität als Gestus der Ehrlichkeit gehe als Grundgedanke bis auf Lukians parodistischen Reisebericht Wahre Geschichten zurück vgl. SCHEFFEL, 1997, S. 26-27.

6

Die Bedeutung der gestalterischen Transformation von real Gegebenem für Hoppes Fantasiebegriff kommt auch deutlich in ihrem poetologischen Essay Das geographische Geheimnis der Ewigkeit, der ihre Wiesbadener Poetikvorlesungen vom 14. April bis 9. Juni 2005 bündelt, zum Ausdruck, HOPPE, 2010, hier S. 60-61. Für die erläuterte Abgrenzung von den tradierten Gattungskonventionen der Reiseliteratur und der historischen Erzählung ist dabei entscheidend, dass auch in diesem Text Imagination unmittelbar mit der Überwindung von zeitlichen und räumlichen Distanzen und ihrer Zusammenführung in einer ‚Poetik der Gegenwart‘ verknüpft wird; vgl. ebd.

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ein von der Gegenwart abgetrennter Raum“ (Abenteuer, S. 27).7 Ein solcher Umgang mit historischen Stoffen, den Hoppe in ihrem poetologischen Essay Auge in Auge (2007) auch als „biedermeierliche[n] Eskapismus“8 bezeichnet hat, erschließt sich in der Zusammenschau mit ihren Aussagen über die Märchengattung. In Analogie unterscheidet sie in den Augsburger Poetikvorlesungen zwei Kategorien von Märchen: Die erste Kategorie, der sie mehrere englischsprachige Kinderbücher wie Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865), James Matthew Barries’ Peter Pan, or The Boy Who Wouldn’t Grow Up (1904) und Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Serie (1997-2007) zurechnet, zeichne sich dadurch aus, dass sie die Elemente des Magischen in „Parallelwelten“ (Schätze, S. 13) verlege und von der Lebenswelt der Protagonisten, die unserer aktualen Welt ähnlich ist, abtrenne. Als exemplarischer Vertreter der zweiten Kategorie gilt Hoppe hingegen Carlo Collodis Le avventure di Pinocchio (1883) sowie die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen (1812-1858). In den Märchen dieser Kategorie sei das Wunderbare erstens auf wenige Momente begrenzt und zweitens integraler Teil einer – einzigen – erzählten Welt, die sich ansonsten nicht von unserer aktualen Welt unterscheide. Letztlich ist für Hoppe auch nur dieser Typ als Märchen zu bezeichnen, „denn“, so erklärt sie, „Märchen spielen nicht in anderen Welten, sondern in dieser einen Welt, weil wir schlicht und einfach keine andere haben.“ (Schätze, S. 18-19). Offenbar sind die poetologischen Betrachtungen nicht von einer spezifischen ästhetischen Weltwahrnehmung zu trennen. Dies führt sie denn auch zur, durch die ironische Brechung nicht weniger relevanten, „leichtfertigen Behauptung, das Märchen sei die höchste, weil einfachste Form realistischer Literatur“ (ebd., S. 19). Die Art und Weise, wie hier die Ebene des Wunderbaren beziehungsweise der Imagination als Teil der Wirklichkeit begriffen wird, entspricht auf bemerkenswerte Weise Hoppes literarischer Auseinandersetzung mit historischen Stoffen oder fremden Räumen: Auch hier sollen keine parallele Realitäten illusionistisch erzeugt werden, sondern historischer Erzählgegenstand und zeitgenössisches Erzählen in einer einzigen Gegenwart vereint werden. In ihrem Essay Über Geistesgegenwart (2008) bezeichnet Hoppe diese Idee einer literarisch erzeugten Gegenwart, die sowohl zeitlich als auch räumlich zu verstehen ist, als „praktische Schreibformel“ 9. Zentral ist, dass aus der poetischen Vermittlung der beiden Ebenen genuin Neues

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Die analoge Überschreitung von Raum-, Zeit-, und Erzählebenen beispielsweise im Porträtband Verbrecher und Versager untersuchen Nadine Schneiderwind und David Wachter ausführlich in ihren Beiträgen zu diesem Band.

8

„Lassen sie sich in die Vergangenheit entführen! Eine Art biedermeierlicher Eskapismus, ein sicherer, von der Gegenwart abgetrennter Raum, historisch möbliert.“ HOPPE, 2007b, S. 63. Vgl. auch HOPPE, 2010, besonders S. 69-70.

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HOPPE, 2008c, S. 12.

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entstehen soll. Da ihre Texte diese direkte Gegenüberstellung von Erzählsubjekt und -objekt imaginieren – Auge in Auge, wie es im Titel des erwähnten Essays heißt – sind auch Aktualisierungen historischer Stoffe, wie sie typischerweise in Theaterinszenierungen vorliegen, wenig reizvoll für die Autorin. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass Hoppe auch in ihrer Kritik am historischen Roman und an der Reiseliteratur wiederholt Bühnenmetaphern wie „Kostüme“ oder „Kulissen“ (Schätze, S. 77) verwendet. Was die kritisierte Form der Darstellung von Fremde oder Vergangenheit mit den Aktualisierungen im Theater verbindet, ist ihr Illusionismus und das Fehlen einer kreativen Transformationsleistung. Denn bei jeder Neuinszenierung eines Stoffes, beziehungsweise eines dramatischen Textes – so die Reduktion, die den Bühnenmetaphern zugrunde liegt –, wird dieser statt poetisch verwandelt lediglich in verschiedene Settings verlegt. 10 In Geistesgegenwart benennt sie diese Möglichkeiten literarischer Bearbeitung auch explizit: „Stoffe kann man so oder so erzählen: eskapistisch, aktualisierend oder, schlicht und ergreifend, gegenwärtig. Die Unterschiede in der Erzählweise sind erheblich und sagen alles über das Verhältnis dessen, der schreibt, zu der Welt, in der er lebt oder zu leben glaubt.“ 11 Es geht hier folglich um einen bestimmten ästhetisch-poetologischen Modus. Die Ausgestaltung von Parallelwelten, von der sich Hoppe abgrenzt, folgt im Gegensatz dazu immer einem illusionistischen Erzählverfahren. Gerade das von Hoppe zwar genannte, aber nicht weiter ausgeführte Märchenbeispiel der Harry-Potter-Serie verdeutlicht paradigmatisch, wie bestehende Strukturen unverändert in ein anderes, detailliert ausgestaltetes Setting übernommen werden. Die serielle Ereignisfolge in der Zauberschule Hogwarts entspricht klassischer Internatsliteratur – hier vor der „Kulisse“ einer fantastischen Parallelwelt. 12

10 Diese Erläuterung der Metapher bezieht sich allein auf die poetologische Funktion im Kontext. Keineswegs soll damit eine reduktionistische Auffassung von Theaterinszenierungen vertreten werden. 11 HOPPE, 2008c, S. 14. 12 Wie sehr sich die Harry-Potter-Reihe in Figurenzeichnung, Handlungsverlauf und zahlreichen weiteren gattungskonstituierenden Elementen am (seriellen) britischen Internatsund Privatschulroman orientiert, legt STEEGE, 2002 ausführlich dar. Rowlings Aktualisierung besteht im Übrigen auch in der Anpassung des Genres an die Gegebenheiten zeitgenössischer Bildungsinstitutionen (zum Beispiel Koedukation) und die Voraussetzungen einer internationalen Leserschaft, vgl. ebd. Hoppes Kritik bezieht sich, so lässt sich aus der Gegenüberstellung der beiden Märchentypen folgern, auf die Tatsache, dass das Wunderbare nicht eine, der unseren ähnlichen, Welt transformiert, sondern lediglich tradierte Strukturen – in eine fantastische Parallelwelt übernommen werden. Zu dem Ergebnis, dass Rowling geradezu sämtliche Themen und Handlungselemente des Internatsro-

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Allen Beispielen, von denen sich Hoppe distanziert, ist demnach eine Form von Imitation gemein, die ihrem künstlerischen Autonomie- und Originalitätsanspruch nicht standhält. Bezieht man sich autorintentionalistisch auf explizite poetologische Aussagen, zielt Hoppes literarische Idealform auch entgegen mehreren literaturwissenschaftlichen Positionen13 somit nicht auf die Evokation alternativer oder paralleler Welten. Diese dichotomische Einteilung von Literatur geht auch aus den Augsburger Poetikvorlesungen klar hervor: Was mich betrifft, so ziehe ich die gesamte Literatur auf zwei einfache Leinen: Auf der einen hängt, was versucht, der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, folglich Wirklichkeit mit literarischen Mitteln simuliert, während auf der anderen hängt, was diesen Prozess umkehrt: Hier wird mit den Mitteln der Wirklichkeit Literatur simuliert. Während also im ersten Fall die höchste Kunst darin besteht, eine Geschichte echt erscheinen zu lassen, wie im wirklichen Leben, besteht im zweiten Fall die Kunst darin, die Wirklichkeit so erscheinen zu lassen, als sei sie reine Erfindung, womöglich ein Märchen. (Schätze, S. 82)

Mit ihren fiktionalen Erzähltexten strebt Hoppe nach einer Vereinigung von Realität und Imagination. Diese Vereinigung gelingt ihrer Selbstkommentierung zufolge im Debütroman Pigafetta (1999), der permanent zwischen der autobiografischen Weltumsegelung auf einem Containerschiff und den Reiseberichten des portugiesischen Seefahrers Ferdinand Magellan (1480-1521) sowie verschiedener weiterer literarischer Prätexte vermittelt: Pigafetta ist tatsächlich weder formal ein Roman noch inhaltlich ein Reisebericht, sondern, neben der unbewussten Weigerung, pflichtschuldig zu kopieren, was tausende andere vor mir geschrieben und kopiert haben, in erster Linie nichts als der erste Versuch von vielen weite-

mans verwendet, kommt SMITH, 2003, insbesondere S. 74, S. 80, zur Aktualisierung des Stoffes vgl. ebd., S. 83. 13 Rezeptionsseitig geben Textelemente in mehreren Romanen, insbesondere in Hoppe, in der Tat Anlass zu gegenläufigen Deutungen, wie drei Beiträge in diesem Band zeigen. Ihre kenntnisreiche Analyse der kinderliterarischen Intertexte und des Fluchtmotivs in Hoppes Hoppe führt Lena Ekelund zu dem Schluss, dass sich der Roman gerade für die eskapistische Lektüre ausspricht und dass diese Absorption des Lesers wiederholt als Durchgänge in eine andere Welt bildhaft gefasst ist. Auch Franz Fromholzers Vergleich von Paradiese, Übersee mit Praktiken des Reenactment von Geschichte ist, obwohl dieses meines Erachtens eher Hoppes Verständnis vom historischen Roman als „Kostümfest“ entspräche, in Bezug auf mögliche Ideenfindung, Produktion und Rezeption des Textes äußerst erhellend. Zur Evokation von alternativen Welten als Sehnsuchtsorte vgl. außerdem den Beitrag von Sonja Arnold.

214 | S VENJA FRANK ren, meine kindliche Vorstellung von der Welt mit der so genannten wirklichen Welt zur Deckung zu bringen. Genau genommen handelt es sich also um eine Versuchsanordnung, in anderen Worten, um den Versuch einer Ab- und Angleichung. (Schätze, S. 81)

Das hier angesprochene ‚Zur-Deckung-Bringen‘, der „Versuch nämlich, die literarische in die wirkliche und die wirkliche in die literarische Welt zu überführen“ (Hoppe, S. 245) drückt sich als zentraler poetologischer Leitgedanke in zahlreichen Formulierungen und Bildern aus und ist unmissverständlich an das Oxymoron der ‚ehrlichen Erfindung‘ geknüpft.14 Aus dem Ziel, Wirklichkeit poetisch zu transformieren, erklären sich vermutlich auch die zahlreichen Grenzmetaphern in Hoppes literarischen und essayistischen Texten15 sowie ihre Aussage, sie sei „im literarischen Zwischenraum zu Hause.“ (Schätze, S. 85)

P RÄZISE B EOBACHTUNG DER AKTUALEN W ELT ALS G RUNDLAGE KÜNSTLERISCHER I MAGINATION Wie lässt sich diese offenbar angestrebte Amalgamation von Wirklichkeit und Imagination als Ausdruck eines Weltzugangs näher bestimmen? Aufschlussreich sind hier die kunstphilosophischen Überlegungen, die der englische Lyriker Ted Hughes in seinem Essay Myth and Education (1970) anstellt. In den Augsburger Poetikvorlesungen bezieht sich Hoppe auf diesen Essay, insbesondere auf die Reflexion von Mythen und Geschichten als ideale Erziehungsgrundlage (vgl. Schätze, S. 189-191).

14 Vgl. dazu Hoppes Kommentar zum Erstaunen eines Literaturkritikers darüber, dass Pigafetta auch auf der persönlichen Erfahrung einer Weltumsegelung basiert: „Denn für jene, die auf reine Poesie setzen, ist Pigafetta so enttäuschend wie für jene, die das echte Abenteuer suchen. Der ganzen Unternehmung lag also ein doppelter Verrat zugrunde: Ich hatte die Dichtung an die Wirklichkeit und die Wirklichkeit an die Dichtung veruntreut, und es rettet mich nicht, wenn ich darauf verweise, wie die Geschichte entstanden ist, indem ich behaupte: ‚Aber es ist nichts erlogen, ich habe alles ehrlich erfunden. So springt man der Kritik nicht von der Schaufel.‘“ (Schätze, S. 84-85). Was hier vorgeblich als Scheitern geschildert wird, ist eher die Erfüllung dessen, was Hoppe als ideale Literatur beschreibt. 15 Dass die Vorstellung idealer Literatur untrennbar an ihre Ausführungen über Wünsche und Schätze geknüpft ist, zeigt sich auch darin, dass hier dieselbe Metaphorik verwendet wird: „Literatur erzählt von beidem, von dem, was ist und von dem, was wir suchen, vor allem aber von den Grenzen dazwischen, die nach wie vor schwer auffindbar sind.“ (Schätze, S. 29), vgl. zur Analogisierung von realem Wunsch und dem literarischen Genre ‚Märchen‘ in den Augsburger Poetikvorlesungen auch MAYER, 2015, S. 139.

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Für die vorliegende Fragestellung scheint jedoch eine andere Passage des Essays relevanter, auf die Hoppe in einem Gespräch eingeht.16 Hughes legt hier seine Auffassung von künstlerischer Imagination dar, indem er ein Schema entwirft, das menschliche Wahrnehmung nach drei Typen unterscheidet. Der erste Typ wird vertreten von dem so bezeichneten Ordnungsmenschen. Kennzeichnend für ihn ist seine Unfähigkeit, sich Folgen alternativer Handlungen vorzustellen. Da er stark von Schemata abhängig ist, bringen ihn irreguläre Ereignisse, die seine selbstgegebene Struktur stören, in große Bedrängnis. Der zweite Typ stellt das entgegengesetzte Extrem dar, das von einer äußerst lebhaften, aber unpräzisen Vorstellungskraft geleitet werde. Sein Mangel an Aufmerksamkeit führe zu falschen Schlussfolgerungen über die wahrgenommene Realität. Diese Form der reinen Illusion lehnt Hughes genauso ab wie die Imaginationslosigkeit des ersten Typs, weil sie über keine Rückbindung an die Realität verfüge. Beiden Welterfahrungsmodi schreibt er zerstörerische Kräfte zu und stellt ihnen den dritten Typ gegenüber, der zugleich sein Ideal von Fantasietätigkeit verkörpert: „Imagination which is both accurate and strong“. Diese Fähigkeit, genaue Beobachtung mit einer reichen Vorstellungskraft zu verbinden, ist für Hughes deshalb Voraussetzung für das Entstehen von Kunst, weil nur sie unserer Wirklichkeit tatsächlich entspreche. Ein solches Verhältnis zur Welt verweist auf Hoppes ästhetische Überzeugung, dass das Märchen „genau und direkt“ und deshalb als realistische Form zu bezeichnen sei, weil es die äußere Realität mit der inneren Vorstellungswelt vereinige.17 Sehr ähnlich fasst Hughes in seinem Essay die Grundbedingung menschlicher Existenz: Besides, the real problem comes from the fact that outer world and inner world are interdependent at every moment. We are simply the locus of their collision. Two worlds, with mutually contradictory laws, or laws that seem to us to be so, colliding afresh every second, struggling for peaceful coexistence. And whether we like it or not our life is what we are able to make of that collision and struggle.18

In dieser Vereinigung der beiden Ebenen besteht für ihn die Funktion von Kunst: „So what we need, evidently, is a faculty that embraces both worlds simultaneous-

16 Ich beziehe mich auf ein noch unveröffentlichtes Gespräch mit Felicitas Hoppe vom 3. Juli 2008 in Freiburg. 17 Vgl. dazu auch Hoppes Dankrede zum Empfang des Bremer Literaturpreis 2007: „Das Märchen ist nämlich nur scheinbar märchenhaft. In Wahrheit ist es weder märchenhaft noch fantastisch, weder wunderlich noch weltfern, weder idyllisch noch süßlich, sondern genau und direkt, oft grausam und unerbittlich. Weder Phantasterei, noch Nonsense, nicht Unverstand, sondern realistischer, als es uns manchmal lieb ist.“ HOPPE, 2007a. 18 HUGHES, 1976, S. 91.

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ly.“19 Gerade diese Simultaneität verweist auch auf Hoppes poetologischen Leitgedanken der „Geistesgegenwart“. Beider Kunstverständnis scheint sich auf eine Gleichzeitigkeit zu beziehen, die man sich aufgrund ihrer Radikalität möglicherweise in Anlehnung an das wahrnehmungspsychologische Phänomen als ‚Synästhesie ontologischer Modi‘ vorzustellen hat.20 Diese Simultaneität der Weltzugänge wird für Hughes in künstlerischem Schaffen verwirklicht: This really is imagination. This is the faculty we mean when we talk about the imagination of the great artists. The character of great works is exactly this: that in them the full presence of the inner world combines with and is reconciled to the full presence of the outer world. And in them we see that the laws of these two worlds are not contradictory at all; they are one allinclusive system; they are laws that somehow we find it all but impossible to keep, laws that only the greatest artists are able to restate. They are the laws, simply, of human nature.21

Dabei stellt dieser dritte Modus der Weltwahrnehmung in Hughes‘ Augen eine Ausnahmeerscheinung dar: The third class of people is quite rare. Or our moments of belonging to that class are rare. Imagination which is both accurate and strong is so rare, that when somebody appears in possession of it they are regarded as something more than human. We see that with the few great generals.22

Der Gedanke, dass dieses künstlerische Ideal, wenn überhaupt, nur in seltenen Momenten erreicht werde, findet sich auch in Hoppes essayistischen Texten. 23 Ebenso greift ihre Erzählliteratur Hughes’ Schema der Weltwahrnehmung auf, so scheint etwa die Schriftstellertypologie in Hoppe (vgl. Hoppe, S. 226) analog entworfen zu sein. Als einzigen weiteren und damit exponierten Vertreter des dritten Wahrnehmungstypus nennt Hughes neben dem Künstler die Figur des Feldherrn. Dessen Beispielfunktion erklärt sich daraus, dass die Angemessenheit seiner strategischen

19 HUGHES, 1976, S. 91. Vgl. auch ebd., S. 92. 20 Die Metapher, die mir hier lediglich zur Konkretisierung der beschriebenen simultanen Weltwahrnehmung dient, wird auch dadurch nahegelegt, dass die Autorin ihr Alter Ego, in Hoppe als paradigmatische Synästhetikerin charakterisiert, vgl. etwa Hoppe, S. 306. 21 HUGHES, 1976, S. 92. 22 Ebd., S. 83-84, Zitat S. 84. Der Vergleich mit der deutschen Übersetzung ist an dieser Stelle nützlich, weil er zeigt, dass die „generals“ auch explizit als „Feldherren“ wiedergegeben werden, vgl. HUGHES, 2001, S. 85. 23 HOPPE, 2008c, S. 12.

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Entscheidungen sowohl von der genauen Analyse der vorgefundenen Wirklichkeit abhängt als auch von der Fähigkeit, mehrere potentielle Handlungsgänge zu imaginieren.24 Diese Bedeutung, die dem Feldherrn für Hughes‘ Imaginationsbegriff zukommt, ist aufschlussreich für die poetologische Ebene von Hoppes Erzähltexten. Denn vor diesem Hintergrund ist besonders bemerkenswert, dass Hoppe sowohl in ihrem Jeanne-d’Arc-Roman Johanna (2006) als auch in ihrer Göttinger Poetikvorlesung das militärstrategische Genie25 der historischen und literarischen Jungfrau von Orléans hervorhebt. Dies erweitert das Verständnis von Johanna als selbstreflexiven Künstlerroman. Die Johanna-Figur wird im Roman nicht nur mit der Erzählerin enggeführt, die bezeichnenderweise auch als Schriftstellerin und Alter Ego Hoppes markiert ist, 26 sondern fungiert überdies als Exemplifikation einer Form der Weltwahrnehmung und eines poetischen Prinzips.27 In der Tat war der Gedanke, dass Johanna für eine poetologische Fragestellung einsteht, Hoppes Göttinger Poetikvorlesung zufolge sogar primäre Motivation für die literarische Bearbeitung. Diese poetologische Deutung wird durch das Motivnetz des Romans gestärkt, das den Schreibprozess der Erzählgegenwart wiederholt mit Johannas militärischen Kampfhandlungen auf der historischen Ebene parallelisiert. In folgendem Zitat geschieht dies mittelbar durch die intratextuell etablierte Verknüpfung ‚Schwimmen/Kriegsführung/Erzähl-und Schreibprozess‘ (vgl. auch Johanna, S. 52, S. 53), indem die Militäraktion mit einem Sprung ins Wasser assoziiert wird: „Wasser ist nur von weitem schön, als ferne Aussicht von einem Balkon, nur solange man nicht hineinspringen muss. Genau wie der Krieg“ (ebd., S. 168).28 Bemerkenswert an

24 Auch Hoppes Ansicht, Kunst gehe aus der Verbindung von Reflexion und Risikolust hervor, die sie in ihrer Poetikvorlesung Geistesgegenwart vertritt, verweist auf diesen Konnex von Realität und antizipierender Vorstellungskraft, HOPPE, 2007b, S. 12. 25 Vgl. auch Schätze, S. 156. 26 Vgl. zur Autorinszenierung FRANK, 2014. 27 „Exemplifikation“ wird hier in der auf Goodman basierten Definition von KÖPPE/KINDT, 2014, S. 147 verstanden als bedeutungstragende Figur, die eine Eigenschaft zugleich aufweist und sie verkörpert. Im Unterschied zur Allegorie geht die Bedeutung der Figur Johanna im Roman jedoch beachtlich über diese Verweisfunktion hinaus (ebd., S. 147-148). 28 In der Augsburger Poetikvorlesung „Schatzsucher. Nur Gäste auf Erden.“ spricht Hoppe in dem kurzen Abschnitt zu Johanna als Figur der Weltliteratur explizit von Johannas „militärstrategischem Genie“ (Schätze, S. 156) und im poetologischen Essay Auge in Auge erwähnt sie als entscheidende Eigenschaften: „Dazu hohe Intelligenz, große Schlagfertigkeit, Geistesgegenwart, Naturtalent für Militärstrategien, eine geniale Autodidaktin.“ HOPPE, 2007b, S. 67.

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dem Vergleich von Schwimmen und Kampfgeschehen29 ist, dass er sich als intertextueller Verweis auf das wohl einflussreichste militärische Strategiehandbuch bezieht, Carl von Clausewitz’ (1780-1831) Vom Kriege (posthum 1832-1834). In seinem Hauptwerk veranschaulicht der preußische Generalmajor und Militärtheoretiker den qualitativen Unterschied zwischen theoretischer Planung und praktischer Umsetzung einer Militäraktion anhand desselben Bildes.30 Die unmarkierte Referenz unterstreicht das strategische Talent von Hoppes Johanna-Figur weiter. Zunächst scheint diese Begabung im Widerspruch zu Johannas vielmehr leidenschaftlichem, denn reflektiertem Wesen zu stehen. Dieser lässt sich jedoch auflösen, wenn man Hoppes poetische Maxime der „Geistesgegenwart“ hinzuzieht. Legitimiert wird eine solche Verknüpfung durch Hoppes Essay Auge in Auge, in dem sie schreibt: „Johanna ist gegenwärtig. Sonst hätte sie mich nicht berührt, nicht mein Interesse geweckt.“31 Offenbar verkörpert Johanna für Hoppe auch die poetische Maxime der „Geistesgegenwart“. Wenn Hoppe „Geistesgegenwart“ im gleich-

29 Vgl. auch Johanna, S. 52f. 30 CLAUSEWITZ, 1973 [posthum 1832-1834], S. 263. Vgl. „Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel. So wenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, sowenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten. Daher kommt es, daß der richtige Theoretiker wie ein Schwimmeister erscheint, der Bewegungen, die fürs Wasser nötig sind, auf dem Trockenen üben läßt, die denen grotesk und übertrieben vorkommen, die nicht an das Wasser denken; daher kommt es aber auch, daß Theoretiker, die selbst nie untergetaucht haben oder von ihren Erfahrungen nichts Allgemeines zu abstrahieren wissen, unpraktisch und selbst abgeschmackt sind, weil sie nur das lehren, was ein jeder kann – gehen.“ Neben dem „Schwimmeister“, der auch in Johanna als „Bademeister“ auftritt, spricht für den intertextuellen Verweis auch die Tatsache, dass Clausewitz wenige Zeilen später auf „Geistesgegenwart“ als wesentliches Kennzeichen militärstrategischen Genies zu sprechen kommt: „Ferner: jeder Krieg ist reich an individuellen Erscheinungen, mithin ist jeder ein unbefahrenes Meer voll Klippen, die der Geist des Feldherrn ahnen kann, die aber sein Auge nie gesehen hat, und die er nun in dunkler Nacht umschiffen soll. Erhebt sich noch ein widriger Wind, d.h. erklärt sich noch irgendein großer Zufall gegen ihn, so ist die höchste Kunst, Geistesgegenwart und Anstrengung da nötig, wo dem Entfernten alles von selbst zu gehen scheint. Die Kenntnis dieser Friktion ist ein Hauptteil der oft gerühmten Kriegserfahrung, welche von einem guten General gefordert wird.“ Auffällig ist in dieser Formulierung vor allem auch die Parallele zu Hoppes poetologischem Essay Geistesgegenwart, der dieselbe Präsenz von Anschauung und Ahnung, beziehungsweise Vorstellungskraft, beschreibt. 31 HOPPE, 2007b, S. 57.

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namigen Essay unter Bezug auf einen Brockhaus-Eintrag als Verbindung von „Besonnenheit und rasche[r] Entschlusskraft“32 definiert, dann greift dies eben jenen oben erwähnten Widerspruch zwischen Tatendrang und strategischer Reflexion auf, den die Johanna-Figur im Roman kennzeichnet: Das klingt einfach und widersprüchlich, weil hier scheinbare Langsamkeit (Besonnenheit) und scheinbare Schnelligkeit (rasche Entschlusskraft) in eins gebracht werden. Aber Besonnenheit ist nicht Besinnlichkeit, sondern die Folge von Besinnung, Gebrauch der Sinne also, wache Wahrnehmung und Konzentration, eine Nacht auf einem sehr hohen Berg, ohne die Entschlüsse nicht gefasst werden können. Geistesgegenwart ist also eine praktische Schreibformel.33

Die Nähe dieser Erläuterung zu Hughes’ drittem Typ der Weltwahrnehmung wird in der Verbindung von präziser Beobachtung der Außenwelt und konzentriertem Rückzug in die Innenwelt offenbar. Daraus erklärt sich nun nicht nur die poetologische Komponente, die Johanna im Roman als Feldherrin einnimmt, sondern auch das im literarischen Werk wiederkehrende Schachmotiv, das ja auf einer militärstrategischen Spielidee basiert. Im Ritterroman Paradiese, Übersee (2003) wird die Verfasserin des Textes sogar als Schachspielerin charakterisiert, die gleich dem Heerführer die Figuren durch verbale Befehle verrückt. 34 Die Idee einer Amalgamation von Wirklichkeit und Vorstellung, die sich hier in der militärstrategischen Begabung ausdrückt, wird im Johanna-Roman noch durch die metaphysische Ebene Johannas als Heiligenfigur potenziert. Was Johanna für Hoppe zur Ausnahmegestalt macht, ist vor allem „das ihr so selbstverständliche wie

32 HOPPE, 2008c, S. 12. 33 Ebd. 34 Vgl. hierzu auch FRANK, 2015. Dass Hoppe auch in der Intuition, die naturwissenschaftlichen Entdeckungen vorausgeht, eine momenthafte Verbindung von Beobachtung und Imaginationskraft erkennt, belegt das Zitat aus Kenne Fants Biografie über Alfred Nobel in Geistesgegenwart: Fant konstatiert „‚eine geheime Verwandtschaft zwischen dem Künstler und dem Forscher. Beide stehen mit einem Fuß auf dem Boden der Kenntnis und des Wissens und mit dem anderen im Magischen. Beide beobachten, probieren, ahnen und fügen zusammen.‘ Auch Ingmar Bergmann spricht von magischen Augenblicken: ‚Die Tage waren erfüllt von jenem heimlichen Vergnügen, das ein Beweis ist für eine handfeste Vision.‘“ (HOPPE, 2008c, S. 16). Diese momenthafte Eingebung scheint mit der Beflissenheit, die Hoppes fiktive Wissenschaftlerfiguren kennzeichnet – der Pauschalist, der in Paradiese, Übersee besessen die Wirklichkeit mit einem Diktiergerät aufzeichnet oder der Assistent Peitsche, der in Johanna manisch Papiermützen faltet – dem Anschein nach wenig gemein zu haben.

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uns heute vollkommen unbegreifliche Ineinanderdenken zweier scheinbar unvereinbarer Sphären: der des Himmels und der der Erde.” (Abenteuer, S. 16) In Hoppes dichotomischer Literaturtypologie verkörpert Johanna jenes poetologische Prinzip, das auch das ‚eigentliche‘ Märchen auszeichne. In Abgrenzung zum Entwurf fantastischer Parallelwelten begreift sie Imagination nicht als Alternative zur Realität, sondern als Teil derselben: Rettet uns der poetische Raum? Die schöne Kunst? Ich wünschte, ich könnte mich dahin zurückziehen, dann wäre ich Dichter und auf der sicheren Seite. Aber es gibt keine sichere Seite. Genau deshalb habe ich diesen Stoff gewählt. Weil in der Person Johannas dieser Konflikt enthalten ist, die Geschichte einer Existenz zwischen Kontemplation, metaphysischer Verankerung und einer realpolitischen Welt. Ein Konflikt der großartig ist, weil er genau die Falle bezeichnet, in der wir als Schriftsteller stecken: Wir wollen uns zur Welt und ihrer Geschichte verhalten, aber nicht als Chronisten, nicht als Journalisten, nicht als Wissenschaftler. Sondern mit unserer eigenen Sprache und Imagination.35

Johannas „Existenz zwischen Kontemplation, metaphysischer Verankerung und einer realpolitischen Welt“ verweist auch auf die Verbindung zwischen Himmel und Erde, die im Roman wiederholt durch das Motiv der „Leiter“ aufgerufen wird und das somit ebenfalls als Teil der poetologischen Bildsprache begriffen werden kann. Den erwähnten Bildern der horizontalen Grenzüberschreitung in Hoppes Romanen und Erzählungen ist hier eine auf der vertikalen Achse zugefügt. Da sich in Hoppes Johanna-Figur offenbar entsprechend der angestrebten Kunstidee die sonst getrennten Bereiche verbinden, wird sie im Roman auch explizit als ideale Dichterin bezeichnet: Und niemand erzählt so gut wie Johanna. Sobald sie ihre Stimme erhebt, versteht sich auf einmal alles von selbst, weil sie sich an die Regeln hält: Sag immer die Wahrheit. Sprich niemals von dir. Fass dich kurz. Übergeh, was zu übergehen ist. Setz niemals auf die Kraft der Verwechslung. Kehr nicht nach außen, was innen ist. Schau nicht in den Spiegel. Fürchte dich nicht. Für den Fall, dass du etwas erfindest, erfinde es ehrlich. (Johanna, S. 47)

Das beschriebene Set von Maximen verweist klar auf jenes der Autorin Felicitas Hoppe: Das Verbot der Illusionierung, „die Kraft der Verwechslung“, fasst Hoppes Kritik an realistisch-illusionistischen Schreibweisen zusammen, ihr reduzierter Stil wird selbstreflexiv aufgegriffen und ihren Höhepunkt finden die Erzählgebote im Prinzip der ‚ehrlichen Erfindung‘. Die historische Heeresführerin und Heiligenfigur Johanna von Orléans wird durch ihre Weltwahrnehmung, in der sich sinnliche

35 HOPPE, 2007b, S. 68.

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Wirklichkeit und Imagination simultan verbinden, zur Exemplifikation von Hoppes poetologischem Konzept. Als programmatischer Künstlerroman stellt Johanna mithin Hoppes ästhetische Reflexion und poetisches Ideal literarisch dar.

D ARSTELLUNG VON K UNSTAUFFASSUNG UND W ELTWAHRNEHMUNG DURCH ERZÄHLERISCHE V ERFAHREN Wie aus den bisherigen Überlegungen hervorgeht, ist Hoppes literarische Bearbeitung des Johanna-Stoffes wesentlich poetologisch motiviert. Die historische Figur der Jungfrau von Orléans fungiert im Johanna-Roman als Exemplifikation einer spezifischen Weltwahrnehmung und des daraus hervorgehenden Literaturverständnisses. Auf dieser Basis lassen sich darüber hinaus verschiedene erzählerische Mittel im gesamten Werk der Autorin als Veranschaulichung poetischer Prinzipien begreifen. Besonders markant sind in dieser Hinsicht die zahlreichen Metalepsen zwischen Raum-, Zeit-, und Erzählebenen, die sämtliche ihrer fiktionalen Texte kennzeichnen. In allen drei Varianten wird dabei auch ein Wechsel zwischen verschiedenen ontologischen Ebenen markiert, denn gemäß der fiktionslogischen Konvention wird die extradiegetische Ebene mit der Realität gleichgesetzt und die intradiegetische Ebene mit der Imagination beziehungsweise Fiktion. 36 Dabei wird Hoppes metahistoriografischen und meta(auto)biografischen Kommentaren zufolge (vgl. etwa Verbrecher, S. 73-74) alles Erzählte dem Bereich der literarischen Erfindung zugerechnet, auch die Narrative, die sich auf faktisch Vergangenes oder real existierende Topografien beziehen. Als Metalepsen zwischen aktual konnotierter Erzählebene und fiktiv konnotierter diegetischer Welt werden sie somit auch als Performation der oben erläuterten Verbindung von Realität und Vorstellungskraft erkennbar. Die ‚Deckungsgleichheit‘, die Hoppe ihren poetologischen Texten zufolge anstrebt, kann dabei paradoxerweise nur dargestellt werden, indem sie nicht vollzogen wird, sondern die beiden Ebenen markiert werden. Wenngleich die Metalepse gerade auf der Markierung von Erzählgrenzen gründet, können diese indes unterschiedlich deutlich gezogen sein. Das Spektrum erstreckt sich in Hoppes Werk von der auch bildhaft umgesetzten Trennung der Erzählebenen in separate, nebeneinander liegende Räume wie im Porträtband Verbrecher und Versager (2004) bis zu den für den Johanna-Roman typischen Parataxen wie „Johanna brennt, und ich sitze im Hörsaal.“ (Johanna, S. 34), die Erzählsubjekt und -gegenstand mittels Syntax und Tempus scheinbar in ein und derselben Gegenwart situieren. Häufig sind Elemente auch nicht mehr zweifelsfrei bestimm-

36 Diese fiktionsinterne Hierarchisierung geht natürlich nicht mit einer tatsächlichen einher; der Text wird insgesamt als fiktionale Sprechhandlung aufgefasst.

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ten Erzählebenen zuordenbar – Michaela Holdenried hat dieses Phänomen in dem treffenden Bild des Möbius-Bandes gefasst37 – wodurch das angestrebte Ineinander von Realität und Imagination noch nachdrücklicher veranschaulicht wird. Der Reise- und Abenteuerroman Paradiese, Übersee weist eine weitere Eigenheit der Erzählstruktur auf, die von einer Neuzuweisung von Erzählebene und Fiktionsstatus zeugt. Die drei Romanteile lassen sich als Rahmen- und Binnenerzählung fassen.38 Der mittlere Teil handelt von drei Geschwistern, die sich zur Weihnachtszeit im heimischen Wilwerwiltz einfinden und von ihren Erlebnissen und Reisen erzählen. Die fantastischen Elemente im ersten und dritten Romanteil sprechen dafür, diese Handlungsabschnitte als Gegenstand der Erzählungen am Familientisch zu fassen. Auch die Gattungsvorlage des Textes, der Artusroman, die in der visuellen Analogie und sprachlichen Assoziation von rundem Familientisch und Artusrunde nochmals aufgerufen wird, unterstützt eine solche Zuordnung: Wie die von der Ausfahrt heimgekehrten Ritter zu Hofe, erzählen die Geschwister zuhause von den bestandenen Abenteuern. Die Raffinesse von Hoppes Erzählstruktur besteht nun darin, dass sie die tradierte Chronologie der Darstellung umkehrt und ihren Roman ohne Markierung mit dem Teil eröffnet, der als erzähllogische Einbettung zu verstehen wäre, während die übergeordnete Erzählebene als Mittelteil umrahmt ist. Diese Inversion von struktureller und inhaltlicher Zuordnung der Rahmen- und Binnenerzählung, die konventionell aktual respektive fiktiv konnotiert sind, stellt die Trennung zwischen Realität und Imagination infrage und bildet somit erneut die poetologische Zielsetzung narrativ ab. Über diese textinternen Grenzüberschreitungen hinaus wird die performative Durchlässigkeit von aktualer Realität und Fiktion durch auto-intertextuelle und paratextuelle Verweise, die Werkzusammenhang und reale Autorin einbeziehen, auch textextern fortgesetzt. Die fiktionale Autobiografie Hoppe bildet hierfür sicherlich das offensichtlichste Beispiel. Indem sie die Erzählebenen zwischen realer Autorin, fiktivem Verfasser und Protagonistin enthierarchisiert und multiple, wechselseitige Autorschaften entwirft,39 suggeriert sie, dass narrative Imagination der aktualen Realität nicht ontologisch untergeordnet sein muss.

37 HOLDENRIED, 2005, S. 15. 38 Franz Fromholzer argumentiert in seiner narratologischen Analyse des Romans überzeugend für eine Rahmen- und Binnenstruktur. Dass er den zweiten Teil über die Geschichten erzählende Familie im ardennischen Wilwerwiltz als Rahmenhandlung fasst und die Reiseabenteuer als Binnenhandlung ist inhaltlich vollkommen einleuchtend. 39 Vgl. hierzu auch die scharfsinnigen narratologischen Untersuchungen des Romans von Florian Lippert und Antonius Weixler in diesem Band.

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Die Amalgamation von fiktiven und realen Elementen in Hoppe lässt sich wie auch in den anderen Texten40 freilich in zahlreichen Fällen nur durch den Abgleich mit den literarischen und historiografischen Quellentexten erkennen. Es gehört zu den zentralen Verfahren der Autorin, außergewöhnliche Realien aufzuspüren, präzise zu recherchieren und sprachlich und inhaltlich so homogen in den eigenen Erzähl-Duktus zu integrieren, dass sie sich durch ihre inhärente Absurdität von den fiktiven Elementen nicht abheben.41 Die Unterscheidung von fiktiven und realen Elementen ist in diesen Beispielen textimmanent nicht möglich, sondern kann nur durch Recherchen über die textexterne Realität ermittelt werden. Daraus folgt, dass die Performation des poetologischen Prinzips in diesem Fall nicht im Vordergrund steht, sondern die produktionsästhetische und sicherlich konzeptionell motivierte Umsetzung der ‚ehrlichen Erfindung‘. Deutlich ausgestellt wird die Verbindung zwischen Realität und Imagination in Hoppe hingegen durch den Wechsel von fiktionalisierenden und faktualisierenden Schreibweisen, der sich unabhängig von, beziehungsweise oft gegenläufig zu, ihrer tatsächlichen Referentialität vollzieht. Hinzufügen ließe sich schließlich, dass die performierte Einheit von Wirklichkeit und Imagination, die innerhalb der literarischen Texte in Bildern und Erzählverfahren variantenreich veranschaulicht wird, auch den Werkzusammenhang und den öffentlichen Auftritt der Autorin kennzeichnet. 42 Diese Kontinuität von Leben und Literatur drückt sich allem voran in Hoppes homogenem Duktus, dem „HoppeSound“,43 aus, der stilistisch nicht zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Sprechhandlung unterscheidet. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch das Zitieren des essayistischen im literarischen Werk und umgekehrt. 44 Verschiedene

40 Vgl. in Bezug auf Verbrecher und Versager zuletzt auch WALTER, 2015, die dieses Charakteristikum mit den Metalepsen – auch auf die scheinbar textexterne Ebene des realen Rezipienten – schlüssig in Beziehung setzt; insbesondere ebd., S. 77. 41 Vgl. dazu auch GESS, 2015, S. 28, die die fiktiv anmutenden, aber real existierenden Ortsnamen wie das luxemburgische Wilwerwiltz im Reiseroman Paradiese, Übersee als Beispiel nennt. Als einprägsame Kuriosität wäre noch die Echternacher Springprozession, die Eingang in denselben Text findet, hinzuzufügen. 42 Zur Entsprechung von literarischem Schreiben und öffentlichem Auftritt vgl. auch HILMES, 2015, die diese aber von den Selbstvermarktungsstrategien anderer Schriftsteller strikt abtrennt, hier ebd., S. 289-290. Vgl. in diesem Kontext auch Hoppes konstatierte „Verbundenheit von Lebenswelt und Literatur“, die komisch-subversiv wirke, vgl. MAYER, 2015, S. 135. 43 HARTWIG, 1999. 44 In einer autobiografischen Episode in den Augsburger Vorlesungen beschreibt Hoppe, dass sich ihre Familie ähnlich wie in Natalia Ginzburgs Lessico famigliare (1963) maßgeblich über den ritualisierten Austausch von familienintern geprägten Phrasen definiert.

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Aussagen sind so sowohl der Autorin als auch ihren fiktiven (Erzähler-)Figuren zuzuschreiben, wodurch die Durchlässigkeit von Wirklichkeit und Imagination im Werkkontext permanent umgesetzt wird. Wenn Hoppe in ihrer Augsburger Poetikvorlesung wörtlich aus ihrem Seefahrerroman Pigafetta zitiert, um ihre eigene Weltreise zu beschreiben (Schätze, S. 81; vgl. Pigafetta, S. 7), dann zeigt sich beispielhaft das Ausmaß dieser inszenierten Mehrfachverschränkung von Realität und Imagination.

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Die bisherige Gegenüberstellung von essayistischem und literarischem Werk hat eine deutliche Wechselbeziehung von poetologischer Reflexion und ihrer bildhaften und narrativen Darstellung ergeben. Nur scheinbar ist in den beschriebenen Erzählverfahren, insbesondere in der Verschränkung verschiedener Ebenen, eine Einheit von Realität und Imagination umgesetzt. Sie wird vielmehr gerade durch die Markierung der Grenze dargestellt. Es stellt sich also die Frage, worin auch Momente der eigentlichen Umsetzung bestehen könnten. Der erwähnte Einbezug von realen Elementen, wie historischen Fakten, ist hier produktionsästhetisch sicherlich von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus kann jedoch auch textimmanent ein erzählerisches Mittel freigelegt werden, das möglicherweise als ein Beispiel für die angestrebte ‚Deckungsgleichheit‘ angesehen werden kann. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich Hoppe einer erzählerischen Form bedient, die im „Herzenstausch“ zwischen dem Artusritter Iwein und Laudine bereits einleitend veranschaulicht wurde. Entscheidend für das zitierte Beispiel aus der Iwein-Adaption ist die Simultaneität von äußerer und innerer Handlung. Die Bildebene, in diesem Fall der Tausch der Herzen, die konventionell die Gegenstandsebene figurativ vertritt, wird hier in der Textwelt realiter umgesetzt. Gerade diese Gegenständlichkeit ist den poetologischen Aussagen zufolge ein zentraler Bezugspunkt für Hoppes Schreiben.45 Da sie symbolischen Bedeutungsaufschub explizit ablehnt, scheint für sie die Unvermitteltheit im Vordergrund zu stehen.

Als Beispiel aus diesem Familiolekt, „aus dem Fundus des Hoppelateins“ (Schätze, S. 102), zitiert sie unter anderem den Satz „Das weiß ich genau, ich war schließlich dabei!“ (ebd., S. 121), den auch der Erzähler, der Löwe, in ihrem Artusroman Iwein Löwenritter unwesentlich abgewandelt spricht: „Und so gut wie ich erzählt sie euch keiner. Ich war schließlich dabei.“ (Iwein, S. 250). 45 Für eine entsprechende Rezeptionslenkung vgl. ihr Interview HOPPE/KASATY, 2007, S. 142.

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Literatur muss nach Hoppes ästhetischem Autonomieanspruch in erster Linie für sich stehen, das bedeutet, immanent funktionieren. Dies wird auch durch eine Aussage über die Stadt Las Vegas in Hoppe gestützt, die poetologisch gelesen werden kann. Durch ihre Bezeichnung als „ehrlichste Täuschung von allen, die keine Täuschung, sondern die Wahrheit ist“ (Hoppe, S. 269) verweist sie unmissverständlich auf Hoppes Losung der ‚ehrlichen Erfindung‘. Später im Text heißt es, Las Vegas – bezeichnenderweise die Stadt des Glücks und damit in Hoppes Werksemantik auch der literarischen Erfüllung – zeichne sich dadurch aus, dass „es kein Draußen und kein Drinnen mehr gibt“ (ebd., S. 320). Stadtarchitektur und Kulisse, darauf müsste sich der Vergleich beziehen, fallen in eins. Dabei entspricht der Gegensatz von „Draußen“ und „Drinnen“ der raummetaphorischen Vorstellung des Zeichenbegriffs innerhalb einer dyadischen Semiotik, als äußeres Zeichen und innerer Bedeutung. In der Stadt Las Vegas zeigt sich offenbar die Einheit von konkreter und abstrakter Ebene, wie sie der Herzenstausch erfüllt. Es soll nun die These aufgestellt werden, dass sich die von Hoppe angestrebte Einheit zeichentheoretisch durch den Ikonbegriff fassen lässt. Die Unterscheidung zwischen Symbol und Ikon geht auf die semiotischen Arbeiten des Mathematikers und Logikers Charles S. Peirce (1839-1914) zurück. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist die idealtypische Differenzierung, 46 nach der das Ikon im Unterschied zum arbiträren Symbol eine Ähnlichkeit zu seiner Bedeutung aufweist. Bei Peirces Unterscheidung handelt es sich also um eine qualitative Differenzierung des Korrelatbezugs: Die Bedeutung des Ikons ist eine „abstrahierbare und interne Qualität“. Die Bedeutung des Symbols hingegen ist eine „unabstrahierbare oder relative Qualität“.47 Auch wenn es sich hierbei um eine Idealdefinition handelt, lässt sich der Grundgedanke erhellend auf Hoppes Erzählen übertragen. Die Inhärenz, die ein solches ‚ikonisches Erzählen‘ auszeichnet, verweist deutlich auf Hoppes erklärtes poetologisches Ziel, Innen und Außen zur Deckung zu bringen und schließt an ihre Ablehnung vertretungssymbolischen Sprechens an. Schon die Prosaminiaturen in Hoppes Debütband Picknick der Friseure (1996) kündeten im Spiel mit den wörtlich verstandenen Redewendungen von einer solchen Verbindung von konkreter

46 Im Falle einiger literarischer Bilder scheint kein kategorischer, sondern ein gradueller Unterschied vorzuliegen. 47 PEIRCE, 2000 [1867], S. 145. Ich zitiere hier die deutsche Übersetzung von Christian J.W. Kloesel und Helmut Pape, um die Terminologie im Folgenden homogener in den deutschsprachigen Beitrag zu integrieren; für den Originaltext vgl. http://www.peirce.org/ writings/p32.html.

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und figurativer Ebene, die auch im Ritterroman Paradiese, Übersee nachweisbar ist.48 In der inhärenten Bezogenheit des Bildes auf die Gegenstandsebene liegt auch maßgeblich Hoppes Faszination für die mittelhochdeutsche Epik begründet: Explizit schreibt sie über die Sprache in Hartmanns von Aue Iwein: „Sie [die Sprache] ist einfach und klar, so ungeziert wie bildreich und kräftig, sie beschäftigt sich niemals mit sich selbst, sondern zielt immer auf ihren Gegenstand.“ (Abenteuer, S. 35). Damit reagiert Hoppe zum einen auch implizit auf die Tendenzen in der literaturkritischen und -wissenschaftlichen Rezeption ihres Werkes, die seine sprachliche Selbstreferentialität in den Vordergrund gerückt haben.49 Vor allem zeigt sich hier jedoch, dass Hoppe an den mittelalterlichen Vorlagen die Einheit von bildreicher Sprache und Gegenstand hervorhebt, das heißt ihre Ikonizität. Trotz der notwendigen Vorbehalte gegenüber auktorialer Rezeptionssteuerung, wie sie in der Göttinger Poetikvorlesung vorliegt, lässt sich diese literarische Gegenstandsbezogenheit vielfach in Hoppes Erzählprosa nachweisen. Ein wichtiges Argument hierfür ist, dass sich die text- und werkinterne Kohärenzstiftung innerhalb der oftmals antilinearen Narration wesentlich auf visueller Wahrnehmung gründet.50 In mehreren Fällen werden Textteile nicht semantisch verknüpft, sondern durch visuelle Ähnlichkeiten zwischen Zeichen- und Bedeutungsebene. Vergleicht man die Beispiele ikonischen Erzählens in Hoppes Texten, so lassen sich zwei wesentliche Verfahren differenzieren. Die Verbindung von konkreter und abstrakter Ebene kann aus entgegengesetzten Richtungen erfolgen: Es finden sich einerseits fantastische Elemente, wie der eingangs zitierte Herzenstausch im Iwein, die die abstrakte Bildebene in eine konkrete Textrealität überführen. Genau gegenläufig sind die Beispiele angelegt, in denen eine konkrete Textrealität, die auch

48 Für Picknick der Friseure vgl. die aufschlussreiche Untersuchung von Florian Lippert, LIPPERT, 2015. In Paradiese, Übersee findet sich darüber hinaus beispielsweise der sprichwörtlich hingeworfene Fehdehandschuh (Paradiese, S. 25) später als realer Gegenstand im Handlungsgeschehen wieder (ebd., S. 111). 49 Dies trifft in besonderer Weise auf den Johanna-Roman zu. Tilmann Lahme zum Beispiel liest Johanna primär als „Sprachkunstwerk“, LAHME, 2006. 50 In vielen Fällen lässt sich nicht entscheiden, ob dem literarischen Einfall Sprachassoziationen oder visuelle Analogiebildungen zugrunde liegen. Da sich dies sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig nur durch empirische Studien einer kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft differenzieren ließe, wird hier exemplarisch eine motivische Vernetzung präsentiert, die sich meines Erachtens primär über visuelle Assoziation konstituiert. Zur Bedeutung von Wortfeldern für die intratextuelle Strukturierung vgl. die präzise Analyse von Maria Hinzmann in diesem Band.

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unserer aktualen Welt entspricht, durch Abstraktion transformiert und so mit einer bedeutungsvollen Ebene verknüpft wird. Dieses zweite Verfahren bedarf einer näheren Erläuterung. Bei dieser Form ikonischen Erzählens wird ein visuell wahrgenommener Eindruck so radikal abstrahiert,51 dass Formanalogien zu einer bestimmten abstrakten Ebene sichtbar werden. Bedeutung wird so als der konkreten Ebene inhärent vorgeführt und ist direkt von ihr abstrahierbar. Augenscheinlich werden diese Abstraktionsprozesse anhand der Reduktion von Bewegungsabläufen auf geometrische Grundmuster. Ein Beispiel im Johanna-Roman ist die Verschränkung der Tätigkeitsverben ‚schwimmen‘ und ‚schreiben‘ über die Analogie der Bewegung auf parallel angeordneten Geraden in Form von Schwimmbahnen und Schriftzeilen.52 Auf der Handlungsebene zeichnet sich signifikanter Weise Johanna, als Exemplifikation des poetologischen Prinzips, durch eine solche Fähigkeit zur visuellen Analogisierung aus: In ihrem zugreifenden Pragmatismus setzt sie sich in Ermangelung eines Helms eine „Puddingschüssel“ (ebd., S. 162) auf, um in die Schlacht zu ziehen. Die Verbindung von präziser Beobachtung der Wirklichkeit und Imaginationskraft wird in der ebenso schlichten wie kreativen Neuverwendung der Puddingschüssel veranschaulicht. Die visuelle Analogisierung von Gegenstand (Puddingschüssel) und Funktion (Helm) verweist auf Hoppes eigenes Analogisierungsverfahren, das ikonische Relationen zwischen konkreter und abstrakter Ebene herstellt. Mehrere De- und Rekontextualisierungen von Gegenständen in Hoppes Werk lassen sich nicht durch Sprachassoziation erklären und zeigen damit, wie sehr Hoppes Wahrnehmung und literarisches Schreiben von konkret-visuellen Ähnlichkeitsrelationen geprägt sind. Da sich die literarische Bedeutung aus der Abstraktion der wahrgenommenen Realität zu ergeben scheint, ist sie dieser auch inhärent, das heißt im Unterschied zum Symbol im Sinne von Peirce „abstrahierbar“. Dieser Prozess lässt sich besonders gut an jenen Texten nachvollziehen, deren Bezug zur alltäglichen Wahrnehmung noch deutlicher ausfällt, weil sie dem Leser mehr Kontextinformationen an die Hand geben. In der semi-autobiografischen Erzählung Der beste Platz der Welt (2009) sind die Abstraktionsschritte, die zu einer literarischen Transformation der Wirklichkeit führen, in vielen Passagen offensichtlicher als etwa in

51 Zur Bedeutung visueller Wahrnehmung für Hoppes Schreiben vgl. auch die Abstraktion auf den goldenen Schnitt in Der beste Platz der Welt beim Blick der Erzählerin in die Walliser Berge: Diese ästhetisierende Ausschnitthaftigkeit verweist auf eine fotografische oder malerische Bildkomposition (Platz, S. 20). 52 Vgl. „Wir beginnen, den inneren Stimmen zu lauschen und danach die Stimmen auf Zeilen zu ziehen.“ (Johanna, S. 56), sowie den Versuch am Ende, schwimmend „die Spur zu halten“ (ebd., S. 170).

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den Ritterromanen Paradiese, Übersee und Johanna. Auf einem (graduellen, nicht chronologischen) Spektrum fortschreitender Abstraktion und Autonomie von der beobachteten Wirklichkeit lässt sich Der beste Platz als weniger radikales Beispiel fassen und dient deshalb in besonderer Weise dazu, das Verfahren aufzuzeigen. In der folgenden Szene, in der sich die Erzählerin an ihre Panik in einem steckengebliebenen Aufzug erinnert, wird dieser Umschlag von konventionell realistischer Beschreibung in die erläuterte beobachtungsbasierte Imagination ersichtlich: Ich schwitzte entsetzlich, aber anstatt mir den Mantel vom Leib zu reißen, was wegen der Enge unmöglich war, begann ich zu beten. Nur was betet man zwischen Himmel und Erde in einer Moskauer Fahrstuhlkabine, wenn man, wie ich wenig Russisch kann und sich auch über dem zwanzigsten Stock der Erde näher fühlt als dem Himmel? (Platz, S. 11-12)

Aus der Abstraktion der Situation im Lift auf eine vertikale Verbindung ergibt sich eine metaphysische Bedeutungsebene, die der Realität tatsächlich und anschaulich entspricht, denn die Erzählerin befindet sich veritabler Weise zwischen Himmel und Erde. Das gestalterische Grundprinzip von Hoppes ikonischem Wahrnehmen und Erzählen ist folglich ein imaginationsbegabter Blick auf die Realität. Dabei ist zentral, dass der Gedanke im Vordergrund steht, Gegebenes durch Reduktion zu transformieren, nicht durch die symbolische Anreicherung mit kulturell signifikanten Details. Dies entspricht jenem Ziel literarischer Schöpfung sowie Lektüre, dem Hoppe in den Poetikvorlesungen den eindeutigen Vorzug gibt, nämlich nicht das deklarative, sondern prozedurale Wissen des Lesers zu steigern: Es gibt, grob gesagt, zwei Typen von Schreibern und, genauso vergröbert, zwei Typen von Lesern: Der eine ist auf Lernerfolg aus, der andere auf Erkenntnis, der eine möchte etwas erfahren, der andere will in die Schule der Wahrnehmung gehen. Der eine will Stoff, der andere Licht. (Abenteuer, S. 27)

Wie dargelegt, sind die Inferenzen, die zu der ikonischen Verbindung von konkreter und abstrakter Ebene führen, im zitierten Beispiel aus Der beste Platz vergleichsweise offensichtlich. Im Johanna-Roman hingegen muss der Leser an vielen Stellen konkrete und abstrakte Ebene selbst in Zusammenhang bringen: beispielsweise, indem er im wiederkehrenden Motiv der Leiter eine metaphysisch-reale Verbindung zwischen Himmel und Erde erkennt. Die Herausforderung, die diese Romane und Erzählungen an das Kohärenzbedürfnis des Lesers stellen, ist deshalb so groß, weil die Kontextinformationen teilweise vollständig herausgekürzt werden. Häufig steht statt der konkreten auch die abstrahierte und bedeutungsvoll transformierte Beschreibung für sich, wie ein Beispiel zeigt, in dem erneut auf Richtungen abstrahiert wird: Die Erzählerin in Johanna erklärt dem Geschichtsassistenten Peitsche folgendermaßen den Hundertjährigen

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Krieg: „WAFFENSTILLSTAND heißt die Devise. Denn vergessen Sie eins nicht, wir befinden uns jederzeit doppelt im Krieg. Einer nach außen und einer nach innen.“ (Johanna, S. 41-42). Was sich hier wie ein Aphorismus über das Verhältnis des Subjekts zur Außenwelt und zu sich selbst liest, bezieht sich zugleich auf einen konkreten historischen, jedoch kunstvoll ausgesparten Kontext, der Tatsache, dass Frankreich sowohl „nach außen“ gegen England Krieg führt, als auch einen innerfranzösischen Kampf gegen den Herzog von Burgund austrägt. Das hier in letzter Konsequenz ausgeführte ‚ikonische Erzählen‘ vereint die konkrete mit der abstrakten Ebene, die literarische Gestaltung ist ‚ehrlich‘ als sie in einer historischen Faktizität gründet. Nicht in allen Fällen lässt sich entscheiden, ob die Verknüpfung ursprünglich auf visuelle Analogie oder sprachliche Assoziation zurückgeht, stets ist sie jedoch durch konkrete Gegenständlichkeit in Szene gesetzt: So zählt die Erzählerin in Pigafetta beim Antritt ihrer Weltumsegelung auf einem Containerschiff eine ganze Reihe von Gegenständen auf – darunter „Rettungsringe für jeden Finger“ (Pigafetta, S. 7). Indem der konkrete Gegenstand „Rettungsring“ als Ring am Finger rekontextualisiert wird, ist seine symbolische Bedeutung etwa als Ehering53 angesprochen. Auf diese Weise wird die konkrete Ebene, die Rettung aus dem Wasser, um die abstrakte Ebene, einer existentiell-transzendentalen Rettung erweitert. 54 Es handelt sich im Sinne des Peirce’schen Zeichenbegriffs jedoch nicht um eine symbolische, sondern um eine ikonische Relation. Denn die abstrakte Bedeutung von ‚Rettung‘ ist eine „inhärente und abstrahierbare Qualität“ des konkreten Gegenstandes, die durch Hoppes Rekontextualisierung sichtbar gemacht wird. Dass visuelle Analogisierung für Hoppes Erzählverfahren konstitutiv ist, lässt sich an zahlreichen weiteren Beispielen belegen. In Der beste Platz55 imaginiert die

53 Dass die Vervielfachung des Ringes der Exklusivität der Eheschließung zuwiderläuft und diese somit ironisiert, beeinträchtigt die existentielle Bedeutungserweiterung des „Rettungsring[s]“ nicht. 54 In diesem konkret-metaphysischen Sinn geht „Rettung“ wiederholt in Hoppes Werk ein. In folgender Passage wird der Doppelsinn etwa durch Majuskeln suggeriert: „Zum Trost erfand ich das Spiel. Es heißt AUSSICHT AUF RETTUNG und geht so: Wenn sie mich hier, auf der Stelle, über Bord werfen, wohin muß ich mich dann schwimmenderweise wenden?“ (Pigafetta, S. 13), vgl. hierzu auch Hoppe, S. 169 und die Verwendung des Begriffs „Erlösung“ (Hoppe, S. 208, S. 252). 55 Wenn Hoppe die visuelle Ähnlichkeit zwischen ‚Schiff‘ und ‚Kirche‘ herausstellt sowie ihr „schmales hölzernes Bett“ als „Schlafschublade“ bezeichnet (Platz, S. 27), dann bestehen wie bei der geometrischen Ähnlichkeit zwischen Rettungsring und Fingerring auch sprachliche Verbindungen (vgl. ‚Kirchenschiff‘ und österreichisch/süddeutsch ‚Bettlade‘). Diese werden jedoch in der Erzählung nicht aufgerufen, sondern die Form-

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Erzählerin die Ringackerkapelle von Leuk im Wallis, deren angrenzende Einsiedelei sie bewohnt, als Schiff (vgl. Platz, S. 27) und die umliegende Alpenlandschaft als Meer: „Dafür drei Fenster mit Blick ins Tal, zum Horizont und aufs Meer.“ (ebd., S. 28). In der Einsiedelei hat Hoppe im Rahmen des Spycher-Literaturpreises der Gemeinde (2004) mehrere Arbeitsaufenthalte verbracht und diese autobiografische Grundlage, die hier weitaus deutlicher nachvollziehbar ist als in den vorangehenden fiktionalen Texten, plausibilisiert eine poetologische Lesart. 56 Die Vorstellung der Erzählerin, die die Kapelle als Schiff und die Einsiedelei mit „Kapitänskajüte“ (ebd., S. 28) als „zu tief gehängter Mastkorb“ (ebd., S. 21) mit „Schlafzimmerkoje“ (ebd., S. 27) erfahrbar macht, entspricht in ihren visuellen Analogisierungen der poetischen Transformation, die Hoppes Texten selbst zugrunde liegt. Unterstützt wird die Überlagerung von alpiner und maritimer Umgebung durch intertextuelle Verweise auf ihren Seefahrtsroman Pigafetta, die bezeichnenderweise selbst als autobiografische Elemente ihrer Weltumsegelung gelten dürften (vgl. ebd., S. 29). Der Ausgangspunkt einer genauen Beobachtung der aktualen Welt verweist auf ‚Ehrlichkeit‘ als ästhetisch-moralische Kategorie von Hoppes Schreiben. Jenseits einer bloßen Ausstellung des Fiktionsstatus kann ‚ehrliche Erfindung‘ so im Sinne einer elementaren Gegenständlichkeit, Schlichtheit und Geradlinigkeit57 begriffen werden. Diese These scheint wiederum durch die bildhafte Umsetzung in den literarischen Texten bestätigt, wo die Erzählerfiguren als rustikale Archetypen (Bauerntochter, Ritter, Kleiner Baedeker) und Schriftsteller als Handwerker vorgestellt werden.58 Aufgrund der auffälligen motivischen und strukturellen Markierung der fiktiven Erzähler als Alter Ego der Autorin im gesamten Erzählwerk sprechen gerade diese Rollen für die Möglichkeit eines Textverständnisses auf der Grundlage ikonisch begreifbarer Bezüge ohne das Wissen um literarische und kulturgeschichtliche Traditionen. In der Tat zeugen denn auch die nicht-fiktionalen Selbstbeschreibungen

analogien zwischen den Gegenständen auf konkreter und abstrakter Ebene, womit jedoch indirekt auch die sinnliche Anschaulichkeit der toten Metaphern wiederhergestellt wird. 56 Eine solche Auslegung der Erzählung hat Christine Kanz erstmalig vorgenommen, KANZ, 2015. 57 Vgl. für eine paradigmatische Verknüpfung dieser moralischen und ästhetischen Ebene den Aufsatz Ornament und Verbrechen [1908] des Architekten und Kulturkritikers Adolf Loos. 58 Vgl. zum Beispiel den literarischen Essay Die Tochter der Tochter des Schneiders, in dem sich Hoppe als Enkelin eines Schneiders zu erkennen gibt, der sich doppeldeutig durch den gekonnten Umgang mit Stoffen auszeichnet. Ihre Familiengeschichte wird so implizit als Schriftstellergenese stilisiert, vgl. HOPPE, 2008a.

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ihres literarischen Schaffens von einer solchen performierten Unbedarftheit. Mit einem Zitat aus Johanna charakterisiert Hoppe ihr eigenes Schreiben als „[e]infach, sorglos und unbedarft. Kein Oben, kein Unten, auch kein Dazwischen. Alles in allem sehr überschaubar.“59 Bezüge auf bildungskanonisches Wissen, das einen Paralleldiskurs zum literarischen Text liefert, würde vermutlich wie die Parallelwelten, die der illusionistische historische oder fantastische Roman kreiert, zudem ihrem Einheitsstreben und Autonomieanspruch zuwiderlaufen.60 Auch in Hinblick auf ihr eigenes Leseverhalten inszeniert sie diese Unbedarftheit und behauptet von sich, „wie eine Bäuerin“ zu lesen.61 Dies entspricht dem (zweifelhaften) anti-akademischen Habitus der Autorin insgesamt, die vorgibt, literaturwissenschaftliche Deutung sei ihr suspekt.62 Wie diese behauptete Naivität bei der Produktion und Rezeption von Literatur zu verstehen ist, erklärt sich aus der Beschreibung ihrer eigenen Lektüre, in der sie die ästhetische Autonomie des Textes über seine zeit- und literaturhistorische Relevanz stellt. Dies geht zum Beispiel deutlich aus ihrem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Michail Bulgakows satirisch-allegorischem Romanwerk Der Meister und Margarita (ent. 19281940) hervor. Zwar räumt sie ein, dass Kenntnisse über den historischen Entstehungskontext das Textverständnis klarer Weise erweitern; der Grund ihrer Bewunderung für Bulgakows Hauptwerk liegt jedoch darin, dass es „seine Wirkung auch auf den ahnungslosesten Leser nicht“63 verfehle. Zentral ist für Hoppe somit auch hier, dass der Roman seine essentielle Wirkweise textimmanent entfaltet. Der größte Reiz geht für sie dabei von der typisierenden Figurengestaltung aus, der eine allgemeine und damit im Unterschied zur historischen Relevanz überdauernde Gültigkeit zugesprochen wird: Die vermeintlich phantastische Ebene ist nur die Oberfläche, der glatte Spiegel dessen, was wir unbedarft „Alltag“ nennen, das einfach unverständliche Leben, die tückischste Dimension

59 HOPPE, 2008b, S. 39. 60 Zur Kritik am bürgerlichen Kanon und der Idee einer in bestimmten gesellschaftlichen Schichten angemessenen literarischen Lektüre vgl. auch Hoppes kurze Brieffiktion Was Goethe ein Kind ist!, HOPPE, 2008d, S. 49. 61 HOPPE, 2008b, S. 35. 62 Dies wird sowohl in der Parodie literaturkritischer und -wissenschaftlicher Diskurse in Hoppe, als auch in der Erinnerung an den Schulunterricht und den „an- und ausdeutungssüchtige[n] Englischlehrer“ (Schätze, S. 114) deutlich. Dass es sich hierbei um eine performative Inszenierung handelt, die Hoppes Kunstideal entsprechen mag, nicht aber der realen Autorin insgesamt, geht zweifelsfrei aus ihrer beständigen Bereitschaft zum Dialog mit der Literaturwissenschaft hervor. 63 HOPPE, 2012, S. 585.

232 | S VENJA FRANK von allen, in der niemand von uns zu Hause ist, in Moskau so wenig wie in Wien und Berlin. Wer würde ihn nicht sofort erkennen, jenen Beamten, der, kopf- und körperlos, nichts als sein leerer Anzug, an seinem Schreibtisch mit der Macht telefoniert, die keiner kennt. 64

Ihrer Auffassung und Bearbeitung von Hartmanns Iwein vergleichbar stellt Hoppe hier eine Simultaneität von konkreter und abstrakter Ebene heraus. Ihrer Lesart zufolge ist der kopf- und körperlose Beamte ebenso wenig wie der Herzenstausch literarisches Symbol, sondern Teil der Wirklichkeit. Da es sich natürlich dennoch um fantastische Elemente handelt, als sie sich wesentlich von der aktualen Welt, wie sie die Kulturgemeinschaft mehrheitlich versteht, unterscheiden, lässt sich Hoppes Insistieren auf diese ontologische Zuordnung nur so auflösen, dass die literarische Transformation konkrete und abstrakte Ebene amalgamiert. Hoppe beschreibt Bulgakows Roman mit dem Terminus des „Realphantastischen“, der sich deutlich erkennbar in den dargestellten Kontext ihrer poetologischen Aussagen fügt: Herausgekommen ist dabei ein Kunstwerk, hinter dem, wie der Historiker Karl Schlögel meint, die Geschichtsschreibung mit ihren Mitteln auf umgekehrte Weise weit zurück bleibt, denn „‚der magische Realismus‘ Bulgakows öffnet den Raum für Beschreibungsmöglichkeiten, die den Geschichtswissenschaften weitgehend verwehrt sind: Eine Geschichte der Verwirrung und Auflösung alles Festen, ein Raum des Phantastischen, das keineswegs irreal oder surreal ist – des Realphantastischen [...] Das wundersame Auftauchen und Verschwinden von Personen, zauberhafte Verwandlungen von Menschen und Tieren, die Fortbewegung in übernatürlicher Geschwindigkeit, die Unverwundbarkeit durch Waffen und Verfolgung, die Verwandlung von Wasser und Wein, von bekleideten in nackte Bürgerinnen, von gewöhnlichen Betrügern in Betrüger und Denunzianten, von Lebenden in Tote.“ (Schlögel, „Terror und Traum“, S. 35)65

Indem hier die Literatur als der Geschichtsschreibung überlegen dargestellt wird, verweist das Schlögel-Zitat noch einmal auf den eingangs erwähnten Gedanken, dass mit den nicht-wahren Sätzen fiktionalen Sprechens im Ganzen wahre Aussagen getroffen werden können und plausibilisiert so eine Verbindung von Bulgakows Mittel des „Realphantastischen“ mit dem Paradox ‚ehrlicher Erfindung‘. Im eigenen Schreiben strebt Hoppe gleichfalls eine Form an, die nicht in literarische Lektüre und literaturwissenschaftliche Parallellektüre zerfällt. Die Fragen der werk- und literaturgeschichtlichen Einordnung – dies offenbart auch die parodistische Überspitzung in Hoppe – zielen für die Autorin an der Essenz des literarischen Textes vorbei. Bestimmend scheint auch hier der Autonomiegedanke. Die Zuord-

64 HOPPE, 2012, S. 585. 65 Ebd., S. 586.

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nung der intertextuellen Einzeltextreferenzen in Hoppes Werk ist, so wurde überzeugend argumentiert, für den Kunstgenuss bei der Lektüre und den Bedeutungsgehalt zweitrangig.66 Eine parallel zum Handlungsgeschehen verlaufende Bedeutungsebene stünde auch Hoppes poetischem Ideal der Gegenwärtigkeit entgegen, in dem die beiden Ebenen integriert und simultan präsent sind. Eine Doppellektüre, wie sie zahlreiche Texte der Klassischen Moderne vor allem aber der Postmoderne erlauben – etwa als spannender Krimi einerseits oder als komplexes Spiel mit Intertexten andererseits – widerspräche Hoppes ‚ikonischem Erzählen‘, das eine konkret-abstrakte Einheit herstellt. Indem ihre literarischen Texte durch ikonisches Erzählen die Verbindung von konkreter und abstrakter Ebene permanent selbst vollziehen, verweigern sie sich solchen voneinander unabhängigen Mehrfachlektüren. Folglich schließen ihre Texte zugleich jedoch weniger komplexe Lektüren – Thomas Manns Buddenbrooks (1901) als Familienepos, Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) als historischer Kriminalroman – grundsätzlich aus. Die Naivität der Erzählerfiguren und auch des von Hoppe erwähnten Bulgakow-Lesers lässt sich somit nur bedingt mit der tatsächlichen Rezeption ihrer Texte in Beziehung setzen: Was das literaturhistorische und bildungskanonische deklarative Wissen anbelangt, mögen ihre Texte weniger voraussetzungsreich sein als es der bisherige literaturwissenschaftliche Diskurs vermuten lässt. Indem sie den Leser aber permanent in unkonventionelle Perspektiven auf die aktuale Welt zwingt, verlangt sie ihm ein hohes Maß an Abstraktionsund Analogisierungsvermögen67 und damit an prozeduralem Wissen ab. Die Texte sind dadurch weniger auf Wiedererkennung angelegt, als auf Transformation. Da sich Hoppes ‚ikonisches Erzählen‘ primär immanent erschließen lässt und vom konkreten Gegenstand ausgeht, scheint hier eine Annäherung an ihr poetologisches Ideal gegeben, das den Ursprung von Imagination in der genauen Beobachtung konkreter Realität verortet.

66 BERS, 2015, hier S. 12, vgl. besonders auch S. 13f. 67 Wie sehr Abstraktion und Analogie auch Hoppes eigenes Lektüreverhalten steuert, zeigt sich paradigmatisch in den unerwarteten Verknüpfungen, die sie in den Augsburger Vorlesungen etwa zwischen den Protagonisten in Kafkas Der Verschollene (ent. 1911-1914, posthum 1927) und Collodis Pinocchio aufmacht. „In beiden Fällen sind die Helden flankiert von einem literarisch charmanten Verbrecherpärchen, das Täter und Opfer zugleich verkörpert. Sie sind die gescheiterten Verführer ihres naiven Gegenübers, das so naturmoralisch wie ahnungslos von einer Falle in die nächste tappt.“ (Schätze, S. 87f.).

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Das Werk (Philologische Studien und Quellen 251), in Zsarb. mit STEFAN HERMES hg. von MICHAELA HOLDENRIED, Berlin 2015, S. 115-133. KÖPPE, TILMANN/KINDT, TOM, Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014. LAHME, TILMANN, Prahlhans und Tochter Gottes, wie nebenbei geschmiedet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Literaturbeilage), 4.10.2006, Nr. 230, S. L3. LIPPERT, FLORIAN, Die Phrasen dreschen zurück. Zur Subversion von Sprichwörtern, Redewendungen und Formeln bei Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe: Das Werk (Philologische Studien und Quellen 251), in Zsarb. mit STEFAN HERMES hg. von MICHAELA HOLDENRIED, Berlin 2015, S. 267-280. MAYER, MATHIAS, Fröhliches Paradox. Felicitas Hoppes Augsburger Poetik in Sieben Schätze und ihre Kontexte, in: Felicitas Hoppe: Das Werk (Philologische Studien und Quellen 251), in Zsarb. mit STEFAN HERMES hg. von MICHAELA HOLDENRIED, Berlin 2015, S. 135-144. PEIRCE, CHARLES S., Eine neue Liste der Kategorien. Vortrag, gehalten am 14.5. 1867 vor der American Academy of Arts and Sciences, in: DERS., Semiotische Schriften, übers. und hg. von CHRISTIAN J. W. KLOESEL/HELMUT PAPE, 3 Bde., Bd. 1, 1865-1903, Frankfurt a. M. 2000, S. 147-159. SCHAEFFER, JEAN-MARIE, Fictional vs. Factual Narration, in: the living handbook of narratology, hg. v. PETER HÜHN u. a., Hamburg, http://www.lhn.unihamburg.de/article/fictional-vs-factual-narration [8.3.2013], 1.1.2015. SCHEFFEL, MICHAEL, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen (Studien zur deutschen Literatur 145), Tübingen 1997. SMITH, KAREN MANNERS, Harry Potter’s Schooldays: J. K. Rowling and the British Boarding School Novel, in: Reading Harry Potter. Critical Essays, hg. von GISELLE LIZA ANATOL, Westport, Connecticut/London 2003, S. 69-87. STEEGE, DAVID K., Harry Potter, Tom Brown, and the British School Story. Lost in Transit?, in: The Ivory Tower and Harry Potter. Perspectives on a Literary Phenomenon, hg. von LANA A. WHITED, Columbia/London 2002, S. 140156.

Historische Maskerade Felicitas Hoppes Romane als Bachtin’scher Karneval V ERONIKA S CHUCHTER

Das Spiel, die Maskerade und andere Elemente des Karnevals sind Fixpunkte in beinahe allen Texten von Felicitas Hoppe. Sie tauchen aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene auf, sondern sie sind zudem wesentliche Bestandteile des ästhetischformalen Erzählprogramms der Autorin. Im vorliegenden Beitrag soll unter Berücksichtigung von Michail Bachtins Konzepten der Dialogizität und Polyfonie das karnevaleske Moment in Felicitas Hoppes Erzählwerk, vor allem in den Romanen Paradiese, Übersee (2003), Johanna (2006), und Hoppe (2012) herausgearbeitet werden und zwar auf Ebene des Sujets, der Sprache und der Textgattung. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorangestellt, dass das Motiv des Karnevals von seiner Anlage her keine bewusste narrative Strategie darstellt (auch wenn es durchaus als solches eingesetzt werden kann). Statt einer autorzentrierten Interpretation soll daher die ‚Karnevalisierung‘ der Literatur ganz im Sinne Michail Bachtins1 als Traditionslinie und Textdynamik begriffen werden, die flexibel ist und die Individualität der einzelnen Autorinnen und Autoren in keinster Weise tangiert beziehungsweise formal einengt.

B ACHTINS K ARNEVAL Bachtin beschreibt, ausgehend von der Karnevalstradition des Spätmittelalters und der Renaissance, einen Prozess der Karnevalisierung, der als überzeitliche „Umkehrung von Hierarchien, Umwertung, Ambivalenz, Maskierung und Polyphonie“2 in

1

BACHTIN, 1971.

2

ZIMA, 2001, S. 308.

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der Literatur fortwirkt. Es handelt sich dabei nicht um ein starres Konzept, das beliebig jedem Inhalt übergestülpt werden kann,3 und nicht jeder Text, der karnevalistische Elemente wie etwa die Profanation aufweist, steht in der Tradition der Karnevalisierung, in der Bachtin so unterschiedliche Autoren wie Voltaire (1694-1778), Ludwig Tieck (1773-1853), Honoré de Balzac (1799-1850), George Sand (18041876) und Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) verortet. Zu den Pionieren gehören neben Rabelais (1494-1553) auch Shakespeare (1564-1616) und natürlich Cervantes (1547-1616), für den deutschsprachigen Raum ist Grimmelshausen (1622-1676) als ein zentraler Bezugspunkt zu nennen, Bachtin erwähnt aber auch E. T. A. Hoffmann (1776-1822) und die Romantik im Allgemeinen, was durch die geistige Nähe zum Mittelalter, aber auch die Überschreitung von Gattungsgrenzen bedingt ist. In neueren Deutungen, die den pädagogischen Aspekt vernachlässigen, kann auch Carlo Collodis Le avventure di Pinocchio (1883), ein Lieblingstext Hoppes, als karnevalistischer Text gelesen werden.4 Diese intertextuellen Verbindungen, die eher in Feldern als in Linien organisiert sind, sind deshalb von entscheidender Bedeutung, legt Bachtin doch großen Wert darauf, „die möglichen Quellen eines Autors zu kennen, jene literarische Atmosphäre, in der sein Werk entstanden ist“,5 ohne damit anzudeuten, dass es deshalb zwangsläufig zu einer bewussten Übernahme literarischer Muster kommen muss. Eine Affinität zur Romantik und besonders zum Mittelalter lässt sich auch für die Autorin Felicitas Hoppe konstatieren.6 Die literarische Atmosphäre, in der das Werk Hoppes seine Inspirationen findet, ist deutlich geprägt von den Erzähltraditionen des Märchens, der mittelalterlichen Aventiure und dem Schelmenroman. Das Figurenrepertoire Hoppes speist sich aus der karnevalistischen Tradition: Könige, Narren und Ritter haben ihren Auftritt und stehen ganz im Zeichen der Karnevalslogik, also der Umwertung und Umkehrung hierarchischer Konstellationen und hegemonialer Setzungen. In Probleme der Poetik Dostoevskijs (1971) fasst Bachtin das zentrale Moment der Karnevalisierung wie folgt zusammen: Der Karneval ist ein großes, das ganze Volk erfassende Weltempfinden vergangener Jahrtausende, ein Weltempfinden, das von Angst befreit, das in höchstem Maße die Welt dem Menschen und die Menschen einander annähert (alles wird in den Bereich des freien, familiären

3 4

Vgl. BACHTIN, 1971, S. 188. Zu Carlo Collodis Kinderbuchklassiker Le avventure di Pinocchio (1883) vgl. die zahlreichen Bezugnahmen Felicitas Hoppes in ihrer Poetikvorlesung Sieben Schätze (vgl. unter anderem Schätze, S. 72) sowie den Beitrag von Lena Ekelund im vorliegenden Band.

5

BACHTIN, 1971, S. 177.

6

Vgl. dazu auch Sandra Langers Beitrag in diesem Band.

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Kontaktes einbezogen), das mit seiner Freude am Wechsel und seiner fröhlichen Relativität dem nur einseitigen und düsteren offiziellen Ernst gegenübersteht, der durch Angst hervorgerufen, dogmatisch, dem Werden und Wechsel feindlich ist und den bestehenden Zustand des Seins und der Gesellschaftsordnung zu verabsolutieren sucht. Gerade von diesem Ernst befreite das karnevalistische Weltempfinden. Aber es enthält nicht ein Körnchen Nihilismus, nicht ein Körnchen leeren Leichtsinns und trivialen Individualismus’ der Bohème.7

Es ist dieses spezifische Weltempfinden, das den Karneval ausmacht, nicht seine Bestandteile, die im Einzelnen durchaus fakultativ sind. So finden sich bei Hoppe etwa in keinem ihrer Texte groteske Körperkonstrukte im Sinne Bachtins, keine Darstellung radikaler Körperlichkeit, die sich im Geschlechtsakt, dem Trinken, der Völlerei oder der Ausscheidung ausdrückt. Diese Form des Materiell-Leiblichen spielt bei Hoppe eine eher untergeordnete Rolle.8 Selbiges trifft indes auch auf andere Autoren zu, die Bachtin in die Tradition des Karnevals stellt. Das karnevalistische Weltempfinden prägt Hoppes Poetik hingegen in besonderem Maße, was eine textanalytische Betrachtung im Folgenden zeigen soll.

J OHANNA (2006) 9 Wie könnte man anders, als bei der Verknüpfung von Felicitas Hoppes Johanna mit Bachtins Konzept des Karnevals an die Szene des Kostümfestes zu Beginn des Romans zu denken: Natürlich, Gäste, rief ich, fast hätte ich die Gäste vergessen, und das Spiel. Sie haben uns doch ein Spiel versprochen, ERKENNE DEN KÖNIG, höchste Zeit, dass wir endlich zu spielen beginnen. Was allerdings die Spieler betrifft: Viele schlechte Kostüme. Wie soll man den wahren König erkennen, mindestens sieben maskierte Karls. Von den Damen zu schweigen. Ein schlecht besetzter Hofstaat. Ein Herold in Schwarz, ein gelblicher Narr, zwei bräunlich grundierte Hundekostüme, drei Fackelträger und ein Mundschenk, der nebenbei den Vorkoster gibt und aussieht, wie schon gestern vergiftet. (Johanna, S. 17)

„[D]ie Verkleidungen, das heißt: den karnevalistischen Wechsel von Kleidung, Lebensstellung und Schicksal“10 bleiben indes nicht auf das Kostümfest beschränkt,

7 8

BACHTIN, 1971, S. 180 (Hvhbg. i. Orig.). Ausnahmen bilden allerdings einzelne Miniaturen wie Die Hochzeit oder Der Balkon aus der Erzählsammlung Picknick der Friseure (1996). Auch durchziehen Aspekte der Sexualisierung den späteren Roman Johanna (2006).

9

Zu den folgenden Ausführungen vgl. SCHUCHTER, 2013, S. 129-143.

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sondern ziehen sich als Symbol der beständigen Inszenierung und Selbstversicherung von Identität durch den gesamten Text. Die Kostüme und Masken sind vielfältig: Mützen, Hauben und Kronen, die dem Träger aufgesetzt werden, nicht immer willentlich, und diesen etikettieren, jedem Signifikat seinen Signifikanten zuweisen, während die Rüstung den Träger einschließt und sein Innerstes gegenüber außen unkenntlich macht. Akademische Titel erscheinen ebenso als Kostümierung wie Namen, Farben und Requisiten. Als Form der Travestie bricht die Maskerade starre Konzepte von Identität auf und erweitert als Mittel der Performanz den Spielraum des Selbst. Kostümierung und Maskerade stehen daher nicht nur für Freiheit und subversiv verschobene Handlungsmächtigkeit, sie können einfach in ihr Gegenteil verkehrt werden und eine Simplifizierung und Fixierung darstellen, wie folgendes Zitat aus Johanna indiziert: Also Vorsicht mit Kronen. Vorsicht mit Devisen und Fahnen. Achtung bei der Wahl Ihres Pferdes, bei der Wahl Ihrer Dame, bei der Wahl Ihres Ritters, bei der Wahl eines Knappen. Auf hundert falsche kommt selten ein echter. Aufgepasst bei der Wahl Ihrer Waffen, bei der Wahl Ihres Wappens. Sorgfalt bei der Wahl Ihrer Farben. (ebd., S. 33)

Im Sinne von Bachtin symbolisieren der Karneval und die Wahl eines Karnevalskönigs „die fröhliche Relativität einer jeden Ordnung, Gewalt und Hierarchie“.11 Einen Karnevalskönig gibt es in Johanna zwar nicht, aber jede Menge Königskostüme und trotzdem (oder gerade deswegen) ist „keine einzige echte Krone im Spiel“ (ebd., S. 17). Die Rolle des Karnevalskönigs, oder in diesem Fall der Karnevalskönigin, fällt Johanna selbst zu, versteht Bachtin darunter doch die Erhöhung, Erniedrigung und Mystifikation des Helden beziehungsweise einer Heldin und damit die Relativität des Lebens an sich. Da Johanna in diesem Roman nicht greifbar wird, ist sie auch nicht auf Peitsches Kostümfest anzutreffen: „Sie hält sich auch nicht auf Kostümfesten auf, sondern trägt mühelos alle Farben auf einmal.“ (ebd., S. 18). Was Johanna auch anhat, auf Bildern, als Statue, in Stücken und Filmen, sie wird immer kostümiert erscheinen, in der Rüstung genauso wie im Schäferkleid. Der Körper wird zur Leinwand für Vereinfachungen, die behaupten zu wissen, was das Wesentliche sei, als könne das Kostüm den charakterlichen Kern und die Identität eines Menschen widerspiegeln. Genau deshalb muss der Jungfrau der Auftritt im Text auch verwehrt bleiben. Peitsche hingegen dient das Kostüm als Versteck. Als Veranstalter des Festes überlässt er seine Gäste sich selbst und zieht sich lieber mit der Ich-Erzählerin ins Nebenzimmer zurück zu seinen Mützen, die signifizierbare Identitäten versprechen

10 BACHTIN, 1969, S. 52. 11 Ebd., S. 51.

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und deren performatives Potenzial sich sogleich erschöpft. Peitsche hat so viele Mützen gefaltet, dass die Aufschriften mit der Zeit verblasst und nicht mehr zu entziffern sind und es ironisch erscheinen muss, dass ausgerechnet er der IchErzählerin eine Vorliebe für das Einfache unterstellt. Maskerade und Kostümierung heben die Kausalität von Identität und Rolle auf. Das Verhalten der Spieler, so Bachtin, „ist nicht von jener Rolle bestimmt, die sie im gewöhnlichen Leben spielen“.12 Wie das Spiel ermöglicht auch der Karneval den Ausbruch aus den Schranken des Alltags, den Positionswechsel im Feld, und sei er temporär begrenzt. Die Kategorie der Identität wird dabei einer Neubewertung unterzogen – ein Aspekt, der später noch vertieft wird. Kostüme sind, genau wie individuelle Kleidung, nichts anderes als freiwillig gewählte Rollen und als solche offenbaren sie mehr als sie verhüllen. Zuschreibungen erfolgen nicht nur extern, sie können auch selbst ‚übergestreift‘ werden, wie ein Kostüm. Die Rüstung macht die Heldin, das Schwert die Täterin, das Büßergewand das Opfer. Zur Not ersetzt die Puddingschüssel den Helm, „[m]an muss sich eben zu helfen wissen“ (Johanna, S. 162). „Nicht das Schwert ist die Waffe, sondern der, der es führt, nicht das Ding hat Bedeutung, sondern wir sind es selbst, die den Dingen ihre Bedeutung geben.“ (ebd., S. 83). Mit Bachtin kann man in dieser Zweckentfremdung13 die karnevalistische Exzentrik sehen, die Abkehr „vom Gewöhnlichen und allgemein Üblichen“,14 das Verlassen eingefahrener Bahnen. Diese Verschiebung auf der Ebene des Sujets korreliert mit der „Befreiung der Dinge und Worte aus ihren angestammten Kontexten, die es ihnen erlaubt, ‚ungezwungene‘ und neue Verbindungen einzugehen“.15 Die Kostüme sind demnach nicht nur Sinnbilder verschwimmender Identitäten, sondern solche des Subjekts überhaupt. Der „Gegensatz von Autonomie und Ausgeliefertsein“16 macht Johanna somit zum Subjekt im Foucault’schen Sinne. Ist die Maskerade nun im jeweiligen Kontext negativ oder positiv besetzt, sie bleibt immer ein Mittel der Macht – wie etwa im Falle von Loiseleur, „der sich nachts ins Gefängnis der Jungfrau schleicht und dabei oft und gern die Kostüme wechselt“ (Johanna, S. 44), um Johanna zu täuschen und ihr Vertrauen zu gewinnen: „Mal gibt er den Beichtvater, dann wieder den Landsmann aus Lothringen, den königstreuen Leidensgefährten, den Armagnac in der Rolle des Schusters.“ (ebd.). Das Kostüm dient zur Tarnung, Täuschung und Verführung. Vorsicht ist demnach

12 BACHTIN, 1971, S. 193. 13 Vgl. BACHTIN, 1969, S. 53. Bachtin führt diesbezüglich den Topf als Kopfbedeckung und Hausgeräte zum Waffengebrauch als Beispiele an. 14 Ebd. 15 SASSE, 2010, S. 173. 16 NEUHAUS, 2008, S. 39.

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vor allem dann geboten, wenn auf den ersten Blick kein Kostüm zu erkennen ist. Johannas Bewährungsprobe, den verkleideten König zu erkennen, meistert sie mühelos, so wie die Ich-Erzählerin auf Peitsches Fest sich von den schlechten Kostümen nicht narren lässt, die auf nichts anderes zählen als auf „die Wirkung der Farben, auf die Kraft der Verwechslung“ (ebd., S. 17). Gefährlich sind jene Maskierungen, die vorgeben, echt zu sein, so wie Loiseleur oder Johannas Stimmen: „Waren die heiligen Stimmen nackt? Als hätte Gott nicht genug Kostüme!“ (ebd., S. 48). Schlechte Kostüme und schlechte Täuschungen werden zwar leichter enttarnt, sie binden den Träger aber umso mehr an sein Kostüm, weil es seine Absichten entlarvt, vor allem wenn vergessen wird, „beim Lügen sein Gesicht zu verstellen“ (ebd., S. 133), wie es einem der beiden Beisitzer bei der Prüfung der Erzählerin unterläuft. Kostüme haften auch nach dem Ablegen an ihren Trägern wie Charakterbeschreibungen, was im Falle des grünen Königs und des Hundekostüms deutlich wird – der eine ist neidisch und will hoch hinaus, der andere, so lässt sich vermuten, ist dem Professor hündisch ergeben.

T EXTGATTUNG Johanna, Rose von Domrémy! Lieblingsrose historischer Gärtner! Eine Blume, die jeder im Knopfloch trägt und ganz nach Geschmack seinen Zwecken zuführt, weil sie auf jedem Schlachtfeld blüht. Gestern links außen und morgen weit rechts. (Johanna, S. 130)

Johanna ist weder ausschließlich ein historischer Roman noch eine literarische Biografie. Assoziationen zu beiden Genres sind indes konzeptionell beabsichtigt. Der ganze Text gibt sich kostümiert: Leseerwartungen werden systematisch konterkariert. So sind die meisten Rezensionen auch damit beschäftigt, hervorzuheben, was Johanna eben nicht ist: „Poesie statt Historie“ 17 heißt es in der Wiener Zeitung, „Pseudo-Historie“18 im Falter, „Felicitas Hoppe erzählt die etwas andere Geschichte der Johanna von Orleans“19 schreibt Stefan Neuhaus in der Furche oder die Schriftstellerin Angelika Overath „Johanna für Profitaucher. Felicitas Hoppe hat keinen Roman zu Jeanne dʼArc geschrieben“20 in der Neuen Zürcher Zeitung.21

17 WIRTHENSOHN, 2007, S. 11. 18 FEDERMAIR, 2006, S. 17. 19 NEUHAUS, 2006, S. 20. 20 OVERATH, 2006, S. 11, B. 21 Insgesamt nahm das deutschsprachige Feuilleton Hoppes Johanna durchweg positiv auf, wobei alle wichtigen Besprechungen den Fokus auf den unkonventionellen Umgang mit dem historischen Stoff legen und dessen Gelingen zum zentralen Wertungskriterium er-

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Was Bachtin als vierte Kategorie des Karnevals beschreibt, die Profanation, zeigt sich in Johanna nicht als „karnevalistische[] Parodie heiliger Texte und Aussprüche“,22 wohl aber als karnevaleske Kommentierung beinahe ebenso sakral gehandelter, doktrinärer und ideologisch aufgeladener Lehrmeinungen. Aus diesem Blickwinkel kann Johanna als postmoderne Gelehrtensatire gelesen werden. Die Profanation ist „das Spiel mit den Symbolen der höchsten Macht“,23 so Bachtin, „Parodieren ist die Herstellung eines profanierenden und dekouvrierenden Doppelgängers, Parodie ist umgestülpte Welt“.24 Besonders deutlich zeigt sich dieses parodistische Moment im Prolog, der die Erwartung eines historischen Romans oder einer literarischen Biografie schnell durchkreuzt und ein positivistisches Wissenschaftsverständnis karikiert. Der Text mutiert zur Maskerade, der sich oberflächlich als knapper historischer Abriss lesen lässt, als Abbild einer positivistischen Ordnung von Fakten, Daten, Orten, Namen und beteiligter Parteien. Gleichzeitig wird die starre Struktur durchdrungen von poetischer Imagination und Auflösung. Scheinbar historisch verbürgte Tatsachen werden durch die Polyvalenz der Formulierung infrage gestellt, ihre Brüchigkeit auf diese Weise markiert: „Achtzig oder achthundert englische Soldaten“ heißt es etwa, (Johanna, S. 9), soviel Unbestimmtheit verträgt weder ein historischer Roman noch eine Biografie. Aber auch innerhalb des literarischen Feldes sind intertextuelle Bezüge unübersehbar. Der Prolog lässt sich unschwer als ironische Allusion auf George Bernard Shaws umfangreiche Vorrede25 zu seinem Stück Saint Joan (1924, dt. Die heilige Johanna, 1924) lesen, in welcher der Dramatiker seine Sicht auf Johanna unmissverständlich darlegt. Für Shaw, so die Quintessenz, ist Johanna die erste Protestantin, da sie die Vermittlerrolle des Klerus zwischen den Gläubigen und Gott gefährdet. Er verlässt sich nicht allein auf die Kraft seines Stückes, sondern liefert eine Leseanweisung für das nachfolgende Drama mit.

heben. Während Tilman Lahme sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (LAHME, 2006) von der poetischen Herangehensweise irritiert zeigt und den Leser ohne eigenes geschichtliches Wissen überfordert glaubt, gibt sich Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung (STEINFELD, 2006) begeistert von Hoppes vielseitiger Annäherung an Johanna und betont gerade die tiefgreifende Auseinandersetzung der Autorin mit dem historischen Hintergrund. Jochen Jung bezeichnet den Roman in der Zeit (JUNG, 2006) als „schelmisches Kunstwerk“, das die Dichtung über die Wissenschaft siegen lässt. 22 BACHTIN, 1969, S. 49. 23 Ebd., S. 52. 24 Ebd., S. 54. Zur Gattungsreferenz auf die Tradition der Gelehrtensatire vgl. auch den Beitrag von Ernest Schonfield in diesem Band. 25 SHAW, 1990 [1924].

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S PRACHE Die Sprache des Karnevals ist gekennzeichnet durch semantische Ambivalenz. Sie verbindet die spielerische Feier der Sprachästhetik mit ihrer gleichzeitigen Relativierung und emanzipiert sich dabei von der „allgemeinen Sprache“, die Bachtin mit der „anonymen, gängigen Meinung“26 gleichsetzt. Julia Kristeva zufolge, deren Intertextualitätskonzept sich aus dem Rückgriff auf Bachtin entwickelte, besitzt das Wort auch philosophische und politische Implikationen: Die Rede des Karnevals (le discours carnavalesque) durchbricht die Regeln der von der Grammatik und der Semantik zensierten Sprache und ist dadurch gesellschaftliche und politische Widerrede: es handelt sich nicht um eine Äquivalenz, sondern um die Identität zwischen der Zurückweisung des anerkannten linguistischen Kodes und der Zurückweisung des anerkannten Gesetzes.27

Hoppes polyvalente Sprachbilder stellen in der Überschreitung semantischer Normverknüpfungen eine solche Widerrede dar. Die rationale Ordnung der Sprache, die sich über ein klar definiertes Referenzsystem strukturiert, wird nicht zer-, wohl aber gestört und ausgeweitet. „Das Wort“, so Silvia Sasse, „erscheint als maskiertes Wort, es ist oxymoral und paradoxal in seiner Bedeutung und als solches wird es wiederum dargestellt in Worttravestien und in der Wortakrobatik.“ 28 Der Karneval etabliert eine „andere Logik“29 und tritt mit der alten Ordnung in einen versteckten Dialog: Stellen wir uns den Dialog zweier Menschen vor, bei dem die Repliken des zweiten Partners weggelassen sind, aber so, daß der allgemeine Sinn dadurch nicht beeinträchtigt wird. Der zweite Gesprächspartner ist unsichtbar anwesend, seine Worte fehlen, doch die tiefe Spur dieser Worte bestimmte alle anwesenden Worte des ersten Gesprächspartners. Wir spüren, daß es sich um ein Gespräch handelt, und zwar um ein angespanntes Gespräch – obwohl doch nur einer spricht. Jedes anwesende Wort reagiert eben mit allen seinen Fibern auf den unsichtbaren Partner, es weist über sich hinaus auf das ungesagte fremde Wort.30

26 BACHTIN, 1979, S. 193. 27 KRISTEVA, 1972 [1967], S. 346. 28 SASSE, 2010, S. 163. 29 KRISTEVA, 1972 [1967], S. 374. 30 BACHTIN, 1969, S. 124.

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„So gehorcht das polyvalente und mehrfach bestimmte poetische Wort den Regeln einer Poetik, die über die Logik des kodifizierten Diskurses hinausgelangt und sich nur am Rande der offiziellen Kultur völlig verwirklicht.“ 31 Die rationale Bedeutungsökonomie wird also durch eine semiotische Utopie infrage gestellt. Die karnevaleske Form, so Bachtin „verhilft zur Loslösung vom herrschenden Weltbild, von Konventionen und Binsenwahrheiten, überhaupt von allem Alltäglichen, Gewohnten, als wahr Unterstellten.“32 Als subversive Spiegelung der offiziellen und autoritären Kultur fungiert der Karneval als Absage an Macht, Gewalt und Autorität in der Sprache des Lachens.33 Er firmiert jedoch nicht als Gegenrealität, sondern fügt sich in das Leben ein, fungiert sogar als verbindendes und familiäres Element und zeigt Potenziale auf, mit der Welt umzugehen. Hoppe kreiert weder fantastische noch historische Welten, sondern sie verweigert sprachlich eine eindimensionale Abbildung der Realität. Auch hier zeigt sich wieder die Parallele zu Bachtin, für den das Zeremoniell des Karnevals „keine pure absolute Verneinung oder Vernichtung“34 ist, weil sich alle seine Elemente auf einer zweiten Ebene positiv gedeutet finden.

D IALOGIZITÄT

UND

P OLYFONIE

Die erzählende Instanz in Johanna ist scheinbar leicht auszumachen; zu glauben, damit wäre die Frage nach dem ‚Wer spricht?‘ beantwortet, ist jedoch voreilig. Nicht nur bleiben Dialoge unmarkiert, auch werden direkte Reden ungekennzeichnet einmontiert, was den Leser zur permanenten Aufmerksamkeit zwingt. Die Erzählerin oszilliert, sie scheint sich in unkalkulierbarer Weise auf den Leser zu-, dann wieder von ihm wegzubewegen. Dabei trifft der Rezipient in der IchErzählerin nicht auf eine typische unzuverlässige Erzählerin. Weder versucht sie den Leser zu täuschen noch gibt sie ihm Anlass, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Allerdings beginnt der Text mit einem Rätsel: Damen und Herren, was bleibt, ist ein Rätsel. Was ist das? Schwimmt wie ein Fisch, heult wie ein Hund, fällt auf die Knie wie ein Bettelbruder und feiert sich wie ein französischer König. Das menschliche Herz, ruft Peitsche, der alles verträgt, nur keinen Rauch. Er weiß, dass mir Rätsel zuwider sind, also löst er sie rasch. (Johanna, S. 11)

31 Ebd. 32 BACHTIN, 1987, S. 85. 33 Vgl. BACHTIN, 1969, S. 35. 34 Ebd., S. 51.

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Die Kommunikationsangebote der erzählenden Instanz sind in ihrer enigmatischen und mehrdeutigen Art weniger assertiv als appellativ. Die Leseransprache „Damen und Herren“ ist als Aufforderung zu verstehen, am Rätsel, das der Text darstellt, konstruktiv mitzuarbeiten, weshalb Martin Hellström zu Recht darauf hinweist, dass dem Rezipienten die Möglichkeit eröffnet wird, sich selbst im Beziehungsgeflecht des Textes zu verorten und die Geschichte dabei neu zu erzählen. 35 Wer Hoppes Texte als Vexierspiel betrachtet, an dessen Ende als Belohnung hermeneutischer Mühen ein fertiges Bild steht, wird, das zeigt insbesondere die Laienkritik,36 enttäuscht werden. Der Karneval macht nur dann Spaß, wenn man mitmischt, aber nicht, wenn man ihn lediglich als Außenstehender und Unbeteiligter zu verstehen sucht. Indem er als Volksfest alle Schichten miteinander in Beziehung setzt, steht er zum einen im Zeichen der Familiarität, zum anderen löst er gleichzeitig auch die Grenze zwischen den Akteuren und dem Publikum auf.37 Damit ist Johanna ein hochgradig dialogischer Text. Die Dialogizität besteht im ständigen Kommunikationsangebot an den Leser, der kontinuierlich zur Sinnstiftung eingeladen wird. Selbstredend ist der Prozess der Sinnstiftung Teil jeder literarischen Lektüre, und sei sie noch so trivial, jedoch gibt es wenige Texte, die dem Rezipienten seine eigene Mitarbeit und damit die kommunikative und dialogische Grundstruktur von Literatur an sich so explizit vor Augen führen. Dennoch lassen sich aus der Stimme der Ich-Erzählerin unterschiedliche, widerstreitende Perspektiven auf die Jungfrau und damit auch Weltsichten filtern, wodurch der monologische Duktus aufgebrochen und eine dialogische Redevielfalt,38 realisiert wird. Die Stimme der Ich-Erzählerin bündelt die anderen Stimmen, ohne sie zum Schweigen zu bringen, wodurch es zu einer „offene[n] Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen“39 kommt. Bachtin verortet das dialogische Prinzip sowohl textimmanent als auch extern in der Gesellschaft. Durch die Stimmenvielfalt im Text werden gesellschaftliche Wahrheitsansprüche infrage gestellt. Diese Polyfonie artet aber nie

35 Vgl. HELLSTRÖM, 2008, S. 35. 36 Vgl. stellvertretend dieses Beispiel aus einer Kundenrezension: „Ich habe mich regelrecht durch dieses Buch hindurchgequält, immer in der Hoffnung, doch noch etwas zu verstehen, aber es ist mir nicht gelungen. Eine Anhäufung von inneren Monologen verschiedener Personen, unheitlich [sic], ohne Zusammenhang, schön klingende Sätze, die aber nur Fetzen bleiben. Was wollen die Erzähler eigentlich? Und wer sind sie? Dieses Buch ist kein Roman, es ist keine Biografie, aber was es eigentlich sein möchte, ist mir nicht klar geworden. Ein Sprachrätsel?“, JARDAS, 2007. 37 Vgl. SASSE, 2010, S. 170. 38 Bachtin sieht diese sowohl in der Unterscheidung von Erzähler- und Figurenrede als auch in der inneren Polyvalenz des Wortes gegeben. 39 KLAWITTER/OSTHEIMER, 2008, S. 94.

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in Indifferenz aus. Der Begriff der ,Polyfonie‘ bezeichnet bei Bachtin zunächst die Vielzahl an Stimmen und Diskursen im Roman, die sich durch unterschiedliche soziale Stellungen und Sprechweisen definieren. Polyfonie drückt sich aber nicht nur in der Kombination diverser Sprachvarietäten und Register aus, sondern auch in erzählerisch vermittelten ideologischen Standpunkten, Werten und Normen. In Johanna findet sich diese Polyfonie nicht zuletzt in der akademischen Hierarchie des Universitätsbetriebs, vom Professor bis hin zur Studentin und zum Untersuchungsgegenstand, der Jungfrau, die zum Schweigen verdammt ist. Dem akademischen Betrieb wird die karnevaleske Szenerie des Kostümfestes entgegengesetzt und in der Prüfungsszene schließlich zusammengeführt. Der Professor und die Erzählerin bilden die oppositionellen Stimmen des hybriden Dialogs zwischen Wissenschaft und Poesie, was sich deutlich in der Prüfungssituation zeigt, die zum Monolog des Professors mutiert: Eine richtige schöne Frauengeschichte, eine Herzensangelegenheit. Ein Mann, eine Frau. Ein Spion, eine Hexe. Ein Fluss und zwei Herzen. Zwei Herzen, die sich im Tod wieder finden. Erlösung durch Tod. Verzeihung durch Nachsicht. Liebe Dame! Wissen Sie, wie das die Wissenschaft nennt? Sie sehen nicht aus, als ob Sie das wissen, und das, unter uns, ist auch besser so. Tatsächlich, Sie sollten Romane schreiben, mir scheint, Sie haben das Zeug dazu, Einbildungs- und Empfindungskraft. (Johanna, S. 123)

Als Vertreter eines apodiktischen Wissenschaftsverständnisses wird der Professor zur Verkörperung des monologischen Textprinzips, der autoritären Rede, der die Dialogizität und Polyfonie von Literatur, in Gestalt der Ich-Erzählerin, entgegensteht. Wissenschaft und Poesie erscheinen aus Sicht der akademischen Richtinstanz zudem geschlechtlich codiert, wobei das weibliche Prinzip der narrativen Imagination im Textdiskurs schlussendlich die Oberhand behält. Die Karnevalisierung zeigt sich hier über die Bildung von Karnevalspaaren, wobei sowohl die narrative Struktur des Textes als auch die Poetizität des Wortes die Hierarchie auf der Sujetebene umkehrt. Es ist die Poesie, der das letzte Wort gebührt, nicht die Wissenschaft. Bachtin betont aber auch das Zurücktreten des Autors hinter den Chor der Stimmen im polyfonen Roman, womit eine Enthierarchisierung der Autor-LeserBeziehung einhergeht. Gleichzeitig begreift er „die Präsenz des Autors“ als „letzte[] Sinninstanz“,40 die über die Verknüpfung mit dem Helden realisiert wird. Im polyfonen Roman ist der Held für Bachtin keine individualisierte Figur. Gemeint ist damit keine Typisierung von Figuren. Der Held verkörpert vielmehr „ein[en]

40 BACHTIN, 1979, S. 205.

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Standpunkt“, einen „Blick auf die Welt“.41 Dies trifft auf Johanna zweifellos zu, wobei sich die Frage stellt, wer hier überhaupt die Heldin ist, die historische Johanna oder die Ich-Erzählerin? Die Heldin Johanna verfügt wortwörtlich über eine polyfone Identität, weil sie in ihrer steten Absenz nur über die Stimmen der anderen überhaupt zur Existenz gelangt, was über die Definition Bachtins noch hinausgeht. Die Abwesenheit der Heldin, die gleichzeitig allgegenwärtig den Diskurs bestimmt, steht im Zeichen eines radikalen Konstruktivismus. Wie die Jungfrau bleibt auch die Erzählerin im Dunklen. Herkunft, Alter und Aussehen spielen keine Rolle. „Denn niemand ist da, es ist totenstill, ich bin ganz allein.“ (Johanna, S. 136). Die Erzählerin ist „von Gott und der Welt verlassen“ (ebd.), sie passt nicht in die Welt von Rastern, Festschreibungen und einfacher Symbolik. Sie kann keinen Zahlenstrahl zeichnen und keine Fahrpläne lesen. Immer wieder weist sie auf ihr fehlendes Unterscheidungsvermögen hin, sie ist „blind für Farben, weshalb die Botschaft [sie] nicht erreicht.“ (ebd., S. 135). Der Karneval führt, so Peter V. Zima, „zu einer Art Orientierungslosigkeit“, die „das Subjekt als Aktant (Protagonist), Erzähler oder Leser“42 überkommt. Die Desorientierung der Erzählerin in der diegetischen Welt korreliert mit jener des Lesers im Textdiskurs, doch erscheint sie nicht kafkaesk und bedrohlich, sondern durchweg positiv konnotiert. Die Erzählerin ist weniger Figur als Funktion, sondern Figur gewordene Perspektive und kann als Verkörperung von Hoppes Ästhetik und Poetologie gelesen werden. Die Ich-Erzählerin verkörpert ein literarisches Ideal: Sie ist misstrauisch gegenüber Kronen und anderen Herrschaftssymbolen, unfähig, die Welt in schlichten Mustern zu messen und Schablonen anzulegen, blind für einfache Kategorisierungen und Zuschreibungen, unwillig sich festlegen zu lassen, distanzwahrend, aber nicht ohne Empathie. Johanna ist damit nicht zuletzt ein Roman über die Angst und gegen die Angst, die zwar da ist, aber nicht Oberhand gewinnt. Die „fröhliche Relativität“43 des karnevalistischen Weltempfindens geht über die spaßhafte, temporäre Inversion der Verhältnisse hinaus. Der Karneval dient als Mittel gegen die Angst vor der Ausweglosigkeit und der Erstarrung, er zeigt Alternativen auf und fungiert damit als produktiver Antrieb. Das laute Karnevalslachen wird in der karnevalisierten Literatur schrittweise abgelöst, es verliert an „Lautstärke“ und wird „bis zur Ironie, zum Humor und zu anderen Formen des reduzierten Lachens“44 abgeschwächt, was eine melancholische

41 BACHTIN, 1969, S. 86. Bachtin definiert den Helden als „Phänomen der Wirklichkeit, das bestimmte, fest ausgeprägte, sozialtypische und individuell-charakteristische Merkmale aufweist, nicht als eine äußere Gestalt, die sich aus eindeutigen Zügen zusammensetzt, welche in ihrer Gesamtheit die Frage ‚Wer ist er?‘ beantworten“. 42 ZIMA, 2010, S. 311. 43 BACHTIN, 1969, S. 51. 44 BACHTIN, 1971, S. 186.

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oder tragische Note der Texte keineswegs ausschließt, wie das Beispiel Dostojewskis deutlich zeigt. In der Tradition des Lachens bleibt der Karneval ein Mittel gegen die Furcht: „Das Lachen befreit nicht nur von der äußeren Zensur, sondern vor allem vom großen inneren Zensor, von der in Jahrtausenden dem Menschen anerzogenen Furcht vor dem Geheiligten, dem autoritären Verbot, dem Vergangenen, vor der Macht.“45

P ARADIESE , Ü BERSEE (2003) Während in Johanna der Karneval am nachdrücklichsten in der Profanation seinen Ausdruck findet und die Infragestellung etablierter Hierarchien und oppositioneller Figurationen dem Roman Struktur verleihen, findet in Paradiese, Übersee eine zusätzliche Dekonstruktion statt, die allerdings nie zerstörerisch, sondern produktiv ist. Dekonstruktion steht bei Hoppe immer im Zeichen der kreativen Konstruktion. Der Tenor der Literaturkritik, zum Teil aber auch der Wissenschaft, das Charakteristische an Hoppes Schreiben bestehe in der Verunsicherung eingefahrener Strukturen, der Verfremdung, ja sogar dem Fantastischen, verkennt die Radikalität ihres Ansatzes. Entscheidend ist der Begriff der Identität. Die Kategorisierung Hoppes als Reiseschriftstellerin46 geht einher mit der Annahme einer genretypischen Identitätssuche. Doch ebenso wenig wie Hoppe eine typische Reiseschriftstellerin ist, geht es in ihren Texten um eine bloße Selbstfindung ihrer Figuren, sondern allenfalls um eine Selbsterfindung. Nicht das Finden der eigenen Identität, steht im Zentrum, sondern, so Hoppe, die Möglichkeit, „in der Bewegung sein Ich los zu werden“.47 Allein die Option einer Nicht-Identität, für die es keinen Ausdruck jenseits des ex negativo gibt, stößt an die Grenzen unserer Vorstellung. Die Figur des Ritters weist auf eine Aventiure hin, die allerdings nicht mit Erkenntnis, der Festigung seines Subjektstatus oder dem Auffinden seiner Identität endet. Die Reise zielt in Hoppes Texten vielmehr auf den gegenteiligen Effekt: Die in der Heimat zunächst eindeutig festgelegte Identität wird durch die Reise erschüttert, sodass am Ende nicht einmal mehr die Figuren mit sich identisch sind. Verschiedentlich wurde schon darauf hingewiesen, dass sich mit der Deckungsgleichheit von Ritter und Schwester die Frage stellt, ob nicht alle Figuren nur durch einen kaleidoskopisch gefächerten Blick entstehen und damit verschiedene Facetten eines Subjekts dar-

45 BACHTIN, 1969, S. 38f. 46 Eine fruchtbare Lektüre von Paradiese, Übersee als Reiseroman und als Auseinandersetzung mit den tradierten Vorbildern unternimmt jedoch Ritchie Robertson in diesem Band. 47 Ebd., S. 229.

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stellen, das eben nicht mit sich identisch ist.48 Mit der postmodernen Idee des schimmernden, polyvalenten Subjekts muss die Kategorie der Identität neu gedacht werden, wenn sie sich nicht erübrigen soll. Das Radikale an dieser Vorstellung der Identitätslosigkeit, dem Sich-Entledigen einer beschränkenden Identität, liegt in der positiven, und produktiven Bewertung dieses Prozesses, der zwar nicht völlig deckungsgleich mit dem karnevalistischen Weltempfinden ist, aber in diesem Kontext gelesen werden kann. Die Kategorie der Familiarisierung findet in Paradiese, Übersee einen plastischen Ausdruck in Form tatsächlicher Familienstrukturen. „Die freie familiäre Beziehung ergreift alles: alle Werte, Gedanken, Phänomene und Dinge. Alles, was durch die hierarchische Weltanschauung außerhalb des Karnevals verschlossen, getrennt, voneinander entfernt war, geht karnevalistische Kontakte und Kombinationen ein.“49 Die karnevalistischen Mesalliance bei Hoppe mündet vielmehr in einen Ausnahmezustand, den der Karneval immer darstellt, um unübliche Verbindungen eingehen zu können und „das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten“ 50 zu vermählen. In Paradiese, Übersee werden solche Verbindungen, Überschneidungen und Übertretungen nicht als Ausnahmezustand, sondern als immer schon dagewesen begriffen. Verkleidungen fungieren nicht als temporäre Entfremdungen oder als Schlüpfen in eine andere, fremde Haut, sie sind vielmehr Ausdruck einer pluralistischen Identitätskonstruktion. Die in einer „Identitätskongruenz“ 51 mündende Aufhebung der Dissonanz zwischen der Figur der Schwester und jener des Ritters im letzten Satz des Romans fordert nicht nur die Wahrnehmung des Lesers heraus, sondern stellt die Identität als solche zur Disposition. Damit steht sie wieder in einem dezidiert positiven Kontext, wird doch die Schwester als Erlöserfigur markiert, die als Spes, also als ,Hoffnung‘, an der Echternacher Springprozession teilnimmt.52 Zudem trägt allein sie die Schürze aus Berbiolettenfell. Liest man die Jagd auf die sagenhafte Berbiolette als Gralssuche, als etwas „das man (wie den Gral) nur suchen, aber nicht finden könne“,53 so kommt sie von allen Figuren der Erkenntnis am nächsten. „Sie steht nur zum Schein in der hinteren Reihe“ (Paradiese, S. 159), erklärt der Kleine Baedeker und erhellt damit auch ihre Position im Textdiskurs. Die Schwester ist es, die maskiert auftritt und ihr gebührt der letzte, auch typografisch hervorgehobene Satz: „DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS ICH.“

48 Vgl. stellvertretend CONTER, 2008, S. 92. 49 BACHTIN, 1969, S. 49. 50 Ebd. 51 CONTER, 2008, S. 92. 52 Vgl. ebd. 53 NEUHAUS, 2007, S. 6.

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(ebd., S. 186). Hoppes Feststellung aus ihrem poetologischen Essay Abenteuer – was ist das? (2010) – „Ritter sind Frauen“ beziehungsweise „Frauen sind Ritter“ – wird hier mithin tatsächlich umgesetzt. Ritter sind bei Hoppe überaus positiv konnotierte Figuren, denen die Logik des Karnevals bereits inhärent ist, die „Projektion von Größe und Tugend gepaart mit größter Lächerlichkeit“ (Abenteuer, S. 32), wie sie im Wechselspiel zwischen König und Narr und der Krönung des Karnevalskönigs angelegt ist. Die Figuren des Romans bilden ein Karnevalskollektiv, bestehend aus ungleichen Paaren, wie etwa dem Ritter und dem Pauschalisten oder später dem Kleinen Baedeker und dem Pauschalisten. Die Karnevalspaare, die ja Gegensätze markieren, werden über die Familiarisierung miteinander verbunden. Aus diesem Blickwinkel erscheint es alles andere als zufällig, dass Paradiese, Übersee in erster Linie die Geschichte dreier Geschwister erzählt. Denn auch in der Romanstruktur wird formal das Modell der Familiarisierung realisiert. Dieses Formmodell stellt Verbindungen und Verwandtschaftsverhältnisse her, ein Prozess, der in der abgedruckten Landkarte visualisiert wird. Die Faktizität topografischer Distanzen wird somit aufgehoben, dem Detail wird ebenso viel Bedeutung beigemessen wie dem ganzen Bild. Der erste Teil des Textes (Übersee) kumuliert mit dem zweiten Teil (Wilwerwiltz) im Kapitel Paradiese, wie auch die Grafik zu lesen ist: „Alles soll sich wechselseitig widerspiegeln und dialogisch erhellen. Deshalb muß alles Getrennte und Entfernte in einen räumlichen und zeitlichen ‚Punkt‘ zusammengeführt werden, deshalb sind Karnevalsfreiheit und die karnevalistische Konzeption von Raum und Zeit notwendig.“54 Die Dialogizität in Paradiese, Übersee ist folglich Strukturprinzip. Der Verweis auf die Echternacher Springprozession hat ebenfalls karnevalistische Funktion. Der Karneval kopiert den religiösen Ritus, nimmt ihm seine sakrale Tiefe und integriert ihn in säkularisierter Form in den Volksglauben. Die Springprozession ist, wiewohl noch immer ein religiöser Ritus, heutzutage auch ein Schauspiel, das die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern aufhebt. Das „Bataillon der Pilger, Tänzer und Beter, des Herrgotts ganze[r] erbärmliche[r] Spielmannszug“ (Paradiese, S. 90) wird in Paradiese, Übersee eher als karnevalistisches Treiben inszeniert, denn als spirituelles Fest. Auch verstärkt die Verbindung der mittelalterlichen Tradition mit dem Veitstanz die humoristische Wirkung. Zudem ist der mittelalterliche Karneval vornehmlich religiös geprägt. Der Klerus selbst feierte rund um den Epiphaniastag sogenannte ,Narrenfeste‘, an denen es zu einer Umkehrung hegemonialer Strukturen kam. So schlüpften etwa Mitglieder des niederen Klerus oder sogar Mesner in die Rolle des Bischofs.55 Die Ähnlichkeit des Karnevals mit religiösen Festen und Bräuchen, sein ritueller Ablauf und die Verga-

54 BACHTIN, 1971, S. 200, Hvhbg. i. Orig. 55 Vgl. ESPOSITO, 1999, S. 12.

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be von Karnevalsrollen ist also nicht zufällig. Die Episode des Krippenspiels, bei dem der Pauschalist in der Rolle des Herolds versagt, weil ihm sein einziger Satz einfach nicht über die Lippen kommen will, ist eine karnevaleske Parodie par excellence. Wiederholt finden sich im Text Verweise, die es erlauben, das Geschehen auch als Schauspiel zu lesen, etwa bei der Trennung des Pauschalisten vom Ritter, der „nach rechts von der Bühne“ (Paradiese, S. 46) abgeht. Das Schauspiel steht in einem Nahverhältnis zum Karneval. Zwar ist es nicht selbst ein Karneval, wohl aber ein karnevaleskes Spiel: So wird das Krippen- beziehungsweise Weihnachtsspiel in Paradiese, Übersee parodistisch inszeniert und seinem sakralen Ernst beraubt. Der „Stern der Verheißung“ ist aus „unfester Pappe geschnitten“ und „ungeschickt mit Glanzpapier beklebt“, die Kinder, die nur Tierrollen bekommen haben, werden damit getröstet, dass „auch Tiere eine Seele haben“. Die ganze Angelegenheit entpuppt sich als „ein lästiges Stück“ (ebd., S. 48f.) – allerdings als eines, das die Züge des reduzierten Lachens trägt und nicht mehr mit dem derben, volkstümlichen Witz, sondern mit Ironie arbeitet. Die Folie christlicher Mythen und Symbolik bildet eine Konstante in Hoppes Werk, die schon in ihrem literarischen Debüt, der Kurzgeschichtensammlung Picknick der Friseure (1996) angelegt und die in der Geschichte Die Pilger programmatisch umgesetzt ist.56 Die Kostümierung und das Spiel stehen hier in Opposition zur strengen Frömmigkeit des Vaters, wobei das religiöse Moment noch deutlich negativ konnotiert und in eine patriarchale Sprache der Gewalt gehüllt ist, die der karnevalesken Atmosphäre entgegensteht – ein Konflikt, der in der Figur des erzählenden Kindes somatisiert wird. Die roten, von der Mutter geerbten Haare sind unverwüstlich und trotzen jedem Versuch, ihnen beizukommen – von roher Gewalt mit kochend heißem Wasser bis hin zu den Gebeten des Pfarrers. Erst die Pilgerreise und das Eintauchen in heiliges Wasser bringen den gewünschten Erfolg, doch nach der Wiedervereinigung des Vaters mit der kostümierten Mutter, sprachlich ebenfalls als Gewaltakt ausgewiesen,57 stehen dem Kind die Haare erneut zu Berge. In späteren Texten, so auch in Paradiese, Übersee, wird die Religion in typisch karnevalistischer Manier weder todernst genommen noch der Lächerlichkeit preisgegeben. Jörg Seip ortet eine imago scripturae und argumentiert, dass Hoppes Erzählungen biblischen Texten und Bildern nachempfunden sind.58 In Paradiese, Übersee wird davon sowohl auf Ebene des Sujets als auch der Form

56 Zur religiösen Dimension vgl. WIESMÜLLER, 2008. 57 „In der Nacht lag ich atemlos in meinem Bett und lauschte andächtig meinem Vater, der im Nebenbett unter dem Bild der Madonna, das der Wirt eigenhändig am Abend zuvor auf den Wunsch meines Vaters, erfüllt von dem, was uns geschehen ist, über dem Kopfende angebracht hatte, lange und ausdauernd meiner Mutter zusetzte.“ (Picknick, S. 21). 58 Vgl. SEIP, 2003.

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Gebrauch gemacht, etwa am Beispiel der Zahl drei (die heiligen drei Könige, Dreifaltigkeit, die Echternacher Springprozession setzt sich aus einer Folge von drei Schritten zusammen), die in der Dreiteilung der Kapitel nachgebildet ist.59 Der Einsatz biblischer Referenzen ist durchaus karnevalesk angelegt, wofür gerade die Echternacher Springprozession ein eindrückliches Beispiel ist, gesellt sich doch dort zur offiziellen und ernsten Instanz der Kirche eine durchweg fröhliche Prozession des feiernden Volkes. Zudem spielt der Roman mit christlichen Legenden und Märtyrerviten und offenbart damit Nähe zur karnevalisierten Menippee, wie Bachtin sie für den christlichen Bereich beschreibt. Als Spiel mit Identitäten integriert die Menippee das Fantastische in den Alltag und hebt die Grenze zwischen Traum, Imagination und naturalistischer ‚Realität‘ auf. Dabei stellt sie die Frage nach der Bedeutung des Lebens, die sich in den letzten Handlungen des Menschen offenbart, weshalb gerade die Märtyrerviten typisch für diese Gattung sind. Im letzten Satz, der im Grunde einen Neubeginn evoziert (wenn nicht der Lektüre so zumindest im Denken des Rezipienten) findet sich das karnevalistische Prinzip eines ständigen Neuanfangs repräsentiert, das sich gegen einen beschränkenden Schlusspunkt sträubt, denn „jedes Ende ist hier nur ein neuer Anfang“.60

H OPPE (2012) Auch Felicitas Hoppes biografischer Roman ist in die Tradition der Karnevalisierung eingebettet. Mit Hoppe greift die Autorin eine Textsorte auf, die sich per definitionem durch die Propagierung eines genreinhärenten Wahrheitsanspruchs über die Fiktion erhebt, eines Wahrheitsanspruchs, den Hoppe negiert und in der Tradition des Karnevals in sein Gegenteil verkehrt. Die Wissenschaft, in Johanna als oppositionelle Instanz zu Kunst und Literatur gesetzt, wird in Hoppe endgültig vom König zum Narren degradiert. Sie wird als karikierte Stimme im polyfonen Chor der narrativen Erzählinstanz dem Lachen preisgegeben, ganz gemäß Felicitas’ biblischem Motto „die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten“ (Hoppe, S. 16). Zur Stimme der Biografin gesellen sich Anmerkungen von ,fh‘, ,Primärzitate‘ aus Hoppe-Texten, Auszüge aus fingierten Rezensionen, wissenschaftlichen Aufsätzen, Notizbüchern und Briefen. Kontinuierlich wechselt sowohl die Erzählperspektive als auch der Tonfall. Die poetische Sprache Hoppes verbindet sich mit den hypertrophen und fingierten fiktiven Wissenschaftszitaten und dem distanzierten Sprachduktus des Biografen.

59 Vgl. WIESMÜLLER, 2008, S. 65. 60 BACHTIN, 1971, S. 187.

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Hoppe ist nicht nur eine erfundene Biografie, sondern auch eine Parodie biografischen Schreibens – wobei auch hier Bachtins Feststellung gilt, dass „Parodie nicht bloße Verneinung des Parodierten“61 ist. Denn die Betonung des biografischen Moments („Das Beste was bislang über Hoppe geschrieben wurde!“, Hoppe, Klappentext) ist durchaus ernst gemeint: „Wir spielen […] keine Rollen um uns zu verstecken, sondern um uns zu zeigen“62, so Hoppe anlässlich einer Lesung in Frankfurt. Das Spiel mit der eigenen Biografie ist also ein ambivalentes: Es entfremdet nicht nur, es schafft auch Nähe. Gattungstheoretisch ist neben der biografischen Kontextualisierung auch die Tradition des Schelmenromans bedeutungsstiftend, was bereits der Auftakt indiziert: Weltweit, egal welcher Zeitung, hat Hoppe immer dieselbe Geschichte erzählt: wie sie als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie das eben Verdiente sofort auf den Kopf haut, Blumen für ihre Mutter („die Gastgeberkönigin“) und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater („den Erbauer des ersten Kaspertheaters“) kauft, um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier Geschwister zu einem Ausflug ins Miramare zu überreden, eine Hamelner Eisdiele, „die sommers floriert und sich winters, wenn sich die Italiener saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen Ausstellungsraum für Pelze verwandelt“. (Hoppe, S. 13)

Schon zu Beginn des Romans wird folglich mittels des Einsatzes verschiedener Symbole und Topoi eine karnevaleske Szenerie etabliert: Die Figur des Hamelner Rattenfängers verweist auf das Märchen und den Schelmenroman gleichermaßen. Die Protagonistin wird als kostümierte Handlangerin des Rattenfängers eingeführt, was sie ebenfalls als pikareske Figur ausweist. Zudem ist sie die Tochter des Erbauers eines Kaspertheaters. Die närrische Genealogie bündelt sich also gleich aus mehreren Erzählsegmenten. Als Ort, an dem dieser erste Auftritt stattfindet, dient eine Bühne mitten auf dem städtischen Marktplatz, dem traditionellen Schauplatz des Karnevalstreibens. Auch die Bühne und das Theater stehen in einer semantischen Verbindung mit dem Karneval. Die erste Szene schürt demnach die Erwartung auf ein Schauspiel, die nicht enttäuscht wird: Das Spiel und der große Auftritt ziehen sich als Motivkette durch den Roman, sei es in Form des Eishockeyspiels oder des Auftritts als Dirigentin.

61 BACHTIN, 1969, S. 55. 62 SCHRÖDER, 2012, S. 34.

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L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Abenteuer – was ist das? (Göttinger Sudelblätter), Göttingen 2010. DIES., Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Reinbek 2003. DIES., Picknick der Friseure. Geschichten, Frankfurt a. M. 1996. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. SHAW, GEORGE BERNARD, Vorrede, in: DERS., Die heilige Johanna, Frankfurt a. M. 1990 [1924], S. 9-79. Sekundärliteratur BACHTIN, MICHAIL, Die Ästhetik des Wortes, hg., eingel. und aus dem Russ. übers. von RAINER GRÜBEL, Frankfurt a. M. 1979. DERS., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969. DERS., Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971. DERS., Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur, aus dem Russ. von GABRIELE LEUPOLD, hg. und mit einem Vorw. vers. von RENATE LACHMANN, Frankfurt a. M. 1987. CONTER, CLAUDE D., Felicitas Hoppes romantische Modernekonzeption. Zum Roman Paradiese, Übersee, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 89-104. ESPOSITO, ANNA, Der römische Karneval in Mittelalter und Renaissance, in: Fastnacht – Karneval im europäischen Vergleich (Mainzer Vorträge 3), hg. von MICHAEL MATHEUS, Stuttgart 1999, S. 11-30. FEDERMAIR, LEOPOLD, Ängste, Spaße und Neurosen. PSEUDO-HISTORIE. Die satzverliebte Felicitas Hoppe bringt in Johanna die gleichnamige Jungfrau von Orleans zum Swingen, in: Falter 40 (2006), Buchbeilage, 6.10.2006. HELLSTRÖM, MARTIN, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Zur Position von Erzähler und Leser im Werk von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/DEMS., Innsbruck u. a. 2008, S. 27-38. JARDAS, MARGARET, Unentwirrbare Sprachfetzen, Kundenbewertung bei Amazon.de, 20.4.2007, http://www.amazon.de/Johanna-Felicitas-Hoppe/dp/3596167 434/-ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1329824779&sr=8-1, 1.1.2015. JUNG, JOCHEN, Auf Königssuche, in: Die Zeit, 19.10.2006, S. 59.

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Erzählen von Raum und Zeit

Metafiktionale Räume Topografien der Historie in Felicitas Hoppes Johanna (2006) E RIK S CHILLING

E INLEITUNG Die Bedeutung des Raumes in literarischen Texten ist spätestens seit dem Spatial Turn der Literatur- und Kulturwissenschaften unbestritten.1 Im Zuge jüngerer Debatten in den Geschichtswissenschaften haben sich parallel dazu Stimmen zu Wort gemeldet, die auf die Bedeutung des Raumes für historische Ereignisse und deren wissenschaftliche Darstellung hinweisen.2 Literatur, Literaturwissenschaft, Historiografie und Geschichtswissenschaft sind zudem disziplinär enger zusammengerückt, seit Hayden White auf die genuine Fiktionalität historiografischer Texte aufmerksam gemacht hat.3 Diese drei die Theoriebildung der Geisteswissenschaften betreffenden Aspekte sollen im Folgenden am Beispiel von Felicitas Hoppes Roman Johanna (2006) zunächst zu einigen Beobachtungen hinsichtlich der Topografie des Raumes in historisch erzählenden Texten zusammengeführt und anschließend um einen Blick auf damit verbundene metafiktionale Aussagen ergänzt werden. Meine These lautet, dass die narrativ evozierten räumlichen Gegebenheiten der diegetischen Welt von Johanna die Erzählung grundsätzlich bedingen und metafiktional reflektieren. Die entworfenen Räume spiegeln nicht nur Geschehnisse auf zeitlich und räumlich getrennten Erzählebenen des Romans, sondern weisen auch poetologische Züge auf,

1

Für weiterführende Informationen und Literatur zum Spatial Turn sei verwiesen auf DÜNNE, 2006, und HALLET/NEUMANN, 2009.

2 3

Beachtung gefunden hat etwa SCHLÖGEL, 2003. Vgl. grundlegend WHITE, 1991 [1973], sowie DERS., 1986 [1978]. Aus der umfangreichen Diskussion zu White seien wenige Beiträge herausgegriffen: KOHLHAMMER, 1998; NÜNNING, 1999; KORHONEN, 2006.

260 | E RIK SCHILLING

indem sie das Potenzial von ‚Fiktionsräumen‘ ausloten.4 Mit der so gestalteten Fiktion setzt Hoppes Roman einen bestimmten Typus des Lesers voraus – einen postmodernen Idealleser, der der Polyfonie des Textes gewachsen ist, ja sich sogar aktiv auf das Spiel mit der rezeptiven Vieldeutigkeit einlassen kann, das der Roman erzeugt.

D ER R AUM

DER

H ISTORIE

Die erste Inszenierung räumlicher Gegebenheiten erfolgt im Prolog und im ersten Kapitel des Romans als scharf konturierter Gegensatz, der sich als programmatisch für andere Oppositionspaare erweist: Der historische Marktplatz von Rouen steht dem Hörsaal der namen- und ortlosen Universität gegenüber, an der die IchErzählerin promoviert werden soll.5 Verbunden sind die räumlich, zeitlich und personell getrennten Orte über das Dingsymbol der Papiermütze. Die historische Johanna von Orléans (um 1412-1431) bekommt eine Papiermütze mit drei nicht näher bezeichneten Begriffen aufgesetzt, ehe sie auf den Scheiterhaufen steigt; der Historiker Peitsche, die erste auftretende Figur der Gegenwartsebene und Johannas Kollege, verbringt seine Zeit „mit der Nachbildung von Papiermützen, die er abends faltet, nachts beschriftet und morgens im Hörsaal prüfend ins Licht hält“ (Johanna, S. 11). Trotz der räumlichen Distanz werden also – vermittelt über die Medien Schrift und Papier – Vergangenheit und Gegenwart, Historie und Fiktion zusammengeführt. Die Mütze bleibt nicht das einzige narrative Bindeglied der unterschiedlichen Erzählebenen, auch zwischen den Figuren der Vergangenheit und der

4

Auf dieses Potenzial weist Hoppe selbst hin, wenn sie in einem poetologischen Beitrag „über den Umgang mit historischen Stoffen“ betont, dass es sich lohne, „über Räume nachzudenken, wenn man über Zeiten spricht“ (HOPPE, 2007, S. 56). Zu weiteren poetologischen Aussagen Hoppes über den Roman Johanna sowie über die Gattung des historischen Romans beziehungsweise das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung im Allgemeinen vgl. Schätze.

5

Mit der Terminologie von Katrin Dennerlein könnte man den Hörsaal als ersten ‚Schauplatz‘ des Romans bezeichnen, weil dieser „erzählter Raum der erzählten Geschichte [ist], der zur faktischen Umgebung eines Ereignisses wird und in dem die Origo verortet ist“ (DENNERLEIN, 2009, S. 240). Der historische Marktplatz hingegen ist ein ‚Erzählraum‘, also eine „Ereignisregion, in der ein Erzählakt situiert ist“ (ebd., S. 237). Vgl. diesbezüglich auch den Beitrag von Nadine Schneiderwind im vorliegenden Band. Für die folgenden Ausführungen wird die Terminologie jedoch nicht weiter herangezogen, weil der Fokus des Beitrags auf der Funktion der Räume liegt, nicht auf ihrer typologischen Differenzierung.

M ETAFIKTIONALE R ÄUME

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Gegenwart werden Parallelen gezogen.6 Johannas Verräter Loiseleur und Peitsche etwa verschwimmen in der Wahrnehmung der Erzählerin zu einer Person: „Nacht für Nacht besteigt er [Loiseleur] meine Träume“ (ebd., S. 12), „Nacht für Nacht pocht Peitsche auf Aufmerksamkeit“ (ebd., S. 13). Die Erzählerin selbst nähert sich sukzessive Johanna an, während der Professor mit dem Valois Karl VII. (14031461) verschmilzt. Die Räume, in denen sich die Handlung abspielt, bestimmen diesen Prozess fundamental. Die Erzählerin versucht zunächst, Distanz zum historischen Raum zu wahren: „Was soll ich in der Vergangenheit? Wo liegt übrigens Frankreich?“ (ebd., S. 13), fragt sie, sie sei „nie in Rouen“ (ebd., S. 15) gewesen. Schon kurze Zeit später aber legt sie diese Distanz ab. Um Peitsches Mützen zu betrachten, tritt sie – in einem transgressiven Akt – „über die Schwelle […] in ein schlecht beleuchtetes Nebenzimmer“ (ebd., S. 20). Nach dem Überschreiten der räumlichen Grenze setzt ein Umdenken ein. Wahllos liest sie die Aufschriften auf den bunt zusammengewürfelten Mützen und stellt erstmals die Fragen, die den Roman im Folgenden prägen: „Für wen halte ich mich? Was will ich entziffern?“ (ebd., S. 22), schließlich auch: „[D]ie Wahrheit, was ist das?“ (ebd., S. 23). Dass dies im abgedunkelten Nebenzimmer geschieht, ist kein Zufall. Nebenzimmer sind, so die Erzählerin, die eigentlichen Hauptzimmer, „Paläste des Unglücks“ (ebd.). Mit dem Übertreten der Schwelle ist die Erzählerin nicht nur der Geschichte verfallen, sondern auch ihrem Kollegen Peitsche. Dieser spricht zu ihr in ambivalenter Manier, „als spräche er eine Entschuldigung aus. Vielleicht aber auch eine Liebeserklärung“ (ebd., S. 24). Auf der anderen Seite der Schwelle lauert zudem die Frage, was die Erzählerin „mit Johanna verbindet“ (ebd., S. 29). Zusammen mit der räumlichen Distanz brechen somit Selbstbestimmung, Individualität und geschichtliche Zeit für die Erzählerin in Teilen zusammen: In der Dunkelheit schimmert für sie eine mögliche Liebe zu Peitsche auf, eine Identifikation mit Johanna wird denkbar, und die Vergangenheit greift aus in die Gegenwart. Vorübergehend suspendiert wird dieser liminale Zustand im zweiten Kapitel, das „im Hörsaal“ (ebd., S. 31) und mit einem Auftritt des Professors beginnt. Hat sich die Erzählerin am Abend zuvor in einem Maße mit der Protagonistin ihrer Dissertation identifiziert, das „die Grenze zwischen historischen Fakten und imaginierter Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart“7 sprengt, führt nun der Professor, ihr Doktorvater, die positivistische Quellenkritik als einzig valide Methode

6

Zu einer möglichen Funktionalisierung dieser Bezugnahme zwischen Historie und Erzählgegenwart vgl. auch Ernest Schonfield in diesem Band, der Johanna als Campusroman und Gelehrtensatire liest und dafür Parallelen zwischen den Konsekrationsritualen im Kirchenrecht und dem akademischen Betrieb aufzeigt.

7

CATANI, 2012, S. 371.

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der Historiografie ein: „Jede Stimme wird einzeln geprüft und einzeln verrechnet. Erst dann wird sortiert. […] Wir halten die Stimmen gegen das Licht, Kreuz für Kreuz, bis wir zu einem Ergebnis kommen, das uns nicht überrascht“ (ebd., S. 33). Noch am Vorabend war die Erzählerin von der Vielzahl der Stimmen – symbolisiert durch die Mützen Peitsches – begeistert, gerade wegen der entstehenden Polyfonie und der Unmöglichkeit, die Stimmen zu ordnen; nun verkehrt der Professor diese Euphorie methodisch ins Gegenteil. Während die Erzählerin im Nebenzimmer Dinge getan hat, die sie in einem rationalen Gespräch nicht für möglich gehalten hatte, verweist der Professor jede Überraschung ins Reich der Fiktion. Was er in der Folge ebenfalls kritisch thematisiert und schließlich sogar bezweifelt, ist die grundsätzliche Möglichkeit von Geschichtsschreibung. Ein reiner Positivismus, wie er ihn vertritt, kann sich der historischen ‚Wahrheit‘ nur annähern, wenn er Aporien zulässt. Ein fiktionales Ausdeuten der Leerstellen in den Quellen oder gar Spekulationen über historische Möglichkeiten, wie die Erzählerin sie anstellt, sind mit dem professoralen Positivismus unvereinbar.8 Eine Mittelposition zwischen dem identifizierenden Zugriff der Erzählerin auf ihr Forschungsobjekt und der wissenschaftlichen Distanz des Professors nimmt – auch im Hinblick auf seine akademische Karrierestufe – der ‚Mittelbauler‘ Dr. Peitsche ein. Er hat am subjektiv-involvierten und am objektiv-distanzierten Zugang zur Geschichte gleichermaßen Anteil.9

D ER R AUM

DER

F IKTION

Für Johanna hat Stephanie Catani überzeugend nachgewiesen, dass das Wissen um die „Selektionsverfahren, denen jede historische Narration unterliegt, […] als entscheidende metafiktionale und zugleich poetologische Aussage historischfiktionalen Erzählens“10 angesehen werden kann. Dies geschieht dadurch, dass der Roman seine Ungewissheit hinsichtlich historischer ‚Wahrheit‘ offen ausstellt und poetologisch verhandelt. Dadurch tritt die „metafiktionale Auseinandersetzung sowohl mit der Konstruktion (dem doing) wie der Dekonstruktion (dem undoing) der Geschichte durch das fiktive Geschehen“11 in den Vordergrund. Verschiedene Verfahrensweisen, mit Geschichte umzugehen, stehen auf der Ebene der Figuren

8

Geschichtsspekulation kommt einer kontrafaktischen Darstellung von Historie und damit der Geschichtsfälschung gleich; daran muss der Professor Anstoß nehmen.

9

Diesen Aspekt des Romans lese ich anders als Stephanie Catani, die Peitsche als dritte Option eines historiografischen Zugriffs fasst. Vgl. CATANI, 2012, S. 373.

10 Ebd., S. 365. 11 Ebd., S. 370.

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nebeneinander;12 durch diese Deutungskonkurrenz wird eine Konfrontation der unterschiedlichen historischen Schulen ermöglicht. Die Metafiktionalität des Romans kommt somit dadurch zum Ausdruck, dass die einander „widersprechenden Perspektiven der Ich-Erzählerin, Dr. Peitsches und des Professors […] jene Filter sinnstiftender Selektion [offenlegen], die […] Geschichte grundsätzlich erst produzieren“.13 Aus dieser narrativen Distanz zur Geschichte aber können Geschichten entstehen. Die Suche nach historischer ‚Wahrheit‘ kann – gerade im Roman – abgelöst werden durch eine „polyphone Identität“ 14 nicht nur der Protagonistin, sondern auch – und vor allem – des Romans. Thomas Steinfeld bezeichnet dieses fiktionale Geflecht als eine „phantastische[] Choreographie mit historischen Figuren“.15 Dass die Zahl der Stimmen, die dem Menschen der Gegenwart aus der Geschichte entgegenschallen, potenziell unbegrenzt ist, wird bei Hoppe nicht geleugnet, sondern zum poetischen Programm des Textes erhoben. Dennoch kommt nicht einfach eine ungeordnete Vielzahl an Stimmen zu Wort. Zusammengeführt werden die ‚polyfonen‘ Räume der Vergangenheit und Gegenwart, der Historie und Fiktion sowie ihre unterschiedlichen methodischen Verortungen bezeichnenderweise in einem transitorischen Akt, der Zugfahrt aufs Land, „ins freie Feld, an die frische Luft, ins wirkliche Leben“ (Johanna, S. 61), die die Erzählerin, Peitsche und der Professor gemeinsam unternehmen. Zunächst scheint es, als würde die Schwellensituation der Reise eine Annäherung der unterschiedlichen Persönlichkeiten und Methoden ermöglichen; bald aber wird deutlich, dass die Landpartie zum Scheitern verurteilt ist. Während die Erzählerin Peitsche für den Idealismus bemitleidet, dass er die „perfekte Mütze, die einzige Mütze, die wahre Mütze“ (ebd., S. 63) zu falten versucht, verharrt der Professor in seinem Positivismus. Wie in anderen Passagen des Romans wird dieser in räumlichen Verortungen geäußert: „Waren Sie jemals in Vaucouleurs, in Chinon, in Poitiers, in Tours oder Blois? Von Reims oder Orléans ganz zu schweigen“ (ebd., S. 71). Der Positivismus findet seinen Ausdruck im empirischen Wissen um den Raum. Doch die Synthese der unterschiedlichen Positionen schlägt fehl, die Erzählung von der Zugfahrt endet im Nichts, die Schwellensituation wird in actu suspendiert. Einzig der Raum der Fiktion kann die Gräben zwischen den Figuren und Zeiten überbrücken; in den folgenden Kapiteln tritt er umso stärker hervor. Das Kapitel Prüfungen ist von der Erzählerin und Peitsche beherrscht, die sich im Zuge der

12 Dass die „Charaktere selbst zu Abbildern ihrer geschichtlichen Vorbilder mutieren“ (SCHOLZ, 2008, S. 153), wurde in der Forschung wiederholt konstatiert. Neben Scholz weist auch CATANI, 2012, darauf hin. 13 CATANI, 2012, S. 375. 14 NEUHAUS, 2008, S. 51. 15 STEINFELD, 2008, S. 193.

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Vorbereitung auf die Disputation über Johanna als Prüfungsgegenstand austauschen. Als Peitsche die Erzählerin zu ihrer Sachkenntnis befragt, ist diese Reise in die Geschichte nicht nach Daten oder Fakten, sondern wiederum nach Räumen gegliedert: Die Lebensstationen Johannas bilden das Gerüst der Erinnerung, sie stehen der Erzählerin zur Verfügung und können von ihr mit Leben gefüllt werden, anders als die starren realen Räume: „[d]er Professor im Hörsaal, Peitsche in seinem Mützenzimmer und ich zwischen meinen Büchern und Karten“ (ebd., S. 89). Doch über der – durch die Polyfonie der Stimmen bedingten – Unmöglichkeit, im Raum die Zeit zu lesen, verzweifelt die Erzählerin. Sie weiß, dass ein Nebenschauplatz entscheidend sein kann für die Kohärenz der Geschichte, doch die Vielzahl der Fragen und Fakten, die sich aufdrängen, verwirrt sie: „In Domrémy Süd oder Domrémy Nord? Sind wir überhaupt schon in Frankreich? Stecken wir nicht an der Grenze fest [?]“ (ebd., S. 91). Eine lineare Ordnungsstiftung – das Grundprinzip traditioneller Historiografie – scheint unmöglich. Dass die Erzählerin tatsächlich in einem Grenzbereich gefangen ist – auf der Grenze zwischen den unterschiedlichen historiografischen Methoden, aber auch auf derjenigen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Historie und Fiktion – illustriert das folgende Kapitel mit der eigentlichen Disputation, dem vorläufigen dramaturgischen Höhepunkt. Die liminale Situation der Erzählerin wird programmatisch inszeniert: „Ich stand auf der Schwelle“ (ebd., S. 116). Der Professor und die Erzählerin treten sich in „eisige[m] Schweigen“ (ebd., S. 118) gegenüber, das andauert, bis die Erzählerin Stimmen zu hören vermeint, sich vollends von der Quellenkritik verabschiedet und dem Professor eine rein spekulative Rekonstruktion des historischen Geschehens bietet, die auf die Hypothese zuläuft, Johanna sei Engländerin gewesen. Durch diese fiktive Desorganisation des Raumes wird die Historie endgültig ausgehebelt.16 Der Professor empfiehlt der Erzählerin, „Romane [zu] schreiben, mir scheint, Sie haben das Zeug dazu, Einbildungs- und Empfindungskraft“ (ebd., S. 123). Mit den Worten, er sei gleich zurück, verlässt er, der Faktenmensch, den Raum und – wie der Leser erst später merkt – auch den Roman und damit den Geltungsbereich der Fiktion. Die positivistische Quellenkritik, die im akademischen Raum verortet ist, hat ihre Grenzen ausgereizt; für das, was nun erzählt wird, ist sie als Zugang zur Geschichte nicht länger relevant. Die Fiktion übernimmt. Prompt wird der Erzählerin von einem der Beisitzer, der mit ihr im Büro verblieben ist, die ‚Gretchenfrage‘ gestellt: „[G]lauben Sie wirklich daran? […] Ich meine das Ganze. Die gesamte Strecke. Den Weg von Domrémy bis Rouen. Ich meine die Jungfrau. Glauben Sie wirklich, dass es sie

16 Die Destabilisierung strukturbildender Erzählelemente – beispielsweise des fiktiven Raumes – behandelt auch Sonja Arnold im vorliegenden Band.

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gab?“ (ebd., S. 127).17 Erneut wird die Relevanz des Raumes offenkundig. Sowohl Historie als auch Fiktion lassen sich nur im räumlichen Kontext begreifen, sei der Begriff des Raumes dazu auch so metaphorisch gebraucht wie im vorliegenden Fall. Die Frage, ob es die Jungfrau gab, wird – unabhängig von ihrem Bezugssystem in Historie oder Fiktion – erst dadurch ermöglicht, dass sie an einen Weg im Raum zurückgebunden ist. Dort gelten Historie und Fiktion gleichermaßen. Funktional motiviert ist der Raum jedoch jeweils sehr unterschiedlich. Die entscheidende Differenz besteht in seiner Ordnung. Die Räume, die dem Professor zugeordnet sind, weisen eine klare Struktur auf: Über die Schwelle tritt die Erzählerin in das Büro, auch der Hörsaal ist ein klar abzugrenzender Raum. Ein wenig vager ist dies bei den Räumen, die Peitsche zugewiesen sind, insbesondere im Hinblick auf das Nebenzimmer, das zwar ebenfalls durch eine Schwelle abgetrennt ist, in sich aber Chaos birgt, in dem die Erzählerin sich verliert. Dass ihr eigener Gang durch die Räume der Fiktion einem Weg von der Ordnung ins Chaos gleicht, wird im Anschluss an die Disputation deutlich. Die Strukturen der historischen ‚Wahrheit‘, die die Erzählerin mit ihrer frei erfundenen Geschichte aufgegeben hat, sind auch im Raum obsolet geworden: Auf dem Heimweg kann sie ihre Wohnung nicht mehr betreten, diejenige Peitsches findet sie nicht mehr, sie ist, in einem transitorischen Zustand, „UNTERWEGS“ (ebd., S. 140, Hvhbg. i. Orig.). Nun nimmt es nicht Wunder, dass dieses Unterwegssein am Bahnhof beginnt, wo die Erzählerin einen Zug nach Paris besteigt. Die Suspension von Zeit und Raum, die sich auf der ersten, misslungenen Zugfahrt mit Peitsche und dem Professor angekündigt hatte, tritt nun endgültig ein. Die Erzählerin verschmilzt mit Johanna, trifft auf einen ominösen Bruder Martin und vollzieht Johannas Reise zum Scheiterhaufen nach. Ein letztes Mal werden dabei – am Raum illustriert – die Möglichkeiten der unterschiedlichen methodischen Zugriffsweisen auf die Geschichte durchgespielt: „[D]er Professor kommt nur bis Paris, Gare du Nord […]. Und Peitsche kommt bestenfalls bis Saint-Lazare“ (ebd., S. 147). Die einzige, die es bis nach Rouen schafft, ist die Erzählerin, die im Besitz der Fiktionskompetenz ist. Dort aber, am Ufer der Seine, vollzieht sich eine überraschende Gegenläufigkeit von lokaler Nähe und identifizierender Distanz: Je näher die Ich-Erzählerin ‚ihrer‘ Johanna räumlich kommt, umso stärker erscheinen die beiden Figuren wieder getrennt.18 Der Vorgang kulminiert, als die Erzählerin in die Seine springt: „Johanna brennt, und ich schwimme, Arme und Beine weit geöffnet, und immer voran“ (ebd., S. 169). Johanna ist passiv den Flammen ausgeliefert, die Erzählerin kann mit dem

17 Es zeigt sich eine Parallele zur Inquisition Johannas: Auch dort wird eine Glaubens-, nicht eine Wissensfrage verhandelt. 18 In der konstatierten Antithese stecken zugleich historische Parallelen und die Vorstellung des gespiegelten Gegenübers als Teil einer Identitätsfindung des eigenen Ich.

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Sprung ins kalte Wasser – in den ‚Nicht-Ort‘ des Flusses – aktiv ihre Zukunft gestalten. Warum sich die Erzählerin schlussendlich doch von Johanna distanziert, wurde in der Disputation vorweggenommen: Die dort von ihr vertretene Hypothese läuft auf eine Verbindung Johannas und Loiseleurs im Tod hinaus, auf „[z]wei Herzen, die sich im Tod wieder finden“ (ebd., S. 123). Während die Hypothese vom Professor vernichtend widerlegt wird, steht nach dem metafiktional inszenierten und praktisch vollzogenen Umschwenken des Romans von der Historie in die Fiktion der Erzählerin nichts mehr im Weg. Die Fiktionsebene löst die Bedeutung der historischen Referenzebene ab. Nun kann die Erzählerin der Geschichte von Johanna und sich selbst einen neuen Schluss schenken, ein Happy End, bei dem „weit und breit kein Professor in Sicht“ (ebd., S. 171) ist und Peitsche und die Erzählerin nach einem gemeinsamen Bad in der Seine das Ufer erreichen. Vielleicht gilt daher – in anderer literarischer Ausgestaltung – auch für Johanna, was Claude D. Conter für Hoppes Roman Paradiese, Übersee (2003) resümiert: Es scheine dort um ein Modell zu gehen, „in dem die Sehnsucht nach Erlösung und Versöhnung dargestellt wird und das einen Ausweg aus dem Bewusstsein der Entfremdung und der Dissoziation des Menschen von der Welt in Aussicht stellt“. 19 Eine ähnliche Erlösung im Kleinen, im Subjektiven scheint mir in Johanna angelegt zu sein. Der Raum der Fiktion kann sich vom Raum der Historie lösen; das Individuum, das im Strudel der historischen und akademischen Diskurse verloren gegangen war, kann in der Fiktion zu sich finden.20

D ER R AUM

DES

L ESERS

Ein Blick über den Text hinaus auf die potenzielle Rezeption des Romans bietet sich für Johanna deswegen besonders an, weil der Akt der Rezeption wiederholt im Text thematisiert und somit intradiegetisch reflektiert wird. Gleich der erste Satz des Romans wendet sich deklamatorisch an ein scheinbar physisch anwesendes Pu-

19 CONTER, 2008, S. 99. Für Johanna zeichnet Gerhard Scholz ein ähnliches Bild: Die „Überwindung der Geschichte“ führe „wieder zur Möglichkeit von Zukunft“ (SCHOLZ, 2008, S. 155), weil im fiktionalen Raum des Romans die Vielzahl der Geschichten abgebildet sei. Damit korrespondiert die These von Stefan Neuhaus, die Texte von Felicitas Hoppe würden nicht nur die Problematik, „sondern auch und vor allem die Gestaltungsmöglichkeiten des Subjekts“ (NEUHAUS, 2008, S. 39) aufzeigen. 20 Vgl. zu einer ähnlichen Beobachtung an anderen historischen Romanen der Gegenwartsliteratur (Umberto Eco, Ulrike Draesner, Daniel Kehlmann, Helmut Krausser) SCHILLING, 2012, S. 217-276.

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blikum: „Damen und Herren, was bleibt, ist ein Rätsel“ (Johanna, S. 11). Im nächsten Absatz wird zwar aufgelöst, dass es sich um einen Ausspruch der Romanfigur Peitsche handelt, eine gewisse Ambivalenz bleibt den Worten aber erhalten, sind die Zuhörer Peitsches doch zugleich die Leser des Romans. Die offen thematisierte Hinwendung an die „Damen und Herren“ eines immer wieder wechselnden Publikums bleibt im Folgenden ein prominentes Motiv. Mit der Apostrophe adressiert die Erzählerin bisweilen eine nicht näher bezeichnete Gruppe, vielleicht wirklich die Leser; sehr grundsätzliche Fragen werden vor dieser flüchtigen Zuhörerschaft erörtert: „Damen und Herren, die Wahrheit, was ist das?“ (ebd., S. 23). Wieder präziser definiert sind die Damen und Herren im Hörsaal, an die sich der Professor mit seiner Vorlesung wendet, unter ihnen auch die Erzählerin, die also – in bester erzähltheoretischer Manier – eine Scharnierfunktion zwischen erzählter und erzählender Figur einnimmt. Weitere Stellen ließen sich anführen, ehe die Formel auf der Fahrt der Erzählerin nach Paris eine entscheidende Modifikation erfährt. Wie in der ersten Erwähnung spricht sie ein unbestimmtes Publikum an: „Damen und Herren, verehrte Mordgesellen“ (ebd., S. 132). Diese Stelle ist brisant, weil in den Absätzen zuvor – nicht zufällig biblische zwölf – verschiedene Rezeptionsformen der JohannaGeschichte durchgespielt werden.21 Nachdem die Erzählerin diese Optionen erörtert hat, folgt eine Konsequenz, die nicht mehr nur die von ihr angeführten, sondern alle denkbaren Rezeptionsformen der Geschichte betrifft: die Schlussfolgerung, dass sich der Leser mit seinem Interesse an Johanna zum Mitschuldigen an ihrem Tod macht, zum „Mordgesellen“. Die künstlerische Auseinandersetzung mit einem historischen Ereignis, das Herantreten der Gegenwart an einen Moment der Vergangenheit, ja das bloße Lesen eines Textes werden hochproblematisch, weil potenziell mit ethischen Fragen aufgeladen. Wird die Erzählerin, wird der Leser zu Johannas Mörder? Ist das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit in Hoppes Roman durch die metapoetischen Reflexionen und den bewusst offengelegten Konstruktcharakter der Geschichte ohnehin komplex, gewinnt die Frage, was Fiktion – gerade vor dem Hintergrund der Historie – leisten kann (und darf), durch diese überraschende Bezugnahme auf den Leser zusätzliche Sprengkraft. Eine Antwort ist vom Text nicht vorgegeben, er bleibt seinem Prinzip der kritisch-offenen Frage treu. An seine reflektierte Ambiguität kann die Frage angeschlossen werden, ob er sich einer ‚pluralen Lektüre‘ öffnet, ob er zu einem ‚offenen Kunstwerk‘ im Sinne Umberto Ecos

21 Zur Rezeption biblisch-religiösen Erzählguts bei Hoppe in werkübergreifender Perspektive vgl. WIESMÜLLER, 2008.

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wird.22 In diese Richtung weist der Roman zumindest in der Binnengeschichte, die die Erzählerin während ihrer Disputation erzählt. Wenn der Professor feststellt, dass dank der Volte, die die Historie in ihrer Erzählung nimmt, „wir zu glücklichen Lesern werden“ (Johanna, S. 124), ist damit eine Prolepse auf das glückliche Ende des Romans gestaltet. Was die Erzählerin sich in der Prüfungssituation ausdenkt, wird am Ende des Romans ‚Wirklichkeit‘, wenn sie das, was sie für Johanna und Loiseleur zunächst als Hypothese diskutiert, dann aber verwirft („[z]wei Herzen, die sich im Tod wieder finden“, ebd., S. 123), für sich selbst und Peitsche als stimmiges Ende der Geschichte konzipiert: „[e]in kurzer historischer Augenblick, in dem Peitsche mich aus der Seine zog“ (ebd., S. 171). Vielleicht also erstreckt sich die Möglichkeit einer aktiven Hinwendung des Romans zu seinem Leser nicht nur auf die ethische Problematik einer – wie auch immer gearteten – ‚Mitschuld‘ an den Ereignissen der Historie, sondern auch auf die Chance, im bejahenden Sprung in die Wasser der Geschichte sich selbst reinzuwaschen, sich selbst zu erkennen.

F AZIT „Erkenne die Jungfrau“ (Johanna, S. 165) – ausgehend von diesem Imperativ lassen sich die Pluralität des Romans und die Deutungsoptionen des Lesers abschließend erneut in den Blick nehmen. Das Erkennen bezieht sich erstens auf die Historie, zu der die fiktionale Geschichte einen Zugang bietet, ohne dem Anspruch auf Ausschließlichkeit oder historische ‚Wahrheit‘ zu verfallen. Der historische Roman kann als Medium fungieren, sich einem Ereignis der Geschichte anzunähern, wie es – gebrochen durch die Linse der Zeiten – der jeweiligen Gegenwart erscheint, im festen Wissen darum, dass es sich um eine Erzählung von der Geschichte handelt und andere Zeiten und Perspektiven mit gleichem Recht eine ganz andere entwerfen können. „Erkenne die Jungfrau“ ist zweitens im Sinne des biblischen Erkennens zu verstehen. Wenn die Erzählerin und Peitsche am Ende des Romans zusammenfinden, ist das auch – und nicht zuletzt – das glückliche Ende einer Liebesgeschichte. „Erkenne die Jungfrau“ heißt drittens für den Leser, sich gemeinsam mit der IchErzählerin auf die Suche nach dem (eigenen) Ich zu begeben, nach dem Subjekt, das in einem Roman, in dem „nur Subjekt ist“,23 den Text konstituiert.24

22 Vgl. dazu die Ausführungen Ecos in Das offene Kunstwerk (ECO, 1977 [1973]). Carola Hilmes vertritt zu Johanna die These, dass der Leser „zum Protagonisten des Romans“ werde (HILMES, 2008, S. 139). 23 STEINFELD, 2008, S. 196. 24 Vgl. dazu ausführlich FRANK, 2014.

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Die Vielzahl der Stimmen, die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, die Identifikation der Protagonisten mit ihren historischen ‚Ebenbildern‘ – all dies führt dazu, dass eine klare Trennung in Subjekte und Objekte, Erzähler und Erzähltes problematisch wird. Die Figuren des Romans und seine metapoetischen Aspekte verlangen vom Leser, die Schranke zwischen der literarischen Botschaft und dem Rezipienten fallen zu lassen, hermeneutische Distanz zugunsten einer Teilhabe an der Polyfonie des Textes aufzugeben. Zwar ist eine solche Teilhabe einerseits hochproblematisch, weil sie komplexe ethische Fragestellungen tangiert, andererseits aber kann sie dem Leser im Akt der Lektüre vielleicht ähnliche Momente des Glücks ermöglichen wie Peitsche beim Erkennen der Jungfrau.

L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. Sekundärliteratur CATANI, STEPHANIE, „Wir nehmen nicht wahr, wofür wir keine Sensoren haben“. Zur ‚Evolution der Geschichte‘ in fiktionaler Literatur, in: Telling Stories. Literature and Evolution/Geschichten erzählen. Literatur und Evolution (Spectrum Literaturwissenschaft 26), hg. von CARSTEN GANSEL/DIRK VANDERBEKE, Berlin 2012, S. 361-376. CONTER, CLAUDE D., Felicitas Hoppes romantische Modernekonzeption. Zum Roman Paradiese, Übersee, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 89-104. DENNERLEIN, KATRIN, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin/New York 2009. DÜNNE, JÖRG (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006. ECO, UMBERTO, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1977 [1973, DERS., Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee (Portico 38), Mailand 1962].

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FRANK, SVENJA, „Geliebtes Geheimnis, das bin ja ich selbst“. Die Initiationsgeschichte in Felicitas Hoppes Johanna (2006) als transmoderne Wiedergeburt des Autors, in: Euphorion 108, 1 (2014), S. 57-83. HALLET, WOLFGANG/NEUMANN, BIRGIT (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009. HILMES, CAROLA, Jeanne d’Arc verliebt sich nicht, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 133-143. KOHLHAMMER, SIEGFRIED, Die Welt im Viererpack. Zu Hayden White, in: Postmoderne. Eine Bilanz, hg. von KARL HEINZ BOHRER, Stuttgart 1998, S. 898-907. KORHONEN, KUISMA (Hg.), Tropes for the Past. Hayden White and the HistoryLiterature Debate (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 96), Amsterdam/New York 2006. NEUHAUS, STEFAN, „Damen und Herren, die Wahrheit, was ist das?“ Zur Konstruktion von Identität in Felicitas Hoppes Texten, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von DEMS./MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 39-53. NÜNNING, ANSGAR, „Verbal Fictions?“ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40 (1999), S. 351-380. SCHILLING, ERIK, Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur (Germanisch-romanische Monatsschrift 49), Heidelberg 2012. SCHLÖGEL, KARL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. SCHOLZ, GERHARD, Gute Nacht, Geschichte! Felicitas Hoppes Johanna in der posthistorischen Lesart, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 145-156. STEINFELD, THOMAS, Parabolisches Schreiben. Über das historische Kostüm bei Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 189-196. WHITE, HAYDEN, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Sprache und Geschichte 10), Stuttgart 1986 [DERS., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore u. a. 1978].

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DERS., Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991 [DERS., Metahistory. The Historical Imagination of Nineteenth-Century Europe, Baltimore u. a. 1973]. WIESMÜLLER, WOLFGANG, Unterwegs mit dem Stern der Verheißung? Biblisch-religiöse Spurensuche in der Prosa von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 55-68.

„Ich mache die Orte zu meinen Sehnsuchtsorten“ Die Destabilisierung der strukturbildenden Elemente und ihre Funktion im Werk Felicitas Hoppes S ONJA A RNOLD

„Ich mache die Orte zu meinen Sehnsuchtsorten, an die es mich zufällig verschlägt. Und ich lade diese Orte mit dem auf, was ich mitbringe – ganz ohne Erwartungen. So erstaunt es mich auch immer wieder, wie viel man aus einem Ort „herausholen“ kann.“1 So beschreibt Felicitas Hoppe im Interview mit dem Journalisten und Geografen Jens Nommel ihr Vorgehen bei der Konstituierung von Räumen in der diegetischen Welt. Diese Aussage ließe sich paradigmatisch auf das Gesamtwerk der Autorin übertragen, so sind es weniger Beschreibungen von realen Orten und Topografien, die sich hier finden, als vielmehr im Schreibprozess entstehende Imaginationsorte, die durch das Zusammentreffen eines den Orten Bedeutung zuweisenden Bewusstseins und der äußeren Beschreibung derselben entstehen. Dies geschieht, so die These dieses Beitrags, mithilfe einer Destabilisierung der strukturbildenden Elemente von Raum, Zeit und Kausalität, die in der Folge einen Vorstellungsraum öffnen, in dem physikalische Grenzen überwunden und im Modus der Gleichzeitigkeit alternative Seinsweisen erprobt werden können. Hoppe schließt dabei an die Darstellungstechniken der Literarischen Moderne an,2 greift die Diskussionen der

1

HOPPE/NOMMEL, 2009.

2

Vgl. zur Begriffsdefinition stellvertretend KIMMICH/WILKE, 2011. Vgl. auch Ursula Meier Rufs Dissertation Prozesse der Auflösung. Subjektstruktur und Erzählform in Robert Musils Drei Frauen, in der sie zeigt, wie die Auflösung des Subjekts bei Musil (1880-1942) formal mit der Auflösung von Zeit, Raum und Kausalität korrespondiert: MEIER RUF, 1992.

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Postmoderne vom Ende der großen Metaerzählungen,3 dem Tod des Subjekts und allgemeiner Geschichtslosigkeit auf und entwirft im Sinne einer Transmoderne 4 alternative Darstellungsformen. Hoppes Figuren scheinen beliebig fähig, Distanzen zu überwinden, Räume zu durchschreiten und sich diachron auf unterschiedlichen Zeitebenen zu bewegen. So hört die Ich-Erzählerin in Hoppes Roman Johanna (2006) etwa Stimmen, faltet Mützen und setzt sich zeitweise über alle zeitlichen Grenzen hinweg, um eine alternative Annäherung an den tradierten Stoff der Pucelle zu liefern, die sich auf einer imaginierten Zwischenebene abspielt, auf der die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sind. Im Roman Paradiese, Übersee (2003) wird die Distanz zwischen Straßburg und Kalkutta mühelos überwunden: Ein Ritter, ein Journalist und ein sprechender Hund suchen nach einem imaginären und unerreichbaren Berbiolettenfell. Auf einer weiteren Reise steht der Erzähler des Romans Pigafetta (1999) mit der titelgebenden historischen Figur in Kontakt, die gleichsam nur von ihm wahrgenommen werden kann. In Hoppes autobiografisch konditionierter Erzählung Der beste Platz der Welt (2009) gelingt schließlich eine Annäherung der Protagonistin an den Alpinisten Notwimper nur über einen gemeinsam geschaffenen Raum der erfundenen, zunehmend in die Realität der erzählten Welt einbrechenden Geschichte um drei fiktive Einsiedler. Bereits Aristoteles beschreibt in seiner Poetik die Elemente von Zeit und Handlung als grundlegend für jede Form des Erzählens.5 Die räumliche und zeitliche Strukturierung ist dabei wesentlich sowohl für die Gestaltung als auch für die Rezeption eines jeden literarischen Textes. Informationen, die der Text zur zeitlichen und räumlichen Gestaltung der erzählten Welt zur Verfügung stellt, werden vom Rezipienten aufgenommen und gespeichert.6 Innerhalb der intradiegetischen Welt können verschiedene Zeitbegriffe diskutiert werden oder in den Vorstellungen der Protagonisten nebeneinanderstehen sowie Räume als Bedeutungsträger beschrieben werden. Auf der Ebene des discours steht ein breites Analyseinstrumentarium zur Verfügung, das zeitliche Manipulationen und Raumbeschreibungen genauer zu fas-

3 4

LYOTARD, 2012 [1979], S. 14. Der Begriff wird hier im Sinne Dimitrius gebraucht und zeigt eine der Moderne nachfolgende geänderte Erfahrungslage an, die sich indes vom Begriff der ,Postmoderne‘ und den daraus folgenden Aporien abgrenzt. Vgl. DIMITRIU, 1965.

5

Aristoteles zur Zeit: „Die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen.“ ARISTOTELES, 1982, S. 17.

6

Vgl. hierzu Emmotts Konzept des contextual frame, der figuren-, raum- und zeitbezogene Informationen bereithält. Vgl. DENNERLEIN, 2009, S. 116.

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sen erlaubt.7 Dabei rückten in der jüngsten Forschung im Zuge des sogenannten ,Spatial Turn‘ vermehrt Untersuchungen zur räumlichen Strukturierung sowie zur Rezeption der räumlichen und zeitlichen Anordnungen im Text mithilfe einer kognitiven Narratologie8 ins Zentrum des Interesses. Hilfreich bei der narratologischen Analyse ist neben einer Unterscheidung zwischen intradiegetischen Elementen (Ebene der histoire) und der Anordnung derselben im Text (Ebene des discours) die vom französischen Philosophen Paul Ricœur (1913-2005) postulierte Dreigliedrigkeit eines jeden narrativen Verfahrens. Dabei ist jeder Text zunächst durch spezifische kulturelle Elemente und Wahrnehmungsweisen vorstrukturiert, wenn er auch an dieser Stelle noch nicht narrativ ist (Mimesis I). Diese ursprüngliche Dimension wird daraufhin im Rückblick im Prozess der Konfiguration (Mimesis II) geordnet und in einen (zeitlichen) Zusammenhang gebracht. Im Prozess der Refiguration tritt der Text in einen Dialog mit seinen Lesern und es wird ein Aktualisierungsprozess eingeleitet (Mimesis III).9 Werden diese Ebenen bei der Analyse der Texte unterschieden, so kann herausgearbeitet werden, wie die strukturbildenden Elemente im Wechselspiel von Handlungs- und Erzählebene destabilisiert werden und welche Wirkung diese Prozesse auf die Rezeption haben. Ziel des vorliegenden Beitrags ist demnach zunächst das Aufzeigen der Destabilisierungsprozesse in Bezug auf die genannten Elemente mithilfe einer textimmanenten Analyse der zeitlichen und räumlichen Struktur. Dabei werden, erstens, die verschiedenen Spielarten des Zeitbegriffs sowie Raumsemantiken auf der intradiegetischen Ebene in den Blick genommen, zweitens, Möglichkeiten der Zeit- und Raumgestaltung auf der Ebene des discours untersucht und schließlich der Prozess der Refiguration beleuchtet. Im Anschluss wird der Frage nach dem Funktionspotenzial der erarbeiteten Destabilisierungsprozesse sowie der Entwicklung derselben als ästhetisches Programm nachgegangen. Da die angeführten Destabilisierungsprozesse je nach thematischer Schwerpunktsetzung unterschiedliche Funktionen einnehmen, werden Hoppes Romane Pigafetta, Paradiese, Übersee, Johanna und Der beste Platz der Welt chronologisch analysiert und im Anschluss einem synthetisierenden Vergleich unterzogen.

7

Vgl. hierzu stellvertretend Gérard Genettes Grundlagenwerk Die Erzählung (GENETTE, 2010 [1994]), in dem er Anordnung, Dauer und Frequenz als Analysekategorien unterscheidet.

8

Vgl. stellvertretend HERMAN, 2003.

9

Vgl. RICŒUR,1988, S. 87-122.

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P IGAFETTA (1999) In seinem Aufsatz über Identitätskonstruktion in den Texten Felicitas Hoppes bemerkt Stefan Neuhaus über Hoppes ersten Roman Pigafetta: „Wie in den späteren Romanen wird die Relativität von Zeit und Raum inszeniert.“ 10 In neun Kapiteln, die neun Nächten entsprechen und jeweils mit einem längeren Unterkapitel verbunden sind, beschreibt ein autodiegetischer Erzähler unbestimmten Geschlechts 11 eine Weltreise. Neben der zu Hause in Hamburg zurückgebliebenen Familie fungiert Pigafetta, der Chronist der Weltumsegelung Magellans, als imaginärer Gesprächspartner des Erzählers. Wie innerhalb dieses Rahmengefüges die von Neuhaus beschriebene Relativität von Zeit und Raum erzielt wird und welche Funktion die Destabilisierung dieser Elemente birgt, wird im Folgenden mithilfe einer Analyse verschiedener im Roman aufgefächerter Zeitbegriffe, der dualen Raumsemantik Festland-Meer sowie der Ausgestaltung der Spielmetapher erörtert. Den Beginn des Romans bildet die Abschiedsrede des Erzählers, in welche die Angehörigen mithilfe der einleitenden Apostrophe „Ihr Lieben“ (Pigafetta, S. 7) eingeschlossen werden, und in der die bevorstehende Weltumsegelung angekündigt wird. Der Roman beginnt somit traditionell mit einem für den Reiseroman gattungstypischen Abschiedszeremoniell, das in seiner expositorischen Beschreibung zunächst keine Abweichungen von faktualen12 Funktionsmechanismen vermuten lässt. In der Mitte des zweiten Paragrafen wird jedoch bereits deutlich, dass keine faktualen Maßstäbe angelegt werden können, wenn der Erzähler ankündigt, „nach Inseln zu suchen, auf denen Zwerge mit großen Ohren leben“ (ebd.). Rückwirkend erscheint damit die vorhergehende Ankündigung des Berichts von „Bildern, die man sonst nicht zu sehen bekommt“ (ebd.) geradezu proleptisch. Indes wird die grundlegende Strukturierung der erzählten Welt an dieser Stelle noch nicht verletzt, ist doch der Leser aufgrund seines Weltwissens bei der Rezeption mit einem Gattungswissen beispielsweise um fantastische Reiseberichte wie etwa Gulliver’s Travels (1726) ausgestattet, das ein Erwähnen von Zwergen mit großen Ohren im Reisebericht durchaus plausibel erscheinen lässt.13

10 NEUHAUS, 2008, S. 39-52, hier S. 44. 11 Zur Frage der Geschlechtsidentität vgl. HOLDENRIED, 2005, S. 9. In Übereinstimmung mit der deutschsprachigen Erzählforschung wird die Erzählinstanz im Folgenden als ,der Erzähler‘ bezeichnet. 12 ,Faktual‘ wird hier im Sinne einer Bezugnahme auf die außersprachliche Realität verwendet. Vgl. KLEIN/MARTÍNEZ, 2009, S. 1. 13 Alber zufolge handelt es sich hierbei um eine Sonderform von sogenannten ,unnatural narratives‘, die bereits als konventionalisiert zu gelten hat. Vgl. ALBER, 2014.

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Die Destabilisierung von zeitlichen, räumlichen und kausalen Elementen beginnt erst, wenn der Protagonist das Festland verlässt und sich auf Schiffsreise begibt, wofür zum einen die räumliche Dualität Wasser-Festland,14 zum anderen eine Vielzahl von auf dem Schiff erlebten konkurrierenden Zeitmodellen ausschlaggebend sind. Einerseits ist der Alltag auf dem Schiff nach einer genauen Zeitstruktur geordnet und das Messen dieser Zeit spielt für den täglichen Ablauf und die Aufgabenverteilung an Bord eine wesentliche Rolle: „[ü]berall auf dem Schiff Uhren“ (Pigafetta, S. 11). Andererseits werden durch das Auftauchen Pigafettas, einer historischen Figur aus dem 16. Jahrhundert, sowie durch die Verknüpfung mit der räumlichen Umgebung des Undefinierten Elemente integriert, die einen Gegendiskurs zur messbaren und ordnenden Zeitstruktur der Besatzung etablieren. Pigafetta – ein Rekurs auf den historischen Antonio Pigafetta (um 1480/90-1534), den Chronisten der ersten Erdumsegelung Ferdinand Magellans (1480-1521)15 – bildet in mehrfacher Hinsicht eine Zwischengestalt. Zum einen stammt der historische Pigafetta aus einer anderen Zeit und stellt damit strukturell ein anachronistisches Element in der Gegenwart der erzählten Welt dar. Zum anderen ist auf der Figurenebene das Voranschreiten der Zeit für ihn relativ; er „lauscht dem Vergehen der Zeit“ (ebd.) und einige Dinge spielen „in seiner Zeitrechnung keine Rolle mehr“ (ebd.). Durch den autodiegetischen Erzähler vermittelt werden im Text somit zunächst verschiedene Zeit- und Raummodelle (die klar definierte Ablaufstruktur der Schiffsbesatzung versus das referenzlose Zeitempfinden Pigafettas, die klar bestimmten Konturen des Festlands versus das Fluktuieren auf hoher See) aufgefächert, die zunehmend auch die Wahrnehmung des Erzählers beeinträchtigen und zu einer Relativierung des Zeitempfindens führen, sodass eine Unterscheidung in Vorher und Nachher schwerfällt: „daß dieses unser ganzes Unglück ist, an Land wie zur See, daß wir den letzten nicht vom vorletzten Augenblick unterscheiden können“ (ebd., S. 127). Für den Prozess der Refiguration spielt die zunehmende Destabilisierung von zu-

14 Vgl. zur Verbindung von insularen Räumen mit der Erfahrung der Diskontinuität ETTE, 2005, S. 75-82. 15 Hinweise für den Leser, dass es sich bei Pigafetta um eine historische Gestalt handeln muss, gibt es zunächst nur durch die Namensgleichheit mit dem verbürgten MagellanGefährten und -Chronisten Antonio Pigafetta. Die vagen Hinweise – Pigafetta ist seit ein paar Jahren auf dem Schiff, „wann, spielt in seiner Zeitrechnung keine Rolle mehr“ (Pigafetta, S. 11), „ich bin ganz auf meine Einbildungskraft angewiesen“ (ebd.) – verdichten sich, wenn auch in der hier erschaffenen Welt eine Kopplung mit dem historischen Kontext erfolgt: „[D]enn er hat mir die Geschichte von den Köchen auf den Schiffen Magellans versprochen“ (ebd., S. 24). Genaue Referenzen auf Pigafettas historischen Kontext – so zum Beispiel auf die großen Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts und die Königliche Geographische Gesellschaft (ebd., S. 68) – vervollständigen das Bild.

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nächst als gültig eingeführten Zeitbegriffen in ihrer Konkurrenz mit anderen Bezugssystemen eine entscheidende Rolle: Zunächst kann aufgrund des fehlenden gültigen Referenzrahmens keine der dargestellten Zeitordnungen als für das Erzählte gültig identifiziert werden, dann ergeben sich Schwierigkeiten daraus, das Erzählte in eine zeitliche Ordnung zu bringen. Mit dem Schiff werden zudem mehrere Zeitzonen passiert, sodass auch die Betonung des konstruierten Charakters der Zeitrechnung mit der Schiffsreise verbunden wird: Die Klage des Pfirsichzüchters16 – „Aber am meisten bedrückte ihn, daß, obwohl er seine Uhr immer zurück- und niemals vorgestellt hatte, plötzlich zwischen dem einhundertfünfzigsten östlichen Längengrad und dem siebzehnten südlichen Breitengrad, kurz vor der internationalen Datumsgrenze, ein ganzer Tag aus dem Kalender verschwand, für den er im Voraus bezahlt hatte“ (ebd., S. 93f.) – verdeutlicht die Absurdität dieser Konvention, die als solche erst durch die besondere räumliche Position auf einem die Zeitzonen durchquerenden Schiff erfahren werden kann. Die den Alltag strukturierende Zeitordnung, das Passieren mehrerer Zeitzonen, der Konventionscharakter der Zeitrechnung, die unterschiedliche Zeitwahrnehmung einzelner Figuren sowie die mithilfe der Figur Pigafettas evozierte historische Vergangenheit und damit einhergehende Verschränkung der Zeitebenen bilden damit auf der Ebene der histoire zunächst verschiedene Spielarten des Zeitbegriffs, die nebeneinander bestehen. Die Ebene des discours, die zunächst durch die neun aufeinanderfolgenden Nächte wie eine chronologische Beschreibung wirkt, wird vor allem durch die anachronistischen Elemente, wie die Anwesenheit Pigafettas, destabilisiert. In den verschiedenen Zeitdiskursen findet sich meist auch eine Verbindung zum Raum, die oftmals in Desorientierung mündet. Die an Land geltende Zeit stimmt mit der auf dem Schiff etablierten Ordnung nicht überein; hier ist man „der Welt entzogen“ (ebd., S. 73). Dies hängt mit der besonderen räumlichen Situation zusammen, die eine Standortbestimmung mithilfe der Orientierung an anderen Punkten nicht zulässt. Die räumliche Verortung fällt in dieser Situation, in der nur der Horizont als Linie des Meeres zu erkennen ist, schwer. Damit entpuppt sich der Handlungsort des Romans als denkbar ungeeignet, um – zumindest in der autodiegetischen Erzählsituation – genaue räumliche Bestimmungen anzugeben. Orientierungsfähigkeit ist in der Erzählzeit ein Relikt aus der Vergangenheit, das nur mit

16 Die unterschiedliche Zeitrechnung wird auch an anderen Stellen des Romans wieder aufgegriffen, so in der Begegnung mit dem Zweiten Offizier: „Ich saß an der Bar neben dem Zweiten Offizier, der in langsamen kleinen Schlücken trank, drei Töchter hatte und immer wieder unruhig auf die Armbanduhr blickte. Im Halbdunkel sah ich, daß sie eine andere Zeit zeigte als meine“ (Pigafetta, S. 41). „Obwohl ich die Uhr an der Wand meiner Kabine weiter zurückstelle, werden meine Tage kürzer“ (ebd., S. 51).

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Bezug auf „andere Zeiten“ Gültigkeit besitzt – etwa, wenn von der Jugend des Geografen erzählt wird: Aber das waren andere Zeiten, als der Geograph jung war und noch für seine Königin flog. Als er den Offizier fragte, wohin sie flögen, lachte der Offizier und verband ihnen die Augen. Das ist eine Übung, sagte er, und sie stiegen ein. Auf halber Strecke riß er ihnen die Augenbinden wieder herunter und fragte: Wo sind wir jetzt? Unter ihnen war nichts als Wasser, alle schwiegen. Aber der Geograph hatte alles studiert, er kannte die Karten, die Kurven, die Ränder aus Land, das Wasser aus jeder Höhe, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Afrika, schrie der Geograph, und der Offizier hob die Brauen und beförderte ihn (ebd., S. 12).

Die Beschreibung findet sich im Kapitel Uhren der ersten Nacht. Zunächst scheint es, als ob sie proleptisch die Relativität der zeitlichen und räumlichen Orientierung fasse.17 Je nach Bezugssystem und Weltwissen ist auch im scheinbar gleichförmigen und orientierungslosen Ozean eine genaue Positionsbestimmung möglich. Doch die einleitenden Worte – „Aber das waren andere Zeiten“ – verdeutlichen, dass diese Standortbestimmung in der als Gegenwart entfalteten Welt der Erzählzeit nicht mehr möglich ist. Der Erzähler ist in der Erzählgegenwart als sehender Passagier, als der er sich selbst immer wieder bezeichnet, dem blinden Geografen unterlegen. Indes nutzt der Erzähler seine Sehkraft auch nicht zur genauen Standortbestimmung, sondern, um von „Bildern, die man sonst nicht zu sehen bekommt“ (ebd., S. 7) zu berichten. Die im Erzählten übermittelten Bilder sind damit keine klassischen Raumbeschreibungen, sie schildern vielmehr das Aufeinandertreffen eines äußeren Reizes mit einem wahrnehmenden Bewusstsein. Diese Bilder sind Entwürfe alternativer Welten, die erst entstehen können, wenn die grundlegende Struktur von Raum, Zeit und Kausalität relativiert und ihre Grenzen durchlässig gemacht werden. Immer wieder spielt die Metapher von Sehen und Nicht-Sehen dabei eine entscheidende Rolle: „Sie haben bezahlt und sehen nichts, rief der Kapitän, das stumpfe Auge des Festländers“ (ebd., S. 70). In autodiegetischen Erzählsituationen ist die Wahrnehmung von räumlichen und zeitlichen Strukturen ohnehin nur durch den Filter des Ich-Erzählers vermittelbar. Dieser scheint sich indes zunehmend in der Relativität der Ordnungen zu verlieren. Den dem Blick des Erzählers anhaftenden Auflösungserscheinungen wird jedoch in der Evokation von Bildern, die nur ihm zugänglich sind, ein Gegengewicht gegeben. „Ich bin ganz auf meine Einbildungskraft angewiesen“ (ebd., S. 11). Nach der Destabilisierung der zeitlichen und räum-

17 Später wird jedoch die zunächst als Orientierungslosigkeit empfundene Anwesenheit an Bord als Zufluchtsort empfunden: „Als ich endlich wieder schwankenden Boden unter den Füßen hatte“ (Pigafetta, S. 78).

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lichen Strukturen und dem Nebeneinander mehrerer Ordnungssysteme, werden vom autodiegetischen Erzähler Bilder als Alternativangebote, die der Sprache überlegen sind, aufgerufen. Über die gängigen raumzeitlichen Strukturierungen und die Erschaffung einer solchermaßen strukturierten Welt in der narrativen, also sprachlich vermittelten Retrospektive gelingt keine Annäherung. Der Erzähler äußert zudem sein Unbehagen über die Unzulänglichkeit des sprachlichen Wirklichkeitszugangs mit Formulierungen, die bis in die Wortebene an Hofmannsthals Beschreibungen der Sprachkrise des Lord Chandos (1902) erinnern: „[A]lles zerfiel, die Wörter zu Silben und die Silben zu Buchstaben“ (ebd., S. 72), „Wörter rieseln aus unseren Mündern wie Sand und wie Salz“ (ebd., S. 156).18 Die Intermedialitätsforschung hat im Zuge des Linguistic Turn wiederholt auf die Eigensprachlichkeit von visuellen Darstellungen, verwiesen, die im Erfassen der genuinen Eigenschaften der Abbildung einen „Möglichkeitsraum“19 eröffnen, der jenseits der Sprache liegt. Die Strategie der Evokation von Bildern, die jenseits einer narrativen und damit einer raumzeitlich strukturierten Dimension liegen, wird im Roman auch in Form des Kinderspiels „Ich sehe was, was du nicht siehst“ (ebd., S. 43) aufgenommen. Martin Hellström nimmt dieses Spiel, das auch Verbrecher und Versager (2004) zugrunde liegt, zum Ansatz, um das Verhältnis von Erzähler und Leser in den Texten Hoppes zu beschreiben. Dem Rezipienten wird danach von einer Welt erzählt, die ihm bislang unbekannt war.20 Der Umstand, dass zumindest eine der beiden Parteien das Beschriebene nicht sieht, verweist auf die Notwendigkeit der Imagination.21 Damit wird einerseits die Notwendigkeit der Vorstellungskraft durch den Leser bei der Refiguration des Textes bestimmt, andererseits kann dies aber auch auf die Konfiguration der erzählten Welt bezogen werden. Die schwankenden Grenzen der beschriebenen Raum- und Zeitstrukturen haben auf der Ebene der histoire eine Öffnung für die Imagination von neuen Räumen durch die Figuren der intradiegetischen Welt zur Folge. Die mithilfe von Bildern und räumlichen Angaben entworfene Welt innerhalb des Textes ist keine einheitliche, sie ist durch die jeweiligen Figuren konditioniert und ständigen Veränderungen und Relativierungen unterworfen. Das Kinderspiel ist damit sowohl für die Figuren der intradiegetischen Ebene bestimmendes Element als auch für die Konfiguration der Erzählung auf der Ebene des discours und die Refiguration der erzählten Welt durch den Leser, der die im Text evozierten Bilder beständig neu ordnen muss.

18 Bei Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) heißt es: „Die abstrakten Worte […] zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze.“ Zit. n. HOFMANNSTHAL, 2000 [1902], S. 46-59, hier S. 51. Zur Zitationspraxis vgl. auch HOLDENRIED, S. 11. 19 BOEHM, 2011, S. 487. 20 HELLSTRÖM, 2008, S. 27-38, hier S. 29. 21 Vgl. ebd., S. 31.

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Eine wesentliche Rolle bei der räumlichen Orientierung kommt auch dem Spielbegriff zu. Zu Beginn erfindet der Erzähler ein Spiel namens Aussicht auf Rettung.22 Die Spieler stellen sich vor, an einem bestimmten Punkt der Reise über Bord geworfen zu werden. Ihre Aufgabe ist es nun, den rettenden Weg zum Festland zu beschreiben. Gewinner bleibt stets der Geograf (vgl. ebd., S. 13). Die Versessenheit des Pfirsichzüchters auf das Bridgespiel und seine Unterordnung unter das Spiel der Matrosen, dessen Regeln er nicht versteht,23 verweisen außerdem auf den Regelcharakter des Spielbegriffs, der in einer Situation der Orientierungslosigkeit klare Anweisungen verspricht. Im Spielbegriff sind zwei Komponenten angelegt. Folgt man der grundlegenden Definition des ungarischen Historikers Johan Huizinga (1872-1945), Spiel ist eine freie Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ,gewöhnliche Leben‘[.]24

so hängen Spiele gerade mit einer festgelegten Grenzstruktur von Raum und Zeit zusammen. Andererseits distanzieren sie sich aber im „Bewußtsein des ‚Andersseins‘“, ähnlich wie der Abenteuerbegriff, vom „gewöhnliche[n] Leben“. Sie bilden damit auch Ent-grenzungen. Dehnt man den Spielbegriff so weit, dass er unter postmodernen Prämissen als „Spiel aufeinander verweisender Signifikanten“ 25 verstanden wird, so bilden die in den Spielen entworfenen Welten, die nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren, eigene Sprachspiele.26 Die verschiedenen Diskurse zum Zeitbegriff bilden nach diesem Verständnis eine Möglichkeit, verschiedene Bezugssysteme gegeneinander zu setzen. Klare Referenzialitäten mithilfe zeitlicher und räumlicher Orientierungsmarkierungen werden dekonstruiert, in den

22 Weitere Thematisierungen des Spiels, die wesentlich für die raumzeitliche Orientierung sind: Spiel der Delfine (Pigafetta, S. 70), Tischtennisspiel (ebd., S. 88), „Spielen wir also ein letztes Mal das Spiel, damit ich für immer den Thunfischkiefer gewinne, zeig du mir die Flagge, ich zeige dir das Land“ (ebd., S. 116). 23 Vgl. ebd., S. 66: „Aber ich tröstete ihn damit, daß es vielleicht jede Nacht ein anderes Spiel sei oder daß sie aus lauter Langeweile jede Nacht die Regeln änderten, nach welchen immer wieder derselbe Öler gewann, weshalb man ihm den Namen Las Vegas gab, König der Karten auf allen Schiffen der Welt“. 24 HUIZINGA, 2006 [1938], S. 37. 25 DERRIDA, 1983, S. 17. 26 Vgl. die von Jean-François Lyotard (1924-1998) in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein (1889-1951) entwickelte Theorie der Sprachspiele (LYOTARD, 2012 [1979]).

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Zwischenräumen entsteht für die Figuren des Textes und den Rezipienten eine Alternative. Eine Alternative, die mit den bekannten Strukturen raumzeitlicher Verortung bricht und in den Zwischenräumen neue Realitäten entstehen lässt, die am Ende des Textes als ehrliche Erfindungen gefasst werden:27„Aber es ist nichts erlogen, ich habe alles ehrlich erfunden, die Straße, den Globus, die Zwerge, auch die Schönheit unserer Schwester“ (Pigafetta, S. 135). Im Roman werden auf der intradiegetischen Ebene verschiedene Zeitbegriffe entworfen, die an unterschiedliche Bezugssysteme und Figuren gekoppelt sind und ohne letztgültigen Referenzrahmen bleiben. Die besondere räumliche Situation, die keine Standortbestimmung aufgrund von Vergleichspunkten zulässt, bildet die Voraussetzung für die Evokation von Bildern, die jenseits der Sprache liegen. In Bezug auf die Spielmetapher werden das zugrunde liegende Regelsystem sowie die aus seiner Relativierung entstehenden Bilder, die verschiedene Zeit- und Raumordnungen durchschreiten, nochmals verstärkt. Das Kinderspiel ,Ich sehe was, was du nicht siehst‘ hat dabei sowohl für den Entwurf von alternativen Wahrnehmungsräumen für die Figuren der intradiegetischen Welt Geltung, als auch für die Refigurationsleistung des Lesers. Die entworfene Welt ist für den Leser in ihrer Gesetzmäßigkeit indes nicht vollständig zu entschlüsseln. Es verwundert nicht, dass der Roman mit der Exponierung der Schlaf- und Traumthematik endet und mithin auf eine Zwischenwelt rekurriert, in der reale wie imaginäre Elemente gleichzeitig existieren und eigene logische Gesetze etabliert werden:28 „Im Traum sprechen wir gern wie ein Wasserfall und werden euch alles verraten, aber daß ihr uns nicht vor dem Morgen weckt, denn wenn wir einen Fremden erblicken, fahren wir aus dem Schlaf und fliehen kreischend“ (ebd., S. 156).

P ARADIESE , Ü BERSEE (2003) Schon der Klappentext des Romans kündigt „eine weit gespannte Reise durch die Kontinente und Zeiten“ an. Zwischen Abenteuer-, Reise- und Ritterroman changierend,29 bietet der Roman eine Vielzahl von (teilweise unmotivierten und abrupten) Ortswechseln, Verschränkungen verschiedener Zeitebenen und logischen Verknüpfungen, die sich mitunter auch dem Absurden annähern. Der Roman zeichnet sich

27 Vgl. dazu auch den Beitrag von Svenja Frank in diesem Band. 28 Vgl. zum Beispiel Sigmund Freuds (1865-1939) Interpretation des Traums als Wunscherfüllung, bei der reale Elemente im Traum verfremdet und der Logik der Wunscherfüllung angepasst werden: FREUD, 1900, Kap. 3. 29 Zur Frage der Gattungszuschreibung vgl. auch HOLDENRIED, 2005, S. 12f.

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zudem durch ein Geflecht intertextueller Versatzstücke30 und ein Spiel mit den Lesererwartungen in Bezug auf bestimmte Gattungsvorgaben 31 aus. Zuletzt ist er ein Reflex auf eine Welt, in der die Fähigkeit zur Stiftung linearer Ordnung verloren gegangen ist. Der dreiteilige Roman erzählt zunächst die Geschichte des Pauschalisten, der sich gemeinsam mit einem Ritter und einem sprechenden Hund auf die Suche nach einem gewissen Doktor Stoliczka in Kalkutta begibt. Im zweiten Teil, dessen Handlungsort das luxemburgische Wilwerwiltz bildet, wird das familiäre Umfeld Veits geschildert, dessen Schwester in Lissabon lebt und dessen Bruder sich als der Pauschalist entpuppt. Im dritten Teil reist Veit schließlich nach Bombay, wo er Doktor Stoliczka begegnet und seinen Bruder von Bombay nach Hause bringt. Ähnlich wie in Pigafetta wird auch in diesem Roman eine Welt entworfen, die in vielen Punkten den realweltlichen Ordnungskategorien von Zeit, Raum und Kausalität entspricht, an einigen Stellen aber explizit mit diesen bricht. Genaue Zeit-32 und Ortsangaben33 leistet zunächst eine traditionelle Exposition. Eine erste Desorientierung erfolgt in der Beschreibung des unter Seekrankheit leidenden Pauschalisten zu Beginn der Schiffsreise. In „seinem fiebrigen Halbschlaf“ (Paradiese, S. 15) wechselt die Erzählsituation von einer auktorialen zur personalen und die Gedanken des Pauschalisten aus dem Fiebertraum werden teilweise in erlebter Rede wiedergegeben. In diesem traumhaften Zustand verändern sich, wie bereits in der finalen Traumsequenz von Pigafetta, die Gesetze der Logik und Signifikate werden austauschbar. „War der Hund nicht in Wahrheit eine Katze?“ (ebd.) fragt sich der Pauschalist im Fiebertraum. Mit dem Beginn der Reise und dem transitorischen Modus auf dem Schiff wird für den Pauschalisten ein Bruch mit den bekannten Ordnungs- und Referenzsystemen eingeleitet, der sich auch im Verlust der Fähigkeit zur sprachlichen Selbstverortung zeigt. Auf der verzweifelten Suche nach einer Zeitschrift in Kalkutta heißt es: Aber mit einer Zeitung in der Hand, fühlte er, wäre er sicher. Nicht nur durch die Nachricht, den Schlüssel zur Welt, das tägliche Wiedererkennen der Zeit, den Kalendervergleich, die Überprüfung des Datums und der Dinge überhaupt, sondern allem voran durch die herrliche Gewissheit, dass jeden Tag aufs Neue immer noch alles da ist. Die Wörter erstens, die Welt zweitens und drittens die Welt in den Wörtern, diese druckschwarze Wirklichkeit, ohne die wir nichts wissen von dem, was wir sind und was uns geschieht, ohne die wir nicht wüssten,

30 Zum intertextuellen Gehalt vgl. HOLDENRIED, 2008, S. 127f. 31 Vgl. hierzu auch HOLDENRIED, 2005, S. 14. 32 „Am Vorabend des zweiundzwanzigsten Zwölften“ (Paradiese, S. 7). 33 „Bahnhof von Kalkutta“ (ebd.).

284 | SONJA A RNOLD diktierte der Pauschalist, welches Ausmaß das Unglück erreichen kann und dass wir, weil wir das lesen können, auf der Seite der Geretteten sind (ebd., S. 23).

Neben den zeitlichen („Wiedererkennen der Zeit“, „Kalendervergleich“) und räumlichen („dass jeden Tag aufs Neue immer noch alles da ist“) Selbstvergewisserungsmechanismen spielt die Sprache erneut eine entscheidende Rolle für die Verortung in der Realität. Die Verbindung von raumzeitlicher Rahmung mit der sprachlichen Ausgestaltung derselben („Welt in den Wörtern“) versucht der Pauschalist festzuhalten, indem er seine Beobachtungen auf Band spricht. Die im Traum bereits angezeigte Variabilität der Bedeutungen34 wird indes durch den Verlust der sprachlichen Substanz verstärkt, indem der Text vom Diktiergerät verschwindet: „Aber wo ist der Text? Die Kassetten, die Schätze, das wortreiche Material“ (ebd., S. 15). Doch gerade die Sprache war bislang das letzte Refugium des Pauschalisten, das Tonbandgerät sein „Schlüssel zur Welt“ (ebd., S. 17). Seine Wahrnehmungsveränderung auf dem Schiff vergleicht der Pauschalist mit einem Kaleidoskop (vgl. ebd.), das gleichsam leitmotivisch für die sich immer wieder wandelnde Weltsicht der Figuren wie auch für die ständig neu zu erzeugende hermeneutische Arbeit des Rezipienten steht. Mit Fortschreiten der als unzuverlässig empfundenen Perzeption ist außerdem nicht mehr klar, ob die veränderte Wahrnehmung dem Zustand der Seekrankheit oder demjenigen des Traumes geschuldet ist. Das Kaleidoskop fungiert neben der Variabilität der figuralen Wahrnehmung auf der intradiegetischen Ebene als Symbol für die Frage der (An-)Ordnung, die im Text ästhetisch durch die Destabilisierung der strukturbildenden Elemente und inhaltlich durch die zahlreichen Diskurse über (sprachliche) Ordnung immer wieder thematisiert wird. Somit gehen auch in diesem Roman die Permeabilität der strukturbildenden Elemente und die sich daraus ergebende veränderte Wahrnehmung mit dem Verlust der sprachlichen Fähigkeit einher. Diese Orientierungseinbuße zeigt sich auf der intradiegetischen Ebene am Beispiel der zunehmenden Verwirrung des Pauschalisten. Auf der Eben des discours wird sie anhand des Wechsels der Erzählperspektive sowie des Nebeneinanders verschiedener Orte, Zeiten und Gattungsmuster angezeigt. Für die Refiguration spielt sie eine entscheidende Rolle, indem die Rezipienten beständig die vom Text aufgerufenen Gattungskonventionen mit ihrer tatsächlichen Realisierung sowie die Vielzahl von spontanen Orts- und Zeitwechseln abgleichen und in ein konsistentes Sinngefüge bringen müssen. Die Problematik einer strukturbildenden Ordnung korreliert in diesem Roman erneut mit der Spielmetapher. Dem Kartenspiel, das der Ritter skeptisch betrachtet, „weil er das Brettspiel allen anderen Spielen vorzog“ (ebd., S. 19), wird die Position Doktor Stoliczkas in absentia begleitend an die Seite gestellt: „[N]niemals hät-

34 Vgl. zu diesem Aspekt auch die Ausführungen von Maria Hinzmann in diesem Band.

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te er seine Zeit mit Kartenspielen vergeudet, diesem Spiel eines sinnlos gemischten Zufalls, der nachher angeblich Ordnung ergibt. Denn was für Ordnungen sind das? Sinnlose Reihen und Folgen von Farben, Bildern und Zahlen“ (ebd., S. 19). Stoliczkas Haltung gegenüber dem Spiel fungiert hier als metareflexiver Kommentar der gesamten Handlung. Während er an einem statischen Ordnungsbegriff festhält, werden mithilfe der „sinnlose[n] Reihen“ immer wieder neue Ordnungen erzeugt. Die „Hoffnung auf Ordnung“ (ebd., S. 25) ist fortwährend immer wieder mit der Spielmetapher verbunden, unter die nach und nach die gesamte Reise fällt („Alles bleibt im Spiel“, ebd.). Michaela Holdenried zufolge handelt es sich bei der Struktur des Romans um ein „cross-reading, in dem sich die Leser/innen immer wieder auf logisch nicht motivierten Erzählebenen wiederfinden, ähnlich einem der architektonischen Bildwerke von M. C. Escher (1898-1972).35 Dieser Struktur entspricht eine explizite und metaphorische Reflexion über den Ordnungsbegriff im Text, die sich indes nicht zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Für den Pauschalisten geht die räumliche Ordnung zunehmend verloren: „[D]enn er hatte längst nicht mehr die geringste Ahnung, wo sie sich befanden, vor allen Dingen aber, wohin sie eigentlich unterwegs waren. Er hatte jede Orientierung verloren, und das störte ihn nicht im Geringsten“ (ebd., S. 34). Ohne Standpunktbestimmung und ohne Ziel ist auch sein Entschluss – „Genau dahin wollte er reiten“ –, insbesondere aufgrund des absurd erscheinenden deiktischen Ausdrucks „dahin“, nur noch als Ironie zu lesen. Damit wird auch die Suche selbst ironisiert, die der Gattung des Abenteuerromans generisch zugrunde liegt. Dies wird auf die Spitze getrieben, wenn die Figuren im Kreis rennen, „wobei am Ende nicht mehr auszumachen war, wer wem auf den Fersen war“ (ebd., S. 37). Auch die Aufzeichnungen des Pauschalisten, die er von den Tonbändern abschreibt und immer wieder neu ordnet, versprechen keine endgültige Form anzunehmen (vgl. ebd., S. 43). Zu sehr sind sie durch Wiederholungen gekennzeichnet, die sich einerseits durch das beständige Abspielen der Aufnahmen, andererseits strukturell durch ein repetitives Erzählen zeigen. Die Ordnung der Zeit wird für den Pauschalisten ebenso zum Problem. Zunächst beneidet er den Ritter um seine Rüstung, in der er „vor der Zeit in Sicherheit war“ (ebd., S. 30). Später wird das temporale Ordnungssystem pervertiert, wenn die Bewegungen der Figuren mit dem Grimm’schen Märchen Der Hase und der Igel (1812) verbunden werden: „dass Stolizcka in diesem Spiel der Igel, er aber nichts als der Hase war“ (ebd., S. 32). Die Grundidee, dass jemand, der sich langsamer fortbewegt, schneller am Ziel ist, bietet reichlich Stoff für Reflexionen über Zeit und Raum. Wenn der Pauschalist sich im Roman an die Stelle des Hasen versetzt fühlt, so macht er deutlich, dass ihm der Einblick in die Zeit- und Bewegungs-

35 Vgl. HOLDENRIED, 2005, S. 15.

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abläufe Stolizckas versagt ist, und diese Gesetzen folgen, die ihm unbekannt sind. Hinzu kommt der diachrone Bruch durch das Nebeneinander von Rittern und Gegenwartsmenschen. Dass der Bruch mit der Zeit Voraussetzung für die veränderte Wahrnehmung ist, hat Hoppe in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben: „So etwas geht eben nur im Buch. Wir können die Dinge eigentlich nur in unserer Imagination neben einander existieren lassen und die Zeiten überspringen. Ich wollte mit alten Stoffen arbeiten, aber ich wollte sie eben nicht historisieren, sondern sie in unsere Zeit stellen.“ 36 Die veränderte Zeitwahrnehmung des Pauschalisten, die Zeitlosigkeit des Ritters und die durch das Märchen in den Roman gelangenden paradoxen Zeitbegriffe zeigen sich auf der strukturellen Ebene durch die parallele Existenz verschiedener Zeitebenen und durch repetitives Erzählen. Sie öffnen in dieser Pluralität im Prozess der Refiguration einen Vorstellungsraum, an dem mehrere Dinge in der „Imagination neben einander existieren“ können. Der zweite Teil des Romans, der mit seinem Handlungsort in Wilwerwiltz und dem vertrauter wirkenden Personeninventar ebenso am 22. Dezember einsetzt, beschreibt die Familiensituation Veits, dessen Spitzname aufgrund seiner lokaltouristischen Entdeckerlust bald ,Kleiner Baedeker‘ lautet und der sich als Bruder des Pauschalisten erweist. Auch hier wird mit Bezug auf die Zukunft, die familiäres Gesprächsthema wird, schon zu Beginn die Zeitproblematik evoziert. Als Gegenstände, die der Bruder beim letzten Umzug hat retten können, werden eine Lupe und ein Kaleidoskop genannt – beides Objekte, die eine Perspektivierung des Betrachteten zulassen. Das Kaleidoskop bildet zudem einen Gegenstand aus dem ersten Teil des Romans, der nun im zweiten Teil in anderer Umgebung resemantisiert wieder auftaucht. Die Figuren „geben alle Requisiten, die in diesem Spiel vorkommen, aneinander weiter, sozusagen wie eine Staffel, nichts geht verloren, alles bleibt im Spiel, und das fordert sowohl vom Schreibenden als natürlich auch vom Lesenden ein großes Maß an Konzentration.“37 Diese Strategie wird im Roman mehrfach auf metafiktionaler Ebene thematisiert, beispielsweise wenn der Bruder als notorischer Skeptiker enttarnt wird: „Denn das liebt er, die Dinge in ihrem Kern in Zweifel zu ziehen, bis am Ende nichts übrig bleibt als der Zweifel, bis man glaubt, falls er weiterspräche, würde sogar das Geschirr vom Tisch verschwinden“ (Paradiese, S. 68f.). Diese Eigenschaft des Bruders, in Verbindung mit den zugehörigen Requisiten (Lupe und Kaleidoskop) dient nicht ausschließlich der Figurenzeichnung, sondern auch als Metakommentar zur Funktionsweise des Textes. Die erzählte Welt konfiguriert sich immer wieder neu, sie muss damit auch vom Leser immer wieder neu re-figuriert werden; der Zweifel, der mit der ständigen Dekon-

36 HOPPE/KÜCHEMANN, 2003. 37 HOPPE/KASATY, 2007, S. 131-168, hier S. 151.

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struktion einer etablierten Ordnung einhergeht, bildet dafür eine geeignete Spiegelfigur. Als Ergebnis der vorangegangenen Analyse lässt sich mithin festhalten: Es werden verschiedene Zeit- und Raumbegriffe neben- und gegeneinander gesetzt, durch Gattungsvorgaben Erwartungen beim Leser geweckt, mit denen wieder gebrochen wird, der Ordnungsbegriff spielt sowohl motivisch als auch strukturell eine große Rolle und wird schließlich mit der Spielmetapher verbunden, welche die Evokation von alternativen Welten in sich birgt. Der Roman endet mit der Zusammenkunft der Geschwister bei der mythischen „Gastgeberkönigin“38 Frau Conzemius, die auf einmal „kein einziges graues Haar“ (ebd., S. 182) mehr hat. Das Ende scheint ein bewusst versöhnliches und glücklichmärchenhaftes, bei dem der verlorene Sohn in den Schoß der Mutter zurückkehrt: „Du weißt doch genau, kleiner Veit, dass die Pferde schon versorgt sind“ (ebd., S. 183). Für den Leser aber beginnt mit der Vielzahl der teilweise konträren Erzählstränge und der Destabilisierung der strukturbildenden Elemente erst jetzt der Reorganisationsprozess, zumal die Enthüllung der Schwester im letzten Satz, die als strategisches Täuschungsmotiv zu lesen wäre, keine Auflösung verspricht: „Der Ritter, das bin übrigens ich“ (ebd., S. 186).

J OHANNA (2006) Bei der „schieren Fülle der literarischen, künstlerischen und historischen Verarbeitung“39 scheint es kaum möglich, noch eine neue Annäherung an den Stoff Jeanne d’Arcs, der Jungfrau von Orléans (um 1412-1431), zu leisten. Wenn Felicitas Hoppe den Versuch trotzdem wagt, dann mithilfe eines poetischen Verfahrens, das in den vorhergehenden Werken bereits angedeutet wurde und in Johanna (2006) einen alternativen Umgang mit Geschichte nach sich zieht. Wie in Pigafetta ist auch hier eine historische Person titelgebend. Hoppe hat dafür indes nicht das historische Umfeld Johannas von Orléans gewählt, sondern ein gegenwärtiges mit autodiegetischer Erzählsituation. Die IchErzählerin arbeitet an ihrer Doktorarbeit über Jeanne d’Arc und ist mit einer Riege starrsinniger Historiker konfrontiert – allen voran dem Betreuer ihrer Arbeit – die mit ihrem alternativen Umgang mit der Geschichte Johannas nichts anzufangen

38 Hoppe, S. 147. Dort heißt es auch: „Mit Frau Conzemius erschafft Hoppe ihren Traum von der ewigen Wirtin, einen Typus, der ihren Wunsch nach einer globalen Heimat verkörpert, nach jenem Ort, an dem man immer zu Hause ist“. 39 WINOCK, 2005, S. 365. Vgl. als Überblick der politischen Instrumentalisierung auch HIMMEL, 2006.

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wissen. Dieser ist gekennzeichnet durch die Veränderung, plurale Deutung und Infragestellung historischer Ereignisse und kann als Uchronie40 gefasst werden, wobei die alternativen historischen Deutungen einen aktiven Leser erfordern, der diese mit seinem kulturellen Wissensschatz abgleicht. Einzig Peitsche, einem weiteren Wissenschaftler, mit dem sie sich auf die Doktorprüfung vorbereitet, bietet ihr eine Anlaufstelle. Durch die Verschränkung der historischen Figur Johannas von Orléans mit der Geschichte der Erzählerin liegen dem Erzählten bereits zwei Zeit- und Raumsysteme zugrunde, innerhalb derer die historische Figur stets nur in der Imagination des gegenwärtigen Personals aufscheinen kann. Dieses Verfahren entspricht zunächst Hoppes Poetik: „Der direkteste Weg ist der Nichtauftritt der Hauptfigur. Präsenz durch Abwesenheit. Platz für Vorstellungskraft.“ 41 Es lässt sich weiterhin erzähltheoretisch als metaisierendes Verfahren fassen – ein Verfahren, das die Gemachtheit des literarischen Werks in den Vordergrund stellt42 und unter Einbeziehung einer zweiten Ebene das erzählte Geschehen reflektiert. 43 Durch die retrospektive Erzählung, die sowohl die raumzeitlichen Rahmenbedingungen der erzählten Figur als auch diejenigen der Erzählerin einschließt, wird das Variabilitätsspektrum von Historiografie erfahrbar sowie die Deutung durch den Rezipienten im Prozess der Refiguration gefordert. Der historische Referenzpunkt scheint schnell erzählt, ein zweiseitiger Prolog genügt der Erzählerin dafür. Genaue Zeitangaben („Dreikönigsnacht“, „[n]eunzehn Jahre später“, „[a]m siebenundzwanzigsten Mai“, „[a]m dreißigsten Mai, gegen neun,“ „[e]ine Stunde lang“ und die Lokalisierung in Rouen (Johanna, S. 9) fungieren als faktuale Marker zu Beginn. Sodann folgt die Geschichte um die Jungfrau von Orléans bis zu ihrer Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen und der Verstreuung ihrer Asche in der Seine. Gewonnen scheint durch diese Rekapitulation, die so in jedem Geschichtsbuch nachlesbar ist, zunächst nichts – und so verwundert es nicht, dass ein Rätsel die Binnenhandlung im ersten Kapitel (Mützen) initiiert (ebd., S. 11).44 Die Erzählerin wählt in der Folge bestimmte historische Referenzpunkte,

40 „Texttheoretisch läßt sich die Funktionsweise einer Uchronie mit Hilfe ‚pragmatischer Präsuppositionen‘ beschreiben, d. h. mit Hilfe eines im Text implizit präsentierten ‚kulturellen Wissens‘, gegen das die uchronischen Daten systematisch verstoßen.“ (RODIEK, 1997, S. 28). 41 HOPPE, 2007, S. 56. 42 Vgl. HAUTHAL, 2013, S. 514f. Vgl. zu den metaisierenden Strategien auch ARNOLD, 2012, S. 107-119. 43 Der Text muss über „eine höhere textologische Ebene, eine kognitive Reflexionsebene verfügen, von der aus Phänomene der Objektebene kommentiert und/oder beschrieben werden.“ (HAUTHAL u. a., 2007, S. 4). 44 Zur Wiederaufnahme des Rätsels vgl. Johanna, S. 62.

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löst diese aus ihrem historischen Kontext und implementiert sie in die eigene Erzählgegenwart. Mithilfe dieses zeitüberschreitenden Verfahrens gelingt ihr eine Annäherung an die Gestalt der Johanna. Eines dieser Verfahren findet sich in einer Umfunktionalisierung zum materiellen Schriftträger im Beschriften und Lesen von Mützen, angelehnt an die von Johanna auf dem Weg zum Scheiterhaufen getragene Kopfbedeckung, auf welcher, der Überlieferung nach, die Worte ,Ketzerin‘, ,Abtrünnige‘, ,Götzendienerin‘ zu lesen waren. Das zweite Kapitel nimmt schließlich Bezug auf die Stimmen, die die historische Johanna vermeintlich vernommen hat und die Handlungsanweisungen enthielten: Johannas göttliche Stimmen, hohes Gericht der Pathologie! Wer versteht ihren Auftrag, wer versteht diese Stimmen? Wer sie hören kann, der wird sie verstehen, wer nichts hört und nichts sieht, der muss sie beschreiben. Ganze Bände, ganze Bibliotheken hat man gefüllt mit menschlicher Mutmaßung über DIE STIMMEN, über Johannas hohen dreieinigen Rat. Wie viel Angst vor der Fülle der Möglichkeiten, hundert Antworten auf eine Frage. (ebd., S. 44, Hvhbg. i. Orig.)

Dieser Exkurs über die Stimmen, die Johanna hörte, evoziert das ganze Spektrum historiografischer Auseinandersetzungen um diesen Aspekt. Ob es sich beim Vernehmen der Stimmen um ein pathologisches Phänomen oder um eine göttliche Eingebung handelt, verändert den Deutungshorizont entscheidend.45 Während Johannas Geschichte bei den Aufklärern gerade aufgrund ihres übernatürlichen Gehalts auf mäßigen Erfolg stieß,46 wurde sie im 19. Jahrhundert zur Heiligen stilisiert.47 Indem an dieser Stelle die „Fülle der Möglichkeiten“ jedoch gleichzeitig anwesend ist und indem genau dieser strittige Punkt (das Vernehmen der Stimmen) aufgenommen wird, entsteht ein poetisches Verfahren, das mehrere diskursive Netze von Deutungsmöglichkeiten knüpft, ohne von Beginn an eines zu privilegieren. Die metareflexiven Kommentare zur Konstruktion von Geschichte durch Geschichtsschrei-

45 Vgl. dazu auch Hoppes eigene Erklärung: „Johanna hat „Stimmen“ gehört. Interpretations- und Erklärungsversuche dafür gibt es wie Sand am Meer – aus pathologischer Sicht, aus historischer Sicht, aus religiöser Sicht, aus spiritueller Sicht usw. Mich hingegen interessiert erzählerisch einzig der Tatbestand, nicht seine Auflösung durch die Erzählung“ (HOPPE, 2007, S. 62f.). 46 Vgl. WINOCK, 2005, S. 370. 47 Neben der Stilisierung zur katholischen Heiligen zeichnet sich die Deutung des 19. Jahrhunderts durch „die Verkörperung des patriotischen Volkes und die Schutzheilige des radikalen Nationalismus“ (ebd., S. 380) aus. Die religiöse Deutung ging davon aus, dass es sich bei den Stimmen um Engel gehandelt habe, während Freidenker zur gleichen Zeit diese auf Halluzinationen zurückführten (vgl. ebd., S. 382f.).

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bung unterstreichen dieses Grundproblem, das in der wissenschaftlichen Diskussion im Zuge des Linguistic Turn unter anderem in der von Hayden White48 postulierten Deckungsgleichheit von Literatur und Historiografie zugespitzt wurde: „Worauf kommt es in der Geschichte an? Nicht darauf, dass man Geschichte erzählt, sondern, wie man Geschichte macht, wenn man erzählt“ (Johanna, S. 47). Wiederum wird dieses Verfahren mit der Spielmetapher verbunden. Die Erzählerin spielt mit Peitsche „Erkenne den König“ (ebd., S. 82), ein Versuch, die historische Realität am Hof Karls VII. (1403-1461) zu rekonstruieren. Als Johanna und Peitsche sich schließlich auf Spurensuche vor Ort begeben, gleicht der Erzählfluss einer Montage: Passagen, in denen die Reise Peitsches und Johannas beschrieben wird, wechseln immer wieder mit Passagen, in denen Johannas Geschichte präsentisch erzählt wird. Schließlich verschränken sich beide Ebenen und konvergieren: „Ein englischer Pfeil! Die getroffene Jungfrau! Ich schlafe, und Johanna verliert ihre Schlacht! Dornengekrönt und von Gott verlassen!“ (ebd., S. 86). Der elliptische Satzbau im exklamatorischen Stil verweist auf die präsentische Realisierung des historischen Stoffes, die Felicitas Hoppe theoretisch als eine Mischung aus Geistesgegenwart und Inspiration bestimmt, bei der es nicht darum geht, Stoffe zeitlich zu aktualisieren, sondern sie „auf ihre Essenz hin zu befragen.“49 Die antithetische Gegenüberstellung (Ich – Johanna) enthält die beiden Pole, die bei der (Re)Konstruktion anwesend sein müssen: Die Erzählerin und der historische Stoff. Durch die Verschränkung der Zeitebenen wird hier eine Möglichkeit der alternativen Annäherung an einen historischen Stoff geschaffen. Der Roman bietet zudem mehrere metareflexive Kommentierungen des Zeitbegriffs, in denen erneut verschiedene Zeitdiskurse aufgenommen werden und die im Sinne einer Uchronie alternative Verlaufsformen aufnehmen: Ich habe sowieso nie begriffen, wie sich die Zeit auf den Punkt bringen lässt, ich habe sie nicht zu fassen bekommen. Die Zeit voran, und ich hinterher, die Zunge am Boden. Damen und Herren. Lassen Sie sich Zeit mit dem Buch, lesen Sie, wenn die Zeit dafür reif ist, lesen Sie zu gegebener Stunde. Aber wie reift die Zeit? Und was ist eine gegebene Stunde? Das Leben beginnt im Januar und endet im Mai, nur ich bin nicht schnell genug gewesen, um das zu begreifen, die Geschichte hat ohne mich stattgefunden. (ebd., S. 137)

Die alltagssprachlichen Phraseologismen zur Zeit werden hier aufgenommen und in Form rhetorischer Fragen dekonstruiert. Am Ende steht die Erkenntnis, dass das historische Geschehen nicht revozierbar ist: „[D]ie Geschichte hat ohne mich stattgefunden“. Damit teilt die Erzählerin die Einsicht der Autorin Felicitas Hoppe,

48 Vgl. WHITE, 1991. 49 HOPPE, 2008, S. 19.

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„dass man literarisch immer hinter der Geschichte herhinkt, ich hinke hinter der Vergangenheit her, was heißt, dass sie immer noch vor mir liegt.“50 Ein Versuch zur Überwindung dieser Aporie kann in einem poetischen Verfahren bestehen, das die strukturbildenden Elemente Zeit, Raum und Kausalität relativiert und in ihrer Verschränkung einen Ort entstehen lässt, an dem eine Annäherung an die Geschichte gelingen kann. Dies geschieht im vorliegenden Roman durch die Verschränkung von Zeitebenen, verschiedenen historiografischen Diskursen sowie durch die Evokation von Räumen und Requisiten, die eine Annäherung an den historischen Stoff erlauben sollen (so das Schwimmen in der Seine oder das Falten der Mützen). Im Prozess der Refiguration generiert der Leser, der explizit angesprochen wird („Lassen Sie sich Zeit mit dem Buch, lesen Sie, wenn die Zeit dafür reif ist“), im Nebeneinander der zeitlichen Schichten und der Vielzahl von bereits existenten Deutungsmöglichkeiten und historiografischen Diskursen (neue) Bedeutung. Wenn „endlich alles am richtigen Platz, endlich die Ordnung von Raum und Zeit“ (Johanna, S. 133) hergestellt ist, so die kurzzeitige Hoffnung, könnte die Annäherung an die Geschichte gelingen. Die stets doppelt besetzten Räume (Johannas Hinrichtung in Rouen und der Ausflug der Erzählerin dorthin, Johannas Verhör und Verurteilung und das Scheitern der Erzählerin vor dem Prüfungstribunal, das Schwimmen in der Seine, in der Johannas Asche verstreut wurde) sowie die Verschränkung von Zeitebenen sprechen dafür, dass mit der „Ordnung von Raum und Zeit“ eine spezifische, in einem poetischen Verfahren geschaffene Regulation gemeint ist, eine parallele Welt, die sich durch Imagination jenseits eines statischen Ordnungsbegriffs auszeichnet und damit ein Verfahren zur Annäherung an einen historisch vielfach tradierten Stoff bildet. Mithilfe eines poetischen Verfahrens, das die kombinatorische Verkettung der Zeitebenen und das Spiel mit Fakten und deren Lesbarkeit einschließt, sind im Roman Johanna mehrere Deutungsmöglichkeiten des historischen Stoffes gleichzeitig anwesend. Hoppe gelingt damit eine Annäherung, die das gegenwärtige Auslegungsspektrum jeglicher Geschichtsschreibung betont und verschiedene Interpretamente berücksichtigt. Aus Geschichte werden Geschichten, wie es der Erzähler in Paradiese, Übersee beschreibt: „Aber anders ist dieses Geschäft ja überhaupt nicht zu betreiben, denn was kann ich dafür, dass die Geschichte so beschaffen ist, dass sie aus nichts als lauter Geschichten besteht, aus einer endlosen Fülle verwechselbarer Gebeine und Namen“ (Paradiese, S. 96).

50 HOPPE, 2007, S. 69.

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D ER BESTE P LATZ DER W ELT (2009) In Felicitas Hoppes autobiografisch geprägter Erzählung51 Der beste Platz der Welt werden die zeitlichen und räumlichen Grenzen der narrativen Welt erneut durchlässig: Realweltliche Kausalgesetze werden gebrochen und poetische Zwischenräume geschaffen, die Räume der erzählten und imaginierten Geschichten, in denen eine Begegnung der Figuren möglich wird. Ein Aufenthalt Hoppes im Wallis, der auf einen Preis der Stiftung Schloss Leuk zurückgeht, bildet den Hintergrund für die Erzählung. Ein Symbol, das sowohl Zeit- als auch Raumbezug zu fassen vermag, wird in der Erzählung schon früh genannt: dasjenige des Tunnels. Immer wieder taucht es später in der Erzählung auf: einerseits, um eine beengende Erfahrung zu beschreiben, andererseits um den Charakter des Transitorischen zu betonen. Schon zu Beginn bei der Anreise im Zug wird der Tunnel als Ort der Verlorenheit gefasst, wenn die Erzählerin sich fürchtet, nicht mehr herauszukommen und die Fahrenden überraschend „doch noch das Ende des Tunnels“ (Platz, S. 7, S. 26) erreichen. Die Eigenschaft des Tunnels, einen Ort mit einem anderen zu verbinden, ohne dass sich auf dem Weg dorthin eine Orientierung an der Welt außerhalb des Tunnels 52 böte, exponiert die erstmalige Desorientierung der Erzählerin. Dieser Orientierungsverlust ist so weitreichend, dass die Erzählerin dankbar für eine Papiertüte ist, die ihr im nächsten Moment ins Auge fällt und auf der „in großen Buchstaben MIGROS stand. Ein tröstliches Wort, das für den, der dem Tunnel entkommen ist, nach Rettung und Heimkehr riecht“ (ebd., S. 8, Hvhbg. i. Orig.). Durch die synästhetische Kombination der Geruchsreaktion mit dem visuellen Reiz wird die Desorientierung der Erzählerin weiter unterstrichen. Später wird die „Platzangst“ (ebd., S. 12) der Erzählerin in Tunneln mit der Angst in Fahrstühlen verbunden (ebd., S. 11). Diese Klaustrophobie weitet sich dahingehend aus, dass selbst das Meer, in Bezug auf Hoppes Weltumsegelung,53 als einengend empfunden wird: „Der friedliche Ozean ist das größte Gefängnis der Welt“ (ebd., S. 12). Im Gegensatz zu diesen als beklemmend empfundenen Orten steht „der beste Platz der Welt“ (ebd., S. 13), der aufgrund seiner Höhe in den Bergen des Wallis Übersicht bietet. Die Berge stehen

51 Obgleich das Werk zahlreiche autobiografische Elemente enthält, wird es im Paratext als ,Erzählung‘ bezeichnet, enthält eine vorgeschaltete Erzählinstanz und mehrere fantastische Komponenten. 52 Vgl. auch die Tradition des Tunnelmotivs in der Schweizer Literatur, etwa in Friedrich Dürrenmatts Der Tunnel (1952), modifiziert im Höhlengleichnis in Max Frischs Stiller (1954) sowie die Beschreibungen der Schweiz in Thomas Manns Zauberberg (1924). 53 „[I]n der Kabine eines Frachtschiffes auf dem Pazifik, mit dem ich vor vier Jahren rund um die Welt fuhr“ (Platz, S. 12).

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hier stellvertretend für die Weite des Meeres,54 für Klarheit, Abgeschiedenheit und Übersicht und werden aufgrund des Höhenunterschieds gar als überlegen angesehen: Denn bis heute ist wenig bekannt, dass, wer wirklich den Ozean sehen will, egal ob atlantisch oder pazifisch, hinaus muss, weil sich das Meer nicht vom Meer aus erkennen lässt. Erst von hier oben lässt sich begreifen, was die Versenkung in einen Augenblick bedeutet, während man unten, von Bewegung und Wellen umzingelt, nichts betrachten kann, weil alles vorüberzieht. (Platz, S. 19)

Der Übertragung der Meeresmetapher auf die Walliser Berge entspricht eine maritime Rhetorik auf sprachlicher Ebene: So lässt sich die Erzählerin bei der Übergabe ihrer Unterkunft an, „[ihr] Schiff zu erkunden“ (ebd., S. 27) – einschließlich „Kapitänskajüte“ und „Navigationsgeräte[n]“ (ebd., S. 28). An diesem Ort kommt auch die Erinnerung an ihre Schiffstaufe wieder auf (vgl. ebd., S. 29). Diese metaphorische Verschmelzung von zwei Orten beginnt darüber hinaus die vor Ort befindliche Materie durchlässig zu machen, „die sich nachts zum Trost in Geschichten verwandelt“ (ebd., S. 31). Erneut wird durch die Destabilisierung der räumlichen Umgebung ein alternativer Ort geschaffen, an dem in der Diegese eine Welt in Form von Geschichten entstehen kann. Eine Sphäre, in der die Konstituierung der alternativen Welt vollzogen wird, ist auch in dieser Erzählung der Traum. Hier erfolgt beispielsweise die Implementierung der Binnengeschichte um zwölf Kegelbrüder, die mitternachts in der Kirche für ihre Sünden büßen: „Im Halbschlaf meiner Erinnerung ging ich mit allen zwölf auf die Reise, jenseits der Berge immer weiter nach Westen, bis zum Atlantik, den ich nach oben fliegend erst unter mir und dann hinter mir ließ“ (ebd., S. 35). Durch die auf der Erzählebene geschilderten Geschichten, den dort rezipierten Erzählungen sowie den im Halbschlaf hinzukommenden Episoden ergibt sich ein kaleidoskopartiges Konglomerat von verschiedenen Erzählwelten. Die Geschichten treffen schließlich im Traum zusammen: Ich schrieb keine Zeile. Stattdessen las ich und träumte nachts weiter, was ich tagsüber gelesen hatte, und wachte morgens mit neuen Geschichten auf, für die es kein Gegenüber mehr gab, bis ich auch mit dem Lesen fertig war und endlich keine Träume mehr hatte. (ebd., S. 43)

54 Die Meeresmetapher wird hier in der Tradition der abendländischen Literatur als Inbegriff der Freiheit aufgenommen, während die vorhergehende Verwendung der Meeresmetapher als Einengung sich auf die Erzählerdisposition als den Naturgewalten ausgesetzter Segler auf einem Schiff bezieht.

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Ein letzter Traum überkommt die Erzählerin schließlich, als sie aus dem Tal wieder in ihr Domizil zurückkehrt. Da sie den Schlüssel verloren hat, legt sie sich in ihrem Garten neben den Sträuchern schlafen. Im Traum überfallen mit Beilen bewaffnete Engländer ihr Domizil. Die Engländer verstricken sich im Dickicht der Trauben, die um das Haus herum wachsen, und werden trunken vom Wein. Die Reben wachsen währenddessen weiter, bis die Erzählerin schließlich in der Enge ihrer „Kajüte“ (Platz, S. 82) eingeschlossen ist. Selbst nachdem sie vom herannahenden Bruder Andreas geweckt wurde, überträgt sie einzelne Stücke aus dem Traum auf die Realität: „während ich noch im Halbschlaf, ununterbrochen davon sprach, wie groß und unerfüllbar die Aufgabe sei, wie unmöglich, all diese Trauben zu ernten und die Engel zu zählen“ (ebd.). Die Kontaktaufnahmen zu anderen Figuren funktionieren ebenso nur über imaginierte Geschichten. Die bereits zu Beginn postulierte Einsicht der Einsiedlerin – „die Entfernung ist trotzdem dieselbe geblieben, zwischen mir und den Menschen“ (ebd., S. 9) – kann nur mithilfe des Konstrukts einer Zwischenwelt überwunden werden. Dies geschieht über Geschichten, die sich neben ihrem sprachlichen Charakter vor allem durch ihre Bildhaftigkeit auszeichnen, denn die „Abgründe zwischen den Sprachen“ (ebd.) verhindern, wie in Hoppes vorangehenden Werken, gerade die Kommunikation. Auf der Suche nach der verlorenen Geschichte der Tante beginnt die Erzählerin, wie schon in Pigafetta und später in Johanna, Stimmen zu hören:55 Alle faktischen Zeugnisse, die von der Tante berichten könnten, sind entweder verschollen oder haben niemals existiert.56 Die Erzählerin behilft sich auf der Suche erneut mit Geschichten: „Wir mussten alles selber erfinden“ (ebd., S. 17). Die Legende von drei Einsiedlern, die sich jeden Morgen gegenseitig ein Beil zuwarfen, um das Holz für das Frühstück zu spalten, verbindet die Erzählerin mit der historisch verbürgten Geschichte um die Erstbesteigung des Matterhorns durch sieben Engländer. Sie verknüpft Legende und Geschichte und erfindet ein Zusammentreffen der drei Einsiedler mit den Engländern. Die Geschichte wird dahingehend verändert, dass die Engländer bei ihrer Abreise das Beil mitgenommen haben, woraufhin fortan das Frühstücksfeuer nicht mehr stattfinden konnte. Sie kommt zu dem Schluss: „Also sind es nicht, wie die Legende erzählt, vier von sieben, sondern sieben von zehn, die in der Geschichte der großen Erstbesteigung ihr Leben verlo-

55 „Aber der Schnee schmolz nicht, sondern wurde dichter und dämpfte die lebhafte Stimme des Mannes, die sich allmählich nach oben verschob und immer leiser zu werden schien, bis sie sich in der Ferne in die Stimme meiner verstorbenen Tante verwandelte“ (Platz, S. 14). 56 „Aber wir suchten in ihrem Nachlass keine Trockenblumen, sondern die Wahrheit und wurden nicht fündig. Für den Fall, dass es jemals Spuren gab, hatte sie alle verwischt“ (ebd., S. 17).

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ren. Drei Engländer, ein Franzose, drei Gipfelsiedler“ (ebd., S. 61). Im Zusammentreffen mit Notwimper, einem entfernten Verwandten des Erstbesteigers, hilft die solchermaßen erfundene Geschichte, die anfängliche Distanz zu überwinden. Entgegen den Vermutungen des Lesers, wonach eine figural erzeugte Fantasiewelt nicht intersubjektiv vermittelbar ist, geht Notwimper sofort auf die Geschichte mit dem verlorenen Beil ein: „Woher wissen Sie das?“ (ebd., S. 69) fragt er erschrocken. Somit kann eine erfolgreiche Kommunikation nur über die Destabilisierung von Raum und Zeit und die alternative Verknüpfung von verschiedenen Erzählsträngen erfolgen. Auf den Spuren des Lebens ihrer Tante begibt sich die Erzählerin schließlich in ein Wirtshaus und befragt die Wirtin mithilfe eines Fotos nach ihrer Tante. Die zunächst als typisch ländlich beschriebene Gaststätte für Reisende beginnt sich daraufhin auf einmal in ihren Größenverhältnissen zu verändern. Zunächst wird sie in der Wahrnehmung der Erzählerin kleiner: „Mir war heiß geworden, ich schwitzte, der Raum schien zu schrumpfen“ (ebd., S. 78). Kurze Zeit darauf wächst der Raum wieder an: „Jetzt begann das Wirtshaus sich plötzlich auszudehnen, der Weg zur Toilette erschien mir endlos“ (ebd.). Diese Auflösungserscheinungen der räumlichen Grenzen bilden den Hintergrund für eine Annäherung an die Person der Tante. Die Erzählerin passiert mehrere Räume – der Grundriss des Hauses ist an dieser Stelle für den Leser nicht mehr nachvollziehbar – bis sie schließlich in ein fensterloses Hinterzimmer gelangt. Dort findet sie an der Wand ein Bild ihrer Tante mit der Aufschrift „Der beste Platz!“ (ebd., S. 79). Häuser können als Symbole der Suche nach Erinnerungen dienen,57 das Durchqueren von Zimmern versinnbildlicht mithin die Suche nach einer verborgenen Vergangenheit. Erst als sich die räumlichen Grenzen aufzulösen beginnen, vermag die Erzählerin der Geschichte ihrer Tante auf die Spur zu kommen. Der zunächst als Enge empfundene Raum, verbildlicht durch die Platzangst im Aufzug und das Tunnelsymbol, erfährt durch die Walliser Berge, verknüpft mit der Meeresmetapher, eine Kontrastierung. Die daraufhin folgende Destabilisierung der strukturbildenden Elemente ermöglicht eine Verknüpfung von unterschiedlichen Zeitschichten und Erzählsträngen, die eine Annäherung an die Geschichte der Tante und an andere Figuren zulassen. Die Erzählung endet mit der Abreise der Protagonistin und einer erneuten Begegnung im Zug mit Notwimper. Der anfänglichen Irritation folgt der Blick der Erzählerin in ein Buch. Über die gemeinsam gelesene Geschichte von Zermatlantis, das ein Riese zum Einsturz gebracht haben soll, erfolgt die Annäherung. Die Erzählung endet mit einem Blick in Richtung Horizont: „In der Ferne sah man das Meer“ (ebd., S. 88).

57 Vgl. BACHELARD, 1960, S. 30f.

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F AZIT Der vorliegende Beitrag nahm die Romane Felicitas Hoppes unter dem Gesichtspunkt der Evokation alternativer und paralleler Welten im Sinne von „Sehnsuchtsorte[n]“ in den Blick und analysierte zeitliche und räumliche Strukturierungsverfahren der erzählten Welt. Dabei wurden analog zu Ricœurs dreigliedrigem MimesisKonzept sowohl die raumzeitliche Konstruktion der erzählten Welt in der Anordnung der Texte als auch die inhaltliche Thematisierung dieser Elemente sowie drittens die Auswirkungen auf den Refigurationsprozess analysiert. Die Etablierung verschiedener Zeitdiskurse und die Unfähigkeit zur Standortbestimmung auf dem freien Ozean führen im Roman Pigafetta zu einer Durchlässigkeit der Strukturgrenzen und einer Evokation von Bildern jenseits der Sprache. In Verbindung mit der Spielmetapher, die im Kinderspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ ihren Höhepunkt findet, lässt sich die für die Figuren im Text entstehende Welt, die Konfiguration derselben sowie die vom Leser in der Rezeption entschlüsselte Welt als eine mögliche bestimmen, die in den Zwischenräumen der brüchig gewordenen Strukturelemente entstehen kann. Das Konterkarieren der Lesererwartungen an bestimmte Gattungen in Paradiese, Übersee sowie die zahlreichen Variationen des Ordnungsbegriffs, die leitmotivisch mit der Spielmetapher verbunden sind, führen im Folgeroman zur Etablierung einer Vielzahl alternativer Welten, die der Rezipient in einem ständigen Reorganisationsprozess gegeneinander abwägen muss. Dies zeigt sich durch die instabile Erzählinstanz, die formal mit dem Wechsel der Erzählposition und leitmotivisch mit perspektivischen Dingsymbolen wie Lupe und Kaleidoskop verbunden ist, sowie durch ein Nebeneinander verschiedener Zeitbegriffe, die sich sowohl für die Figuren als auch für den Rezipienten einer ganzheitlichen Erfassung entziehen. Schließlich bildet der Roman Johanna durch die Verschränkung von Zeitebenen, doppelt besetzten Räumen und dem Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten und -diskurse eine produktive Anverwandlung von Geschichte zwischen Fakt und Fiktion, die in Zeiten postmoderner Geschichtsvergessenheit eine Annäherung unter veränderten ästhetischen Prämissen an einen historischen Stoff erlaubt. Mithilfe metaisierender Techniken und selbstreflexiver Kommentare zur problematischen Situation historiografischen Erzählens gelingt eine poetische Approximation, die nur in der Parallelität der verschiedenen raumzeitlichen Referenzpunkte zu denken ist. Die Annäherung erfolgt, wie in Der beste Platz der Welt, größtenteils mittels fiktional überformter Zwischensphären (wie diejenigen des Halbschlafs oder des Traums). So werden die als Begrenzung empfundenen räumlichen Gegebenheiten mithilfe von Narrationen und imaginierten Räumen ausgeweitet; Figuren überspringen die scheinbar klar definierte Grenze zwischen Fiktion und Realität und vermeintlich reale Räume unterliegen metaphysischen Kräfteeinflüssen.

D ESTABILISIERUNG

DER STRUKTURBILDENDEN

E LEMENTE

| 297

Die in den frühen Romanen bereits etablierten Techniken der Evokation alternativer Welten mithilfe der Destabilisierung der strukturbildenden Elemente werden zunehmend mit Schwierigkeiten des historiografischen und autobiografischen Erzählens verbunden und bieten einen Ansatzpunkt zum potenziellen Erzählen historischer Stoffe, einer intersubjektiven Annäherung sowie dem autobiografischen Unterfangen. Letzteres setzt sich in Hoppes jüngstem Roman Hoppe (2012) fort, der aufgrund seines hybriden Status zwischen fiktionalem und faktualem Text sowie zwischen autobiografischem und biografischem Erzählen mithilfe von antichronologischen Anordnungen, Kontaminationen von faktualen und fiktionalen Elementen sowie metaisierenden Verfahren an die in den Vorgängerromanen erarbeiteten Konstruktionsmechanismen anknüpft und somit im Sinne eines Sehnsuchtsorts das Erzählen autobiografischer Geschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in einem alternativen Modus möglich macht.

L ITERATUR Primärliteratur ARISTOTELES, Poetik, übers. und hg. von MANFRED FUHRMANN, Stuttgart 1982. DERRIDA, JACQUES, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983 [1974, DERS., De la Grammatologie, Paris 1967]. FREUD, SIGMUND, Die Traumdeutung, Leipzig/Wien 1900. HOFMANNSTHAL, HUGO VON, Ein Brief [1902], in: DERS., Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte, hg. von MATHIAS MAYER, Stuttgart 2000, S. 46-59. DIES., Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Der beste Platz der Welt. Erzählung, Zürich 2009. DIES., Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Reinbek 2003. DIES., Pigafetta. Roman, Reinbek 1999. DIES., Über Geistesgegenwart, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 11-26. DIES./KASATY, OLGA OLIVIA, Gespräch mit Felicitas Hoppe, in: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur, hg. von O. O. K., München 2007, S. 131-168.

298 | SONJA A RNOLD

DIES./KÜCHEMANN, FRIDTJOF, „Es klingt kokett: Ich möchte die Wahrheit sagen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 17.1.2003, http://www.faz. net/aktuell/feuilleton/felicitas-hoppe-es-klingt-kokett-ich-moechte-die-wahrheitsagen-191244.html, 1.1.2015. DIES./NOMMEL, JENS, Felicitas Hoppe im Gespräch über Inspirationstourismus, ermüdende Landschaftsbeschreibungen und die Welt als Selbstbedienungsladen, http://www.handlungsreisen.de/interviews.php?do=view&id=4 [15.12.2009], 1.1.2015. Sekundärliteratur ALBER, JAN, Unnatural Narrative, in: The Living Handbook of Narratology, 2014, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/unnatural-narrative [17.11.2014], 1.1.2015. ARNOLD, SONJA, Metaisierungstendenzen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, in: Literatur und Theorie seit der Postmoderne, hg. von ERIK SCHILLING/KLAUS BIRNSTIEL, Stuttgart 2012, S. 107-119. BACHELARD, GASTON, Poetik des Raumes, München 1960 [DERS., La poétique de lʼespace, Paris 1957]. BOEHM, GOTTFRIED, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hg. von DOROTHEE KIMMICH u. a., vollst. überarb. und aktualis. Neuausg., Stuttgart 2011 [1996]. DENNERLEIN, KATRIN, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin/ New York 2009. DIMITRIU, PETER, Die Transmoderne. Zur Situation des Romans, Frankfurt a. M. 1965. ETTE, OTTMAR, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (ÜberLebenswissen 2), Berlin 2005. GENETTE, GÉRARD, Die Erzählung, aus dem Franz. von ANDREAS KNOP, 3., durchges. und korr. Aufl., München 2010 [1994]. HAUTHAL, JANINE, Metaisierung, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von ANSGAR NÜNNING, 5., aktualis. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2013 [1998], S. 514f. DIES., Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Begriffserklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate, in: Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen (Spectrum Literaturwissenschaft 12), hg. von DERS., Berlin/Boston 2007, S. 1-21. HELLSTRÖM, MARTIN, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Zur Position von Erzähler und Leser im Werk von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/DEMS., Innsbruck u. a. 2008, S. 27-38.

D ESTABILISIERUNG

DER STRUKTURBILDENDEN

E LEMENTE

| 299

HERMAN, DAVID (Hg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences (CSLI Lecture Notes 158), Stanford 2003. HIMMEL, STEPHANIE, Von der „bonne Lorraine“ zum globalen „magic girl“. Die mediale Inszenierung des Jeanne d’Arc-Mythos in populären Erinnerungskulturen (Formen der Erinnerung 28), Göttingen 2006. HOLDENRIED, MICHAELA, Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt Ottiliens und die Suche nach dem Berbiolettenfell. Anmerkungen zur postmodernen Zitationspraxis und Autorschaft im Werk von Felicitas Hoppe, Forum Postkoloniale Arbeiten/Postcolonial Studies, http://www.goethezeit portal.de/index.php?id=1431 [11.7.2005], 1.1.2015. DIES., „Mit leichter Hand vom Hier in das Nichts“ – Safari. John Hagenbeck (1866-1940), in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 119-131. HUINZINGA, JOHAN, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zsarb. mit dem Verf. aus dem Niederländ. übertr. von HANS NACHOD, Nachw. von ANDREAS FILTNER, 20. Aufl., Reinbek 2006 [1938]. KIMMICH, DOROTHEE/WILKE, TOBIAS, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, 2., aktualis. Aufl., Darmstadt 2011 [2006]. KLEIN, CHRISTIAN/MARTÍNEZ, MATÍAS (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009. LYOTARD, JEAN FRANÇOIS, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, aus dem Franz. von OTTO PFERSMANN, hg. von PETER ENGELMANN, 7., überarb. Aufl., Wien 2012 [1982, DERS., La condition postmoderne, Paris 1979]. MEIER RUF, URSULA, Prozesse der Auflösung. Subjektstruktur und Erzählform in Robert Musils Drei Frauen (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1319), Bern u. a. 1992. NEUHAUS, STEFAN, „Damen und Herren, die Wahrheit, was ist das?“ Zur Konstruktion von Identität in Felicitas Hoppes Texten, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von DEMS./MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 39-52. RICŒUR, PAUL, Zeit und Erzählung, 3 Bde., Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, aus dem Franz. von RAINER ROCHLITZ, München 1988 [DERS., Temps et récit, 3 Bde., Bd. 1: Lʼintrigue et le récit historique, Paris 1983]. RODIEK, CHRISTOPH, Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur (Analecta Romanica 57), Frankfurt a. M. 1997. WHITE, HAYDEN, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, aus dem Amerikan. von PETER KOHLHAAS, Frankfurt a. M.

300 | SONJA A RNOLD

1991 [DERS., Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore u. a. 1973]. WINOCK, MICHAEL, Jeanne D’Arc, in: Erinnerungsorte Frankreichs, hg. von PIERRE NORA, München 2005, S. 365-410.

„Aber was sind schon Grenzen!“ Zur Raumdarstellung in Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager (2004) und Johanna (2006) N ADINE S CHNEIDERWIND

Felicitas Hoppes Erzählungen und Romane handeln immer wieder von historischen Persönlichkeiten oder greifen historische Stoffe auf, wobei die Darstellung der Vergangenheit an die Perspektive der Gegenwart gebunden ist, in ihr gebrochen und durch sie infrage gestellt wird. Die Reflexion des Verhältnisses von Historiografie und Fiktion weist bereits den Seefahrtsroman Pigafetta (1999) und den Abenteuerund Ritterroman Paradiese, Übersee (2003) als historiografische Metafiktionen1 aus. In dem Porträtband Verbrecher und Versager (2004) und im Roman Johanna (2006) wird die Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung anhand biografischer Annäherungen weitergeführt: Der Rückgriff auf historische ‚Lebensgeschichten‘ geschieht jeweils aus der zeitlich nachgeordneten Perspektive eines IchErzählers,2 der sich – aufgrund der erwähnten Tätigkeiten, Lebensumstände und Requisiten – einer Schreibgegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts zuordnen lässt. Diese Ich-Erzähler (des Johanna-Romans als auch der einzelnen Porträts) treten als Protagonisten einer Rahmengeschichte auf und präsentieren die Biografie einer historischen und einer literarischen Figur in einer Binnenerzählung, wobei die

1

Vgl. NÜNNING, 1991, S. 287. Notwendiges Merkmal der historischen Metafiktion sei, „daß sie sich in expliziter, extensiver, rekurrenter, markanter und metafiktionaler Form mit Problemen der Historiographie und der Historik“ auseinandersetze (ebd.).

2

Die Geschlechteridentitäten der Erzählerfiguren in den zu untersuchenden Texten sind nicht klar markiert. Im Folgenden wird die generische maskuline Form verwendet, wobei ausdrücklich die Geschlechteridentität als offen verstanden werden soll.

302 | NADINE S CHNEIDERWIND

Rahmen- und Binnenerzählungen immer wieder ineinander übergehen und miteinander korrespondieren.3 Die Trennung von Rahmen- und Binnenebene, die sich durch die Dichotomie von Gegenwart und historischer Zeit, durch die Wahl des geschichtlichen Sujets und der Präsentation aus einer nachgeordneten Perspektive ergibt, wird durch den Gebrauch verschiedener narrativer Mittel, insbesondere von Metalepsen, unterlaufen. Christof Hamann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Respektlosigkeit“ des erzählenden Ichs gegenüber der „Grenze zwischen dem Erzählen und dem Erzählten“, die soweit gehe, dass das erzählende Ich in Safari beispielsweise die eigene Fiktionalität behaupte.4 Der jeweilige Ich-Erzähler in den hier zu untersuchenden Texten, den Porträts Marathon, Eis und Schnee, Safari sowie dem Johanna-Roman, reflektiert seine Tätigkeit als ‚Biograf‘ explizit und überträgt seine Zweifel an der Möglichkeit der Rekonstruktion von ‚Geschichte‘ auf die discoursEbene, indem er die Binnen- und die Rahmengeschichte über Bilder, Metaphern und Wiederholungen zueinander in Beziehung setzt und über die Auflösung räumlicher und zeitlicher Grenzen ineinander übergehen lässt. So erzeugt er an vielen Stellen Unsicherheit über den Geltungsraum (Rahmen- oder Binnenebene) und den Wahrheitsstatus seiner Aussagen.5 Auch lassen sich erzählte Wahrnehmungen nicht kohärent einem bestimmten wahrnehmenden Subjekt zuordnen. Der Abgleich mit der historischen ‚Wirklichkeit‘ als außertextuelle Referenz für den ‚Wahrheitsgehalt‘ des Erzählten wird durch die Wahl des geschichtlichen Stoffes suggeriert und gleichzeitig durch die Art der Präsentation unterminiert: So setzt zum Beispiel die Unterscheidung von Rahmen- und Binnengeschichte an vielen Stellen ein detailliertes historisches Fachwissen des Lesers voraus, das heißt die Kenntnis extratextueller Diskurse. Literarisches beziehungsweise fiktionales Erzählen behauptet sich aber gerade in seiner Autarkie, als ein nicht der außertextuellen Referenzialität verpflichtetes Erzählen. So setzt sich auch die Autorin selbst in ihrer Augsburger Poetikvorlesung Sieben Schätze (2009) von jenen fleißig recherchierenden Autoren ab, deren „prosaisches Zauberwort Recherche lautet, mit der sie fehlende Abenteuer,

3

In Verbrecher und Versager gibt es mehrfach Hinweise auf eine allen Porträts gemeinsame Erzählinstanz, etwa die Erwähnung der vier anderen im Band porträtierten Reisenden in Marathon (vgl. Verbrecher, S. 18).

4 5

HAMANN, 2008, S. 113 Die Rolle unzuverlässigen Erzählens als Strukturprinzip historiografischer Metafiktion untersucht Stephanie Catani exemplarisch an Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager, Ilija Trojanows Weltensammler (2006) und Christoph Hamanns Usambara (2007). Vgl. CATANI, 2009.

Z UR R AUMDARSTELLUNG

BEI

F ELICITAS HOPPE

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den fehlenden Alltag, fehlendes Erleben oder mangelnde Imagination wettmachen wollen“ (ebd., S. 212, Hvhbg. i. Orig.). 6 Historisches – sei es literarisches, wissenschaftliches, alltägliches oder biografisches – Erzählen setzt nicht nur eine zeitliche Distanz zum Erzählten voraus, mit der ein Erzähler auf verschiedene Weise umgehen kann, etwa dadurch, dass er sie ignoriert, thematisiert, relativiert oder problematisiert. Weniger offensichtlich ist, dass auch der Raum, in dem Subjekt und Objekt des Erzählens sich jeweils aufhalten, selbst wenn die geografischen Koordinaten identisch sind, nie derselbe ist. Dies ist grundsätzlich bedingt durch die Wahrnehmung der verschiedenen Subjekte, fällt aber desto mehr ins Gewicht, je größer der zeitliche Abstand ist. Je größer die zeitliche Entfernung von Erzählsubjekt und -objekt, desto mehr ist der Erzähler, wenn er über räumliche Komponenten spricht oder sie impliziert, auf Quellen angewiesen, die ihm vermitteln, ‚wie es damals war‘. Und gerade diese beiden Aspekte – die Nutzung von Quellen und die Abbildung von vergangener Wirklichkeit als Ziel des Erzählens – werden in der historiografischen Metafiktion infrage gestellt. Schriftstellerische Freiheit kennzeichnet in dieser Hinsicht auch Felicitas Hoppes Umgang mit Raum und Zeit: „[I]ch gestehe gern, dass ich persönlich mit der Zeit niemals Probleme hatte und sie bis heute nicht habe. Dasselbe gilt für den Raum. Nicht, dass die Imagination keine Zeit- und Raumgrenzen kennt, schließlich ist sie auf Formen und Ordnungen angewiesen, aber nur deshalb, um sich freundlich und gelassen über sie hinwegzusetzen.“7 In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in Marathon, Eis und Schnee, Safari und Johanna räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.

N ARRATOLOGIE

DES

R AUMES (2009)

Geht man davon aus, dass die Rahmen- und Binnengeschichten der vorliegenden Texte grundsätzlich unterscheidbar sind, so lassen sich Abweichungen von dieser Trennung als Grenzüberschreitungen zwischen zwei Räumen (einem Raum der Rahmenhandlung und einem Raum der Binnenhandlung) bezeichnen. Das Phäno-

6

Vgl. dazu auch den früheren poetologischen Essay Auge in Auge (2007): HOPPE, 2007.

7

HOPPE, 2008, S. 13.

304 | NADINE S CHNEIDERWIND

men der narrativen Grenzüberschreitung beziehungsweise der Metalepse vollzieht sich dabei gleich auf mehreren Ebenen: Außer der räumlichen Komponente betreffen diese auch die Erzählkategorien der Zeit, Figur und Handlung, welche die Rahmen- und Binnenebenen zunächst voneinander trennen. Das Beschreibungsvokabular zur Analyse von Räumlichkeit in literarischen Texten, das die Würzburger Neugermanistin Katrin Dennerlein in ihrer 2009 erschienenen Studie Narratologie des Raumes8 erarbeitet hat, erweist sich als geeignet, um dieses Phänomen in seiner Komplexität zu erfassen und zu veranschaulichen. Denn Dennerlein geht, erstens, von einem Alltagsverständnis von Raum aus und legt, zweitens, ihrer Unterscheidung verschiedener narrativer Raumdarstellungstechniken den Begriff der Situation zugrunde, der sich auf die erwähnten Erzählebenen (Raum, Zeit, Figur und Handlung) bezieht. Dieser Situationsbegriff ist abgeleitet von Catherine Emmotts Terminus des kontextuellen Rahmens. Ein kontextueller Rahmen besteht Emmott zufolge aus einer episodischen, einer figuren-, einer raum- sowie einer zeitbezogenen Information. Durch die Angabe von Details, beispielsweise über Figuren, können über den memorierten kontextuellen Rahmen einer im Text bereits erzählten Szene die dazugehörigen Räume beim Lesen erneut evoziert werden. Dennerlein ersetzt den Ausdruck des kontextuellen Rahmens durch den der Situation, und deklariert die episodische Komponente einer Situation als Ereignis, das einer Zustandsveränderung oder auch einer intentional herbeigeführten Situation entspricht.9 Sie stellt die These auf, „dass durch die Verortung von Ereignissen in, an oder bei räumlichen Gegebenheiten Einheiten des Raumes entstehen“,10 die sie als erzählte Räume bezeichnet. Der Begriff der Ereignisregion, deren räumliche Ausdehnung durch ein erzähltes Ereignis bestimmt wird, 11 erlaubt es, Verläufe und Überschneidungen von Rahmen- und Binnenhandlungen zu beschreiben, insofern es sich um räumliche Phänomene handelt. Insbesondere zwei Sonderfälle dieses Begriffs bieten sich zur analytischen Erfassung der Grenzaufhebungen an: Als Erzählräume definiert Dennerlein diejenigen „Ereignisregionen, in denen der Erzähl- beziehungsweise Schreibakt eines Erzählers situiert wird“.12 Als Bewegungsbereiche definiert sie hingegen jene Ereignisregionen, die durch das Erzählen einer Bewegung ausgebildet werden, und führt als Beispiele Spaziergänge oder Reisen an.13

8

DENNERLEIN, 2009.

9

Vgl. ebd., S. 122f.

10 Ebd., S. 119. 11 Vgl. ebd., S. 125f. 12 Ebd., S. 199. 13 Vgl. ebd., S. 126.

Z UR R AUMDARSTELLUNG

BEI

F ELICITAS HOPPE

| 305

Ein weiterer, für meine Untersuchung vielversprechender Begriff Dennerleins ist derjenige des Wahrnehmungsbereichs, der den räumlichen Bereich bezeichnet, in dem sich das erzählte Wahrgenommene ereignet. Liegt erzählte Wahrnehmung vor, kann eine Situation zwei räumliche Bereiche umfassen: Den Wahrnehmungsbereich und, bei zu großer Entfernung der Wahrnehmungsinstanz, den Bereich, in dem sie selbst lokalisiert ist.14 Somit kann beispielsweise in den hier zu untersuchenden Texten durchaus der Erzählraum, in dem sich der Ich-Erzähler beim Erzählen eines Ereignisses aus der Binnenhandlung aufhält, auf der Rahmenebene, der Wahrnehmungsbereich aber auf der Ebene der Binnenhandlung angesiedelt sein.

M ARATHON – H OMOGENISIERUNG

VON

R AUM

UND

Z EIT

Unter Anwendung von Dennerleins Ereignisbegriff können für die Rahmen- und die Binnenhandlung des Porträts Marathon analog zu den beiden geschilderten Reisen zwei voneinander räumlich und zeitlich getrennte Bewegungsräume definiert werden. Die Reise des Ich-Erzählers führt von Mansfeld nach Sonderhausen, Meisters Reise hingegen ist weiter, dauert länger und hat mehrere Stationen: Beginnend in Sonderhausen führt sie unter anderem über Querfurt, Amsterdam, Kapstadt, Unrüst, die Teufelsinsel und Batavia, über Deshima und von dort „nach Hause zurück“ (Verbrecher, S. 31). Dem Raum, der durch die vergleichsweise kurze Reise des IchErzählers im geschlossenen Zugabteil konstituiert wird, steht also der ausgedehnte Raum gegenüber, der durch die weite Reise Meisters geschaffen wird. Die Stadt Sonderhausen bildet dabei gleichzeitig den Ausgangspunkt der Reise Meisters in der Binnenhandlung und den Zielpunkt der Reise des Ich-Erzählers in der Rahmenhandlung. Sonderhausen fungiert somit nicht nur als Raum, dessen Fortdauer über die Zeit hinweg eine Kontinuität darstellt, sondern wird auch zur Metapher für die vergeblichen Bemühungen des Ich-Erzählers, Meister durch die Rekonstruktion seiner Biografie ‚nahezukommen‘ – etwa wenn er kurz vor dem Ziel beschließt, nicht aus dem Zug auszusteigen, sondern sich stattdessen die Dresdner Gärten, die letzte Wirkungsstätte Meisters, anzusehen. Auch die stillgelegten Gruben, die in der Rahmenhandlung als Ort des „welttiefsten Marathon[s]“ (ebd., S. 10), zu dem die mitreisenden Marathonläufer unterwegs sind, eine große Rolle spielen, können als Bild für die historische Tiefendimension dieses Ortes gelesen werden. 15

14 Vgl. ebd., S. 146f. 15 Vgl. zur übertragenen Bedeutung von Raum DENNERLEIN, 2011, S. 162f. Eine systematische Analyse der metaphorischen und symbolischen Bedeutung des Raums in den untersuchten Texten erscheint aussichtsreich, ist jedoch nicht Zielsetzung der vorliegenden paradigmatischen Analyse.

306 | NADINE S CHNEIDERWIND

Für die Konstitution der gesamten Erzählung sind mithin Bewegungen charakteristisch: Flucht und Eroberungsdrang sind Motivationen, die sowohl auf der Rahmen- als auch auf der Binnenebene die Geschehnisse begründen und die Figuren (Marathonläufer, Ich-Erzähler, Meister und seine Frau) charakterisieren, die sich darin ähneln, dass sie zuweilen mit rasselndem Atem laufen und rennen. Der Mitvollzug des Erzählten wird mit dem Ausdruck des ‚Im-Rennen-Seins‘ umschrieben (vgl. ebd. S. 17, S. 24).16 Der extradiegetische Erzählraum, in dem sich der Ich-Erzähler aufhält, ist das Zugabteil, das sich zwar als Teil des fahrenden Zuges in Bewegung befindet, gleichzeitig aber als hermetisch geschlossener Raum charakterisiert wird. Allein der Schaffner kann während der Fahrt ein- und austreten, die anderen Passagiere vermögen das Abteil nur im Schlaf (Marathonläufer) oder in der Fantasie (Erzählung des Ich-Erzählers) zu verlassen. Als weitere räumliche Einheit innerhalb dieses Bereiches wäre der Wahrnehmungsraum des Ich-Erzählers zu klassifizieren, der sich auf das Zugabteil und die Aussicht auf die vorüberziehende Landschaft erstreckt, die sich beim Blick durch das Fenster offenbart. Solange der Ich-Erzähler Ereignisse und Beobachtungen schildert, die sich in diesem Bereich abspielen, fallen Erzählraum und Wahrnehmungsbereich zusammen, und vereinen statische und bewegte Momente.17 Erzählt er Wahrnehmungen aus der Binnengeschichte, so überschreitet er für diesen Moment die narrative Grenze zwischen beiden Ebenen. So entfaltet sich das Erzählen während der Reise. Das plötzliche Stillstehen des Zuges nach Anbruch der Dunkelheit, als durch das Fenster nichts mehr zu erkennen ist, korrespondiert mit der Deshima-Episode auf der Binnenebene. Die Insel vor Japan „ist kein Garten, sie ist ein Gefängnis“ (ebd., S. 25), und Meister macht sich der Korruption und Spionage verdächtig. Auf beiden Ebenen folgt daraufhin der Abbruch der Reise, die Abkehr vom Ziel: Meister geht zurück nach Europa, der IchErzähler nach Dresden statt nach Sonderhausen. Durch die Einbettung weiterer Binnengeschichten zweiten beziehungsweise dritten Grades in die Binnengeschichte, die jedoch nicht immer von der Stimme des Ich-Erzählers zu unterscheiden sind, sondern zumindest teilweise mit dieser zusammenfallen, entstehen weitere Erzählräume auf der Binnenebene. Lokalisierbar ist allerdings nur der Erzählraum, der sich durch die Erzählung des Leutnants er-

16 Eine Variation dieser Metapher stellt die Formulierung ‚Im-Spiel-Sein‘ dar (vgl. ebd., S. 11f., S. 19). Auch hiermit wird in Marathon der verstehende Mitvollzug der erzählten Geschichte bezeichnet, wobei der Spielcharakter der Literatur hervorgehoben wird. Dagegen verweist das Bild des Rennens auf einen kompetitiven, zielorientierten Aspekt. 17 Der Zug ist in Bewegung und transportiert den Ich-Erzähler, der selbst allerdings unbeweglich im Abteil verharrt. Die Landschaft erscheint, als würde sie aktiv vorüberziehen, solange der Zug fährt.

Z UR R AUMDARSTELLUNG

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F ELICITAS HOPPE

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gibt: der Marktplatz von Amsterdam. Verschmelzung oder zumindest Ununterscheidbarkeit der Erzählstimmen liegt auch dann vor, wenn der Ich-Erzähler (wörtlich oder frei, markiert oder unmarkiert) aus Meisters Buch zitiert.18 Als Chiffre für das Erzählen und für den im Erzählen möglichen Perspektiv- oder Identitätswechsel kann auch die Geste des Schaffners gedeutet werden, der zu Beginn der Erzählung das Bild Meisters aus der Tasche zieht. Diese Geste wird später vom Ich-Erzähler und von Meisters Ehefrau wiederholt. Durch das Spiel mit den einzelnen Erzählstimmen und der Perspektive rückt der Erzähler selbstreflexiv den Vorgang des Erzählens als Spiel mit der Wirklichkeit in den Vordergrund, spricht aber gleichzeitig vereinnahmend von „meine[r] Geschichte“ (ebd., S. 17). Die freie Verwendung von Quellen und Zitaten setzt dabei um, was auch thematisch in der Erzählung immer wiederkehrt: das Motiv des Schreibens beziehungsweise Erzählens als Manipulation der Wirklichkeit. In Bezug auf die Flüche der Matrosen, die Meister in seinem Reisebericht wiedergibt, stellt der Ich-Erzähler dessen erzählerische Zuverlässigkeit infrage: „Darf man schreibenden Gärtnern trauen, die genau wissen, wie man die Wirklichkeit pfropft?“ (ebd., S. 15). Und bezüglich der Äußerungen über die ‚Hottentotten‘, die er selbst um einen Vergleich mit Gärtnern und Marathonläufern in Bezug auf ihre Schnelligkeit ergänzt, fragt er nach der Motivation, die Meister „die Feder führt“ (ebd., S. 17). Auch die Ausführungen über die Dolmetscher, die als „wahre Könige“ gelten (ebd., S. 26), und die Bilder der ‚Stillen Post‘ und des ‚Hörensagens‘ verweisen auf die Transformation von Informationen bei ihrer Weitergabe. Meister tritt also als universalwissenschaftlich Schreibender auf, der genau weiß, „wie man die Wirklichkeit propft“. Ein lesender und schreibender Gärtner, der Sinnsprüche in Hecken schneidet, und dessen Tätigkeit, das Gärtnern wie das Schreiben ‚gebückte Arbeit‘ ist, läuft jedoch Gefahr, als „Totengräber“ (ebd., S. 12) zu enden – genau wie der Ich-Erzähler, der wissen möchte, was aus Meister geworden ist (vgl. ebd., S. 34). Das Nacherzählen ,wirklicher‘ Begebenheiten wird hier mit der Metapher des ‚Totengrabens‘ belegt und bildet somit einen Gegenbegriff zum freien, schöpferischen Erzählen. Und aus dem aktivischen, positiv besetzten ‚gebückten Arbeiten‘ wird, nachdem sich Meister auf Deshima wahrscheinlich der Spionage schuldig gemacht hat, passivische „gebeugte Arbeit, an die man sich später nicht gerne erinnert“ (ebd., S. 31).

18 So sind etwa die Flüche der Seeleute, die Beobachtungen über die Hottentotten, die Ausführungen über den Cocusbaum als nützlichsten Baum der Welt und die Ausschnitte aus einer japanischen Konversation (vgl. Verbrecher, S. 16f., S. 21-24, S. 27) dem Reisebericht Georg Meisters entnommen (vgl. MEISTER, 1731, S. 11-14, S. 24-38, S. 48f., S. 193-196).

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Die Ununterscheidbarkeit der Erzählstimmen und die Parallelisierung von Meister und Ich-Erzähler bewirken eine Annäherung von Binnen- und Rahmenebene, die auch in Bezug auf die narrative Zeitgestaltung zu beobachten ist. Die Zeitstufen von Rahmen- und Binnenhandlung sind zunächst klar voneinander getrennt: Der Ich-Erzähler befindet sich in einem Zug, die Mitreisenden wollen zum „welttiefsten Marathon“ (ebd., S. 9) in einem stillgelegten Kalischacht, der mit seinen Schutzmaßnahmen (vgl. zum Beispiel die erforderlichen Helme, ebd., S. 9, S. 13) und „Trinkstationen“ (ebd., S. 13) eher an heutige Sportveranstaltungen erinnert. Außer den Lebensdaten Meisters, die der Erzählung vorangestellt sind, verweisen auch verschiedene Elemente wie etwa die Perücke, der wiederholte Rekurs auf die Gattung des Sinnspruchs und die Bezugnahme auf den Dreißigjährigen Krieg auf das Zeitalter des Barock. Die Erzählung über Georg Meister erscheint zunächst als bloßer Zeitvertreib während der Zugfahrt: Die Zeit muss ‚totgeschlagen‘ werden. Die Zeit bildet einen thematischen Übergang zur Binnengeschichte: Der Ich-Erzähler stellt fest: „Aber ich verkaufe meine Zeit nicht für dumm.“ (ebd., S. 10). Er nivelliert den zeitlichen Abstand zur Epoche Meisters, die „noch nicht lange her“ (ebd.) sei. Metaphorisch wird somit die Zeit als relative Größe dargestellt. Da es der Ich-Erzähler ist, der diese Einschätzung äußert, liegt es nahe, diese Negation des zeitlichen Abstandes als Anspruch darauf zu interpretieren, im Erzählen die Distanz zum Erzählgegenstand aufzulösen. Die Nivellierung der beiden Zeitebenen erfolgt sprachlich auch über die Angleichung des Tempus, sodass die Binnengeschichte zu einem großen Teil ebenfalls im Präsens erzählt wird und die Überwindung der Zeit nicht nur thematisch und metaphorisch, sondern auch grammatisch markiert wird. Kennzeichnend für die Verbindung von Rahmen- und Binnenhandlung sind jene Textstellen, in denen unvermittelt Komponenten von im Text bereits etablierten Situationen ausgetauscht werden. Syntaktisch sind hierbei die Informationen aus Rahmen- und Binnenhandlung einander beigeordnet, mitunter in ein Kausalverhältnis gesetzt und stehen im gleichen Tempus, meist im Präsens, wie zum Beispiel im folgenden Zitat: Im Abteil ist es still. Zwei der Marathonhelden schlafen […]. Vielleicht kennen sie meine Geschichte ja schon, u n d d r a u ß e n w ü t e t e i n h e f t i g e r D r e h s t u r m . Der Schiffsgärtner fürchtet um seine Kisten, und der Koch kann seine Suppe nicht halten. (ebd., S. 17, Hvhbg. i. Orig.)

In dieser Textstelle fungiert der Drehsturm als Bindeglied zwischen der Rahmenhandlung, in der sich der Ich-Erzähler auf seiner Reise von Mansfeld nach Sonderhausen ein Zugabteil mit ambitionierten Marathonläufern teilt, und der Binnenhandlung, in der sich der Schiffsgärtner Georg Meister auf hoher See befindet, unterwegs vom Kap der Guten Hoffnung nach Batavia. Im ersten Teil des Zitats wird

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über die erwähnten Figuren (Marathonläufer), über die Handlung (Marathonläufer schlafen, Ich-Erzähler erzählt) und die Situierung des Geschehens im Zugabteil die Rahmenhandlung wieder aufgerufen, die zu Beginn der Erzählung eingeführt wurde. Der Satz „und draußen wütet ein heftiger Drehsturm“ nimmt eine Scharnierfunktion ein und lässt sich nicht sofort eindeutig einer der beiden Handlungsebenen zuordnen. Syntaktisch ist das Ereignis zwar der identifizierbaren Rahmenhandlung beigeordnet, jedoch werden nicht die Auswirkungen des Sturms auf den Zug und seine Passagiere, sondern auf das Schiff und die Besatzung beschrieben. Dies erfolgt durch die Evokation von Figuren (Schiffsgärtner und Koch) und räumlicher Details (Kisten mit Erde und Pflanzen), die zuvor mit dem Schiff verbunden waren (vgl. Verbrecher, S. 14): Die Handlungsszene wechselt also, und die Binnenhandlung wird weitererzählt. Der ‚Drehsturm‘, der den Szenenwechsel einleitet, ist somit als metaphorisches, autoreferenzielles Signal zu verstehen. Die räumliche und zeitliche Trennung der beiden Handlungsebenen wird aufgehoben. Ein wesentliches poetologisches Strukturprinzip des Textes ist die konsequente ‚Vermischung‘ von einmal etablierten Zusammenhängen narrativer, zeitlicher und räumlicher Ebenen.19 Da neben der Rahmenhandlung allerdings auch die Binnenhandlung zu einem großen Teil im Präsens erzählt wird, was zu einer Homogenisierung der Zeitebenen führt, fällt an dieser Stelle besonders ins Gewicht, dass nun auch räumliche Grenzen aufgehoben werden: Das Element des Drehsturms lässt sich folglich nicht mehr eindeutig einer der beiden Situationen zuordnen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Wiedergabe der Geschichte des ‚Leutnants aus Frankfurt‘, die so gut ist, dass Meister sie selber zu glauben beginnt, bis Italien, Frankreich und England verblassen, genau wie die Gruben von Sonderhausen. Die Reise von viertausend deutschen Meilen erscheint auch den Männern im Zug plötzlich kurz, wie ein Tag auf dem Marktplatz in Amsterdam, wo die Turmuhr plötzlich zu schlagen beginnt, so laut, als schlüge dort ein Gewissen. Die Stimme Gottes, ruft der Leutnant und lacht. Jetzt oder nie, wer zögert, verliert! (ebd., S. 12f.)

Hier wird über verschiedene Komponenten der Rahmenebene (den Marathonläufer, lokale Bezugspunkte wie Sonderhausen oder den Zug) erneut die Situation des äußeren Erzählrahmens aufgerufen und in die Binnenhandlung eingeschaltet, und zwar so, dass die zeitliche Trennung aufgehoben wird: Die durchgehende Verwendung des Präsens suggeriert die Gleichzeitigkeit aller Geschehnisse; zusätzlich wird

19 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Sonja Arnold in diesem Band, die das Strukturprinzip der ,Vermischung‘ als bewusste ,Destabilisierung‘ deutet und es auf seine funktionale Motivierung im Werk hin untersucht.

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die Relativität der Zeit thematisiert, indem räumliche Entfernungen und deren zeitliche Überbrückung ‚kurz‘ erscheinen (die Reise von 4000 Meilen entspricht einem Tag auf dem Marktplatz von Amsterdam). Durch die Geschichte des Leutnants wird die Fantasie der Zuhörer (Meisters auf der Binnenebene, die der Marathonläufer auf der Rahmenebene) von ihren eigentlichen Zielen (die Gärten von Italien, England und Frankreich beziehungsweise die Gruben von Sonderhausen) abgelenkt, sie ‚verblassen‘; der „mit Vorgartenerde und Träumen“ handelnde Leutnant (vgl. Verbrecher, S. 11) nutzt den Fluchtimpuls Meisters und dessen Wunsch nach einem anonymen Neubeginn aus, und die Reaktion der Marathonläufer zeigt, dass auch sie offen für derartige Versprechungen sind. Weitere Metalepsen werden durch in wörtlicher Wiederholung oder Variation immer wiederkehrende Bilder und Formulierungen markiert. Die Räume von Rahmen- und Binnenhandlung werden auf diese Weise einander angenähert, wie das folgende Beispiel veranschaulicht: Draußen die thüringische Landschaft, neben mir sportlich atmende Männer unterwegs zum welttiefsten Marathon, in die leeren Gruben von Sonderhausen, wo Georg Meister geboren ist. [...] Stattdessen starren sie aus dem Fenster, wo die Zeit vorbeiläuft, die wir gemeinsam totschlagen müssen, zwischen Mansfeld und Sonderhausen. (ebd., S. 9)

Hier, auf der Rahmenebene, werden zum einen erstmalig die Motive der Landschaft, des Atmens und des Fensters sowie zum anderen diejenigen der personifizierten Zeit und des Zeit-Totschlagens eingeführt. Gleich darauf wird die leitmotivisch wiederholte Formel der ‚sieben Jahre‘ auf der Binnenebene eingeführt; die Begriffe der Landschaft und der Zeit werden vermengt und rekombiniert: „Meister schlägt ein. Sieben Jahre sind keine Zeit. Zwischen Mansfeld und Sonderhausen läuft hingeschüttet die Landschaft vorbei“ (ebd., S. 13). Die Ortsangabe, die klar auf die Rahmenhandlung verweist, stellt einen weiteren unvermittelten Übergang zwischen Rahmen- und Binnenebene dar, deren zeitliche Trennung auch wörtlich („keine Zeit“) negiert wird. Durch mehrmalige Wiederholung und Variation von Formulierungen, Schlagworten und Bildern entsteht ein Geflecht, das Binnen- und Rahmenhandlung miteinander verzahnt. Am Ende der Erzählung entsteht ein weiterer Raum. Der Ich-Erzähler hat beschlossen, statt nach Sonderhausen lieber nach Dresden in den letzten von Meister betreuten Garten zu fahren, wobei der Weg dorthin ausgespart bleibt und der von fantastischen Elementen geprägte gemeinsame Raum sich als illusionär erweist: Er ist „nur auf der Flucht, unterwegs in die Gruben von Sonderhausen.“ (ebd., S. 34). Durch Unregelmäßigkeiten im Tempus wird die zeitliche Trennung von Ich und Meister aufgehoben und das Geschehen ist weder eindeutig in der Gegenwart noch in der Vergangenheit zu verorten, bis im Präsens weitererzählt wird.

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Formulierungen, Motive und Bilder aus beiden Handlungen werden gebündelt wieder aufgenommen, räumliche Elemente und Requisiten der Rahmen- und der Binnenhandlung eng miteinander verknüpft. Schließlich kommt es zur Begegnung mit der in der Hecke auf die Rückkehr Meisters wartenden Frau, die in der Binnenhandlung als Metapher für die Enge der Heimat etabliert wurde. Mit dem Impuls, sich vor ihr zu verstecken und zu fliehen, scheint sich das Ich in Meister zu verwandeln. In seinem Versuch, Meister nahezukommen, gleicht der Ich-Erzähler ihm selbst hinsichtlich seines fragwürdigen Versuchs, über die Erfahrungen seiner Reise zu berichten. Die Reise des Ich-Erzählers und die Konzentration auf Meister erscheinen damit gleichsam als Flucht. Dass sowohl Meister als auch der Ich-Erzähler ihren Schatten verlieren (vgl. ebd., S. 34), fungiert nicht nur als intertextueller Verweis auf Chamissos Peter Schlehmil (1814) und die eigene Doppelbiografie des Autors als Wissenschaftler und Schriftsteller, sondern legt in diesem Zusammenhang auch die Deutung nahe, dass beide Figuren ihre Selbstbestimmung und ihre Ziele aufgeben, korrumpiert durch Versprechungen, die sich als illusionär erweisen. Im Falle des Ich-Erzählers liegt das Vergehen in dem Versuch eines Erzählens, das Wirklichkeitstreue durch Recherche und Rekonstruktion anstrebt anstatt poetisch eine eigene Wirklichkeit zu etablieren. Diese Interpretation wird davon gestützt, dass Hoppe in Sieben Schätze einen Zusammenhang herstellt zwischen der derzeitigen Konjunktur recherchebasierter Wissenschafts- und Reiseliteratur, den Mechanismen des Buchmarkts und der Rolle öffentlicher Auftritte der Schriftsteller, die ihren Erfolg wesentlich mitbestimmten: „Jedes Podium, auf dem sich ein Autor zeigt, ist ein Tribut an die kleine Bedeutungsmaschine, und mit jeder Diskussion, die er führt, schließt er einen Pakt. Womit wir wieder bei den Verträgen wären.“ (Schätze, S. 215f.).

E IS

UND

S CHNEE – E RLEBEN

UND

AUGENZEUGENSCHAFT

Auf der Ebene der Binnenhandlung von Eis und Schnee werden verschiedene Episoden aus Junghuhns Leben erzählt, die in ihrer Gesamtheit einen Bewegungsbereich bilden, wobei die Wiedergabe der Protagonistenvita zeitlich eng an die Rahmenhandlung angeschlossen wird: So beginnt die Geschichte mit der Aussage, dass Junghuhn alle paar Jahre auf dem Balkon des Ich-Erzählers erscheine. Es folgt ein Abriss seiner Persönlichkeit, die anhand einer Episode illustriert wird, die verdeutlicht, wie schlecht er in Java seine Träger behandelt hat. Erst danach setzt die eigentliche Erzählung seines Lebens ein, chronologisch beginnend mit seiner Kindheit, die durch das schlechte Verhältnis zum Vater bestimmt ist, das leitmotivisch in der folgenden Erzählung als Vergleichspunkt und Motivation für Junghuhns Verhalten dargestellt wird. Die kennzeichnende Bewegung Junghuhns ist das ununter-

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brochene Wandern, Laufen und Bergsteigen: Er „läuft rastlos von Insel zu Insel.“ (Verbrecher, S. 87f.). Der Raum der Rahmenhandlung ist hier jedoch nicht durch eine Bewegung charakterisiert, sondern durch Statik und Passivität und den vom Ich-Erzähler immer wieder reflektierten Akt des Erzählens. Der Balkon und die Küche, in deren engen Begrenzungen sich die Rahmenhandlung abspielt, konstituieren den Erzählraum, denn auch symbolisch wird das Erzählen immer wieder thematisiert. Der Koffer, die liegengelassenen Zettel, die Briefe, das Fern- und Opernglas fungieren als Dingsymbole für Überlieferung und Recherche. Die Stimmen der Zeitzeugen sind präsent, während der Ich-Erzähler „in der Küche steh[t], Tee koch[t] und im Kopf Bücher schreib[t].“ (ebd., S. 92). Das Tempus parallelisiert die Rahmenhandlung und die Binnenhandlung: „Ich habe die letzten Jahre im fünften Stock einer Großstadt verbracht, während Junghuhn sich in den Tropen herumtreibt“ (ebd., S. 73, Hvhbg. N. S.) führt sich der IchErzähler selbst ein. Balkon und Küche, Schauplatz der Rahmenhandlung, stellen also einen häuslichen Bereich dar, der in seiner Enge dem Gefängnisturm in Koblenz ähnelt. Auf dem Balkon empfängt das Erzähler-Ich, neben Junghuhn selbst, auch den Selbstmörder Schwoerer, Goethe und Humboldt, lauscht deren Gemurmel, und versucht, aus den von ihren Gästen auf dem Küchentisch zurückgelassenen Zetteln ein Buch zu schreiben. Vom Balkon aus beobachtet er Junghuhn mit einem Fern- beziehungsweise Opernglas. Schon zu Beginn der Erzählung reflektiert der Erzähler die Unmöglichkeit, einen anderen Menschen zu porträtieren. Junghuhn spricht nicht mit ihm, schreibt ihm nicht und nimmt ihn nicht auf seine Wanderung mit. Er muss sich den nicht überlieferten „Rest“ seiner Geschichte selbst „zusammenreimen“ (ebd., S. 80). Nicht die schriftstellerische Rekonstruktion, sondern nur das (Nach-) Reisen, sinniert er, würde es ihm ermöglichen, Junghuhn und seiner Geschichte nahezukommen. Diese Einsicht steht der Statik des Erzählers entgegen und begründet zugleich seine scheiternden Aufbruchsversuche. Junghuhn also „schreibt keine Briefe“ (ebd., S. 87). Im Gegensatz zum reflexiven und passiven Ich-Erzähler füllt der Naturwissenschaftler „seine Seiten mit Wirklichkeit. Alles ist da, weil er zeichnet, was er sieht, weil er sieht, was er schreibt, weil er schreibt, wie er zeichnet und niemals versucht hat, ein Dichter zu sein“ (ebd.). So wie Figuren aus der Binnenhandlung auf dem Balkon des Erzählers erscheinen, imaginiert er selbst sich an Schauplätze der Binnengeschichte: Nach Mansfeld, in eine Berliner Wirtschaft, nach Leiden an die Stelle von Junghuhns Frau Johanna, wobei er das ersehnte Vertrauensverhältnis zum Protagonisten seiner Erzählung in Du-Anreden und Wir-Aussagen erprobt. Schließlich träumt er sich in die eingangs beschriebene Szene eines Vulkanausbruchs, in die Rolle eines entsetzten Trägers.

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Dieses Bild gipfelt in der Imagination, dass sich sein Körper auflöst, nur noch als ein Abdruck im Schlamm zurückbleibt, und endet in einer Auferstehungsfantasie. 20 „Diesmal komme ich mit!“ (ebd., S. 73). Dieser mehrfach wiederholte Ausruf strukturiert die Erzählung. Die schweren Koffer und die Angst vor der Reise halten das Ich jedoch zunächst von einem Aufbruch ab. ‚Aufstehen und Gehen‘ ist das gemeinsame Lieblingsspiel von Ich-Erzähler und Junghuhn, wobei er als Verlierer den flüchtigen Junghuhn trotz seines Fernglases aus den Augen verliert. Der letzten Wiederholung der Formel folgt endlich der tatsächliche Aufbruch: Ich will nicht zum dritten Mal sitzen bleiben .... Ich werde für immer die Heimat verlassen“ (ebd., S. 93), ruft er, läuft die Treppe hinunter, lässt alles hinter sich – und bricht endlich auf, nach Lembang, dem Sterbeort Junghuhns, um „genau wie versprochen, ... alles in Augenschein zu nehmen.“ (ebd., S. 97). Ähnlich wie in Marathon entsteht am Ende der Erzählung noch einmal ein neuer Raum: In Lembang trifft das Ich zwar nicht mehr auf Junghuhn, sondern nur noch auf den falsch datierten Grabstein. Der Aufbruch ist geglückt. Doch auch der Nachvollzug von Junghuhns Reise scheint das Schreiben über ihn nicht zu befördern: „Und so bin ich nach Insulinde gekommen, um endlich mit eigenen Augen zu sehen, wie eine Geschichte zu Ende geht. Aber zwischen mir und dem Ende steht plötzlich noch eine andere Geschichte, die man unscharf beleuchtet die Wirklichkeit nennt.“ (ebd., S. 94). Auch der Ich-Erzähler muss „am Kraterrand kunstlos verstummen“ (ebd.). Ebenso wie in Marathon erweist sich in Eis und Schnee der Versuch der Rekonstruktion als unfruchtbar für die literarische Arbeit des IchErzählers: Die Literatur, so ließe sich der Schluss des Junghuhn-Porträts deuten, profitiert gerade nicht vom unmittelbarem Erleben und der Augenzeugenschaft von Wirklichkeit.

S AFARI – P ARTIZIPATION DURCH N ARRATION

AN FREMDER

‚W IRKLICHKEIT ‘

Der Rahmenhandlung von Safari lässt sich nicht ein einzelner homogener Raum zuordnen. Erwähnt werden das Zuhause der Familie, das Büro des Vaters, ein Kino, ein Zirkus, ein Zoo und – Bücher. Die verschiedenen Räume der Rahmenhandlung sind von Medien bestimmt, die von den Familienmitgliedern rezipiert werden und sind gleichzeitig mit einem Erzählverbot belegt, denn Onkel John umgibt ein „trü-

20 Hier liegt möglicherweise eine Anspielung auf die Katastrophe von Pompeji im Jahre 79 n. Chr. und die archäologisch bedeutsamen Funde von in Lava eingeschlossenen menschlichen Körpern vor. Die imaginierte Auferstehung ist im Kontext von Hoppes häufigem Gebrauch christlicher Symbolik zu betrachten. Vgl. hierzu WIESMÜLLER, 2008.

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bes Geheimnis“ (Verbrecher, S. 108). Die Rahmenhandlung wird nicht durchgängig erzählt, ebenso wenig wie singuläre, datierbare, sondern vielmehr generelle, sich wiederholende Ereignisse geschildert werden. Unklar bleibt auch, wo sich der Ich-Erzähler während des Erzählakts befindet. In der Binnenhandlung lässt sich die Chronologie des Lebenslaufes Hagenbecks, der durch Reisen und Auslandsaufenthalte geprägt ist, aufgrund einiger Zeitsprünge schwerer als in den bisher besprochenen Erzählungen ausmachen. Den Begriff des Bewegungsraums kann man demnach lediglich auf die zweite Hälfte applizieren, denn zunächst wird ausführlich von Johns durch Enge und Lebensleere geprägter Kindheit in Hamburg erzählt. Die Tierstopferwerkstatt der Hagenbecks wird dabei mit dem lauten, lebendigen und Abenteuer verheißenden Urwald kontrastiert. Ebenso eng erscheint auf der Rahmenebene die Kindheit des Ich-Erzählers. Wie sein Vater und die Geschwister verspürt auch er selbst einen starken Freiheitsdrang, über den er sich mit Onkel John identifiziert. Der Vater und die Kinder suchen in Büchern und im Kino nach Abenteuern, Weite und Freiheit. Die Mutter hasst den Zirkus, den Jahrmarkt, den Zoo und den Film wegen ihres „grausame[n] Spiel[s] mit [der] Unwirklichkeit“ (ebd., S. 105), verkennt aber die Gefahr der Bücher, die den Vater während seiner Bürozeiten bei den Abenteuern Onkel Johns und anderer „mit von der Partie“ (ebd., S. 109) sein lassen. Auch der Ich-Erzähler träumt seinerseits davon, an den Abenteuern Onkel Johns teilzuhaben. Er imaginiert Gespräche mit dem Onkel, der ihm anvertraut, dass er der Beengtheit der Familie, in der er neben dem älteren, erfolgreichen Bruder keinen Platz hat, entfliehen will. Die Aufforderung: „Also sprich du zu mir, Onkel John“ leitet die Erzählung der Binnenhandlungsepisoden wiederholt ein, die häufig in der zweiten Person Singular wiedergegeben wird (vgl. ebd., S. 128). Dabei erweist sich der Wunsch des Ich-Erzählers – „Wir spielen, die Zeit wäre stehen geblieben“ (ebd., S. 109) – als leitmotivisch für das Erzählprogramm: Zahlreiche Zeitsprünge durchziehen den Text und auch die imaginierte Begegnung mit dem Onkel setzt einen Stillstand der Zeit voraus. Auch hier erstreckt sich der Wahrnehmungsbereich des Ich-Erzählers zumeist auf die Episoden der Binnenhandlung, wobei sein eigener Standort unklar bleibt, etwa wenn er erzählt, wie der 15-jährige Hagenbeck beim Verladen der Tiere mitarbeitet, wobei einem Panther die Flucht gelingt: „Wer fürchtet sich mehr? Der Panther in seiner fremden Freiheit, oder der Junge, der plötzlich ein Jäger wird? Ich sehe sie laufen, panische Männer mit Käfigen über dem Kopf .... Hier läuft der Panther und da Onkel John, mein erster Arenenbeherrscher“ (ebd., S. 114, Hvhbg. N. S.). In der ‚Wirklichkeit‘ muss das Außerkraftsetzen der Zeit scheitern; der Krieg in der Binnenhandlung und die Mutter in der Rahmenhandlung zerstören die Träume Onkel Johns von einem neuen Leben und die Hoffnung des Ich-Erzählers auf Partizipation an den Abenteuern. Die Verdoppelung der Zirkusszene, in welcher der

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Onkel den Kopf ins Maul eines Löwen legt, offenbart die zirkuläre Struktur der Erzählung und negiert die Möglichkeit, sich familiären beziehungsweise kolonialen Machtstrukturen zu entziehen. Michaela Holdenried beschreibt am Beispiel dieser Szene „jene magische Verschiebung von nachprüfbaren Fakten ins Reich der Fiktion, welche die Fakten selbst fiktionalisiert“21. So wende Hoppe ein bestimmtes „Verfahren intertextueller Verschiebungen“22 an, indem sie Details aus den Werken Hagenbecks in neue „szenische Motivkomponenten“23 einbinde: „Vom müde gähnenden Zirkuslöwen zur wilden Bestie mutiert, wird der Löwe von einem intratextuellen Symbol zum Platzhalter eines kolonialen Subtextes, über den sich ganze Felder einer postkolonialen Lektüre eröffnen.“24

J OHANNA – E MANZIPATION VOM M IMESIS -P OSTULAT LITERARISCHE W IRKLICH -W ERDUNG

UND

In Bezug auf die selbstreflexive Auseinandersetzung mit historischen Stoffen versteht Stephanie Catani Verbrecher und Versager als einen „richtungsweisende[n] Prätext“25 von Johanna. Auch hinsichtlich der oben beschriebenen zunehmenden Verwischung räumlicher, zeitlicher und narrativer Grenzen in den untersuchten Forscherporträts ist im Johanna-Roman noch einmal eine deutliche Steigerung zu beobachten. Nachdem im Prolog zu Johanna ein mit fantastischen, märchenhaften Elementen durchsetzter Abriss des Lebens der Johanna von Orléans (um 14121431) präsentiert wurde, wird die Annäherung des Ich-Erzählers an die historische Johanna sukzessive in traum- oder halluzinationsartigen Episoden geschildert – parallel zum Studienalltag der Erzählerin. Im Verlauf der Erzählung sind Rahmenund Binnenhandlung kaum mehr voneinander zu trennen, die Konturen werden zunehmend aufgelöst. Räumliche und zeitliche Grenzen lassen sich nur noch extern, mit dem Wissen über die Biografie Johannas und das französische Spätmittelalter einerseits und den deutschen Universitätsalltag der Gegenwart andererseits, konstruieren. Zuordnungen werden systematisch unterlaufen: „Johanna brennt, und ich sitze im Hörsaal. Kann aber sein, dass auch ich gar nicht anwesend bin, auch ich bin nicht da [...]. Grausame menschliche Zeitverschiebung.“ (Johanna, S. 34).26

21 HOLDENRIED, 2008, S. 124. 22 Ebd., S. 126. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 127. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Maria Hinzmann in diesem Band. 25 CATANI, 2009, S. 148. Vgl. auch S. 148f. 26 Zu den Bedingungen und der Spezifik der Raumnarration in Johanna vgl. auch den Beitrag von Erik Schilling im vorliegenden Band.

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Ereignisse aus der Binnenhandlung werden immer wieder als Wahrnehmungen der Ich-Erzählerin wiedergegeben, die Johanna mitunter auch direkt anspricht. Die Biografie Jeanne d’Arcs wird weder chronologisch noch ausführlich, sondern in variierenden Bildern nacherzählt. Den einzelnen Kapiteln lassen sich grob verschiedene Räume zuordnen, in denen sich die Rahmenhandlung abspielt: Peitsches Wohnung, der Hörsaal, das Zugabteil, die Wohnung der Ich-Erzählerin, der Prüfungsraum im Universitätsgebäude – und, wie bereits in Verbrecher und Versager, ein Raum, in dem die Ich-Erzählerin der Porträtierten nachreist: In Rouen, auf den Spuren Johannas, beginnend mit einer Zugfahrt, beendet das Ich seine wissenschaftliche Annäherung an Johanna und beginnt schließlich eine Liebesbeziehung mit Peitsche. Die Einbindung historischer Fakten und Daten in die Erzählung geschieht hier nicht unter dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit. Das Verfahren markiert vielmehr einen Ausgangspunkt, von dem aus die Erzählerin ihre eigene Emanzipation vom Wissenschaftsbetrieb entwickelt. Durch persönliche Annäherung an und Identifikation mit Johanna in Form halluzinatorischer, assoziativer, traumähnlicher Sprache gelangt die Ich-Erzählerin zur ‚Verwirklichung‘ ihrer selbst: mit dem Scheitern der Promotion entscheidet sie sich gleichzeitig für eine Liebesbeziehung, in der schriftlichen Dokumentation ihres Scheiterns offenbart sie sich als Schriftstellerin. Dennerleins Begriffe – Bewegungsbereich, Wahrnehmungsbereich, Ereignisregion, Erzählraum – greifen hier nicht mehr, weil die Situationen nicht eindeutig zuzuordnen sind: Einzelne Erzählkomponenten wie Raum, Zeit, Figuren und Episode werden in wechselnden Konstellationen wiederholt, sodass kein fester kontextueller Rahmen entstehen kann. An vielen Stellen lassen sich die Personalpronomen nicht über einen vorher etablierten kontextuellen Rahmen einzelnen Figuren zuweisen, ebenso ist die Zuordnung von Figuren und Räumen nicht eindeutig, was den rezeptiven Effekt der Grenzaufhebung nach sich zieht.

F AZIT In Felicitas Hoppes hier nachgezeichneter produktiver Auseinandersetzung mit dem biografischen Schreiben ist eine Entwicklung erkennbar: In der chronologischen Folge der analysierten Texte wird ersichtlich, dass Hoppe eine zunehmende Abkehr und Emanzipation der Erzählerinstanz von den jeweiligen historischen Vorlagen vornimmt und diese poetisch (re-)inszeniert. Diese Entwicklung wird begleitet von einer selbstreflexiven Infragestellung des Verhältnisses von Narration und Wirklichkeit, die sich formal in der fortschreitenden Auflösung der räumlichen und zeitlichen Trennung von Binnen- und Rahmenebene spiegelt.

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Verschiedene Umgangsweisen mit extratextuellen historischen Details im Besonderen und der (vergangenen und gegenwärtigen) Wirklichkeit im Allgemeinen werden durchgespielt: Rekonstruktion einer außertextlichen Wirklichkeit, Partizipation an fremder Wirklichkeit und Wirklichkeitsflucht, Rechtfertigung durch Augenzeugenschaft und Recherche werden verworfen. Nur in ihrer größtmöglichen Emanzipation von der außertextuellen Welt kann die Literatur ihre Möglichkeiten entfalten, dann erhält auch das Ich seine eigene Wirklichkeit und Geschichte, ist tatkräftig und vermag zu handeln. Durch Überschneidungen der erzählten Welten und die Anbindung spezifischer Elemente der jeweiligen historischen Referenzepoche an die Erzählgegenwart erscheinen insbesondere unauflösbare konfliktträchtige Dichotomien wie Heimat – Fremde, Bewegung – Statik, Macht – Unterwerfung und Wissenschaft – Kunst als universale und zeitlose Probleme. 27 Die jeweiligen Ich-Erzählerinstanzen halten sich zumeist – auch wenn sie sich in Bewegung befinden! – in engen Räumen auf, und treten nicht als Handelnde, sondern als Beobachtende auf. Ihre Existenz ist von Handlungsarmut und Lebensferne bestimmt, hinter dem Schreiben verbirgt sich literarischer Eskapismus. Von der Rekonstruktion der Forscherbiografien erhoffen sie sich zunächst Partizipation an der Unmittelbarkeit, mit der die jeweils Porträtierten der Welt begegnen, müssen an deren Entschlossenheit, Tatkraft und Abenteuerlust aber letztlich scheitern. Dem Erzähler-Ich ist es nur im nicht-mimetischen Erzählen möglich, Grenzen zu überschreiten und sich neue Räume zu erschaffen – es erhält dadurch eine neue Wirklichkeit.

L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen, in: Neue Rundschau 118, 1 (2007), S. 56-69. DIES., Der beste Platz der Welt. Erzählung, Zürich 2009. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Paradiese, Übersee. Roman, Reinbek 2003. DIES., Pigafetta. Roman, Reinbek 1999. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009.

27 Bereits Stephanie Catani hat in ihren Ausführungen zu Verbrecher und Versager auf das hohe Erkenntnispotenzial für die jeweilige (Entstehungs-)Gegenwart verwiesen, das die Auseinandersetzung mit Geschichte und ihrer (literarischen) Rekonstruktion in historiografischen Metafiktionen birgt. Vgl. CATANI, 2009, S. 149 und S. 153.

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DIES., Über Geistesgegenwart, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 11-24. DIES., Verbrecher und Versager. Fünf Porträts, Frankfurt a. M. 2006 [2004]. MEISTER, GEORG, Der orientalisch-indianische Kunst- und Lustgärtner, Dresden/Leipzig 1731. Sekundärliteratur CATANI, STEPHANIE, Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von CHRISTOF HAMANN/ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 143-168. DENNERLEIN, KATRIN, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin 2009. DIES., Raum, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hg. von MATÍAS MARTÍNEZ, Stuttgart/Weimar 2011, S. 158-165. HAMANN, CHRISTOF, „Um die Wahrheit zu sagen...“. Felicitas Hoppes Reisen mit ‚Verbrechern und Versagern‘, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 11-24. HOLDENRIED, MICHAELA, „Mit leichter Hand vom Hier in das Nichts“ – Safari. John Hagenbeck (1866-1940), in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 119131. NÜNNING, ANSGAR, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Literatur, Imagination, Realität 11), Trier 1991. WIESMÜLLER, WOLFGANG, Unterwegs mit dem Stern der Verheißung? Biblisch-religiöse Spurensuche in der Prosa von Felicitas Hoppe, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 55-68.

Transmoderne Autofiktionen und Autorschaftsinszenierungen

„Am Rand eines Kraters“ Grenzgänge narrativer Identitätskonstitution in Hoppes Eis und Schnee (2004) D AVID W ACHTER

„Eine Hälfte im Wasser, die andere an Land, eine dritte, wenn es sie geben könnte, am Rand eines Kraters.“ (Verbrecher, S. 74) – Auf dieser Schwelle unmöglicher Positionen im Raum bewegt sich der Arzt, Geologe, Botaniker und Landvermesser Franz Wilhelm Junghuhn (1809-1864) in Eis und Schnee, einem von fünf literarischen Porträts in Felicitas Hoppes Erzählband Verbrecher und Versager (2004). Die Miniaturen dieser Sammlung entwerfen allesamt verschlungene Lebenslinien vier historischer und einer literarischen Figur, die eine gesellschaftliche Randstellung sowie die Lust zum Aufbruch auf Reisen gemeinsam haben. Anders als es der Klappentext suggeriert, sind die Protagonisten nicht alle „Gauner, Aufschneider, Maulhelden und Pechvögel“. Gleichwohl lassen sie sich als unkonventionelle Helden bezeichnen: Im Schatten berühmterer Konkurrenten stehend, drohen sie an den eigenen Lebensplänen zu scheitern. So erforschte Junghuhn nach abgebrochenem Medizinstudium auf zahlreichen Reisen und langjährigen Aufenthalten die Botanik und Geografie des heutigen Indonesien, im 19. Jahrhundert noch die Kolonie Niederländisch-Indien. Die Ergebnisse seiner mühsamen und gefährlichen Erkundungstouren durch weitgehend unerschlossenes Gelände legte er in seinem naturwissenschaftlichen Hauptwerk Java, seine Gestalt, Pflanzendecke und innere Bauart (1852) dar.1 Mit Blick auf seine Pionierarbeit wurde Junghuhn auch als „Humboldt von Java“2 bezeichnet – ein Ehrentitel, der bei allem Lob erkennen lässt, wie sehr

1 2

JUNGHUHN, 1852. So auch der Titel der aktuellen Biografie von Renate Sternagel (Der Humboldt von Java: Leben und Werk des Naturforschers Franz Wilhelm Junghuhn 1809-1864). Vgl. STERNAGEL, 2011.

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der ambitionierte Autodidakt nach wie vor im Schatten des ungleich berühmteren Naturforschers Alexander von Humboldt (1769-1859) steht.3 Allerdings zeichnet Eis und Schnee kein einheitliches Gesamtbild von Junghuhns Leben. Vielmehr präsentiert sich der Text als unabgeschlossener Entwurf einer Existenz in Bewegung, gleichsam als möglichkeitsbewusste Erfindung eines Lebens-Laufs, der sich am Vorbild der historischen Person orientiert und zugleich reale Handlungen und Ereignisse fiktional verfremdet. 4 Denn anstatt die zentralen Stationen dieses außergewöhnlichen Lebens in narrativer Kontinuität zum linear geordneten Gesamtbild zusammenzufügen, bricht der Text die zeitliche und räumliche Einheit des Erzählten auf. Entscheidendes verbindet sich mit Nebensächlichem, und spielerische Wechsel der Erzählperspektive lassen die Konturen der Figuren verschwimmen. So handelt Hoppes fiktionale Bio-Grafie, welche im Akt des Schreibens zugleich selbstreflexiv die Aporien einer Erfassung des gelebten Lebens ausstellt,5 von den Möglichkeitsbedingungen und Untiefen narrativer Identitätskonstitution. Entlang des Leitfadens eines Entdeckerlebens fragt Eis und Schnee nach Bestimmungsmerkmalen und Grenzen des ‚Eigenen‘ – und zwar in individueller wie in kultureller Hinsicht. Denn Junghuhns Grenzgänge in der Ferne Asiens kreisen beständig um die Frage, wer er selbst überhaupt ist, wovon er sich warum und wie abgrenzt, und wer von diesem Leben auf welche Weise zu erzählen vermag.6 Einige Aspekte dieser Fragestellung erkundet der vorliegende Aufsatz in einer narratologischen Analyse von Hoppes komplexer Erzählprosa in Eis und Schnee.7 Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und

3

Anlässlich des 200. Geburtstages von Franz Wilhelm Junghuhn fand am Goethe-Institut in Jakarta ein Symposium über den Naturforscher statt; dokumentiert sind die Ergebnisse in GOETHE-INSTITUT JAKARTA (Hg.), 2010, erschienen beim kleinen Verlag Regiospectra. Zudem bemühen sich Renate Sternagel und Heinz Schütte in einem Positionspapier um eine ‚Rehabilitation‘ des – aus ihrer Sicht – zu Unrecht vergessenen Forschers. Vgl. SCHÜTTE/STERNAGEL, 2009.

4

Vgl. NEUHAUS, 2008, S. 39-53, hier S. 48. Ein vergleichbares biografieästhetisches Verfahren gelangt auch im Roman Hoppe (2012) zur Anwendung: Vgl. dazu die Beiträge von Florian Lippert und Antonius Weixler in diesem Band.

5

Im zitierten Interview spricht auch Hoppe selbst von der „Unfassbarkeit des Porträtierten“. Vgl. ebd., S. 233.

6

Auf diese poetologische Dimension der biografischen Porträts in Verbrecher und Versager weist Christof Hamann hin. Vgl. HAMANN, 2008, S. 109.

7

Erste Ansätze einer philologischen Detailforschung zum Porträtband Verbrecher und Versager finden sich in den Aufsätzen HAMANN, 2008, HOLDENRIED, 2008, und TODTENHAUPT, 2007. Während Hamann anhand der beiden Miniaturen Marathon und Safari auf Hoppes Verfahren der Um-Schreibung historischer Reisetexte zu sprechen

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Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den Anderen Orientalismus (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren ‚das Eigene‘ – ‚das Andere‘ und ‚das Vertraute‘ – ‚das Fremde‘.8 Gemäß Polascheggs analytischer Konzeption bewegt sich die Bildung von Identität entlang einer Achse der Differenz, bei der sich ‚das Eigene‘ durch die Etablierung von Grenzen von einem ‚Anderen‘ unterscheidet oder diese Grenzen wiederum infrage stellt. Diese Beziehung zwischen Ein- und Ausgeschlossenem bezeichnet sie auch als ‚Alterität‘. Der Prozess des Verstehens – oder auch Nicht-Verstehens – basiert dagegen auf der Achse einer Distanz, bei der ‚das Vertraute‘ dem ‚Fremden‘ gegenübersteht, wobei die Annäherung an Unvertrautes durchaus mit dem Fremdwerden von zuvor Vertrautem einhergehen kann.9 Dieser hermeneutische Prozess stellt sich als Operationalisierung von ‚Fremdheit‘ dar. Mit ihrer heuristischen Konzeption arbeitet Polaschegg überzeugend die strukturelle Kongruenz von Differenzierung und Distanzierung heraus. ‚Verstehen‘ einerseits, ‚Identität‘ andererseits beruhen demzufolge auf analogen Dichotomien in einem Beziehungsverhältnis – und stellen dennoch distinkte „Verfahrensweisen“10 dar, die analytisch voneinander getrennt werden sollten, obwohl sie in der Praxis häufig in Verbindung miteinander auftreten: Das ‚Andere‘ erscheint nicht selten als ‚fremd‘, während ‚das Eigene‘ sich zugleich als ‚vertraut‘ präsentiert.11 Mit Blick auf diese Unterscheidung verfolgt der vorliegende Beitrag die Leitthese, dass sich beide Problemfelder in Eis und Schnee auf charakteristische Weise überkreuzen. Hoppes Text greift die jeweilige Dichotomie von

kommt und hellsichtig die poetologischen Akzente ihrer Auflösung exotistischer Projektionen herausstellt, richtet Holdenried ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf das „familiäre Narrativ“ (S. 122), das in allen Porträts wirksam wird. Vor diesem Hintergrund thematisiert Holdenried besonders die Infragestellung biografischer Wahrheit durch eine mit Ironiesignalen durchsetzte, beständig zwischen Fakt und Fiktion changierende Prosa. Todtenhaupt wiederum problematisiert die Bedeutung von Fremde und Heimat in Hoppes literarischen Porträts. Der vorliegende Beitrag verdankt allen drei Aufsätzen wichtige Anregungen. Im Unterscheid zu ihnen konzentriere ich mich jedoch mit Absicht auf ein einzelnes, bislang noch nicht näher untersuchtes Porträt, um anhand von Eis und Schnee Hoppes narrative Grenzgänge zwischen Entwurf und Dekonstruktion personaler wie kultureller Identität mit narratologischem Blick möglichst textnah zu untersuchen. 8

Vgl. POLASCHEGG, 2005, besonders das Kapitel 1.3 Wenn Dichotomien reden könnten: Das Eigene und das Fremde, S. 39-56. Ich danke Maria Hinzmann für diesen wertvollen Hinweis zur Begriffsklärung.

9

Vgl. ebd., S. 43.

10 Ebd., S. 44. 11 Vgl. ebd., S. 45.

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‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ sowie von ‚Vertrautem‘ und ‚Fremdem‘ auf; doch sie unterläuft sie zugleich, indem sie eine scheinbar feststehende Gegensatzrelation destabilisiert.12 Und mehr noch: Verbinden sich in alltäglicher Wahrnehmung und gängigem Sprachgebrauch ‚das Eigene‘ und ‚das Vertraute‘ einerseits, ‚das Andere‘ und ‚das Fremde‘ andererseits, so brechen diese Allianzen in Hoppes Text auseinander. Wie im Folgenden entlang der Textbewegung zu zeigen sein wird, geraten sowohl Junghuhn bei seinen Reisen in die kulturelle Ferne, als auch der Erzähler bei seiner biografischen Rekonstruktion des Entdeckers in den Sog einer Poetik der Verfremdung. Im literarischen Spielfeld einer hochkomplexen Erzählpoetik tauschen die Figuren ihre jeweilige Position und vervielfältigen sich, sodass sie beinahe ununterscheidbar werden. Zugleich erscheint – und hierin wird die Kreuzung der Gegensatzpaare erkennbar – die vertraute Heimat des Ostharzes im Blick des Beobachters wie in Junghuhns Reisen als ‚das Andere‘, von dem sich der Abenteurer mit seinen javanischen Entdeckungsreisen abgrenzt, während ‚Fremdheit‘ im positiven Sinne auch als Möglichkeitsraum für plurale Identitäten zugänglich wird. 13 Zu Hoppes Poetik der Verfremdung gehört allerdings auch, dass der Text immer wieder ‚Fremdheit‘ und ‚Vertrautheit‘ zusammenfallen lässt. Denn der Orient erweist sich im Fortgang der Erzählung gerade nicht als das ‚schlechthin Unvertraute‘, sondern stellt immer wieder auch einen Ort für die Wiederkehr des Gewohnten dar. Indem der Text mitten in Junghuhns Grenzgänge eine Skepsis gegenüber den möglichen Begegnungen mit ‚Fremdheit‘ einbaut, unterläuft er von vornherein und konsequent jede Exotisierung des fernen Asiens.

I. Fasst man zunächst in chronologischer Folge die Hauptereignisse zusammen, so zeigt sich, dass sich Eis und Schnee durchaus auf einige biografische Fakten des historischen Franz Wilhelm Junghuhn bezieht. Erwähnung finden die unglückliche Kindheit, die der Junge in Mansfeld im Harz unter der strengen Hand seines Vaters verbringt, sowie sein ungewolltes und bald abgebrochenes Medizinstudium in Hal-

12 Vgl. zu diesem poetischen Verfahren auch ausführlich den Beitrag von Sonja Arnold in diesem Band. 13 Was Herfried Münkler und Bernd Ladwig in ihrer Einleitung zum Band Die Herausforderung durch das Fremde für soziale Ausschlüsse und kulturelle Fremdheit konstatieren, ohne allerdings Polascheggs heuristische Trennung vorwegzunehmen, gilt unter Vorbehalt auch für den Erzählprozess in Eis und Schnee: „[Der] Dezentrierung des Eigenen korrespondiert eine Pluralisierung des Fremden.“ Vgl. MÜNKLER/LADWIG, 1998, S. 18.

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le. Darauf folgen der Selbstmordversuch und das Ehrenduell mit einem Kommilitonen namens Schwoerer im Jahr 1830, das Junghuhn zunächst den Militärdienst und später eine – im Gerichtsurteil auf zehn Jahre festgelegte – Festungshaft einbringt. Auf die Flucht nach Frankreich folgen die Begnadigung und Junghuhns Reise durch die norddeutschen Kurfürstentümer in die Niederlande im Jahr 1834. Nachdem der künftige Entdecker ein medizinisches Examen in Utrecht abgelegt hat, bricht er von dort nach Java auf, um die Botanik des fernen Landes zu erkunden und dessen geografische Strukturen zu vermessen. Es folgen diverse Heimataufenthalte und erneute Javareisen ab 1848 sowie die Heirat mit Johanna Louise Frederica Koch im Jahr 1850. Ab 1854 beginnt Junghuhn dann mit der Aufzucht von Chinarindenbäumen aus Südamerika auf Java, bevor er im Jahr 1864 an einem Leberabszess infolge einer Amöbenruhr verstirbt. Diese historisch verbürgten Fakten greift Hoppes Miniatur auf. Allerdings folgt der Text nur mit Einschränkungen einer chronologischen Verlaufskurve; vielmehr springt er zwischen unterschiedlichen Zeitebenen hin und her, ja lässt diese in einem solchen Ausmaß sich überlagern, dass sie nahezu ununterscheidbar werden. 14 Diese Dichte des Textes, sein Spiel mit der Linearität der Narration in einer Textur aus Sprüngen und Brüchen, lässt sich in Eis und Schnee von Beginn an beobachten. Sie wird zugleich an mehreren Stellen poetologisch reflektiert: Diesmal komme ich mit! Ich habs versprochen und halte mich dran. Aber als ich die Koffer anhob, fand ich sie schwer, alles gefüllt mit Arbeit und Flucht, wir werden nicht weit damit kommen. Junghuhn schweigt, und ich spreche weiter, denn die Stille zwischen Menschen ertrage ich nicht, weshalb ich immer zurückbleiben muss zwischen Eifer und Einwand. (Verbrecher, S. 73)

Bereits an dieser Eingangspassage lassen sich charakteristische Textmerkmale von Hoppes Prosa erkennen. Zu Wort meldet sich ein fiktiver Biograf, der eigentlich als heterodiegetischer Erzähler fungiert, also nicht selbst als Figur am historischen Geschehen beteiligt ist und die Geschichte aus einer extradiegetischen Position er-

14 Die aus solchen dichten Texturen entstehende Irritation beim Leser ist in zahlreichen Rezensionen wiederholt als ‚Rätselhaftigkeit‘ bezeichnet oder auch zum Spezifikum eines ‚unverwechselbaren Hoppe-Sounds‘ verklärt worden. Zu einigen Klischees, die sich in beinahe allen Besprechungen finden, siehe besonders GRUB, 2008, S. 69-88. Vgl. dazu auch die Analyse von Verbrecher und Versager von Nadine Schneiderwind in diesem Band, die aufzeigt, dass sich Raumsprünge in Form syntaktischer Parallelisierungen mitunter innerhalb nur eines Satzes vollziehen.

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zählt.15 Dieses ,Ich‘ verwandelt sich in Metalepsen jedoch wiederholt in einen homodiegetischen Erzähler, der aktiv am Geschehen der erzählten Welt teilnimmt, 16 sodass seine Stellung zum Erzählten in gewissem Maße unentscheidbar wird. Zugleich verschwimmen in dieser Passage die Zeitebenen: Findet in grammatikalischer Hinsicht ein Wechsel zwischen Präsens, Imperfekt und Futur statt, so legt das Adverb „diesmal“ die Wiederholung einer bereits stattgefundenen Handlung nahe, die jedoch nicht geschildert wird. Der Protagonist Junghuhn wird gleich zu Beginn erwähnt, entzieht sich jedoch durch sein Schweigen der Narration; an die Stelle einer authentischen Selbstaussage tritt in agonaler Gegenüberstellung die Rede der Erzählerfigur, die aber nicht als realitätsnaher Bericht von Junghuhns Leben, sondern als defizitärer Akt zur Abwehr einer unangenehmen Situation, als geradezu zwanghaftes Füllen einer Leerstelle des Schweigens („ertrage ich nicht“) charakterisiert wird. Zudem erscheint die Rede als konstitutiv nachträglich und befindet sich von Beginn an im Übergangsbereich zwischen produktivem Entwurf („Eifer“) und skeptischer Relativierung („Einwand“) – mithin in einem Spannungsfeld, in dem die Erzählung keinen innerfiktionalen Wahrheitsanspruch geltend machen kann. Wenn der Erzähler unmittelbar darauf gesteht: „Wie Junghuhn verstehe ich nichts von den Menschen“ (Verbrecher, S. 73) und zugleich bekennt, als notorischer Städtebewohner mit Junghuhns tropischer Wahlheimat nicht vertraut zu sein, so gibt er sich von Beginn an als unzuverlässige Instanz zu erkennen, der zentrale Fakten unbekannt und die Figur Junghuhn fremd geblieben sind.17 Somit lässt sich die Beziehung zwischen dem Erzähler und seinem Protagonisten in Eis und Schnee selbst als Konfiguration einer ‚Fremdheit‘ beschreiben, die sich in ein agonales Spannungsfeld übersetzt. Dieses markiert nicht nur die unvereinbaren Lebenswelten, in denen der Erzähler und die Figur beheimatet sind, sondern deren Einstellung zu einer narrativ vermittelten Wirklichkeit, die als Erzeugnis eines ‚poietischen‘ Akts charakterisiert wird. Denn Junghuhn ‚schweigt‘ zwar, aber er schreibt, und dieses Schreiben – seine rastlose Aktivität, mit der er Flora und Fauna auf Java katalogisiert und die Geografie der Insel vermisst – wird im Text mit quasi-religiösem Vokabular als eine ‚schöpferische‘ Tätigkeit beschrieben, zugleich aber mit einem konjunktivischen Index versehen:

15 So benennt die Erzählfigur den eigenen Standort explizit als „fünften Stock“ (Verbrecher, S. 73) eines Großstadthauses. 16 Zugleich stellt sich das ,Ich‘ auch als Junghuhns – allerdings unbestimmt bleibenden – Nachbarn dar. 17 Unter dem Stichwort des ,metafiktionalen Erzählens‘ untersucht Stephanie Catani diese Poetik der Unzuverlässigkeit historischen Erzählens bei Hoppe und stellt sie in einen Bezug zu Ilija Trojanow (*1965) und Christof Hamann (*1966). Vgl. CATANI, 2009, besonders S. 147-154. Vgl. dazu auch den Beitrag von Erik Schilling in diesem Band.

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Ganze Bände hat er gestopft mit dem Sprechen über Pflanzen und Steine, mit der unermüdlichen Taufe dessen, was vorher namenlos war. Als wäre er Gott und nur mit dem Erschaffen und Benennen beschäftigt. Nur von Menschen kein Wort, auch am siebten Tag keine Spur. (Verbrecher, S. 73)

Während Junghuhn mit seinen geologischen Forschungen als ein vermessener Prometheus auftritt, dessen Schöpfung bei höchstem Anspruch eigenartig beschränkt bleibt, weist der Erzähler sein eigenes Produkt ausdrücklich als dezentralen Text aus, der eben keine kohärente Narration eines Lebens zu liefern beansprucht, sondern eher marginale Ereignisse miteinander verknüpft. Ersichtlich wird dies in einer längeren poetologischen Reflexion im Anschluss an die zuvor zitierte Stelle: Aber ich beginne mich zu verzetteln. Denn in Wahrheit kommt es auf Tatkraft an, nicht auf Rekonstruktion, weil sich bei näherem Hinsehen als sinnlos erweist, aus Papierfetzen, flüchtigen Hinweisen und unscharfen Fotografien einen Charakter zu rekonstruieren. Charaktere existieren nicht. Sie sind, wie im Schlepptau die Biographien, immer erfunden. Dieser Glaube, ein Mensch träte uns plötzlich als Ganzes entgegen. Als wäre es wirklich interessant, wer oder was jemand ist. Nur im Verhältnis der Menschen zueinander lässt sich Kontur erkennen, die Ahnung eines Zusammenhangs. Wie sich jemand bewegt, wie er sein Bein nach links oder rechts wirft, überraschend den Absatz verliert, sich plötzlich fahrig zur Flucht fertig macht, dabei mit den Armen rudert und schüchtern die Hand nach uns ausstreckt. Verschrobenes Winken der Seefahrer, Soldaten, Bergsteiger und Forscher, halb Begrüßung, halb Abschied. Eine Hälfte im Wasser, die andere an Land, eine dritte, wenn es sie geben könnte, am Rand eines Kraters. Weshalb ich, was Junghuhn betrifft, nichts als eine flüchtige Bekanntschaft bin, eine Nebensache des Lebens, zwei Augen auf einem Nebengleis durch den Tunnel eines mir fremden Schädels. (ebd., S. 73f.)

Der Akt des ,Verzettelns‘, der zu Anfang der Passage noch zurückgewiesen wird, erweist sich in dieser selbstreflexiven Poetik der Verfremdung als adäquate Bezeichnung für Hoppes Verfahrensweise: An die Stelle einer biografischen Identitätsfindung, die das wahre Leben ihres Gegenstands zusammenzusetzen vermeint, tritt im wörtlichen Sinne das ‚Ver-Zetteln‘; Identitätskonstruktion erscheint als Projekt des Sammelns von Marginalien in einer dezentralen Textur, einem ‚Gewebe‘ von Beziehungen. Mit Blick auf die Frage der Identitätskonstitution fällt auf, dass sich das ‚Ganze‘ einer Individualbiografie in dieser Passage doppelt auflöst: Zum einen diffundiert die Integrität des individuellen Körpers in ein Ensemble von unzusammenhängenden Verhaltensweisen („wie er sein Bein nach links oder rechts wirft“) und sinnlos erscheinenden Gesten („[v]erschrobenes Winken“); zum anderen verkürzt sich die intentionale Totalität eines Handlungszusammenhangs auf ein „plötzlich[es]“ Verhalten, dessen Ursache sich ebenso wenig erschließen lässt wie dessen eigentliche Absicht. Wie das Verhalten des anonymen ,[J]emand‘, so folgt

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auch die Narration an vielen Stellen einer kontingenten Bewegung; es entsteht eine Logik der Verkettung ohne lineare Ausrichtung, die auf die Beteiligten ebenso „überraschend“ wirkt wie auf den Leser des Textes. Und auch die „Flucht“ – im historischen Klartext: Junghuhns unkoordinierter (‚fahriger‘) Versuch, sich über Frankreich der Strafverfolgung zu entziehen – charakterisiert ebenfalls in selbstreflexiver Absicht die abrupten Wendungen eines Textes, dessen Handlungsfolge kaum vorherzusehen ist, weil er keiner kausalen Logik folgt. Zuletzt weist die Erzählerfigur in einer Metalepse erneut darauf hin, als „flüchtige Bekanntschaft“ mit Junghuhn zu interagieren, ohne dass sich ein genaueres Verständnis ergäbe. Erzählerfigur und Protagonist bleiben einander folglich fremd – worauf auch das sonderbare Bild der „zwei Augen auf einem Nebengleis durch den Tunnel eines mir fremden Schädels“ verweist: Hier handelt es sich um eine poetische Spielform der Verfremdung, bei welcher sich ‚das Innere‘ des Protagonisten weder unmittelbar vergegenwärtigen noch aus seinen Handlungen und Aussagen erschließen lässt, sondern lediglich eine Durchgangsstation darstellt. Dazu passt, dass sich der schweigende Junghuhn in Eis und Schnee auch insofern entzieht, als sein Innenleben, seine Gedanken und Gefühle, für die Erzählung generell unzugänglich bleiben.

II. Auf diese reflexive Passage folgt eine rhetorische Geste des Neubeginns, mit der die Erzählfigur erneut die vermeintliche Gefahr des ,Verzettelns‘ benennt und ihrem eigentlichen Gegenstand Junghuhn sich zuwendend einen gründlichen Bericht in Aussicht stellt: „Ich habe versprochen, von vorn zu beginnen, indem ich erzähle, wie Junghuhn auf meinem Balkon erscheint.“ (Verbrecher, S. 74). Jedoch führt auch diese Wendung nicht erkennbar in eine narrativ durchorganisierte RePräsentation von Junghuhns Leben. Stattdessen spielt der Text mit dem Klischee einer Abenteurer-Physiognomie („Bärtig und flüchtig, wie immer schlecht zugeknöpft“, ebd.), einer Ekphrasis der dem Text vorangestellten Fotografie Junghuhns, um dann abrupt auf die Metaebene der konkurrierenden Weltanschauungen von Junghuhn und der Erzählerfigur zu springen („Ich persönlich glaube an Gott, während Junghuhn die Pflanzen vorzieht.“) und von dort auf das Detail des Koffers („schwer wie Blei“) und die „Angst“ des Trägers überzugehen (ebd., S. 74f.). In einer unübersichtlichen Textbewegung gibt die Erzählerfigur hier vor, eine Differenzoperation zu erzeugen und Identität herzustellen, indem die beteiligten Figuren nicht nur in ihrem Handeln, sondern auch in ihrer jeweiligen Weltsicht ‚ideologisch‘ voneinander abgegrenzt werden. Allerdings ist das resultierende Tableau der Figurenpositionen nicht durch klare Grenzen bestimmt, sondern von einer gleiten-

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den Bewegung getragen, bei der sich Junghuhn als eigentlicher Gegenstand des Erzählens verflüchtigt: Sie im Schatten, ich auf meinem Balkon, zwischen uns nichts als das Meer und sein Ehrgeiz, wird keiner von uns ihn begreifen, seinen übermächtigen Wunsch nach Flucht und Erkenntnis. Ich bin klimaunkundig, weiß nichts von Tropensonne, nichts von Helmen, Kisten und Trägern, nichts von Steinen und Pflanzen. Ich lege keine Kataloge an, aber ich habe alle Zettel gesammelt, die meine Besucher in den letzten Jahren auf meinem Küchentisch liegen gelassen haben und auf denen deutlich zu lesen steht, was ich aufschreiben müsste. Gesetzt den Fall, ich wäre dem Mann gewachsen. (Verbrecher, S. 76)

In diesem Arrangement bleibt die Topografie insofern irritierend, als Junghuhn in einem unbestimmten, jedenfalls weiten Schwellenraum („zwischen“) lokalisiert wird. Dort verbindet er sich mit dem Meer – traditionell sowohl ein Topos der Unverfügbarkeit wie des gefahrvollen Transitraums zwischen ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘.18 Indem dieses Meer durch die Wendung „nichts als“ depotenziert wird, entsteht ein schiefes Bild, das die entworfene Raumanordnung sonderbar erscheinen lässt. So verbindet sich die Identitätsirritation mit einer sprachlichen ‚Fremdheit‘, die des Weiteren kulturell und geografisch codiert, jedoch überraschend umgepolt wird. Denn als unvertraut und im Akt des Verstehens sperrig erweist sich eigentlich nicht das ostasiatische Land – es bleibt der „klimaunkundig[en]“ Erzählerfigur so fern, dass ein Kontakt erst gar nicht entsteht. Befremdlich ist eher eine Szene in der Heimat, von der man Vertrautheit erwarten würde: Das Aufeinandertreffen mit Besuchern am eigenen Küchentisch. Diese anonymen Figuren, die hier unvermittelt und erzählerisch unmotiviert aus dem Nichts auftauchen, hinterlassen – ob absichtlich oder unabsichtlich, bleibt in der Formulierung „liegen gelassen“ offen – eine Reihe von „Zetteln“. Diese flüchtigen Zeichenträger stellen nicht nur einen Bezug zu Junghuhn her, sondern erteilen aus Erzählersicht „deutlich“ eine Aufschreibeanweisung, die allerdings folgenlos bleibt. Gleichwohl hält dieses Eingeständnis, dem eigenen Gegenstand nicht gewachsen zu sein, ja auf systematische Ordnung in „Kataloge[n]“ (ebd., S. 76) ohnehin zu verzichten, die Erzählerfigur nicht davon ab, sich ihrem Gegenstand in weiteren Anläufen zu nähern. Der hier variierte Topos literarischen Unvermögens, den eigenen Gegenstand gültig zu erfassen, wird im ‚Verzetteln‘ produktiv, auch ohne dass die auseinanderstrebenden Bewegungen des Textes chronologisch geordnet würden. Denn der Text variiert biografische Zusammenhänge und durchkreuzt sie zugleich. Zunächst werden recht lakonisch die vermeintlich gesicherten Fakten des Lebenslaufs aufgeführt: „Franz Wilhelm Junghuhn, geboren in Mansfeld, damals Preußen,

18 Vgl. BLUMENBERG, 1979.

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heute im Ostharz.“ (ebd.). Doch offenkundig bleiben diese Daten topografisch vage und zeitlich unbestimmt: Konkrete Jahreszahlen werden ebenso wenig genannt wie historische Rahmenkoordinaten, aus denen sich einigermaßen verlässlich erschließen ließe, welcher Zeitraum mit den temporalen Adverbien „damals“ und „heute“ gemeint sein könnte. An diese biografische Einführung schließt sich nahtlos ein Motivkomplex an, der eine psychodynamische Erklärung für Junghuhns Handeln und für seine personale Identität insgesamt anbietet. Der bereits mehrfach erwähnte „Ehrgeiz“ des Entdeckers wird auf einen Vaterkonflikt zurückgeführt: Junghuhns Abbruch des Medizinstudiums und seine vagabundierenden Entdeckungsfahrten erscheinen als Aufstand gegen die provinzielle Langeweile wie gegen den patriarchalen Erfolgsdruck, den Wilhelm Friedrich Junghuhn (1785-1844) auf seinen Sohn ausübt, mithin als Rebellion gegen die Strenge einer bürgerlichen Autorität. Der klassische Vaterkomplex scheint sich zu erfüllen, insofern der Abenteurer der paternalistischen Instanz nicht entkommt, ihr vielmehr zutiefst verhaftet bleibt, weil er die Leistungsnormen seit seiner Kindheit internalisiert hat: Doch in jeder Falte des Reisemantels steckt der Vater samt Drohung, Gesicht und Befehl. Er ist zäh und beharrlich, läuft immer mit zwischen Sohle und Schuh. Nachts liegt er unter derselben Decke, spielt Botschaft und Traum und flüstert leise, mein Sohn, ein Flüchtling, mein Sohn, ein Versager. (ebd.)

Junghuhns ‚Versagen‘ wird hier, so scheint es, mit einer psychischen Deformation erklärt. Der ‚Minderwertigkeitskomplex‘ des Protagonisten setzt die Handlung insofern in Gang, als er mit seinem manischen Entdeckertum aus Erzählersicht „seinen eigenen Krieg“ (ebd., S. 77) betreibt. Schließlich trägt er – man beachte das eigenartige Bild vom Vater „zwischen Sohle und Schuh“ – sein Über-Ich mit sich. So enthüllt sich die Reise in die geografische Ferne, die hier eigentlich noch gar nicht erzählt worden ist, schon vorab als „Flucht“ vor der preußischen Heimat.19 Allerdings lösen sich dabei die Grenzen zwischen ‚Vertrautem‘ und ‚Fremdem‘ auf, weil die scheinbar entgegengesetzten Pole ununterscheidbar werden: Der Horror ergreift Junghuhn nicht angesichts der unbekannten Wildnis auf Java, sondern in der Erinnerung an „die schwüle Hitze der preußischen Tropen, deren Klima so ungesund ist, dass man draußen friert und drinnen stark schwitzt.“ (ebd.). Erneut findet sich hier eine sprachliche Verfremdung: „Die bekannte innere Hitze der Heimat, die häusliche Enge, die Körper und Menschen schrumpfen lässt und weder Nachsicht noch Schatten kennt.“ (ebd.) – als wanderten, nimmt man die Metaphorik des

19 Zur Handlungsmotivation der „Flucht“ in Verbrecher und Versager siehe auch TODTENHAUPT, 2007, S. 58f.

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‚Schrumpfens‘ beim Wort, veritable Schrumpfköpfe als Horrendum des Barbarischen per klimatischem Effekt in die ‚Heimat‘ ein, als seien sie es, welche den Protagonisten in jene „Flucht“ (ebd., S. 74) treiben, von der im Text wiederholt die Rede ist. Diese Flucht wird als eigentliche Triebkraft seiner Expeditionen erkennbar und bleibt letztlich doch vergeblich. Wenn Preußen und Java im Exotismustopos „Tropen“ (ebd., S. 77) bildlich fusionieren, entsteht ein Befremdungseffekt beim Leser – wenn auch nicht unbedingt beim Protagonisten, den die Wiederkehr des Ärgerlich-Vertrauten eher langweilt. Für ihn fungiert die lähmende Mischung aus Fremd-Vertrautem eher als Impuls, sich erneut auf den Weg zu machen, wobei ihn die Flucht ins ‚Fremde‘ unweigerlich zurück auf den Kontinent des ‚Vertrauten‘ führt. Hier zeigt sich deutlich, dass ‚Poetik der Verfremdung‘ eben auch bedeuten kann, das nur vermeintlich ‚Fremde‘ als ‚Vertrautes‘ zu entlarven, zugleich aber ‚das Eigene‘ – nämlich die preußische Identität, in Gestalt des Vaters, die Junghuhn prägt – zum Spielfeld narrativer Differenzierungsoperationen zu machen: Junghuhn entwirft sich gegenüber der verhassten Heimat als ‚Anderer‘, der in der südostasiatischen Ferne zu einem alternativen Selbst finden will, aber unweigerlich von der Omnipräsenz des preußischen ‚Eigenen‘ heimgesucht wird.20 So erweckt eine oberflächliche Lektüre den Eindruck, mit dieser Paradoxie einer Selbst-Alterisierung, die mit ihren Distanzgesten nur tiefer zurück ins preußische ‚Eigene‘ wie ins heimatliche ‚Vertraute‘ führt, das Funktionsprinzip von Hoppes narrativer Identitätskonstitution aufgefunden zu haben.21 Bezeichnend für Hoppes skeptisch-ironisches Erzählverfahren ist allerdings, dass dieses (pseudo-) tiefenanalytische Deutungsmuster des „Vaterkomplex[es]“ abrupt unterbrochen wird. Denn der sozialpsychologische Autoritätskomplex „Preußen“ wird, kaum ist er entworfen, in seiner Erklärungskraft für Junghuhns Leben wieder eingeschränkt: Womit ich womöglich übertreibe, weil ich Junghuhn aus dieser großen Entfernung nicht wirklich erkennen kann. Denn ich habe nichts als ein Fernrohr bei mir, vielleicht nur ein Opernglas, mit dem ich das Drama von weitem studiere. Zaungast und Zuschauer auf dem Balkon. (ebd.)

Charakteristischerweise reflektiert der Erzähler seine Distanz zum Gegenstand, seine Wissenslücken und seine Unfähigkeit, sinnhaft zu verstehen,22 mit einer ihrer-

20 Zur Präsenz der ‚Heimat‘ in der ‚Ferne‘ siehe auch TODTENHAUPT, 2007, S. 60. 21 Vgl. ebd., S. 61: „Der Mythos vom Aufbrechen und die Vorstellung von einem mentalen Aufbruch erweisen sich damit als per se unmöglich, die Aufbrechenden bleiben ihrer (mentalen) Heimat verhaftet und wollen womöglich auch nichts anderes“. 22 Zum problematischen Standort des Erzählers siehe auch CATANI, 2009, S. 152.

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seits mehrdeutigen Theatermetapher. Denn während die leise Skepsis („womöglich“) rasch in vermeintliche Desillusionierung („nichts als ein Fernrohr“) übergeht, wird auch diese umgehend infrage gestellt („vielleicht nur ein Opernglas“). Unklar bleibt somit, welches Medium sich zwischen Erzählerfigur und Junghuhn schiebt; unklar bleibt, ob es die Wahrnehmung schärft oder nicht vielmehr verzerrt; unklar bleibt, ob die Erzählerfigur das Geschehen als regulärer Besucher einer künstlerischen Inszenierung („Zuschauer“) oder als Eindringling mit Blick von außen („Zaungast“) beobachtet; und unklar bleibt nicht zuletzt, ob die vermeintliche Gattungsreferenz „Drama“ im ästhetischen Sinne das literarische Genre mit Bühneninszenierung benennt, bei dem die außerliterarische Wirklichkeit in einem fiktionalen Raum umgestaltet und für Möglichkeitshorizonte geöffnet würde, oder ob es im alltagssprachlichen Sinne einen starken Konflikt bezeichnet, sodass die zitierte Passage selbstironisch auf die übertriebene ‚Theatralität‘ des zuvor eingeführten VaterSohn-Modells hinweisen würde.

III. Läuft an diesem Punkt ein gewichtiges Erklärungsmuster unvermittelt ins Leere, so wird die schon zuvor angedeutete Umkehrung der Rollenverteilung zwischen der Erzählerfigur und dem Protagonisten im weiteren Textverlauf noch verstärkt. In der topografischen Anordnung eines konventionellen ‚Porträts‘ würde das Leben des Forschungsreisenden Junghuhn, der sich auf Java in unablässiger Bewegung befindet, von einer fest installierten Erzählerfigur beschrieben werden. Bei Hoppe dagegen fällt Junghuhn in einem metaleptischen Sprung gleichsam aus seiner Rolle, wenn er aus der diegetischen Ebene heraus die extradiegetisch situierte Erzählerfigur nicht nur direkt anspricht, sondern ihr auch noch die Handlungsanweisung erteilt, sich selbst auf die Reise zu machen: Aber er dreht sich nicht um, sondern starrt auf die Straße und sagt, steh auf, nimm den Koffer und geh! Also stehe ich auf, nehme den Koffer und gehe. Als ich zum ersten Mal meinen Balkon von unten sehe und über mir Junghuhn, wie ein Denkmal beleuchtet, der in eine mir unklare Richtung zeigt, vermutlich nach Übersee, begreife ich, dass ich jetzt unterwegs bin. (Verbrecher, S. 78)

Der zitierte Satz stellt Junghuhns erste und einzige direkte Rede im Text dar; im Anschluss daran verfällt er wieder in ununterbrochenes Schweigen. Nach einem Rollentausch verweilt dann der Entdecker Junghuhn auf dem heimischen Balkon, während der Erzähler auf Spurensuche geht. „Wie ein Denkmal“ zur Bewegungslosigkeit erstarrt, bleibt die historische Figur immerhin fähig zu einer initiatorischen

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Geste, die den Erzähler ‚in Bewegung setzt‘ – auch dies eine Reflexion über das (historische) Erzählen, das nur möglich wird, wenn an die Stelle fixierter (Denk-) Positionen ein offener Narrationsprozess tritt. So befindet sich der Erzähler an einem undefinierbaren Ort, einer Schwelle zwischen den Elementen Wasser und Erde und wohl auch Luft, bereit zu einem Aufbruch, dessen Richtung „unklar“ bleibt. Weist Junghuhn in der zitierten Passage „vermutlich nach Übersee“, so fragt sich der Erzähler unmittelbar darauf, wie er wohl „nach Mansfeld“ (ebd.), also an den Geburtsort des Geologen und damit an den Ausgangspunkt seiner eigenen Erzählung gelangen könnte. Dieser Widerspruch bleibt ebenso unaufgelöst wie die Metamorphose des schweren Koffers in einen Fetzen Papier, immerhin eine metaphorische „Eintrittskarte“ (ebd.), die allerdings nirgendwo Einlass zu gewähren scheint. Mit dieser Opposition von Ruhe und Bewegung öffnet sich neben dem räumlichen Gegensatz von „Balkon“ und „Übersee“ (Verbrecher, S. 78) auch der Zeithorizont. Wie an kaum einer anderen Stelle in Eis und Schnee wird hier deutlich, in welchem Ausmaß der Text das narrative Zeitkontinuum aufbricht, sodass mitunter der Eindruck entsteht, als stellten die Sprünge rückwärts wie vorwärts auf der Zeitachse nicht nur diskontinuierliche Anachronien dar, sondern als wiesen sie auf eine radikale Achronie hin.23 Begann die Erzählung mit Hinweisen auf Junghuhn in Java 1836, also mit einem damals 27-jährigen Protagonisten, so springt der Text zunächst mittels Prolepse in die Gegenwart, aus der heraus erzählt wird. Von Junghuhn bleibt in Mansfeld nur mehr die „Junghuhngasse“ (ebd.) übrig, außerdem eine „hauslose, lachhafte Tafel“ (ebd., S. 79), ein Hinweisschild, das keinen Zugang zur erinnerten Person Junghuhns eröffnet, weil es „vergeblich bemüht [bleibt], Interesse zu wecken“ (ebd.). Ohnehin ist die Vita des Entdeckers in dessen Heimatstadt nur noch als „Klatsch“ (ebd.) präsent: Junghuhn vermag gegen den ungleich berühmteren Martin Luther (1483-1546), ebenfalls ein Sohn der Stadt, nicht zu bestehen. Unmittelbar darauf springt der Text in umgekehrter Zeitrichtung mittels Analepse zurück zu Junghuhns Selbstmordversuch in Mansfeld 1830 sowie zu seinem un-

23 Vgl. HAMANN, 2008, S. 112. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Zeitordnung der Erzählung – trotz zahlreicher Pro- und Analepsen und einem erzählerischen Verwirrspiel mit propositionalen Setzungen und deren skeptischer Zurücknahme – nicht vollständig aus den Fugen gerät. Vielmehr verdichtet sich der Text bei der Darstellung entscheidender Ereignisse zwischen Junghuhns Jugend in Mansfeld, seinem Studium und anschließenden Javaaufenthalten sowie zuletzt seinem Tod. Diese prägenden Lebensstationen folgen im groben Ablauf durchaus noch linear aufeinander, wenngleich die Kontinuität immer wieder unterlaufen wird, sodass man anstelle einer Alternative von streng chronologischem versus radikal achronischem Erzählen eher von einem anachronischen Spannungsverhältnis innerhalb der Zeitorganisation des Textes sprechen sollte.

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glücklichen Medizinstudium in Halle, wo es im selben Jahr zum fatalen Duell mit dem Kommilitonen Schwoerer kommt. Während Schwoerer sich im echten Leben wie in der Fiktion der Strafverfolgung durch Selbstmord entzieht, wird Junghuhn zu Festungshaft verurteilt, flieht aber im Jahr 1833 aus dem Koblenzer Lazarett über Luxemburg in die französische Fremdenlegion. Bei der Darstellung dieser prägenden Stationen in Junghuhns Leben spielt der Text beständig mit dem Spannungsverhältnis zwischen authentischer Beobachtung und nachträglicher Konstruktion, zwischen Wahrheitsgarantie und Unzuverlässigkeit der in ihrer Perspektive begrenzten Erzählerfigur. 24 Wiederholt thematisiert der Text die unüberwindbare Distanz zwischen Junghuhns Erlebnissen und dem nachträglichen Erzählakt. Einerseits wird ein Wahrheitsprivileg der Erzählerfigur suggeriert, das auf intime Bekanntschaft mit dem Protagonisten zurückzuführen sein soll („Doch ich kenne ihn gut und weiß genau, wie“, Verbrecher, S. 79); andererseits bringt dieselbe Erzählerfigur immer wieder ihre Distanz gegenüber Junghuhn zum Ausdruck. Die narrative Re-Präsentation erscheint hier als eine stets vom Scheitern bedrohte Bemühung um Überbrückung einer Kluft; sie wird als Weg von der Beobachtungsdistanz hin zur Teilhabe am Erzählten inszeniert: „Und wenn ich ihm näher kommen möchte, dann nur, indem ich ein Schiff besteige und später die Berge und mich bäuchlings ganz nah an den Kraterrand schiebe, um endlich zu sehen, was ist.“ (ebd., S. 80). Besonders eindrücklich wird diese Spannung bei der Darstellung von Junghuhns Auseinandersetzung mit dem Kommilitonen Schwoerer im Jahr 1830, die in einer Kneipe beginnt und – nach glimpflich verlaufenem Duell – mit Schwoerers Selbstmord endet. Hier spielt der Text auf hochgradig selbstironische Weise mit der Diskrepanz zwischen simulierter Authentizität und irreduziblem Abstand der Erzählinstanz zum Erzählten. Als mimetisch (handlungsbezogen) wie theoretisch (in ihren Werturteilen) unzuverlässig erweist sich die Erzählerfigur, wenn sie bei der Beobachtung von Junghuhns Streit mit Schwoerer ein authentisches Wissen vorgibt, indem sie selbstsicher und geradezu penetrant darauf hinweist, dabei gewesen zu sein („während ich hinter der Theke stehe“, ebd., S. 80), aber eigentlich nur konventionelle Handlungsschemata, keineswegs die individuellen Vorgänge wiedergibt: „Ich kenne ihr Repertoire genau“ (ebd., S. 81). Zuletzt wird die Perspektivierung des Erzählten noch verstärkt, wenn zum Abschluss der Schwoerer-Passage lakonisch vermerkt wird: „So hat es die Zimmerwirtin erzählt“ (ebd., S. 82), wodurch das zuvor in vermeintlicher Erlebnispräsenz vorgeführte Wissen nachträglich als Beobachtung einer unbeteiligten Person kenntlich gemacht wird. Im Gefolge dieses Fokalisierungswechsels spiegelt die Erzählerfigur dann erneut ihre eigene Unzulänglichkeit, maßgeblich die Gefahr, gegenüber einem sich

24 Vgl. CATANI, 2009, S. 152.

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der Darstellung entziehenden Leben konstitutiv nachträglich zu bleiben. Dieses Eingeständnis verbindet sie mit dringlichen Selbstappellen: „Wenn ich mich jetzt nicht zum Aufbruch entschließe, verliere ich ihn aus den Augen“ (ebd., S. 82) – um dann lakonisch die Folgen des Duells in biografischen Fakten zu resümieren: „Als Gesundheitsoffizier dient er im preußischen Heer, doch an Weihnachten wird er entdeckt und verhaftet, das Geschenk, fest verpackt, lautet zehn Jahre Festung.“ (ebd.).25 Daraufhin dient ihr Junghuhns Flucht aus dem Koblenzer Lazarett in die französische Fremdenlegion als Gelegenheit, nicht nur die eigene Unsicherheit zu beobachten, sondern bei Betrachtung dessen, „was ich für die Grenze halte zwischen dem, was man Deutschland und Frankreich nennt“ (ebd., S. 83), auch geografisch-politische Grenzen als fiktiv zu markieren und in der Überschreitung als fragwürdig darzustellen: Aber was sind schon Grenzen! Aufstehn und Gehn ist das Lieblingsspiel, das Junghuhn und ich schon seit Jahren spielen und das immer einer von uns verliert. Zur Strafe werde ich niemals erfahren, wie er es wirklich angestellt hat, bei Nacht und Nebel von dort zu entkommen. Ob er die Wächter bestochen hat? Mit Geld, mit Wein, mit kleinen Zigarren, deren Rauch immer freundlich himmelwärts geht? Vielleicht hat er auch nur Rapunzel gespielt, ist durch das kleine Fenster gestiegen und hat sich, unrasiert wie er ist, am eigenen Barthaar heruntergelassen, hat den Irren gemimt, sinnlos Arme und Beine geschwenkt, nur um wieder unterwegs zu sein. Denn er spricht nicht und lässt mich im Dunkeln zurück. (ebd.)

Hier dient ein Spiel der Differenzierung, ausgeführt in agonaler Spannung, zur Verhandlung von Grenzen, von denen sich individuelle Identitäten herschreiben. Diese Operation bringt ihrerseits Distanz hervor; damit gehen Unverständnis und Nichtwissen einher; und aus dieser ‚Fremdheit‘ des Unerklärlichen („werde ich niemals erfahren“) entstehen dann Entwürfe alternativer Handlungen, die zwar keinen biografischen Gültigkeitsanspruch erheben können, dadurch aber in ihrer fiktionalen Pluralisierung – ‚war es so, oder nicht doch anders?‘ – den erhöhten Möglichkeitsspielraum der literarischen Erzählung gegenüber dem Korsett biografischer Eindeutigkeit konturieren.

25 Wobei diese Darstellung wiederum einige reale Ereignisse im Leben des historischen Franz Wilhelm Junghuhn entstellt, ohne dass auf diese narrative Um-Schreibung hingewiesen würde: In der historischen (außerfiktionalen) Realität wurde der Duellant bereits vor seiner Militärzeit festgenommen; während er dann auf offizielle Anordnung infolge einer preußischen Mobilmachung als Soldat Dienst tat, wurde er am 9. Juni 1831 zu zehnjähriger Festungshaft verurteilt, die er im Dezember 1831 antreten musste; folglich musste er nicht erst – wie bei Hoppe – im Dienst „entdeckt“ (Verbrecher, S. 82) werden, als hätte er sich dort zuvor versteckt.

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IV. Erst im Anschluss an diese Stelle, etwa in der Mitte der Erzählung, betritt der knapp 25-jährige Protagonist erstmals ostasiatischen Boden. Hier wird erneut, ähnlich wie in den Textabschnitten zum Vater-Preußen-Komplex, die Selbstreflexion über das irreduzible Spannungsverhältnis zwischen authentischem Bericht und nachträglicher Konstruktion mit Beobachtungen zum fragwürdigen Status kultureller ‚Fremdheit‘ verschränkt. In der persönlichen Begegnung erfährt Junghuhn, so interpretiert es die Erzählerfigur, das südostasiatische Land nämlich durchaus nicht als ‚unvertraut‘. Vielmehr präsentiert sich die niederländische Kolonie, namentlich ihre Hauptstadt Batavia (heute Jakarta), dem Abenteurer und Forschungsreisenden als verzerrte Kopie der Heimat. An die Stelle der vermeintlich authentischen Kulturbegegnung tritt ein weitreichendes Konstruktions-, Fiktionalitäts- und Virtualitätsbewusstsein, in deren Gefolge die lang gehegte Hoffnung auf Flucht vor den Dämonen der Vergangenheit ins Leere läuft: „Der Rest des Tages ist dunkel und Batavia eine Attrappe, ein ungesundes Geflecht aus Kanälen, nachgestelltes Kleinamsterdam, fauliges stehendes Wasser der Heimat, in dem alles verdirbt, nur die Mücke gedeiht.“ (Verbrecher, S. 86). Mit dieser Artifizialität unterläuft das innerfiktional reale Batavia nicht nur die Abenteuer- und Entdeckerhoffnung Junghuhns, sondern auch jede exotistische Erwartung potenzieller Leser, und diese Enttäuschung betrifft Junghuhns javanische Reisen überhaupt. Denn an keiner Stelle finden sich in Eis und Schnee Naturschilderungen oder kulturelle Begegnungen, welche die ‚Fremde‘ pittoresk ästhetisieren oder in ihrer archaischen Grausamkeit – Junghuhn erlebte auch Stammesfehden und Kriege – ausmalen würden.26 Vielmehr sind ‚Vertrautes‘ und ‚Fremdes‘ ununterscheidbar geworden, weil Fremdheit in die handlungsrelevanten Figuren und konstellativen Beziehungen eingedrungen und Signum einer dezentralen Erzählung mit unterbrochenem Zeitkontinuum geworden ist. So wird auch das ferne Java in Eis und Schnee von Junghuhns Vergangenheit heimgesucht. Denn mitten hinein in die Erzählung von Junghuhns Ankunft platzt der Revenant Schwoerer. Sein unerwartetes Erscheinen unterbricht nicht nur die chronologische Ereignisfolge, sondern per metaleptischem Sprung zugleich die Distanz zwischen extradiegetischer und diegetischer Ebene. Aus der Handlung heraus baut Schwoerer einen Kontakt zur Erzählerfigur auf und nimmt jenen Platz auf dem Balkon ein, den Junghuhn selbst vor seiner Reise innehatte: „Nacht für Nacht erscheint er auf meinem Balkon, die Kugel im Kopf vom Mondlicht beleuchtet, und erzählt wieder und wieder dieselbe Geschichte“ (ebd.). Mit dieser alten „Geschichte“ drängt sich

26 Insofern ist Christof Hamann zuzustimmen, der konstatiert: „Bei ihren Texten über Meister und Hagenbeck ebenso wie in den anderen Porträts bleibt die Schilderung exotischer Räume tendenziell eher schwach ausgeprägt.“ (HAMANN, 2008, S. 108).

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Schwoerer im weiteren Erzählverlauf mehr und mehr hinein in die Beobachtungen über Junghuhns kartografisch-geografischen Furor und in die weitere Handlung, welche die krankheitsbedingte Rückkehr des Entdeckers ins niederländische Leiden, seine Hochzeit mit Johanna Louise Frederica Koch und die erneute Reise nach Java darstellt. Mit der erhöhten Präsenz im Text wächst auch der Einfluss Schwoerers auf die Erzählerfigur. Zunehmend beschränkt er sich nicht mehr darauf, seine Geschichte zur Sprache zu bringen, sondern vertreibt – ähnlich wie zu Beginn der Erzählung sein Pendant Junghuhn – den Erzähler vom Balkon. So setzt er einen ‚Aufbruch‘ im doppelten Sinne des ‚Sich-in-Bewegung-Setzens‘ wie des ‚AufBrechens‘ von Sinnstrukturen und Handlungsabläufen in Gang: Ich werde für immer die Heimat verlassen, die Küche, den Tee, den Balkon und die Zettel, die Briefe und Karten, den Kompass, das Fernrohr, das Opernglas, mit dem man die Welt nur von weitem betrachtet. Und indem ich die Treppe hinunterfliege, lasse ich alles hinter mir. Ich habe nicht vor, mich umzudrehen, denn ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass oben auf meinem Balkon immer noch Briefträger Schwoerer steht, ein äußerst schlecht ausgeleuchtetes Denkmal, weil die Nacht meiner Flucht völlig mondlos ist, sodass niemand die Kugel im Kopf erkennt. (Verbrecher, S. 93)

So hat Schwoerer in der narrativen Raumkonfiguration die Position der Erzählerfigur eingenommen, die ihrerseits an die Stelle der von Junghuhn verängstigten Träger getreten ist. Dies zeigt sich besonders markant, wenn in charakteristischer Um-Schreibung eine frühe Passage mit veränderten Personalpronomen versehen, aber im Übrigen wortgleich wiederholt wird, sodass Erzählerfigur und javanische Helfer sprachlich miteinander zu verschmelzen scheinen: „Schwer zu sagen, was mich mehr entsetzt, der glühende Berg, die fliegenden Steine oder die haltlose Tatkraft von Junghuhn, die meine Angst auf unheimliche Weise verdoppelt“ (ebd., S. 94, Hvhbg. D. W.). Die veränderte Bezugnahme der Pronomen von den Trägern hin auf die Erzählerfigur, welche die vorliegende Stelle von der ersten Version dieser Szene zu Beginn der Erzählung unterscheidet, wird an den Hervorhebungen im Zitat sichtbar. Eine ähnliche Um-Schreibung prägt auch die Wiederholung der bereits zitierten Balkonszene mit Erzählerfigur und Trägern. Hier steigert sich der Reigen von Positions- und Identitätswechseln weiter: Ich im Schatten, er auf meinem Balkon, zwischen uns nichts als das Meer und mein Ehrgeiz, will keiner von uns den anderen begreifen, und so bleibe ich unter der Asche zurück, die Hände felsenfest auf den Ohren, die Augen geschlossen, mein Körper schon längst kein Körper mehr, nur noch mein flüchtiger Abdruck im Schlamm. (ebd., S. 94f., Hvhbg. D. W.)

War die Erzählung zu Beginn noch auf den Protagonisten Junghuhn ausgerichtet, dessen „Ehrgeiz“ (ebd., S. 76) das Beziehungsgefüge zwischen der Erzählerfigur

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und den Trägern in Verbindung mit dem weiten Meer konfigurierte, ist Schwoerer hier an die Stelle des Narrators und dieser an die Stelle Junghuhns getreten. Wie der Austausch der Personalpronomina erkennen lässt, sind Träger und Junghuhn ganz aus der Figurenkonstellation verschwunden, die sich in eine agonale Konfrontation zwischen Schwoerer und Erzählerfigur verwandelt hat. Zudem treten Gesten der Negation („nur noch“) an die Stelle einer narrativen Vollendung des biografischen Porträts. Gleichsam tritt eine Ästhetik des Verschwindens („flüchtiger Abdruck“) an die Stelle der Bio-Grafie eines vollendeten Lebens. Dies wird jedoch in einer neuerlich überraschenden Textwende nachträglich reperspektiviert und als unmarkiertes Zitat aus Junghuhns hypothetischer Feder ausgewiesen: „So würde es Junghuhn geschrieben haben, und wenn man im richtigen Winkel liegt und mit geschlossenen Augen liest, ist es vielleicht sogar immer noch wahr.“ (ebd., S. 95). Auf dem Gipfel der Identitätskonfusion werden somit Erzählerfigur und Protagonist ununterscheidbar: Junghuhns Flucht ist nun diejenige des Erzählers: Er landet in den Tropen und formuliert sein Fazit von der Vergeblichkeit jeder Wahrheitsfindung, wobei er ununterscheidbar selbst und mit Junghuhns Feder schreibt, auf den die zuvor erzählten Passagen nachträglich fokalisiert werden. Mit dieser metafiktionalen Erzählpoetik, in der supplementäre Figuren einander wechselseitig ersetzen, hat Hoppes Erzählung ihren Höhepunkt an Komplexität erreicht. Junghuhns mehr oder weniger erfolgreiche Chinarindenzucht und sein Tod infolge einer Amöbenruhr spielen nur noch eine untergeordnete Rolle für die erzählerische Sinnstiftung. Am Ende des Textes steht nicht das biografische Ideal einer Vollendung des Lebens in der Schrift, sondern eine Schrift mit Fehlern – ein Grabstein, in den die Lebensdaten Junghuhns falsch eingemeißelt wurden, sodass ihm ein Lebensjahr genommen wird: Ein kleiner unbedeutender Irrtum, vermutlich ohne Verstand und Absicht, nur Eile und Aufbruch und Flucht, Fahrigkeit bei der Durchsicht der Zettel. Unlust der Rekonstruktion, weil auch Fräulein Koch längst begriffen hat, dass es einzig auf Tatkraft ankommt, auf das rasche Werfen von Schrift auf Papier, auf das entschiedene Packen der Koffer und auf die Reise zurück in die Heimat [.] (ebd., S. 97f.)

Auch die eigene Ehefrau kennt Junghuhn somit nicht wirklich. Er bleibt ihr unvertraut, wenn nicht gar Gegenstand der Abgrenzung durch „Flucht“. Zugleich wird in dieser Passage, die jene bereits zitierte Poetologie der „Zettel“ vom Anfang des Textes umschreibt, das Verhalten der Ehefrau nach Junghuhns Tod in denselben Worten („Tatkraft“, „Fahrigkeit“ etc.) beschrieben, mit denen eingangs der Erzählung ein unbestimmter, aber als Junghuhn identifizierbarer „[J]emand“ zur Figur diffuser Gesten bestimmt wurde. Auf diese Weise gerät der pompöse Sinnstiftungsversuch, mit dem der Mansfelder Gedenkstein in Majuskeln den „HUMBOLDT VON JAVA“ (ebd., S. 98, Hvhbg. i. Orig.) zu feiern beansprucht, ungewollt zur

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Farce. Mit dem eigenwilligen Abenteurer lässt sich kein Erinnerungsmythos stiften, der von Harzer Tourismusbüros verwertet werden könnte. Übrig bleibt am Ende des Textes nur eine „lachhafte Tafel“ (ebd.), angesichts derer auch einer Erzähldynamik des „rasche[n] Werfen[s] von Schrift“ (ebd.) die Worte ausgehen, ohne an ein Ende gekommen zu sein. Dieser ausbleibende Abschluss stellt allerdings kein Defizit dar, sondern gehört zum innovativen Potenzial von Hoppes Poetik der Verfremdung, deren Konturen der vorliegende Beitrag in einer Detaillektüre von Eis und Schnee nachgezeichnet hat. Wie die übrigen Porträts aus dem Band Verbrecher und Versager, deren Erzählstrukturen dem hier analysierten Verfahren stark ähneln, geht auch dieses „Porträt“ – so die selbstgewählte Genrebezeichnung – geradezu paradigmatisch neue Wege biografischen Schreibens. In einem virtuosen Spiel temporaler Brüche und metaleptischer Sprünge bricht ihre metafiktionale Poetik mit narrativer Diskontinuität jede Vorstellung einer festgefügten Identität des erzählten Objekts wie des erzählenden Subjekts auf. Ausdrücklich verweigert Hoppe die Bemühung konventioneller Biografien, eine solche Einheit narrativ herbeizuschreiben, wenn sie kausale Erklärungsmuster wie etwa das pseudo-psychologische Vater-Sohn-Modell entwirft und zugleich problematisiert. Indem Junghuhn als mäandernder, zielloser Grenzgänger zwischen Mansfeld und Batavia porträtiert wird, unterläuft der Text überdies gängige Identitäts- und Alteritätskonstruktionen des Reise- und Entdeckungsromans. An die Stelle kultureller wie personaler Territorien mit klaren Grenzen treten Möglichkeitsräume des anders Eigenen und fremd Vertrauten, welche in einer so komplex gefügten wie spielerisch offenen Erzählpoetik erkundet werden. Zur Eigenheit von Hoppes Erzählstil gehört zudem, dass sie nahezu vollständig auf eine bildreiche Schilderung exotischer Landschaften in außereuropäischen Kulturen verzichtet.27 Von zeitgenössischen Abenteuerromanen wie etwa Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006), die mit Vorliebe bunte Tableaus fremder Welten entwerfen, unterscheidet sich ihre Prosa durch eine selbstreflexive Wendung des Blicks auf die Schnittstellen der narrativen Konstruktion, deren Brüche und Widersprüche metafiktional inszeniert und lustvoll ausgestellt werden.

27 Vgl. HAMANN, 2008, S. 108.

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L ITERATUR Primärliteratur HOPPE, FELICITAS, Verbrecher und Versager. Fünf Porträts, Frankfurt a. M. 2006 [2004]. DIES./HAMANN, CHRISTOF, „Weshalb ich, was Junghuhn betrifft, nichts als eine flüchtige Bekanntschaft bin.“, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von C. H./ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 227-237. Sekundärliteratur BLUMENBERG, HANS, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979. CATANI, STEPHANIE, Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur, in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis 5), hg. von CHRISTOF HAMANN/ALEXANDER HONOLD, Göttingen 2009, S. 143-168. GOETHE-INSTITUT JAKARTA (Hg.), Forschen – vermessen – streiten. Franz Wilhelm Junghuhn (1809-1864), Berlin 2010. GRUB, FRANK THOMAS, Suchbewegungen. Felicitas Hoppe im Spiegel der Literaturkritik, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/ MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 69-88. HAMANN, CHRISTOF, „Um die Wahrheit zu sagen …“ Felicitas Hoppes Reisen mit Verbrechern und Versagern, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 105117. HOLDENRIED, MICHAELA, „Mit leichter Hand vom Hier in das Nichts“ – Safari. John Hagenbeck (1866-1940), in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von STEFAN NEUHAUS/MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008. S. 119131. JUNGHUHN, FRANZ WILHELM, Java, seine Gestalt, Pflanzendecke und innere Bauart, Leipzig 1852. MÜNKLER, HERFRIED/LADWIG, BERND, Einleitung. Das Verschwinden des Fremden und die Pluralisierung der Fremdheit, in: Die Herausforderung durch das Fremde (Forschungsberichte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der

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Wissenschaften 5), unter Mitarb. von KARIN MESSLINGER und B. L. hg. von H. M., Berlin 1998, S. 11-25. NEUHAUS, STEFAN, „Damen und Herren, die Wahrheit, was ist das?“ Zur Konstruktion von Identität in Felicitas Hoppes Texten, in: Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Angewandte Literaturwissenschaft 1), hg. von DEMS./MARTIN HELLSTRÖM, Innsbruck u. a. 2008, S. 39-53. POLASCHEGG, ANDREA, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35), Berlin/New York 2005. SCHÜTTE, HEINZ/STERNAGEL, RENATE, Der Naturforscher Franz Wilhelm Junghuhn (1809-1864). Zur 200sten Wiederkehr seines Geburtstages, Leipzig 2009. STERNAGEL, RENATE, Der Humboldt von Java. Leben und Werk des Naturforschers Franz Wilhelm Junghuhn 1809-1864, Halle 2011. TODTENHAUPT, MARTIN, „Vom traurigen Hier in ein düsteres Nichts“ – Aspekte des Mythos ‚Heimat‘ in Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager, in: Mythisierungen. Entmythisierungen. Remythisierungen (Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 4. Perspektiven 1), hg. von EDGAR PLATEN/DEMS., München 2007, S. 53-66.

Auto(r)fiktionen Metaisierung als Wechsel narrativer und sozialer Frames am Beispiel von Felicitas Hoppes Hoppe (2012) F LORIAN L IPPERT

P ROLOG : M ONTESQUIEUS S OZIALTHEATER In der 28. Depesche der Lettres Persanes (1721) lässt Charles de Montesquieu (1689-1755) den Perser Rica staunend von seinem ersten europäischen Theaterabend berichten, einem Besuch der Comédie Française: Gestern sah ich etwas ganz merkwürdiges, obwohl es in Paris täglich merkwürdiges zu sehen gibt. Eine Menge Volks versammelt sich gegen Abend und führt etwas auf, das ich ‚Schauspiel‘ habe nennen hören. Die Hauptsache spielt sich auf einer Plattform ab, die man Bühne nennt. Zu beiden Seiten sieht man in kleinen Vertiefungen, die Logen heißen, Leute, die stumme Szenen spielen, ungefähr so, wie es bei uns in Persien üblich ist. Hier schmachtet eine verlassene Geliebte, dort verschlingt eine höchst lebhaft ihren Geliebten, der das gleiche tut, alle Leidenschaften zeichnen sich auf den Mienen ab und finden, wenn auch stumm, den beredtesten Ausdruck. Unten gibt es einen Haufen stehender Leute, die sich über die lustig machen, die oben auf der Plattform sind, und diese wiederum lachen über die, die unten sind. […] Schließlich begibt man sich in Säle, wo eine ganz eigenartige Komödie gespielt wird: zuerst verbeugt man sich, dann umarmt man sich. Offenbar hat jeder, der einen anderen auch nur ganz flüchtig kennt, das Recht, ihn zu ersticken.1

Was Montesquieus Text einerseits für viele Zeitgenossen lesens- und andererseits für die Autoritäten zensierenswert machte, war vor allem sein bloßstellender Blick auf das Gesellschaftsleben des Grand Siècle. Was die zitierte Passage demgegenüber für die Soziologie des 20. Jahrhunderts fruchtbar macht, namentlich für Erving

1

MONTESQUIEU,1988 [1721], Brief 28.

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Goffmans (1922-1982) Konzept des Rahmens, zeigt ein Blick auf die entsprechende Motivik gesellschaftlicher Rahmungen und Rollen in den Lettres. Mit seinem protophänomenologischen Blick entlarvt der fiktive Briefschreiber Rica das buchstäbliche Rollenspiel der haute société als Sozialtheater, das in seiner Künstlichkeit geradezu künstlerisch anmutet. Dass Rica als unbeteiligter Beobachter nicht zwischen gesellschaftlicher und dramatischer Aufführung, also zwischen sozialer Realität und Fiktion unterscheiden kann, ist zunächst natürlich ein literarischer Kniff des Aufklärers Montesquieu, der dem Leser eben jene Theatralität des Sozialen satirisch verdeutlicht. Zugleich verleiht dieser Kunstgriff dem Werk selbst, den Perserbriefen in ihrem realen Erscheinungskontext, einen Teil jener Brisanz, die in der Zensur mündete. Indem die Satire also (unter anderem) Kunst und soziopolitische Realität gleichsetzt, wird aus dem Kunstwerk selbst ein Politikum. Gesellschaftliche Regelsetzungen und Grenzziehungen, die Goffman als soziale Rahmungen (frames) beschreibt, werden im Briefroman inhaltlich verdeutlicht und – in einer Art performativem self-fulfillment – durch denselben zugleich versuchsweise überschritten. Im Falle Montesquieus ist dieses Rahmenspiel, ausgehend vom Theatralischen im Alltäglichen, nur einer von vielen Aspekten aufklärerischer Provokation. Felicitas Hoppes fiktionale Biografie Hoppe (2012) soll demgegenüber im Folgenden als Text vorgestellt werden, der das Spiel mit gesellschaftlichen und literarischen frames zu einem zentralen Gestaltungselement erhebt und hierbei seinerseits eine ähnliche Bewegung zu vollziehen scheint. Die Kompromittierungen sozialer Erwartungsrahmen gegenüber Autorschaft und Autorperson, literarischer Fiktionalität und außerliterarischer Realität sowie zwischen Roman und Biografie lassen sich dabei als ,Sprünge‘ zwischen verschiedenen ,Rahmungen‘ beschreiben. Die zentrale Frage, ob moderne Ästhetik Einfluss auf die ‚wirkliche Welt‘ nehmen kann, beantwortet Hoppe somit einerseits durch eine Art Rückeroberung und Wiederverrätselung der allzu ‚öffentlich‘ gewordenen Autorinstanz und -biografie und andererseits durch ein Lektüreangebot, das den Leser in produktive Distanz zu gängigen Rahmungen setzen soll. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Formen der literarischen Selbstthematisierung. Zunächst sollen zu diesem Ziel einige Aspekte der Goffman’schen Soziologie kurz rekapituliert werden.

E RVING G OFFMANS K ONZEPT

SOZIALER

R AHMUNGEN

Goffman, einer der wichtigsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts, beeinflusste seit den 1960er Jahren verschiedenste gesellschaftswissenschaftliche Diskurse. In Deutschland wurde sein Konzept sozialer Interaktion später unter an-

A UTO ( R ) FIKTIONEN

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derem ein wichtiger Bezugspunkt für Niklas Luhmann (1984). 2 In seinem im Jahr 1974 publizierten Buch Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience schlägt Goffman eine Beschreibung sozialer Erfahrungen vor, die auf dem Vergleich zwischen gesellschaftlichen Rollenmustern und dem Rollenkonzept des abendländischen Illusionstheaters basiert. Dabei bleibt der Autor keinesfalls bei alltagssprachlichen Gemeinplätzen stehen, sondern exerziert die buchstäbliche Reflexion präzise durch, gleichsam von der Spiegeloberfläche rückwärts schreitend – der Vergleich beginnt tatsächlich im Theatersaal: Ebenso wie zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle als Figur kann laut Goffman auch zwischen dem Theaterbesucher und seiner Rolle als Zuschauer unterschieden werden. Der Theaterbesucher sei derjenige, der die Eintrittskarten kaufe, zu spät oder pünktlich komme und sich beim Hervorrufen nach der Aufführung betätige. Ganz anders indes der Zuschauer: Er macht bei dem Unwirklichen auf der Bühne mit. Er nimmt mitfühlend und sich identifizierend an der unwirklichen Welt teil, die durch die dramatischen Verwicklungen zwischen den Gestalten des Stücks entsteht. Er überläßt sich ihr. Er wird auf das kulturelle Niveau der Gestalten und Probleme des Autors gehoben (oder herabgezogen), er hört Anspielungen, die ihm nicht ganz verständlich sind, nimmt Eheprobleme zur Kenntnis, die er nicht ganz verdauen kann, verschiedene Lebensstile, die ihm etwas fremd sind, und funkelnden Dialog, der dem Sprechen eine Rolle verleiht, die man ihm in der wirklichen Welt nicht recht zubilligen könnte.3

Besonders deutlich zeigt sich die Differenz Goffman zufolge etwa am Beispiel des Lachens: Über eine Aufführungspanne lache der Theaterbesucher, über eine gelungene Pointe der Zuschauer. Bei aller Berechenbarkeit des Letzteren sei es aber natürlich bedeutsam, dass sein Handeln – im Gegensatz zu demjenigen des Schauspielers als Figur – keine Simulation von Wirklichkeit sei. Im Kontext seines differenztheoretischen Modells gesellschaftlicher Rahmungen tendiert Goffman vielmehr zur gegenteiligen Annahme: „Das Zuschauen außerhalb des Theaters ist kein Vorbild des Zuschauens im Theater; eher gilt das Umgekehrte.“ 4 Diese überraschende Wendung ist symptomatisch für die allgemeine Auffassung von sozialem Rollenverhalten, die Goffman anhand seines Theaterbeispiels entwickelt: Wie im Theater, so gebe es in nahezu jeder sozialen Interaktion ein Framing – wenngleich zumeist ein weniger bewusstes – das insbesondere die Erfahrung des Einzelnen entscheidend bestimme. Die (buchstäblichen) Rahmenbedingungen jedweder Situation sind demnach maßgeblich für den Sinn, der ihr zu-

2

Vgl. etwa LUHMANN, 1984, S. 564.

3

GOFFMAN, 1980, S. 149.

4

Ebd., S. 150.

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erkannt wird: Indem wir beispielsweise ein Geschehen als Theateraufführung oder etwa als Streit rahmen, weisen wir ihm einen spezifischen Sinn zu. Zentral ist dabei, dass zwei äußerlich identische Vorgänge völlig verschieden interpretiert werden, je nachdem, in welchem Rahmen sie verortet werden – ein echter Streit löst selbstverständlich ganz andere Reaktionen aus als einer, von dem wir wissen, dass er etwa als spaßhaftes Ritual unter Freunden geschieht (auch wenn die Handlung jeweils exakt die gleiche ist). Leidenschaftliche Umarmungen in der Loge werden anders wahrgenommen als solche auf der Bühne (es sei denn, man ist mit den unterschiedlichen Rahmen nicht vertraut). Kurz: Wir sind in hohem Maße gewohnt, Situationen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Rahmung zu beobachten und zu beurteilen, wie eben ein Theaterzuschauer das im Theater Gezeigte auf eine spezifische Art beobachtet und beurteilt – allerdings in der Regel weniger bewusst. Vor diesem Hintergrund lässt sich das eingangs erläuterte Montesquieu-Beispiel zunächst als eine Doppelrahmung (oder systemtheoretisch: als Beobachtung dritter Ordnung) beschreiben: Im literarischen Text wird vorgeführt, was eine Gesellschaft aufführt, die ihrerseits eine (Theater-)Aufführung inszeniert. Die Reaktion des Zensors wurde dabei vermutlich von dem Wissen beeinflusst, dass es sich nicht um das authentische Zeugnis eines persischen Reisenden handelt, sondern um die fiktionale Persiflage eines französischen Aufklärers mit kritischem Impetus. Die Ahnungslosigkeit des (fiktiven) Briefeschreibers bezüglich der sozialen Rahmen (des Rollenverhaltens der ihn umgebenden Gesellschaft) dient Montesquieu zur (realen) Subversion und Infragestellung ebenjener Rahmen und bedingt eine sehr reale Reaktion des Zensus. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass die Infragestellung gerade anhand eines Vergleichs mit dem Theater, also einer gesellschaftlich akzeptierten Form der Fiktionalisierung, geschieht – eine Bewegung, die sich somit als ,chiastisch‘ bezeichnen lässt. Eine ähnliche Bewegung kennzeichnet, wie im Folgenden zu zeigen ist, auch Felicitas Hoppes Roman Hoppe.

V ON H OPPE ZU H OPPE . S PRÜNGE UND R OMAN

ZWISCHEN

B IOGRAFIE

Beginnen wir mit einer rudimentären Übersicht über die Ebenen des Romangeschehens: 1. 2.

Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe schreibt einen Roman, der die Form einer Künstlerbiografie hat. Als Biografin und Erzählerin fungiert darin eine philologisch bewanderte und mit ihrem Sujet vertraute Chronistin, die sich den wissenschaftlichen Konventionen entsprechend selbst meist im Hintergrund hält; zuweilen tritt sie zum

A UTO ( R ) FIKTIONEN

3. 4.

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Vorschein, wenn sie ergänzte Zitate oder Zusatzinformationen mit dem Kürzel ,fh‘ zeichnet. Die Person, deren Leben dargestellt wird, ist ein heranwachsendes Mädchen (später eine junge Frau) namens ,Felicitas Hoppe‘, das (sich) schließlich innerhalb der Handlung gerne Teile des eigenen Lebens neu erfindet, sich also seinerseits ein fiktives Mädchen namens ,Felicitas Hoppe‘ ausdenkt.

Aus narratologischer Sicht ließe sich diese Übersicht noch weiter differenzieren: Zwischen den Ebenen 1 und 2 könnte man etwa noch den ,Modell-Autor‘ verorten – jene Instanz, die Umberto Eco zufolge immer dann zum Tragen kommt, wenn vom Text auf ,Aussagen‘ des Autors rückgeschlossen wird, und die keineswegs mit dem ,realen‘ Autor identisch ist.5 Daran anschließend ließe sich hier auch über den komplexen Begriff des implied author diskutieren, den Wayne C. Booth im Zuge seiner Beschreibung des unreliable narrator entwickelt hat, ohne ihn indes abschließend zu definieren.6 In Hoppe wird auf diese Instanzen (also auf unser Bild von der realen Autorin, das der Text evoziert) durch die oben dargestellte Auffächerung beständig angespielt; einstweilen konzentrieren wir uns jedoch auf jene Ebenen, die im Buch explizit benannt sind. Auf die durch Zuschreibungen konstituierte ‚implizierte‘ beziehungsweise ‚Modell-Autorin‘ komme ich am Ende zurück.7 Markant ist zunächst, dass die Figur der letztgenannten Ebene 4 – jene alternative Identität, die sich die junge Felicitas (Ebene 3) gelegentlich ausdenkt – trotz ihres mehrfachen Eingefasstseins zuweilen mehr mit der ,echten‘ Felicitas Hoppe (Ebene 1) gemein hat, als dies etwa bei der ‚näheren‘ jungen Felicitas (Ebene 3) der Fall ist. So verfügt die Figur auf Ebene 4 beispielsweise über vier Geschwister, während die junge Felicitas (Ebene 3) gar keine Geschwister hat, wie uns ,fh‘ (Ebene 2) versichert; die Autorin (Ebene 1) hat indes tatsächlich vier Geschwister (was wir nur wissen können, wenn wir jenseits des Textes recherchieren).8 Die Figur auf Ebene 4 scheint also gleichsam aus jenem fiktionsregulativen Rahmen zu springen, der suggeriert, dass die Fiktion stets ‚erfundener‘ sei als die Realität. Konterkariert wird somit etwas, das man als ‚Dominanzerwartung‘ an das Verhältnis zwischen Beschreibender und Beschriebener beziehungsweise zwischen Erfinderin und Erfundener bezeichnen könnte. Um dies zu beobachten, müssen wir freilich einerseits

5 6

ECO, 1990, S. 74-79. BOOTH, 1983. Für eine grundlegende Diskussion der Problemfelder des Begriffs und seiner vielfältigen Verwendung vgl. KINDT/MÜLLER, 2006.

7

Das Modell des implied author diskutiert als analytische Kategorie in Hoppe auch Antonius Weixler in diesem Band.

8

Eine weitere fiktive Eigenschaft wäre etwa die souveräne Mehrsprachigkeit der Figur der jungen Felicitas (Ebene 3), die Dirk Weissmann in den Fokus seiner Analyse stellt.

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die fiktive Welt, in der die Biografin ,fh‘ (Ebene 2) von ,Felicitas‘ (Ebene 3) berichtet, ‚ernst nehmen‘, das heißt wir müssen uns gemäß Samuel Taylor Coleridges (1772-1834) klassischer Formel willing suspension of disbelief als Leser dem ‚poetischen Glauben‘ an das Geschilderte hingeben. Dann erfahren wir, dass etwa im Fall des Geschwisterbeispiels die alternative Felicitas (Ebene 4) ‚realer‘ ist als die sie erfindende (Ebene 3). Andererseits müssen wir, um diese Feststellung zu treffen, einen Vergleich mit der realen Autorin (Ebene 1) vornehmen: Wir müssen zwischen beiden Realitäten hin- und herspringen, indem wir eine Verbindung zwischen Felicitas Hoppe und ihren verschiedenen romaninternen ‚Versionen‘ herstellen, die nicht im Romanhaften, sondern im biografischen Moment des Textes gründet, aber zugleich über einen konventionellen ‚Biografismus‘ hinausgeht. Was heißt ,hinausgehen‘? Zunächst scheint der Roman ja weit weniger über sein Sujet preiszugeben als eine herkömmliche Biografie.9 Ein weiteres Beispiel für einen Ebenensprung ist diesbezüglich etwa Felicitasʼ Geständnis (Ebene 3) ihrer „schreckliche[n] Neigung, die Dinge falsch nachzuerzählen“ (Hoppe, S. 76). Während ,fh‘ (Ebene 2) als gewissenhafte Chronistin solch ein Verhalten weit von sich weisen würde, darf man es der Autorin (Ebene 1) wohl guten Gewissens attestieren. ,Falsch nacherzählt‘ wird hier in der Tat sehr vieles. Dieses zweite Beispiel eines Rahmensprungs verweist selbstreflexiv auf ein zentrales Gestaltungselement des Romans. Und genau hierin besteht die Überlegenheit gegenüber gängigen Formen des Biografischen: Bei Hoppe kann sich das ,richtige‘ (biografische) Leben auch erst im ,falschen‘ (romanhaften) wiederfinden; das ist sogar ein leitendes Gestaltungsprinzip des Textes. Anstatt Biografie in standardisierte Forme(l)n des Biografismus zu zwängen, lässt Hoppe sie gleichsam ,wuchern‘ – über alle Erzählebenen hinweg. Die Wahrheit über die Autorin, so ließe sich an dieser Stelle zwischenbilanzieren, kann sich auf jeder Ebene der Narration offenbaren – auch ,erst‘ in einer (motivischen) Erfindung einer Erfindung einer Erfindung.

9

Man denke hier etwa an Wilhelm Diltheys (1833-1911) klassische sozialgeschichtliche Formel, derzufolge die Biografie grundsätzlich ein „Individuum“ faktengetreu darzustellen habe, und zwar hinsichtlich dreier zentraler Momente: „sein[es] Lebensverlauf[s], [der] Bedingungen desselben und seine[r] Wirkungen“. Die Wechselwirkungen zwischen dem Individuum und seinem sozialen Umfeld ließen sich demnach als „Urzelle der Geschichte“ begreifen und die Biografie als „die literarische Form des Verstehens von fremdem Leben“ (DILTHEY, 1965, S. 246f.). Wie Helmut Scheuer aufzeigt, ist Dilthey dabei insbesondere bestrebt, (Geschichts-)Wissenschaft und Literatur miteinander zu versöhnen (vgl. SCHEUER, 1979, S. 83f.). Bei Hoppe teilt sich demgegenüber, wie gesehen, das vermeintlich Unteilbare In-dividuum gleich mehrfach, und alle drei zentralen Momente sind mit Fiktion durchsetzt.

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Für entsprechende Rahmensprünge lassen sich zahlreiche weitere Beispiele im Text finden. Um sie näher zu untersuchen, kann auf Begriffe aus verschiedenen Theoriekontexten zurückgegriffen werden. Augenfällig ist etwa der mise en abymeCharakter, wie ihn André Gide (1869-1951) beschrieben hat.10 In Hoppe kommt er in seiner ganzen Doppeldeutigkeit zum Tragen, als Wappen im Wappen (abîme) und zugleich als potenziell unendlicher Abgrund (abyme) der Verschachtelung, denn natürlich spräche angesichts der skizzierten Anlage des Romans prinzipiell wenig dagegen, dass die alternative Felicitas (Ebene 4) weitere Ebenen eröffnen könnte (und wir dadurch eventuell weitere Wahrheiten über die Autorin erfahren würden). Weiterhin ließe sich die Terminologie aus dem Feld der Metaisierung anwenden.11 Insbesondere ist hier das Kernkonzept der Metanarration zu nennen, worunter erzählerische Kommentare zum Wesen des Erzählens – wie etwa das oben angesprochene Geständnis der jungen Felicitas (Ebene 3) – subsumiert werden. Hiervon zu unterscheiden12 ist die Definition von Metafiktion im Sinne des Anglisten Werner Wolf:13 Als Verweis auf die Fiktionalität des Romans Hoppe ließe sich etwa der oben beschriebene Bruch mit der ,Dominanzerwartung‘ beschreiben. Ein drittes Konzept aus diesem Bereich wäre schließlich der Begriff der narrativen Metalepse nach Gérard Genette.14 Hinsichtlich der bereits angesprochenen Biografiethematik in Hoppe könnte man schließlich die Anwendbarkeit des Begriffs der Autobiografiction überprüfen, wie ihn der Anglist Max Saunders benutzt.15 Einerseits simuliert der Text lediglich, eine Biografie zu sein, während er tatsächlich ein Roman ist. Andererseits strotzt die Narration derart vor faktischen biografischen Details, dass der Roman seiner Autorin den Vorwurf der Koketterie einbrachte.16 Die Besonderheit besteht darin, dass wir die ,biografischen‘ Details der Figur als biografische Details der realen Autorin lesen müssen, um dem Roman als Roman gerecht zu werden. Eine vertiefende Analyse mithilfe der soeben vorgestellten Begriffe würde in narrativer oder fiktionstheoretischer Hinsicht vermutlich präzisere Angaben ermöglichen als die hier vorgeschlagene Parallelführung mit Goffmans soziologischem Konzept des Rahmens und der Rede vom Rahmensprung. Der Vorteil dieses Kon-

10 Vgl. GIDE, 1951, S. 41. 11 Vgl. HAUTHAL u. a., 2007. 12 Zur grundlegenden Unterscheidung siehe auch NEUMANN/NÜNNING, 2012. 13 Vgl. WOLF, 2004, S. 447f. 14 Vgl. GENETTE, 2004. Zu Genettes klassischem Beispiel, dem Aufeinandertreffen von Romanfiguren und ihrem Autor im Roman, komme ich unten ausführlich. 15 Vgl. SAUNDERS, 2010. 16 Vgl. HAGE, 2012, S. 133.

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zepts besteht indes darin, dass es einen deutlicheren Übergang zu einem Thema ermöglicht, das in den bisherigen öffentlichen Diskussionen um den Roman und um die Büchnerpreisverleihung immer wieder angesprochen worden ist: der großen Frage nach möglichen gesellschaftlichen Funktionen von Literatur, Biografie und Autorschaft heute. Was sich nämlich in der besonderen Verschränkung von Roman und Biografie in Hoppe manifestiert, lässt sich in ähnlicher Weise als Selbsterfüllung beschreiben wie die literarischen Provokationen Montesquieus: Auch dieser Text inszeniert eine Überschneidung von Fiktion und Realität und sorgt zugleich dafür, dass sie von der anderen Seite – gleichsam spiegelverkehrt – vollzogen wird. Er fiktionalisiert die reale Autorin gleich dreifach und bedingt genau dadurch eine Realisierung (im doppelten Sinne: Bewusstwerdung und Realitätsabgleich) der Fiktion auf Seiten des Lesers, der die Verbindung zur realen Autorin herzustellen hat. „Erzählt wird“, um an dieser Stelle eine treffende Formel Brigitte Kronauers (*1940) aufzugreifen, „mit dem blanken Leben selbst“.17 Der Effekt dieses Verfahrens wird deutlicher, wenn es mit anderen Formen der Autorfiktion verglichen wird.

V ON H OPPE ZU H OPPE . AUTO ( R ) FIKTIONEN UND DIE G RENZEN DER KLASSISCHEN M ETAISIERUNG Selbstthematisierende Romane im Allgemeinen (Autofiktionen) und das Auftauchen des Autors oder seines Alter Ego im Roman im Besonderen (Autorfiktionen) sind zweifelsohne wichtige Bestandteile der literarischen Moderne. In der Forschung ist dabei verschiedentlich betont worden,18 dass der vermeintliche Bruch der Erzählgrenzen, wie er auf den ersten Blick etwa bei der Konfrontation einer fiktiven Figur mit dem realen Autor zu geschehen scheint, diese Grenzen tatsächlich verstärkt: Der literarische Text produziert ein Paradox und disqualifiziert sich damit zunächst einmal in gewisser Weise selbst – wir können ihm nicht auf dieselbe Art ,glauben‘, wie wir beispielsweise einer Biografie ‚glauben‘. Das bekannteste Beispiel ist Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605/16): Im zweiten Romanteil beginnen die Paradoxien bei Quijotes Motivation zum erneuten Ausritt, die bekanntermaßen im brennenden Wunsch besteht, den Autor des ersten Teils zu widerlegen, der Sancho und ihn als Witzfiguren dargestellt hatte; sie setzen sich fort in des Ritters Zeugenschaft bei der Drucklegung der eigenen Abenteuer; und sie münden in der Begegnung Quijotes mit Romanfiguren, die ursprünglich

17 KRONAUER, 1987, S. 33. Kronauer gebraucht die Formulierung in Bezug auf Hugo von Hofmannsthals Erzählung Das Märchen der 672. Nacht (1895). 18 Zuletzt etwa von BUNIA, 2007, S. 142f., S. 170f. Siehe hierzu auch LIPPERT, 2012, Abs. 23.

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Cervantes’ Schriftstellerkonkurrent Francisco de Avellaneda (um 1625-1684) für seine unautorisierte Fortsetzung ersonnen hatte und die nun von Quijote eine hochambivalente Lehrstunde in Sachen Plagiat erhalten.19 Laut Michel Foucaults vielzitierter Analyse nimmt Cervantes mit derlei metapoetischen Verschiebungen jenes „Denken des Draußen“20 vorweg, das die Literatur des 20. Jahrhunderts bestimmen wird: den Wunsch nach einem Sprechen, das von keinerlei diskursiven Zwängen geprägt ist. Zugleich verschließen sie sich auch, indem sie demonstrieren, was nur im literarischen Sprechen möglich ist – um den Preis eines bestimmten Wirklichkeitsbezugs. In diesem Sinn definiert Foucault die Rolle der Literatur anhand einer internen Beziehung: Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romans […] hat Don Quichotte seine Realität eingenommen. […] Die Wahrheit Don Quichottes liegt nicht in der Beziehung der Wörter zur Welt, sondern in jener kleinen und beständigen Beziehung, die die Sprachmarkierungen zwischen einander weben. Die getäuschte Fiktion der Epen ist zur darstellenden Kraft der Sprache geworden. Die Wörter haben sich über ihrer Zeichennatur verschlossen.21

Damit lässt Cervantes’ metapoetisches Spiel auch die allgegenwärtige Grenze zwischen der Autorposition und -fiktion nicht nur unangetastet, sondern verstärkt sie noch. Das ,Meta‘ der Metaisierung wäre hier also gerade nicht im Sinne einer übergeordneten Position oder Übertretung, sondern – entsprechend einer seiner anderen etymologischen Facetten – vielmehr im Sinne eines Zwischen begreifbar. Dass nun gerade dieser Nicht-Bruch der Grenze einen besonderen Effekt auf der anderen Seite, derjenigen der Leser, haben kann, hat Jorge Luis Borges (18991986) als „[p]artielle Zauberei im Quijote“ beschrieben: Warum beunruhigt es uns, dass Don Quijote Leser des Quijote, Hamlet Zuschauer des Hamlet ist? Ich glaube, die Ursache gefunden zu haben. Derlei Vertauschungen legen nahe: Wenn die Figuren einer Fiktion Leser oder Zuschauer sein können, so können wir, ihre Leser oder Zuschauer, fiktiv sein.22

Man muss Borges’ (hier eher ‚magischen‘ als ,realistischen‘) Überschwang nicht beim Wort nehmen, um seinem Verweis auf den grundlegenden rezeptiven Effekt beizupflichten. In Goffman’scher Terminologie lässt er sich folgendermaßen reformulieren: Die grundlegende Erwartung an den Roman ist, dass er einen Rahmen

19 Siehe ausführlich LIPPERT, 2013, S. 114-118. 20 FOUCAULT, 1979. 21 FOUCAULT, 1974, S. 80. 22 BORGES, 1989, S. 47. Übers. F. L.

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setzt, innerhalb dessen Fiktion stattfindet; in der Fiktion können sehr viele Dinge thematisiert werden, so auch andere Rahmen. Wird nun aber suggeriert, dass einer der thematisierten Rahmen mit dem gesetzten identisch ist, so erscheint das ‚Außerhalb‘ des gesetzten Rahmens (der ‚Ort‘, an dem sich der Leser befindet) zugleich als dessen ‚Innerhalb‘. Dieses grundlegende Muster lässt sich im Verlauf der literarischen Moderne (wie sie laut Foucault durch den Quijote vorweggenommen wird) in einer Vielzahl von Autorfiktionen finden, im spanischen Modernismo eines Miguel de Unamuno (Niebla, 1914) ebenso wie in der nordamerikanischen Postmoderne, etwa bei Philip Roth (Operation Shylock, 1993) oder Paul Auster (City of Glass, 1985). Anders als der Romanrahmen bedingt der Rahmen des Autobiografischen im Normalfall die Annahme, dass der reale, außerhalb des Rahmens existierende Autor zugleich innerhalb des Rahmens thematisiert wird, ja sogar im Mittelpunkt steht – um den ,Preis‘ der Fiktionalität, wie etwa Helmut Koopmann betont. 23 Auch diese Regeln lassen sich auf verschiedene Arten außer Kraft setzen – wie etwa bei Gertrude Stein (The Autobiography of Alice B. Toklas, 1933), John M. Coetzee (Boyhood. Scenes from Provincial Life, 1997) oder, aus der entgegengesetzten Richtung, in gefälschten Biografien wie Misha Defonsecas überaus erfolgreichem Misha: A Mémoire of the Holocaust Years (1997).24 Als Roman, der auf die oben geschilderte Art mit autobiografischen Versatzstücken arbeitet, verstößt Hoppe hinsichtlich beider Bereiche gegen die Regeln. Die bisherigen Beobachtungen zur Selbsterfüllung lassen sich somit bezüglich ihres Effekts präzisieren: ,Sprünge‘ gibt es sowohl zwischen Innerem und Äußerem des Rahmens als auch zwischen den unterschiedlichen Rahmungen Roman und Autobiografie. Ein wahrhaftiges Durchbrechen kann freilich auch hier nicht stattfinden (Wie sähe es aus?), ebenso wenig verharrt der Text indes bei einer bloßen Betonung der Rahmen. Vielmehr ermöglicht er, wie abschließend zu zeigen ist, die Reflexion über einige grundlegende Voraussetzungen von Rahmungen per se.

I NNEN

ODER

AUSSEN ?

Was also ist das Besondere an Hoppe im Vergleich zu anderen Autorfiktionen einerseits und autobiografischer Prosa andererseits? Hinsichtlich des ersteren Genres kann es selbstverständlich nicht allein um Quantität, also um Ausführlich-

23 Vgl. KOOPMANN, 1985, S. 48. 24 Jenseits des Autobiografischen ließe sich die Liste auch um literarische Fiktionalisierungen von Biografien allgemein erweitern, wie etwa um Wolfgang Hildesheimers Marbot (1981).

A UTO ( R ) FIKTIONEN

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keit und Ausdauer der Selbstbespiegelung gehen – wenngleich der Roman hier durchaus ein Pensum erreicht, das manchen Kritiker ratlos zurückließ; hinsichtlich des Letzteren ist natürlich angesichts der einschlägigen Theoriediskussionen grundsätzlich festzuhalten, dass im Grunde jedweder Autobiografie fiktive oder zumindest fiktionale Elemente und Erzählverfahren nachgewiesen werden können. Was den Roman im Hinblick auf die beschriebenen Chiasmen und Rahmensprünge vielmehr auszeichnet, ist die Verdeutlichung einer spezifischen Unklarheit, die sich allgemein an Rahmen beobachten lässt – und zwar sowohl an ästhetischen wie auch an sozialen im Sinne Goffmans. Gemeint ist die Tatsache, dass Rahmen sowohl als Teil des Äußeren wie auch des Inneren betrachtet werden können. Es handelt sich hierbei um ein Dilemma, das in der Kunstwissenschaft als ‚Ablöseproblem‘ bezeichnet worden ist – die Frage lautet dort: Ist der Rahmen Teil des Bildes oder nicht? – und das, wie Remigius Bunia aufgezeigt hat,25 grundsätzlich sowohl auf literarische wie auch auf soziale Phänomene übertragen werden kann. Für die Erkennbarkeit des oben angesprochenen Rahmens zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion heißt das konkret: In der Regel gehen wir davon aus, dass sich die Fiktion ‚von innen‘ auf verschiedene Weisen vom Realen unterscheidet; Texte können demnach bestimmte Eigenschaften haben, die sie als fiktiv ausweisen. Ein Beispiel hierfür scheint zunächst die Multiplikation einer Figur zu sein, wie sie in der oben dargestellten Verschachtelung der Hoppe-Ebenen vorliegt: Dass es mehr als eine Felicitas Hoppe gibt, dass diejenige auf Ebene 2 über diejenige auf Ebene 3 eine Biografie schreibt, die wiederum die Vita derjenigen auf Ebene 1 widerlegt – all das scheint klar Fiktionalität anzuzeigen. Andererseits kann argumentiert werden, dass selbst solche Unterscheidungen letztlich doch eine Frage der Bezeichnung von außen bleiben – Fiktionalität ist demnach, mit Renate von Heydebrand und Simone Winko gesprochen, „Verarbeitungsmodus und keine Texteigenschaft“.26 Ein und derselbe Text kann in unterschiedlichen Kontextualisierungen sowohl als fiktional wie auch als nicht-fiktional beziehungsweise faktual gelesen werden. Wir erkennen demnach die Fiktion nur dann mit Sicherheit als Fiktion, wenn wir wissen, dass es sich zum Beispiel um einen Roman handelt; die Zuschreibung ‚Roman‘ ist aber eine, die nicht innerhalb der Fiktion stattfindet, sondern einerseits durch den Literaturmarkt, die Einsortierung in Buchhandlungen, die Bewerbung durch den

25 BUNIA, 2007, S. 320f. Bunia geht von paratextuellen Rahmen aus und vergleicht diese hinsichtlich des Ablöseproblems mit Goffmans Beispielen sowie mit narrativen und fiktionsbezogenen Rahmensetzungen. Ausgehend von einem differenztheoretischen Ansatz beschreibt Bunia, inwiefern das Ablöseproblem letztlich als eine Grundsatzfrage jedweder Unterscheidung angesehen werden kann. 26 HEYDEBRAND/WINKO, 1996, S. 30.

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Verlag, den Paratext – und andererseits natürlich bei der Lektüre, im Abgleich mit der Realität. Das gilt bei genauerer Betrachtung auch für das vorliegende Beispiel: •





Dass die Chronistin ,fh‘ (Ebene 2) fiktiv ist, können wir (außer durch die paratextuelle Zuschreibung ‚Roman‘, den Klappentext und andere externe Marker) nur dadurch schlussfolgern, dass sie beständig suggeriert, sie habe die Spuren der jungen Felicitas verfolgt, befinde sich also in deren ‚Welt‘ – Bedingung für diese Schlussfolgerung ist also wiederum die Tatsache, dass die junge Felicitas (Ebene 3) fiktiv ist, was wir (außer am Paratext) nur im Abgleich mit der echten Autorin namens Felicitas Hoppe (Ebene 1) und den kontrafaktisch dargestellten Lebensverläufen anderer realer Zeitgenossen wie den Gretzkys erkennen. Dass schließlich die Alter Ego-Felicitas (Ebene 4) fiktiv sein muss, ergibt sich daraus, dass sie eine Erfindung einer Erfindung einer Erfindung ist (also ebenfalls aus dem vorgenannten Punkt), wenngleich sie auch manches mit der echten Autorin gemein hat.

Anhand von Rahmensprüngen wie dem letztgenannten verweist Hoppe demnach mit aller selbstreflexiven Deutlichkeit auf eine Ambivalenz, die der Fiktion grundsätzlich eigen ist: die gleichzeitige oder vielmehr ausschließlich reziproke Bestimmbarkeit des Rahmens als Teil des Äußeren wie des Inneren. Interessanterweise beobachtet Goffman an sozialen Rahmungen ein ganz ähnliches Problem: Genau die Punkte, an denen die innere Tätigkeit aufhört und die äußere einsetzt – der Rand des Rahmens selbst – werden vom einzelnen verallgemeinert und in sein Deutungssystem einbezogen, so daß sie nachträglich zu einem weiteren Teil des Rahmens werden. Allgemein gesprochen, wird also eine Tätigkeit durch die Voraussetzungen, die sie von der äußeren Umgebung absetzen, unvermeidlich auch an die umgebende Welt geknüpft.27

Das Ablöseproblem beträfe demnach soziale framings in ganz ähnlicher Weise wie die literarischen Rahmensetzungen, die in Hoppe demonstriert werden. In beiden Fällen ist jeweils das Innere in seiner Definition letztlich vom Äußeren abhängig und vice versa. Die Konsequenz aus dieser Einsicht, wie sie in Hoppe aufscheint, kann abschließend als Versuch einer Autonomisierung der Romanrealität einerseits und der Autorinstanz andererseits gedeutet werden. Wenn jedwede Fiktion in ihrer Definition letztlich vom Kontrast zur Realität abhängig ist und jedwede soziale Rahmung vom Kontrast zu dem, was nicht gerahmt ist (wie das Ablöseproblem

27 GOFFMAN, 1980, S. 276.

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suggeriert) – wenn also etwa auch die gesellschaftliche Vorstellung von der ‚echten‘ Autorin untrennbar von ‚Botschaften‘ bestimmt ist, die in der Fiktion verborgen sein sollen – so besteht die größtmögliche Autonomie nicht darin, das Äußere zu verleumden oder auszublenden; Romane werden sich immer im Kontrast zur Realität, Autoren immer im Abgleich mit ihren Texten definieren lassen. Autonomie bedeutet demnach vielmehr, über diese Abhängigkeiten zu verfügen, mit ihnen zu arbeiten, sie präsent zu halten.

F AZIT : B IOGRAFIE

ALS

,M ODULATION ‘?

Im Licht dieser Überlegungen erweisen sich die klassischen Interviewfragen, was denn nun an der Handlung ‚authentisch‘ oder ‚biografisch‘ sei, bei Hoppe als besonders hinfällig, wenngleich – oder vielmehr weil – der Text ständig von Authentizität28 und Biografie spricht. „Hoppe war“, um die Chronistin in diesem Fall beim Wort zu nehmen, „gar nicht daran interessiert, Schnittmengen mit der Wirklichkeit zu bilden“ (Hoppe, S. 33). Der im Roman wie in Interviews der Autorin wiederholt formulierte Anspruch, „ehrliche Erfindung“ (ebd., S. 25) zu betreiben, 29 basiert vielmehr gerade auf der Einsicht, dass es solche ,Schnittmengen‘ streng genommen gar nicht geben kann, insofern Romanfiktion und Realität überhaupt nur durch die wechselseitige Abgrenzung voneinander unterschieden werden können. Die Hoppe’sche Literatur des „Als ob“ (ebd., S. 103), wie sie wiederum im Roman von ,fh‘ (Ebene 2) kritisch beäugt wird, erinnert nicht von ungefähr an Hans Vaihingers erkenntnistheoretischen Relativismus (Die Philosophie des Als Ob, 1911) – vergleichbar sind beide in der grundlegenden Hinsicht, dass irgendeine reale Basis, zu der sich ins Verhältnis zu setzen wäre, schlichtweg nicht zur Debatte steht. Diese Beobachtungen betreffen zunächst vor allem die Produktionsseite des Romans. Auf der Leserseite lässt sich in diesem Kontext nun abschließend mit Goffman fragen, welche Erwartungsrahmen der Roman ganz allgemein gesprochen impliziert. Die wenigsten Hoppe-Leser werden, und seien sie noch so uninformiert, eine konventionelle Biografie erwarten – selbst wenn man der Angabe ,Roman‘ auf dem Umschlag keine Beachtung schenkte, die ersten Sätze reichten aus. Was hingegen erwartet wird, ist ein Roman, der in seiner Romanhaftigkeit etwas über die Autorin verrät, und sei es auch nur ihre kritische Einstellung zu Biografien oder zum Literaturmarkt, und sei diese Einstellung auch noch so gut verborgen hinter perspektivischen Vexierspielen und narrativen Ablenkungsmanövern. Grundsätzlich ist dies eine sehr verständliche Erwartung, und in der Tat gibt es im Text ja

28 Diesen Aspekt behandelt eingehend Antonius Weixler im vorliegenden Band. 29 Vgl. dazu den Beitrag von Svenja Frank in diesem Band.

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reichlich persiflierende Seitenhiebe auf biografistische Haarspaltereien und den Jargon der Feuilletonkritik. Goffman würde diese Erwartung, ein wesentliches Konstituens der ‚Modell-Autorin‘ im eingangs angesprochenen Sinn, als ‚primären Rahmen‘ bezeichnen. Die Frage, die sich abschließend vor dem Hintergrund des bisher Gesagten stellt, wäre nun, ob in diesem Text nicht tatsächlich dasjenige zu erkennen ist, was Goffman eine ‚Modulation‘ primärer Rahmen genannt hat: eine leichte Abwandlung der Voraussetzungen, die aber den gesamten Text in einem anderen Licht erscheinen lässt. Goffmans Beispiele für solche Modulationen sind unter anderem Zeremonien, Wettkämpfe sowie die Kategorie des ‚So-tun-als-ob‘. Unter Letztere fallen auch die eingangs besprochenen Theateraufführungen, die aus einer Handlung – und mag sie ansonsten auch noch so ‚realistisch‘ in jedwedem Sinne sein – etwas grundlegend ‚anderes‘ machen, indem sie ihr gleichsam ein ‚Als ob‘ voranstellen. In diesem Sinn scheint der Roman Hoppe die Tatsache einzukalkulieren, dass Leser von ihm eine Kritik an biografistischen Lesarten von Romanen erwarten – eine Erwartung, die ihrerseits natürlich noch eine biografistische Lesart darstellt. Tatsächlich ist Hoppes Literatur des ‚Als ob‘ der Einsicht verpflichtet, dass die Differenz zwischen Realität und Romanfiktion wie auch diejenige zwischen Autorin und Figur von jeweils beiden Seiten konstituiert und für jeweils beide Seiten konstitutiv ist, sodass die Idee, diese Grenzen durchbrechen zu wollen, wahrlich paradox erscheint – ein Kategorienfehler. Stattdessen kann sie aber, wie gesehen, durch frequentes Überspringen im Bewusstsein gehalten werden. Während der Roman, von außen eindeutig als Fiktion klassifiziert, beständig Authentizität beteuert, scheint sich die reale Autorin als Person und Charakter dem Fiktiven anzunähern. Dass mancher Kritiker der Autorin literarischen Eskapismus vorwarf, erscheint aus dieser Perspektive so richtig wie falsch: Hoppe lässt sich durchaus als Versuch einer Flucht lesen – allerdings, im Angesicht des allgegenwärtigen literarischen Biografismus sowie der Unmöglichkeit, die Grenzen zu durchbrechen, als Flucht nach vorne.

L ITERATUR Primärliteratur BORGES, JORGE LUIS, Obras Completas, 2 Bde., Bd. 2, Buenos Aires 1989. ECO, UMBERTO, Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990 [1987; DERS., Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrativi (Studi Bompiani 22), Mailand 1979].

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„Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin.“ Autorschaft, Autorität und Authentizität in Felicitas Hoppes Hoppe (2012) A NTONIUS W EIXLER

Felicitas Hoppe entwickelt in ihrer fiktionalen Autobiografie Hoppe (2012) ein komplexes Spiel mit Erzähl- und Erzählerkonventionen, Gattungs- und Leseerwartungen sowie mit Fakt und Fiktion. Offensichtlich changiert der Status dieses Textes: Für Fiktionalität sprechen etwa die paratextuelle Gattungskennzeichnung als „Roman“, die Umschreibung auf dem Klappentext als „Traumbiographie“ sowie die Rezeption als „Metaautobiografik“1. Auf Faktualität wiederum deuten eine ganze Reihe von epitextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken2 hin, die den Text, gerade weil er gar nicht erst versucht, bloße Fakten zu schildern, als eine ‚wahrhaftige‘ Autobiografie der ‚realen‘ Autorin3 Felicitas Hoppes markieren. Der Text ist damit – wie es in Definitionen der Debatte um ,Autofiktion‘ heißt – von einer „oszillierenden Ungewissheit“4 zwischen autobiografischem5 und romaneskem Pakt6, zwischen Fakt und Fiktion geprägt.

1

Vgl. die Einleitung dieses Bandes, den Beitrag von Florian Lippert sowie Anm. 16.

2

JÜRGENSEN/KAISER, 2011, S. 11-14.

3

Vgl. FRANK, 2014, S. 59, Anm. 4: Frank argumentiert mit Fotis Jannidis, dass die ‚reale Autorin‘ „nicht mit der empirischen Person Felicitas Hoppe zu verwechseln [sei]“, sowie dass die Texte von Hoppe diese starre „narratologische Trennung immer wieder unterlauf[en]“.

4 5

WAGNER-EGELHAAF, 2013, S. 12. Philippe Lejeune definiert die Autobiografie über die „Namensidentität“ von Autor, Erzähler und Protagonist: „Die Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors schil-

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In Hoppe lässt die Autorin Felicitas Hoppe die Erzählerin ‚fh‘ das Leben der Figur ,Felicitas Hoppe‘ recherchieren und nachzeichnen. Diese Rekonstruktion erfolgt sowohl mittels Zitaten aus fiktiven Quellen wie auch aus real-existierenden Primärtexten. Nimmt man die Selbstkennzeichnung des Textes ernst, wird es allerdings schon schwierig, den Status dieser Primärtextquellen eindeutig zu bestimmen: Handelt es sich um Zitate von Texten der Figur oder der Autorin Felicitas Hoppe? Durch Zitierung werden nämlich sowohl solche Texte als Primärquellen gekennzeichnet, die einerseits realiter auf dem Literaturmarkt von der Autorin Hoppe veröffentlicht wurden (wie Picknick der Friseure, 1996, Pigafetta, 1999, Paradiese, Übersee, 2003) als auch fingierte beziehungsweise fiktive Publikationen der Figur ,Felicitas Hoppe‘ (zum Beispiel Buch K, Meine Sonntagserfindungen, Schuberts Wanderjahre). Darüber hinaus greift die Erzählerin ,fh‘ über weite Stellen hinweg auf Texte anderer Figuren zurück und zitiert aus vorgeblichen Tagebüchern, Interviews und anderen teils als egodokumentarisch, teils als literarisch markierten Quellen. Hierdurch entsteht ein elaboriertes Konstrukt mehrerer übereinander gelagerter, den Effekt einer Distanzierung erzeugender Erzählstimmen und -ebenen, die

dert) setzt voraus, daß zwischen dem Autor (wie er namentlich auf dem Umschlag steht), dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung Namensidentität besteht. […] Der autobiographische Pakt ist die Behauptung dieser Identität im Text“ (LEJEUNE, 1994, S. 25-27). Die Namensidentität in Hoppes Hoppe ist offensichtlich gegeben. Da diese allein nicht für eine hinreichende Bestimmung als Autobiografie ausreicht, muss Lejeune die letztlich rein pragmatische und außertextuelle Kategorie eines Vertragsschlusses annehmen. Lejeune geht also scheinbar davon aus, dass selbst eine gesicherte und starke Autorschaftsinszenierung nicht ausreicht, die Authentizität des autobiografischen Textes zu autorisieren – beziehungsweise trotz einer Namensidentität von einer ‚Entautorisierung‘ bedroht sein könnte. Die Theorie vom ‚autobiografischen Pakt‘ macht deutlich, dass die abschließende Zuschreibung eines Textes zur Gattung Autobiografie letztlich nur vom Rezipienten aus einer Behauptung des Textes gefolgert werden kann. Alle autoritären Beglaubigungen der Identität von Autor, Erzähler und Figur sind nicht hinreichend. Am Ende ist es die Bereitschaft des Lesers, dieser diskursiven, rhetorischen Behauptung Glauben zu schenken und einem Text den faktualen Status einer Auto(r)-Authentizität zuzuschreiben. Zum Begriff der ,Autor-Authentizität‘ sowie zur Funktion von Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt siehe WEIXLER, 2012, S. 1-32. 6

Vgl. zum hybriden Status der Autofiktion zwischen autobiografischem und romaneskem Pakt DOUBROVSKY, 2008, S. 126. Vgl. zudem WAGNER-EGELHAAF, 2013, S. 10. Auch Frank Zipfel bestimmt Autofiktion unter anderem als „Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt“ (ZIPFEL, 2009, S. 304-311). Für eine analoge Paktschließung im Johanna-Roman siehe FRANK, 2014, S. 71.

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den Text Hoppe einerseits als eine fiktive Alternativ- oder Wunschbiografie erscheinen lassen, die aber andererseits teilweise auf authentischem Material beruhen. Dieses ‚entweder-oder‘ beziehungsweise ‚beides-zugleich‘ des Textstatus dient einer Problematisierung, einer Transgression und einem Spiel mit der Gattung Autobiografie. Vergleichbare Vorläufer einer solchen selbstreflexiven Konstruktion von Autorschaft mittels eines komplexen Spiels von fiktionalen und faktualen Elementen finden sich – um eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung nur in sehr groben Zügen zu skizzieren – bereits in der Romantik, etwa in den Werken Jean Pauls (Leben des Quintus Fixlein, 1796).7 In postmoderner Literatur wird das Verhältnis von Subjektivität, Identität und Autorschaft noch weiter problematisiert, was exemplarisch an Wolfgang Hildesheimers biografischer Dilogie Mozart (1977) – in dem eine reale Figur mit dem Ziel fiktionalisiert wird, die Gattung Biografie zu demystifizieren – und Marbot (1981) – einer komplementären Faktualisierung einer fiktiven Figur als Mystifizierung fiktionaler Texte – zu erkennen ist. Und um aus der Gegenwartsliteratur lediglich ein Beispiel herauszugreifen: Der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani (*1967) reflektiert in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Über den Zufall (2012) metadiskursiv und selbstironisch über multiple (Autoren- beziehungsweise Persönlichkeits-)Identitäten, die in das Schreiben der Vaterbiografie, die 2011 unter dem Titel Dein Name erschienen ist, einfließen. Die Erzählstrategien Kermanis ebenso wie (und vielleicht sogar noch stärker) diejenigen Hoppes können in Bezug zu einer derzeit virulenten Diskussion gesetzt werden, die auch der Konzeption des vorliegenden Sammelbandes zugrunde liegt: ob die Postmoderne durch neuere Konzepte der Transmoderne, PostPostmoderne8, des „Performatism“9 oder der Hypermoderne10 abgelöst wurde.11 Dahinter steckt die Beobachtung einer Tendenz in der Gegenwartsliteratur, dass die postmodernen Delegitimationsstrategien von Medialität, Subjektivität und Indivi-

7

Für Claude D. Conter stehen die selbstreflexiven Erzählstrategien in Hoppes Werk, insbesondere in Paradiese, Übersee, in der Tradition der frühromantischen Moderne. Vgl. CONTER, 2008.

8

Vgl. TURNER, 1995.

9

ESHELMAN, 2000/2001.

10 Vgl. LIPOVETSKY, 2005. Vgl. hierzu auch den Begriff „Digimodernism“ von KIRBY, 2010. 11 Für eine Diskussion von Hoppes Johanna als Beispiel einer „transmoderne[n] Wiedergeburt des Autors“ siehe den luziden und materialreichen Beitrag von FRANK, 2014.

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dualität in einer „Rekontextualisierung von Subjekt-, Autor- und Werkbegriff“ reflektiert und zugleich überwunden würden.12 Ziel des vorliegenden Beitrages soll es indes weniger sein, den Textstatus von Hoppe mittels der Theorien um „Autofiktion“13 beziehungsweise „Auto(r)fiktion“14, „fiktionaler Metabiographie“15, „fiktionaler Metaautobiographie16, „historiographic metafiction“17, „Metahistoriographie“18 oder „Wirklichkeitserzählungen“19 zu diskutieren, als ein mögliches Verständnis des Textes anhand der Beschreibung der hochkomplexen Erzählstruktur zu liefern. Der Beitrag wird sich entsprechend vor allem auf den Zusammenhang von Autorschaft und schriftstellerischer Inszenierungspraxis sowie von Autorität und Authentizitätsinszenierung in Hoppe konzentrieren. Vor der Folie konventionalisierter Vorstellungen dieser drei Kategorien Autorschaft, Autorität und Authentizität20 erweist sich das Erzählkonstrukt von Hoppe

12 FRANK, 2014, S. 77. Svenja Frank liest Paradiese, Übersee als noch postmodernen Roman und erkennt in der Fortschreibung des Werks, vor allem mit Johanna, eine Wende hin zur Transmoderne. 13 DOUBROVSKY, 2008; ZIPFEL, 2009; KRAUS, 2013; SCHOENE, 2015. 14 In ihrer Einleitung zum Sammelband nennt Wagner-Egelhaaf Hoppes Hoppe als typisches Beispiel für „eine Tendenz in der Gegenwartsliteratur, Autobiographisches und Fiktionales gezielt zu verbinden“. Und dieses „reflexive Potenzial“ sei als „konstitutives Merkmal der Autofiktion [zu] betrachten“ (WAGNER-EGELHAAF, 2013, S. 12). 15 NADJ, 2006. 16 Ebd., S. 339. Frank interpretiert Hoppe als „metabiografische Autorfiktion“ beziehungsweise „Biofiktion“ (FRANK, 2015, S. 59) und Johanna als Metaautobiografie: „Die Parallelisierung von Erzählerin und Johanna, und damit die Engführung von autobiografischer und biografischer Linie, ist dabei im Roman derart präsent, dass die scheinbar metabiografische Schrift als metaautobiografische gelesen werden muss“ (FRANK, 2014, S. 60). 17 HUTCHEON, 1988, S. 113. 18 NÜNNING, 1995, S. 284-286. 19 KLEIN/MARTÍNEZ, 2009, S. 1-13, insbesondere S. 4-5. 20 In der Diskussion um den Authentizitätsbegriff entwickelt sich eine vergleichbare Kontroverse um einen Epochenwechsel von der Postmoderne zur Post-Postmoderne. Insbesondere in der amerikanischen Diskussion und rund um die Terroranschläge des 11. September 2001 wird ein Epochenwechsel identifiziert, der als Material Turn (Tony Bennett) oder Return of the Real (Hal Foster) bezeichnet wird. In der deutschen Authentizitätsforschung übernehmen diese Ansicht zum Beispiel Wolfgang Funk und Lucia Krämer, die Authentizität als „Schlüsselbegriff nach-postmodernen Denkens und Fühlens“ betrachten (FUNK/KRÄMER, 2011, S. 7). Wolfgang Funk, Florian Groß und Irmtraud Huber sehen diesen neuartigen Authentizitätsbegriff als Möglichkeit, „if and how this post-

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als ein Verfahren der Entautorisierung, durch das sich die Autorin als eine Abwesende und Verschwindende inszeniert. In einem ersten Abschnitt und auf einer ersten Analyseebene wird im Folgenden, erstens, das spezifische Spiel von Fakt und Fiktion unter dem programmatischen Schlagwort der „ehrlichen Erfindung“ (Hoppe, S. 25) zu untersuchen sein.21 Auf einer weiteren Analyseebene ist, zweitens, das Strukturprinzip, dass in Hoppe beständig Fakten fiktionalisiert und fantastische Elemente autorisiert werden, zu betrachten. In einem weiteren Abschnitt gilt es, drittens, zu zeigen, dass klassischen Autorschaftskonzeptionen der Autoritätsaspekt entzogen wird und sich diese formale Struktur in der inhaltlichen Thematisierung der Motive des Verhüllens und Verschwindens spiegelt. Abschließend ist, viertens, der Zusammenhang dieser Textstrukturen mit einer bestimmten Topografie zu analysieren.

,E HRLICHE E RFINDUNG ‘ Einen fiktionalen Roman beziehungsweise eine ,Traumbiographie‘ überhaupt im Hinblick auf Authentizität diskutieren zu wollen, ist erklärungsbedürftig. In der Bezeichnung des pragmatischen Status einer Rede, der Differenzierung zwischen ‚fiktionalen‘ und ‚faktualen‘ Texten, findet in der Erzähltheorie für ,faktual‘ prägnanterweise auch das Synonym „authentisch“22 Verwendung. Authentizität ist in diesem Zusammenhang eine metaphorische Kennzeichnung für die Referenzialisierbarkeit des Erzählten auf eine außertextuelle ‚Realität‘: Faktuales gilt als authentisches, fiktionales als „inauthentisches“ Erzählen.23 Die Authentizität im faktualen Erzählen kann durch den Autor (besonders wichtig im Fall einer Autobiografie), durch die Originalität (im Sinne der Verwendung von originalen Dokumenten und Fundstücken) oder durch die Referenz auf tatsächliche historische Begebenheiten

modern predicament can be overcome“ (FUNK u. a., 2012, S. 12.). Michael Rössner und Heidemarie Uhl interpretieren die „neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen“ als eine „Renaissance“ des theoretisch eigentlich dekonstruierten Begriffs (RÖSSNER/UHL, 2012). 21 Vgl. dazu auch den Beitrag von Svenja Frank im vorliegenden Band sowie zum Zusammenhang von „Ich-Konstitution als narrative Konstruktion und ‚ehrliche[r] Erfindung‘, welche die Vereinigung von Realität und Imagination jederzeit bewusst hält“ und bereits in Paradiese, Übersee „angelegt“ sei, zudem FRANK, 2015, S. 62. Den Konnex von Identität, Alterität und dem Prinzip der ‚ehrlichen Erfindung‘ untersucht NEUHAUS, 2008, S. 45. 22 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, 2012 [1999], S. 20. 23 Vgl. ebd.; SCHMID, 2014, S. 30-44.

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autorisiert werden.24 Auch wenn der Romantext Hoppe also mit den Gattungskonventionen der Autobiografie spielt, ist die durch den Paratext explizierte Geltungsabsicht diejenige eines fiktionalen Textes, nämlich nicht im definierten Sinne authentisch zu sein. Diese auf den ersten Blick eindeutige Kategorisierung wird jedoch erheblich verkompliziert, wenn man die epitextuellen und habituellen Autorschafts- und Gattungs-Inszenierungspraktiken im Umfeld des Textes Hoppe und der Autorin Hoppe mit in Betracht zieht. Nach Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser sind derartige „Inszenierungspraktiken“ wesentlich für die Positionierung im „literarische[n] Feld“ und hierdurch wiederum bedeutsam für die Lenkung der Rezeption. Unter „epitextuellen Inszenierungspraktiken“ verstehen Jürgensen und Kaiser „auktoriale“ und insbesondere „poetologische“ Selbstkommentare wie etwa „Interviews, Gespräche, Selbst- oder Fremdrezensionen […] oder Tonaufnahmen von Lesungen“. 25 Als „habituelle Inszenierungspraktiken“ bezeichnen sie die explizite Selbsteinordnung in bestimmte, bereits bestehende Autorschaftskonzepte (zum Beispiel in diejenigen des poeta vates oder des poeta doctus), Arbeitsweisen und Formen der „Professionalisierung“ sowie den weiten und oftmals nur schwer abgrenzbaren Bereich des äußerlich Beobachtbaren und damit letztlich alles, was zum „Lebensstil“ eines Menschen gehört.26 In epitextuellen Kommentaren macht Felicitas Hoppe beständig darauf aufmerksam, dass es sich bei Hoppe um eine Autobiografie handele. In Lesungen und Interviews erläuterte die Autorin etwa, dass sie das Schreiben an Hoppe zunächst mit der Absicht begonnen habe, eine Autobiografie zu verfassen und das ursprüngliche Formmodell sogar die Rowohlt-Monografie in der Er-Form – ein Klassiker der wissenschaftlichen Biografik – gewesen sei. Im Produktionsprozess habe sich dann aber die Distanzierung von dieser Form sowie sogar vom Ich fast wie von selbst ergeben.27 Erst die Form der fiktionalisierten Autobiografie habe ihr die Freiheit gegeben, viel ehrlicher über sich selbst zu schreiben, als ihr dies in der herkömmlichen Ich-Form einer konventionellen Lebensbeschreibung möglich gewesen wäre. Diese Art der Rezeptionslenkung durch kommentierende Selbstinszenierung zeigt sich auch in zahlreichen Interviews, die Hoppe in den Wochen rund um die

24 Vgl. MARTÍNEZ, 2004, S. 7-21. 25 JÜRGENSEN/KAISER, 2011, S. 12. 26 Ebd., S. 13f. 27 Vgl. die öffentliche Autorenlesung am 30.11.2012 in Oxford, die Teil der Konferenz Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Moderne (30.11.-1.12.2012) war: http://www.germanistik-im-netz.de/wer-was-wo/29535, 1.1.2015. Die Rowohlt-Monografie als anfängliches Vorbild wurde von Hoppe am 12.6.2012 in ihrer Lesung im Literaturbüro Freiburg genannt.

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Publikation des Romans gegeben hat: „Ich schlage der klassischen Form der Autobiografie in meinem Buch nicht nur ein Schnippchen. Ich komme mir in der Verfremdung näher, als es mir in der Ichform je gelungen wäre“ erklärt Hoppe in einem Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen.28 Und in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk bezeichnet sie schließlich diese Version als „zehnmal autobiografischer“ als eine den bloßen Fakten verpflichtete, klassische Autobiografie.29 Begleitet durch entsprechende „verlegerische Peritexte“ 30 erweist sich die Rezeptionslenkung als erfolgreich. In den meisten Rezensionen wird Hoppe trotz der Gattungskennzeichnung ,Roman‘ als Autobiografie von Felicitas Hoppe besprochen.31 Als ein Beispiel habitueller Inszenierungspraxis beziehungsweise, im Fall der Autobiografie, habitueller Autorisierung kann einerseits der Rucksack angeführt werden, der in Hoppe als zentrales Erkennungsmerkmal ,Felicitas’‘ beschrieben wird, darüber hinaus mit dem in Hoppes Werk weitverbreiteten Motiv der Rüstung in Verbindung gebracht wird und der zudem ein ständiger Begleiter (Kleidungsaccessoire) der empirischen Autorin ist.32 Andererseits ist Hoppes Inszenierung ihrer spezifischen Art schriftstellerischer Professionalisierung in der „Charakterisie-

28 HOPPE/RIENAS, 2012. 29 Interview mit Felicitas Hoppe, in: NDR Kultur [Sendedatum: 15.3.2012, 12:40 Uhr]. 30 JÜRGENSEN/KAISER, 2011, S. 12. 31 Freilich wird in sämtlichen Rezensionen auf den Hybridcharakter aufmerksam gemacht. Doch in Formulierungen wie „Felicitas Hoppe […] hat sich mit ‚Hoppe‘ ihre Autobiografie erfunden“ (MANGOLD, 2012) oder „‚Hoppe‘ ist keine Autobiografie, wie man sie auf den ersten Blick meinen könnte“ (PYCHLAU, 2012) steckt mehr als nur Ironie. Es wird deutlich, dass Hoppe nicht einfach nur als ein weiterer Roman von Hoppe, sondern als ihre, wenn auch fiktionale, Autobiografie rezipiert wird. Besonders deutlich wird dies in Jutta Rienas’ Interview mit Felicitas Hoppe, das mit folgender Frage beginnt: „Frau Hoppe, Sie haben den großen Markt an Autobiografien um eine weitere bereichert: Ihre eigene. Der Unterschied ist: Ihre ist erfunden.“ (HOPPE/RIENAS, 2012). 32 Dass der Rucksack ein zentrales Accessoire der habituellen Selbstinszenierung von Felicitas Hoppe darstellt, wurde nicht zuletzt bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2012 deutlich, den sie mit dem Rucksack auf dem Rücken entgegen nahm. Vgl. http://www.hna.de/bilder/2012/10/27/2584219/1780090850-hoppe_dapd_20121027-1917 40-ix34.jpg, 1.1.2015. Die Dankesrede ist zudem aufschlussreich und mit der fiktionalen Autorfiktion Hoppe in Ansätzen zu vergleichen, als Hoppe darin sowohl in der ersten als auch in der dritten Person Singular über sich selbst spricht. Auch in Hoppes Werken werden wiederholt Figuren mit dem Rucksack ausgestattet, wie etwa der Kleine Baedeker in Paradiese, Übersee.

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rung der eigenen Arbeitsweise“ als „handwerksanalog Arbeitende“33 von Bedeutung, auf die an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird. Die epitextuelle und habituelle Autorschaftsinszenierung macht deutlich, dass der Text als Autobiografie rezipiert werden soll, allerdings als eine autofiktionale Spielart der Gattung. Wichtiger und interessanter als die Frage nach Fakt und Fiktion erscheint entsprechend die Frage nach der Authentizität des Erzählten als einer bedeutungsstiftenden Projektionsfolie für das Textverständnis und die Rezeption. Neben dieser Kontextualisierung mit paratextuellen und habituellen Informationen soll im Folgenden aber vor allem die textintern inszenierte Autorschaftskonzeption analysiert werden. So lautet eine prägnante Stelle in Hoppe: Man tappt hier vor allem deshalb im Dunkeln, weil der Charakter des Angelesenen ein insgesamt prägendes Element in Hoppes Werk ist, das auch in jenen Arbeiten deutlich hervortritt, in denen sie über Orte, Länder und Gegenden schreibt, die sie nicht nur nachweislich selbst besucht, sondern in denen sie sogar ganze Jahre ihres Lebens verbracht hat. Und weil sie die Frage nach Authentizität ständig selbst thematisiert und dabei in Leben wie Werk permanent versucht, aus der Not ihrer Ignoranz eine literarische Tugend zu machen. Hoppes (durch zahlreiche Schulzeugnisse belegte) äußerst mangelhafte Kenntnisse in Geographie und Landeskunde, die sie später durch „verzweifeltes Kartenstudium“ und eine stattliche Sammlung verschiedener Weltalmanache aufzubessern versuchte, sind nicht Legende, sondern Fakt, und der in zahlreichen Interviews beharrlich immer wieder auftauchende Hinweis auf ihr literarisches Verfahren „ehrlicher Erfindung“ ist weniger kokettes Versteckspiel als schlecht getarnte Verlegenheit. (Hoppe, S. 25)

Die Umschreibung der Arbeitsmethode als ‚ehrliche Erfindung‘ stellt als literarisches Verfahren im Hinblick auf den Status der Rede eine paradoxe Formel dar, können doch in faktualer oder fiktionaler Literatur die erzählten Ereignisse nur entweder referenziell-authentisch – also ‚ehrlich‘ und ‚wahr‘ – oder eben erfunden und artifiziell-fantastisch sein. Dieselbe Paradoxie taucht in Hoppes Werk noch an anderer Stelle auf. So heißt es in Pigafetta im Zusammenhang mit den verbreiteten Lügen, dem Seemannsgarn, das man auf hoher See zu hören bekommt: „Aber es ist nichts erlogen, ich habe alles ehrlich erfunden“ (Pigafetta, S. 135). Darüber hinaus wird im ersten Satz des Zitates auf den Charakter des Angelesenen verwiesen. Die Erzählung ist also auch deshalb als ‚ehrliche Erfindung‘ zu bezeichnen, weil die Erzählerin sich alles in redlicher Recherchearbeit selbst angelesen und erarbeitet hat. Doch der ganze erste Satz hängt semantisch in der Schwebe: Im ersten Satzteil spricht alles dafür, dass das Erzählte erfunden oder angelesen ist. Im zweiten Satzteil wird hingegen behauptet, dass die Erzählerin alles mit eigenen Augen gesehen

33 JÜRGENSEN/KAISER, 2011, S. 14.

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habe, also eine direkte Augenzeugin sei, die das Erzählte bezeugen und autorisieren könne. Dies kann aber auch dahingehend gedeutet werden, dass – im Fall bestehender Augenzeugenschaft – die Erzählerin es dennoch nicht wahrhaftig, adäquat und authentisch wiedergeben könne, sondern – damit es für den Leser authentisch wirkt – sich vielmehr bei „Angelesene[m]“ bedienen müsse.34 Auch im nachfolgenden Satz wird der Rezipient derart über den ontologischen Status im Unklaren gelassen, auch dieser Satz besticht durch seine semantische Doppelbödigkeit. Denn einerseits spricht die Erzählerin hier davon, dass sie sich mit Authentizität beschäftigt, allerdings nur um sogleich einzuschränken, dass sie eine Haltung der Ignoranz gegenüber dem Phänomen einnehme und folglich gezwungen sei, aus ihrer Ignoranz eine literarische Tugend zu machen. Diese Ambivalenz wird im dritten Satz weitergeführt und als Position zwischen Fiktion („Legende“35) und Fakt verortet. Ein Spiel mit belegbarem Wissen auf der einen Seite – wofür sogar Zeugnisse, also autorisierende Dokumente, vorgelegt werden können – und einer Dokumentensammlung auf der anderen, die gemeinhin als Wissensbeleg angeführt wird, hier jedoch ironischerweise gerade als Beweis der vorgeblichen Unwissenheit der Erzählerin dient. Dieses Oszillieren zwischen Fakt und Fiktion ist ein durchgehender, beständig auch explizit als Doppelbödigkeit und Position des ‚Dazwischen‘ thematisierter und entsprechend programmatischer Aspekt im Werk von Felicitas Hoppe. Ein nicht unerheblicher Anteil der Autorinszenierung in Hoppe wird auf das Spiel mit Fakt und Fiktion verwendet. So kokettiert die Erzählerin bei der Wiedergabe und Widerlegung fingierter Kritik von (ebenso fingierten) Rezensenten, etwa des berüchtigten Reimar Strats, wiederholt mit der angeblichen Unfähigkeit der Autorin Hoppe, historisch-realistische Texte (beziehungsweise Textgattungen) zu produzieren. So habe Felicitas eine „eigensinnige Auffassung von Wirklichkeit“ (Hoppe, S. 63) und eine sowohl „überbordende[ ]“ als auch „blühende Phantasie“ (ebd.,

34 Das Lob auf die vermeintliche Recherchearbeit wird durch die epitextuelle Inszenierung der Autorin noch zusätzlich ironisiert, denn Hoppe kritisiert wiederholt historische Romane und ihre Autoren dafür, die literarästhetische Qualität ihrer Arbeiten bloß über Recherche zu definieren: „[I]hr prosaisches Zauberwort lautet Recherche, mit der sie fehlende Abenteuer, den fehlenden Alltag, fehlendes Erleben oder mangelnde Imagination wettmachen wollen.“ Dies sei „weniger ein literarisches Verfahren […] als schlicht eine nachprüfbare Leistung.“ (zit. n. Schätze, S. 212f., Hvhbg. i. Orig.). 35 Der Gattungsbegriff „Legende“ taucht am Ende des Romans Hoppe erneut auf: „Eine Legende, was sonst. To be continued. (Fortsetzung folgt./fh)“ (Hoppe, S. 330). Damit wird der Fiktionalitätsstatus noch einmal bekräftigt und der gesamte vorangehende Text als Legende und – gemäß der Gattungsdefinition – als „vorbildhafte[ ] Lebensgeschichte, […] in de[r] sich Wunderbares manifestiert“ gekennzeichnet. Zit. n. SCHWEIKLE, 1990, Sp. 261f.

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S. 109): Mit der „große[n] Erfinderin“ (ebd., S. 149) haben wir es zugleich „mit einer Autorin zu tun“, die „jenseits der Wünsche von Lesern landläufiger historischer Romane, nicht in erster Linie angetreten ist, uns anhand ihrer Geschichten ‚die Geschichte‘ zu erhellen“ (ebd., S. 106). Und Strat kritisiert einmal mehr: „Mangel an Phantasie kann man [der] Autorin jedenfalls nicht vorwerfen, sondern, im Gegenteil, nur ein unbeherrschtes Zuviel davon.“ (ebd., S. 327). Und schließlich finden sich wiederholt Hinweise auf ihre dezidiert vertretene fantastische Poetik, was nicht zuletzt Felicitas’ Entgegnung auf die Kritik ihres ‚Erfindervaters‘ Karl („Wie kann man freiwillig lesen, was nachweislich falsch, weil erfunden ist?“, ebd., S. 111) prägnant zeigt: „Ich schreibe nicht, ich mache Erfindungen!“ (ebd., S. 39). Um noch einmal zum oben angeführten Zitat zurückzukehren: Wird eine (Auto-)Biografie fingiert, so handelt es sich um einen fiktionalen Text. Wenn darin Angelesenes zitiert wird, so wird mit der Referenz auf vermeintlich ‚reale‘ Texte ein Authentizitätseffekt erzeugt. Dieser Effekt ist stärker, wenn faktuale Texte wie wissenschaftliche Abhandlungen (geografische Weltalmanache), Rezensionen oder Tagebücher zitiert werden, der Effekt tritt aber auch ein, wenn fiktionale Texte als Beglaubigung der eigenen Argumentation angeführt werden.36 Zitieren ist immer ein Autorisierungsprozess.37 Wird in einer Autobiografie jedoch Angelesenes ange-

36 Eine vergleichbare Intention liegt generell Herausgeberfiktionen zugrunde (vgl. hierzu auch Anm. 38). Darüber hinaus ist das Fingieren und die Ironisierung von Wissenschaftlichkeit ebenfalls eine weitverbreitete Technik in der Literatur, was sich etwa, um nur eine idiosynkratische Auswahl quer durch die Literaturgeschichte zu nennen, in ähnlicher Weise schon in Jean Pauls Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz (1807), ganz ähnlich auch in Wolfgang Hildesheimers Marbot (1981) oder in der Gegenwartsliteratur in Clemens J. Setz’ Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011) sowie in Jan Brandts Tod in Turin (2015) findet. 37 Das Zitieren von Autoritäten, die sogenannte Beweisführung ex auctoritate, ist seit der antiken Rhetorik die Methode, den eigenen Argumenten Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Der Begriffsursprung von ,Autorität‘ bezieht sich auf die „zitierbaren literarischen“ Autoritäten (VEIT u. a., 1971, Sp. 724). Um eine Autorität zu sein, bedarf es des Ansehens, die wiederum durch Tugend oder Zeit, das heißt durch hohes Alter der zitierten Autorität erworben werden kann (vgl. ebd., Sp. 724f.). Darüber hinaus beinhalten klassische Autorschaftsmodelle auch einen überindividuellen Autoritätsaspekt. So wurden die christlichen „Kirchenväter und die christlich gedeuteten Klassiker der antiken Literatur zu einem Kanon maßgeblicher auctores zusammengeschlossen, mit deren Autorität jeder neue Autor den Geltungsanspruch seiner Texte […] zu legitimieren“ hatte (JANNIDIS u. a., 1999, S. 5). Dieser Aspekt lebt heute noch in der autoritativen Macht fort, die hinter der Kanonisierung von Autoren und Texten steht. Der Zusammenhang zwischen Autorschaft, Autorität und Authentizität ist nicht nur für die Autobiografie von konstitutiver Bedeutung,

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führt, um die empirische Wahrnehmung überhaupt in Worte fassen zu können, so wird trotz der referenziellen Qualität der Aussagen die Authentizität infrage gestellt, da eine Autorisierung durch Augenzeugenschaft nicht mehr garantiert ist. Wenn in einer Biografie hingegen Angelesenes zitiert wird – über weite Strecken inszeniert sich die Erzählerin ,fh‘ als eine neutrale Herausgeberin anderer Quellen38 – steckt hinter diesem Verfahren das Ziel einer Autorisierung durch (vermeintlich) referenzielle, realistische Dokumente. Letztlich aber verweisen diese zitierten Passagen auch ‚nur‘ auf ‚ehrlich erfundene‘ Dokumente39 – wodurch deutlich wird, dass es sich bei dem Erzählverfahren der ‚ehrlichen Erfindung‘ in Hoppe weniger um ein Spiel zwischen Fakt und Fantasie, sondern in erster Linie um ein Spiel mit einem ganz bestimmten Aspekt der Autorschaft handelt: den mit der Autorität der

generell lässt sich ein Zusammenhang bis in die gemeinsame Begriffsgeschichte zurückverfolgen, wo im Lateinischen aus auctoritas das Adjektiv authenticus wird (vgl. RÖTTGERS/FABIAN, 1971, Sp. 691). Der Begriff ,Autor‘ entstammt diesem Kontext und bezeichnet denjenigen, „welchem auctoritas zukommt“ und folglich eine Person oder Institution, die etwas autorisieren und authentisieren kann (SCHEMME, 1971, Sp. 721; vgl. auch MARTÍNEZ, 2004, S. 12, sowie RÖTTGERS/FABIAN, 1971, Sp. 691). In der Autobiografie lebt dieses Autoritäts-Autorschaftsmodell als Interesse an der „biographisch und historisch spezifischen Individualität“ noch relativ unverändert fort. Aber auch in der Untersuchung fiktionaler Literatur ist mit den hermeneutischen Analysekategorien Stil und Intention die biografisch-historische Individualität des Autors eine zentrale Verstehens- und Interpretationsnorm (vgl. JANNIDIS u. a., 1999, S. 5). 38 Die Herausgeberfiktion hat eine lange literarische Tradition und wird insbesondere in der Romantik zu einem verbreiteten Formprinzip. Uwe Wirth vertritt in seiner Habilitationsschrift die These, dass sich „literarische Autorschaft aus dem Geist der Herausgeberschaft“ entwickelt. Die Herausgeberfiktion diene in der Literatur um 1800 der Reflexion des Textstatus und der – mit Christian Berthold – „Einübung eines ‚Fiktivitätsbewußtseins‘“ (zit. n. WIRTH, 2008, S. 16). Daher entstehe parallel zur Etablierung des Buchmarktes zugleich ein Bewusstsein für literarische Autorschaft erst über den ‚Umweg‘ der Herausgeberfiktion. Vgl. auch: „Der Herausgeber hat es als zweiter Autor mit bereits Geschriebenem zu tun, dem er, im Zuge seiner editorialen Tätigkeit, schreibend etwas hinzufügt. Er ist insofern nicht nur zweiter Autor und erster Leser, sondern ein ‚Dazuschreiber‘, dessen Schrift den Rahmen des Textes überhaupt erst konstituiert“ (ebd., S. 15). 39 Die Einsicht, dass ein Signifikant nicht mehr auf ein Signifikat referenziell verweist, sondern letztlich alles nur eine endlose Semiose innerhalb sprachlicher Zeichenhaftigkeit, also ein endloses Spiel von Signifikanten ist, ist einer der zentralen Aspekte von Jacques Derridas Die Schrift und die Differenz (1976) und ein wesentlicher Grundgedanke des Poststrukturalismus. Jean Baudrillard definiert die Konzepte Hyperrealität und Simulacrum über ihre Referenzlosigkeit auf eine außersprachliche Realität.

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Autorinstanz zusammenhängenden Autorisierungs- und Authentifizierungsprozessen. Besonders nachhaltig ist die Autorität des Autors bekanntlich durch den französischen Poststrukturalismus mit seinen Debatten rund um den ‚Tod des Autors‘ in Zweifel gezogen worden. Zu den Theorien, die den Autor als relevante Verstehensnorm entautorisiert haben, zählt bereits die Unterscheidung von Autor und Erzähler, die Wolfgang Kayser in einer Reihe von Aufsätzen in den 1950er Jahren entwickelte, die 1910 allerdings schon Käte Friedemann in ähnlicher Weise vorgenommen hatte.40 Im fiktionalen Erzählen kann ein Autor bekanntlich nie für den „Wahrheitsanspruch[ ]“41 einer Figuren- oder Erzählerrede haftbar gemacht werden. Dies hat wiederum erzähltheoretisch für den Status der Rede zur Folge, dass im fiktionalen Erzählen der reale Autor reale, aber – was den Wahrheitsanspruch betrifft – „inauthentische“ Sätze, der fiktive Erzähler dagegen imaginäre, aber immer „authentische Sätze“ produziert.42 In Hoppe ist die Lebensbeschreibung der Erzählerin zwar eine fiktionale, aber mit Wahrheitsanspruch vorgetragene Rede – ist also die imaginäre, aber authentische Rede der Erzählerin ‚fh‘. Um den Wahrheitsgehalt ihrer imaginär-authentischen – oder ‚ehrlich-erfundenen‘ – Rede ihrerseits zu beglaubigen, führt die Erzählerin eine ganze Reihe von Zitaten an und spielt nicht nur mit der vermeintlichen Autorität eines präzisen wissenschaftlich-philologischen Arbeitens,43 sondern auch mit der Autorisierung durch eine Beweisführung ex auctoritate. Zugleich wird mit der Herausgeberfiktion von Tagebucheinträgen und Interviewpassagen die Authentizität von Originaldokumenten fingiert. Wenn die Erzählerin ‚fh‘ mit imaginärauthentischem Wahrheitsanspruch Angelesenes zitiert, dann zitiert sie also in Herausgeberfiktion die Tagebücher und Ausführungen von mit Fiktionsmarkern versehenen Figuren, deren Aussagen jedoch wiederum durch Authentizitätsstrategien als faktual inszeniert werden. Noch komplizierter wird es bei den Selbstzitaten: Wenn die imaginär-authentische Erzählerin ‚fh‘ aus dem Werk der realen Autorin

40 Vgl. KAYSER, 1965, S. 197-217. Vgl. hierzu auch GRAEVENITZ, 1982, S. 78-105, und FRIEDEMANN, 1977 [1910]. 41 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, 2012 [1999], S. 17. 42 Ebd., S. 20 (Hvhbg. i. Orig.). Diese Unterscheidung darf nicht mit dem unzuverlässigen Erzählen verwechselt werden, das allein den Wahrheitsanspruch auf der Ebene der fiktiven Erzähler- oder Figurenrede betrifft, also dass die „in fiktionaler Rede geäußerten Behauptungen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist“ übereinstimmt (ebd., S. 95) beziehungsweise das Geäußerte „in accordance with the norms of the work“ steht (BOOTH, 1961, S. 158). 43 Vgl. hierzu auch Svenja Franks Interpretation des Johanna-Romans als „Wissenschaftssatire“ (FRANK, 2014, S. 62 und S. 74).

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Felicitas Hoppe zitiert, dann zitiert sie hinsichtlich des Erzählgegenstands fiktive Texte, die indes als authentische Dokumente verwendet und wiedergegeben werden. Diese Zitate – beziehungsweise die Tätigkeit des Zitierens – sind authentisch, da die Texte realiter existieren und in Buchform vorliegen.44 Zwar verweisen sie hierdurch referenziell auf die Urheberin, der sie eindeutig zuzuordnen sind, allerdings referieren sie nicht auf die empirische Realität, da sie selbst ja von der Autorin ‚ehrlich erfunden‘ und jeweils explizit als literarische Texte markiert sind. Dieses Verfahren ist folglich als Ironisierung der autorisierenden hermeneutischphilologischen Arbeitsweise – wie zum Beispiel der in diesem Beitrag vorgenommenen Analyse – zu erkennen. Welchen Geltungsanspruch hat nun zusammenfassend der Text? Hoppe erweist sich als eine spezifische Hybridform, die sich jeder einfachen Zuschreibung entzieht, da jeder dieser Gattungs- oder Statuskennzeichnungen jeweils auf einem Autoritätsaspekt basiert, der in Hoppe durch das spezifische Erzählverfahren ironisiert oder mitunter sogar delegitimiert wird. In Hoppe scheint die inhaltliche Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer Identität nicht nur zu einer Transgression der Gattung Autobiografie, sondern auch des Status von Fiktionalität und Faktualität zu führen.45 Mithin handelt es sich nicht um einen fiktionalen Text, weil er die Unmöglichkeit einer referenziellen Authentizität ausstellt, dadurch aber gerade eine relationale Authentizität46 erzeugt – in einem Sonderraum jenseits von Fakt und Fiktion.

44 Michaela Holdenried und Svenja Frank interpretieren die „auto-intertextuellen Verweise“ (FRANK, 2014, S. 73) beziehungsweise Selbstzitate als Anzeichen für „eine Rückkehr zum Konzept selbstbewusster Autorschaft“ (HOLDENRIED, 2005, S. 16). Trotz der hier vertretenen Hypothesen einer ‚Abwesenheit der Autor-Autorität‘ und eines ‚Verschwindens der Autorin‘ ist dies nicht im Widerspruch, sondern vielmehr analog zu den Interpretationen von Holdenried und Frank zu sehen. 45 Vgl. die einschlägigen Definitionen zur ,Autofiktion‘ oder ,fiktionalen Metabiographie‘ bei NADJ, 2006; ZIPFEL, 2009; WAGNER-EGELHAAF, 2013. 46 Im Gegensatz zum umgangssprachlichen Gebrauch von ‚Authentizität‘ als auf die empirisch wahrnehmbare Realität referenziell verweisend, wird unter ‚relationaler Authentizität‘ das explizite, selbstreflexive Thematisieren der medientheoretisch unmöglichen referenziellen Authentizität verstanden. Vgl. hierzu WEIXLER, 2012, S. 9, sowie die folgenden Ausführungen in diesem Beitrag. Der Begriff der ‚relationalen Authentizität‘ bezeichnet damit eine analoge Hybridstruktur, die auch für Definitionen von ‚Autofiktion‘ zentral sind (vgl. ZIPFEL, 2009, S. 305). Die Beobachtung, dass die unter der postmodernen Kritik delegitimierten Konzepte Subjekt, Wahrheit und Transzendenz nun „innerhalb einer fiktionalen Klammer zurückkehren“ – wie sie als Struktur auch der ‚relationalen Authentizität‘ zugrunde liegt – dient Svenja Frank als Begründung für einen Para-

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„D ASS MAN MICH NIE FÜR VERMISST ERKLÄRT DIE ABWESENHEIT DER AUTOR -AUTORITÄT

HAT “



Das Prinzip der ‚ehrlichen Erfindung‘ zieht sich durch den gesamten Text – wenn nicht gar durch das gesamte Werk Felicitas Hoppes: So heißt es in Hoppe gleich zu Beginn: Sowenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene vielzitierte Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff tatsächlich persönlich unternahm, ist bekannt, dass sie bereits als Kind mehrfach die Weltmeere befuhr. Allerdings nicht als zweiter Esser von rechts, sondern als einzige Tochter eines Patentagenten, der das deutsche Kaspertheater vermutlich niemals von innen sah. Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung. (Hoppe, S. 13f.) Während der Vater Listen und Abrechnungen schreibt, widmet sich Felicitas ganz der Erfindung ihrer vier Geschwister […]. Der faktische Vater des faktischen Einzelkindes dagegen verliert sich im Vagen. […] [„]Meinen Erfindervater habe ich nie gesehen.“ […] Hoppes Unterschlagung überprüfbarer Fakten dient einzig der literarischen Ausformung ausufernder Phantasien, wie sie ihr gesamtes Werk prägen. (ebd., S. 16) Die niedersächsische Welt der Felicitas Hoppe, ihre Kindheit in der katholischen Diaspora als drittes von fünf Kindern kleinbürgerlicher, aus Schlesien vertriebener Eltern, die sie immer wieder beharrlich gegen jene andere, unberechenbare Welt ihrer wirklichen Kindheit aufruft, entpuppt sich als Kulisse unaufhörlich neuorganisierter Fluchten nach innen. […] Hoppes kanadische Kinderjahre dagegen sind verbrieft [.] (ebd., S. 17)

In Ergänzung zur poetologischen Kurzformel der ‚ehrlichen Erfindung‘ wird der fiktive Vater doppeldeutig als ,Erfindervater‘ bezeichnet, der zudem für die Absolutierung dieses Prinzips einsteht: „Denn mein Vater bestand darauf, alles selbst zu erfinden“ (ebd., S. 18). Es wird in diesen drei Zitaten ein wiederkehrendes Muster erkennbar: Durch den wiederholten Einsatz von Attributen, Substantiven und Komposita aus dem Wortfeld des Zweifelns wird sämtlichen Fakten die „ReferenzAuthentizität“47 entzogen. Aufgrund der Fiktionalisierung der Fakten wird die Mög-

digmenwechsel vom Postmodernismus zum Transmodernismus (FRANK, 2014, S. 80). Ebenso für einen Paradigmenwechsel plädieren HASELSTEIN u. a., 2010, S. 15; FUNK/ KRÄMER, 2011, S. 7; FUNK u. a., 2012, S. 12; für eine Gegenposition siehe WEIXLER, 2012, S. 8. 47 Susanne Knaller verwendet ,Referenzauthentizität‘ mal synonym, mal als Unterkategorie zu ,Objektauthentizität‘. Unter ,Objektauthentizität‘ versteht sie die beweisbare, empiri-

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lichkeit einer Autorisierung durch die Referenz auf tatsächliche historische Begebenheiten gebrochen, sodass im Bezweifeln der Authentizität des Erzählten das Verfahren einer Entautorisierung zu erkennen ist. Die ‚ehrlich erfundenen‘ Biografieelemente werden hingegen durch die narrative Konstruktion autorisiert, werden als verbrieft und als durch Tagebucheinträge belegbar inszeniert. Und im mittleren Zitat wird diese zwischenzeitliche Autorisierung selbst bereits wieder ironisiert, da sich der Erfindervater im Vagen verliert und die Figur Felicitas behauptet, keine Augenzeugin seiner Existenz zu sein. Das zugrunde liegende Strukturmuster lässt sich wie folgt zusammenfassen: Offenkundige Fakten werden durch die Erzählkonstruktion fiktionalisiert, während die ‚ehrlich erfundenen‘, fantastischen Assoziationen durch Authentifizierungsstrategien autorisiert werden. So wird beispielsweise die deutsche Sprache (und damit gleichzeitig das semiotische System des Romans) als Erfindung gekennzeichnet (vgl. Hoppe, S. 288). Ebenso werden Hoppes Hamelner Familie und die beiden lokalen Hamelner ‚Ortsmythen‘ der Rattenfängergeschichte und des Hochzeitshauses fiktionalisiert. Die Erfindung des berühmten Märchens etwa wird Felicitas’ kanadischer Ersatzmutter zugeschrieben: „Es ist also Phyllis Gretzky gewesen, die den Rattenfänger von Hameln erfand“ (ebd., S. 24). Und ob ‚Felicitas‘ das Glockenspiel des Hamelner Hochzeitshauses „jemals mit eigenen Ohren gehört hat, ist bis heute ungeklärt“ (ebd., S. 25). Auch sei Hameln nur ihre „vermeintliche Geburtsstadt“: „An keiner Stelle lässt sich ausmachen, ob sie [die Beschreibungen von Hameln, Anm. A. W.] tatsächlich auf eigener Erfahrung beruhen oder nicht doch nur angelesen sind“ (ebd.). Wenn die empirische Autorin Hoppe die fiktive Erzählerin ,fh‘ die Traumbiografie von Felicitas nacherzählen lässt und hierfür aus real existierenden, fiktionalen Texten autorisierend zitiert, wenn in der erfundenen Traumbiografie der tatsächliche Familienhintergrund der Hamelner Kindheit und den fünf Geschwistern als fiktive Erfindung dargestellt wird, so lässt sich dies als eine Amplifizierung der erzählerischen Ebenen beschreiben. Auf der Ebene erster Ordnung liegt sowohl die Darstellung von Fakten als auch von Fantastischem. Auf der Ebene zweiter Ordnung wird die Fiktionalisierung offensichtlicher Fakten und die Faktualisierung beziehungsweise relationale Autorisierung von Erfundenem vorgenommen. Der klassischen Form der ,Referenz-Authentizität‘ wird in Hoppe misstraut und dieses Misstrauen wird in einem komplexen Erzählverfahren reflektiert. Dies ist eine Erzählstruktur, die in der zeitgenössischen Prosa der letzten Jahre verstärkt zu beobachten ist: Durch die Konzepte und Paradigmen der Postmoderne wie Hybridität, Simulacrum, Simulation, Digitalität und Virtualität wird medialen Kommuni-

sche Verbindung eines Werkes zu seinem Urheber. Vgl. KNALLER, 2006, S. 21, und 2007, S. 21f.

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kationsformen nicht mehr länger die Fähigkeit zugestanden, eine referenzielle Authentizität zum Empirischen zu verbürgen. Anders gewendet: Nicht mehr der Inhalt allein kann für die empirische, ontologische oder auch ästhetische Qualität einer Person (beziehungsweise eines Objekts oder Ereignisses) einstehen, vielmehr muss durch eine kontextuelle Konstruktion oder durch ein komplexes Erzählverfahren eine Zuschreibung des Qualitätsmerkmals Authentizität angeregt werden. Ganz wie ein Beobachter der zweiten Ordnung einen Beobachter beim Beobachten beobachtet, so beobachtet sich in derartigen Erzählstrukturen die Erzählung bei dem Versuch, authentisch zu erzählen. Erzählformen, die ihren Status als „vermittelte Unmittelbarkeit“48 explizit reflektieren und thematisieren, rufen entsprechend eine „metadiskursive Authentizität“49 hervor. Nach Christian Huck kann eine „Authentifizierung […] jetzt nur noch durch den selbstreflexiven Bruch mit Authentifizierungsregeln erreicht werden.“50 Damit aber scheint sich der Authentizitätsbegriff selbst zu verändern: Entgegen der herkömmlichen, referenziellen Auffassung von Authentizität ist ein relationaler und metadiskursiver Authentizitätsbegriff von der Einsicht in die Diskursivität medialer Kommunikationen sowie durch das explizite, selbstreflexive Thematisieren der Unmöglichkeit herkömmlicher Authentizitätstechniken geprägt. Diese relationalen und diskursiven Formen der Authentifizierung lassen sich entsprechend auch als eine ,Authentizität zweiter Ordnung‘ bezeichnen.51 Mit dem Misstrauen gegenüber herkömmlichen Arten medialisierter Kommunikation52 wird in Hoppe ein zentrales Motiv der Postmoderne aufgerufen und zugleich als Motivation für die in einem komplexen Konstrukt über mehrere Ebenen und Ordnungen differenzierte Informationsvermittlung angegeben. Hoppe, deren Werk ein ständiges Misstrauensvotum an jede Form von Kommunikation ist […], war nicht nur in ihrem privaten Briefverkehr, sondern auch im wirklichen Leben eine so meisterhafte wie nachgerade manische Kommunikatorin, wobei sich lange darüber spekulieren lässt, (und reichlich ist auch darüber spekuliert worden) was sie zu dieser Form von Kommunikation antrieb. (Hoppe, S. 91)

Ein Grund für die „manische“ Kommunikationsbereitschaft bei gleichzeitigem Misstrauen scheint in der Gegenbewegung „zu ihren ständigen Fluchtbewegungen“

48 ZELLER, 2010, S. 1-19. 49 WEIXLER, 2012, S. 9. 50 HUCK, 2012, S. 261. 51 Vgl. WEIXLER, 2012, S. 9. Für den Konnex von relationaler Authentizität und Überwindung der Postmoderne in einer Ästhetik der Transmoderne siehe erneut Anm. 46. 52 Vgl. PYCHLAU, 2012.

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(ebd.) und im Motiv des Sich-Zeigen-Wollens zu liegen – ein Aspekt, auf den später zurückzukommen sein wird. In diesem Zusammenhang erhält die Gegenüberstellung der beiden Motti zu Beginn des Romantextes eine programmatische Dimension. So heißt es in Kapitel 0: „Felicitas Hoppe, *22.12.1960 in Hameln, ist eine deutsche Schriftstellerin. Wikipedia“ (ebd., S. 9, Hvhbg. i. Orig.). Noch davor findet sich folgende Adressierung: „Für Familienmitglieder gilt das gesprochene Wort!“ (ebd., S. 5). Die biografischen Fakten sind digital abrufbar, öffentlich nachzulesen und enzyklopädisch verbürgt. Doch diese Fakten, das äußerlich Sichtbare, sagen nichts über das Wahre, Innere und damit im eigentlichen Sinne ‚Authentische‘ der Person Felicitas Hoppe aus. Von dieser schriftlichen Kommunikation der vermeintlichen oder nur simulierten Faktizität gibt es im Zeitalter des Digitalen mehr als genug. Dieser Quantität der Schriftlichkeit stellt Hoppe in Hoppe die Authentizität des Fiktionalen sowie die Qualität und Intimität der Mündlichkeit („[es] gilt das gesprochene Wort“) gegenüber.

„O BWOHL ICH SEIT J AHREN VERSCHOLLEN ÜBER DAS V ERSCHWINDEN DER AUTORIN

BIN “



Die untersuchte formale Struktur einer ‚entautorisierenden‘ Autorschaftsinszenierung sowie einer ‚Authentizität zweiter Ordnung‘, wie sie sich in einer Fiktionalisierung von Fakten und Autorisierung von Erfundenem zeigt, findet inhaltlich eine Entsprechung in den wiederkehrenden Motiven der Rüstung und Maske sowie des Verschwindens und Einkleidens. Interessanterweise entscheidet sich die Hauptfigur in ihrer ,Traumbiographie‘ für eine durchweg abwesende Mutter und einen im Laufe der Erzählung verschwindenden Vater.53 Wobei eigentlich auch der Vater von Beginn an abwesend ist, da sich sein ‚Lebenskreis‘ mit jenem von Felicitas selbst in Kanada und Australien im gemeinsam bewohnten Haus kaum berührt. Felicitas fehlt denn auch „die Abwesenheit des Vaters“ (Hoppe, S. 72) vor allem in Zeiten seiner größten Anwesenheit. Neben der Abwesenheit der fingierten ‚Erfindereltern‘ wird das Verschwinden zum beständigen Zielpunkt der Aktivitäten und Sehnsüchte von Felicitas. Dieses Verschwinden wird als ein zur bloßen Faktendarstellung komplementäres Erzählprogramm inszeniert: Wenn die Erzählerin beispielsweise resümiert, dass biografische Details der Figur ‚Felicitas‘ „bis zum Verschwinden sparsam in ihr Werk eingestreut sind“ (ebd., S. 193), so ist dies nicht nur eine metaphorische, sondern

53 Eine Figurenkonstellation, die bereits für Hoppes literarisches Debüt Picknick der Friseure kennzeichnend ist; vgl. dazu den Beitrag von Julia Boog und Katrin Emeis im vorliegenden Band.

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eine über diverse Erzähl(er)ebenen erfolgende Distanzierung zwischen der realen Autorin Felicitas Hoppe und dem Text Hoppe. Ebenso machen „Lucys Erzählungen auch oder vor allem jenseits von Fakten einen großen Eindruck auf“ Felicitas, „die fortan von nichts anderem träumte, als davon, […] [es] ihren Vorbildern gleichzutun und „ganz von der Bildfläche zu verschwinden““ (ebd., S. 69). Jenseits der Fakten und der biografischen Anwesenheit erzeugt der Text Hoppe eine Lebensgeschichte, die mit der paradoxen Formel umschrieben werden kann, mit der Viktor Seppelt in seinem Buch F seinen Steckbrief Felicitas abschließt: „Hase und Igel in einer Person. Präsenz durch Abwesenheit.“ (ebd., S. 221). Bezüglich dieses Status dient ‚Felicitas’‘ zeitweilige Ersatzmutter Phyllis Gretzky als Vorbild, die für sie stets „[a]bwesend und zugleich auf dem Posten“ (ebd., S. 82) erscheint. Und Quentin wird wiederum in seinen Erinnerungen damit zitiert, dass ,Felicitas‘ immer in Eile ist, immer irgendwohin unterwegs, nie zu fassen […] weil sie so sehr mit dem reinen Dasein beschäftigt ist, dass sie sich dabei selbst zum Verschwinden bringt, ständig auf der Flucht, aber nicht vor etwas davon, sondern auf etwas hin, ein Ziel, das mir unbekannt ist. […] Womöglich ist das ihr geheimer Wunsch: zu verschwinden, damit man sie suchen muss, Präsenz durch Abwesenheit. (ebd., S. 184)

Die Schilderung biografischer Fakten erzeugt für gewöhnlich den Effekt von Nähe und Präsenz, und dies obwohl die (Auto-)Biografie konventionell durch ein retrospektives, also zeitlich späteres Erzählen und folglich von einer temporalen und räumlichen Distanz geprägt ist.54 In der wahrhaftigen ,Traumbiographie‘ Hoppes dagegen erscheint das vermeintliche Verschwinden nicht als eine Distanzierung „vo[n] etwas davon“, sondern im Ergebnis vielmehr als eine neue und andere Nähe „auf etwas hin“. In der Rückschau auf das Leben („Vergangenheiten ertrage ich schlecht“, ebd., S. 19, S. 44 und S. 173) versucht Hoppe eine präsentische Nähe zu erzeugen, da die „Autorin […] ausdrücklich und ausschließlich in der Gegenwart lebt“ (ebd., S. 106).55 Das Verschwinden dient damit einem Suchen und Finden, die

54 Die Konstellation wird unter dem Aspekt der Fokalisierung als Differenz zwischen erzählendem und erinnerndem Ich operationalisiert. Für die Interpretation von Johanna als eine „doppelte Identitätskonstitution“ aus „erlebende[m] Ich“ und „schreibende[r] IchSetzung“ des erzählenden Ich siehe FRANK, 2014, S. 71. 55 In dem Essay Über Geistesgegenwart (2008) entwirft Hoppe ausgehend von dem Gedankengang, wie viel Identifikation und entsprechend „Gegenwart“ beziehungsweise „Jetztzeit“ in den Stoffen der Vergangenheit steckt, eine Überlegung, die sich analog auf ihr autofiktionales Spiel mit Fakt und Fiktion übertragen lässt. Ihre Ablehnung historischer Romane begründet Hoppe damit, dass „Stoffe nicht auf ihre aktuelle Verwertbarkeit, sondern auf ihre Essenz hin zu befragen“ seien. „In diesem Fall fielen Geistesgegenwart

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neue Nähe ist eine durch ‚ehrliche Erfindung‘ und ‚Authentizität zweiter Ordnung‘ hervorgerufene „Präsenz durch Abwesenheit“. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Motivik des Schneiderhandwerks und den Verfahren des Ein- beziehungsweise Verkleidens. Einem Motivbereich, dem ‚Felicitas‘ und die fiktionsimmanente Hoppe „nicht nur in ästhetischer, sondern in nachgerade weltanschaulicher Hinsicht“ (ebd., S. 244) eine bedeutende Rolle beimessen. Biografisch wird dies mit Karl Hoppes „Herkunft als Sohn schlesischer Schneidermeister“ (ebd., S. 243) erläutert. Vom großväterlichen Schneiderhandwerk hat Felicitas vor allem ein ausgeprägtes Gespür für Stoffe, für das Verkleiden 56 und Einkleiden mitbekommen. „Ich fühle noch genau, wie mein Großvater nach meinem Ärmel greift, den Stoff zwischen den Fingern reibt und lachend sagt: Taugt nichts! Um zu diesem Urteil zu kommen, hätte mein Großvater, der Schneider, den Stoff gar nicht anfassen müssen, er hätte längst gesehen, was es damit auf sich hatte. Er erfasste jeden Stoff von weitem, mit bloßem Auge, auf den ersten Blick. Und nicht nur den Stoff, sondern auch den ganzen Rest, alles, was darunter steckt – die gesamte Statur, die komplette Verfassung. […] [D]enn mein Großvater war nicht nur ein großer Entlarver, sondern vor allem ein großer Verhüller, er nähte aus Leidenschaft und Hingabe, ein herrlicher, ehrgeiziger Versteckspieler. Um die Dinge verstecken zu können, muss man wissen, wie sie beschaffen sind. Erst dann kommt die Frage, wie kleidet man ein? Wie korrigiert man die kleinen Missgriffe Gottes? […] Mein Großvater war Schneider, er wusste genau, wie das geht.[“] […] Am Ende inszeniert die Autorin sich selbst, indem sie vom Handwerk zum Schreibhandwerk übergeht[.] (Hoppe, S. 244f.)

An dieser Stelle findet sich ein expliziter Verweis auf die (habituelle) Autorschaftsinszenierung. In der Beschreibung des Übergangs vom „Echthandwerk“ zum „Schreibhandwerk“ (ebd., S. 245) wird die bereits erwähnte Charakterisierung als „handwerksanalog Arbeitende“ deutlich. Darüber hinaus wird die Verwendung angelesener literarischer Motive, Figuren und eben „Stoffe“ sowie das Strukturprinzip der ‚Authentizität zweiter Ordnung‘ durch das Verkleiden und Verschleiern motiviert. Nur wer den Stoff kenne, könne sich mit der Frage des Einkleidens beschäftigen.57 Anders formuliert: Erzähltexte, in denen der Erzählgegenstand, die histoire,

und Zeitlosigkeit in eins“ (HOPPE, 2008, S. 19). Und Hoppe ergänzt mit einem Zitat von Carlos Fuentes (1928-2012), dass so die „wunderbare poetische Qualität eines von der Zeit befreiten Augenblicks“ entstehen könne (ebd., S. 23). 56 Zum Verkleidungsmotiv im Werk Hoppes siehe FRANK, 2015, S. 63. 57 „In Wahrheit geht es aber um etwas anderes, nämlich nicht um die Wahl des Stoffes, sondern um die Frage nach dem jeweiligen Umgang mit dem gewählten Stoff. Also nicht um die Frage nach einer Rüstung, sondern um Möglichkeiten ihrer Vergegenwärtigung.“

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im Vordergrund steht, können nur vorgeblich einem realistischen Erzählpostulat dienen. In Wirklichkeit sind diese Texte aufgrund der Unkenntnis des Stoffes und des Äußeren darauf angewiesen, sich auf die Geschichte zu konzentrieren.58 Eine künstlerisch anspruchsvolle Einkleidung des Stoffes vermag nur vorzunehmen, wer eine tiefergehende Kenntnis des Erzählgegenstandes besitzt. Damit erzeugt die Konstruktion einer ‚Authentizität zweiter Ordnung‘ den „falschen Umkehrschluss“59, dass im Verschwinden die ‚wahre‘ Anwesenheit und im Verkleiden und Verhüllen die größere Offenheit und Sichtbarkeit einer (auto-)biografischen Selbstdarstellung steckt. Während sich Hoppe als Handwerkerin inszeniert, beschreibt sie ihren Schneider-Großvater als einen „gnädigen Künstler“ (ebd., S. 245). An anderer Stelle unterscheidet ‚Felicitas‘, diesen Gedanken aufgreifend und weiterführend, drei „Typen von Schriftstellern: Erstens den Psychologen, der in Wahrheit gar kein Schriftsteller ist“, da er eher „Diagnosen“ stelle und sämtliche Figuren in Typen verwandele. Zweitens den „Charakterdarsteller“, der in „seinem Ehrgeiz zum Charakterbild“ überhaupt nicht mehr wahrnehme, „was wirklich da ist“. Und schließlich drittens den „Künstler“, der als Einziger „sichtbar macht, worum es wirklich geht“ (ebd., S. 226). Der Großvater ist demnach deshalb ein Künstler, „weil er alles sah [und daher] genau wusste, wie man das Auge betrügt“ (ebd., S. 245). Nur der wahre Künstler oder – was damit letztlich dasselbe bedeutet – der Schneidermeister lässt sich von den Illusionen und Simulationen der Äußerlichkeiten und Fakten nicht täuschen, sondern sieht, „was wirklich da ist“ und wie etwas tatsächlich beschaffen ist.60 Einerseits ist darin erneut die Struktur einer ‚Authentizität zweiter Ordnung‘ durch einen ,falschen Umkehrschluss‘ zu erkennen: Das Äußerliche, die Fakten, der Stoff, das Textgewebe – also all die Aspekte, die für

(HOPPE, 2008, S. 14). Hier zeigt sich, wie eng die einzelnen Motive im Werk Felicitas Hoppes miteinander verstrickt sind, wird hiermit doch der Aspekt der Verkleidung und Verschleierung mit der bei Hoppe beständig wiederkehrenden Rüstung ebenso verwoben wie die in Anm. 55 ausgeführten Überlegungen zu den Zeitverhältnissen einer präsentischen Zeitlosigkeit beziehungsweise einer gegenwärtigen Nähe, die im Verschwinden hinter einer Rüstung eine „Präsenz durch Abwesenheit“ erzeugt. 58 Vgl. hierzu erneut Anm. 34. 59 HUCK, 2012, S. 251. Nach Huck wird durch das Offenlegen einer Differenz zu herkömmlichen, massenmedialen Verfahren, dem Zuschauer folgender „falscher Umkehrschluss“ nahegelegt: „Wenn die Verfahren der Massenmedien angewandt werden, dann wird verfälscht und verstellt. Ergo: Wenn die Verfahren der Massenmedien nicht angewandt werden, dann wird nicht verfälscht und nicht verstellt.“ (Hvhbg. i. Orig.). 60 Zur Gegenüberstellung von ‚wahrem‘ inneren Sehen und oberflächlichem, der Täuschung erliegendem Sehen vgl. Anm. 63.

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referenzielle Authentizität von Bedeutung sind – sind das Oberflächliche, das alle erkennen und sehen können, und damit aber auch das, was unter Illusionsverdacht steht. Das Wahre, Eigentliche und Authentische zeigt sich nur unter dem Stoff und es bedarf eines geschulten Auges, um hinter die Oberfläche blicken zu können. Wenn sich ein Künstler-Schriftsteller also vor allem in fantastischen Verkleidungen und assoziativen Verhüllungen zeigt, so wird ihm im Umkehrschluss die Fähigkeit zugeschrieben, den wahren Kern erkennen zu können. Andererseits steckt in dieser Argumentationsstruktur auch eine topografische Metapher: Die Oberfläche ist die Ebene der Illusion und Täuschung, während sich das Authentische in einem Dahinter und Darunter offenbart.

D ER ‚S ONDERRAUM ‘ AUTORSCHAFT

DER IMPLIZITEN , ENTAUTORISIERTEN

Der damit angedeutete ‚andere Raum‘ kann noch näher untersucht werden. Die bisher dargestellten Strukturen der ‚ehrlichen Erfindung‘, der Fiktionalisierung von Fakten und der relationalen Authentizität werden in Hoppe auch topografisch in einem „Sonderraum“ verortet.61 So wird die bekanntlich real existierende deutsche Sprache nicht nur fiktionalisiert, sondern darüber hinaus auch räumlich verschoben: Fortan war nicht mehr von Hoppes Geschichten, sondern nur noch von „Hoppes Sprache“ die Rede, die sich „in einem altmodischen Sonderraum“ breitgemacht habe und, wie noch ein Kritiker der frühen zehner Jahre bemerkt, „nichts anderes als ein Museum der Wünsche“ markiere, „die Besetzung eines verlorenen literarischen Raums, der keinerlei Schnittmengen mehr mit der Wirklichkeit bildet“.

61 In Über Geistesgegenwart beschreibt Felicitas Hoppe den entscheidenden Umschlag von der Materialsammlung zur ästhetischen Schöpfung als ein Eintreten in einen anderen Raum: „Wir betreten einen anderen, offenen Raum, in dem wir wenigstens ansatzweise die Nacherzählung hinter uns lassen und zur Vergegenwärtigung übergehen können. Dann geschieht unverhofft etwas Beglückendes: Die mühsame Arbeit des bloßen Ordnens und Arrangierens wird schöpferisch.“ (HOPPE, 2008, S. 20). Svenja Frank interpretiert in Johanna das Nebenzimmer als eine „Identitätsmetapher“ (FRANK, 2014, S. 61). Stefan Neuhaus untersucht die Identitätsthematik in Hoppes Texten, die sich, mit Peter V. Zima argumentiert, stets „in ihrer Wechselwirkung zur Alterität“ (ZIMA, 2000, S. 30; NEUHAUS, 2008, S. 41) manifestiere. Neuhaus weist dabei nach, dass die „radikal subjektive“ Wahrnehmung sowohl die Zeit wie auch den Raum transgrediert (ebd., S. 46f.).

380 | A NTONIUS W EIXLER Das entspricht, allerdings nicht im Sinn des Rezensenten, tatsächlich der Wahrheit. Hoppe war, was ihr Werk betrifft, damals wie später gar nicht daran interessiert, Schnittmengen mit der Wirklichkeit zu bilden. […] Was Strat und seinen Kollegen […] ebenso entging wie Bamie Boots, war die Tatsache, dass Hoppes „Sonderraum“ keineswegs imaginiert, sondern Realität war. […] Selbstverständlich war Hoppes Deutsch „nicht von heut“, besser gesagt, es war „nicht von hier“, weil sie selbst nicht von hier, sondern von dort war. Ihre Sprache ist, was sonst, nicht erlebt, sondern ambitioniertes Referat einer höchst persönlichen Sehnsucht [.] (ebd., S. 33f.) Denn in Wahrheit ist Deutsch bloß ein literarischer Trick, ein Extra für Schwärmer, für Verliebte, Verlorene, Romantiker, für die letzten Bewohner eines Zwischenraums, den es bald nicht mehr geben wird [.] (ebd., S. 288)

Hinter dem offensichtlichen Äußerlichen liegt demnach ein Raum des Eigentlichen und Wahren. Erneut wird damit das Muster einer ‚Authentizität zweiter Ordnung‘ aufgerufen. Generell kann der ‚Ort‘ des Authentischen mit dem Dahinter/Darunter angegeben werden: So identifiziert Helmut Lethen „immer die gleiche Topographie des Authentischen, immer liegt es unter einem modernen Konstrukt, das als Oberfläche begriffen wird, die durchdrungen werden muss.“62 Wie die wahre Präsenz nur in der Abwesenheit beziehungsweise in der Verlaufsform des Verschwindens darstellbar ist und der eigentliche Inhalt sich nur in der Verkleidung und Verhüllung zeigt, manifestiert sich der Kern des Eigentlichen und Authentischen in einem Dahinter: „Der Rest, das andere „wirkliche“ Leben, fand im Verborgenen statt, an einem Ort, „an den mir so schnell keiner folgt“.“ (ebd., S. 39). Dass die Beschreibung dieses Raums Ziel und Herausforderung der fiktionalen Autobiografie darstellt, wird in Viktor Seppelts Schilderung deutlich, der zunächst einen Bericht von ,Felicitas‘ als „die andere Hälfte der Wahrheit“ bezeichnet und über die gemeinsamen Hochzeitspläne schließlich resümiert: Denn zwei Schritte hinter der wirklichen Welt (wer zum ersten Mal heiratet, spürt das sofort) tut sich ein unermesslicher Raum auf, schrecklich und schön, von dem man nichts weiß, weil davon selten erzählt wird, weil man hier alles zum ersten Mal sieht und hört und riecht und fühlt und dabei (nur einmal im Leben), kurzfristig beide Augen schließt. (ebd., S. 217)

In dieser Textstelle wird die räumliche Unterscheidung in ein simuliertes Davor und ein authentisches Dahinter mit der Differenzierung eines konventionellen Sehens

62 LETHEN, 1996, S. 229 (Hvhbg. i. Orig.).

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von einem vermeintlich ‚wahren‘ Absehen kombiniert.63 Nicht nur wird von diesem Ort, von dieser vollkommenen Nähe und Intimität, nur „selten erzählt“, auch ist dieser ‚Ort‘ nur durch ein anderes Sehen überhaupt wahrnehmbar. Nur wer von der Oberflächlichkeit der Fakten absehen kann, wer wie ein Schneider durch den Stoff hindurchzusehen oder wie ein Blinder zu sehen vermag, der gelangt zum Kern des Persönlichen als dem Ziel einer jeden Autobiografie. Nicht zufällig gehören Blinde zum festen Figurenrepertoire in Hoppes Werk. 64 Daher ist es nur konsequent, wenn ,Felicitas‘ in Hoppe, als sie die Bekanntschaft mit dem blinden Joey macht, das Briefeschreiben mit der Erklärung beendet, dass der, „der sie hätte lesen können, sie längst nicht mehr las […] [,] weil er vollkommen blind und viel zu nah dran ist.“ (Hoppe, S. 159). Das ,blinde Sehen‘ steht für große Nähe, das Betrachten des äußerlichen Stoffes dagegen für große Distanz. Nur in einem derartigen Sonderraum des Dahinter erscheint es auch in der Postmoderne beziehungsweise in der Transmoderne noch möglich, sich ganz und gar authentisch und wahrhaftig zu zeigen: Ja. Was sonst. Er selbst (Mel) wusste natürlich genau, wie das geht, das Zeigen, weil er selber stockdunkel war, so dunkel, dass er sich immer ins Licht stellen musste, um überhaupt gese-

63 Generell kann die abendländische Kultur als eine Kultur des ‚Absehens‘ oder als eine Kultur des Misstrauens gegenüber dem psychophysiologischen Sehen bezeichnet werden, da das ‚blinde Sehen‘ zum Beispiel im Motiv des Sehers ein (philosophisches, wahres) Erkennen und Sehen ermöglicht, während das organische Sehen nur die Oberfläche erkennen kann und daher der Täuschung unterliegt. Das biblische „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20, 90) findet im Idealismus seine Entsprechung etwa in einer Sentenz von Franz Xaver von Baader (1765-1841): „Das Sichtbare ist unwahr und das Wahre ist unsichtbar“ (zit. n. KONERSMANN u. a., 1995, Sp. 123). Ralf Konersmann weist in diesem Kontext auf eine Verbindung zum Erkennen in der Theorie als einem ‚blinden Sehen‘ hin, da der Theoretiker nicht mit seinem natürlichen, sondern mit seinem „inneren Auge“ sieht und dadurch zum „Seher“ auch im etymologischen Ursprung wird, zum „theorós“ (KONERSMANN, 1999, S. 18). Wenn Konersmann darüber hinaus zeigen kann, dass dies schon in der Antike die Gegenfigur zum Ideal des Historikers, des hístor als „Wissender und Augenzeuge“ (ebd., S. 23), war, so lässt sich in einem gewagten und weiten Bogen durchaus eine Analogie zu Hoppes Abneigung historischer Romane (vgl. Anm. 34) sowie herkömmlicher Autobiografien einerseits und andererseits ihrer Thematisierung des Sehens im autofiktionalen, einer relationalen Authentizität verpflichteten Roman Hoppe erkennen. 64 Vgl. den auch wortspielerischen Umgang Hoppes mit dem Motiv, etwa den diversen ‚blinden Passagieren‘ in Paradiese, Übersee, den ,Überschmugglern‘ in Pigafetta (S. 90, S. 125) oder den ‚blinden Spion‘ in Picknick der Friseure.

382 | A NTONIUS W EIXLER hen zu werden, weshalb er nicht die geringste Ahnung hatte von der überbelichteten Klugheit des Nordens, die die Dinge in ein ganz anderes Licht taucht, in ein besonderes Licht, das es in Australien nicht gibt, in Schlesien schon gar nicht, und das uns schmerzhaft zu erkennen gibt, dass der Konzertsaal uns, wie jede andere Bühne, immer wieder von vorne foppt. Denn ganz egal, wie lange wir spielend in dieser Welt unterwegs sind, es gibt immer noch keinen Raum für uns, in dem wir uns ehrlich zeigen könnten. (ebd., S. 291)

,Sich ehrlich zu zeigen‘ ist das darstellungstheoretische Ideal der Autobiografie. Nach Erving Goffman werden Selbstdarstellungen von Individuen im Alltag – vergleichbar dem Spiel auf der Theaterbühne – durch Kostüme, Verkleidungen, Masken und Requisiten verhüllt; die wahre Identität ist folglich nur hinter der Bühne zu finden.65 Im Zusammenspiel mit dem Verhüllen und Verschwinden, dem ‚ehrlichen Erfinden‘ und der ,Präsenz durch Abwesenheit‘ erreicht Felicitas Hoppe mit Hoppe zum einen das Ziel, sich vermeintlich wahrhaftiger und authentischer zu zeigen, als dies eine konventionelle Autobiografie ermöglichen würde. Zum anderen gelingt es ihr, trotz des postmodernen Misstrauens gegenüber der Kommunikation einen Kommunikationsraum des ,gepanzerten Zeigens‘ einer ehrlich-erfundenen Wahrhaftigkeit sowie in der Abwesenheit biografischer Details eine Präsenz der Persönlichkeit zu evozieren. Heinrich Detering fragt in seiner Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach dem Ort beziehungsweise nach dem Kommunikationsraum, von dem aus die Erzählerin ,fh‘ über die Figur oder die Autorin Hoppe wie von einer Toten spreche: „Hoppe ist eine Geschichte buchstäblich nach dem Tod der Autorin, erzählt aus einer Art Jenseits; und von welchem Ort aus eigentlich gesagt wird, dass ‚ich seit Jahren verschollen bin‘, bleibt offen.“66 Es lässt sich neben (oder über, unter, vor?) den Instanzen der konkreten Autorin Felicitas Hoppe, der Erzählerin ,fh‘ des Textes Hoppe und der Figur ,Felicitas Hoppe‘ offensichtlich noch eine weitere, heuristisch davon zu trennende Ebene identifizieren. Aus der Perspektive der Autofiktionsforschung würde dieser Raum, diese Ebene beziehungsweise diese Instanz als eine „Autor-Imago“67, als ein „Zwischenraum der Gattungen“68 oder als eine „oszillierende[ ] Ungewissheit zwischen autobiographischer und fiktionaler Lesart“69 bezeichnet werden können. In der Erzähltheorie wurde die Existenz einer

65 Vgl. GOFFMAN, 2003. Vgl. dazu auch den Beitrag von Florian Lippert in diesem Band. 66 DETERING, 2012. 67 FRANK, 2015, vgl. insbesondere S. 49: „Daran knüpft schließlich die Analyse einer übergeordneten narrativen Ebene an, im Zuge derer die textuelle Autor-Imago als fiktiver Urheber der poetischen Utopie herausgearbeitet wird.“ 68 DOUBROVSKY, 2008, S. 126. 69 WAGNER-EGELHAAF, 2013, S. 12.

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vergleichbaren Zwischeninstanz von Autorin und Erzählerin unter dem Schlagwort der ‚impliziten‘ oder ‚abstrakten Autorin‘ diskutiert. Da Hoppe auch ein Text über Identität und die Frage, „auf welchen Namen wir wirklich getauft sind“ (Hoppe, S. 256), ist, böte sich für die Instanz der abstrakten Autorin eigentlich die Bezeichnung Felicitas Hoppe an. Gemäß Wolf Schmids Modell der Kommunikationsebenen und -instanzen des Erzählwerks schafft ein konkreter Autor ein literarisches Werk, in dem ein abstrakter Autor einen fiktiven Erzähler fingiert, der wiederum die erzählte Welt mit den Protagonisten erschafft. Die Instanz des implied author nach Wayne C. Booth beziehungsweise des abstrakten Autors nach Schmid ist demnach ein Textimplikat in der Form des Autors, wie er sich in seinem Text ausdrückt. 70 Schmid bestimmt den implizierten oder abstrakten Autor als das Korrelat[ ] aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes […]. Der abstrakte Autor ist auf einer andern Ebene des Werks als der Erzähler angesiedelt, er repräsentiert das Prinzip des Fingierens eines Erzählers und der gesamten dargestellten Welt. Er hat keine eigene Stimme, keinen Text. Sein Wort ist der ganze Text mit allen seinen Ebenen, das ganze Werk in seiner Gemachtheit und Komposition. […] Der abstrakte Autor ist nur die anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte, die personifizierte Werkintention.71

Die Instanz eines implizierten oder abstrakten Autors ist kontrovers diskutiert und immer wieder in Zweifel gezogen worden, etwa als lediglich vom Leser gebildetes Konstrukt, das nicht personifiziert werden sollte, oder auch als eine rein interpretatorische Kategorie.72 Der implizite Autor ist aber stets dann eine sinnvolle Analyseinstanz, wenn Autoren Experimente mit ihren Idiosynkrasien oder Wünschen durchführen und Positionen beziehen, die man den konkreten Autoren nicht gesichert zuschreiben kann.73 Oder wenn Autoren ihre eigene Identität im autofiktionalen Spiel zwischen den Instanzen des empirischen Autors und der Erzählinstanz oszillieren lassen und als ‚abwesende Präsenz‘ verstecken. Auch wenn sämtliche Autor-Instanzen in Hoppe bewusst entautorisiert und fiktionalisiert werden, ist trotz allem noch ein Sinnzentrum des Textes auszumachen. In Schmids Worten: Die im Text ausgedrückten Bedeutungen „erhalten ihre für das Werk finale Sinnintention erst auf dem Niveau des abstrakten Autors.“ 74 In dieser

70 Vgl. BOOTH, 1961, S. 70f.; SCHMID, 2014, S. 45-70. 71 SCHMID, 2014, S. 60f. 72 Vgl. TOOLAN, 1988, S. 78; NÜNNING, 1989, S. 33; DERS., 1993, S. 7f.; DIENGOTT, 1993, S. 189; Vgl. auch die Übersicht über diese Positionen bei SCHMID, 2014, S. 54. 73 Vgl. SCHMID, 2014, S. 62. 74 Ebd., S. 63.

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Lesart erscheint der Romantext Hoppe zwar als die fiktionale ,Traumbiographie‘ der realen Autorin Felicitas Hoppe, aber durchaus als die referenziell-authentische Autobiografie der abstrakten Autorin. Die spezifisch erzählformelle Leistung des Textes Hoppe ist demnach darin zu sehen, nach dem ‚Tod des Autors‘ einen Möglichkeitsraum für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Identität geschaffen zu haben: in der ‚entautorisierten‘ Authentizität einer Autobiografie der abstrakten Autorin Felicitas Hoppe.

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„Vor dem Hintergrund von Hoppes Mehrsprachigkeit zeigt sich die Diskussion um ihr Werk heute unvermutet in einem neuen Licht.“ Zur Inszenierung von Mehrsprachigkeit in Felicitas Hoppes Hoppe (2012) D IRK W EISSMANN

Hermeneutisch betrachtet stellt Felicitas Hoppes „Traumbiografie“ 1 Hoppe den (akademischen) Leser vor große Herausforderungen. Das in diesem Buch überaus gekonnt durchgeführte Spiel mit Fakten und Fiktion macht Hoppe zu einer diffizilen Lektüre, sobald man die Ebene der reinen „Lust am Text“ (Barthes) verlässt und sich Klarheit über den ontologischen Status der verschiedenen Diskursebenen im Text zu verschaffen versucht. Im Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bietet Stefan Neuhaus folgende Minimaldefinition des Romans an: Der Roman Hoppe beruht zugleich auf einer Herausgeber- und Autorfiktion, außerdem steht er in der Tradition des Schelmenromans. Hoppe spielt mit ihrer eigenen Biografie, indem sie vorgibt, dass das, was über sie bekannt ist, nicht der Wahrheit entspricht und ihr Leben eigentlich ganz anders verlaufen ist. Die Gattungsbezeichnung verweist freilich schon darauf, dass nicht das gelebte Leben der Autorin, sondern das hier geschilderte Leben der Fiktion zuzurechnen ist.2

1

So die alternative Gattungsbezeichnung laut Verlagswerbung und Klappentext.

2

NEUHAUS, 2012, S. 17.

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Avancierte narratologische Ansätze, wie sie zum Teil im vorliegenden Band erprobt worden sind,3 können dazu dienen, die verschachtelte Erzählsituation mit ihren verschiedenen, nicht immer eindeutig identifizierbaren Erzählinstanzen zu durchleuchten. Biografische Ansätze können darüber hinaus dabei behilflich sein, die Realbiografie hinter der ‚Wunschbiografie‘ freizulegen und die in Hoppe zur Anwendung gelangenden literarischen Verfahren der Selbst-Verfremdung und -Übersteigerung zu analysieren. Im Rahmen meines Ansatzes möchte ich einen anderen Weg einschlagen und den autobiografischen Pakt (Lejeune) trotz besseren Wissens – das heißt trotz der Erkenntnis, dass es sich bei der literarischen Figur ‚Felicitas Hoppe‘ offensichtlich um einen durch und durch konstruierten Charakter handelt 4 – zunächst einfach akzeptieren. Deshalb soll (und muss) im Folgenden nicht trennscharf zwischen den Instanzen ‚Felicitas Hoppe‘, ‚Hoppe‘ und ‚fh‘, so wie sie im Text in Erscheinung treten, differenziert werden.5 Vielmehr sollen diese verschiedenen, einer einzigen ‚biofiktionalen‘6 Person beziehungsweise persona zuschreibbaren Stimmen zusammengelesen werden, wobei in diesem Beitrag stets von ‚Hoppe‘ gesprochen wird. Anders gesagt möchte ich den „Roman“ – so die paratextuelle Genrebezeichnung des Titelblatts – Hoppe als mehrstimmige und traumlogische Inszenierung der Autorin Felicitas Hoppe lesen, wobei ich genauer der Rolle nachgehen möchte, die ‚Hoppes‘ (fiktive) Mehrsprachigkeit innerhalb dieser Selbstinszenierung spielt. Denn wäre es im Falle Hoppes nicht müßig zu versuchen, die Spreu der Fiktion vom Weizen der Realität zu trennen, das heißt die ‚wahre‘ Hoppe aus dem Hoppetext zu befreien und alles ‚Hinzugedichtete‘ gleichsam literaturwissenschaftlich ‚wegzuoperieren‘? Ganz zu schweigen davon, dass ein solches Unterfangen vollkommen an einem zentralen Grundsatz von Hoppes Poetik vorbeizielte, welche die Trennung von Textinnerem und Weltaußen konsequent und permanent infrage

3 4

Vgl. etwa die Beiträge von Florian Lippert und Antonius Weixler im vorliegenden Band. Tatsächlich wird der autobiografische Pakt, so wie ihn Philippe Lejeune definiert, in Hoppe von Anfang an konsequent infrage gestellt, insofern als an keiner Stelle Authentizität behauptet wird, sondern bereits im Paratext der fiktionale Charakter in aller Deutlichkeit erkennbar gemacht wird. Zur erzählerischen Funktion von Authentizität in Hoppes Autobiografie vgl. auch Antonius Weixler in diesem Band.

5

Wobei schematisch gesprochen ‚Felicitas Hoppe‘ für den real verbürgten Autorennamen steht, ‚Hoppe‘ als fiktionalisiertes Alter Ego der Autorin fungieren und ‚fh‘ als kommentierende Herausgeberin auftreten würde. Dass diese Trennung so nicht konsequent durchzuführen ist und dass es sich im Grunde um das Paradox einer Identität der NichtIdentität handelt, soll hier nicht weiter vertieft werden. Vgl. dazu auch Florian Lippert in diesem Band.

6

Vgl. BUISINE, 1991, S. 7-13.

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stellt.7 Hierbei handelt es sich durchaus um eine konkrete Leseanweisung, die Hoppe seinen beziehungsweise ihren Lesern mit auf den Weg gibt, insofern als gleich auf den ersten Seiten des Buches darauf hingewiesen wird, „dass Hoppes Werk die Unterscheidung von drinnen und draußen weder kennt noch sucht“ (Hoppe, S. 26). Viele Passagen des Buches weisen eindeutig in diese Richtung einer Aufhebung der Grenze zwischen „verbriefter“ (ebd., S. 17) Realität und literarischer Imagination und Projektion. Bereits in Verbrecher und Versager (2004) schrieb Hoppe: „Charaktere existieren nicht. Sie sind, wie im Schlepptau die Biographien, immer erfunden“ (Verbrecher, S. 74). Die meinen Betrachtungen zugrunde liegende Frage soll daher nicht lauten: Wie autobiografisch ist Hoppes Hoppe wirklich?, sondern vielmehr: Was könnte hinter den Wünschen stecken, die eine solche romanhafte Wunschbiografie haben entstehen lassen? Genauer: Was steckt hinter dem Wunsch nach Mehrsprachigkeit, der Felicitas Hoppes letztes Buch so entscheidend von ihren vorangegangenen Werken abhebt? Oder: Wofür steht beziehungsweise was verbirgt diese literarische Inszenierung der Mehrsprachigkeit in Hoppe?

D AS MEHRSPRACHIGE S ETTING EINES M IGRATIONS F AMILIENROMANS Würde man Hoppe als authentisches autobiografisches Dokument lesen, dann wäre die Büchnerpreisträgerin des Jahres 2012 eine deutsche Schriftstellerin und Musikerin mit ausgeprägtem Migrationshintergrund. Geboren 1960 in Hameln, aufgewachsen bis in die Mitte der 1970er Jahre in Kanada, dann in Australien und schließlich ab Anfang der 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten, wäre sie erst in den 1990er Jahren als junge Erwachsene nach Deutschland zurückgekehrt, um dort, mit Mitte 30, eine überaus erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin zu beginnen.8 Mit ihrer bewegten Familiengeschichte zwischen drei Kontinenten und aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit würde sich Hoppe so in die Tradition der deutschsprachigen Migrationsliteraten einreihen und wäre sicherlich eine vielversprechende Anwärterin auf den Adelbert-von-Chamisso-Preis.9 Was die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für das Verständnis dieser erträumten Schriftstellerbiografie angeht, liefert Hoppe wichtige (Selbst-)Hinweise unter ande-

7

Zur Problematik fiktional – nicht-fiktional siehe auch NEUHAUS, 2008.

8

So endet das Buch auch mit dem Erscheinen von Picknick der Friseure (1996), dem literarischen Debüt Felicitas Hoppes (beziehungsweise der literarischen Figur ‚Hoppe‘) bei ihrem Hausverlag S. Fischer – das übrigens laut Hoppe in Oregon entstanden wäre.

9

Zum Thema Migrationsliteratur und Chamisso-Preis siehe u. a. CHIELLINO, 2007 [2000].

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rem in Form fingierter Zitate fiktionaler Personen. So erklärt dort eine als Literaturkritiker eingeführte Figur namens Reimar Strat: „Vor dem Hintergrund von Hoppes Mehrsprachigkeit zeigt sich die Diskussion um ihr Werk heute unvermutet in einem neuen Licht.“ (Hoppe, S. 33). Selbstredend ist eine solche Äußerung (und eine solche Person) realiter in der Hoppe-Rezeption und -Forschung nicht nachweisbar, wodurch diese Bemerkung gleichsam zu einer auktorialen Leseanweisung avanciert, die mithin den Ansatz des vorliegenden Beitrags legitimiert. Um welche Sprachen geht es konkret in der ‚biofiktionalen‘ Erzählung? Neben dem Englischen, das man als die eigentliche Hauptsprache ‚Hoppes‘ bezeichnen dürfte, und dem Deutschen, ihrer Vatersprache, spricht das Wunsch-Alter Ego noch ein ausgezeichnetes Schulfranzösisch (vgl. ebd., S. 46). Darüber hinaus beherrscht ‚Hoppe‘ auch das Polnische, eine Sprache, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn Hoppe von ihrer polnischen Mutter, Maria Hoppe, geborene Siedlatzek, träumt, die des Deutschen nicht mächtig war und die Familie früh verlassen hat (vgl. ebd., S. 282 sowie S. 44f.). Bezüglich der mehrsprachigen Literaturproduktion der Autorin werden im Buch zahlreiche in englischer Sprache verfasste Texte aus dem ‚Frühwerk‘ erwähnt. So zum Beispiel Wayne meets Glenn (ebd., S. 69), ein anlässlich eines Wettbewerbs in Ontarios Schulen verfasster Aufsatz aus dem Jahre 1973 (‚Hoppe‘ war damals 13 Jahre alt), oder die vermutlich 1976 entstandene Erzählung Dreaming of Klemzig (ebd., S. 162) sowie die im Februar 1985 im New Yorker erschienene Erzählung Catchafool (ebd., S. 270). Oder aber das Opernlibretto Tuning Klemzig (ebd., S. 169) aus den 1980er Jahre – neben vielen anderen Texten, die in der Erzählung Erwähnung finden.10 Auch in dem nach ihrem Durchbruch als deutsche Schriftstellerin veröffentlichten Werk, so wie es proleptisch in Hoppe aufgeführt wird, findet man einige Texte, als deren Originalsprache Englisch angegeben wird. Hier seien unter anderem genannt: Meeting at Montefiore Hill (ebd., S. 156), eine vermutlich Mitte der 2000er Jahre entstandenen Erzählung, der Essay The eternal Landlady (ebd., S. 147) aus dem Jahre 2004 sowie ein poetologischer Aufsatz mit dem skurrilen Titel Just DO it! (2005, ebd., S. 191). Produktionsästhetisch betrachtet beinhaltet die fiktionsinterne Mehrsprachigkeit der Schriftstellerin ‚Hoppe‘ also zuvorderst das Deutsche und das Englische, wobei die deutsche Sprache als offizielle Literatursprache erst im Erwachsenenalter voll zum Tragen kommt.

10 Solche englischen Titel sind im Text allgegenwärtig und können hier nicht alle im Einzelnen nachgewiesen werden.

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(H YPO -)T HESEN Soweit ein Einblick in das ‚traumbiografische‘ Sprachen-Setting Felicitas Hoppes. Mehrsprachigkeit – als sprachliche Praxis und als Gegenstand der Reflexion – ist somit unverkennbar eines der herausragenden Merkmale von Hoppes bislang jüngster Buchpublikation. Jedoch wurde dieser Umstand (trotz des Hinweises von Reimar Strat) in den zahlreichen Rezensionen, die zu diesem Werk erschienen sind, meines Wissens nach kaum erwähnt, geschweige denn analysiert – weshalb ich mich im Folgenden diesem Forschungsdesiderat annehmen möchte. Die Hauptthese, die ich im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit diesem Phänomen vertreten möchte, lautet verkürzt, dass Hoppe als literarisches Versuchslabor konzipiert ist, in dem das Experiment ‚Mehrsprachigkeit und literarisches Schreiben‘ fiktional durchgespielt wird. Ohne den Anspruch zu erheben, die Autorenintention der realen Felicitas Hoppe aufzudecken, soll der Roman als Schlüsseltext für die aktuelle Mehrsprachigkeitsdebatte in der Literaturwissenschaft betrachtet werden, wobei ich ihn mit dem Komplex der sogenannten ,Chamisso-Literatur‘11 und ihrer Problematik zusammenlesen möchte. Da es, wie bereits angedeutet, kaum fruchtbar wäre, bei dem vorliegenden Roman zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden, möchte ich meinerseits ebenfalls nicht zwischen den Interpretationsoptionen ‚Affirmation‘ und ‚Kritik‘ unterscheiden und drei unterschiedliche, teils sogar gegensätzliche Lesarten erproben. In diesem Sinne soll Hoppes Mehrsprachigkeit zunächst als literarische Wunscherfüllung gedeutet werden; im Anschluss daran werden die mehrsprachigen Verfahren und Konfigurationen als produktives ironisches Spiel mit Sprache und sprachlichen Identitäten gelesen; abschließend möchte ich den Einsatz und die Thematisierung von Mehrsprachigkeit als kritisches Statement gegenüber dem Biografismus und jeglicher Form von Hypostase sprachlicher Identitäten deuten.

11 Hierbei handelt es sich um einen jüngeren Begriff der Fachwissenschaft, mit dem Literatur von Autorinnen und Autoren bezeichnet wird, die entweder Träger des Preises sind oder aber aufgrund ihrer biografisch-sprachlichen Voraussetzungen Träger des Preises sein könnten. Zu den Vergabekriterien des Preises siehe http://www.boschstiftung.de/ content/language1/html/14169.asp, 1.1.2015.

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Mehrsprachigkeit als Teil der „Wunschmaschine“ Dieser erste Ansatz zur Deutung der Rolle von Mehrsprachigkeit in Hoppe beruht zunächst auf den in verschiedenen Interviews geäußerten Selbstaussagen der Autorin, bei dem Buch handele es sich um eine ,Wunschbiografie‘. Überhaupt hat Felicitas Hoppe wiederholt die Auffassung vertreten, wonach Kunst und insbesondere Literatur generell als „Wunschmaschine“ funktionieren (Abenteuer, S. 29). So hat sie beispielsweise 2008 in ihren Augsburger Vorlesungen erklärt: „Ist nicht die Kunst ein Beweis dafür, dass man dem Wünschen eigene Form und Gestalt geben kann?“ (Schätze, S. 20). In diesem Sinne erscheinen die historischen Figuren, die sich die Autorin in ihren Büchern ausgewählt hat, oft auch als Stellvertreter ihrer eigenen Wünsche und Träume. Die in Hoppe betriebene fiktionale Selbstverwandlung in ein mehrsprachiges Migrationssubjekt könnte so ebenfalls als Teil dieser literarischen „Wunschmaschine“ gedeutet werden, in der reales Leben in ein geträumtes alternatives Leben umgewandelt wird, gemäß dem Anliegen der Autorin, ihre persona ,Hoppe‘ in die Maske einer Vielzahl universeller Archetypen schlüpfen zu lassen und ihr so jede denkbare Art menschlicher Erfahrungen zu eröffnen. Wie die Autorin selbst feststellt, entstehen solche Wünsche allgemein aus einem Gefühl der Insuffizienz und der Kontingenz heraus (vgl. ebd., S. 19). Und in Hoppe, die als Wunschbiografie sich per definitionem von Faktum und Fatum absetzt, wird in der Tat immer wieder gefragt: „Könnte nicht alles ganz anders sein?“ (Hoppe, S. 259 et passim). Stünde demnach am Anfang von ‚Hoppes‘ Wunsch nach Mehrsprachigkeit das Bewusstsein von Einsprachigkeit als Manko gegenüber einem unausgeschöpften mehrsprachigen Potenzial? Dabei hat die Schriftstellerin Hoppe, die immer wieder von sich selbst behauptet, ihr falle in jedem Moment, an jedem Ort irgendetwas ein, mit dem sie etwas machen könne, sich im Rahmen ihrer zahlreichen Reisen während der letzten Jahre durchaus als nomadisches Subjekt erfahren. Und so dürfen die vielen Ortswechsel und die damit verbundenen Sprachwechsel, wie sie sie in den vergangen Jahren erlebt hat, durchaus als eine Inspirationsquelle betrachtet werden. Anders gesagt: Die faktisch rein einsprachig aufgewachsene Schriftstellerin, die im Duktus „ein[es] durch und durch hochgestimmte[n] „Als ob““ (ebd., S. 103) schreibt, würde sich aus einem Gefühl des Mangels und der Erfahrung eines alternativen Möglichkeitsraums in ein mehrsprachiges Subjekt hineindenken. Dabei handelt es sich um ein Verfahren „ehrlicher Erfindung“ (ebd., S. 25), mit dem durchaus reale Sehnsüchte fiktional realisiert werden. In der Tat hat Felicitas Hoppe anlässlich ihrer Oxforder Lesung im November 2012 erklärt, ihr derzeit

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größter „Traum“ (!) sei es, in einer anderen Sprache als in Deutsch zu schreiben.12 Diese Möglichkeit – derer sie sich faktisch durch fehlende Virtuosität in einer anderen Sprache als dem Deutschen beraubt meint – erschiene durch die damit einhergehende zusätzliche Distanznahme zum deutschsprachigen Kanon und zur Sprachnorm als eine Befreiung. Dass sie diese Möglichkeit bereits partiell in Hoppe nutzt, wird weiter unten zu zeigen sein. Mehrsprachigkeit als genuiner Bestandteil zeitgenössischer Lebensläufe Wie in den Augsburger Vorlesungen zu erfahren ist, sucht sich der Mensch seine Wünsche nicht immer aus; vielmehr sind es oft die Wünsche selbst, die sich den Menschen als Sprachrohr und Agens wählen (vgl. Schätze, S. 20). Es könnte demnach gefragt werden, ob das in der heutigen Gesellschaft unter anderem in Deutschland weitverbreitete Verlangen nach Mehrsprachigkeit für das in Hoppe vorliegende Sprach-Setting nicht ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Hat der allgemeine Wunsch nach mehrsprachiger Kindererziehung und nach Schulbildung und Studium im Ausland13 beispielsweise nicht in Felicitas Hoppe den Wunsch aufkommen lassen, dieses Szenario literarisch durchzuspielen? Eine Vermutung, die durch die Wahl der englischen Sprache mit ihrem hohen sprachsoziologischen ‚Marktwert‘ weltweit zusätzlichen Rückhalt gewinnt. Mehrsprachigkeit – womit heute zumeist das Englische als Globalsprache impliziert wird – kann in der Tat als genuiner Bestandteil und gesellschaftlich geforderte Schlüsselkompetenz zeitgenössischer Lebensläufe bezeichnet werden. Das Spannungsfeld zwischen Sprache im Singular und Sprache im Plural ist zweifelsohne eine der Grundfragen des postmodernen, von Mobilität und Migration geprägten Daseins. So schreibt zum Beispiel die amerikanische Germanistin Yasmine Yildiz in ihrer literaturwissenschaftlichen Studie zur Postmonolingual Condition (2012): „[T]he phenomenon of multilingualism appears as a remarkable new development of the globalized age“.14 Aus migrationslinguistischer Perspektive bestätigt der Münchener Romanist Thomas Krefeld, dass mobile Mehrsprachige nicht mehr länger ein marginales ,Gegenbild‘, sondern seit eh und je, und besonders in den heutigen multi- oder transkulturellen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts,

12 Felicitas Hoppe im Gespräch mit Svenja Frank im Rahmen des DAAD-Writer-inResidence-Programms, The Queen’s College Oxford, 30.11.2012. 13 Als realbiografischer Fakt könnte hier Felicitas Hoppes Studium an der University of Oregon in den USA erwähnt werden. 14 YILDIZ, 2012, S. 2.

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selbstverständliche Teilnehmer aller größeren Kommunikationsgemeinschaften sind.15 Unter diesem Gesichtspunkt wird literarische Mehrsprachigkeit mithin als ein herausragendes Mittel zur ‚Umkreisung‘ des Geheimnisses heutiger Identität in einer globalen Welt erkennbar.16 Wobei laut Stefan Neuhaus in Felicitas Hoppes Werk die literarische Sprache generell als ästhetischer Gestaltungsraum alternativer Subjekt- und Lebensentwürfe fungiert: Während sich die postmoderne Literatur vor allem daran abarbeitet, die grundsätzliche Problematik der Konstruktion von Identität nach der Moderne vorzuführen, zeigen Hoppes Texte nicht nur diese Problematik, sondern auch und vor allem die Gestaltungsmöglichkeiten des Subjekts, die zugleich Möglichkeiten der Literatur sind. Die metafiktionale Analogie von Leben und Literatur ist es, die Hoppes Texten nicht nur subjekttheoretische, sondern auch literaturästhetische Bedeutung gibt.17

Meine weiterführende Hypothese wäre in diesem Zusammenhang, dass der Wunsch und der Versuch Hoppes, ihre eigene Sprachsituation, das heißt ihre eigene sprachliche Idiosynkrasie, mit derjenigen von Migranten zu vergleichen, oder sich sogar mit solchen multikulturellen und mehrsprachigen Lebensläufen fiktional zu identifizieren, auch dazu dienen kann, dem Geheimnis heutiger Identität – als sprachlich und kulturell hybrider beziehungsweise pluraler Identität – näher zu kommen. Mehrsprachigkeit als Zugang zu einer neuen Weltwahrnehmung Mehrsprachigkeit kann mithin auch deswegen wünschenswert erscheinen, weil sich mit jeder neuen Sprache auch eine neue Sicht auf die Welt eröffnet. In seiner aufschlussreichen Studie über Fremderfahrung und Mehrsprachigkeit in der Literatur (2000) schreibt der Dortmunder Philologe Edzard Obendiek: Eine neue Sprache verhilft zu einer neuen Identität, und eine neue Identität ist wie eine neue Sprache. Als Maske und Rolle erlaubt sie dem, der leidet, manchmal unbeschwerten Zugriff auf die Wirklichkeit und kann ins Kreative gewendet werden. Vielleicht ist man des alten

15 Vgl. KREFELD, 2004. 16 Siehe hierzu die Jurybegründung für die Verleihung des Büchnerpreises: „In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität“, http://www.deutscheakademie.de/aktuell3.htm, 1.1.2015. 17 NEUHAUS, 2008, S. 39.

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Ichs, der gewohnten Sicht müde, die Aussagekraft der vertrauten Sprache hat sich erschöpft, sie sagt nicht mehr das, was man meint.18

Das polyfone Setting Hoppes, gepaart mit der traumlogischen Übersteigung der eigenen kontingenten Biografie, mündet in der „Möglichkeit radikaler Veränderung der Welt durch die eigene Wahrnehmung“19 im Prisma der Mehrsprachigkeit. In der zuvor zitierten Oxforder Lesung verbindet Felicitas Hoppe in der Tat Mehrsprachigkeit mit einem Akt der Befreiung, womit auch Wahrnehmung und Kreativität angesprochen sind. Dieses innovativ-kreative Potenzial von Mehrsprachigkeit an sich ist soziolinguistisch und literarästhetisch gut dokumentiert und stellt einen Gemeinplatz der aktuellen Mehrsprachigkeitsforschung dar.20 Hoppe scheint diese Erkenntnis textintern zu belegen. So kann man dort lesen: „Ihr Umgang mit Wörtern war weniger sprachverliebte Spielerei als die frühe, wenn auch kaum reflektierte Erfahrung, dass Angelegenheiten sich verändern, je nachdem, wie man sie ausdrückt“ (Hoppe, S. 32). Wobei das ‚Wie‘ im konkreten Kontext die Wahl zwischen mehreren Sprachen impliziert, was aus der sich dem Zitat unmittelbar anschließenden Stelle hervorgeht: „Felicitas las und sprach längst in fließendem Englisch, schrieb aber, jenseits ihrer Schulaufsätze, ausschließlich in ihrer Vatersprache, also auf Deutsch. Und träumte in einer dritten Sprache […]: auf Polnisch, der Sprache ihrer Mutter“ (ebd., S. 33). Wobei anzumerken ist, dass die hier behauptete ‚Ausschließlichkeit‘ an anderer Stelle im Text wiederum relativiert wird. Ein anschauliches Beispiel für ein mehrsprachiges Wahrnehmungsprisma und die Veränderung von Wirklichkeit durch Sprachwechsel bietet folgende Passage, in der ‚Hoppe‘ am Beispiel des Begriffs „Känguru“ den lexikalischen Überschuss des australischen Englisch thematisiert: „,Carryinfront‘ (,die ihre Kinder nach vorne hin tragen‘) oder ,Growintheapron‘ (,Kinder, die in der Schürze aufwachsen‘), während es hier einfach nur das KANGAROO heißt“ (ebd., S. 181, Hvhbg. i. Orig.). Das transparente, verdoppelte Sprachbild ‚Carryinfront/Growintheapron‘ besticht hier durch seinen semantisch-poetischen Mehrwert gegenüber dem sonst üblichen abstrakten Lehnwort ‚Kangaroo‘ aus der Sprache der australischen Ureinwohner. Überall im Buch bemerkt man eine manifeste Lust am Vergeben von Namen in mehreren Sprachen und eine wahre Freude am Übersetzen beziehungsweise Selbstübersetzen, wobei die Schriftstellerin stets recht frei verfährt und so immer wieder

18 OBENDIEK, 2000, S. 231. 19 NEUHAUS, 2008, S. 43. 20 Vgl. stellvertretend BÜRGER-KOFTIS/SCHWAIGER/VLASTA, 2010.

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feine Bedeutungsverschiebungen erzeugt. 21 Daneben sind sogar Ansätze zu einer mehrsprachigen Poetik zu finden – etwa mit ‚Hoppes‘ „höchst eigenwillige[r] deutsch-englische[r] Reimtechnik“ (ebd., S. 209).

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ALS IRONISCHES UND SPRACHLICHEN I DENTITÄTEN

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Mehrsprachigkeit als Vektor von Ironie und Humor Schenkt man Felicitas Hoppes Selbstaussagen in den Medien Glauben, kann man folglich durchaus die Inszenierung von Mehrsprachigkeit in Hoppe als Erfüllung eines Wunsches interpretieren: ein Wunsch, durch dessen Realisierung die Wirklichkeit in einem neuen Licht und dadurch auch spannender und vielschichtiger erscheint. Doch dieser an sich bereits interessante Gesichtspunkt reicht nicht aus, um der Mehrsprachigkeit in Hoppe Rechnung zu tragen. Trotz einer gewissen Melancholie, die dem Text zuweilen eignet, enthält er zu viel Ironie und Humor, als dass man es bei der rein affirmativen (oder gespielt naiven?) Selbstaussage Hoppes belassen könnte. Betrachten wir zunächst einige Formen dieser Ironie und dieses Humors im Text. Zunächst wären die in Anbetracht der Sprachkompetenz des impliziten HoppeLesers größtenteils redundanten, zum Teil sogar überflüssigen Übersetzungen zu erwähnen, von denen es im Text nur so wimmelt und die in ihrer Pedanterie nur ironisch gemeint sein können.22 Wie überhaupt das ganze Buch von Beispielen sprachlicher Persiflage durchzogen ist. Hier wäre zum Beispiel der Ernst Jandls ottos mops (1970) alludierende Spruch „Ottos Brot schmeckt gut“ (Hoppe, S. 222) (eine im anglophonen Kontext situierte deutsche Äußerung) zu nennen oder der dem Werbeslogan der Sportfirma Nike entlehnte Imperativ „Just DO it!“ (ebd., S. 191), nach dem ein Aufsatz ‚Hoppes‘ über Poetik (!) betitelt ist. Einer ironischen Ästhetik ist auch der Umstand zu verdanken, dass sich ‚Hoppe‘ im Buch den deutschen Märchenschatz in englischer Übersetzung aneignet (ebd.,

21 Siehe neben vielen anderen Beispielen: „„Try to skate where the puck is going, not to where it is coming from!“ („Aufs Ende hin, nicht vom Anfang her spielen!“)“ (Hoppe, S. 22); „„Let them always feel the uncertain ground they are skating.“ („Wir spielen alle auf dünnem Eis!“)“ (ebd., S. 24) und „Chase that! Uncanny anticipation! (Der weiß alles im Voraus!)“ (ebd., S. 80). 22 Unter vielen anderen Beispielen seien hier nur genannt: „den „citizens of Hamelin“ (den Hamelner Bürgern)“ (Hoppe, S. 55) und „bei ‚special occasions‘ (‚zu besonderen Anlässen‘)“ (ebd., S. 207).

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S. 55). In diesem Zusammenhang dient die mehrsprachige Wunschbiografie letztlich auch der retrospektiven Erklärung realer sprachlicher Idiosynkrasien, das heißt ‚Hoppes‘ idiosynkratischer Stil im Deutschen wird ironisch aus ihrer fiktiven fremdsprachigen Sozialisation abgeleitet. Ein deutliches Merkmal von Ironie ist ebenfalls die hemmungslose Übertreibung, mit der die Mehrsprachigkeit in Hoppe mitunter inszeniert wird. Von einem hyperbolischen Verfahren lässt sich insbesondere in Bezug auf die Szene zu Beginn des zweiten Kapitels Miramare sprechen, in der die niemals wirklich erlernte Mutter-Sprache Polnisch sich wie durch eine unbewusste oder höhere Kraft durch den Mund von ‚Hoppe‘ manifestiert: „[A]uf einmal höre ich, wie ich Polnisch spreche, ja plötzlich spreche ich wirklich Polnisch, mit meiner eigenen Stimme, als hätte ich nie etwas anderes gesprochen“ (ebd., S. 91). Parodistische Anklänge an das biblische Pfingstwunder sind hier nicht zu überhören.23 Ebenfalls zu erwähnen ist eine Szene während der Überfahrt von Amerika nach Australien, in der der Maschinist Grushenko sich auf Russisch an die ganze Besatzung des Schiffes wendet, ohne dass man ihn übersetzen müsste (vgl. ebd., S. 130f.). Überhaupt wird vor dem Hintergrund eines „leise[n] dreisprachige[n] Murmeln[s]“ (ebd., S. 321) immer wieder im Text versichert, Hoppe sei ja „so sprachbegabt“, beherrsche „sämtliche Sprachen“, rede „praktisch in allen Zungen“ (ebd., S. 91f.), sie und ihre Freunde hätten „in allen Sprachen gesprochen“ (ebd., S. 129). Wobei das Wort ,Zunge‘ wiederum die biblische Lexik des Pfingstwunders anklingen lässt. Ein seltsam anmutendes Insistieren, das als weiteres Mittel der Ironie aufzufassen ist. In Klammern sei angemerkt, dass der Mythos von der Zerstörung des Turms zu Babel, der in der Kulturgeschichte überwiegend negativ als göttliche Strafe der Sprachverwirrung für die menschliche Hybris gedeutet wurde, bezeichnenderweise keinerlei Rolle im Text spielt. Die biblischen Reminiszenzen des Textes scheinen sich auf eine durchaus positive Vision der sprachlichen Pluralität zu stützen, wie man sie aus der Episode des Pfingstwunders ersehen kann. Indem weder auf den Turm noch auf seine Zerstörung rekurriert wird, scheint ein gewisses babylonisches ‚Sprachverwirrungsglück‘ aus dem Text zu sprechen.

23 Zum Vergleich heißt es in der Apostelgeschichte der Lutherbibel: „Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“ (Apg 2, 1-4).

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Mehrsprachigkeit als Mittel zum Spiel mit Identitäten Über die ironischen Verfahren hinaus kann man bei der Thematisierung und Verwendung von Mehrsprachigkeit in Hoppe Prozesse der Verfremdung des und Distanznahme zum eigenen Ich beobachten. Es handelt sich hierbei um ein Spiel mit Identitäten, mitunter ein Vorspielen falscher Identitäten, wobei man allgemein von einem sprachlichen Maskenspiel sprechen könnte. Stellvertretend für zahlreiche Beispiele soll hier zunächst jene Episode genannt werden, in der ‚Hoppe‘ als Kellnerin in Australien absichtlich gebrochenes Deutsch spricht, um nicht als deutscher Native Speaker (oder als Sprecher mit muttersprachlicher Kompetenz) entlarvt zu werden. Es ist die Rede von einem ,Schützenfest‘ in einer von deutschen Emigranten gegründeten australischen Stadt namens Hahndorf, die übrigens real existiert. 24 Es handelt sich bei diesem Auszug um das Zitat eines Berichts von Viktor Seppelt, einem Freund ‚Hoppes‘: [W]o Felicitas sich seit Jahren ein Zubrot als Kellnerin verdient, was ihr jede Menge Trinkgeld einbringt, weil sie mühelos mit den Gästen ins Gespräch kommt, vor allem deshalb, weil sie dabei hin und wieder, mit einem betont starken Akzent, deutsche Brocken einfließen lässt. „Sie sind alle in ihren Akzent verliebt“, schreibt Viktor weiter, „weil sie natürlich nicht wissen, was ich bis letzte Nacht auch nicht wusste, dass sie fließend Deutsch spricht und nur so tut, als sei sie des Deutschen nicht mächtig und verfüge bloß über die großartige Gabe rascher Auffassung und phonetischer Imitation.[“] (Hoppe, S. 221)

Im Zusammenhang mit solchen Textstellen muss vor allem an die herausragende Bedeutung der Beziehung von Sprache und Identität (sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene) erinnert werden, wie sie von der soziolinguistischen Forschung wiederholt aufgezeigt wurde.25 Vor diesem Hintergrund wird nicht zuletzt die subversive Dimension dieses Spiels mit sprachlichen Identitäten erkennbar, da diese ja nie nur rein sprachlich sind, sondern auch immer auf Kategorien wie Herkunft, Nation und Ethnie verweisen. Hier wie auch an anderer Stelle entpuppt sich Felicitas Hoppe, die Schriftstellerin aus der deutschen Provinz, als gleichsam ‚extraterritoriale‘ Figur ‚Hoppe‘, die sich zwischen drei Kontinenten und drei Sprachen immer wieder nationalen und sprachlichen Zuordnungen entzieht. Als vorläufiges Fazit meiner Analysen und Überlegungen ließe sich festhalten, dass Ironie ein charakteristisches Merkmal von Hoppe ist, auch hinsichtlich des Themas Mehrsprachigkeit beziehungsweise mehrsprachiger Schreibverfahren. Daher scheint die naiv-affirmative Lesart nicht ausreichend, um der Inszenierung von

24 Vgl. http://hahndorfsa.org.au, 1.1.2015. 25 Vgl. FISHMANN, 1978; AHLZWEIG, 1994; DE FLORIO-HANSEN/HU, 2007.

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Mehrsprachigkeit im Roman gerecht zu werden. Die durch das ironische Spiel mit Sprachen und sprachlichen Identitäten erzeugte Distanznahme verleiht dem Text darüber hinaus eine kritische oder gar polemische Dimension, die im abschließenden Teil betrachtet werden soll.

I NSZENIERTE M EHRSPRACHIGKEIT ALS KRITISCH - POLEMISCHES S TATEMENT Hoppes lange Auseinandersetzung mit dem Biografismus Anknüpfungspunkt dieser Weiterführung meines Ansatzes ist Felicitas Hoppes intensive Auseinandersetzung mit dem Biografismus, die ihr Werk von Anfang an begleitet und die in Hoppe so etwas wie einen literarischen Höhepunkt erlebt.26 Unter ‚Biografismus‘ soll hier der Sachverhalt verstanden werden, Literatur auf die biografischen Umstände ihres Entstehens beziehungsweise auf die Biografie ihres Autors zurückzuführen. In diesem Zusammenhang gibt es meines Erachtens in Hoppe eine eindeutige Verbindung zwischen der Kritik am Biografismus, wie sie die Autorin an vielen Stellen tätigt, und der Inszenierung von Mehrsprachigkeit. Ein bedeutsamer Bezugspunkt ist in diesem Zusammenhang das Paradigma der sogenannten ‚Chamisso-Literatur‘, wo die mehrkulturelle und mehrsprachige Biografie von Migrationsschriftstellern mitunter zum Unterpfand für den Wert des literarischen Werks avanciert – wodurch diese Literatur für „den Trend, Werke im Doppelpack mit dem Leben eines Autors nicht nur zu verknüpfen, sondern auch zu vermarkten“ (Schätze, S. 55) besonders repräsentativ wird. Felicitas Hoppe hat sich immer wieder als in vollkommener Sesshaftigkeit und Ortsgebundenheit aufgewachsene Schriftstellerin dargestellt, die bis zu ihrem 19. Lebensjahr nicht aus der deutschen Provinz, ihrer Geburtsstadt Hameln, herausgekommen sei. Dabei hat sie immer wieder erwähnt, man mache ihr diese ‚Normalität‘, diese ‚Stubenhockerei‘ (vgl. ebd., S. 72) in der Presse und unter Kollegen zum Vorwurf. So thematisiert sie auch in Hoppe das biografische Manko, das ihr als „typisch deutsche Schriftstellerin“ (Hoppe, S. 33) anhafte. In den Augsburger Vor-

26 Siehe hierzu folgende Analyse von Ijoma Mangold: „Alle, so lautet die Prämisse von Hoppe, schreiben diese autobiografisch beglaubigten Romane, mit echtem Blut, echten Tränen, mit echtem Sperma, bei denen sich der Leser am wahren Leben weidet – das könnt ihr auch von mir haben, hier schreibe ich euch meine Autobiografie, und dann werdet ihr begreifen, dass der Schriftsteller, je häufiger er ‚ich‘ sagt, nur desto mehr lügt. Weil es in der Literatur nicht um die Wahrheit, sondern um die Einbildungskraft geht.“, MANGOLD, 2012.

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lesungen erklärt sie in diesem Sinne, der oft an sie gerichtete Vorwurf stecke im „Mangel an Drama: kein Krieg, keine Wende.“27 Zu dieser Normalität ist auch die monokulturelle (und einsprachige) Verortung ihrer Kindheit und Jugend zu zählen, die sie von vielen Schriftstellern ihrer Generation unterscheidet, die kulturelle Brüche in ihren Biografien verbuchen können und seien es auch nur die kulturellen Verwerfungen, die mit der deutschen Wiedervereinigung einhergingen. Meine These lautet in diesem Zusammenhang, dass Felicitas Hoppe in Hoppe, ausgehend von ihrer langjährigen Biografismuskritik, genau jene Diskussion weiterführt, die auch den Adelbert-von-Chamisso-Preis seit seiner Gründung begleitet, nämlich diejenige zwischen literarischer Qualität und Biografie, in diesem Fall zwischen literarischer Qualität und Migrationshintergrund inklusive Mehrsprachigkeit. Selbstredend soll hiermit nicht behauptet werden, Felicitas Hoppe führe hinter der Maske von ‚Hoppe‘ einen bewussten Feldzug gegen den Biografismus in den Debatten zur Migrationsliteratur. Jedoch scheint Hoppe durchaus eine kritischpolemische Distanznahme zu bestimmten Positionen dieser Debatte zu implizieren. Die Inszenierung von Mehrsprachigkeit als Spielform der Biografismuskritik In denjenigen Passagen, in denen das Paradigma des Biografismus Erwähnung findet, wird der literarische Gestus in Hoppe meines Erachtens dezidiert kritisch bis polemisch. Aufgegriffen und infrage gestellt wird unter anderem die Behauptung, spannende Migrantenschicksale seien automatisch die Quelle ‚spannender‘ beziehungsweise gesellschaftlich ‚relevanter‘ Literatur. Ilija Trojanow (*1965) hat diese gleichsam kausallogische Verbindung stellvertretend für viele andere Schriftsteller und Kritiker in folgendem Zitat auf den Punkt gebracht: „Das Wundersame an dieser Literatur [von Migranten] ist ihre unermessliche Vielfalt an spannenden Biografien, die wiederum spannende Texte ermöglichen und somit auch den Gemeinplatz der inländischen Habenichtse widerlegen, Literatur habe mit der Biografie des Schreibenden wenig oder gar nichts zu tun.“28

27 „Der Vorwurf steckt im Mangel an Drama: kein Krieg, keine Wende. Jahrelang spitze Bemerkungen auf Podien, wenn es um Osten und Westen ging und die Bedeutung wahrer deutscher Geschichte, um ihre Wucht und Dringlichkeit. Mit der Flüchtlingsgeschichte meiner schlesischen Eltern und meinen drei im Krieg gefallenen Onkels mochte ich nicht gegenhalten. Das Wirtschaften mit ererbten Schicksalen, auch wenn sie unweigerlich Teil der eigenen Geschichte werden, erscheint mir bis heute geschmacklos. Überhaupt: Was ist ein Schicksal? Qualifiziert sich ein Schriftsteller durch persönliches Unglück?“ (Schätze, S. 111f., Hvhbg. i. Orig.). 28 TROJANOW, 2000, S. 13.

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Der von Trojanow verwendete Ausdruck „inländische Habenichtse“ erinnert an Felicitas Hoppes Selbstaussage bezüglich ihrer deutschen Normalität beziehungsweise Provinzialität als – unterstelltes – literarisches Manko. Folgendes Zitat aus den Augsburger Vorlesungen könnte in diesem Zusammenhang als indirekte Reaktion auf solche Positionen gelesen werden: Was macht angesichts dieses Tatbestands eine deutsche Schriftstellerin, geboren 1960 in der niedersächsischen Kleinstadt Hameln mit ihrer eigenen Geschichte, die räumlich und zeitlich betrachtet aus nichts als lauter Nebenschauplätzen besteht und die eine deutsche Literaturkritikerin vor nicht allzu langer Zeit lakonisch mit den Worten kommentierte: „Liebe Frau Hoppe, vergessen Sie nicht, dass Sie die einzige deutsche Schriftstellerin mit einer glücklichen Kindheit sind.“ (Schätze, S. 111)

Felicitas Hoppes literarische Fabulierkunst, wie sie in ihrer ‚Wunschbiografie‘ einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, erschiene somit gleichsam als Kompensation dieses ‚Mangels‘ an ‚spannender Biografie‘: „Tatsache ist, dass ich […] nichts anderes tat, als fremdes, mir unbekanntes Unglück zu kopieren, weil in meinem eigenen Leben nicht viel passierte und ich eigentlich – bis heute ein leiser Vorwurf von Seiten der Literaturkritik – nichts zu erzählen hatte.“ (ebd., S. 113). Die gespielt affirmative Übernahme dieser Kritik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin jede Form von biografischem Reduktionismus scharf kritisiert – so gerade auch im ‚Migrationsroman‘ Hoppe, wo sie sich dezidiert gegen den „so modischen wie unproduktiven Wettbewerb[] in Sachen Schicksal“ (Hoppe, S. 36) wendet: „Die vermeintliche Idyllenautorin Felicitas Hoppe wäre zweifellos weder eine bessere noch eine schlechtere Autorin, wenn sie ein anderes Schicksal hätte.“ (ebd.). So lässt sich Hoppes künstlich-künstlerisches Aufsetzen der Maske von Migration29 und Mehrsprachigkeit durchaus auch als kritisch inszenierte Aneignung des ‚Exoten-Bonus‘ der Chamisso-Literaten lesen – mit dem Unterschied, dass das Englische soziolinguistisch gesehen keine typische Chamisso-Sprache ist,30 auch wenn man die Chamisso-Literatur nicht auf klassische Minderheitensprachen von Nachfahren der sogenannten ,Gastarbeiter‘ reduzieren darf. Die Aneignung dieses neuen kulturellen Kapitals enthält – wen würde es überraschen – bereits die Demontage des vermeintlichen Bonus für mehrsprachige Mi-

29 „Verlust und Abschied, Vertreibung, Aufbruch und Hoffnung, wieder Verlust“ werden in Hoppe als „Dauerthema“ (Hoppe, S. 36) ‚Hoppes‘ bezeichnet. 30 Wobei das Englische es gleichzeitig ermöglicht, auf eine zu starke Exotisierung zu verzichten und somit den Balanceakt zwischen Fakt und Fiktion nicht zu stark zu beeinträchtigen.

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granten. So folgt in Hoppe auf die Erzählung der Auswanderungsgeschichte von ‚Hoppe‘ die kategorische Zurückweisung eines Kausalzusammenhangs zwischen ,spannenden Biografien‘ und ,spannenden Texten‘ wie ihn Trojanow vertritt: „Müßig, darauf hinzuweisen, dass weder Wünsche noch Verlusterfahrungen bündige Texte ergeben und dass darüber nur schreiben kann, wer dramatische Kippmomente nicht nur am eigenen Leib erfährt, sondern, darüber hinaus, tatsächlich in der Lage ist, sie sprachlich neu zu erfinden.“ (Hoppe, S. 36). An dieser Stelle muss ergänzend darauf hingewiesen werden, dass Felicitas Hoppes Realbiografie nicht derart migrationsfern, ethnozentrisch und einsprachig ist, wie dies ihre oben zitierten Selbstdarstellungen suggerieren. In am Rande der Oxforder Tagung geführten Gesprächen teilte die Autorin mit, dass ihre Familiengeschichte sehr wohl die Dimension der Mehrsprachigkeit und Migration beinhalte. Denn ihre aus Schlesien vertriebene Mutter, die ihren ebenfalls aus Schlesien vertriebenen Mann erst in Deutschland kennengelernt habe, habe tatsächlich Polnisch in ihrer Kindheit gesprochen und sei überhaupt regelrecht ,sprachengeil‘ – also auf Mehrsprachigkeit ausgerichtet – gewesen. Wodurch das Spiel mit Fakt und Fiktion, so wie es in Hoppe betrieben wird, nochmals in seiner ganzen Komplexität sichtbar wird. Die Dekonstruktion sprachlicher Identitäten Am Ende geht in Hoppe die Kritik am Biografismus über in einen Prozess, der sich als Dekonstruktion sprachlicher Identitäten per se bezeichnen ließe. Zunächst gehört dies zum bereits dargestellten Komplex der Ironie, wenn beispielsweise behauptet wird, ‚Hoppe‘ sei durch die „Haman-Schule“ (Hoppe, S. 313), das heißt durch das Vokabellernen [!] unter Anleitung des fiktiven amerikanischen Germanisten31 Hans Hermann Haman zu ihrer eigentlichen literarischen Reife im Deutschen gelangt.32 ‚Übersetzt‘ hieße das, die künftige Büchnerpreisträgerin, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, habe ihren herausragenden deutschen Stil beim DaF-Unterricht amerikanischer Universitäten erlernt.33 Sicher-

31 Über Haman wird auf recht zweideutige Art gesagt: „Haman beherrschte das Deutsche vollkommen, soweit das im Ausland möglich ist“ (Hoppe, S. 301). 32 Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang eine Äußerung des Präsidenten der Akademie für deutsche Sprache und Dichtung Heinrich Detering: „Fehlerfrei Deutsch zu schreiben, hat Hoppe [oder ‚Hoppe‘?, Anm. D. W.] nie gelernt, aber gerade ihrer sprachlichen Unbeholfenheit wird der Charme ihrer Prosa entspringen“, DETERING, 2012. 33 In diesem Zusammenhang vertritt Stefan Neuhaus die Auffassung, die Schriftstellerin Felicitas Hoppe erscheine letztlich als eine von Haman erzeugte Fiktion: „Die ‚reale‘ Hoppe, wie wir sie kennen, entpuppt sich als Erfindung und Inszenierung eines US-

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lich eine reizvolle Idee, aber auch sehr weit vom Herder’schen Paradigma einer intrinsischen Verbindung von Heimat, Sprache und Literatur entfernt, wie es auch heute noch von den Philologien oft impliziert wird. Diese Demontage des (national-)romantischen Schriftstellerbildes führt letztlich von einer Infragestellung von Sprache als Vektor von Identitäten im Allgemeinen über die Infragestellung der Essentialisierung und Ethnisierung von Sprache bis hin zum Traum von einer entsprachlichten Welt (Hoppe, S. 218). Ein aufschlussreiches Zitat in diesem Zusammenhang ist die lapidare Bemerkung: „Aber was sind schon Sprachen – der eine spricht, der andere lacht, der Dritte wirft Karten zwischen die Würfel, und der Vierte steht auf und legt sich ins Bett“ (ebd., S. 129). Eine Position, die in einem spielerischen, anarchischen Gestus die identitätsstiftende Funktion von Sprache verwirft, und die im Zusammenhang mit einer generellen Infragestellung von hypostasierten Identitäten zu sehen ist. Aufschlussreich ist hier auch eine Passage, in der ‚Hoppe‘ von einem Musiker die Fähigkeit abgesprochen wird, die Kompositionen Richard Wagners (1813-1883) zu verstehen, da kein deutsches Blut in ihren Adern fließe,34 was selbstredend vor dem Hintergrund des weiter oben angesprochenen sprachlichen Maskenspiels zu sehen ist. An anderer Stelle wird das Deutsche nicht als Nationalsprache thematisiert, sondern humoristisch als „künstliche Sprache der Oper“ (ebd., S. 218) bezeichnet, was in dieselbe Richtung einer sprachlichen Ent-Essentialisierung der Sprache als Mittel der Kommunikation zielt. Einen Höhepunkt erlebt dieses Verfahren letztlich in einer Art Dekonstruktion deutscher Identität als Sprachidentität, einschließlich einer radikalen Infragestellung der sogenannten ‚Sprachgemeinschaft‘. Beispielsweise an jener Stelle, in der ‚Hoppe‘ ironisch pointiert behauptet, das Deutsche existiere doch eigentlich überhaupt nicht. Im folgenden Zitat kommt dieses fröhliche Unterminieren essentialistischer Sprachauffassungen klar zum Ausdruck, wobei die deutsche Sprache als „literarischer Trick“, als „ein Extra für Schwärmer, für Verliebte, Verlorene, Romantiker, für die letzten Bewohner eines Zwischenraums, den es bald nicht mehr geben wird“, fiktionalisiert wird: Jahrelang haben wir tatsächlich geglaubt, wir sprächen Deutsch miteinander, und ich habe jahrelang geglaubt, ich schriebe reinstes und schönstes Deutsch, es sei nichts als Deutsch, womit ich meine Kladden und Hefte fülle, worin ich Bücher schreibe und Geschichten erfinde, obwohl ich längst hätte wissen können, dass es Deutsch gar nicht gibt, dass Deutsch

amerikanischen College-Dozenten, dem die Figur Hoppe eine Kiste mit ihren Werken hinterlassen hat.“, NEUHAUS, 2012, S. 18. 34 Vgl. Hoppe, S. 208: „[D]ass Wagner ausschließlich begreifen könne, in wessen Adern ein Tropfen deutschen Blutes fließe.“

406 | DIRK W EISSMANN nichts als eine Geheimsprache ist, für Eingeweihte und Verlierer, der Code für meine Erinnerung an all die Zettel und Listen, die ich immer wieder von vorne beschrifte, um nicht zu vergessen, woher ich komme und wer ich einmal gewesen bin. Denn in Wahrheit ist Deutsch bloß ein literarischer Trick, ein Extra für Schwärmer, für Verliebte, Verlorene, Romantiker, für die letzten Bewohner eines Zwischenraums, den es bald nicht mehr geben wird, für alle, die keinen Plan haben.“ (ebd., S. 288f.).35

Auf der Suche nach dem Hoppe-Idiom So könnte man behaupten, Felicitas Hoppe betreibe in ihrem letzten Buch Hoppe eine Art sprachliche Deterritorialisierung, indem sie die Ineinssetzung von Sprache, Kultur, Nation (oder Ethnie) immer wieder unterläuft. ‚Hoppes‘ angeblich vom Vater in Kanada erlerntes und an amerikanischen Universitäten perfektioniertes Deutsch avanciert auf diese Weise zur extraterritorialen Fantasiesprache. 36 Es handelt sich bei diesem Deutsch im Grunde um ein angelesenes, antiquiertes Sprachinsel-Deutsch, wobei die gemeinschaftlich-integrative Perspektive von einem radikal individuellen Lebenslauf verdrängt wird. Die in Hoppe sich äußernde Sprachauffassung erhält so vielleicht auch die Dimension einer Form der Unabhängigkeitserklärung gegenüber der zeitgenössischen deutschen Literatur als verbindliche Norm und ‚Zentralmacht‘. So wird ‚Hoppes‘ Erzählsprache im Buch bewusst als „altmodische[r] Sonderraum“, einem „Sprachmuseum“ (Hoppe, S. 240f.) entstiegen, beschrieben (ebd., S. 33) – was sich auch wieder mit dem eingangs erwähnten Topos des fremdsprachigen Schreibens als Befreiung überschneidet. Diese sprachliche Extraterritorialität und Idiosynkrasie sind jedoch kein Makel, sondern integraler Bestandteil des individuellen literarischen Projekts, ein „ambitioniertes Referat einer höchst persönlichen Sehnsucht“: „Selbstverständlich war Hoppes Deutsch „nicht von heut“, besser gesagt, es war „nicht von hier“, weil sie selbst nicht von hier, sondern von dort war. Ihre Sprache ist, was sonst, nicht erlebt, sondern ambitioniertes Referat einer höchst persönlichen Sehnsucht“ (ebd., S. 34).

35 In dem Ausdruck ‚Geheimsprache‘ könnte man eine Anspielung auf Elias Canettis (19051994) bekannte autobiografische Ausführung über die Funktion des Deutschen zwischen seinen Eltern vermuten. Was im Kontext interkultureller Literatur vor allem deswegen von Belang ist, da Elias Canetti mit Adelbert von Chamisso (1781-1838) konkurrierte, als es Anfang der 1980er Jahre darum ging, einen Namenspatron für diesen Preis zu finden. Vgl. CANETTI, 1977, S. 34 et passim. 36 Siehe auch folgendes Zitat: „Und wie gern ich mich plötzlich Deutsch sprechen höre, diese komische Sprache, von der ich längst glaubte, dass außer Karl und mir sie längst niemand mehr spricht.“ (Hoppe, S. 301).

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Wenn man diese Abgrenzung des Hoppe-Idioms von der Idee einer nationalen Sprachgemeinschaft und eines sprachlichen Zentrums der deutschen Literatur zu Ende denkt, ließe sich folgern, dass das in der Diskussion um die Chamisso-Literatur inflationär beschworene „besondere […] Verhältnis [der Migranten, Anm. D. W.] zu unserer Sprache“37 nicht nur jene Schriftsteller betrifft, deren Biografie realiter von Migration und Mehrsprachigkeit zeugt, sondern im übertragenen, ‚traumbiografischen‘ Sinn auch für die literarische Kreativität einer Felicitas Hoppe. Daher könnte man letztlich die Inszenierung von Mehrsprachigkeit in Hoppe als Beschreibung der Suche nach dem Autoren-Idiom im Sinne Jacques Derridas38 verstehen, das heißt nach einer singulären und genuin literarischen Sprache, die sich nicht unter die Kategorie der abstrakten Sprachnorm und auch nicht unter ein spezifisches biografisches Schicksal subsumieren lässt. Auch ließe sich die Behauptung von Gilles Deleuze anführen, wonach ein großer Schriftsteller sich immer wie ein Fremder innerhalb der Sprache, in der er sich ausdrückt, verhält, auch wenn es seine Muttersprache ist.39 Eine Idee, die sich aber letztlich auf eine Maxime Marcel Prousts (1871-1922) zurückführen lässt, der zufolge die besonders schönen Bücher stets in einer Art ‚Fremdsprache‘ verfasst seien40 – wobei im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache erwähnenswert wäre, dass Prousts Position einem Angriff auf den Kritiker und eminenten Vertreter eines positivistischen Biografismus Sainte-Beuve (1804-1869) geschuldet ist, wodurch sie als Plädoyer für sprachliche Emanzipierung von der normierten Einheitssprache auch zu einem Statement gegen biografischen Reduktionismus avanciert.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Der Ansatz des vorliegenden Beitrags bestand darin, Felicitas Hoppes Roman Hoppe als ein Versuchslabor zu deuten, in dem das Experiment ‚Mehrsprachigkeit und literarisches Schreiben‘ fiktional durchgespielt wird. Unter dieser Perspektive darf man den Roman als Schlüsseltext für die derzeitige Mehrsprachigkeitsdebatte in der deutschen Literaturwissenschaft bezeichnen, auch wenn Felicitas Hoppe de facto nicht den Chamisso- beziehungsweise Migrations-Autoren zuzurechnen ist. Dennoch ist ‚Hoppe‘ ihren einsprachigen Vorgängern und zeitgenössischen Kollegen-

37 PÖRKSEN/BUSCH, 2008, S. 5. 38 Vgl. DERRIDA, 1996, S. 59 et passim. 39 Vgl. DELEUZE, 1993, S. 7. 40 Vgl. PROUST, 1978 [1908/09]. Wobei die Vorstellung, Schriftsteller behandelten ihre Sprache wie eine Fremdsprache bereits bei Goethe auftaucht. Siehe GOETHE, 1978 [1817], S. 215.

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deutlich um einen Schritt voraus: Noch der bedeutsamsten Reiseliteratur der Geschichte und Gegenwart fehlt es meist an einer fundamentalen und existenziellen Dimension, die transnationale und -kontinentale Begegnungen sowie globale Verflechtungen in den Blick nimmt: die Tatsache, dass die Menschheit aller Utopien sprachlicher Einheit zum Trotz keine Universalsprache besitzt, sondern sich in einer Vielfalt partikularer Idiome ausdrückt. „Es muß doch wundern“, könnte man mit Edzard Obendieck bemerken, „daß man uns nie wissen lässt, auf welche Weise sich die großen fahrenden Gesellen und Gesellinnen der Weltliteratur in der Fremde verständigt haben: Odysseus, Äneas, Medea, Ruth, Gulliver, all diese Vertriebenen und Reisenden...“.41 Alle diese Helden scheinen eine Universalsprache zu sprechen, die sie manchen heutigen Touristen gleich in ethnozentrischer Manier auf ihre Umwelt projizieren. Hoppe hingegen lässt ihre Welt- und Geschichtsreisenden immer wieder fragen – ,Welche Sprache wird hier eigentlich gesprochen?‘42 – und bricht somit mit der Illusion eines weltumspannenden homogenen Kommunikationsraums, in den sich das schreibende Subjekt hineinprojiziert. Insgesamt handelt es sich bei Hoppe um ein komplexes Versuchslabor, in dem die Autorin selbst vielleicht nicht alle Effekte, zum Beispiel der Mehrsprachigkeit kontrolliert und meistert, was gewisse Inkohärenzen und Paradoxien erklärt, die aber auch gerade zum Reiz des Textes beitragen. Diese Bruchstellen und Reibungsflächen sind notwendiger Bestandteil von Felicitas Hoppes Ästhetik: „In der Literatur hat Hoppe gezeigt, wie eine polyphone Identität aussehen könnte. Alles ist ganz einfach, wenn man sich von dem Glauben an pauschale Antworten verabschiedet hat.“43 Und wenn man sich darauf einlässt, „die Aporien der menschlichen Existenz, das heißt der unabschließbaren Identitätsfindung, auf produktive Weise zu nutzen“.44 Mit viel Ironie und Humor spielt Felicitas Hoppe in Hoppe alle Facetten eines genuinen Identitätsmerkmals postmoderner Subjekte durch: das Bewusstsein von der sprachlichen Pluralität und das Ende des sprachlichen Monismus. Sie zerstört somit die letzten Reste eines imaginären Turms zu Babel, ohne jedoch dieses Verschwinden als Verlust zu thematisieren. Vielmehr wird dieser Sturz des Turms als Öffnung eines Raums unbegrenzter sprachlicher Möglichkeiten begriffen. Als zentraler Bestandteil ihrer Privatmythologie lässt die inszenierte Mehrsprachigkeit so in der Tat bestimmte Facetten ihres Werks in einem neuen Licht erscheinen, wie es der Roman selbst durch die Figur Reimar Strat behauptet (vgl. Hoppe, S. 33).

41 OBENDIEK, 2000, S. 9. 42 Vgl. u. a. Verbrecher, S. 22 und S. 26, und Johanna, S. 100f. 43 NEUHAUS, 2008, S. 50. 44 Ebd., S. 42.

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Zugleich meint man aber aus Hoppes Text letztlich auch einen gewissen Ernst herauszulesen, wenn sie zum Beispiel auf die an ihr geübte Kritik zu reagieren scheint. Und Hoppe kann letztlich auch als melancholische Reflexion über existenzielle Fremdheit gelesen werden, die im Werk über die Frage sprachlicher Alterität verhandelt wird. Doch wie Hoppe selbst sagt: „Die Angst um die eigene Identität wird, so bedenklich wie unbekümmert, in Lust und Laune verwandelt“ (ebd., S. 63). Wichtig bleibt also die Idee des Spiels, wobei Mehrsprachigkeit für Hoppe ein weiteres Mittel darstellt, den bestehenden gesellschaftlichen (und literarischen) Diskurs innovativ zu beeinflussen und zentrale Entwicklungen von Sprach- und Literaturgemeinschaften im 21. Jahrhundert zu reflektieren. Sie schreibt damit – im wörtlichen Sinn – ‚Gegenwarts‘-Literatur. So ist der Schlusssatz des Buches markanterweise zweisprachig und öffnet als projektives Statement einen mehrsprachigen Zukunftsraum: „Eine Legende, was sonst. To be continued. (Fortsetzung folgt./fh)“ (ebd., S. 330).

L ITERATUR Primärliteratur CANETTI, ELIAS, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, München 1977. GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON, Deutsche Sprache, in: DERS., Sämtliche Werke, 40 Bde., Abt. 1, Bd. 20, Frankfurt. a. M. 1998 [1817]. HOPPE, FELICITAS, Abenteuer – was ist das? (Göttinger Sudelblätter), Göttingen 2010. DIES., Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012. DIES., Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006. DIES., Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009. DIES., Verbrecher und Versager. Fünf Porträts (Marebibliothek 13), Hamburg 2004. PROUST, MARCEL, Contre Sainte-Beuve, Paris 1978 [1908/09]. TROJANOW, ILIJA (Hg.), Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur, Köln 2000. Sekundärliteratur AHLZWEIG, CLAUS, Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache, Opladen 1994. BÜRGER-KOFTIS, MICHAELA u. a. (Hg.), Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität (Praesens Literatur), Wien 2010.

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Epilog

Gretzky & ,Hoppe‘ – vom Spiel ,auf dünnem Eis‘ zu poetischen Freiheiten Eine essayistische Annäherung an Hoppe (2012) U WE D ÖRWALD

V ORGEHEN Zwei Dinge gleich zu Beginn: Erstens – und dies betrifft einen persönlichen Aspekt – müsste ich auf die vor Gericht übliche Frage: ,Sind Sie mit der Autorin verwandt oder verschwägert?‘ mit ,Ja.‘ antworten und könnte ruhigen Gewissens jede Aussage zu und auch jede Beschäftigung mit ,Hoppe‘ verweigern. Da ,Hoppe‘ aber – wie wir (jetzt) aus sicherer literarischer Quelle wissen – keine Geschwister hat beziehungsweise sich diese nur erfindet und unverheiratet ist und folglich auch keinen Schwager haben kann, der als Germanist und als Berater in der ,freien‘ Wirtschaft arbeitet, kann ich mich – Dank sei der Einbildungskraft – auch ohne Bedenken frei und hoffentlich auch mit einem zwinkernden Auge zu ,Hoppe‘ und Hoppe äußern. Zweitens – dies betrifft mein Vorgehen – wird dieser Beitrag eher essayistischer und assoziativer Natur sein als strengen (literatur-)wissenschaftlichen Kriterien genügen. Ich werde versuchen, ,Hoppe‘ näher zu kommen – mit meiner Erfahrung als interessierter Leser gegenwärtiger philosophischer, historischer und soziologischer Literatur. Mein Blick ist neben anderem auch der eines Trainers, der im Hochleistungssport tätig war und den auch die sportlichen und spielerischen Aspekte des Textes interessieren und die Frage, was diese sportlichen Elemente mit ,Hoppe‘ zu tun haben. Ich möchte der Frage nachgehen, wie Hoppe diesen Gesichtspunkt produktiv in den Text integriert, um eine Entwicklung zu beschreiben – vom Eishockey zum Schreiben, vom Sport zur geistigen Arbeit. Schließlich interessiert mich, warum diese Entwicklung so und nicht anders verlaufen muss. Also, warum ,Hoppe‘ sowohl auf dem Eis als auch in der Musik scheitern muss – aber als Schriftstellerin besteht.

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Ich gehe so vor, weil es, wie Hoppe selbst sagt, nicht den oder „keinen Schlüssel zur Welt gibt“ (Hoppe, S. 256) und damit auch nicht zu literarischen Texten, und weil gilt, was Hoppe in ihrer Büchnerpreisrede (2012) über Kunst gesagt hat: „Kunst ist nämlich, was nicht zu fassen ist, was sich entzieht, nicht gehorcht, was uns unheimlich ist, weil es sich, genau wie Leben und Sprache ständig verändert.“ (Büchnerpreisrede, S. 33).1 Ein Satz übrigens, der von Michel de Montaigne (15331592) stammen könnte, der schrieb: „Nie haben zween Menschen von einerley Sache einerley Urtheil gefällt. Und man kann unmöglich so wohl bey verschiedenen Menschen, als bey einem einzigen zu verschiedenen Zeiten, vollkommen ähnliche Meynungen finden.“2 Übrigens auch ein Satz, der die Arbeit von Geisteswissenschaftlern hinterfragt, die sich wie Peter Sloterdijk meint „mehrheitlich als freischwebende Beobachter im Archiv eingerichtet [haben]“.3 Dennoch, und weil wir nicht aufgeben, der Literatur eine Bedeutung abzuringen, was im Hinblick auf den Impact Factor auch einen sportlichen Aspekt haben kann, beschäftigen wir uns mit Literatur und haben im besten Fall und ökonomisch gesprochen so etwas wie einen ,Mehrwert‘ von dieser Beschäftigung. Wir als Leser, die nach Sinn und Bedeutung oder den Erzählprinzipien in der Literatur und bei Hoppe suchen, werden „ohnehin alles durcheinanderbringen“, wenn wir ein literarisches Werk betrachten, weil wir uns „die Freiheit, die Hoppe im Akt des Schreibens erfährt“,4 auch als Leser nehmen dürfen.

A UGE

IN

A UGE

Ein wesentlicher Aspekt, den ich hervorheben möchte, sind Freiräume und Spielräume, die Hoppe durch ihre Texte erschließt. Unter ,Freiräumen‘ verstehe ich das Aufscheinen von literarischen Momenten, die vermeintlich reale Gesetzmäßigkeiten wie Sachzwänge oder alternativloses Handeln außer Kraft setzen oder zumindest versuchen, dies zu tun. Die Nutzung von Freiräumen verschiebt dabei Grenzen, ästhetische in der Literatur und reale in unserem Verhältnis zur Wirklichkeit. Um dies beschreiben zu können, beziehe ich mich in einem ersten Schritt auf den poetologischen Text Auge in Auge (2007), der zwar einen expliziten Bezug zu

1

Vgl. hierzu auch die Passage aus dem Aufsatz Auge in Auge (2007). Dort heißt es: „Ich bin keine Dichterin, aber ich behaupte: Poesie ist ein Raum der Freiheit, in dem Zeitgenossenschaft nicht gefordert ist. Das reine Glück. Nicht zu fassen. Nicht zu haben.“ (Auge, S. 14).

2

SLOTERDIJK, 2009, S. 674.

3

Ebd.

4

SPIEGEL, 2012, S. 10.

G RETZKY & ,HOPPE ‘

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Hoppes Roman Johanna (2006) aufweist, aber auch eine Ästhetik oder eine Programmatik enthält, die für weitere Hoppe-Texte gilt. Auch für den Roman Hoppe. Denn hier befindet sich die Autorin ,Auge in Auge‘ mit der Romanfigur ,Hoppe‘ und nicht mehr mit ,Johanna‘. In Auge in Auge macht Hoppe klar, was ihr als Schriftstellerin am Herzen liegt. Sie ist eine Autorin, die ihren Verstand gebraucht, aber sie sagt auch „Verstand schließt Hingabe und Leidenschaft nicht aus, sondern ein“ (Auge, S. 2). Gemeint sind Hingabe und Leidenschaft in Bezug auf Sprache und in Bezug auf die Einbildungskraft. Leidenschaft ist aber auch etwas, was im Sport wie zum Beispiel im Eishockey eine wichtige Rolle spielt, ebenso wie in der Musik. Ohne Leidenschaft für eine Sache, gibt es keinen Erfolg. ,Leidenschaftlich-Sein‘ ist auch ein Attribut von Freiheit: Es gilt nicht nur, daß jemand, der leidenschaftlich frei in seinem Tun ist, seine Arbeit mag und glaubt, daß sie wertvoll ist. Das wären viel zu blasse Beschreibungen für das, was mit ihm geschieht. Von ihm gilt Stärkeres: Er muß wollen, was er will. Dieses Müssen wird nicht als etwas erlebt [und gelebt], das ihn überrollt wie eine innere Lawine, gegen die er sich nicht wehren kann, sondern als etwas, das ihn trägt. – Daß ein leidenschaftlicher Wille, obgleich alternativlos, für den Wollenden Freiheit bedeutet, zeigt sich daran, daß er planvoll alles […] vermeidet, was ihn von seinem Willen abbringen könnte. Denn er weiß: Ein solches Abbringen müßte Entfremdung und also Unfreiheit bedeuten.“5 (Erg. U. D., Hvhbg. i. Orig.)

Und weil ‚nichts so intensive Gegenwart oder Präsenz schafft wie Leidenschaft‘, ist ,Hoppe‘ leidenschaftliche Eishockeyspielerin, leidenschaftliche Dirigentin und eine leidenschaftliche Deutschlehrerin, die in ihren Tätigkeiten mit Leib und Seele aufgeht – und wohl auch eine leidenschaftliche Autorin, die sich in ihrer Literatur einen Freiraum schafft, weil sie ‚mit dem Leben nicht einverstanden ist‘. Denn in ihrer Literatur, „[i]n diesem „Als ob“ reist Hoppe nach eigenen Gesetzen, eigenen Karten und eigener Zeitrechnung“ (Hoppe, S. 103) und schreibt gegen Gewohnheiten und fragwürdige Regeln an, auch indem sie ihre eigenen Aussagen immer wieder revidiert. In Auge in Auge grenzt sich Hoppe ab und will sich nicht einordnen (lassen) „in die Gruppe der, […] sezierenden oder rein analytischen Schriftsteller, […] die stolz sind auf ihren kalten Blick“ (Auge, S. 3). Und sie kritisiert das in der Literatur in Mode gekommene „Nacherzählen von Biographien“, das einen „Wunsch nach Ordnung zeigt“ (ebd., S. 5). Hoppe versucht, sich mit ihren Texten, die auf gewagte Weise Grenzen überschreiten, diesem „Wunsch nach Ordnung“ und damit auch dem Wunsch nach Einordnung, zum Beispiel auch in eine literaturwissenschaftliche

5

BIERI, 2005, S. 424f.

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Kategorie, zu entziehen. Dieses Spiel, den Schubladen, in die man nicht gesteckt werden will, zu entgehen, ist ihrer von Ossip Mandelstam (1891-1938) entlehnten Maxime geschuldet, dass gute Texte nicht paraphrasierbar sind, sondern eine eigene Welt entstehen lassen, die nach eigenen Gesetzen funktioniert.6 Natürlich kann man sagen, dies sei ein „bisschen zu viel [theoretisches, U. D.] Gepäck im Rucksack“ (Auge, S. 5), aber neben der „Thematisierung des Zweifels“ (ebd., S. 13), von dem Hoppe während ihres schriftstellerischen Tuns begleitet wird, ist sie meist schneller als ihre Zweifel und ihre Angst, auch weil sie weiß: „Wer von dem Gedanken besessen ist, alles vollkommen richtig zu machen, deformiert damit möglicherweise seine Arbeit.“7 Hoppe bleibt produktiv und umschifft eine weitere Falle, in der Schriftsteller ihr zufolge oft stecken. Sie wählt für sich „Sprache und Imagination“ als ihre Mittel, um sich zur Welt, zur Geschichte und zur eigenen Biografie (siehe Hoppe) in ein Verhältnis zu setzen. Das schließt die Tätigkeit des Chronisten, des Journalisten und des Wissenschaftlers aus (vgl. Auge, S. 13). Dies ist es, was positiv an Hoppe irritiert. Sie sorgt wie ein guter Lehrer für Unruhe, regt zum Nachdenken an8 und wie der Löwe am Ende des Jugendbuches Iwein Löwenritter (2008) sagt, ist sie – auch im Sinne guter Eigen-PR – eine gute Erzählerin: „[I]ch liebe Geschichten. [...] Und so gut wie ich erzählt sie euch keiner. Ich war schließlich dabei.“ (Iwein, S. 250).9 Der Frankfurter Philosoph Martin Seel schreibt in seinem Buch Theorien (2009): „Der Philosoph ist der Feind des Textes – er nimmt sich ihm gegenüber alles heraus.“10 Ich möchte nicht ganz so apodiktisch wie Seel formulieren: Denn die Freiheit, sich gegenüber einem Text (fast) alles herauszunehmen, entspricht auf gewisse Art und Weise der Freiheit unserer Schriftstellerin, sich gegenüber ihren Gegenständen nicht wie eine Chronistin, nicht wie eine Wissenschaftlerin und nicht wie eine Journalistin zu verhalten. Und in Hoppe lesen wir: „Recherche ist doch bloß eine faule Ausrede für alles, was man sich nicht selbst vorstellen kann.“ (Hoppe, S. 170). Voraussetzung für Imagination, die Umsetzung von Vorstellungkraft in einen literarischen Text ist neben Talent natürlich die schriftstellerische Praxis. Also das Schreiben selbst, der einsame Prozess am Schreibtisch, bei dem einem niemand zuschaut und natürlich das ständige von Zweifeln begleitete Überarbeiten des Textes. Dem Trainingsprozess eines Spitzensportlers ist dies nicht unähnlich: So

6

Vgl. ebd. S. 6. Die Schwierigkeit, Hoppe zu paraphrasieren, zeigen auch manche Kritiken. Vgl. dazu NEUHAUS, 2012.

7

SENNETT, 2008, S. 22.

8

Vgl. ebd., S. 15.

9

Zur Figur des Löwen und seiner strukturierenden Funktion im Text vgl. ausführlich den Beitrag von Maria Hinzmann in diesem Band.

10 SEEL, 2009, S. 250.

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wie der Sportler erst nach dem Wettkampf weiß, ob das Training zum Erfolg führt, so weiß auch der Schriftsteller erst nach der Publikation, ob sein Werk in der literarischen Öffentlichkeit Anerkennung findet. Kommen wir auf die Leidenschaft zurück. In der Leidenschaft für die Sprache treffen sich beide, der Philosoph Peter Bieri sowie die Autorin Felicitas Hoppe. Das Trennende und uns positiv Irritierende ist die Imagination. Denn die „Lektüre solcher Texte [...] macht [...] nervös“, nicht zuletzt weil das Team der HoppeProtagonisten „auf Trainer und Publikum pfeift“ (Hoppe, S. 63) und ein Eigenleben entwickelt – zum Beispiel in der Variante der Rattenfängergeschichte, die zum Positiven hin gewendet wird – zu einem ,Hinaus-in-die-Welt‘. In diesem Sinn ist und bleibt sowohl Hoppe als auch ‚Hoppe‘ ,ein Kind für Ideen‘ – zwar weniger für’s Geschäft, obwohl sie das Wort ,Geschäftsidee‘ schätzt, allerdings mit der Betonung auf dem zweiten Wortteil – den „Ideen“, deren Charakter es ist, flüchtig zu sein und die gleichwohl zum Nachdenken anregen. Und Hoppe ist sich auch bewusst, dass ,wir alle auf dünnem Eis spielen‘ (vgl. ebd., S. 24). Aber – solange wir (auf diesem Eis) spielen (und noch nicht eingebrochen sind), solange wir uns Geschichten erzählen, bleiben Freiräume bestehen oder werden neu erschaffen – nämlich dadurch, wie wir uns zur Welt, zu dem was ist, verhalten (können) und zwar – eigenwillig (dies aber nicht im Sinne von Trotz oder Sturheit); denn ‚Hoppe‘ ‚hält sich an einmal getroffene Absprachen‘. Der bereits zitierte Peter Bieri schreibt zum ,Eigenwillig-Sein‘ als einem weiteren Attribut der Freiheit: Frei zu sein heißt, eigenwillig zu sein. [...] Eigenwillig kann man auf mancherlei Weise sein: durch das, was man tut, durch die Art und Weise, wie man sich darstellt, durch die besondere Bewertung, die man den Dingen gibt. Doch es gibt zwei Spielarten des Eigensinns, die besonders viel mit Willensfreiheit zu tun haben: der Eigensinn der Phantasie und der sprachliche Eigensinn. [...] Wenn Phantasie zum pointierten Ausdruck von Freiheit wird, ist sie erarbeitete und bearbeitete Phantasie, die einbezogen ist in den Prozeß der Aneignung des Willens. Eine besondere Form der Aneignung ist die Entwicklung von sprachlichem Eigensinn oder, wie man auch sagen könnte, stilistischer Individualität. Es könnte jemanden geben, der nichts lieber tut, als immer von neuem im umfassendsten Wörterbuch seiner Sprache zu lesen und sich zu fragen, welche Wörter und Wendungen zu ihm passen und welche nicht. Er wäre damit beschäftigt, die Grenzen seines Selbst zu erkunden, in dem er über die Grenzen seines Wortschatzes nachdenkt. Dieser Mensch wäre ein erbitterter Gegner aller sprachlichen Mitläufer, die auf den Wellen der Sprachmode reiten. 11

11 BIERI, S. 429f.

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Diese Beschreibung trifft vielleicht auch auf Hoppe zu, dafür jedenfalls spricht ihr Sinn für Sprachspiele und experimentelle Formgebung. Immerhin spielt sie gerne mit Worten und Geschichte(n) und lotet Sprache aus. Hoppe schreibt, eigenwillig wie sie ist: „Poesie ist ein Raum der Freiheit, in dem Zeitgenossenschaft nicht gefordert ist. Das reine Glück. Nicht zu fassen. Nicht zu haben.“ (Auge, S. 14). Beide – Philosoph und Autorin – betrachten die Poesie, die Fantasie, die Imagination und die Sprache als Raum der Freiheit, durch den man dem „Konzept des Alltags“ mit seinen verhassten Gewohnheiten und „Routinen und Wiederholungen“ (Hoppe, S. 257) etwas entgegensetzen kann. Dieses Entgegnen geschieht zum Beispiel dadurch, dass der Spieler versucht, das Spiel zu bestimmen, diesem seine Regeln zu oktroyieren, oder dadurch, dass die Autorin versucht, ihrem Text Form zu geben – nach eigenen Regeln, sodass im besten Falle Neues entstehen kann, auch wenn es sich um ein ‚zusammengemixtes Schlaraffenland der Fantasie und eine intertextuell gebaute Landschaft‘ oder ‚um ein unendlich scheinendes Verweisungssystem‘ handeln sollte.

T RAINING UND E NTWICKLUNG ( SGESCHICHTE ) Im Folgenden widme ich mich zunächst dem Aspekt des Trainierens im Allgemeinen und dann der Entwicklung bei ,Hoppe‘. Der amerikanische Romancier John Irving (*1942) macht folgende Analogie zwischen Trainieren und Schreiben auf: „Schreiben ist im Grunde genommen wie Trainieren, also Trainieren für einen Sport. Niemand sieht einen dabei, kein Rampenlicht, kein Scheinwerfer, man muss üben, üben, üben, sprich man muss wiederholen, wiederholen – und es geht auch um Drill.“12 Allen Trainingsansätzen, seien sie für den Einzelsportler oder für eine Mannschaft konzipiert, sind folgende Komponenten gemein: Es gibt • • •

den zu Trainierenden (mit allen seinen Stärken und Schwächen), einen Trainingsplan samt Ziel, Strategie und Taktik, von dem man auch erst am Tag X weiß, ob alles angemessen war, und einen Trainer, der immer auch versucht seine eigene Auffassung der Sportart umzusetzen.

In ,Hoppe‘ finden wir eine Trainierende, die offensichtlich, neben Talent, auch Freude am Spiel hat, aber ihren Trainer zur Verzweiflung bringt. Denn ,wie jeder Trainer‘ praktiziert auch Bamie Boots

12 Zit. n. SCHÄFER, 2012.

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im Verhältnis zu seinem Schützling ein Unterstützungsverfahren, das man am besten als „Technik der Motivationsverschränkung“ beschreiben könnte. Wenn schon jeder Athlet von sich aus eine gute Portion Erfolgswillen mitbringt, obliegt es dem Trainer doch, in diesen Willen einen zweiten Willen einzupflanzen, seinen eigenen, der den ersten steigert und über seine Krisen hinwegträgt. […] [S]o kann der Athlet zu Höhen der Leistung getragen werden, die sich ohne die Verschränkung der beiden Willen nie hätten erreichen lassen.13

Die Definition des Trainers besteht darin, „daß er will, der Athlet solle wollen, was er, der Trainer, für ihn will. Der Athlet soll wollen, was nicht ganz unmöglich, aber doch wenig wahrscheinlich ist: eine nie unterbrochene Folge von Siegen.“ 14 Ein Trainer ist also derjenige, „der will, daß ich will“,15 und er macht bewusst: „Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am Unmöglichen orientiert.“ 16 Weil ,Hoppe‘ aber eigensinnig ist, das Spiel (Eishockey) als Spiel versteht und somit nicht in erster Linie auf das Gewinnen aus ist, ist sie untauglich für dieses Prinzip. Sie schießt über das Ziel hinaus und ihr wird jener „Hang“ attestiert, „mit dem man nichts anfangen konnte, diese lästige Neigung, andauernd über das Spielfeld hinauszudenken. Ehrlich gesagt: Was macht man erstens mit einem, der andauernd denkt. Zweitens mit einem, der andauernd drüber hinausdenkt. Man sagt sich, okay, von mir aus, für den Fall des Falles ein guter Verlierer. Aber was will man mit einem guten Verlierer, wenn man, de facto, gewinnen will.[“] (Hoppe, S. 31)

Und ihr Trainer, der als mittelmäßig charakterisiert wird, sagt weiter: „Was Sportsgeist betrifft[“], [...] [„]war sie bemerkenswert. Na gut, was ist schon Sportsgeist? Ich glaube, sie war einfach verliebt in das Wort, sie war andauernd verliebt in Wörter, was mir, ehrlich gesagt, auf die Nerven ging. Andauernd sagte sie Sachen wie: Was ist Sport ohne Geist und Geist ohne Sport? Geist, sagte ich, ist, wenn du den Mund hältst. Und Sport ist, wenn du jetzt einfach mal deine Kufen polierst, die Schuhe anziehst und zusiehst, dass du warm wirst und aufs Eis kommst. Und läufst und triffst. Alles andere interessierte mich nicht.“ (ebd., S. 32)

Dies steht im Gegensatz zu ihrem Eishockeypartner Wayne Gretzky, der wahrscheinlich wie jeder Leistungssportler immer auf Sieg spielte und wahrscheinlich

13 SLOTERDIJK, 2009, S. 456. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 456f. 16 Ebd., S. 700.

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seine Trainer akzeptieren konnte. Er litt sicher nicht unter dem „Ausgleichswahn“, der dazu führte, „dass sie die schönsten Chancen verpatzte, vor dem Tor abdrehte, einen Pass verweigerte“ (ebd., S. 93). Gretzky war vielmehr elegant und hatte den nötigen Biss, den man braucht, um im Sport ein Großer zu werden. Gretzky beging sicher auch keine Regelverstöße – „unkorrekte Ausrüstung“ (ebd., S. 63) wie zum Beispiel das Tragen eines Rucksacks während des Spiels –, sondern wurde zum größten Eishockeyspieler aller Zeiten. ,Hoppe‘ hingegen wechselt das Metier, nicht weil sie das Spiel unbedingt „satthatte“ (ebd., S. 64), sondern weil sie es durchschaute und deshalb anfing, sich zu langweilen, oder weil sie dem Spiel nicht ihre Spielregeln geben konnte und ihrem Vater nicht gefiel, „was seine Tochter da machte. Weshalb er sich dann diese Frau besorgte, die Fly vom Eis an die Tasten brachte. […] Und die ihren Schülern das Stadion missgönnt, weil sie niemals auf einer Bühne saß und bis heute von nichts als vom großen Applaus träumt.“ (ebd., S. 65) – soweit ,Hoppes‘ Trainer. Davon abgesehen, dass Eishockey ein aggressiver und körperbetonter Sport und im Profibereich wie auch Wasserball oder Rugby eine reine Männerdomäne ist, und abgesehen davon, dass ,Hoppe‘ sich in dieser sportlichen Episode gewissermaßen als ideale Sportsfrau stilisiert, bleibt diese Episode auf ,dünnem Eis‘ eine wichtige Entwicklungsstufe in ,Hoppes‘ Biografie. Die Eishockeyepisode der kanadischen Jahre, kennzeichnet und prägt ihre Kindheit. Da sie ihren Trainer nicht akzeptiert, sich an den Regeln reibt und diese missachtet und weil sie Eigensinn und auch sich selbst über das Spiel hinaus entwickelt, lernt sie früh eine Lektion: Auf dem Eis ist man nicht frei. Auf dem Eis kann man nicht machen, was man will. Es gibt da noch die Regeln, die Mannschaft, den Trainer und den Schiedsrichter in schwarzen Hosen, die einem den Spaß am Spiel verderben können. Ebenso wenig wie es Zufall zu sein scheint, dass ,Hoppe‘ in ihrer kanadischen Kindheit an der Seite von Wayne Gretzky Eishockey spielt, scheint es Zufall zu sein, dass sie sich in den australischen Jahren der Musik verschreibt oder später in Amerika Deutsch unterrichtet. Man kann darin eine Entwicklung erkennen: In Kanada sehen wir das Kind, das sich auf dem Eis mit Hingabe körperlich verausgabt, in einer Mannschaft spielt und einen Trainer hat. Die Jugendliche widmet sich hingegen der Musik. Auch in diesem Bereich geht es um das Üben, um das Zusammenspiel, um Harmonie, um Form, aber auch zunehmend um Präzision. Auch hier gibt es eine Art ,Mannschaft‘ – das Orchester, das ein gemeinsames Ziel verfolgt, das allerdings nicht – wie im Sport – darin besteht zu gewinnen, sondern darin, möglichst perfekt zu harmonieren und dem Ganzen dennoch den Anschein der Leichtigkeit und des Spiels zu verleihen. Aber auch hier geht es darum, dass sich der Einzelne im Orchester einem Ziel und einem Dirigenten unterordnet. Und auch hier kommt ,Hoppe‘ ihr Eigensinn in die Quere und macht ihr einen Strich durch die Musikkarriere, denn ,Hoppe‘ ist

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[„]bei aller scheinbaren Besessenheit alles andere als perfektionistisch, womöglich pedantisch [...], sondern großzügig bis zur Nachlässigkeit und Selbstaufgabe.“ Eine Großzügigkeit, von der Quentin behauptet, sie trage manchmal Züge einer gewissen Gleichgültigkeit, weil es ihr offenbar „auf etwas ganz anderes ankam, das mit dem, womit sie scheinbar beschäftigt war, nur höchst oberflächlich in Verbindung stand. Dies und nichts anderes“, kommt Quentin zum Schluss, „ist auch der Grund, weshalb sie, bei allergrößter Begabung, später nie im Konzertsaal bestehen konnte, weil sie auf unerklärliche Weise ihre ganze Begabung verschenkte. Sie hatte einfach zu viel davon, so viel, dass sie niemals begriff, was es, im guten Sinn, heißt zu sparen, wie man sich einteilt.[“] (Hoppe, S. 185)

Übrigens auch eine Eigenschaft, die Sportler besitzen müssen, wenn sie nicht ins Übertraining geraten und weiterhin Höchstleistung bringen wollen: die Fähigkeit, zu erkennen, wann es sinnvoll und angebracht ist, eine Pause zu machen. Auch in Sachen Pausen kennt sich die Autorin aus: Immer wieder kam es in Mels Kompositionsklasse zu Zusammenstößen, weil Felicitas die eigenwillige Angewohnheit hatte, Kompositionsprinzipien auf überraschende Weise aus völlig fachfremden Bereichen abzuleiten. In einem Referat über Die Pause (The Art of Pause) sprach sie, zur Überraschung aller Anwesenden, eine geschlagene Stunde lang nicht über Musik, sondern über Eishockey und über die höchst seltene Fähigkeit zur ,Ausdehnung des Moments‘ (,Extending the moment‘), das Einzige, was den Puck ins Tor und die Kunst zum Erfolg bringe. (Hoppe, S. 209)

Überehrgeizige Sportler wie Musiker müssen zuweilen durch Trainer und Dirigenten gebremst werden; sie müssen lernen, den entscheidenden Moment abzuwarten. ,Hoppe‘ aber, erst einmal für eine Sache entflammt, lässt sich kaum bremsen. Weder beim Reden, und wenn, dann nur durch einen Kuss, der ihren nie versiegenden Redefluss (endlich einmal) unterbricht, oder durch einen Trainer, der ihr klar macht, es sei Zeit, den Worten Taten auf dem Eis folgen zu lassen. Ihr Motto scheint eher dem von Ms Bell zu entsprechen: „GANZ ODER GAR NICHT“ (ebd., S. 236, Hvhbg. i. Orig.). Diese Ms Bell hat als Kunstagentin klare Ansprüche, an das, was Qualität ist. „Qualität [...] sei bekanntlich kein Hexenwerk, sondern nichts als die Frucht langjähriger Mühe und Arbeit. Sie selbst, daran lässt sie nicht den geringsten Zweifel aufkommen, unterscheidet den Künstler vom Hochstapler „auf hundert Meilen, mir macht man nichts vor“.“ (ebd.).

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M ÜHE

UND

ARBEIT – T RAINIEREN UND Ü BEN

Auch diese Tugenden sind ,Hoppe‘ eigen. In die Quere kommen ihr aber eine „Vorliebe für [...] Umwege und unvermutete Richtungswechsel“ (Hoppe, S. 230) und diese motivieren ihr Schreiben ursächlich; nachdem sie als Deutschlehrerin an einem College unterrichtet und sich als Lehrerin ausgiebig mit Grammatik und Sprache befasst hat. Übrigens die erste Tätigkeit, bei der sie keinen Trainer oder Lehrer im engeren Sinne hat und selbst Wissen vermittelt. Im Unterricht wird nach ihren Regeln gespielt, wie zum Beispiel bei der überaus anschaulichen Vermittlung der Deklinationen (vgl. ebd., S. 305). Den Grund, weshalb sie mit dem Schreiben angefangen und bis heute nicht mehr aufgehört hat, nennt sie selbst: „weil ich da machen kann, was ich will, und mich nicht mit drittklassigen Phantasien herumschlagen muss.“ (ebd., S. 112). Dieser vollkommen subjektive Grund, sich weder mit Trainern und Dirigenten noch mit anderen Vorgesetzten arrangieren oder sich Spielregeln unterordnen zu müssen – „da ist mir das Spielfeld einfach zu klein“ (ebd., S. 190) – kennzeichnet sie als freie Autorin, die stattdessen das Wagnis des Erzählens eingegangen ist. Mit ihrem Erzählen, mit ihrem verfeinerten und perfektionistischen Verfahren „Literatur aus Literatur herzustellen“ (ebd., S. 113) hält sie sich und uns als Leser, die Langeweile vom Leib und eröffnet uns und sich jenen Freiraum, den Literatur und im Speziellen Hoppe bieten können: „ein Recht auf die Chance, ein Recht auf die Reise, ein Recht darauf, ein Schiff zu besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu sehen.“ (ebd., S. 120). Ihr gelingt dies durch die Geschichten, die sie erzählt, und dadurch, wie sie diese erzählt, und durch ihre Sprache, die als Literatur wie als Redefluss mitreißt. Was bleibt, ist der Wunsch, dass die Autorin von Hoppe, sollte es eine Fortsetzung von Hoppe geben, diesen Beitrag nicht in ihr Verfahren einbezieht.

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MONTAIGNE, MICHEL DE, Essais, Ausw. und Übers. von HERBERT LÜTHY, Zürich 1992. SEEL, MARTIN, Theorien, Frankfurt a. M. 2009. SENNETT, RICHARD, Handwerk, aus dem Amerikan. von MICHAEL BISCHOFF, Berlin 22008 [DERS., The Craftsman, New Haven u. a. 2008]. SLOTERDIJK, PETER, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. Weitere Primärmedien SCHÄFER, ANDRÉ [Regie], The World According to Irving [dt. John Irving und wie er die Welt sieht], D u. a. 2012, 90 Min. Sekundärliteratur NEUHAUS, STEFAN, Was macht Literatur preiswürdig?, in: www.literaturkri tik.at, http://www.uibk.ac.at/literaturkritik/zeitschrift/1003103.html [15.6.2012], 1.1.2015. SPIEGEL, HUBERT, Laudatio, in: FELICITAS HOPPE/DERS., Georg-BüchnerPreis 2012, Frankfurt a. M. 2012, S. 7-23.

Autorinnen und Autoren

Arnold, Sonja, Dr. phil., PostDoc-Stipendiatin bei Prof. Dr. Gesine Müller an der Universität zu Köln mit einem Projekt zu den Austauschbeziehungen zwischen deutscher und brasilianischer Literatur der Gegenwart. Promoviert wurde sie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Arbeit zum autobiografischen Gedächtnis im Prosawerk Max Frischs. Nach ihrer Promotion war sie drei Jahre als Lektorin des DAAD an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien, tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Gegenwartsliteratur, Literatur und Erinnerung, Literatur und Recht sowie transatlantische Literaturbeziehungen. Kontakt: [email protected] Boog, Julia, forscht derzeit an dem von der Mercator-Stiftung geförderten Projekt Geteilte Erfahrung – Migration im deutsch-türkischen und türkischen Film unter der Leitung von Prof. Dr. Ortrud Gutjahr. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Gräzistik an der Universität Hamburg, 2009-2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin bei Prof. Dr. Ortrud Gutjahr am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg (Titel der Promotion: Anderssprechen – Vom Witz der Differenz in den Werken von Emine Sevgi Özdamar, Felicitas Hoppe und Yōko Tawada). Publikationen zur Gegenwartsliteratur, insbesondere zur Migrationsliteratur und zur weiblichen Adoleszenz. Kontakt: [email protected] Dörwald, Uwe, Dr. phil., aufgewachsen in Mönchengladbach und Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Heidelberg, Hannover, Budapest und Szeged. Dissertation über Hermann Broch (1994); danach Literaturkritiken in verschiedenen Medien, u. a. für den Hessischen Rundfunk, sowie Arbeiten zur Geschichtsund Erkenntnistheorie (unter anderem im Hegel-Jahrbuch 1996); Herausgeber von www.schwarz-auf-weiss.org und Verleger der ersten eigenständigen Publikation von Felicitas Hoppe (Unglückselige Begebenheiten. Geschichten, 1991). Durch die Arbeit als Unternehmensberater, speziell in den Bereichen Strategieberatung und

426 | E HRLICHE ERFINDUNGEN

Sanierung, liegt ein weiterer Schwerpunkt auf Managementtheorien und Wirtschaftsethik. Zuletzt tätig in der Wirtschaftsförderung als Projektleiter bei Steinbeis und als Sanierungsgeschäftsführer. Nebenberuflich von 2006 bis 2011 Schwimmtrainer des Doppel-Europameisters im Triathlon Timo Bracht und anderer erfolgreicher Hochleistungssportler. Kontakt: [email protected] Ekelund, Lena, M. A., arbeitet zurzeit an der Universität Hamburg an einer Dissertation zum Thema Töchterstimmen. Trauma und Überlieferung in Romanen jüdischer Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur (Arbeitstitel), Studium in Hamburg und Rom. Forschungsinteressen sind jüdische Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache, Literatur der Shoah, Literatur und Psychoanalyse und der Familienroman. Letzte Aufsatzpublikationen zu der österreichischen Autorin Julya Rabinowich und zu interkulturellen Familienmodellen bei Amos Oz und Eytan Fox. Kontakt: [email protected] Emeis, Kathrin, Lehrerin an einer integrativen Schule in Hamburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Erasmus-Büro der Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Hamburg. Studium der Germanistik und Soziologie an der Universität Hamburg. Seit 2009 Doktorandin bei Prof. Dr. Ortrud Gutjahr und Mitarbeiterin an der von ihr geleiteten Arbeitsstelle für Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg (Titel der Promotion: Schul-Aufgabe. Der Lehrer als Symbolfigur krisenhafter Gegenwart in der deutschen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts). Publikationen zur Gegenwartsliteratur, insbesondere zur Migrationsliteratur und zur weiblichen Adoleszenz. Kontakt: [email protected] Frank, Svenja M. A., SFHEA, arbeitet an der Georg-August-Universität Göttingen an einem Promotionsprojekt zur Reflexion professioneller Interpretationsprozesse in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (Georg Christoph Lichtenberg-Stipendium, Promotionskolleg Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte). Ihr Studium der Germanistik, Anglistik und Europäischen Kultur in Eichstätt, Freiburg und London (UCL) schloss sie 2009 mit einer Magisterarbeit über die narrative Identitätskonstitution im Werk von Felicitas Hoppe ab und lehrte anschließend bis 2014 als DAAD-Lektorin an der University of Oxford deutsche Sprache und Literatur. Kontakt: [email protected] Fromholzer, Franz, Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Hispanistik in Regensburg, Augsburg und Valladolid und habilitiert sich derzeit als akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität

A UTORINNEN UND A UTOREN

| 427

Augsburg; Forschungsschwerpunkte: Historische Perspektiven der Intermedialität (Theatergeschichte), interkulturelle Germanistik, Stilistik; Veröffentlichungen: Gefangen im Gewissen. Evidenz und Polyphonie der Gewissensentscheidung auf dem deutschsprachigen Theater der Frühen Neuzeit (Dissertationsschrift, München: Fink 2013); ferner Publikationen zu Schiller, Nietzsche, Brecht; Mitherausgeber der Sammelbände Polnisch-deutsche Duette. Interkulturelle Begegnungen in Literatur, Film und Journalismus (Dresden: Neisse Verlag 2013) sowie Noch nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Differenz (Heidelberg: Winter Verlag 2011). Kontakt: [email protected] Hinzmann, Maria, M. A., seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal (Germanistik/Allgemeine Literaturwissenschaft). Studium der Neueren deutschen Literatur, Französischen Philologie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Paris. 2010 Koordination des Projekts Literarische Übersetzungen als Mittel der Kulturvermittlung im Rahmen des DAAD-Programms A New Passage to India. 2011-2013 Stipendiatin der Graduiertenförderung der BUW. Seit 2011 Dissertationsprojekt zu deutschsprachigen Indienreiseberichten des 19. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: indischeuropäische Austauschprozesse, Erzähltheorie, Semantik, Übersetzungswissenschaft, Postcolonial Studies, Cultural and Literary Animal Studies, Wissenspoetologie(n). Publikationen in den Bereichen Gegenwartsliteratur, historischer Roman, Raumtheorie, Inter-/Transkulturalität. Kontakt: [email protected] Holdenried, Michaela, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Germanistik am Deutschen Seminar der Albert-LudwigsUniversität Freiburg und Extraordinary Professor an der Stellenbosch University (Südafrika). Forschungsschwerpunkte: Repräsentationen von Alterität, Reiseliteratur, Identität und Erinnerung, Autobiografik. Ausgewählte Publikationen: Autobiographie (Stuttgart: Reclam, 2000); Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas (Berlin: Schmidt, 2004); Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (Hg. mit Weertje Willms, Bielefeld: Transcript 2012); Felicitas Hoppe: Das Werk (Hg., Berlin: Schmidt, 2015). Kontakt: [email protected] Hoppe, Felicitas, geb. 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin und Leuk und ist lesend und lehrend in der ganzen Welt unterwegs. Sie schreibt Erzählungen, Romane, Kinderbücher und Essays. Für ihr Werk, das im Fischerverlag erscheint und vielfach übersetzt ist, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis 2012 und dem Erich-Kästner-Literaturpreis 2015.

428 | E HRLICHE ERFINDUNGEN

Kontakt: http://www.fischerverlage.de/autor/Felicitas_Hoppe/14383 Ilgner, Julia, Doktorandin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Arbeit über Gattungstransformation(en) im historischen Renaissanceroman (gefördert durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes). Assoziiertes Mitglied des Promotionskollegs Geschichte und Erzählen; Forschungsaufenthalte am KHI Florenz und am DLA Marbach; Mitglied des Nachwuchsnetzwerks Geschichtstransformationen an der Universität Mainz. Forschungsinteressen: Renaissancismus/Mediävalismus, Wiener Moderne, Gattungsund Erzähltheorie, Intermedialität. Veröffentlichungen: Arthur Schnitzlers Filmarbeiten (Hg. mit Achim Aurnhammer u. a., Würzburg 2015), Geschichtstransformationen (Hg. mit Sonja Georgi u. a., Bielefeld 2015). Kontakt: [email protected] Langer, Sandra J., studierte an der Universität Siegen Germanistik, Philosophie und Psychologie. 2009/10 Sprachassistentin an der Helwan Universität in Kairo, seit 2010 DAAD-Lektorin an der Universität Lettlands in Riga. Ab dem Wintersemester 2015/16 wieder Doktorandin an der Universität Siegen mit einer Arbeit zu Remarque im Diskurs. Forschungsschwerpunkte: Kriegsliteratur des 20. Jahrhunderts und Kulturtransferprozesse im Baltikum. Publikationen zu Erich Maria Remarque, zum Nationalepos Lettlands und zum lettisch-russischen Konflikt. Kontakt: [email protected] Lippert, Florian, Dr. phil., Assistant Professor of German Literature am Department for European Languages and Cultures der Rijksuniversiteit Groningen. Forschungsschwerpunkte: moderne und zeitgenössische Literatur, Literaturtheorie, Selbstreferenz in Literatur und Film, Europa und Europakritik. Zuletzt erschienen: Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft: Kronauer, Grünbein, Maturana, Luhmann (München: Fink 2013). Kontakt: [email protected] Robertson, Ritchie, M. A., D. Phil., wurde 2010 zum Taylor Professor of German (Professor für Neuere deutsche Literatur) an der Universität Oxford ernannt, wo er auch Mitglied des Queen’s College ist. Seine Hauptpublikationen sind: Kafka: Judaism, Politics, and Literature (1985; dt. 1988); Heine (1988; dt. 1997); The ,Jewish Question‘ in German Literature 1749-1939 (1999); Kafka: A Very Short Introduction (2004; dt. 2010); Mock-Epic Poetry from Pope to Heine (2009); Lessing and the German Enlightenment (Hg., 2013). Daneben hat er zahlreiche Artikel über eine Reihe von Autoren und Themen von Lessing bis W. G. Sebald in Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht und Texte von Kafka, Hoffmann, Heine

A UTORINNEN UND A UTOREN

| 429

und Moritz ins Englische übersetzt. Zur Zeit arbeitet er an einer Einführung ins Leben und Werk Goethes. 2004 wurde er in die British Academy gewählt. Kontakt: [email protected] Schilling, Erik, Dr. phil., wissenschaftlicher Assistent an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und Humboldt Fellow an der University of Oxford. Studium der deutschen, lateinischen und italienischen Philologie in München, Pavia und Salamanca. Promotion in München und Stanford. Postdoktorand in München und Harvard. Stipendien der Stiftung Maximilianeum, der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: historischer Roman, Lyrik, Literaturtheorie, Intermedialität. Publikationen: Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur (Heidelberg 2012); Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts (Bielefeld 2015). Kontakt: [email protected] Schonfield, Ernest, Dr. phil., Lecturer in German an der Glasgow University, Schottland. Seine Dissertation Art and its Uses in Thomas Mann’s Felix Krull erschien 2008. Herausgeber von Alfred Döblin. Paradigms of Modernism (2009, zus. mit Steffan Davies). Veröffentlichungen zu Johann Wolfgang von Goethe, Johann Peter Hebel, Heinrich Heine, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Bertolt Brecht, Hubert Fichte, Emine Sevgi Özdamar. Er betreibt zudem eine englischsprachige Website zur deutschen Literatur (http://www.germanlit.org). Kontakt: [email protected] Schneiderwind, Nadine, studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Ältere Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an der RWTH Aachen. Assistentin für Deutsche Literatur an der Université Catholique de Louvain (Belgien) von 2010-2014. Seit 2012 Dissertationsprojekt zu Bildlichkeit und Erzählverfahren bei Felicitas Hoppe im Kontext der Gegenwartsliteratur. Kontakt: [email protected] Schuchter, Veronika, Mag., Dr. phil., derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik an der Universität Koblenz und Mitherausgeberin der Briefe Ernst Tollers, die voraussichtlich 2016 bei Wallstein erscheinen werden. Zuvor Universitätsassistentin im Fachbereich Angewandte Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsästhetik, Literaturkritik und Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: Ultima Ratio (zusammen mit Gerhard Scholz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013), Textherrschaft (Würzburg: Königshausen & Neumann 2013). Kontakt: [email protected]

430 | E HRLICHE ERFINDUNGEN

Wachter, David, Dr. phil., zur Zeit Mitarbeiter am Institut für germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts, besonders Dingkulturen, Literarische Ethnografie, Ästhetik des Erhabenen und Wissenspoetik. Promotion zu Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn. Neueste Publikation: Fenster, Orgel, Partitur. Cäcilies Dinge bei Kleist und Mallarmé, in: Kleist-Jahrbuch 2015. Kontakt: [email protected] Weissmann, Dirk, Dr. phil., Assistenzprofessor für deutsche Literatur und Sprache an der Université Paris-Est. Studium der Komparatistik, Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz, Lausanne und Paris. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur (19. bis 21. Jahrhundert), deutsch-französischer Kulturtransfer, Übersetzungsstudien. Aktuelle Forschungen zur literarischen Mehrsprachigkeit und Selbstübersetzung im deutsch-französischen Spannungsfeld. Ausgewählte Veröffentlichungen: Métamorphoses interculturelles, Etude des ‘Voix de Marrakech’ d’Elias Canetti, Paris 2016; Ex(tra)territorial: les territoires littéraires, culturels et linguistiques en question/reassessing territory in literature, culture and language (Hg. mit Didier Lassalle, Amsterdam/New York 2014); Littérature et migration: écrivains germanophones venus d’ailleurs (Hg., Villeneuve d’Ascq 2011). Kontakt: [email protected] Weixler, Antonius, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Neueren deutschen Literaturgeschichte der Bergischen Universität Wuppertal, redaktioneller Herausgeber des E-Journals DIEGESIS (www.diegesis.uni-wuppertal.de). Studium der Deutschen Literatur, der Kunst- und Medienwissenschaft sowie der Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und am University College Cork. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kunst der Klassischen Moderne, Narratologie und Gegenwartsliteratur. Publikationen: Poetik des Transvisuellen: Carl Einsteins „écriture visionnaire“ und die ästhetische Moderne, als Mitherausgeber: Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen (Berlin/Boston: De Gruyter 2015) sowie als Herausgeber: Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Berlin/Boston: De Gruyter 2012). Kontakt: [email protected]

Abkürzungsverzeichnis

Erzählwerke und poetologische Schriften Felicitas Hoppes Abenteuer

FELICITAS HOPPE, Abenteuer – was ist das? (Göttinger Sudelblätter), Göttingen 2010.

Büchnerpreisrede

FELICITAS HOPPE, Dankrede. Es gilt das gesprochene Wort, in: DIES./HUBERT SPIEGEL, Georg-Büchner-Preis 2012, Frankfurt a. M. 2012, S. 25-37.

Hoppe

FELICITAS HOPPE, Hoppe. Roman, Frankfurt a. M. 2012.

Iwein

FELICITAS HOPPE, Iwein Löwenritter. Erzählt nach dem Roman von Hartmann von Aue, Frankfurt a. M. 2008.

Johanna

FELICITAS HOPPE, Johanna. Roman, Frankfurt a. M. 2006.

Paradiese

FELICITAS HOPPE, Paradiese, Übersee. Roman, Reinbek 1996.

Picknick

FELICITAS HOPPE, Picknick der Friseure. Geschichten, Reinbek 1996.

Pigafetta

FELICITAS HOPPE, Pigafetta. Roman, Reinbek 1999.

Platz

FELICITAS HOPPE, Der beste Platz der Welt. Erzählung (Edition Spycher), Zürich 2009.

Schätze

FELICITAS HOPPE, Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009.

Verbrecher

FELICITAS HOPPE, Verbrecher und Versager (Marebibliothek 13). Fünf Porträts, Hamburg 2004.

Register Personen- und Werkverzeichnis

Das nachstehende Personen- und Werkregister versteht sich als benutzerorientiertes Hilfsmittel im Forschungsinteresse des Bandes, die vielfältigen rezeptiven und intertextuellen Bezugnahmen der Gegenwartsautorin Felicitas Hoppe auf die literarische Tradition aufzuzeigen. Es verzeichnet die Namen von Personen und Werken aus historischem, philosophischem, ästhetischem und (literatur-)theoretischem Kontext. Die Aufnahme der Einträge richtet sich nach der präsupponierten Handhabung; rein bibliografische Nennungen bleiben ausgespart. Personen sind unter Angabe der Lebensdaten aufgeführt, Werke unter Angabe des Haupttitels in der jeweiligen Originalsprache sowie des Publikationsjahrs der Erstausgabe oder die Entstehungszeit Berücksichtigung. Die angeführten Seitenangaben erfassen auch Erwähnungen in den Anmerkungen. Konkurrierende Schreibweisen wurden vereinheitlicht.

434 | E HRLICHE ERFINDUNGEN Barthes, Roland (1915-1980)

Abel, Carl (1837-1906)

15, 201

187f. Baudrillard, Jean (1929-2007)

Adams, Alexander (1780-1871)

369

49 Baum, Frank L. (1856-1919)

Adorno, Theodor W. (1903-1969)

104

111, 128 The Wonderful Wizard of Oz (1900)

Anon.

89, 96, 100, 103f.

Manessische Liederhandschrift (um

Beauvais, Bischof Cauchon von (1370-1442)

1300-1340)

60, 65

23 Benjamin, Walter (1892-1940)

Nibelungenlied (um 1200) 33, 141, 157, 160f., 166f., 170

19, 32, 98, 102, 109f., 113, 126f. Ausgraben und Erinnern (1931-33)

Tausendundeine Nacht (um 1450)

109

33, 137 Aussicht ins Kinderbuch (1926)

Aristoteles (384-322 v. Chr.)

88, 98

209 Berliner Kindheit (1950)

Poetik (um 335 v. Chr.) 274

32, 109-115, 116, 117-123, 126-128 Das Telefon (1950)

Assmann, Aleida (*1947)

110

72 Der Erzähler (1936)

Auster, Paul (*1947)

102 Der Strumpf (1950)

City of Glass (1985)

127

352 Die Kaktushecke (1933)

Avellaneda, Francisco de (um 1625-1684)

116f.

351 Einbahnstraße (1928)

Bach, Johann Sebastian (1685-1750)

118

22 Lehre vom Ähnlichen (1933)

Bachmann, Ingeborg (1926-1973)

114

61 Passagen-Werk (1929-1940)

Malina (1971)

113

62

Protokolle zu Drogenversuchen (1930)

Bachtin, Michail (1895-1975)

123

34, 59, 79f., 237-241, 243-248, 251, 253f.

Regenbogen (1915) 121

Balzac, Honoré de (1799-1850) 238

Über das mimetische Vermögen (1933)

211

Über den Begriff der Geschichte (1942)

114

Barrie, J. M. (1860-1937)

110, 124

Peter Pan (1911) 93f., 97, 211

R EGISTER

| 435

Die Gesichte der Simone Machard (1956)

Zur Astrologie (1932)

54

113 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

Beethoven, Ludwig van (1770-1828) 22

(1931) 32, 54

Benecke, Georg Friedrich (1762-1844) 54

Büchner, Georg (1813-1837) 18, 26, 57

Benn, Gottfried (1886-1956)

Buffon, Georges-Louis Leclerc de (17071788)

Palau (1922) 47f.

Histoire naturelle (1749-1804)

Bergman, Ingmar (1918-2007)

181f.

219 Bulgakow, Michail (1891-1940)

Bernhard, Thomas (1931-1989)

232f.

78f. Meister und Margarita (1967)

Der Stimmenimitator (1978)

231f.

79 Butler, Judith (*1956)

Ereignisse (1969)

31, 58f.

79 Canetti, Elias (1905-1994)

Bernstein, Elisa (1866-1949)

406

57 Carroll, Lewis (1832-1898)

Bieri, Peter (*1944)

211

417

Aliceʼs Adventures in Wonderland (1865)

Boccaccio, Giovanni (1313-1375)

88, 211 Cervantes, Miguel de (um 1547-1616)

Decamerone (1349-1353)

34, 156, 163, 238

33, 137, 139

Don Quixote de la Mancha (1605-1615)

Booth, Wayne C. (1921-2005)

350-352

347, 383 Chamisso, Adelbert von (1781-1838)

Borges, Jorge Luis (1899-1986) 351 Bourdieu, Pierre (1930-2002)

18, 31, 49, 406 Peter Schlemihls wundersame Geschichte

31, 56-58, 60, 63

(1814)

Brandt, Jan (*1974)

18, 311 Reise um die Welt (1836)

Tod in Turin (2015)

49 368

Charms, Daniil (1905-1942)

Brecht, Bertolt (1898-1956)

79 19, 59

Chrétien de Troyes (um 1140-1190)

Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 (1953)

Yvain (um 1180) 54, 60

183

436 | E HRLICHE ERFINDUNGEN Clausewitz, Carl von (1780-1831)

Doderer, Heimito von (1896-1966) 218

Vom Kriege (1832-1834)

Die Merowinger (1962) 218

Coetzee, J. M. (*1940)

72 Dostojewski, Fjodor M. (1821-1881) 238, 249

Boyhood (1997)

Draesner, Ulrike (*1962) 352

Coleridge, Samuel Taylor (1772-1834)

266 Düffel, John von (*1966)

348 Collingwood, Robin George (1889-1943)

73, 74 Dürrenmatt, Friedrich (1921-1990)

146 Collodi, Carlo (1826-1890)

Der Tunnel (1952) 32

Le avventure di Pinocchio (1883)

292 Eco, Umberto (1932-2016)

32, 89, 92f., 95f., 100, 103, 211, 233, 238 Cook, James (1728-1779)

19, 186, 266, 267f., 347 Il nome della rosa (1980)

46, 49 Cunqueiro, Álvaro (1911-1981)

233 Ende, Michael (1929-1995)

20 Dahl, Roald (1916-1990)

Die unendliche Geschichte (1979) 98

The BFG (1982)

Enzensberger, Hans Magnus (*1929) 98

Defonseca, Misha (*1937)

126 Escher, M. C. (1898-1972) 23, 155, 285

Misha (1997)

Esterházy, Péter (1950-2016) 352

213f. Euripides (um 480-406 v. Chr.)

Deleuze, Gilles (1925-1995) 176, 407

Medea (431 v. Chr.)

Delius, Christian Friedrich (*1943)

408 61

Federman, Raymond (1928-2009)

Derrida, Jacques (1930-2004)

209 189, 369, 407

Forster, Georg (1754-1794)

Dilthey, Wilhelm (1833-1911)

31, 46, 48 348

A Voyage Round The World (1777)

Djurović, Goran (*1952)

46-48 23

Foucault, Michel (1926-1984) 19, 241, 351f.

| 437

R EGISTER

Freud, Sigmund (1865-1939)

Goffman, Erving (1922-1982) 35, 343-346, 349-356, 382 Goncourt, Edmond de (1822-1896)

Der Familienroman der Neurotiker

124

(1909) 72f., 77

Goncourt, Jules de (1830-1870) 124

Die Traumdeutung (1900) 282

Gottsched, Luise (1713-1762) 57

Frisch, Max (1911-1991) Gould, Glenn (1932-1982)

22, 78

Stiller (1954) 292

Grass, Günter (1927-2015)

377

Grimm, Jakob (1785-1863)

19

Fuentes, Carlos (1928-2012)

32, 54, 99, 211

Gama, Vasco da (um 1469-1524) 51

Der Hase und der Igel (1843)

Geiger, Arno (*1968)

78, 285 Deutsche Sagen (1865/66)

Es geht uns gut (2005)

18, 99, 100 73

Die Kinder zu Hameln (1856/66)

Genette, Gérard (*1930)

98-102 275, 349

Kinder- und Hausmärchen (1812/15)

Gide, André (1869-1951)

18, 211 349

Ginzburg, Natalia (1916-1991)

Grimm, Wilhelm (1786-1859) → s. auch Grimm, Jakob 32, 54, 99, 211

Lessico famigliare (1963) 80, 81, 137, 223 Görres, Joseph (1776-1848)

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von (1622-1676)

149 Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832)

34, 238 Groebner, Valentin (*1962)

18, 149, 312 Deutsche Sprache (1817)

Das Mittelalter hört nicht auf (2008) 407

Dichtung und Wahrheit (1811-1833)

144, 148 Guattari, Félix (1930-1992)

83 Unterhaltungen deutscher Ausgewander-

176 Hagenbeck, Carl (1844-1913)

ten (1795)

199 137

Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) 100

Hagenbeck, John Heinrich (1866-1940) 314

438 | E HRLICHE ERFINDUNGEN Märchen der 672. Nacht (1895)

Hamann, Christoph (*1966)

351 Homer (8. Jh. v. Chr.)

Usambara (2007) 302, 326

Ilias (8. Jh. v. Chr.) 408

Hartmann von Aue (um 1160-1210) 18, 207

Hoppe, Felicitas (*1960)

Erec (um 1190) 141, 161

Abenteuer – was ist das? (2010) 16, 157, 169, 185, 207, 210, 217, 226,

Iwein (um 1200)

251

18, 89, 138, 161, 183, 184f., 191, 207, 224, 226, 232

Auge in Auge (2007) 16, 145, 147, 211f., 217, 218, 303, 414-

Heinle, Christoph Friedrich (1894-1914)

416, 418

121

Das eingeschossige Amerika (1936/2011)

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) 405

→ s. Ilf, Ilja bzw. Petrow, Jewgeni Das geographische Geheimnis der Ewig-

Herrndorf, Wolfgang (1965-2013)

keit (2010) 16, 210

Arbeit und Struktur (2013) 104

Das letzte Hemd hat keine Taschen (2002)

Tschick (2010)

126

104 Der beste Platz der Welt (2009)

Hildesheimer, Wolfgang (1916-1991)

34, 81, 227-230, 274f., 291-296 Der begnadigte Truthahn (2010)

Marbot (1981)

16, 23

352, 361, 368 Die weiße Frau (2008)

Mozart (1977)

16, 23

361 Drei Kapitäne (1998)

Hobbes, Thomas (1588-1679)

16, 23

181 Grünes Ei mit Speck (2011)

Hölderlin, Friedrich (1770-1843)

16

21 Hoppe (2012)

Hoffmann, E. T. A. (1776-1822) 18, 238

13, 16f., 22, 25, 32, 34-36, 46, 55, 65, 74,

137

225, 231, 237, 253f., 297, 322, 344, 346-350,

77f., 82, 87-105, 185, 209, 213, 216, 222f.,

Die Serapionsbrüder (1819-1821)

352-356, 359-384, 389-395, 397-409,

Prinzessin Brambilla (1820)

413-422

18 Im geheimen Garten (2010)

Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929)

16 Ein Brief (1902)

Ingrids Affen (2006) 280

23

R EGISTER

| 439

Wunsch nach Girlanden (2002)

Iwein Löwenritter (2008)

126

16, 23, 33, 82, 89, 138, 158f., 165, 169, 175-177, 182-185, 190, 196f., 200f., 207,

Huber, Therese (1764-1829) 57

224, 226, 416 Hughes, Ted (1930-1998)

Johanna (2006)

99, 214-217, 219

13, 16, 27f., 31, 34, 53-55, 58-67, 136, 159, 169, 191f., 196-198, 217-221, 226, 227-

Myth and Education (1970) 214

229, 231, 237, 239-243, 245-249, 253, 259269, 274f., 287-291, 294, 296, 300-303, 315f.,

Huizinga, Johan (1872-1945)

360-362, 370, 376, 379, 415 Herfsttij der Middeleeuwen

Paradiese, Übersee (2003) 13, 16, 18, 27, 33f., 74f., 81, 90, 92, 126,

(1919, dt. Der Herbst des Mittelalters) 198

135-150, 155-170, 185, 213, 219, 222, 223, 226, 228, 237, 249-252, 266, 274f., 282-287,

Homo ludens (1938) 281

291, 296, 300, 360, 361-363, 365, 381 Humboldt, Alexander von (1769-1859)

Picknick der Friseure (1996)

312, 322

11-13, 16, 32, 46, 74, 78-80, 110-112, 115-123, 126-128, 225, 226, 239, 252, 360, 375, 381, 391

Ilf, Ilja (1897-1937) Одноэтажная Америка (1936, dt. Das eingeschossige Amerika, ND 2011)

Pigafetta (1999)

23

13, 16, 19, 31, 34, 45f., 75f., 81, 126, 136, 192, 194, 195, 213, 214, 224, 229f., 274-

Irving, John (*1942) 418

283, 287, 294, 300, 360, 366f., 381 Jandl, Ernst (1925-2000)

Reise um die Welt (1997) 31, 46, 194

ottos mops (1970)

Schreiben (2016)

398

16 Johanna von Orléans (um 1412-1431)

Sieben Schätze (2009) 16f., 20f., 80f., 93, 94, 95, 99, 211, 213f., 217, 223, 224, 233, 238, 302, 311, 394f., 401-403

31, 53-55, 60, 63, 159, 217, 220, 242, 246, 248, 260f., 265-267, 287-291, 315f. Junghuhn, Franz Wilhelm (1809-1864) 311, 313, 321f., 324-326, 328f., 331,

Über Geistesgegenwart (2008)

333f., 335

16, 110f., 135, 212, 217-219, 376, 379 Java (1852)

Unglückselige Begebenheiten (1991) 16 Verbrecher und Versager (2004)

321 Junghuhn, Wilhelm Friedrich (1785-1844)

13, 16, 18, 23, 33-35, 76f., 136, 175-183, 190-192, 195, 199-201, 208, 221, 223, 280,

330 Kafka, Franz (1883-1924)

300-303, 305-316, 317, 321-339, 391 Vom Bäcker und seiner Frau (1999)

19, 79, 156 Das Schloß (1926)

23

63f.

440 | E HRLICHE ERFINDUNGEN Der Verschollene (1927)

Lewitscharoff, Sibylle (*1954) 233

125, 127 Lindgren, Astrid (1907-2002)

Karl VII., frz. König (1403-1461)

32

261, 290

I Skymningslandet (1949, dt. Im Land der

Kehlmann, Daniel (*1975) 266

Dämmerung) 96-98

Kermani, Navid (*1967)

Pippi Långstrump (Reihe, 1945-1948, dt. Pippi Langstrumpf )

Dein Name (2011)

89, 96f., 100

361 Lejeune, Philippe (*1938)

Über den Zufall (2012)

359f., 390

361 Loiseleur, Nicolas (1390-n. 1442)

Klee, Paul (1879-1940)

65, 261, 266, 268 Loos, Adolf (1870-1933)

Angelus Novus (1920) 124

Ornament und Verbrechen (1908) 230

Kleist, Heinrich von (1777-1811) 18

Lotman, Jurij M. (1922-1993)

18

Luhmann, Niklas (1927-1998)

Das Käthchen von Heilbronn (1810)

76, 189f.

Über das Marionettentheater (1810)

345 105

Lukian (um 120-180 n. Chr.)

Kotzebue, August von (1761-1819)

210 49

Verae historiae (2. Jh. n. Chr.)

Kotzebue, Otto von (1787-1846)

210 49

Luther, Martin (1483-1546)

Krausser, Helmut (*1964)

333 266

Lyotard, Jean-François (1924-1998)

Kristeva, Julia (*1941)

281 201, 244

Mandelstam, Ossip E. (1891-1938)

Kronauer, Brigitte (*1940)

20, 416 350

Mann, Thomas (1875-1955)

Lacan, Jacques (1901-1981) 19, 201

Buddenbrooks (1901)

Lachmann, Karl (1793-1851)

233 54

Der Zauberberg (1924)

Laclau, Ernesto (1935-2014)

292 58

Mannheim, Karl (1893-1947)

Lévi-Strauss, Claude (1908-2009)

72, 74 201

Magellan, Ferdinand (1480-1521) 45, 213, 276f.

R EGISTER

| 441

Peirce, Charles S. (1839-1914)

Meister, Georg (1653-1713)

33, 225, 227, 229

308, 311

Perrault, Charles (1628-1703)

Der Kunst- und Lustgärnter (1731) 307

Le barbe bleu (1695)

Montaigne, Michel de (1533-1592)

61

414 Petrow, Jewgeni (1903-1942)

Montesquieu, Charles de (1689-1755)

23

344, 346, 350 Одноэтажная Америка (1936, dt. Das

Lettres Persanes (1721) 343f., 346, 350

eingeschossige Amerika, ND 2011) 23

Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) 22

Pfeiffer, Ida (1797-1858) 31, 49-51

Musil, Robert (1880-1942) 273

Frauenfahrt um die Welt (1850) 49-51

Nabokov, Vladimir (1899-1977) 90, 92

Meine zweite Weltreise (1856) 50

Lolita (1955) 90, 92

Pigafetta, Antonio (um 1480-1534) 45f., 277

Naubert, Benedikte (1752-1819) 57

Relazione del primo viaggio intorno al mondo (1524)

Nietzsche, Friedrich (1844-1900)

45f.

59, 124 Polo, Marco (um 1254-1324)

Nobel, Alfred (1833-1896) 219

Il Milione (1298)

Nooteboom, Cees (*1933)

18

125 Proust, Marcel (1871-1922)

Origines (um 185-254)

407

143 À la recherche du temps perdu (1913-

Overath, Angelika (*1957) 242

1927)

126

Contre Sainte-Beuve (1954)

75

Pamuk, Orhan (*1952)

407

Pascal, Blaise (1623-1662) 124

Raabe, Wilhelm (1831-1910)

Paul, Jean (1763-1825) Abu Telfan (1867) 76

Das Leben des Quintus Fixlein (1796) 361 Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz (1807) 368

Rabelais, François (um 1494-1553) 34, 238

442 | E HRLICHE ERFINDUNGEN Rabinowich, Julya (*1970)

Schneider, Peter (*1940) 125 Schubert, Franz (1797-1828)

Spaltkopf (2008)

360

101 Schwarzenbach, Annemarie (1908-1942)

Rais, Gilles de (1404-1440)

57

61 Sebald, W. G. (1944-2001)

Ranke, Leopold von (1795-1886)

90

54 Seghers, Anna (1900-1983)

Ricœur, Paul (1913-2005) 34, 275, 296

Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen

Rilke, Rainer Maria (1875-1926) 45, 195

1431 (1927)

Rimbaud, Arthur (1854-1891)

32, 54f., 60 124

Setz, Clemens J. (*1982)

Röggla, Kathrin (*1971) 61 Roth, Philip (*1933)

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011) 368

Operation Shylock (1993)

Shakespeare, William (1564-1616) 352

Rowling, J. K. (*1965)

238 Hamlet (1604)

211, 212 Harry Potter and the Order of the Phoe-

351 Shaw, George Bernard (1856-1950)

nix (2003) 98

Saint Joan (1924)

Harry Potter (Reihe, 1997-2007)

243

100, 211f.

Sloterdijk, Peter (*1947)

Sainte-Beuve, Charles-Augustin (1804-1869) 407

414 Stein, Gertrude (1874-1946)

Sand, George (1804-1876) 238 Saussure, Ferdinand de (1857-1913)

The Autobiography of Alice B. Toklas (1933)

201 Schiller, Friedrich (1795-1805)

352 Swift, Jonathan (1667-1745)

18 Die Jungfrau von Orleans (1806)

Gulliver’s Travels (1726)

32, 54f., 58 Die Räuber (1782)

276, 408 Tergit, Gabriele (1894-1982)

21 Wilhelm Tell (1804)

57 Tieck, Ludwig (1773-1853)

55

238

R EGISTER

| 443

Walser, Martin (*1927)

Tolstoi, Leo (1828-1910)

19 Анна Каренина (1878, dt. Anna Kareni-

Walther von der Vogelweide (um 1170-1230) 18

na) 20f.

Weber, Max (1864-1920) 57

Trakl, Georg (1887-1914) White, Hayden (*1928)

31, 259, 290

Psalm (1912) 47

Wittgenstein, Ludwig (1889-1951) 281

Trojanow, Ilija (*1965) 61, 402-404

Philosophische Untersuchungen (1953)

Der Weltensammler (2006)

81 302, 326, 339

Wolfram von Eschenbach (um 1160/80-1220)

Döner in Walhalla (2000) 402-404

Parzival (um 1200)

Twain, Mark (1835-1910)

161 32, 104

Žižek, Slavoj (*1949)

The Adventures of Tom Sawyer (1876)

58

89, 104

Zürn, Unica (1916-1970)

Uetz, Christian (*1963)

61 21

Zweig, Stefan (1881-1942)

Unamuno, Miguel de (1864-1936)

19 Magellan (1938)

Niebla (1914)

19 352

Vaihinger, Hans (1852-1933) Die Philosophie des Als Ob (1911) 31, 355 Valéry, Paul (1871-1945) La crise de l’esprit (1919) 124 Verne, Jules (1828-1905) 32 Les enfants du capitaine Grant (1867/68) 89, 96 Voltaire (1694-1778) 238 Wagner, Richard (1813-1883) 22, 405

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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