Ehe imperial [1 ed.] 9783737010689, 9783847110682


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Ehe imperial [1 ed.]
 9783737010689, 9783847110682

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L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft Redaktion

L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Mag. Michaela Hafner, c/o Institut für Geschichte, Universität Wien, Universitätsring 1, A-1010 Wien E-Mail: [email protected] Internet: www.univie.ac.at/geschichte/LHOMME Geschäftsführende Herausgeberinnen und verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes: Christa Hämmerte, Claudia Kraft, Sandra Maß, Claudia Opitz-Belakhal Offene Beiträge sind jederzeit willkommen. Eingesandte Aufsätze sollen dem aktuellen Forschungsstand für Frauen- und Geschlechtergeschichte des jeweiligen Themenbereichs entsprechen und unterliegen einem genau festgelegten Begutachtungsverfahren (peer review). Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE; L'Homme is listed at the European Science Foundations' ERIH revised lists 2011 (INT 1) and in ERIH plus (2015). ,,L'Homme. Z. F. G." ist Partner von Eurozine (www.eurozine.com). Bezugsbedingungen

Erscheinungsweise: zweimal jährlich Erhältlich in jeder Buchhandlung oder bei der HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH. Ein Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn die Kündigung nicht bis zum 1. Oktober erfolgt ist. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen, E-Mail: [email protected], Tel.: 07071 / 9353-16, Fax: -93. Preise und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Gedruckt mit Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Abteilung Gleich­ stellung und Diversität der Universität Wien, der Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturab­ teilung der Stadt Wien und der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum.

Lniversität w1en

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RUHR UNIVERSITÄT BOCHUM

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© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Tel.: 0049 551 5084-306, Fax: -333, www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagentwurf: E. Thorn Verantwortlich für die Anzeigen: Anja Kütemeyer, Vandenhoeck & Ruprecht, [email protected]

ISSN: 1016-362X ISBN: 978-3-7370-1068-9 Enthält eine Beilage von Lettre Inten1ational.

L’Homme. Europa¨ische Zeitschrift fu¨r Feministische Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Mineke Bosch/Groningen, Boz˙ena Chołuj/Warschau und Frankfurt (Oder), Maria Fritsche/Trondheim, Christa Ha¨mmerle/Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Ho¨fert/Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Margareth Lanzinger/Wien, Sandra Maß/Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/ Berlin, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz Initiiert und mitbegru¨ndet von Edith Saurer (1942–2011)

Wissenschaftlicher Beirat Angiolina Arru/Rom, Sofia Boesch-Gajano/Rom, Susanna Burghartz/Basel, Kathleen Canning/Ann Arbor, Jane Caplan/Oxford, Krassimira Daskalova/ Sofia, Natalie Zemon Davis/Toronto, Barbara Duden/Hannover, Ays¸e Durakbas¸a/Istanbul, Ute Frevert/Berlin, Ute Gerhard/Bremen, Angela Groppi/ Rom, Francisca de Haan/Budapest, Hanna Hacker/Wien, Karen Hagemann/ Chapel Hill, Daniela Hammer-Tugendhat/Wien, Karin Hausen/Berlin, Hana Havelkova´/Prag, Waltraud Heindl/Wien, Dagmar Herzog/New York, Claudia Honegger/Bern, Isabel Hull/Ithaca, Marion Kaplan/New York, Christiane Klapisch-Zuber/Paris, Gudrun-Axeli Knapp/Hannover, Daniela Koleva/Sofia, Brigitte Mazohl/Innsbruck, Hans Medick/Go¨ttingen, Michael Mitterauer/ Wien, Herta Nagl-Docekal/Wien, Kirsti Niskanen/Stockholm, Helga Nowotny/Wien, Karen Offen/Stanford, Michelle Perrot/Paris, Gianna Pomata/ Bologna, Helmut Puff/Ann Arbor, Florence Rochefort/Paris, Lyndal Roper/ Oxford, Raffaela Sarti/Urbino, Wolfgang Schmale/Wien, Gabriela Signori/ Konstanz, Brigitte Studer/Bern, Marja van Tilburg/Groningen, Maria Todorova/Urbana-Champaign, Claudia Ulbrich/Berlin, Kaat Wils/Leuven

L’Homme. Europa¨ische Zeitschrift fu¨r Feministische Geschichtswissenschaft 31. Jg., Heft 1 (2020)

Ehe imperial Herausgegeben von Claudia Kraft und Margareth Lanzinger

V& R unipress

Inhalt

Claudia Kraft und Margareth Lanzinger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Beitra¨ge Jana Osterkamp Familie, Macht, Differenz. Familienrecht(e) in der Habsburgermonarchie als Herausforderung des Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Evdoxios Doxiadis “Ous o Theos Synezeuxen, Anthropos me Chorizeto”: State, Church and Divorce from the Ottoman Empire to the Early Modern Greek State . . . . . . . . .

35

Marie-Pierre Arrizabalaga Women, Inheritance and Empowerment: French Basque Women’s Adaptation to Legal Systems across Spaces, Times and Places . . . . . . . . . . . . . . .

53

Lena Radauer und Maren Ro¨ger Mobilita¨t und Ordnung. Eine Rechts- und Gesellschaftsgeschichte deutsch-russla¨ndischer Eheschließungen von 1875–1926 . . . . . . . . . . .

69

Extra Regula Ludi und Matthias Ruoss Die Großmu¨tter und wir: Freiwilligkeit, Feminismus und Geschlechterarrangements in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

6

Inhalt

Aus den Archiven Ninja Bumann Ehe und Scheidung nach der Scharia. Schariagerichtsakten aus dem habsburgischen Bosnien-Herzegowina (1878–1918) . . . . . . . . . . . . . 105 Traude Kogoj Die Eisenbahnerinnen in der Zeit des Nationalsozialismus. Erkenntnisinteresse und Leerstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Aktuelles & Kommentare Erdmute Alber Verwandtschaftshandeln in einer o¨konomisch auseinanderdriftenden Gesellschaft: Eine Hochzeit in Benin (Westafrika) . . . . . . . . . . . . . . . 121 Regina Mu¨hlha¨user Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Zur Entwicklung eines Versta¨ndnisses seit den 1970er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Rezensionen Siglinde Clementi Lyndan Warner (Hg.), Stepfamilies in Europe, 1400–1800 . . . . . . . . . . 139 Mary Jo Maynes Julia Moses (ed.), Marriage, Law and Modernity. Global Histories

. . . . . . 141

Frithjof Benjamin Schenk Ulrike Lindner u. Do¨rte Lerp (Hg.), New Perspectives on the History of Gender and Empire. Comparative and Global Approaches . . . . . . . . . . 144 Natali Stegmann Sara L. Kimble u. Marion Ro¨wekamp (Hg.), New Perspectives on European Women’s Legal History . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Aline Vogt Maren Lorenz, Menschenzucht. Fru¨he Ideen und Strategien 1500–1870 . . . 153 Christof Jeggle Anna Bellavitis, Women’s Work and Rights in Early Modern Urban Europe . . 156

7

Inhalt

Cornelia Baddack Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich u. Corinna Oesch, Ka¨the Schirmacher. Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und vo¨lkischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Anna Ha´jkova´ Laura Fahnenbruck, Ein(ver)nehmen. Sexualita¨t und Alltag von Wehrmachtsoldaten in den besetzten Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . 162 Johann Karl Kirchknopf Alexander Zinn, „Aus dem Volksko¨rper entfernt“? Homosexuelle Ma¨nner im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Abstracts

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Anschriften der Autor*innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Editorial

Heiratsvorhaben zwischen Angeho¨rigen verschiedener Konfessionen und Religionen, Imperien und Nationen za¨hlen zu den in den letzten Jahren versta¨rkt erforschten Themen am Schnittpunkt von Geschlechter-, Migrations-, Sozial-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte. Fu¨r eine Forschungsperspektive, die Geschlechtergeschichte als ,allgemeine Geschichte‘ begreift, ist dabei besonders relevant, dass jede Beziehungsund Familienform geschlechtsspezifische Implikationen hatte und dass rechtliche Rahmungen, gesellschaftliche Vorstellungen und individuelle Bedu¨rfnisse lange nicht immer konform gingen und gehen. Das scheint in besonderem Maße auf das 19. Jahrhundert zuzutreffen, das eine u¨beraus dynamische Gemengelage von Aufbruch, Vera¨nderung und Beharrung aufweist sowohl in Zusammenhang mit Geschlechterkonzepten als auch mit personen-, ehe- und familienrelevanten Rechtsmaterien. Diese standen in imperialen, zwischenstaatlichen und kolonialen Kontexten zudem in einem komplexen Spannungsfeld zwischen staatlicher Souvera¨nita¨t, bu¨rokratischer Umsetzung sowie Anspru¨chen und Forderungen von ,Bittsteller*innen‘, die auf ihren Vorhaben bestanden. So setzt das Konzept dieses Themenheftes bei den Implikationen von Rechtsvorstellungen und kodifizierten Rechten an, die von einem umfassenden ra¨umlichen Geltungsbereich ausgingen, von einem Geltungsbereich, der sich im 19. Jahrhundert auf ein gesamtes Imperium erstrecken konnte. Diese Rechtsvorstellungen und kodifizierten Rechte wurden zum einen von anderen Rechtslagen herausgefordert. Dies konnten sowohl Rechte der Staatsbu¨rger*innen sein als auch Ehe-, Scheidungs- oder Vermo¨gensrechte, die zum Teil auf einem historisch weit zuru¨ckreichenden Erbe gru¨ndeten. Zum anderen wurden sie von Frauen, Ma¨nnern und Paaren herausgefordert, deren Heirats- oder Scheidungsvorhaben oder Vermo¨gensarrangements nicht der staatlichen oder kirchlichen Logik entsprachen beziehungsweise Grenzen, Rechte, Konfessionen oder Religionen u¨berschritten. So lag die rechtliche Dynamik und Komplexita¨t des 19. Jahrhunderts auch darin begru¨ndet, dass sich der Referenzraum der Rechtslagen fu¨r viele Menschen verschob, von unterschiedlichen lokalen und regionalen Zusta¨ndigkeiten hin zu neuen staatlichen Bu¨rokratien und Verwaltungen oder zu zwischenstaatlichen Aushandlungsra¨umen.

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Ebenso wie Eheschließungen konnten auch Scheidungen und eheliche Vermo¨gensarrangements in rechtlichen Zwischenra¨umen verortet sein: In den Hauptbeitra¨gen sind Rechtsvorstellungen zwischen dem o¨sterreichischen und dem ungarischen Teil der Habsburgermonarchie situiert, Heiratsvorhaben zwischen dem Deutschen und dem Russla¨ndischen Reich, Scheidungsklagen zwischen orthodoxen und islamischen Gerichten, eheliche Gu¨terarrangements und Erbga¨nge zwischen franzo¨sischem baskischem Recht des Ancien Re´gime und den Mo¨glichkeiten, die das kalifornische Common Law ero¨ffnete. Die Beitra¨ge des Heftes sind in einem uneinheitlichen Forschungsstand zu kontextualisieren. Schon fru¨h hat die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung (vor allem koloniale) Imperien als Schaupla¨tze komplexer Aushandlungsprozesse untersucht, fu¨r die die Kategorie Gender gekoppelt mit anderen Differenzkategorien wie race und class als zentraler Analysegegenstand betrachtet wird.1 Nahezu zeitgleich verwiesen globalhistorische Studien auf die fundamental wichtige Bedeutung des Umgangs mit Heterogenita¨t in (nicht nur kolonialen) Imperien insbesondere im 19. Jahrhundert, deren historischer Eigenwert betont und die eben nicht als bloßer Vorla¨ufer nationalstaatlicher Normalita¨t gedeutet werden. In Hinblick auf den Umgang mit Heterogenita¨t ru¨ckt die Forschung Rechtspluralita¨t in Imperien in den Fokus des Interesses.2 Gerade fu¨r die Kontinentalimperien Osmanisches Reich, Habsburgermonarchie und Russla¨ndisches Reich wird aufgrund ihrer sukzessiven Ausdehnung auf die Bedeutung von Rechtspluralismus als ein Herrschaftsinstrument fu¨r das Management von Diversita¨t verwiesen, das aber gleichzeitig den Untertan*innen einen Mo¨glichkeitsraum ero¨ffnete, um Vorteile aus diesem Pluralismus durch die strategische Nutzung von Gerichten (nicht zuletzt in Eheangelegenheiten) zu ziehen.3 Damit liegt eine geschlechtergeschichtliche Perspektivierung auf der Hand, doch die ,neue Imperialgeschichte‘, die durchaus ein versta¨rktes Interesse auch fu¨r die Kontinentalimperien aufbringt, hat diese Forschungsperspektive bislang eher vernachla¨ssigt.4 Es ist erneut 1 Vgl. Anne McClintock, Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Context, New York 1995; Ann Laura Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2002; Philippa Levine (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2004; Angela Woollacott, Gender and Empire, Basingstoke 2006. 2 Vgl. Christopher Bayly, The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons, 1780–1914, Malden/MA u. a. 2004; Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mu¨nchen 2009; Lauren Benton u. Richard J. Ross (Hg.), Legal Pluralism and Empires, 1500–1850, New York 2013. 3 Vgl. Karen Barkey, Aspects of Legal Pluralism in the Ottoman Empire, in: Benton/Ross, Legal Pluralism, wie Anm. 2, 83–107, 85f. 4 Hier mag der Verweis auf Forschungsu¨berblicke genu¨gen: Kerstin S. Jobst, Julia Obertreis u. Ricarda Vulpius, Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropa¨ischen Geschichte: die Habsburgermonarchie, das Russla¨ndische Reich und die Sowjetunion, in: Comparativ. Zeitschrift fu¨r Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, 18, 2 (2008), 27–56; Ulrike von Hirschhausen, A New Imperial History? Programm, Potenzial, Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft, 41, 4 (2015), 718–757. Benno Gammerl geht in seiner vergleichenden Studie nur sehr kurz auf die Kategorie

Editorial

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die globalgeschichtlich ausgerichtete Kolonialgeschichte, die hier in ju¨ngster Vergangenheit wichtige Forschungsbeitra¨ge geleistet hat, von denen einige im Rezensionsteil dieses Heftes aufgegriffen werden.5 Wie gewinnbringend es sein kann, eine imperialgeschichtliche Perspektive mit geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen am Beispiel eherechtlicher Bestimmungen zusammenzubringen, zeigt der Beitrag von Jana Osterkamp zur familienrechtlichen Vielfalt in der Habsburgermonarchie. Sie macht einerseits deutlich, wie eng die auf den Staat wie auf das Private bezogenen Deutungen von Familie und Geschlechterbeziehungen gerade in der Zeit um 1800 miteinander verknu¨pft waren, und andererseits, wie stark die unterschiedlichen Staatsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts innerhalb der Doppelmonarchie die jeweiligen familienrechtlichen Ordnungen fu¨r ihre politische Legitimierung nutzten. Die Autorin geht von der Beobachtung aus, dass seit dem 18. Jahrhundert Familie zunehmend staatspolitisch gedacht wurde, als sowohl gesellschaftlich wie auch sittlich relevante kleinste Einheit fu¨r den Staat. Diese universalis¨ sterreich-Ungarn auf tische staatspolitische Impra¨gnierung der Familie traf aber in O eine gestufte und heterogene Herrschaftsordnung, die sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierung und nationaler Mobilisierung im 19. Jahrhundert zunehmend ausdifferenzierte. Osterkamp macht deutlich, dass die familienrechtliche Vielfalt trotz der Verabschiedung des Allgemeinen Bu¨rgerlichen Gesetzbuches von 1811 fortbestand und vor allem seit 1867 in den beiden Reichsha¨lften des Imperiums in ganz unterschiedlicher Weise fu¨r die Legitimierung der jeweiligen Staats- und Ordnungsvorstellungen genutzt wurde. Der Vorrang des kanonischen Rechts in der o¨sterreichischen Reichsha¨lfte war ein Pfeiler einer u¨bernationalen „Gesamtstaatsidee“, wa¨hrend in der ungarischen Reichsha¨lfte die verfassungsrechtliche Gleichheit der Konfessionen integraler Bestandteil des „Projekts eines sa¨kularen Nationalstaats“ war. Evdoxios Doxiadis verfolgt in seinem Beitrag die Bestimmungen der orthodoxen Kirche bezu¨glich Ehescheidung von deren Grundlegung im byzantinischen Kirchenrecht u¨ber die osmanische Zeit (ab dem 15. Jahrhundert) bis zu dem 1832 errichteten Ko¨nigreich Griechenland und vergleicht diese mit dem islamischen Scheidungsrecht. Aus¨ berlegungen ist der Umstand, dass sich christlich-orthodoxe Frauen gangspunkt seiner U mit ihren Scheidungsklagen im Osmanischen Reich vielfach an das islamische Kadigericht wandten, obwohl sie auch nach orthodoxem Recht ha¨tten geschieden werden ko¨nnen. Doxiadis arbeitet Gemeinsamkeiten, vor allem aber die Unterschiede im EheGeschlecht ein und ordnet sie der Dominanz ethnischer Heterogenita¨t unter: Benno Gammerl, Staatsbu¨rger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenita¨t im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Go¨ttingen 2010, 280–283. 5 Vgl. Julia Moses (Hg.), Marriage, Law and Modernity. Global Histories, London 2018; Ulrike Lindner u. Do¨rte Lerp (Hg.), New Perspectives on the History of Gender and Empire. Comparative and Global Approaches, London/New York 2018, v. a. das Kapitel zum Heiratsverhalten. Vgl. zudem Gender & History, 29, 3 (2017): Marriage’s Global Past, hg. von Sara McDougall u. Sarah M. S. Pearsall.

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versta¨ndnis, in den Regeln und in der geschlechtsspezifischen Logik von Scheidungsverfahren heraus. Das islamische Scheidungsrecht erwies sich als offener, da es keine Schuldhaftigkeit voraussetzte und Wiederverheiratung nicht untersagte. Manche der christlichen Frauen, die sich vom Kadi scheiden ließen, hatten ihre Ehe nach islamischem Recht geschlossen; andere wandten sich an das islamische Gericht, nachdem das Kirchengericht sie mit ihrem Ansinnen abgewiesen hatte. Sichtbar wird hier die situative Nutzung einer Institution u¨ber religio¨se Grenzen hinweg, die von der orthodoxen Kirche zwar verurteilt und auf politischer Ebene beka¨mpft wurde, im Ergebnis aber zumeist anerkannt werden musste. Im unabha¨ngigen griechischen Ko¨nigreich unter bayerischer Regentschaft wurde das Rechtssystem zentralisiert, allerdings kein neues Zivilrecht eingefu¨hrt, sodass auf Gewohnheit zuru¨ckzugreifen war oder in deren Ermangelung auf das byzantinische Recht. Infolgedessen bestand der kirchliche Einfluss auf das Eherecht fort; die Zivilehe wurde in Griechenland erst 1982 eingefu¨hrt. So war das Scheidungsrecht im 19. Jahrhundert ein Spielball zwischen der Kirche und dem Staat. In einem ebenfalls durch Heterogenita¨t gekennzeichneten Rechtsraum ist der Beitrag „Aus den Archiven“ von Ninja Bumann verortet. Sie arbeitet mit Akten der Schariagerichte im habsburgischen Bosnien-Herzegowina um 1900, die sie in Hinblick auf Geschlecht, Recht und Verfahrenswege kontextualisiert. A¨hnlich wie die orthodoxen Ehegerichte im Osmanischen Reich blieben hier die Schariagerichte als islamische Institutionen unter o¨sterreichisch-ungarischer Verwaltung bestehen – waren allerdings nur der muslimischen Bevo¨lkerung zuga¨nglich. Die Dokumente geben Einblick in geschlechtsspezifische Handlungsra¨ume und soziale Normvorstellungen. Mit dem Kolonialismus erweiterte nicht nur das europa¨ische Zivilrecht sein Einflussgebiet, sondern durch die ihn begleitenden Missionen hatte sich auch das christliche Ehemodell auf allen Kontinenten verbreitet und wurde – mit mehr oder weniger Erfolg – gegen andere Beziehungsformen versucht durchzusetzen.6 Daraus resultierte bereits in der Fru¨hen Neuzeit ein hybrides Ineinanderfließen u¨berkommener ,eigener‘ und ,angeeigneter‘ Rechts- und Praxisformen, die sich u¨ber das Konzept der Multinormativita¨t fassen lassen. Im Gegensatz zum Rechtspluralismus, der die Koexistenz von Rechten in einem Raum bezeichnet, jedoch nur Regelungsregime meint, die um Jurisdiktionen zentriert sind,7 geht die Multinormativita¨t einen Schritt weiter und schließt andere Kategorien von Normen mit ein: Normen, die nicht rechtlich definiert und/oder festgeschrieben waren, soziale Normen – wie bestimmte Usancen, Rituale und Zeremonien. Multinormativita¨t zielt zugleich darauf ab, die Hierarchisierung zwischen rechtlichen und sozialen Normen aufzuheben und diese in ein symmetrisches ¨ ffnung des Blicks fu¨r „HybridisieVerha¨ltnis zu setzen. Das Potenzial liegt in der O 6 Vgl. zuletzt Rechtsgeschichte – Legal History, 27 (2019) mit dem globalhistorisch ausgerichteten Themenschwerpunkt „Tridentine Marriage“. 7 Vgl. Thomas Duve, Was ist ,Multinormativita¨t‘? Einfu¨hrende Bemerkungen, in: Rechtsgeschichte – Legal History, 25 (2017), 88–101, 91.

Editorial

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rungen, die dynamischen Koexistenzen, die Interaktionen und symbiotischen Verha¨ltnisse“.8 Ein ganzes Spektrum an solchen Verknu¨pfungen zeigt sich im Beitrag von Erdmute Alber u¨ber Heiraten im westafrikanischen Benin („Aktuelles & Kommentare“). Die im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert entstandenen Zivilrechtskodifikationen waren ein integrativer Bestandteil des staatlichen Selbstversta¨ndnisses der Zeit. Ihr Ziel war das Vereinheitlichen und Zentralisieren von Recht. Dies sollte einen einheitlichen Rechtsraum schaffen und dem fru¨hneuzeitlichen Rechtspluralismus ebenso wie einem nach Sta¨nden differenzierten Recht ein Ende setzen. Doch sahen die zivilen Rechte des bu¨rgerlichen Zeitalters durchaus innere Differenzierung vor, ließen verschiedene Optionen und partikulare Rechte – vor allem bezogen auf verschiedene Konfessionen und Religionen – zu. Sie waren insgesamt weiterhin konfessionell beziehungsweise religio¨s gepra¨gt.9 Infolge der Kodifikationen begannen die kirchlichen Eherechte und die entsprechenden Gerichtsbarkeiten jedoch, ihre Vormachtstellung zu verlieren – wenngleich in sehr unterschiedlichen Chronologien und keineswegs in einem linearen, oft vielmehr durch gegenla¨ufige Vera¨nderungen durchbrochenen Prozess. Weltliches und kirchliches Eherecht gerieten jedenfalls vielfach in Konkurrenz zueinander; besonders umka¨mpft war die Zivilehe. Die fundamentale Rolle, die eherechtliche Regelungen als eine Art Relais zwischen individueller Lebensfu¨hrung und staatlichen Ordnungen spielten, macht der Beitrag von Lena Radauer und Maren Ro¨ger deutlich. Sie untersuchen deutsch-russla¨ndische Eheschließungen in den Jahren zwischen der Einfu¨hrung der ausschließlichen Zivilehe im Deutschen Reich (1875) und der Verabschiedung des neuen sowjetischen Familiengesetzbuches (1926). In diesem Zeitraum wurden zwei sehr unterschiedliche Entwicklungen wirkma¨chtig, die dazu beitrugen, dass die historischen Akteur*innen sich immer ha¨ufiger „zwischen den Ordnungen“ der beiden Rechtssysteme wiederfanden: auf der einen Seite eine vor allem im Deutschen Reich rigoros vorangetriebene Politik der ,Durchstaatlichung‘, die durch zunehmende Rechtsvereinheitlichung die Mano¨vrierra¨ume der Betroffenen einschra¨nkte, auf der anderen Seite eine stark steigende fernra¨umliche Mobilita¨t, die durch den Ersten Weltkrieg noch forciert wurde. Heiraten zwischen deutschen und russla¨ndischen Partner*innen wurden durch sehr unterschiedliche nationalstaatliche und imperiale Ordnungsprinzipien erschwert. Die Zivilehe sollte die de facto gegebene konfessionelle und sprachliche Heterogenita¨t nicht nur imperial u¨berwo¨lben, sondern perspektivisch einer einheitlichen Nationalkultur unterordnen. Je sta¨rker ethnokulturelle Engfu¨hrungen das Nationsversta¨ndnis impra¨gnierten, desto sta¨rker wurden eherechtliche Regelungen zur Abschottungspolitik 8 Duve, Was ist ,Multinormativita¨t‘?, wie Anm. 7, 92. ¨ ster9 Vgl. z. B. Stefan Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, in: Beitra¨ge zur Rechtsgeschichte O reichs, 2 (2012), 13–26, 17; Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Perso¨nliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Ko¨ln/Weimar/Wien 2003, 149.

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vor allem gegen Osteuropa instrumentalisiert. Das Russla¨ndische Reich ließ interreligio¨se Ehen – bei gleichzeitiger Privilegierung der Orthodoxie – zu und konnte sich als ,echtes‘ Imperium als der deutlich elastischere Part zeigen, wenn es um die Zuerkennung beziehungsweise Beibehaltung von Staatsangeho¨rigkeit im Falle von intermarriages ging. Die Russische Revolution brachte mit der Einfu¨hrung der Zivilehe einen radikalen Wandel der Institution Ehe, die mit anderen Formen der Kohabitation gleichgestellt wurde. Doch diese neuen rechtlichen Regelungen, die sowohl den Wechsel zwischen Rechtsordnungen fu¨r gemischtnationale Paare erleichterten als auch die Geschlechterverha¨ltnisse grundlegend neu definierten, wurden seit den spa¨ten 1920er-Jahren in einem Klima der zunehmenden Abschottung gegen das Ausland u¨berlagert, die in gewisser Weise ihre Parallele im antislawischen und antisemitischen Klima der Weimarer Republik fand. In Frankreich war die Zivilehe bereits 1792 eingefu¨hrt worden. Der Code civil des Kaiserreichs von 1804 dehnte seinen Geltungsbereich im Zuge der napoleonischen Eroberungen u¨ber weite Teile Europas aus, fand Anwendung in franzo¨sischen Kolonien und firmierte fu¨r zahllose Kodifikationen weltweit als Vorbild. Aus geschlechtergeschichtlicher Sicht ist er nicht unumstritten,10 doch fu¨hrte er gleiches Erbrecht fu¨r alle Kinder unabha¨ngig von Geburtsrang und Geschlecht ein – so auch im franzo¨sischen Baskenland, wo bis dahin das a¨lteste Kind – Sohn oder Tochter – die Besitznachfolge angetreten hatte. Im 19. Jahrhundert fiel der Besitz, wie Marie-Pierre Arrizabalaga in ihrem Aufsatz zeigt, mehrheitlich an eine Tochter, was mit diversen Verpflichtungen verbunden war, wa¨hrend die Emigration den So¨hnen soziale Aufstiegschancen bot. Die Migration zum Beispiel nach Kalifornien ero¨ffnete sukzessive auch Frauen Mo¨glichkeitsra¨ume. Das ausgewertete Quellenmaterial weist als vorherrschendes Vermo¨gensarrangement die gemeinsame Inhaberschaft der Familienbetriebe – Farmen, Gescha¨fte, Hotels etc. – und damit die vertragliche Begu¨nstigung der Ehepartnerin auch im Fall der Verwitwung aus. Gemessen an Kriterien des sozialen Aufstiegs verbesserte die Anpassung an die Optionen, die das kalifornische Common Law bot, die Besitzchancen von Frauen sehr deutlich – und mehr noch, wenn die Ausgewanderten die amerikanische Staatsbu¨rgerschaft annahmen. Das 19. Jahrhundert zeigt sich in den Beitra¨gen als ein Jahrhundert des Anspruchs: auf Rechte als Staatsbu¨rger*in, auf Partner*innenwahl und Ehe, auf Scheidung, auf Zugang zu und Anteil an Vermo¨gen. Dafu¨r haben Frauen, Ma¨nner und Paare aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus geka¨mpft und dabei nicht unbetra¨chtlichen bu¨rokratischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand auf sich genommen.

10 Vgl. Edith Saurer, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Margareth Lanzinger, Wien/Ko¨ln/Weimar 2014, 30–33; Manuela Martini, Neue Rechte, alte Pflichten. Die Rezeption des Code Napole´on zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Italien, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 1 (2003), 90–96.

Editorial

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¨ berkreuzungen von politischen Ordnungen Die im Schwerpunktteil verhandelten U und Geschlechterarrangements werden in einem anderen Zusammenhang auch im offenen Beitrag („Extra“) aufgegriffen. Regula Ludi und Matthias Ruoss sehen im Konzept der ,Freiwilligkeit‘ einen „Modus, der soziale Beziehungen zwischen Menschen regelt und die Gesellschaft ordnet“ und den sie einer geschlechtergeschichtlichen Analyse unterziehen. Sie zeigen am Beispiel der Schweiz auf, wie stark die Geschlechterdifferenz die jeweiligen unentgeltlichen Ta¨tigkeiten von Ma¨nnern und Frauen grundierte. Wa¨hrend ma¨nnliches Engagement „Ausu¨bung eines politischen Ehrenamtes“ war und zur Akkumulation von Status und Anerkennung beitrug, ermo¨glichte die aus der Familie herru¨hrende und in den o¨ffentlichen Raum verla¨ngerte geschlechtliche Arbeitsteilung keine Statusvera¨nderung, da Freiwilligenarbeit von Frauen naturalisiert und aufgrund des Produktivita¨tsparadigmas von Arbeit unsichtbar gemacht wurde. Zwar gelang es der Neuen Frauenbewegung, die Freiwilligkeit als „Gratisarbeit“ erfolgreich zu kritisieren und ein Umdenken sowohl in Bezug auf die Haus- als auch die unbezahlte Wohlta¨tigkeitsarbeit anzustoßen. Doch bewegungsintern blieb die Freiwilligkeit problematisch. Die unentgeltliche Projektarbeit in der feministischen Szene wich seit den 1980ern zunehmend professionalisierter bezahlter Arbeit und konnte die in sie gesetzten Hoffnungen, neue politische Organisationsformen zu begru¨nden, nicht erfu¨llen. Die Autor*innen pla¨dieren fu¨r eine umfassende Erforschung der permanenten Um- und Neucodierungen von Freiwilligkeit – nicht zuletzt in einer Zeit, in der neoliberale Politikvorstellungen die Fragen nach Wertigkeit und Definition unterschiedlicher Arbeitsformen mit neuer Dringlichkeit aufwerfen. In einem weiteren Beitrag der Rubrik „Aus den Archiven“ berichtet Traude Kogoj ¨ sterreichischen Bundesbahnen, die Beteiligung der Bahn und u¨ber den Versuch der O ihrer Mitarbeiter*innen an den Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Nicht nur das Schicksal ju¨discher Eisenbahnarbeiter*innen ist aufgrund von vorsa¨tzlicher Aktenvernichtung schwierig zu rekonstruieren; auch Fragen etwa zur politischen Einstellung von weiblichen Bescha¨ftigten bleiben offen. Hier zeigt sich die Spezifik von Unternehmensarchiven, deren Aufbewahrungs- und Systematisierungslogiken die Kategorie Geschlecht lange Zeit nicht beru¨cksichtigt haben. Der Beitrag von Regina Mu¨hlha¨user setzt die Kommentarserie zur Geschichte und Gegenwart sexueller Gewalt fort.11 Die Autorin geht dem sich a¨ndernden Versta¨ndnis 11 Bisher sind folgende Texte erschienen: Gaby Zipfel, Sexuelle Gewalt – eine Einfu¨hrung, in: L’Homme. Z. F. G., 27, 1 (2016), 119–127; Alexandra Oberla¨nder, Zur Politisierung sexueller Gewalt. Der Fall Marija Spiridonova im revolutiona¨ren Russland 1906, in: L’Homme. Z. F. G., 27, 2 (2016), 133–142; Hyunah Yang, Justice Yet to Come: the Korea-Japan Foreign Ministers’ Agreement of 2015 Regarding the ,Japanese Military Sexual Slavery‘, in: L’Homme. Z. F. G., 28, 2 (2017), 115–125; Birgitt Haller, Sexuelle Bela¨stigung von Lehrlingen und jungen ArbeitnehmerInnen, in: L’Homme. Z. F. G., 29, 1 (2018), 127–131; Maria Ro¨sslhumer, „Home Sweet Home“? ¨ sterreich, in: L’Homme. Z. F. G., 29, 2 (2018), 135–143; 40 Jahre Frauenhausbewegung in O Hafdis Erla Hafsteinsdo´ttir, „She frequently visits taverns.“ Surveillance, Panic and Institutionalised Violence against Women in Iceland during the Second World War, in: L’Homme. Z. F. G., 30, 1

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von sexueller Gewalt, insbesondere von Vergewaltigungen, als Kriegswaffe seit den 1970er-Jahren nach und bringt feministische und geschlechterhistorische Forschungspositionen zu dieser Argumentationsfigur ein. Es ist aufschlussreich, wie Forscher*innen seit den 1970er-Jahren in sich wandelnden zeithistorischen Kontexten Vergewaltigungen als jeweils in geschlechtsspezifische Machtstrukturen eingebunden zu deuten versuchten. Eine Dynamisierung erhielten diese Forschungen durch die massenhaften Vergewaltigungen im Zuge der Konflikte in Ruanda und des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er-Jahren. Mu¨hlha¨user arbeitet u¨berzeugend heraus, wie stark sozial- und kulturwissenschaftliche Interpretationsvorschla¨ge auch immer von außerwissenschaftlichen Interessen mitbestimmt werden. Das Heft schließt wie immer mit einem Rezensionsteil, der neben den themenbezogenen auch Besprechungen aktueller Publikationen aus dem Bereich der Frauenund Geschlechtergeschichte entha¨lt. Claudia Kraft und Margareth Lanzinger

(2019), 133–140; Birgit Sauer, #MeToo. Ambivalenzen und Widerspru¨che affektiver Mobilisierung gegen sexuelle Gewalt, in: L’Homme. Z. F. G., 30, 2 (2019), 93–110.

Familie, Macht, Differenz. Familienrecht(e) in der Habsburgermonarchie als Herausforderung des Empire

¨ sterreich hat eine außergeEine der erfolgreichsten Novellen im vorma¨rzlichen O wo¨hnliche literarische Heldin. 1843 erschien die Erza¨hlung „Brigitta“ von Adalbert Stifter u¨ber eine junge adelige Frau, die nach einer Scheidung ihren Sohn allein großzieht, aus ihrem Gut in der ungarischen Puszta einen landwirtschaftlichen Musterhof macht und die Bauern ihrer Umgebung in den neuen Agrartechniken unterweist.1 Die weibliche Hauptfigur zeigt sich auch u¨ber „den ku¨nftigen Landtag“ informiert.2 Dieser Verweis auf Brigitta als interessierte Staatsbu¨rgerin und Mitglied des ungarischen Landtags la¨sst wie nebenbei die damalige Renaissance dieser sta¨ndischen Institution aufblitzen. Der ungarische Landtag verhandelte in jenen Jahren u¨ber die Ablo¨sung der Bauernlasten, die Befreiung der Gemeinden aus adeliger Vorherrschaft, die Liberalisierung der Sta¨dte sowie die Fo¨rderung von Ackerbau, Handel und Wirtschaft.3 Ein weiteres zentrales Thema war die Beschra¨nkung des Einflusses der katholischen Kirche auf Ehe und Familie. Stifter spielte in der Novelle mit zeitgeno¨ssischen Geschlechterstereotypen und ¨ ffentliche auf ungewohnte Weise. Das in Brigitta verschra¨nkt das Private und das O angelegte Frauenbild vereint die Rollen der Mutter und der Staatsbu¨rgerin. Das aufkla¨rerisch-bu¨rgerliche Ideal eines fu¨r das Gemeinwohl ta¨tigen Staatsbu¨rgers, der sich uneigennu¨tzig in den Dienst des Aufschwungs seiner Gesellschaft, seiner Nation und des Staates stellt, wird von einer geschiedenen Frau verko¨rpert, die erfolgreich wirtschaftet und ihre ma¨nnlichen Gutsnachbarn zu ebenfalls ta¨tigen Staatsbu¨rgern und Agrarreformern erzieht.4 Auch ihre Rolle als Erzieherin des eigenen Sohnes widerspricht zeitgeno¨ssischen Vorstellungen. Wenn Stifter mit der Figur der Brigitta die Rollenbilder seiner Zeit u¨ber den Haufen wirft, so gelingt ihm dies auch durch A¨ußerlichkeiten:

1 Adalbert Stifter, Brigitta, in: ders., Brigitta und andere Erza¨hlungen, Zu¨rich 51995, 40f. 2 Vgl. Stifter, Brigitta, wie Anm. 1, 76. 3 Hierzu und den folgenden Zitaten vgl. Henrik Marczali, Ungarische Verfassungsgeschichte, Tu¨bingen 1910, 134–137. 4 Zur Rolle der Arbeit in der Novelle vgl. Barbara Osterkamp, Arbeit und Identita¨t. Studien zur Erza¨hlkunst des bu¨rgerlichen Realismus, Wu¨rzburg 1983, 130f.

BEITRÄGE

Jana Osterkamp

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Brigitta tra¨gt Ma¨nnerkleider, reitet wie ein Mann und wird als von klein auf ha¨sslich beschrieben. Wie Ehe, Familie und Geschlechterrollen rechtlich gerahmt, gesellschaftlich verstanden und privat gelebt wurden, unterschied sich zwischen Ungarn (verko¨rpert in der ¨ sterreich (die Lebenswelt der meisten Leserinnen und Hauptfigur der Brigitta) und O Leser) erheblich. Darin offenbaren sich die tiefen Gegensa¨tze innerhalb des habsburgischen Reiches. Dem Zielpublikum war ohne ausdru¨cklichen Hinweis klar, dass die in der Novelle gewa¨hlte Charakterisierung der Heldin nur im ungarischen Teil der Habsburgermonarchie mo¨glich war. Auch ohne Erwa¨hnung ihrer Religion war Brigitta aufgrund ihrer Scheidung fu¨r die Leserschaft als ungarische Protestantin identifizierbar. Adelige und besitzende Frauen waren zwar nicht nur im vorma¨rzlichen Ungarn, sondern auch in einigen o¨sterreichischen La¨ndern zum Landtag zugelassen; dieses Recht wurde allerdings kaum praktiziert.5 In den meisten o¨sterreichischen Erbla¨ndern konnten jedoch nur Katholiken in die Lokalparlamente gelangen. Der angesprochene Gegensatz zwischen den Geschlechterbildern in Ungarn und in den o¨sterreichischen La¨ndern spiegelt nur einen Teil der imperialen Vielfalt von Ehe und Familie wider. Im habsburgischen Imperium, das sich u¨ber große Teile Ost-, Mittel-, Su¨d- und Su¨dosteuropas erstreckte, gab es weder die eine Gesellschaft, den einen Staat noch die eine Rechtsordnung. Dieser rechtliche und gesellschaftliche Partikularismus und eine solche Vielfalt sind fu¨r Imperien typisch.6 Die gestufte Herrschaftsordnung und gesellschaftliche Vielfalt kennzeichneten das Habsburgerreich wa¨hrend des gesamten 19. Jahrhunderts. Sie wirkten sich auch auf das Ehe- und Familienrecht aus. Obwohl wie u¨berall in Europa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch in der Habsburgermonarchie bedeutende Anstrengungen unternommen wurden, um Familie, Ehe und Staatsbu¨rgerschaft auf „europa¨ische“, universalistische Begriffe zu bringen, blieb die zivilrechtliche Rahmung von Ehe und Familie in hohem Maße partikularistisch, konfessionell gebunden und von Geschlechterungleichheiten gepra¨gt (Teil 1). Diese imperiale Vielfalt von Ehe, Familie und Gesellschaft wiederum wirkte auf die Staatsbildung im Empire des 19. Jahrhunderts zuru¨ck.

5 Vgl. Birgitta Bader-Zaar, Rethinking Women’s Suffrage in the Nineteenth Century: Local Government and Entanglements of Property and Gender in the Austrian Half of the Habsburg Monarchy, Sweden, and the United Kingdom, in: Kelly L. Grotke u. Markus J. Prutsch (Hg.), Constitutionalism, Legitimacy, and Power. Nineteenth-Century Experiences, Oxford/New York 2014, 107–126, 108. 6 Zur neueren Imperiengeschichte vgl. Karen Barkey u. Mark von Hagen, After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder 1997; Dominic Lieven, The Russian Empire and its Rivals, New Haven 2000; Jo¨rn Leonhard u. Ulrike von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Go¨ttingen 2012; Jane Burbank u. Frederick Cooper (Hg.), Empires in world history. Power and the politics of difference, Princeton 2010; Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mu¨nchen 2010.

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Das habsburgische Imperium und seine Teilstaaten entwickelten im spa¨ten 19. Jahrhundert unterschiedliche Strategien, mit dieser konfessionell gepra¨gten Vielfalt von Ehe und Familie umzugehen (Teil 2). Die enge Welt des vorma¨rzlichen Biedermeier von Stifter erscheint vor diesem Hintergrund in einem politischen Licht. Um ein Motto der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts – „Das Private ist politisch“7 – aufzugreifen, wird im Folgenden das Familienrecht eines Imperiums aus den komplementa¨ren Perspektiven von Privatrecht und Staatsdenken beleuchtet. Damit soll zugleich einer vielfach beklagten „Unsichtbarkeit des Staates“8 in der feministischen Theorie und Geschichte entgegengewirkt werden. Die nach 1867 in Ungarn in Angriff genommene Kodifizierung des Familienrechts symbolisierte beispielsweise das ungarische Projekt eines sa¨kularen Nationalstaates. Im o¨sterreichischen Reichsteil hingegen, der wie das Habsburgerreich insgesamt nicht zum Nationalstaat wurde,9 symbolisierte das Ehe- und Familienrecht den staatstragenden politischen Katholizismus und war – an den Peripherien – Ausdruck einer Zivilisierungsmission. Die imperien- und geschlechtergeschichtliche Perspektive auf Ehe und Familie zeigt so vielfa¨ltig kodierte Ra¨ume, in denen sich Geschlechterrollen, zwischenmenschliche Beziehungen und Vorstellungen vom „Staat“ unterschiedlich auspra¨gten.

1.

Familie als geschichtlich diverser Begriff

1.1

Die Familie als staatsphilosophischer Begriff

Bereits der erste Versuch im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, das heterogene Ehe- und Familienrecht sta¨rker zu vereinheitlichen, war Teil einer aufgekla¨rten Staatsidee. Die Habsburgermonarchie mit ihren heterogenen Rechts- und Herrschaftsra¨umen sollte in ihrer Gesamtheit in einen einheitlichen, nach gleichen Grundsa¨tzen regierten Staat u¨berfu¨hrt werden. Dass dabei auch der Familie eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde, ging auf den Bedeutungswandel von Familie in Gesellschaft und Staat zuru¨ck. Im Verha¨ltnis von Familie und Staat verfestigte sich unter dem Einfluss der Romantik und des philosophischen Idealismus einerseits die

7 Vgl. Ute Gerhard, Die neue Geschlechter(un)ordnung. Eine feministische Perspektive auf die Familie, in: Feministische Studien, 28, 2 (2010), 194–213, 208. 8 Ursula Vogel, The state and the making of gender. Some historical legacies, in: Vicky Randall u. Georgina Waylen (Hg.), Gender, Politics and the State, London 1998, 29–44, 31; a¨hnlich die Einscha¨tzung von Claudia Kraft, Geschlecht als Kategorie zur Erforschung der Geschichte des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa. Zur Einfu¨hrung, in: dies. (Hg.), Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern, Mu¨nchen 2008, 1–21, 6. 9 Vgl. Peter Becker, Der Staat – eine o¨sterreichische Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts fu¨r ¨ sterreichische Geschichtsforschung, 126, 2 (2018), 317–340, 340. O

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Vorstellung einer von staatlicher Kontrolle und Rechtssetzung freien Spha¨re.10 Andererseits wurde das Wort „Familie“ seit der Goethezeit regelma¨ßig auf die Trias „Staat, Vaterland, Gesellschaft“ bezogen.11 Wegweisend war das staatsphilosophische Lehrgeba¨ude des deutschen Idealismus. Gottfried Hegel begru¨ndete in seiner Rechtsphilosophie die Na¨he zwischen Familie und Staat mit dem Argument, das beide durch eine sittliche Idee charakterisiert seien. Seine Kontrastierung mit der bu¨rgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, in der das Spiel der eigennu¨tzigen Interessen vorherrsche, weist Familie und Staat bei ihm als eine Spha¨re aus, in der das Individuum – in der Familie motiviert durch die Liebe, im Staat motiviert durch den Patriotismus – die Bereitschaft zu Altruismus und Gemeinsinn erlerne.12 Die staatsphilosophische Idee von der Familie als Keimzelle von Staat und Gesellschaft inspirierte die aufgekla¨rten Reformbestrebungen im o¨sterreichischen Kaisertum.

1.2

Familienrecht und „Gesamtstaatsidee“ um 1800

Die Normierung der Familie durch Gesetze und Rechtsbegriffe, die die religio¨sen Vorschriften und Begriffe erga¨nzten, begann in Europa in der Regel um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die habsburgischen Herrscher setzten bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert viel daran, die bu¨rgerlichen Rechtsverha¨ltnisse zwischen den Einwohnern auf gleiche Grundlagen zu stellen, die bis dahin durch unterschiedliche Standes- und Landesrechte sowie religio¨se Vorschriften zersplittert waren. Fu¨r die deutschsprachigen Provinzen hatte Joseph II. einen ersten Rahmen geschaffen, der das Ehe- und Erbrecht der verschiedenen Konfessionen unter Privilegierung des Katholizismus tolerierte und gemeinsamen Mindeststandards unterwarf.13 Er erließ am 16. Januar 1783 und am 3. Mai 1786 zwei Ehepatente, am 11. Mai 1786 das Erbfolgepatent und am 1. Januar 1787 das Josephinische Gesetzbuch ( JGB) und knu¨pfte so an die Kodifikationsarbeiten seiner Mutter Maria Theresia an. Das Allgemeine Bu¨rgerliche Gesetzbuch (ABGB) von 1811 unter Kaiser Franz I. u¨berfu¨hrte Alltagsbegriffe wie Ehe, Scheidung, Trennung, Erziehung etc. noch einmal systematischer in staatliche Rechtsbegriffe. Es war weitgehend dem kanonischen Recht nachgebildet.14 10 Vgl. Dieter Schwab, Familie, in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2., Stuttgart 1975, 253–301. 11 Lemma Familie, in: Goethewo¨rterbuch, Bd. 3. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften in Go¨ttingen u. Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stuttgart 1998, Sp. 549. 12 Vgl. Shlomo Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt a. M. 1976, 168–171. ¨ sterreichs, 1 13 Vgl. Stefan Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, in: Beitra¨ge zur Rechtsgeschichte O (2012), 13–26, 14. 14 Vgl. Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, wie Anm. 13, 17.

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Mit der Normierung von Ehe und Familie ging die Normierung von Staatszugeho¨rigkeit einher. Diese Entwicklung setzte ebenfalls bereits unter Joseph II. ein. Er brachte in den 1780er-Jahren eine Rechtsreform auf den Weg,15 die „die Gleichheit Aller vor dem Rechte“ und zwar „nicht nur im Sinne der gleichma¨ßigen und unbedingten Giltigkeit der Gesetze fu¨r alle Provinzen, sondern auch fu¨r alle Sta¨nde des Reiches“ etablieren sollte.16 Die Bewohner des Reiches sollten in ihrer individuellen Wu¨rde anerkannt werden. Unterschiede des Herkommens, der Religion, des Standes und auch des Geschlechts sollten nach dem Prinzip der allgemeinen Gesetzesgleichheit keine Rolle spielen. In der landeskundlichen Enzyklopa¨die „Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ – dem sogenannten Kronprinzenwerk, das vom liberal gesinnten Erzherzog Rudolf in den 1880er-Jahren angeregt worden war – heißt es dazu spa¨ter, Joseph II. habe „manche Principien der Perso¨nlichkeit“ zur Geltung gebracht, die „selbst in Frankreich erst spa¨ter, im Beginne der franzo¨sischen Revolution, in dem Elaborate u¨ber die allgemeinen Menschenrechte zu legislatorischer Formulirung gelangt sind“.17 Die Rechtsgleichheitspolitik des Josephinischen Gesetzbuchs vom 1. Januar 1787 wurde durch das ABGB, das am 1. Januar 1812 in den deutschen Erbla¨ndern der Monarchie in Kraft trat, fortgefu¨hrt und fortgeschrieben. Pieter Judson schreibt dazu in seiner Habsburg-Geschichte, „1811 war es dem Reich gelungen, den unterschiedlichen rechtlichen Status seiner Untertanen zu beseitigen, indem es ihnen allen den legalen Status von Staatsbu¨rgern verlieh. Damit verband sich das Versprechen einer Gleichberechtigung, welche alle traditionellen, durch Klassenzugeho¨rigkeit oder Bildung gegebenen hierarchischen Unterschiede einebnete.“18 Zwischen den Geschlechtern etablierte das ABGB in seinen einfu¨hrenden, allgemeinen Bestimmungen u¨ber die „Personenrechte“ ebenfalls eine Rechtsgleichheit, keine Hierarchie.19 Dieser staatsbu¨rgerlichen Rechtsgleichheit stand jedoch eine patriarchalische Hierarchie von Ehemann und Ehefrau gegenu¨ber, die durch dasselbe ABGB festgeschrieben wurde. Frauen waren als Staatsbu¨rgerinnen den Ma¨nnern 15 Vgl. Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, wie Anm. 13, 14. 16 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Unter Mitwirkung des Kronprinzen ¨ bersichtsband, 1. Abteilung: Geschichtlicher Teil, Erzherzog Rudolf. 24 Bde., 1885–1902, Bd. 3: U Wien 1888, 187. 17 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, 187. Die Enzyklopa¨die beschreibt – nach Kronla¨ndern geordnet – die verschiedenen La¨nder, Vo¨lker, Landschaften und Regionen der Habsburgermonarchie. Die Beitra¨ge wurden von u¨ber 400 Mitarbeitern verfasst, auch von Kronprinz Rudolf (1858–1889) selbst. Auf Deutsch erschienen 24 Ba¨nde, in ungarischer Sprache 21 Ba¨nde. 18 Pieter Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, Mu¨nchen 2017, 140. 19 Vgl. Ute Gerhard, Die Frau als Rechtsperson – oder: Wie verschieden sind die Geschlechter? Einblicke in die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fu¨r Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 130, 1 (2013), 281–304, 286; Barbara Do¨lemeyer, Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Fru¨hen Neuzeit bis zur Gegenwart, Mu¨nchen 1999, 633–658, 636.

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gleichgestellt, besitz- und rechtsfa¨hig. Sie verloren diese Gleichheitsrechte allerdings mit der Eheschließung.20 Aus der seit dem 18. Jahrhundert virulenten „Gesamtstaatsidee“ sollte letztlich kein Gesamtstaat hervorgehen. Das habsburgische Reich blieb ein Imperium mit einer gestuften Herrschaftsordnung, ungleichzeitigen Staatsentwicklung und vielfa¨ltigen Rechtsra¨umen. Das ABGB galt nur in den o¨sterreichischen La¨ndern. Der Versuch wa¨hrend des neoabsolutistischen state building, die Geltung auf die ungarischen La¨nder auszudehnen, stieß nicht zuletzt wegen der familienrechtlich beschra¨nkenden Implikationen (insbesondere fu¨r den protestantisch gepra¨gten Landadel) auf Gegenwehr und blieb Episode (1852–1861).21

1.3

Der ambivalente Status von Familie und Frauen zwischen Staatsrecht, Geschichte und Zivilrecht

Die Geschlechterhierarchie des Zivilrechts im 19. Jahrhundert gab nicht nur dem Begriff der Familie, sondern auch der Stellung der Geschlechter in Gesellschaft und Staat eine paternalistische Wendung. Das Familienstaatsrecht, das heißt die universalistisch-staatsphilosophische Idee von der Familie als dem kleinsten Baustein der bu¨rgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates, die die Sa¨kularisierung des Familienrechts seit dem 18. Jahrhundert legitimierte und insofern geschlechterneutral war, wurde mit Blick auf die Geschlechter durch das Familienzivilrecht modifiziert. Wa¨hrend der Code civil ein einheitliches Ideal der „bu¨rgerlichen Familie“ fu¨r Frankreich normierte, war die Rechtslage in einem Imperium wie der Habsburgermonarchie komplexer und die Normierungen von Ehe, Familie und Geschlechterrollen vielschichtiger. Blendet man zuna¨chst den allgemeinen europa¨ischen Begriff der Familie aus der Staatsphilosophie und den Zivilrechtskodifikationen u¨bereinander, kamen Ma¨nnern und Frauen unterschiedliche rechtliche Rollen und Handlungsmo¨glichkeiten in Familie, Gesellschaft und Staat zu. Ma¨nnerpflicht war es, sich in der Gesellschaft wirtschaftlich und gegebenenfalls politisch zu beta¨tigen, den eigenen Staat notfalls mit milita¨rischer Gewalt zu verteidigen und in der Familie Frauen und Kinder zu schu¨tzen, aber auch zu disziplinieren. Frauenpflicht war die Geburt und Erziehung der Kinder sowie die Pflege der Alten.22 In der Gesellschaft wurde von wohlhabenden Frauen ein 20 Vgl. mit Schwerpunkt auf Frankreich Vogel, The state and the making of gender, wie Anm. 8. 21 Vgl. Anna Loutfi, Legal Ambiguity and the „European Norm“. Women’s Independence and Hungarian Family Law 1880–1913, in: Edith Saurer, Margareth Lanzinger u. Elisabeth Frysak (Hg.), Women’s Movements. Networks and Debates in Post-communist Countries in the 19th and 20th Centuries, Ko¨ln/Weimar/Wien 2006, 507–522, 510. 22 Vgl. Carole Paterman, Gleichheit, Differenz, Unterordnung. Die Mutterschaftspolitik und die Frauen in ihrer Rolle als Staatsbu¨rgerinnen, in: Feministische Studien, 10, 1 (1992), 54–69, 62f.

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karitatives Engagement erwartet, das sich in zahlreichen Wohlfahrtsorganisationen niederschlug. Eine Beta¨tigung von Frauen in politischen Vereinen war in der Habsburgermonarchie untersagt.23 Die in den verschiedenen, neu entstehenden Kodifikationen zivilrechtlich fixierte Ungleichheit der Geschlechter in der Familie wurde historisch begru¨ndet. Die einzelnen Vorschriften des Familienrechts wurden entweder aus den Jahrhunderte zuvor erlassenen, als hochsystematisch und kanonisch geltenden Vorschriften des Ro¨mischen Rechts wie dem Corpus Iuris Canonici hergeleitet, die die personalen Beziehungen innerhalb der Familie zwischen den Eheleuten sowie zwischen Eltern und Kindern regelten; andere scho¨pften aus einem nationalen, sei es „germanischen“ oder auch „ungarischen“ Recht.24 In jedem Fall konstruierten Juristen u¨berall in Europa die Familie als paternalistische Gemeinschaft.25 Im Ru¨ckgriff auf die ro¨misch-rechtliche Tradition spielte das manus-Prinzip (die Gewalt des Mannes u¨ber seine Ehefrau und Kinder) die gro¨ßere Rolle, in der germanischen Tradition war es die Munt beziehungsweise Muntgewalt (Pflicht des Ehemannes in der Familie zu Schutz und Haftung nach außen, Recht zur Herrschaft nach innen).26 In einer geschlechterhistorischen Perspektive gab der Begriff der Familie, durch das zweifache Brennglas von Staats- und Privatrecht betrachtet, einer doppelten Herrschaftsbeziehung Ausdruck. Das Familienzivilrecht konstruierte die Familie als staatsfreie, nicht aber als eine herrschaftsfreie Spha¨re. Den Staat als genuine Herrschaftsinstanz, einschließlich des Rechts zur Zwangsausu¨bung, vertrat innerhalb der Familie der Ehemann, Vater oder Vormund.27 Es war auch der Ehemann, der am Staatsleben politisch partizipierte und im seltenen Fall des Wahlrechts auf Gemeindeebene fu¨r begu¨terte Frauen deren Stimmrecht praktisch ausu¨bte.28 Diese prinzipielle ¨ sterreich 1848–1938, Innsbruck u. a. 2009; zum 23 Vgl. Gabriella Hauch, Frauen bewegen Politik. O transnationalen Aspekt Katja Naumann, Gleichstellung der Geschlechter. Ostmitteleuropa¨ische Frauenrechtlerinnen und die Internationale Frauenbewegung, in: Frank Hadler u. Matthias Middell (Hg.), Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Bd. 1: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Go¨ttingen 2017, 379–392; Gerhard, Die neue Geschlechter(un)ordnung, wie Anm. 7, 195; dies., Die Frau als Rechtsperson, wie Anm. 19, 291. 24 Vgl. Christoph H. F. Meyer, Taufe und Person im ersten Jahrtausend. Beobachtungen zu den christlichen Wurzeln einer Grundkategorie europa¨ischen Rechtsdenkens, in: Rechtsgeschichte, 21 (2013), 89–117. 25 Vgl. Gerhard, Die Frau als Rechtsperson, wie Anm. 19, 288–290; Vogel, The state and the making ¨ berblick von der of gender, wie Anm. 8; Ernst Holtho¨fer, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein U Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, wie Anm. 19, 390–451. 26 Vgl. Werner Ogris u. Thomas Olechowski, Lemma Munt, Muntgewalt, in: Handwo¨rterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 1683–1689. 27 Vgl. Vogel, The state and the making of gender, wie Anm. 8, 30. 28 Vgl. Birgitta Bader-Zaar, Die „grande affaire“. Wahlrechtsreformen in Europa und Nordamerika im „langen“ 19. Jahrhundert, in: Thomas Simon (Hg.), Hundert Jahre allgemeines und gleiches ¨ sterreich. Modernes Wahlrecht unter den Bedingungen eines Vielvo¨lkerstaates, Wahlrecht in O Frankfurt a. M. 2010, 13–35, 23f.

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Verschra¨nkung von Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Familie (durch das Zivilrecht) und im Verha¨ltnis von Familie, Gesellschaft und Staat (durch das Staatsdenken) war fu¨r die europa¨ischen Gemeinwesen jener Zeit typisch.29 Die Figur der Brigitta als faszinierende Ausnahmeerscheinung hebt sich vor diesem Hintergrund sehr deutlich ab. Das generelle Spannungsverha¨ltnis zwischen einer staatsbu¨rgerlichen Gleichheit und einer familienrechtlichen Ungleichheit der Geschlechter war in der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts wie u¨berall in Europa strukturell angelegt. Die familienrechtliche Vielfalt30 innerhalb einer imperialen Ordnung macht aber daru¨ber hinaus den ungleichzeitigen Wandel des Verha¨ltnisses von Familie, Gesellschaft und Staat(en) deutlich.

2.

Die Vielfalt der Familie als Herausforderung des Imperiums, des Staates und der Nation

2.1

Folklorisierung familienrechtlicher Vielfalt und imperiale „Staatsidee“ im sogenannten Kronprinzenwerk

Nach der dualistischen Zweiteilung der Habsburgermonarchie 1867 war der Gedanke einer reichseinheitlichen Regelung von Ehe und Familie aufgegeben worden. Im Ge¨ sterreichgensatz zur „Gesamtstaatsidee“ um 1800 wurde die politische Einheit O Ungarns nach 1867 weniger rechtlich (die Einheit bestand im Wesentlichen in einer Außen-, Verteidigungs-, Finanz- und Wirtschaftsgemeinschaft), sondern sta¨rker symbolpolitisch verstanden. Die Legitimierung der Habsburgermonarchie fand von oben statt und beruhte auf der u¨bernationalen Idee eines dynastischen Staatspatriotismus.31 Diese imperiale „Staatsidee“ fand Ausdruck im sogenannten Kronprinzenwerk. Nach dem Willen seines prominenten Schirmherrn Kronprinz Rudolf sollte das ethnogra29 Vgl. Anna Loutfi, The Family as a Site of Cultural Autonomy and Freedom. Anxieties in Legal Debates over State Regulation of Marriage in Hungary 1867–1895, in: Women’s History Review, 20, 4 (2011), 599–613, 602. 30 Zu Ungarn vgl. Isidor Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in ¨ sterreich vgl. Robert Neumann-Ettenreich, Ungarn, in: Ungarische Revue, 15 (1895), 54–72. Zu O Das o¨sterreichische Eherecht, Wien 1913. Vgl. auch Bosnisch-herzegowinische Landesregierung (Hg.), Eherecht, Familienrecht und Erbrecht der Mohamedaner nach dem hanefitischen Ritus, Wien 1883; Hirsch B. Fassel, Das mosaisch-rabbinische Civilrecht, Wien 1852; Ignaz Grassl, Das o¨sterreichische Eherecht der Juden, Wien 1848. Zum „internationalen Privatrecht“ zwischen ¨ sterreich und Ungarn vgl. Jeno¨ Sebestyen, Internationale Beziehungen des ungarischen EheO ¨ sterreich, Budapest 1913. rechtes. Mit besonderer Ru¨cksicht auf O 31 Vgl. Robert Kann, The Dynasty and the Imperial Idea, in: Austrian History Yearbook, 1 (1967), 11–31, 29; Peter Urbanitsch, Pluralist Myth and Nationalist Realities: The Dynastic Myth of the Habsburg Monarchy – a Futile Exercise in the Creation of Identity?, in: Austrian History Yearbook, 35 (2004), 101–141.

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fische Lexikon „Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ zu einem Denkmal der Solidarita¨t der Vo¨lker werden: Diese seien „aufgefordert, ihren geistigen ¨ sterreich-Ungarn zu suchen“.32 Schwerpunkt in O Imperiale Vo¨lkervielfalt und Zivilisierungsmission dienten hier als Legitimationsgrundlage des Empire. Das Imperium musste daher auch Strategien entwickeln, mit der Vielfalt der familienrechtlichen Regelungen und Gebra¨uche umzugehen. Eine Strategie war die Folklorisierung, Exotisierung und Hierarchisierung. Die Unterschiede im Empire werden im Kronprinzenwerk aus einem imperialen Blickwinkel beschrieben, der nicht nur die Zentrums- und Peripheriebeziehungen verdeutlicht, sondern auch die dabei bestehenden Hierarchien als zivilisatorische Rangunterschiede rechtfertigte. Je entfernter die Provinzen von der imperialen Metropole Wien lagen, desto sta¨rker wurden die regionalen und lokalen Eigenheiten als fremd dargestellt. Im Zentrum hingegen lag das „Eigene“. Die Ba¨nde zu den innero¨sterreichischen und bo¨hmischen La¨ndern enthalten daher eher du¨rftige Angaben zum Ehe- und Familienrecht. Fu¨r Niedero¨sterreich mit Wien als „Mutterland“ des Empire wird das katholische Familienmodell als Idealtypus und Normalfall beschworen: „In religio¨ser Beziehung ha¨lt unser Landvolk treu am Va¨terglauben […]. Die Religion ist ihm auch die Stu¨tze des Familienlebens, ihr Einfluss festigt das Eheband und leitet die Eltern bei der Erfu¨llung ihrer Pflichten in der Kindererziehung“.33 ¨ sterBei der Beschreibung der imperialen Ra¨nder im Nordosten und Su¨dosten O reich-Ungarns entfaltet das Kronprinzenwerk ein anderes Bild. Das Familienrecht repra¨sentierte hier eine vom Zentrum ausstrahlende, imperiale Zivilisierungsmission. Einheimischen Traditionen wurde etwas Fremdes und Zuru¨ckgebliebenes angeheftet. Im Band zum als ru¨cksta¨ndig geltenden Dalmatien34 wird die rhetorische Frage, ob „die o¨sterreichische Regierung, die in Dalmatien in deutschem Gewand auftritt, in drei Vierteljahrhunderten ihren Einfluss auf das nationale Leben irgendwie bekundet hat“,35 dahingehend beantwortet, dass sich unter dem Einfluss des ABGB das Familienund gesellschaftliche Leben gewandelt habe.36 In eine symbolpolitisch a¨hnliche Richtung weisen die Ausfu¨hrungen zu den galizischen Juden. Ebenfalls im Duktus einer „Zivilisierung“ heißt es im Kronprinzenwerk, die Regierung unter Joseph II. habe „eine modernere Art der Volksbildung“ mit einer Verordnung zu erreichen versucht, indem sie nur ju¨dischen Paaren die Heirat gestattete, die vor dem Kreisamt einen 32 Brigitte Hamann, Kronprinz Rudolf. Ein Leben, Wien 2005, 234–239. 33 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, Bd. 4: Wien und Niedero¨sterreich; 2. Abtg.: Niedero¨sterreich, Wien 1888, 183. 34 Vgl. Konrad Clewing, Der begrenzte Wert strategischen Wertes. Dalmatien als habsburgische Randprovinz, in: Hans-Christian Maner (Hg.), Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Mu¨nster 2005, 217–234. 35 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, Bd. 11: Dalmatien, Wien 1892, 183. 36 Vgl. Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 35, 183.

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Volksschulabschluss oder ein gleichwertiges Wissen nachweisen konnten; diese „weise Maßregel“ habe jedoch nicht gefruchtet.37 Hinter solchen Verordnungen stand das Bemu¨hen, die Zahl ju¨discher Eheschließungen in Galizien zu reduzieren. Noch Ende des 19. Jahrhunderts galten in ausgewa¨hlten galizischen Kleinsta¨dten trotz der in den Staatsgrundgesetzen von 1867 garantierten Religionsgleichheit Ansiedlungsverbote fu¨r Juden, etwa im polnischen Zywiec (Saybusch), wie das Kronprinzenwerk an anderer Stelle vermerkte.38 ¨ sterreich-Ungarns in den Su¨dosten, so Wechselt man vom galizischen Nordosten O zeigt die Darstellung des Familienrechts der bosnischen Muslime im Kronprinzenwerk, dass eine nicht-katholische, nicht-christliche und zudem in Wien als ru¨cksta¨ndig geltende Bevo¨lkerungsgruppe in ihren Familiengebra¨uchen auch affirmativ beschrieben werden konnte. Im politischen Herrschaftssystem des habsburgischen Reiches nahm das 1878 besetzte Bosnien-Herzegowina den Status einer Kolonie ein.39 Das Ehe- und Familienrecht regelten die drei im Land parita¨tisch vorhandenen Religionsgruppen der Orthodoxen, Katholiken und Muslime.40 Das imperiale Zentrum in Wien sorgte nach 1878 dafu¨r, den konfessionellen Vorschriften des Islam Rechtscharakter zu geben und die muslimischen Organisationsstrukturen zu „verkirchlichen“.41 Die damit einhergehende sta¨rkere Regulierung des muslimischen Familienrechts, etwa durch das Verbot der Vielehe, zeigte durchaus Wirkung, auch deshalb, weil islamische Rechtsgelehrte die Ehe als grundsa¨tzlich weltlichen Vertrag ansahen.42 Das Kronprinzenwerk lobt daher die Errichtung einer „Scheriats-Richterschule“, das heißt einer „Hochschule mit Seminar fu¨r das mohammedanische Familienrecht“,43 ebenfalls als Teil eines imperialen zivilisatorischen Programms. Die Exotisierung der muslimischen Bevo¨lkerungsgruppe wird wenig spa¨ter deutlich, wenn es heißt, die Regierung habe in der Architektur bewusst auf die „Erhaltung und Wiederbelebung des arabischen Stils“ geachtet.44 Wenn ¨ sterreich-Ungarn es um die symbolpolitische Rechtfertigung einer „Staatsidee“ fu¨r O 37 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, Bd. 19: Galizien, Wien 1898, 477. 38 Vgl. Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 37, 82. ¨ sterreich-Ungarns, 39 Vgl. Ferdinand Schmid, Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung O Leipzig 1914, 1. 40 Nach der Volksza¨hlung von 1879 waren in der Bevo¨lkerung Bosnien-Herzegowinas 38 % muslimisch, 43 % christlich-orthodox und 18 % katholisch. Vgl. auch Heiner Grunert, Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herzegowina 1878–1918, Go¨ttingen 2016, 153f., 545. ¨ sterreich zu Beginn des 41 Richard Potz, Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in O 20. Jahrhunderts, in: Thomas Olechowski, Christian Neschwara u. Alina Lengauer (Hg.), Grundlagen der o¨sterreichischen Rechtskultur. Festschrift fu¨r Werner Ogris zum 75. Geburtstag, Wien 2010, 385–408. 42 Grunert, Glauben im Hinterland, wie Anm. 40, 154. 43 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, Bd. 22: Bosnien und Herzegowina, Wien 1901, 433. 44 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 43, 432, Abb. auf S. 431.

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ging, wurde in offizio¨sen Darstellungen wie dem Kronprinzenwerk die bunte Mischung unterschiedlicher Familienrechte also weniger als Herausforderung, sondern als exotisches Kolorit des Empire dargestellt.

2.2

Sonderfall Ungarn: Die konfessionelle Vielfalt als Herausforderung

Mit Blick auf Ungarn griffen solche imperiale Strategien nicht. Wa¨hrend die Lebenswelten der galizischen Juden und Ju¨dinnen, bosnischen MuslimInnen oder der slawischen BewohnerInnen der dalmatischen Provinz im Kronprinzenwerk als randsta¨ndig dargestellt werden konnten, war Ungarn nach dem o¨sterreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 keine Peripherie, sondern ein imperiales Kernland. Nach dem ersten Konstitutionalisierungsschub der Habsburgermonarchie 1861 und nach der ¨ sterreich und Ungarn 1867 verlief die Entwicklung Schaffung der zwei Reichsteile O diesseits und jenseits der Leitha in parallelen Bahnen. Dies betraf einerseits die zivilrechtliche Normierung des Familienrechts und andererseits die staatsrechtliche Rolle der Familie als Baustein von Gesellschaft, Nation und Staat. Wa¨hrend der Wiener Hof eine Rechtfertigung des Empire auf der Grundlage einer katholischen Dynastie und eines u¨bernationalen Patriotismus versuchte, entwickelte sich Ungarn innerhalb des Imperiums in vielen politischen Bereichen in Richtung Nationalstaat. Fu¨r Ungarn hatte sich der rechtsvereinheitlichende Anspruch des Imperiums nie umsetzen lassen.45 Die Rechtssysteme der o¨sterreichischen und ungarischen La¨nder unterschieden sich erheblich – dort herrschte kodifiziertes Gesetzesrecht durch das ABGB, hier ein fu¨r die richterliche Auslegung offenes Gewohnheitsrecht. Dieses gewohnheitsrechtliche, „alte ungarische Recht“ wurde seit den 1860ern von ungarischen Juristen, die von der deutschen Historischen Rechtsschule beeinflusst waren, systematisch aufgearbeitet. Pla¨ne fu¨r eine Kodifizierung bestanden seit dem Vorma¨rz, wurden allerdings nicht umgesetzt. Anfang der 1880er-Jahre wurde eine Sammlung alter ungarischer Rechtstexte herausgegeben. Die Weiterentwicklung des ungarischen Privatrechts wurde damit der richterlichen Auslegung u¨berantwortet. 1894 erging lediglich fu¨r einen privatrechtlichen Teilbereich ein Gesetzbuch: das sa¨kulare Eherecht Ungarns mit der Einfu¨hrung der Zivilehe. Das Kronprinzenwerk stellte die Abweichungen vom o¨sterreichischen Rechtssystem nun nicht als Eigenart der imperialen Peripherien dar, sondern als einen Teil der gemeinsamen imperialen Ordnung. Die Unterschiede Ungarns wurden mit Blick auf die Geschlechterverha¨ltnisse lobend herausgestellt. Zur familienrechtlichen Stellung ¨ brigens wird die Frau hochgeachtet. der Ehefrau hielt das Kronprinzenwerk fest: „U Man qua¨lt sie nicht mit Eifersucht, man vertraut ihr Wirtschaft, Hauswesen, Ku¨che, Kindererziehung, Dienstbotenzucht an; erwirbt man, so gilt die Frau als miterwer45 Dazu und zu diesem Absatz vgl. Loutfi, Legal Ambiguity, wie Anm. 21, 510.

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bender Teil“.46 Hier wird ein ethnografisches Bild gezeichnet, das bereits im Vorma¨rz eine literarische Figur wie Stifters Brigitta historisch plausibel gemacht hatte. Das Kronprinzenwerk nennt als Rechte der Frau in der Familie solche, fu¨r die die o¨sterreichischen Frauen zur gleichen Zeit ka¨mpften: das Recht zur Erziehung der Kinder, zur Mitbestimmung bei der Haushalts- und Wirtschaftsfu¨hrung und nicht zuletzt die im Fall von Tod und Scheidung ho¨chst relevante Rechtsvermutung, dass das wa¨hrend ¨ sterreich allein der Ehe erworbene Vermo¨gen beiden Ehegatten – und nicht wie in O dem Ehemann – geho¨re. Als Besonderheit Ungarns erwa¨hnt das Kronprinzenwerk außerdem die politischen Rechte der Frau: Adelige Frauen – so wie Brigitta – besaßen nach der sta¨ndischen Verfassungstradition das Stimmrecht im Landtag.47 Mit gewissem Amu¨sement hebt das Kronprinzenwerk einige erbrechtliche Besonderheiten der ungarischsprachigen Sze´kler Siebenbu¨rgens hervor. Nach einem – auch auf dem Balkan48 u¨blichen – Brauch konnten diese To¨chter fu¨r „ma¨nnlich erkla¨ren lassen, wenn die Eltern keinen Sohn hatten, und ein solches Ma¨dchen nannte man ,fiulea´ny‘ (Sohntochter).“49 An dieser Textstelle zu Siebenbu¨rgen klingt noch einmal die fu¨r das Kronprinzenwerk sonst typische folkloristische Verfremdung an. Tatsa¨chlich war die Rechtsvielfalt von Ehe und Familie in Ungarn so groß wie die konfessionelle Vielfalt dieses Reichsteils. Bis 1894 galt kein vereinheitlichendes staatliches Eherecht, auch nicht als Rahmengesetz, sondern stattdessen gab es insgesamt acht konfessionelle Eherechte: das kanonische Recht, zwei verschiedene griechisch-orientalische Rechte, drei unterschiedliche Rechte fu¨r ungarische, siebenbu¨rgisch-helvetische und siebenbu¨rgisch-augsburgische Protestanten, eines fu¨r die unitarische Kirche sowie verschiedene Vorschriften fu¨r die Juden Ungarns, Siebenbu¨rgens und Fiumes.50 Die konfessionelle Vielfalt stellte Gesetzgeber und Gerichte angesichts widerspru¨chlicher kirchenrechtlicher Vorgaben mitunter vor unlo¨sbare Probleme, selbst innerhalb einer Konfession: So galt eine Verlobung nach dem siebenbu¨rgischen protestantischhelvetischen Bekenntnis als verbindlich, wurde durch „vollzogenen Beischlaf“ zur vollgu¨ltigen Ehe und konnte zuvor nur durch einen Richter aufgehoben werden; fu¨r die anderen protestantischen Bekenntnisse verpflichtete eine Verlobung hingegen nicht zum Eheschluss.51 Gemischtkonfessionelle Ehen und Familien zwischen Katholiken und Protestanten ¨ sterin Ungarn waren in einem weit ho¨heren Ausmaß Teil des Alltagslebens als in O ¨ bersichtsband 46 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 16, Bd. 5: U Ungarn, Teilbd. 1, Wien 1888, 302. 47 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 46, 302. ¨ ber Grenzverla¨ufe zwischen den Geschlechtern, Frankfurt a. M. 2002, 48 Susanne Schro¨ter, FeMale. U 128–133. 49 Die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, wie Anm. 46, 303. 50 Vgl. Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in Ungarn, wie Anm. 30, 57. 51 Vgl. Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in Ungarn, wie Anm. 30, 58.

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reich. Der ungarische Reichsteil versuchte dabei nach 1868, Kollisionen der konfessionellen Ehe- und Familienrechte durch interkonfessionelle Gesetze zu entscha¨rfen. Diese Strategie hatte bereits Joseph II. durch sein Toleranzpatent verfolgt, das jedoch einen Vorrang katholischer Regeln festschrieb und daher in den ungarischen La¨ndern auf einen ungeahnten Widerstand stieß.52 Die verfassungsrechtliche Gleichheit der Religion durch das von Josef Eo¨tvo¨s auf den Weg gebrachte Religionsgesetz von 1868 sollte die Konflikte zwischen den konfessionellen Rechtsregeln mindern.53 Interkonfessionelle Normenkollisionen waren nun nicht mehr grundsa¨tzlich zugunsten des ¨ sterreich u¨blich war.54 kanonischen Rechts zu lo¨sen, so wie es in O Das liberale Religions- und damit auch das liberale Ehe- und Familienrecht Ungarns ¨ sterreich und fu¨hrte nach 1868 zum legenda¨ren „Scheidungstourismus“ zwischen O Ungarn: Scheidungswillige Paare erwarben die ungarische Staatsbu¨rgerschaft und nahmen eine nicht-katholische Religion an, um in Ungarn ihre Ehe scheiden zu lassen (und sich gegebenenfalls auf zivilem Weg wiederzuverheiraten).55 Der zeitgeno¨ssische ungarische Familienrechtsexperte Isidor Schwartz bemerkte dazu, „dass die Begu¨nsti¨ bertritte, welche mit der religio¨sen U ¨ berzeugung der u¨bertregung solcher frivoler U tenen Individuen nicht zu thun haben, der Wu¨rde eines Rechtsstaates abtra¨glich sind“.56 Mit der Einfu¨hrung der obligatorischen Zivilehe 1894 versuchte man in Ungarn, dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben.57 Doch der Scheidungstourismus ¨ sterreich nach Ungarn nahm nach 1894 noch zu und konnte auch nicht durch von O eine Verteuerung des Erwerbs der ungarischen Staatsbu¨rgerschaft eingeda¨mmt werden. Allerdings waren „frivole“ Konversionen fu¨r eine Eheauflo¨sung nun nicht mehr notwendig, weil jetzt auch Katholiken ihre Ehe auflo¨sen konnten.58 Die Sa¨kularisierung des Familienrechts in Ungarn stellte fu¨r die o¨sterreichische Reichsha¨lfte eine Herausforderung dar. Dort tat man sich bis zuletzt schwer damit, die nach den Regeln des ungarischen Privatrechts geschiedenen Ehen und Familien nach einheitlichen Maß-

52 Vgl. Joachim Bahlcke, Ungarischer Episkopat und o¨sterreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation 1686–1790, Stuttgart 2005, 331. 53 Vgl. Bahlcke, Ungarischer Episkopat, wie Anm. 52, 331. 54 Zum „Kulturkampf“ und den gemischtkonfessionellen Ehen vgl. Ulrike Harmat, Divorce and Remarriage in Austria-Hungary. The Second Marriage of Franz Conrad von Ho¨tzendorf, in: Austrian History Yearbook, 32 (2001), 69–103, 85. 55 Dazu und zum Folgenden grundlegend Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf ? Der Konflikt um das ¨ sterreich 1918–1938, Frankfurt a. M. 1999, 1–72. Eherecht in O 56 Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in Ungarn, wie Anm. 30, 56. 57 Vgl. Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in Ungarn, wie Anm. 30, 56. 58 Vgl. Margarete Grandner u. Ulrike Harmat, Begrenzt verliebt. Gesetzliche Ehehindernisse und die ¨ sterreich und Ungarn, in: Ingrid Bauer, Christa Ha¨mmerle u. Gabriella Hauch Grenze zwischen O (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien/Ko¨ln/ Weimar 2005, 287–304, 292.

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¨ sterreichs zu reintesta¨ben und Regeln in das familien- und eherechtliche System O grieren. Wa¨hrend das ungarische Eherecht von 1894 die Lage scheidungswilliger KatholikInnen grundsa¨tzlich erleichterte, bedeutete es fu¨r die ju¨dischen und protestantischen Mittelklassen Ungarns vielfach einen Ru¨ckschritt, weil eine Ehe nun nur nach dem kanonischen Schuldprinzip, nicht aber im gegenseitigen Einvernehmen wie bisher – und wie beispielsweise in Stifters Novelle „Brigitta“ – gelo¨st werden konnte.59 Im zivilrechtlichen Bereich kam es nach dem o¨sterreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 also zu einer Dreiteilung der Ehe- und Familienrechtssysteme. Im o¨sterreichischen Reichsteil galt das ABGB von 1811, das – unter dem Schutz konfessioneller Gleichheit durch die Staatsgrundgesetze von 1867 – einen katholisch-kanonisch gepra¨gten Rechtsrahmen fu¨r Familie, Ehe und Geschlechterrollen vorgab und in diesem Rahmen konfessionell begru¨ndete Abweichungen zuließ. In Ungarn und Siebenbu¨rgen war seit 1894 ein sa¨kulares Ehe- und Familienrecht in Kraft. In Kroatien-Slawonien nahm die Zivilrechtsentwicklung aufgrund des ungarisch-kroatischen Ausgleichs von 1868 einen eigensta¨ndigen Verlauf, hier orientierte sich das Zivilrecht an den Regelungen des o¨sterreichischen ABGB.60

2.3

Die „Familie“ als Teil des state building und nation building im Imperium und darüber hinaus

Die Familie wurde im Europa des 19. Jahrhunderts zum kleinsten Baustein des Politischen und spiegelte im Kleinen die Sa¨kularisierungs- oder Konfessionalisierungstendenzen und Geschlechterhierarchien der jeweiligen Gesellschaften und politischen Ordnungen wider. Idealistischen Denkern wie Hegel mochte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Homogenita¨t der Familien- und Geschlechterverha¨ltnisse in einem als einheitlich gedachten Staat vorgeschwebt haben. In einem Imperium wie der Habsburgermonarchie stand infrage, inwiefern sich Familienstrukturen angesichts der gestuften Herrschaft und konfessionellen Vielfalt u¨berhaupt einander angleichen ließen und fu¨r welchen „Staat“ und welche Gesellschaft die Familie eigentlich als Nukleus dienen sollte. In der Habsburgermonarchie waren Rechtsvereinheitlichungsversuche fu¨r die Familie und fu¨r den Staat nach 1800 und in den 1850er-Jahren gescheitert. Damit verlor auch die idealistische Idee einer fu¨r Familie, Gesellschaft und Staat – sowie das gesamte Empire – gleichermaßen gu¨ltigen ,Sittlichkeit‘ an Boden. Das katholische Familienmodell des ABGB in einer sich katholisch verstehenden Herrschaftsdynastie 59 Vgl. Loutfi, The Family as a Site, wie Anm. 29, 608. ˇ epulo, Entwicklung der Regierungsinstitutionen des Ko¨nigreiches Kroatien und 60 Vgl. Dalibor C Slawonien 1868–1918, in: Ga´bor Ma´the´ u. Barna Mezey (Hg.), Kroatisch-ungarische o¨ffentlichrechtliche Verha¨ltnisse zur Zeit der Doppelmonarchie, Budapest 2015, 31–103.

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wurde nicht zum „Normalfall“ fu¨r alle. Spa¨testens seit 1867 griffen stattdessen pluralistische Wertvorstellungen um sich, die sich auf die einzelnen Ebenen der gestuften Herrschaftsordnung bezogen. Wa¨hrend im o¨sterreichischen Reichsteil und in Kroatien-Slawonien die politische Kultur eines Staatskatholizismus dominierte und die ,Sittlichkeit‘ und Ethik von Ehe und Familie mit katholischen Vorstellungen verflochten wurden, verfolgte man in Ungarn einen sa¨kularen Weg. Im ungarischen Reichsteil stand die zivilrechtliche Sa¨kularisierung von Ehe und Familie programmatisch fu¨r eine „ungarische“ Staatsbildung.61 Der Familienrechtsexperte Isidor Schwartz sprach in seinem Fachartikel u¨ber das ungarische Ehegesetz von 1894 davon, dass die „Rechtsgleichheit sa¨mmtlicher Staatsbu¨rger ohne Unterschied der Confession“ erst durch ein sa¨kulares Eherecht geschaffen werden und nur so der „ethische Wert der Rechtsinstitution der Ehe“ in Ungarn Bestand haben ko¨nne.62 In Ungarn war die Bevo¨lkerung zwar mehrheitlich katholisch, aber die politische Kultur wurde zu einem bedeutenden Teil von liberalen Angeho¨rigen der protestantischen Adelselite bestimmt. Der Kampf um die staatliche Unabha¨ngigkeit Ungarns hatte unter konfessionellen Vorzeichen gestanden und der ungarische Protestantismus repra¨sentierte einen politischen Modus des Widerstands gegenu¨ber der katholischen Herrschaft Wiens.63 Um die Rolle der katholischen Religion im ungarischen Staat brach nach 1867 daher zuna¨chst ein ,Kulturkampf‘ aus.64 Gerade das Eherecht und beispielsweise die Frage der Kindererziehung in gemischtkonfessionellen Ehen wurden zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern zum zentralen Gegenstand im Streit um die ethischen – religio¨sen oder sa¨kularen – Werte des ungarischen Staates.65 Das multikonfessionelle Ungarn setzte schließlich auf ein Nationsversta¨ndnis, das sa¨kular grundiert war und damit die nicht-katholische Bevo¨lkerung integrieren sollte. Die Familie als kleinster Baustein des Politischen wurde im spa¨ten 19. Jahrhundert nicht nur von Vertretern der im Imperium einflussreichsten Bevo¨lkerungsgruppen wie der ungarischen Elite postuliert. Einfluss auf ein politisiertes Versta¨ndnis von Familie u¨bten zunehmend auch andere Nationalbewegungen aus. Die Familie nahmen sie als Ausgangspunkt fu¨r den Aufbau eines eigenen politischen Gemeinwesens innerhalb oder außerhalb des Imperiums.66 Nationalbewegungen gerade in der Habsburger61 Grundlegend dazu Loutfi, The Family as a Site, wie Anm. 29. 62 Schwartz, Die Nothwendigkeit des einheitlichen staatlichen Eherechtes in Ungarn, wie Anm. 30, 55, 72. 63 Loutfi, The Family as a Site, wie Anm. 29, 603. 64 Vgl. Moritz Csa´ky, Der Kulturkampf in Ungarn. Die kirchenpolitische Gesetzgebung der Jahre 1894/95, Graz/Wien/Ko¨ln 1967; Friedrich Gottas, Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-A¨ra 1875–1890, Wien 1976. 65 Loutfi, The Family as a Site, wie Anm. 29, 607. 66 Vgl. allgemein Richard J. Evans, The Feminists. Women’s Emancipation Movements in Europe, America and Australasia 1840–1920, London 1977; Waltraud Heindl-Langer (Hg.), Frauenbilder, ¨ sterreich-Ungarn 1867–1918, Tu¨bingen 2006. feministische Praxis und nationales Bewusstsein in O

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monarchie mobilisierten in einem hohen Maß Frauen und Ma¨nner als „Mu¨tter“ und als „Va¨ter“ der Nation, um fu¨r mehr politische Mitsprache und Einfluss im Imperium zu ka¨mpfen.67 Die Familie galt als Keimzelle der Nationalgesellschaft, in der die nationale Sprache, Geschichte und Kultur gepflegt werden sollte. Geschlechtergeschichtlich wurde den Frauen dabei die Rolle zugewiesen, gesunde Kinder zu geba¨ren und ihnen die Muttersprache und nationale Kultur zu vermitteln, um sie zu Repra¨sentanten ihrer Nation zu erziehen.68 Wenn tschechische Frauenrechtlerinnen in Zeitungsartikeln davon schrieben, dass „Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, die erste Pflicht jeder tschechischen Frau und ebenso ihr vorderstes Streben“ sei, war mit „Vaterland“ weder das habsburgische Imperium noch der o¨sterreichische Reichsteil, sondern Bo¨hmen als Heimat der tschechischen Nation gemeint.69 Der tschechische Nationalismus und die tschechische Frauenbewegung sta¨rkten sich lange Zeit gegenseitig.70 Die Verquickung von Nationalbewegung und Frauenbewegung setzte mit Blick auf die Konstruktion von Geschlechterrollen in den gemischtsprachigen La¨ndern der Habsburgermonarchie eine Entwicklung in Gang, die sich von den Entwicklungsverla¨ufen in Deutschland, aber auch in den deutsch-o¨sterreichischen Kronla¨ndern unterschied. Die enge Zusammenarbeit von National- und Frauenbewegungen, die in der Habsburgermonarchie fu¨r tschechische, polnische, ukrainische und ungarische Organisationen typisch war,71 fu¨hrte zu einer gesellschaftlich breiteren Verankerung von Frauen in ihrer Rolle als interessierte Staatsbu¨rgerinnen. Der „Staat“, auf den sie sich bezogen, konnte dabei auch ein zuku¨nftiger Nationalstaat sein. In der Forschung ist die Rolle der Nationalbewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Nationalstaatsgru¨ndungen nach 1918 fu¨r die Einfu¨hrung des Frauenwahlrechts inzwischen umfassend aufgearbeitet worden. Nach 1918 setzte sich das allgemeine Frauenwahlrecht in diesen Regionen mit der Gru¨ndung der Nationalstaaten deutlich schneller durch als in anderen europa¨ischen La¨ndern.72

67 Die Forschung zu diesem Themenfeld ist breit gefa¨chert, vgl. etwa Sophia Kemlein, Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918, Osnabru¨ck 2000; Naumann, Gleichstellung der Geschlechter, wie Anm. 23. 68 Zum tschechischen Fall vgl. Da´ˇsa Francˇ´ıkova´, Women as Essential Citizens in the Czech National Movement. The Making of the Modern Czech Community, Boulder u. a. 2017; vgl. zur Agenda vo¨lkischer Vereine z. B. Heidrun Zettelbauer, „Die Liebe sei Euer Heldentum“. Geschlecht und Nation in vo¨lkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt a. M. 2005. 69 Zit. nach: Judith Brehmer, „Die tschechischen Frauen mu¨ssen von den deutschen Frauen nichts lernen.“ Nationale Kooperation und imperiale Opposition der tschechischen Frauenbewegung in der spa¨ten Habsburgermonarchie, in: Jana Osterkamp (Hg.), Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der spa¨ten Habsburgermonarchie, Go¨ttingen 2018, 187–204, 191. 70 Eingehend Katherine David, Czech Feminists and Nationalism in the Late Habsburg Monarchy. „The First in Austria“, in: Journal of Women’s History, 3, 2 (1991) 26–45. 71 Vgl. Naumann, Gleichstellung der Geschlechter, wie Anm. 23. 72 Vgl. Hedwig Richter u. Kerstin Wolff (Hg.), Frauenwahlrecht: Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018.

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Mit dem Zerfall der Imperien 1918 und der Neugru¨ndung von kleineren demokratischen Verfassungsstaaten in der Mitte Europas wurde die Komplexita¨t mehrstufiger Herrschaft und gesellschaftlicher Vielfalt eines Imperiums nicht u¨berwunden, jedoch deutlich abgebaut.73 Die „bu¨rgerliche Familie“ als Nukleus von nationaler Gesellschaft und Staat blieb von den politischen Vera¨nderungen der Transformationszeit in vieler Hinsicht unberu¨hrt.74 Staatsbu¨rgerliche Gleichberechtigung und familienrechtliche Ungleichheit bildeten die Kontinuita¨tslinie vom ABGB 1811 bis weit u¨ber die Za¨sur des Jahres 1918 hinaus. Allerdings u¨berlebte in den Nachfolgestaaten ¨ sterreich (im Burgenland) auch die familienwie der Tschechoslowakei und in O rechtliche Vielfalt des habsburgischen Imperiums.75 Dieser Essay verortete das Familienrecht historisch als Teil sowohl des Staatsdiskurses als auch des Privatrechts in einem Imperium des 19. Jahrhunderts. Wenn man die ,o¨ffentliche‘ und die ,private‘ Seite des Familienrechts gemeinsam beleuchtet, lassen sich zum einen die Geschlechterhierarchien der Familie als genuiner Teil der Staatsund Politikgeschichte ausweisen. Der Abgleich von historischen Geschlechterbildern eines einzigen Imperiums zeigt zum anderen nicht nur das in Europa vielerorts gu¨ltige Grundmuster von Geschlechtergleichheit der Staatsbu¨rgerinnen und Staatsbu¨rger bei einer Ungleichheit von Ehefrau und Ehemann. Die Geschichte der Familie im habsburgischen Imperium verdeutlicht eine Vielfalt von Familienrechten, Gesellschaftsvorstellungen und politischen Verfassungskulturen, die dieses Grundmuster zwar nicht unterlief, aber mit regionalen und gruppenspezifischen Unterschieden modifizierte. Die Rolle der interessierten Staatsbu¨rgerin konnte aufgrund der ungarischen Lebenswelt des Landadels auch in der o¨sterreichischen Literatur zu einem popula¨ren Modell erhoben werden, selbst wenn die Teilnahme von Frauen an der Landtagsarbeit a¨ußerst beschra¨nkt war und regional stark variierte. Die Rolle der erziehenden Mutter hatte im politisierten Umfeld der slawischen Nationalbewegungen einen anderen Impetus als nach dem familienrechtlichen Modell des ABGB, das die Erziehung als Va¨tersache ansah. Auch die Rechte und wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und fa-

73 Zur These von den Neustaatsgru¨ndungen als „little Empires“ vgl. Judson, Habsburg, wie Anm. 18, 564–576. 74 Zum Zusammenhang von Geschlecht und Nation in der Zwischenkriegszeit vgl. Johanna Gehmacher (Hg.), Zwischen Kriegen. Nationen, Nationalismen und Geschlechterverha¨ltnisse in Mittelund Osteuropa, 1918–1939, Osnabru¨ck 2004; zum Zusammenhang von Verfassungs- und Zivilrecht Marion Ro¨wekamp, „The double bind“. Von den Interdependenzen des Frauenwahlrechts und des Familienrechts vor und nach 1918, in: Richter/Wolff, Frauenwahlrecht, wie Anm. 72, 99–121; Stephan Meder (Hg.), Die Rechtsstellung der Frau um 1900. Eine kommentierte Quellensammlung, Ko¨ln 2010; vgl. auch die Beitra¨ge in Marion Ro¨wekamp u. Sara Kimble (Hg.), New Perspectives on European Women’s Legal History, New York/London 2017. 75 Vgl. Jana Osterkamp, Equality at Stake. Legal and National Discourses on Family Law in Czechoslovakia, 1918–1931, in: Ro¨wekamp/Kimble, New Perspectives, wie Anm. 74, 97–121.

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milia¨ren Handlungsmo¨glichkeiten der Ehefrauen wiesen in einem Imperium wie der Habsburgermonarchie eine betra¨chtliche Ausdifferenzierung aus.76 Diese imperiale Vielfalt des Familienrechts wirkte auf die imperiale Vielfalt von Herrschaft zuru¨ck. Im zeitgeno¨ssischen politischen Denken diente die Familie als Gegenstand einer imperialen Zivilisierungsmission (in den Peripherien und fu¨r marginalisierte Gruppen), als Bauelement eines politischen Katholizismus (im o¨sterreichischen Reichsteil) oder sa¨kularisierten Nationalstaates (im ungarischen Reichsteil) sowie als Ausgangspunkt eines zuku¨nftigen Nationalstaates (slawische Nationalbewegungen). Das zeitgeno¨ssische Dogma von konstanten, historisch unvera¨nderlichen und damit universellen Geschlechterrollen wurde durch diese imperiale Wirklichkeit kontinuierlich in Frage gestellt.

76 Vgl. Margareth Lanziger, Aushandeln von Ehe. Heiratsvertra¨ge in europa¨ischen Rechtsra¨umen, in: dies. u. a., Aushandeln von Ehe: Heiratsvertra¨ge der Neuzeit im europa¨ischen Vergleich, Ko¨ln/ Weimar/Wien 2010, 11–26, 17; dies., Von der Macht der Linie zur Gegenseitigkeit. Heiratskontrakte in den Su¨dtiroler Gerichten Welsberg und Innichen 1750–1850, in: ebd., 205–368, 229.

Evdoxios Doxiadis

“Ous o Theos Synezeuxen, Anthropos me Chorizeto”1: State, Church and Divorce from the Ottoman Empire to the Early Modern Greek State

Over the past decades researchers of Ottoman history have been able to challenge many preconceptions regarding Ottoman society. Among their discoveries has been the frequent use of Islamic kadi courts by women seeking to divorce their husbands, including Jewish and Christian women. This is surprising since not only the Jewish religion but also the Orthodox Church allowed divorce. Especially the fact that Christian women consulted Islamic courts runs counter to the notion of the autonomy of ecclesiastical courts in the Ottoman Empire. This paper explores the historical development of divorce in the Greek Orthodox world with a particular focus on the reaction of the Greek Orthodox Church to the challenge presented by the kadi courts, and the changes that took place in Ottoman times (1453–1821) through the establishment of the modern Greek state and subsequent transformations.

1.

The Greek Orthodox Divorce

The Orthodox Church derived its divorce practices from the Church Canons and Roman law as codified by Justinian and subsequent emperors. As a result, marriage was perceived both as a contract and as a sacrament. Although the Eastern Church allowed divorces, the practice was restricted. The main justification for divorce was adultery or serious misbehaviour by the wife, although some Church Fathers such as Basil the Great or Gregory the Theologian objected to the double standard.2 However, Church law was not a single coherent set of rules, but drew on practices from different sources including 1 “What therefore God has united together, man not let separate.” (Mark 10:9). 2 Cf. Patrick Viscuso, Late Byzantine Canonical Views on the Dissolution of Marriage, in: The Greek Orthodox Theological Review, 44, 1–4 (1999), 273–292, 274; Lambrini Kourkouta et al., Diseases as Causes of Divorce in Byzantium, in: Progress in Health Sciences, 1, 2 (2011), 200–203, 201; Anastasios Christophilopoulos, Themata Byzantinou Ekklesiastikou Dikaiou [Topics in Byzantine Ecclesiastical Law], Athina 1957, 57; Ieromonachos Agapios and Monachos Nikodimos, Pedalion, Athina 1970, 59, 60, 391, 596; Faidon Koukoules, Byzantinon Vios Kai Politismos [Life and Culture of the Byzantines], vol. 1, Athina 1948, 197.

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the Bible, the letters of the Apostles, anonymous codices on apostolic tradition, the Canons of the Ecumenical or local Synods and the canons of the Church Fathers. It also accepted the imperial law codes, especially those of Justinian (529), Heraclitus (610, 641), Leo III (726), Basil I (c. 872), Leo VI (886–912), Alexius I (1081–1118), Manuel I (1143, 1180) and Andronicus II (1282–1328).3 Even after the Ottoman conquest, the Patriarch of Constantinople stressed the continuity of the Byzantine tradition in the Ecumenical Church, although Church law did not remain static but evolved further through various decrees issued by bishops.4 Thus, Orthodox Church law showed great continuity from the Byzantine to the Ottoman period. In the last two centuries of Byzantium, i. e. in the fourteenth and fifteenth centuries, the grounds for divorce expanded significantly. Although there were still gender inequalities, a wife could initiate divorce proceeding for a variety of causes including medical reasons (impotency, incurable diseases, madness), her husbands’ plots against her life or that of the emperor, his commitment of serious crimes (magic, grave robbing), “acts against nature”, attempts to procure her as a prostitute, keeping a mistress in their home and accusing but failing to prove her adultery.5 A marriage could also be automatically dissolved if one of the spouses became a slave or when a husband became a bishop or entered a monastery, although in such cases the preferred solution was for the wife to become a nun.6 Divorce was not possible due to abandonment or disappearance, although, after a period of time, wives were allowed to remarry. If the husband resurfaced, however, the wife was guilty of adultery, and she had to return to her former husband.7 Women did use the Byzantine courts to divorce their husbands, as Angeliki Laiou has shown from records of the thirteenth-century judges Chomatianos and Apokaukos, which contain 31 divorce or annulment cases.8 Significantly the cases demonstrate that judges had some freedom to rule according to the circumstances. Thus, whereas abandonment was no grounds for divorce, Apokaukos suggested to a bishop to try and 3 Cf. Christophilopoulos, Themata, see note 2, 47. 4 Cf. Christophilopoulos, Themata, see note 2, 63; N. J. Pantazopoulos, Church and Law in the Balkan Peninsula During the Ottoman Rule, Thessaloniki 1967, 6, 23. 5 Cf. Konstantinos Armenopoulos, Procheiron Nomon E Exavivlos [Draft of Laws or the Six-Volumed], Athina 1971, 271, 274; Koukoules, Byzantinon, see note 2, 199; Agapios/Nikodimos, Pedalion, see note 2, 674. Slavic Orthodoxy, unlike Byzantine law, did not accept a spouse’s crime as grounds for divorce, cf. Eve Levin, Sex and Society in the World of the Orthodox Slavs 900–1700, Ithaca, NY 1989, 117, 119. 6 Cf. Armenopoulos, Procheiron, see note 5, 272; Canon MH’ of sixth Synod (691 AD), cf. Agapios/ Nikodimos, Pedalion, see note 2, 263. 7 Basil the Great’s Canon MH’ stipulated that a woman abandoned by her husband could not remarry without becoming an adulteress, cf. Agapios/Nikodimos, Pedalion, see note 2, 618. This was reaffirmed in the thirteenth century by Manuel II Patriarch of Constantinople, cf. Angeliki E. Laiou, Contribution A` l’e´tude de l’institution familiale en Epire au XIIIe sie`cle, in: Angeliki E. Laiou, Gender, Society, and Economic Life in Byzantium, Brookfield 1992, 275–323, 306. 8 Cf. Laiou, Contribution, see note 7, 302, 303.

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reason with a wayward husband and convince him to behave “properly”, and if he refused, the bishop should issue a divorce.9 Although Byzantine divorce necessitated culpability, even if inadvertent as in the case of illness, couples also sought to divorce for incompatibility, and judges such as Apokaukos sometimes obliged. This divorce for “implacable hatred” was not referenced in any code but persisted despite legislation against it.10

2.

The Islamic Divorce

Islamic law saw marriage differently from Christianity, but similar to Roman law in that it considered marriage a contractual agreement between husband and wife.11 Marriage was seen as a key to social harmony, a social necessity as well as a relationship for material support.12 As a contractual relationship, its dissolution was an easy matter, at least for the husband who could end it at will. As a contract, however, there were certain obligations to be respected. In simplistic terms, Islamic marriage gave the husband the right to have sex with his wife and obliged him to provide her with material maintenance (nafaqa). In the case of a divorce, he was supposed to pay her the dower (mehr) that he had agreed upon when the marriage was contracted, in addition to nafaqa for her and their children during a specified period of time (idda). Women had limited rights to initiate divorce because they often depended on their husbands’ rights to divorce their wives (khul or hul divorce). According to the Hanafi School, the preferred school of Islamic jurisprudence of the Ottoman state, a wife could demand a divorce if the husband broke any of the conditions stipulated by the marriage contract or consented to a khul divorce,13 if he was impotent,14 if he took an oath to abstain from sexual intercourse for at least four months (ila or aila),15 if he relinquished his authority to divorce to her (Tafwez-al-Talaq),16 or if she had been married as an adolescent without her father’s or grandfather’s permission (khiyar-al-bulugh).17 Kadis could expand upon 9 Cf. Laiou, Contribution, see note 7, 307. 10 Cf. Laiou, Contribution, see note 7, 308, 309, 311, 313. 11 Cf. Judith E. Tucker, In the House of the Law: Gender and Islamic Law in Ottoman Syria and Palestine, Berkeley 1998, 38. 12 Cf. Tucker, House, see note 11, 40, 42. 13 Cf. Charles Hamilton (ed.), The Hedaya, Delhi 1982, 112 (original: Heda´ya, or Guide, London 1791). 14 A primary function of marriage was to fulfill the sexual needs of both men and women, thus the inability to have sexual intercourse could invalidate a marriage. Cf. Tucker, House, see note 11, 44. 15 Cf. Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964, 164; Hamilton, Hedaya, see note 13, 109. 16 Cf. Colin Imber, Women, Marriage, and Property: Mahr in the Behcetu¨’l-Fetava of Yenis¸ehirli Abdullah, in: Madeline C. Zilfi (ed.), Women in the Ottoman Empire. Middle Eastern Women in the Early Modern Era, New York 1997, 81–104, 85; Hamilton, Hedaya, see note 13, 87. 17 Cf. Schacht, Introduction to Islamic Law, see note 15, 161; Imber, Women, see note 16, 85.

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these grounds and some included leprosy and other serious diseases, impotence or even social class differences.18 A wife could also seek a divorce on the grounds of a husband’s lack of piety, blasphemy or nonperformance of his Islamic duties.19 Although in most of these cases a wife was entitled her mehr and sustenance, the easiest and apparently most widely practiced form of divorce on the part of the women was khul divorce where the husband agreed to grant his wife a divorce in return for financial compensation, usually part or the entirety of her mehr and often in addition to the nafaqa. A khul divorce was justified “whenever enmity takes place between husband and wife and they both see reason to apprehend that the ends of the marriage are not likely to be answered by a continuance of their union”.20 A rare form of divorce that appeared in Ottoman court cases was the “honour” divorce, often in cases of adultery, when a woman was expected or forced to forfeit her mehr just as if she was receiving a khul divorce. In these divorces the pronouncements by the husband often referred to inadequacies of the wife, as Leslie Peirce has shown.21 Such divorces did not have a base in Islamic law, where the penalty for adultery was stoning to death, but were issued according to sultanic decrees (kanunname). Researchers have pointed to customary practices as the origin for such divorces, and the similarity with earlier Christian divorce practices is striking.22

3.

A Comparative Perspective

The examination of Orthodox and Islamic divorce practices unveils a number of differences but also some similarities between the two systems. It is within these differences that the causes for Orthodox women who consulted kadi courts in order to be granted a divorce must be sought while the similarities would make the act less forbidding. Identifying where the laws diverge also allows an examination of the areas where Orthodox divorce practices might have been influenced by Islamic ones, since these were the areas where tension would have been manifested. A fundamental difference between Orthodox and Islamic divorce in Ottoman times relates to the different understanding of marriage and property. In Islam the husband 18 Cf. Tucker, House, see note 11, 81. 19 Cf. Abdal-Rehim Abdal-Rahman Abdal-Rehim, The Family and Gender Laws in Egypt During the Ottoman Period, in: Amira el Azhary Sonbol (ed.), Women, the Family, and Divorce Laws in Islamic History, Syracuse, NY 1996, 96–110, 105; Svetlana Ivanova, The Divorce Between Zubaida Hatun and Esseid Osman Aga: Women in the Eighteenth-Century Shari’a Court of Rumelia, in: ibid., 112–124, 113. 20 Hamilton, Hedaya, see note 13, 112. 21 Cf. Leslie Peirce, “She Is Trouble … and I Will Divorce Her”: Orality, Honor and Representation in the Ottoman Court of Aintab, in: Gavin R. G. Hambly (ed.), Women in the Medieval Islamic World. Power, Patronage, and Piety, New York 1998, 269–300, 287. 22 Cf. Peirce, She Is Trouble, see note 21, 286.

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provided his wife with a dower (mehr) which became her property. In Orthodoxy on the other hand, it was the wife who brought wealth into the marriage in the form of a dowry.23 The dowry that was her share of patrimony remained her property even after the marriage was conducted. However, it was her husband who administered it, although a wife had the right to transfer authority over it to another guardian or even to herself if his administration was particularly inept.24 In cases of divorce, both Islam and Christianity shared a basic principle regarding property, which was that each spouse should retain his or her wealth. Thus, in Islam a woman was supposed to keep her mehr, just as in Orthodoxy a wife kept her dowry. There was, however, a significant difference in the perception of divorce in Islam and Orthodoxy stemming from their different ideas of the ultimate basis of marriage. For Islam the dissolution of a marriage, although repugnant and “the most detested of permitted things”, as the Prophet called it,25 did not necessarily involve legal culpability. A divorce was the solution to a “bad” marriage and functioned as a form of social control.26 In Orthodoxy, on the other hand, the dissolution of marriage was always reprehensible and involved legal culpability by one party, frequently with property ramifications. If the culprit was the wife, she often had to relinquish her dowry, while if it was the husband, he lost control of the marriage gift and even up to a third of his property. Furthermore, since many of the causes for divorce implied a violation of religious and penal law, the guilty part could also be subject to additional penalties by the Church, such as aphorism. Only in the case of adultery were Orthodox and Ottoman practices somewhat similar after the incorporation of divorce due to adultery in the kanunname of Suleyman, which imposed substantial penalties on the husband who did not divorce an unfaithful wife.27 Therefore, divorce was financially more burdensome to Christians than to Muslims, especially for women, since the loss of the dowry was much worse than the loss of mehr. While the mehr usually formed only part of a woman’s property, the dowry was the bulk if not her entire wealth. Even in the case 23 Marriage payments among Orthodox Christians in Ottoman Greece varied by region. In some areas such as Athens dowry contracts often included a donatio propter nuptias (progamiaia dorea) that the husband promised his wife, and sometimes a payment of the wife to the husband called agriliki or pallikariatiko. Some accounts also mention a payment called trachoma. The trachoma is a contested marriage payment, supposedly given to the husband by the parents of the bride. As a customary rather than legal obligation the trachoma was denounced by the Church whose writings seem to indicate that in Ottoman times the practice had become widespread and the amounts exorbitant (cf. Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 58). Nevertheless, I am not aware of any verified case of trachoma payment in dowry contracts or other such documents. 24 Cf. Angeliki E. Laiou, The Role of Women in Byzantine Society, in: Laiou, Gender, Society and Economic Life, see note 7, 198–204, 237. 25 Cf. Madeline C. Zilfi, “We Don’t Get Along”. Women and Hul Divorce in the Eighteenth Century, in: Zilfi, Women, see note 16, 264–296, 283. 26 Cf. Tucker, House, see note 11, 79. 27 Cf. Peirce, She Is Trouble, see note 21, 286; Uriel Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, Oxford 1973, 96.

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of a khul divorce a Muslim woman would presumably negotiate the amount to be paid to her husband so that she would not be left property-less. In Orthodoxy this decision was up to the court. Another significant difference was remarriage. Islam set fewer limits to the number of marriages a Muslim could conduct, while the Orthodox Church allowed only three marriages.28 Thus, whereas in Islam the ability to contract new marriages remained unimpaired, in Orthodoxy the divorced encountered increasing difficulties to remarry until such a prospect became an impossibility. Perceptions of subsequent marriages also differed since in Orthodoxy a divorce, albeit legal, was frowned upon, while Islam had a more nuanced approach ranging from aksan divorces (most laudable), to hoosn (laudable), to biddat (irregular) where the husband was considered an “offender against the law.”29 Despite these differences Orthodox and Islamic jurisprudence bore similarities such as the abovementioned convergence regarding adultery. In Islamic law, a woman who left the house without the husband’s permission forfeited her maintenance, a stipulation reminiscent of Byzantine legislation.30 Sodomy could also be grounds for divorce in both religions although Islam was more tolerant if the husband had the permission of his wife.31 In a similar vein, although the stipulation that an unfounded accusation of adultery was grounds for divorce in Orthodoxy did not exist in Islamic law, there were some similarities regarding laan divorce.32 Thus the two legal systems were not as alien to each other as we sometimes think and certainly not for Christians who lived side by side with Muslims during the centuries of Ottoman rule.

4.

Orthodox Christians and Islamic Divorce in Ottoman Times

Christians chose to pursue divorce in Islamic courts for various reasons. For example, they may have conducted Islamic rather than Christian marriages. Sometimes such marriages were the only options available to them if they had already married three times. Christians marrying in front of a kadi subjected themselves to Islamic rather than Christian law, as the kadi informed them.33 This meant that both men and women would enjoy benefits and disadvantages absent in an Orthodox marriage. Men had the 28 Basil in Canon N’ stated that third marriages are condemned but “since they are better than fornication […] the Church should look the other way.” Agapios/Nikodimos, Pedalion, see note 2, 618. 29 Cf. Hamilton, Hedaya, see note 13, 72f. 30 Cf. Hamilton, Hedaya, see note 13, 72f.; Imber, Women, see note 16, 84. 31 Cf. Hamilton, Hedaya, see note 13, 600. 32 Cf. Hamilton, Hedaya, see note 13, 125. 33 Cf. Mohamed Afifi, Reflections on the Personal Laws of Egyptian Copts, in: Sonbol, Women, the Family, and Divorce Laws, see note 19, 202–215, 203.

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benefit of a quick and simple divorce but had to supply the women with a mehr instead of receiving and managing a dowry. Such marriages may have been more attractive to wealthier men who were not dependent on the property their wives brought into the marriage. For women, on the other hand, there were financial benefits in terms of the dower and clear expectations of material support. The crucial role of the financial benefits of such marriages can be deduced from the objections of churchmen who denounced these marriages as covert prostitution. In 1736 Metropolitan Zachariah of Athens was convinced that the immense trachoma payments given to some daughters left their younger sisters without dowries and thus forced them to seek alternative, and unlawful, forms of marriage: “[…] a fiendish and corruptive practice, that of the so-called trachoma, this rough and barbarous habit, both in word and deed, which has taken the place of a chapter of law, and which has become unavoidable to the whole race […] and everybody wasted by this pest was lost. Because the daughters that were provided with the most part of trachoma were married, whereas those who had nothing to offer, and were in want at the time of marriage, melted away together with their own fathers and mothers and remained unripe and being in despair were devising the evils resultant from need. Because they either schemed to capture men in passion, or, driven to despair, they were reduced to lawless nikah34 and to most disreputable downfalls.”35

Churchmen were even more concerned about another form of marriage conducted by the kadi called kepinion. Kepinion was first mentioned in a Synodic ruling regarding the dethronement of Parthenius in 1646 “who became the cause of cohabitation with a woman by kepinion and lived illegally”.36 In 1664 Thenerot also referred to kepinion as paid short-term marriage with reference to Crete.37 From the end of the seventeenth century Kepinia were common in Serbia, Moldavia, Constantinople, Crete, Macedonia, Thrace, Epirus, Roumeli and Peloponnesus; in Macedonia up to at least 1838.38 Some historians have equated kepinion with Islamic muta, thus giving credence to the Church’s denunciations that these marriages were specifically contracted to avoid accusations of prostitution.39 The association of kepinion with muta is not clear since it is mentioned only with relation to Christians and seems confined to Christian areas. In addition, Sunni Islam prohibited the practice. One might see it as an attempt of the kadis to accommodate a local “custom” (prostitution and concubinage), but as the 34 “Lawless nikah” refers to marriages according to Islamic law seen as concubinage. Cf. Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 60. Nikah in Islamic jurisprudence simply refers to the marriage contract. 35 Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 60. I should note that in 938 dowry contracts from Athens for the period 1750–1850 I never saw the term trachoma that the Metropolites of the same town denounces. 36 Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 97. 37 Cf. Evlogios Kourilas, Patriarchiki Istoria [Patriarchal History], Athina 1951, 346. 38 Cf. Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 97. 39 Cf. Pantazopoulos, Church and Law, see note 4, 94.

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historian Elyse Semerdjan has shown, Ottomans were not particularly concerned with prostitution.40 More likely, kepinio marriages were normal Islamic marriages between Christians conducted by a kadi, which the Orthodox Church regarded as unlawful. If the marriage was not valid, the people involved would have been practicing fornication while the payment of mehr would have further brought associations of prostitution or concubinage to a Christian mindset. In any case churchmen had to deal with the complications of such unions, and their concerns were both practical and spiritual. Not only was this practice sinful, it undermined the position and authority of the Church as the sole representative of Christians in the Ottoman state, and often had repercussions the Church had to deal with, as for instance with regards to offspring and their status.41 Christian women also pursued divorces in the kadi courts when their marriages were originally conducted according to Christian rites. This was even more problematic because it often forced the Church to recognise the divorce the kadi had issued even when it contradicted Church law or when ecclesiastic courts had already ruled against it. The Orthodox Church sometimes resisted issuing uncanonical divorces, which led some Christians to convert to Islam as the case of George Aboudzis indicates.42 More often, however, the Church accepted the fait accompli as Dionysus IV did in 1694 in the case of the couple John and Lambrini from Karlovo: “Because John of Giovanni from Karlovo of the Philippoupoli district with his wife Lambrini […] showed proof that he received royal judgement and divorced her externally. Thus since the mentioned couple cannot live together we separated them ecclesiastically as well […].”43 Divorces from kadis were vehemently condemned by the Church that tried to reinforce its sole authority on such matters through sultanic decrees, such as the 1754 berat issued at the request of Patriarch Cyril V: “[The power] to conduct engagements and divorces or pacify and bring compromises between two disputing Christians according to their will, [is] by berat restored [to] the Patriarch and the archpriests and bishops; and according to their religion to place them [the Christians] in oath, and aphorizontas [excommunicating] them from their churches [and when having done so they are] not to be interfered with and damaged in violation of the old custom; and without knowledge and permission of the Patriarch, archpriests and their epitropoi (overseers), the priests below them [are forbidden] to contract in marriage the unforgiven; and since fourth marriage divorces and the union of [those who divorced] with women is by their laws for-

40 Cf. Elyse Semerdjian, Sinful Professions: Illegal Occupations of Women in Ottoman Aleppo, Syria, in: Hawwa, 1, 1 (2003), 60–85. 41 The abbot of the Cretan monastery of Chrysopigi had to issue a decree stipulating that children from “kepinio or free marriage” had rights of support and inheritance, cf. Kourilas, Patriarchiki Istoria, see note 37, 342. 42 Cf. Manouil Io Gedeon, Vracheia Simeioses Peri Ton Ekklesiastekon Emon Dikaion [Short Notes on Our Ecclesiastical Law], Konstantinoupoli 1909, 131. 43 Kourilas, Patriarchiki Istoria, see note 37, 348.

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bidden, they are not to be given permission for this and those that do not comply [are] to be punished.”44

We have a number of similar berats issued over the centuries. In 1604 Sultan Ahmed I issued one for the Bishop of Larissa, Leontius, in which Muslim functionaries were warned not to interfere in Christian marriages. “Because it is not allowed to those illegally divorced to enter churches, and when those die, the priests are not to be harassed and forced, neither by kadis, naips or zabitas or by other powerful [people] to receive them and bury them […]. When one of the reyas wants to perform an illegal marriage, even if he wants to go to another place, [he] is not to have permission nor is he to be accepted in another province.”45

In 1672 another berat for the Patriarch of Constantinople, Dionysius IV, stated that: “If it happens a Christian woman […] to forsake her husband, or a man his wife […] no one except the mentioned Patriarch is to grant the divorce, or even to be concerned about this case.”46 In 1739 a berat for Metropolitan Gregorius of Novi Pasar focused on the issue of kepinion: “Because those also who are united contrary to their habit [that is those who have married by kepinio] are subsequently forbidden by their habit to enter the Church, if they die in this state the judges and the naips and other officers should not pressure the priests telling them to bury them.”47 The regularity of such berats indicate their ineffectiveness and that Christians continued to use the kadi courts throughout the seventeenth and eighteenth centuries. Property seems again a crucial factor. It is not clear how the kadi would decide the allocation of property considering the very different dowry regimes between Islamic and Orthodox marriage, but the evidence suggests that most Christian women went to the kadi courts to receive a khul divorce. This means that they had reached an understanding with their husbands regarding the division of property. For example, Maryura, daughter of Estanan, resident of Egri Kapi district in Istanbul, sought a khul divorce for “not getting along” with her husband Mosko, but could not have procured a divorce in ecclesiastical courts for that reason.48 In addition, Christians may have been unwilling to be found at fault in order to receive a divorce as was required under Orthodox law. That would entail admitting to unsavory practices that could result in a reduced status in society, inability to remarry and financial as well as spiritual penalties. A khul divorce bypassed these difficulties, especially if the Church had a practice of accepting it after the fact. 44 45 46 47 48

Gedeon, Vracheia, see note 42, 59. Gedeon, Vracheia, see note 42, 70f. Pantazopoulos, Church and Law, see note 4; Gedeon, Vracheia, see note 42, 5, 103. Gedeon, Vracheia, see note 42, 99. Cf. Zilfi, Women and Hul Divorce, see note 25, 279.

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5.

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The Reaction of the Orthodox Church

The Orthodox Church was bound to react to what it perceived as erosion of its authority, and this reaction took two forms. First, the Church tried to prevent kadi courts from interfering in Christian affairs by appealing to the Sultans as mentioned above. The second avenue it pursued was a two-pronged response addressing the causes that led Christians to use kadi courts and at the same time denouncing those who pursued “illegal” divorces. As early as 1609, Neophytus II addressed the problem of husbands abandoning their wives by granting a divorce even if the husband was still alive. “From now on a wife, whose legal husband migrates and does not return to her within three years, and [thus she] lives by herself and is depressed and in danger to her soul, [and as a result] wants to divorce [her husband], she [can be] divorced and separated from him […] because of the anomalous times and the slavery of the nation.”49 Furthermore, eighteenth-century law codes issued by the Church or Christian hospodars in Moldavia and Wallachia accepted a form of consensual divorce and attempted to address certain property concerns. Early Ottoman era nomocanons such as that of Manouil Malaxos adhered to Byzantine law. However, the 1765 collection of laws of Michael Photeinopoulos, published during the reign of Stephen Michael Rakovitza, presented a legal shift by distinguishing “fault” and “non-fault” based divorces and dealing with each category differently.50 In “fault” divorces the spouse deemed responsible for the divorce was penalised financially, whereas in “non-fault” based divorces each was supposed to leave the union “keeping their own”.51 In “fault” divorces with the husband responsible, the wife kept her dowry, the marriage gift and even received a third of the value of her marriage gift out of her husband’s property. The husband was also legally obliged to support any children from the marriage.52 Children were supposed to remain in the custody of the blameless parent.53 It was also made clear that a husband’s adultery was grounds for divorce, although this did not cover fornication with a prostitute.54 The greatest change in Photeinopoulos, however, was the concept of non-fault based divorce, which could be granted if both spouses agreed on it.55 Thus consensual divorce was finally incorporated into law which stipulated that, in absence of a guilty party, both spouses

49 Kourilas, Patriarchiki Istoria, see note 37, 347. 50 Photeinopoulos based his code on ecclesiastical law, “royal” (Byzantine) decrees, their interpretations by various scholars, and local customs, cf. Panagiotis J. Zepos (ed.), Mihail Photeinopoulos, Nomikon Procheiron [Legal Drafts by Mihail Photeinopoulos], Athina, 1959, 17. 51 Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 99. 52 Cf. Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 76, 77, 83. 53 Cf. Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 77. 54 Cf. Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 84, 200. Photeinopoulos also addressed the issue of battery but did not consider it grounds for divorce although the husband could be penalised with the loss of a third of his property to the benefit of his wife, cf. ibid., 69. 55 Cf. Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 99.

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could keep their property. This eliminated the most obvious benefits of seeking divorce through the kadi courts. The Photeinopoulos code can be seen as an evolution of the Byzantine nomocanons through the experience of Islamic law. The influences are present not only in such matters as divorce but also in the treatment of adultery and elsewhere.56 Nor was it unique since the same principles can be found in the 1780 code of the hospodar of Wallachia John Alexander Ypsilantes. As in Photeinopoulos, the Ypsilantes code recognised divorce due to philonekia (dispute) and the two were very similar in their treatment of divorce and property.57 The close association of the Phanariot hospodars of Wallachia and Moldavia with the Patriarchate of Constantinople at this time would imply that these codes represented the policy of the Orthodox Church. Thus by the late eighteenth century Orthodox divorce had evolved to the point where it was as easy as khul divorce while retaining its greater protection of women from arbitrary male divorce. In fact, with the incorporation of consensual divorce women had greater financial benefits from an Orthodox than from a khul divorce because they retained their entire dowry.

6.

Marriage and Divorce after Greek Independence

In 1821 a rebellion engulfed the Ottoman Balkans seeking to overthrow Ottoman rule and establish an independent Greek state. In most areas the Ottomans suppressed the revolt, but the rebels held on in southern Greece, until an intervention by France, Britain and Russia in 1827 led to the establishment of a small Greek Kingdom with a Bavarian prince as monarch. The rebellion wiped out the institutions of the Ottoman state in Greece, and despite the efforts of three constitutional assemblies and the revolutionary governments no permanent legal structures were established to replaced them. Only the Bavarian Regency was successful in implementing a new centralised judicial system alongside a criminal code, a code of criminal jurisprudence and a commercial code. However, the Regency and all subsequent governments until 1946 failed to enact a comprehensive civil code. In its absence customs were given the validity of law as long as they were “of long duration”, and in the absence of custom or new legislation, Byzantine law was to be considered.58 56 Cf. Photeinopoulos, Nomikon Procheiron, see note 50, 200; Heyd, Studies see note 27, 98; Armenopoulos, Procheiron, see note 5, 345. 57 Cf. Panagiotis J. Zepos, Syntagmatikon Nomikon Egemonos Pasis Ouggrovlachias Ioannou Alexandrou Ypsilanti Voevoda [Legal Corpus of Ioannis Alexandrou Ypsilanti Ruler of all Wallachia Voevod], in: Akademia Athinon Pragmateiai [Proceedings of the Academy of Athens], 4, 2 (1936), 94–101. 58 Cf. Nikolaos I. Pantazopoulos, E Entaxe Tes Elladas Sten Evropaike Koinoteta. E Symvole Tes Antibasileias Kai Tou Othona (1833–1843) [The Entry of Greece in the European Community.

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This system was able to operate effectively for over a century, yet complications emerged regarding marriage and divorce. The Greek state, like the Ottoman government before, relinquished authority over marriage to the Orthodox Church, now an autocephalous one, following a temporary break with the Patriarchate of Constantinople in 1833. The enhanced influence of the Church in the new state became evident in Greek marriage practices and regulations. Greece, unlike most of Europe, made no provisions for civil marriage that was introduced in Greece only in 1982. As a result, marriage between individuals of different faiths was impossible until then, unless one of them converted to the other’s religion. It also gave the Church a firm grip over marriage practices of the majority of the population. Having said that, the state did retain the right to legislate with regards to marriage, and many nineteenth-century legal scholars such as Pavlos Kaligas argued for a more active state role claiming that the Church had usurped the state’s authority over marriage at the end of the Byzantine Empire and especially during Ottoman times.59 The question of divorce was a particularly thorny issue in the exchanges between the responsible ministries of the new state ( Justice; Religious Affairs and Education; Interior), especially regarding its acceptable causes which, as we have seen above, had proliferated during the Ottoman period.60 The ministries also debated whether to announce divorces publicly, like other state acts, or keep them confidential to avoid potential scandalous details from becoming public knowledge, and settle for a public announcement of the divorce while keeping the details confidential.61 The state also instituted legal separation without divorce, which was advanced by the same jurists who wanted a greater say for the state in family matters.62 Despite all this, actual state interventions in divorce proceedings were rare, which allowed the Greek Orthodox Church to maintain a stranglehold over such matters.

59 60 61 62

The Contribution of the Regency and Othon (1833–1843)], in: E Krise Ton Thesmon Tou Kratous, Symmeikta Pros Timen Faidonos Th. Vegleri [The Crisis of the Institutions of the State. A Collection in Honour of Faidonos Th. Vegleri], Athina 1988, 545–583, 572; Nikolaos I. Pantazopoulos, Apo Tes “Logias” Paradoseos Eis Ton Astikon Kodika [From the “Learned” Tradition to the Civil Code], Thessaloniki 1965, 208; Nikolaos I. Pantazopoulos, Georg Ludwig Von Maurer: E Pros Evropaika Protypa Oloklerotike Strofe Tes Neoellenikes Nomothesias [Georg Ludwig Von Maurer: The Complete Turn of the Modern Greek Legislation Towards European Models], in: Epistemonike Epeteres Scholes Nomikon kai Oikonomikon Epistemon, 13 (1968), 1346–1506, 1450. Cf. Pavlos Kalligas, Systema Romaikou Dikaiou [Roman Law System], vol. 4, Athina 1930, 15. Cf. General State Archives (henceforth GAK) Othonika, Ypourgeio Dikaiosynis [Ministry of Justice]– K – Politiki Dikaiosyni [Civil Justice], b) Politiki Dikonomia [Civil Legislation] 1835–1839, no. 5392, 14 October 1835. Cf. GAK Othonika, Ypourgeio Dikaiosynis – K – Politiki Dikaiosyni, b) Politiki Dikonomia 1835–1839, no. 109, 24 March 1836; ibid., no. 10799, 2/14 April 1836; cf. also no. 5392 and no. 2751. Cf. Kalligas, Systema, see note 59, 145.

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Nevertheless, a few divorce cases made their way to the Greek courts, such as that of Konstantinos Aggelopoulos and his wife Styliani Dimitriou. Styliani had begun divorce proceedings on 17 July 1836 claiming that it was impossible for her to continue living with her husband because of “his bad behaviour, harsh treatment and her husband’s attacks on her honour, having accused her of adultery”.63 In addition to a divorce Styliani demanded maintenance (zootrofies) of 30 drachmas per month from 22 June 1833, when her husband abandoned her, to the day the court dissolved the marriage. She also asked for her husband to cover her entire legal costs. Her husband did not appear at the trial date, and the court ruled in her favour. Her husband appealed against the decision but again failed to appear in court, and thus a final decision in Styliani’s favour granted all her demands. This case aligned with divorce practices not only in Ottoman but also in Byzantine times, and the court specifically mentioned the late Byzantine Nomocanon of Armenopoulos in their decision. Although there is no mention as to what led Styliani to pursue her case in a civil court as opposed to an ecclesiastical one, the recalcitrance of her husband who twice failed to appear at the Appeals Court trial may be a clue. The ecclesiastical courts would have been reluctant to rule in the absence of one spouse since they were supposed to first try to resolve the marital dispute and save the marriage, nor could they compel his presence. The civil courts on the other hand had no compulsion to pass judgement in absentia even if they kept strictly within the framework of ecclesiastical law. A generation later isolated divorce cases continued to appear in the civil courts of Greece. Between 27 January and 9 October 1860, seven out of 652 cases at the Appeals Court of Athens were about divorces, four of them initiated by men and three by women. All four men claimed that their wives had abandoned the family home and had committed adultery,64 while two of the women claimed physical abuse and one that her husband had failed to support her and had endangered her property.65 In one lawsuit that focused on the ex-husband’s debts a divorce was mentioned, and two further cases involved annulments.66 The four male-initiated divorces fall squarely within the acceptable grounds for divorce from Byzantine times onwards being based on accusations of adultery or abandonment of the family home. The courts requested that the plaintiffs prove their accusations and in three of the cases granted divorce after the examination of witnesses, 63 GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis [Civil Decisions], vol. 1, no. 359, 4295, 15 February 1837. 64 Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18236, 429, 18 June 1860; ibid., vol. 121, no. 18277, 851, 25 June 1860; ibid., vol. 121, no. 18272, 795, 22 June 1860; ibid., vol. 121, no. 18268, 771, 4 June 1860. 65 Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18247, 537, 18 June 1860; ibid., vol. 121, no. 18271, 791, 22 June 1860; ibid., vol. 121, no. 18389, 1973, 28 September 1860. 66 Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 119a, no. 17993, 949, 28 March 1860; ibid., vol. 121, no. 18244, 501, 10 June 1860; ibid., vol. 120, no. 18138, 841, 25 May 1860.

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on one occasion they reversed an earlier lower court decision by invoking Armenopoulos.67 One of the cases, judging by the names of the parties, Tereza Kruboller (?) and Christos Velier (?), may have involved Catholics, and thus the court may have been the only available option to them.68 In the final male-initiated case the wife successfully argued that her husband had repeatedly abandoned her, and to sustain herself she joined the household of the British ambassador as a maid. Thus her actions could not be construed as abandoning the family home. The court rejected the petition for divorce, again a decision in line with Byzantine legislation.69 While the male-initiated divorces were within the scope of traditional Byzantine legislation, the female-initiated cases were more nuanced. In one of the cases Aspasia Triantafyllou argued that her husband Epameinondas Leukaditis had repeatedly physically abused her, even when she was pregnant, and had “endangered her life striking her with a sword to the chest”.70 While this argument was within the scope of Byzantine legislation as a threat to life, the other two cases were based on the husband’s abandonment and abuse as well as his failure to provide material support. The first of these two cases was successful, although the Appeals court reversed a lower court decision granting the plaintiff a significant alimony,71 while the second failed to do so despite the added accusation of physical abuse. Although the court did find that there was serious conflict between the spouses that justified a physical separation between them it ruled that this was not sufficient for a divorce.72 The divorce and annulment cases should have been within the purview of the ecclesiastical courts, and although one could make the argument that adultery, as a criminal offense, was under the jurisdiction of the courts, it is significant to note that all these cases were civil not criminal. Furthermore, the Appeal Court of Athens was clearly basing its decisions on Byzantine law, with the Nomocanon of Armenopoulos specifically mentioned on several occasions, which was the same text that the ecclesiastical courts used. Excluding the case of the possibly non-Orthodox litigants, these cases may have found themselves at the civil courts either because the ecclesiastical courts had not ruled to the liking of the litigants or because these individuals thought they had a better chance to achieve their goals at the civil courts in the first place. In this sense the Greek civil courts seem to have replaced the kadi courts of the Ottoman period in the legal manoeuvring of people wanting to escape unwanted marriages. The small number of divorce cases in the civil courts, however, does not mean that divorce was rare in nineteenth-century Greece. Divorces are often referenced in various 67 68 69 70

Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18272, 795, 22 June 1860. Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18268, 771, 4 June 1860. Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18277, 851, 20 June 1860. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18247, 537, 18 June 1860; GAK, ibid., vol. 121, no. 18385, 1941, 28 September 1860. 71 Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18389, 1973, 28 September 1860. 72 Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 121, no. 18271, 791, 22 June 1860.

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cases as a rather casual affair, undertaken lightly as long as there were no complications regarding property or children.73 The frequency and ease of divorce and remarriage is exemplified by the case of the comb-maker Georgios (Mpazinis). He bequeathed a house, various fields and household goods to Diamanto Rori whom he considered his wife, although he could not marry her ecclesiastically because he had already been married three times and the Church did not allow fourth marriages.74 This case does not simply indicate the ease of divorce but also the open practice of cohabitation which in Ottoman times may had led to a kepinio marriage, an option no longer available. Other examples show that women sued their former husbands, such as Maria Grypari who demanded the payment of her awarded maintenance75 or Varvara Triantinou whose husband had abandoned her and her two adolescent children in 1814. Varvara had emigrated to Russia leaving her mother Stamatou as her legal representative in Greece. Her ex-husband harassed her mother to gain access to Varvara’s assets, and she proceeded to give her mother full authority to sue him in the Greek courts.76 The fact that Varvara, although living in Orthodox Russia, pursued her case in Greece is indicative of the significant differences between the two Orthodox states, especially in civil matters in general and divorce in particular which was restricted under Russian law.77

7.

The Tightening of Divorce

Without question, Greece from the moment of its independence and for decades later had the most permissive divorce practices in Europe. I have argued elsewhere that the same applies to women’s property rights,78 yet an 1895 editorial in the “Journal of the Ladies” (Efimeris ton Kyrion) presented a very different picture arguing that women were perceived as “underage and incapable” in Greek law.79 This resembles the feminist writings throughout Europe, but it sits oddly with the discussion thus far or with the active presence of women in Greek state courts.80 The late nineteenth century saw great 73 74 75 76 77

Cf. GAK, Leonidio, 187, 7 April 1836; GAK, Leonidio, 489, 21 July 1837. Cf. GAK, Leonidio, 554, 1 December 1849. Cf. GAK, Efeteio Athinon, Politikes Apofaseis, vol. 119a, no. 17966, 649, 23 March 1860. Cf. GAK, Leonidio, 214, 18 July 1845. Cf. Gregory L. Freeze, Bringing Order to the Russian Family: Marriage and Divorce in Imperial Russia 1760–1860, in: Journal of Modern History, 62, 4 (1990), 709–746. 78 Cf. Evdoxios Doxiadis, Women, Wealth, and the State in Greece (1750–1860), in: Evguenia Davidova (ed.), Wealth in the Ottoman and Post-Ottoman Balkans, New York 2016. 79 Eleni Varikas, E Exegerse Ton Kyrion [The Uprising of the Ladies], Athina 2004, 299. 80 Cf. also Evdoxios Doxiadis, Women and Law in Nineteenth-Century Greece: The Impact of the Modern State, in: Eva Schandevyl (ed.), Women in Law and Lawmaking in Nineteenth and Twentieth-Century Europe, Burlington, VE 2014, 155–198; Evdoxios Doxiadis, Innovation, Emulation, or Tradition? Greek Family Law in the First Decades of the Modern Greek State, in: Sara L. Kimble and Marion Ro¨wekamp (eds.), New Perspectives on European Women’s Legal History, New York/London 2017, 27–54.

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changes including the monetarisation of the dowry in urban as well as rural Greece, often seen as a sign of disinheritance of the daughter and a threat to her dowry.81 The dowry increasingly assumed negative connotations as a vehicle for the enrichment of the husband, and by the latter half of the nineteenth century the practice was denounced by feminists and foreign travellers, who lamented the avarice of men demanding everlarger dowries. Dowry-hunting (proikotheria) was said to be a scourge in Athens of the nineteenth and twentieth centuries, destroying the principles of good marriages and impoverishing families.82 Although there is little evidence of widespread alienation of women’s wealth in the early decades of the Greek state, anthropologists have corroborated such findings in twentieth-century rural Greece which, coupled with the monetisation of the dowry, may have undermined the economic position of women in marriage.83 The precarious status of married women was also reflected in the legal discourses in the early twentieth century. Contemporary legal scholars saw a deterioration of moral conditions that made women, seen as the weaker member in a marriage, particularly vulnerable, especially since men demanded divorces at three times the rate of women.84 In 1922, in acknowledged emulation of European legislation, a new law abolished consensual divorces ostensibly in order to protect women.85 The noted legal scholar 81 Cf. Diane Owen Hughes, From Brideprice to Dowry in Mediterranean Europe, in: Journal of Family History, 3, 3 (1978), 262–296, 281f.; Marie A. Kelleher, Hers by Right: Gendered Legal Assumptions and Women’s Property in the Medieval Crown of Aragon, in: Journal of Women’s History, 22, 2 (2010), 34–55, 37; Eleftherios P. Alexakis, Ta Paidia Tes Siopes: Oikogeneia, Syggeneia Kai Gamos Stous Arvanites Tes NA Attikes – Lavreotikes 1850–1940 [The Children of Silence: Family, Kinship, and Marriage Among the Arvanites of SE Attiki – Lavreotiki 1850–1940], Athina 1996, 35; Dimitris Psychogios, Proika, Foroi, Stafida, Kai Psomi. Oikonomia Kai Oikogeneia Sten Agrotike Ellada Tou 19ou Aiona [Dowry, Taxes, Currents, and Bread. Economy and Family in Agricultural Greece of the 19th Century], Athina 1995, 178; Marina Maropoulou, E Politike Ton Ekklesiastikon Kai Koinotikon Archon Sto Zetema Tes Avxeses Tou Posou Tes Proikas [The Policy of the Ecclesiastical and Communal Authorities on the Question of the Increase of the Value of the Dowry], in: Colette Piault (ed.), Oikogeneia Kai Periousia Sten Ellada Kai Ten Kypro [Family and Property in Greece and Cyprus], Athina 1994, 111–123, 113, 123; Maria M. Couroucli, Dot et socie´te´ en Gre`ce moderne, in: Georges Ravis-Giordani (ed.), Femmes et patrimoine dans les socie´te´s rurales de L’Europe Me´diterrane´enne, Paris 1987, 327–348, 327. 82 Cf. Dimitra Samiou, To Feministiko Kinema Sten Ellada (1860–1960) [The Femminist Movement in Greece], in: Eutychia Leontidou and Sigrid R. Ammer (eds.), E Ellada Ton Gynaikon [The Greece of Women], Athina 1992, 57–63, 59; Edmond About, E Ellada Tou Othonos [The Greece of Othon], Athina 1992 (original 1855), 57, 141; Varikas, Exegerse, see note 79, 60. 83 Cf. Ernestine Friedl, Vasilika, a Village in Modern Greece, New York 1962, 55. 84 Cf. Ir D Kyriakopoulos, Peri Ton Logon Kai Ton Synepeion Tou Diazygiou Apo Apopseos Nomothetikes [Regarding the Causes and the Consequences of Divorce from a Legislative Perspective], Athina 1919, 6, 10, 17. 85 Cf. Georgios S. Maridakis, To Astikon Dikaion Eis Tais Nearais Ton Byzantinon Avtokratoron [Civil Law in the Novellae of the Byzantine Emperors], Athina 1922, 83, 92, 166; Konstantinos L. Triantafyllopoulos, Ekthesis Kai Proschedion Nomou Peri Ton Logon Tou Diazygiou Kai Synepeion Tinon Avtou [Report and Draft of the Law Regarding the Causes of Divorce and its Consequances], Athina 1918, 11, 12, 16, 17, 21, 35.

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Konstantinos Triantafyllopoulos, who drafted the law, believed that industrialisation and the economic development of Greece alongside “the wide penetration of women in the working class, the war, the abandonment of many prejudices but also of moral values, the hedonism of the upper urban strata that spread to the countryside, [and] the widespread emigration of the male married population could not but undermine married life”.86 He quoted Durkheim’s link of married women’s suicide rate and divorce, and justified the abolition of non-fault based divorce by claiming that only Switzerland allowed it, where it had led to the highest divorce rates in Europe. Significantly in a petition submitted to the Greek parliament, the Union of Greek Women (Syndesmos Ellenidon) and the National Council of Greek Women (Ethniko Symvoulio Ellenidon) supported the law which they claimed introduced equality with regards to adultery, even though the courts retained the right to dismiss cases of male adultery “if there were serious reasons”.87 As married women’s rights were further restricted in 1946 during the adoption of the first comprehensive civil code,88 Greek feminists shifted their demands from opposition to divorce towards the principle of gender equality that was finally incorporated in the Greek constitution of 1975, while in 1982 a new family law abolished the legal requirement for a dowry and liminated the concept of “head of household”.89 Still, only in 2017 was the law changed in such a way as to allow easy and quick consensual divorces.90 Much remains to be explored regarding divorce in Ottoman and modern Greece. One obvious question is the frequency of Orthodox divorces in ecclesiastical courts. There is little research on this, and what does exist is both dated and from regions outside the early Greek state.91 To my knowledge there has been no research done with 86 K. D. Triantafyllopoulos (ed.), Nomos 2228 Peri Diazygiou Kai Ai Episemoi Peri Autou Ektheseis [Law 2228 Regarding Divorce and the Corresponding Official Reports], Athina 1924, 25. 87 Triantafyllopoulos, Nomos, see note 86, 1, 28, 132, 146. 88 Cf. Jane Lambiri-Dimaki, Dowry in Modern Greece: An Institution at the Crossroads Between Persistence and Decline, in: Marion A. Kaplan (ed.), The Marriage Bargain. Women and Dowries in European History, New York 1985, 165–178, 166; Roula Kaklamanaki, E These Tes Gynaikas Sten Oikogeneia, Sten Koinonia, Sten Politeia [The Position of Women in the Family, the Society, and the State], Athina 1979, 82, 95. 89 Cf. Efi Avdela, Between Duties and Rights: Gender and Citizenship in Greece, 1864–1952, in: Faruk Birtek and Thalia Dragonas (eds.), Citizenship and the Nation-State in Greece and Turkey, New York 2005, 117–143, 125; Marie Elizabeth Handman, Astikos Kodikas Kai Ethimiko Dikaio: E Proika Sto Pouro Tes Thessalias [Civil Code and Customary Law: The Dowry in Pouro of Thessaly], Athina 1994, in: Colette Piault (ed.), Oikogeneia Kai Periousia Sten Ellada Kai Ten Kypro [Family and Property in Greece and in Cyprus], 239–249, 249; Nota Kyriazis, Feminism and the State of Women in Greece, in: Dimitris Constas and Theofanis G. Stavrou (eds.), Greece Prepares for the Twenty-First Century, Baltimore 1995, 267–301, 281; Anna Karamanou, The Changing Role of Women in Greece, in: Theodore A. Couloumbis, Theodore Kariotis and Fotini Bellou (eds.), Greece in the Twentieth Century, London 2003, 274–293, 280. 90 Cf. Law 4509/2017, Article 22, Efemerida tis Kyverneseos, 1, 201, 4436, 22 December 2017. 91 Cf. Kourilas, Patriarchiki Istoria, see note 37, 347.

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regards to divorce in the ecclesiastical courts of modern Greece, which would be crucial in order to determine the frequency as well as the parameters of divorce and the role of women in the process. From the existing evidence presented above, however, it seems that a gradual liberalisation of divorce over the Ottoman period under pressure from the competition of the kadi courts led to very permissive divorce practices in the nineteenth century that were radically reversed in the early twentieth century with the tightening of divorce. Ironically this seesawing of liberalisation of divorce during the Ottoman period, followed by a reactionary tightening, and the subsequent gradual liberalisation from 1982 to 2017 was pursued for the “protection” of women, first from the influence of Islamic courts and then from unsavory husbands.

Marie-Pierre Arrizabalaga

Women, Inheritance and Empowerment: French Basque Women’s Adaptation to Legal Systems across Spaces, Times and Places

When Napoleon I came to power in 1799, he dreamed of a larger, unified nation to become his empire in 1804. As part of his grandiose design to make France the new Roman Empire, he established a single, uniform administration that imposed his rule and his law. The Civil Code of 1804 was part of his plan and replaced the diverse, unequal local legal systems, the Customs or Fors,1 which, among other aspects, imposed single male inheritance (in the form of primogeniture or male inheritance). While these local Customs upheld patriarchal family values with first-born and/or male decent devolution and perpetuated birth order and gender inequalities to the detriment of the younger siblings,2 Napoleon’s new legislation imposed equality and therefore equal inheritance between all siblings regardless of birth order and sex, a legislation which later spread across the Empire and most of Europe.3 These legal changes had tremendous impact because they forced the partition of farm holdings between all children (male and female) and later their fragmentation and sale. In order to prevent the disintegration of the rural economy due to massive land sales, families circumvented Napoleon’s egalitarianism by adapting aspects of their ancient unequal legislation (especially in

1 In April 1454, King Charles VII passed the Royal Ordinance of Montils-le`s-Tours, ordering the codification of local oral inheritance practices in all French provinces. These written Customs (Fors) were to be approved by local parlements and implemented until the French Revolution. 2 For a comparison on inheritance practices in France during the Old Regime cf. Jean Yver, Essai de ge´ographie coutumie`re, Paris 1966; Louis Assier-Andrieu, Une France coutumie`re. Enqueˆte sur les “usages locaux” et leur codification (XIXe–XXe sie`cles), Paris 1990; Pierre Lamaison, La diversite´ des modes de transmission: une ge´ographie tenace, in: Etudes rurales, 110/111/112 (1988), 119–175; Bernard Derouet, Pratiques successorales et rapport a` la terre: les socie´te´s paysannes d’Ancien Re´gime, in: Annales ESC, 1 (1989), 173–206. 3 On inheritance inequalities over time and continents cf. George Augustins, Comment se perpe´tuer? Devenir des ligne´es et destins des patrimoines dans les paysanneries europe´ennes, Nanterre 1989; Luigi Lorenzetti, Anne-Lise Head-Ko¨nig and Joseph Goy (eds.), Marche´s, migrations et logiques familiales dans les espaces français, canadien et suisse, 18e–20e sie`cles, Gene`ve 2005; Antoinette Fauve-Chamoux and Emiko Ochiai (eds.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th Centuries, Bern 2009.

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southern France) and re-integrating single-inheritance practices as well as gender unequal treatment.4 The situation for French Basque women in the mountains of the Western Pyrenees (the case study of this article, see map 1) differed from the rest of France because in the Old Regime, the inheritance practices of the Customs or Fors5 were in fact unequal but not gender-based, patrimony being transferred to the first-born male or female child, a system known as male or female primogeniture (aıˆnesse inte´grale). It favoured the firstborn male or female child to the detriment of younger siblings, especially women.6

Map 1: The Basque Country in Southern France includes three French provinces in the north-east of the traditional (Spain) Basque Country: Labourd, Lower Navarre (Basse-Navarre) and Soule.

With the Civil Code of 1804, these Basque Customs (and therefore unequal inheritance) were abolished. Research shows, however, that old unequal treatment continued and new gender inequalities emerged, especially affecting the youngest sisters, as elsewhere in southern France.7 In reaction, some Basque women developed 4 The egalitarian laws of 1804 took time to be enforced, hence prevailing gender inequalities. Cf. Ge´rard Bouchard, John A. Dickinson and Joseph Goy (eds.), Les Exclus de la terre en France et au Que´bec, XVIIe–XXe sie`cles. La reproduction familiale dans la diffe´rence, Sillery 1998; Martine Segalen and Georges Ravis-Giordani, Les cadets, Paris 1994. 5 On the three Basque Customs cf. Coutumes ge´ne´rales, garde´es et observe´es au Paı¨s et baillage de Labourt, et reffort d’icelui, Bordeaux 1760; Jean Goyhenetche, For et coutumes de Basse-Navarre, Bayonne 1985; Michel Grosclaude, La Coutume de la Soule. Traduction, notes et commentaires, Saint-E´tienne-de-Baı¨gorry 1993; as for the Bearn Customs cf. Christian Desplat (ed.), Le For de Be´arn d’Henri II d’Albret (1551), Pau 1986. 6 For comparative studies on Pyrenean Customs cf. Alain Fouge`res, Les Droits de famille et les successions au Pays Basque et en Be´arn d’apre`s les anciens textes, Bergerac 1938; Anne Zink, L’He´ritier de la maison. Ge´ographie coutumie`re du Sud-Ouest de la France sous l’Ancien Re´gime, Paris 1993. 7 Inheritance inequalities prevailed in Bearn after the Revolution. Cf. Christine Lacanette-Pommel, La famille dans les Pyre´ne´es. De la coutume au Code Napole´on, Estadens 2003.

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strategies of empowerment by adapting to the new law in an attempt to acquire greater rights and powers. Some even took advantage of the new employment opportunities in towns, cities (as Paris) and overseas (as the Americas) in order to improve their status and reduce gender inequalities. In the United States – the land of individualism – they were under Common Law, which imposed patriarchal authority and free devolution. Though Basque women there became dependent upon their fathers’ or husbands’ willingness to grant them property rights, they showed adaptability and flexibility by developing new strategies of empowerment (through co-ownership and citizenship for instance), which at times outreached those of their sisters who never emigrated. In the course of the past 250 years, Basque men and women have thus been exposed to various legal systems regarding inheritance, depending on the places, the time period and the laws implemented locally. Research further indicates that over time the women may have circumvented some gender inequalities by adapting to the succession laws in place and using them in their advantage.

1.

Sources and Methods

The following analysis is based on material from three different research projects. The analysis of the ancient Basque Customs or Fors derives from the published works by Maı¨te´ Lafourcade and Anne Zink.8 These comprehensive studies based on the reconstitution of Basque devolution practices from notary records (succession documents, marriage contracts and wills) will serve as the groundwork to explain ancient family inheritance practices before the French Revolution. The data to analyse Basque devolution under the Civil Code of 1804 in France derives from my own research on Basque inheritance practices since 1800.9 It is based on the study of 120 genealogies which comprise 120 couples (20 in six villages: Sare, Les Aldudes, Mendive, Alçay, Isturits and Amendeuix) who married between 1800 and 1820, their 567 children and their 1,039 grand children. It uses civil registers (E´tat civil), inheritance registrations (Enregistrement), land records (Cadastre), and marriage contracts of the selected population from 1800 until 2000.10 The computerised data allowed a gendered analysis of inheritance practices in the French Basque Country after

8 Cf. Maı¨te´ Lafourcade, Mariages en Labourd sous l’Ancien Re´gime. Les contrats de mariage du pays de Labourd sous le re`gne de Louis XVI, Bilbao 1989. Cf. Zink, L’He´ritier de la maison, see note 6. 9 For more details on the project and the methodology cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Succession strategies in the Pyrenees in the 19th century: The Basque case, in: The History of the Family, 10, 3 (2005), 271–292. 10 The civil registers comprise birth, marriage and death records. The Enregistrement combines all notary documents: marriage contracts, inheritance arrangements, testaments and donations. Finally, the Cadastre identifies the location, nature, size and evolution of individual properties.

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the implementation of the Civil Code, focusing on the question of how these practices affected women’s destinies. Finally, the study on Basque women’s inheritance practices in the United States derives from genealogies of Basque families who settled in California in the period between 1880 and 1940.11 The data are part of a larger research project I am conducting on French immigration into California based on 240 genealogies over three generations: the immigrant men and women, their parents and their 740 children, using six US censuses (from 1880 to 1940), civil registers (births and marriages records), naturalisation records and inheritance registrations (probate records) of Kern County, California.12 The data drawn from these three research projects will show that in the past 250 years, some Basque women have successively been confronted to various legal systems: the unequal Customs, then the egalitarian laws of the Civil Code and finally the free-tochoose legal system of California’s Common Law. This article adopts a gender perspective because it is the most effective way to draw conclusions on inequalities between male and female siblings of the same or different birth ranks. More importantly, it demonstrates how across times, places and spaces Basque women used their own resources and capabilities to resist inequalities, adapt to the laws and at times (but not always) acquire greater powers and status (empowerment).13

2.

Basque Women and the Customs in the Old Regime

Contrary to the rest of France where Old Regime laws were patriarchal perpetuating gender inequalities in the form of male primogeniture or land partition between sons,14 the Basque Customs guaranteed gender equality at equal birth rank. According to the Customs (and Maı¨te´ Lafourcade and Anne Zink’s research work), first-born daughters had the same rights as first-born sons, a strict male or female primogeniture (aıˆnesse inte´grale), which secured the transmission of the family’s house and land to the first11 For more details on the project and the methodology cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Mixed Marriages among French Immigrants in Southern California, 1880–1950, in: Luminit‚a Duma˘nescu, Daniela Maˆrza and Marius Eppel (eds.), Intermarriage throughout History, Newcastle upon Tyne 2014, 426–450. 12 The site www.ancestry.com was used to complete the missing data. 13 On the gender approach cf., among others, Joan W. Scott, De l’utilite´ du genre, Paris 2012; Françoise The´baud, Ecrire l’histoire des femmes et du genre, Lyon 2007. 14 France generally protected men’s rights by imposing either male primogeniture as in central, southern and eastern France or equal male partition as in Brittany and Normandy. Cf. Ge´rard Be´aur, Land Transmission and Inheritance Practices in France During the Ancien Re´gime: Differences of Degree or Kind?, in: David R. Green and Alastair Owens (eds.), Family Welfare. Gender, Property, and Inheritance since the Seventeenth Century, Westport, CO 2004, 31–46; Martine Segalen, Quinze ge´ne´rations de bas bretons: parente´ et socie´te´ dans le pays bigouden sud (1720–1980), Paris 1985.

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born child regardless of gender.15 The Customs thus enforced equal rights, status and treatment between first-born sons and daughters,16 but unequal rights, status and treatment between younger sons and daughters. They imposed single inheritance through the male (patrilineal) or the female (matrilineal) line depending on the sex of the first-born child. While the first-born child inherited the larger part of the family assets (the house and land) upon marriage, the other children were only entitled to the le´gitime, the smaller part of the family assets which farmers acquired during their marriage and later partitioned between the younger children. Among these acquisitions, there was the spouse’s dowry which was cash money automatically absorbed into the house upon the heir’s or heiress’ marriage and used to compensate departing younger siblings.17 Historiography indicates that Basque families had three surviving adult children on average in the eighteenth century. The first-born (male or female) child inherited the farm and land when he or she married a person of the same social (endogamy) and professional group (homogamy), the second-born child (no matter the sex) received a dowry in order to marry a local heir or heiress of the same socio-professional group as well,18 and the third-born child, no matter the sex, received no compensation and was forced to a life of service and celibacy in the family farm under the authority of first the parents and later the first-born brother or sister who had married into the house. Though ill-treated, the youngest children, male or female, had some rights and decision power over the house, known as the droit de chaise.19 The heir or heiress could not legally circumvent the clauses which granted the youngest siblings the right to live, work and die in the family house (fully taken care of), and to approve or disapprove any decision affecting the house and the land attached to it. The first-born male or female children thus benefited the most from the Customs as heirs or heiresses. They became coseigneurs with the parents upon marriage and were secured heirship and headship of the house and land. They thus acquired equal decision power and equal status with the parents (maıˆtres anciens).20 In return for these privileges, however, they had obligations, the most important one being cohabitation with the parents and unmarried siblings through life.21 This was a household form known as the 15 Cf. Zink, L’He´ritier de la maison, see note 6, 107–117. 16 The first-born children, male or female, became heirs upon marriage unless they were unfit (poor health, mental incapacity, incompatibility of character). Cf. Lafourcade, Mariages en Labourd, see note 8, 47–53. 17 Lafourcade, Mariages en Labourd, see note 8, 68–70. 18 Families practiced endogamy and homogamy (marriages within the same social, economic and professional group). Cf. Lafourcade, Mariages en Labourd, see note 8, 108–110. 19 The droit de chaise was younger unmarried siblings’ rights to live and die in the house because they received no inheritance. In addition, heirs and heiresses could not sell family assets without celibate siblings’ consent. Cf. Zink, L’He´ritier de la maison, see note 6, 160–175. 20 Lafourcade, Mariages en Labourd, see note 8, 140–144. 21 Cf. Zink, L’He´ritier de la maison, see note 6, 191–196.

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stem family system (famille souche), first identified by Fre´de´rick Le Play, who defined this complex household form as one comprising two married couples, one at each generation (parents and the married heir or heiress) and their respective unmarried children, all living under the same roof.22 The young heir or heiress (maıˆtre/maıˆtresse jeune) thus had legal powers but also great responsibilities, those of caring for the farm dwellers (aging parents and unmarried siblings) and transmitting the house and land intact to the next generation.23 The law was thus written to protect farm holdings with the purpose of perpetuating family lineage and securing the economic and demographic viability of farms and communities. To make up for inequalities, communities’ common land was made available to the landless younger sons, who herded sheep for their family and themselves. In the process, they could raise their own revenues. Thus, all legal clauses of the Customs intended to secure continuity and perpetuity to families, farms and communities through single inheritance, benefitting the firstborn child, no matter the sex, to the detriment of the younger siblings, especially the younger women. These women were indeed treated most unequally and suffered greater discrimination because contrary to the younger brothers who could herd sheep for their own benefits, they were confined to house chores with no possibility to accumulate wealth of their own. Unequal treatment between children of different ranks was thus institutionalised in the Customs and enforced by families for the perpetuity of their farm and their line. These practices lasted until the French Revolution which abolished all privileges, including the Customs, on 4 August 1789 and imposed equal inheritance laws. Did the Civil Code of 1804 successfully impose egalitarian inheritance laws and abolish gender inequalities?

3.

Basque Women and the Civil Code of 1804

It was Napoleon I’s design to unify his empire by imposing equality in front of the law. On the issue of inheritance, he imposed equal gender and birth-rank treatment, making it illegal to transfer patrimony to one child without compensating the other siblings. From then on, family assets had to be equally divided between all the children so that each child, no matter their sex and birth-rank, enjoyed an equal share of the family inheritance. However, the negative effect of equal partition was that it could endanger farm holdings (as they became smaller and smaller at each generation), their viability (as they eventually became too small to support a family) and the economic and demographic equilibrium of communities (with too many people and not enough land to 22 Cf. Fre´de´ric Le Play, L’Organisation de la famille selon le vrai mode`le signale´ par l’histoire de toutes les races et de tous les temps, Paris 1871; Fre´de´ric Le Play, La Re´forme sociale en France de´duite de l’observation compare´e des peuples europe´ens, 3 vols., Paris 1878. 23 Lafourcade, Mariages en Labourd, see note 8, 54–57, 140–144.

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feed everyone).24 Despite Napoleon’s efficient administration, it took time before the law was implemented. And this gave time for families to elaborate new adaptation and circumvention strategies. Data indicate that across the nineteenth century the ancient Basque practices of single inheritance and the stem-family remained in place.25 The law nonetheless required that, while one child could collect the family farm and land, the excluded children were to be compensated for their shares of the inheritance. This could be costly and burdensome for families. Devolution negotiations turned into a lifetime collective bargaining process between siblings. In the end, families managed to perpetuate single inheritance and the stem-family system despite the law, but in the process, new inequalities emerged, some of which affected women more than men.26

3.1

Inequalities Between Heirs, Heiresses and Their Spouses

Family reconstitution data indicate that the Civil Code transformed Basque devolution practices over time and that at first glance, the new practices increasingly favoured daughters. Indeed, in the first half of the nineteenth century, the majority of heirs were first-born children (52.2 %), but among these, there were more women (55.6 %) than men (44.4 %). In the same way among the 47.8 % of the younger children who took over the farm, there were more heiresses (51.5 %) than heirs (48.5 %). Research thus shows that even when the law and practices changed, single inheritance prevailed and it did not discriminate against women. These changes evolved even further in the second half of the century when only 38.7 % of the single heirs/heiresses were first-born. Among them, nearly two thirds were heiresses (65.1 %) and one third heirs (34.9 %). Finally, among the younger siblings (cadets) who took over the farm (61.3 %) half were women and half were men.27 As the data show, families in the second half of the nineteenth century did not discriminate against women, 55.9 % of the selected heirs being women, a phenomenon

24 Single inheritance was institutionalised for farm holdings to remain in place from one generation to the next. Land was never partitioned in order to allow the same number of people to survive on the same amount of land and thus avoid economic crisis, rural exodus and massive migration. 25 Cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, The Stem Family in the French Basque Country: Sare in the Nineteenth Century, in: Journal of Family History, 1 (1997), 50–69; ibid., Gender and Well-being in the Pyrenean Stem Family System, in: Bernard Harris, Lina Ga´lvez and Helena Machado (eds.), Gender and Well-being in Europe. Historical and Contemporary Perspectives, London 2009, 85–102. 26 Cf. also Andre´ Etchelecou, Transition de´mographique et syste`me coutumier dans les Pyre´ne´es occidentales, Paris 1991, among others. 27 Cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Pyrenean Marriage Strategies in the Nineteenth Century: the French Basque Case, in: International Review of Social History, 50 (2005), 93–122.

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that was observed in other parts of France in the same period, as in Cantal.28 Research also indicates that not only were first-born daughters not discriminated against but younger daughters as well. Practices thus evolved over time to become more flexible, so that parents selected more often daughters to assume heirship and headship, and these women could be first-born or younger daughters. In order to secure headship, all children, no matter their sex, were trained to assume responsibilities as possible heirs, heiresses, heirs’/heiresses’ spouses. In the process these children acquired financial resources and professional and educational capabilities to manage farming at home and/ or other businesses in towns and in the American continent (and the United States in particular). By contrast fewer and fewer first-born and younger sons took over heirship and headship although they were trained to do so. Instead they chose other destinies. Several reasons explain parents choosing daughters as heiresses. First, sons had other options and better economic opportunities in local villages, French cities or in the Americas, especially after 1840.29 Indeed, first-born sons entitled to become heirs seemed to refuse headship and heirship because the position required late marriages (after siblings’ departure from the house). Instead they envisioned earlier marriages in the vicinity, celibacy at home, priesthood, or preferably emigration to the Americas.30 Second, sons resented the idea that the new law no longer guaranteed them full ownership of family assets, and certainly not upon marriage (as under the Customs). They had to wait until both parents died and all siblings were compensated and gone to assume full heirship and headship. This could take a lifetime, and there was the risk that they were unable to find the money to avoid partition. As a result, sons opted for departure, and daughters (first-born or younger) sometimes became the only option available for passing on inheritance. Contrary to the men, the women were willing to assume these responsibilities. It was an honourable position, better than a marriage with an heir, an exogamous marriage (outside their socio-professional group) or celibacy. In addition, farmers perceived daughters as more docile and reliable, accepting subordination and the role of carers for aging parents more willingly than their brothers. 28 On Cantal (Central France) cf. Rose Duroux, Temporary Male Migration and Female Power in a Stem-Family Society: the Case of 19th Century Auvergne, in: Green/Owens, Family Welfare, see note 14, 47–71. Regarding Bearn cf. Lacanette-Pommel, La famille dans les Pyre´ne´es, see note 7; on the Baronnies cf. Rolande Bonnain-Dulon, Migration, exclusion et solidarite´s: les bigourdans a` Buenos Aires au XIXe sie`cle, in: Bouchard/Dickinson/Goy, Les Exclus, see note 4, 271–290; on Esparros cf. Antoinette Fauve-Chamoux, Le fonctionnement de la famille-souche dans les Baronnies des Pyre´ne´es avant 1914, in: Annales de De´mographie Historique (1987), 241–262. 29 French Basque men’s emigration to the Americas began in 1840 but intensified after 1860, a pattern women followed twenty years later. See discussion later in the paper. 30 Cf. also Marie-Pierre Arrizabalaga, Gender and Migration in the Pyrenees in the Nineteenth Century: Gender-Differentiated Patterns and Destinies, in: Beatrice Moring (ed.), Female Economic Strategies in the Modern World, London 2012, 127–144; Marie-Pierre Arrizabalaga, Roˆles et statuts des femmes dans les socie´te´s pyre´ne´ennes: le Pays Basque aux XIXe–XXe sie`cles, in: Nelly Valsangiacomo and Luigi Lorenzetti (eds.), Donne e Lavoro. Prospettive per una storia delle montagne europee, XVIII–XX secc., Milano 2010, 296–318.

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Finally, the fact that sons tended to be more critical of authority might have been a third reason for more female inheritance.31 Daughters more readily accepted parents’ authority and their demand for a marriage with a man of similar social and professional background (endogamy and homogamy). Devolution under the Civil Code may appear equal as heirs or heiresses were forced to compensate all their siblings for their equal shares of the inheritance. However, the data show that there were prevailing inequalities between heirs and heiresses. Marriage contracts indicate that gender apparently did not matter. Heirs and heiresses each received one quarter extra share of the assets as a dowry upon marriage,32 provided the chosen spouse was of the same socio-economic background and brought into the marriage a dowry also worth a quarter of the assets. These gifts guaranteed the young couple the control over half of the assets upon marriage (half from the heir or heiress and half from the spouse). Until their parents died, they had to acquire the rest of the assets to which the siblings were entitled.33 It was in the course of these negotiations that new gender inequalities emerged. In the first half of the nineteenth century, sons-in-law and daughters-in-law suffered unequal treatment, their dowry being absorbed into the house but with no property compensation (which was illegal). In the second half of the century, however, sons-in-law forced full property rights over the land acquired with their dowry (as the law required) while daughters-in-law only owned their dowry through life and not the land that was acquired with it (which was illegal). Heiresses and their husbands thus became legal co-owners and co-managers of the house and land with equal status while heirs and their wives did not, the latter having a subordinate status in the house.34 In order to circumvent inequalities, heiresses sometimes managed to ignore parental and spousal authority by choosing to marry late (after parents’ death) and a man of lower status (a sharecropper perhaps), a man so happy to marry into a propertied family that he abode by his wife’s demand to withhold his rights to co-ownership over the assets acquired with his dowry.35 Thus, the sons and daughters who assumed heirship and headship indeed enjoyed equal rights but not equal status in the house. While heirs 31 In other parts of France, inheritance systems were less favourable to women. Cf. notes 2 and 3. 32 This quarter “extra share” allowed donors to favour any of the children outside the larger share (75 %) to be equally divided between all siblings. 33 According to article 916 of the Civil Code, partition upon parents’ death took place in the following way: after the quarter extra share was attributed to the heir or heiress, 75 % of the assets remained. When there were three children, each child was entitled to 25 %. With four children, each portion amounted to 19 %; with five children, to 15 % etc. 34 Cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Negotiating Inheritance in the Western Pyrenees in the Nineteenth Century. Gender Differentiated Treatment and Destinies, in: Margareth Lanzinger, Janine Maegraith, Siglinde Clementi, Ellinor Forster and Christian Hagen (eds.), Stipulating – Litigating – Mediating. Negotiations of Gender and Property, Leiden 2020 (forthcoming). 35 These men lived a life of servitude and subordination as shown in Pierre Bourdieu, Le bal des ce´libataires. Crise de la socie´te´ paysanne en Be´arn, Paris 2002.

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assumed full ownership and authority on the farm after their parents’ death, heiresses often had to share headship with their parents first and then with their husbands. Similarly, sons-in-law and daughters-in-law did enjoy equal rights to live, work and die in their spouses’ houses, but sons-in-law gained property rights over their wives’ inherited assets in a way daughters-in-law never could. The only time when heiresses and heirs’ wives enjoyed full power in the house was when their husbands died young, after the older heirs had already passed away and – in the case of heirs’ wives – before the next generation heir or heiress took over, thus a temporary position. Therefore, women’s status as heiresses seemed favourable and equal to men’s under the Civil Code, but in reality they had to share power in the house in a way men did not. How were the excluded siblings treated?

3.2

Inequalities Between Excluded Sons and Daughters

Inequalities were even more visible when analysing the way heirs or heiresses compensated siblings for their shares of the inheritance. As indicated earlier, dowries of heirs’ or heiresses’ spouses were helpful in the transactions necessary to acquire full ownership of the family assets. Indeed, dowries were used to acquire one or several shares of the inheritance. However, compensations were unequal depending on gender, brothers being given better shares than sisters. Excluded brothers often received a “decent” compensation in the form of a lower cash payment in advance of succession. These lower compensations were attributed when male siblings departed permanently from the house as young adults and after they signed a written statement to never demand additional retribution for the remainder of their legal share. While some of the excluded and/or departed brothers were treated more fairly and used their share of the inheritance to marry into a local propertied family within the same social (endogamy) and professional (homogamy) group or to go to the Americas, the sisters were treated more unequally, especially the youngest, who sometimes received nothing. In addition, the data show that the men had greater cash money in their possession to marry decently or envision a better future abroad than their sisters. This was due to the fact that prior to marriage or emigration the men had the opportunity to work and save their own money (as sheepherders for instance), something which the women rarely could because their activities were limited to house chores.36 As a consequence, excluded sons had better destinies than their excluded sisters. With their savings and their early inheritance portion, they could marry local heiresses of similar status (endogamy and homogamy) or settle in the American continent in proper conditions. By contrast, the women who did not marry heirs (the youngest sisters generally) were rarely compensated for their share of the inheritance. With no dowry, they remained celibate or 36 On issues related to excluded children and their destinies in other parts of Europe cf. note 4.

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married landless farmers in the village. Others settled in cities where some had lower destinies.37 While some married urban artisans or civil servants and maintained their status through exogamous marriages (outside their professional group), others experienced downward social mobility as celibate servants in cities, refusing marriage outside their professional group and/or lower marriages in their village.38 Without money, these younger women could not afford emigration, unless they accepted their brothers’ call to move to the Americas.39 The latter paid the passage across the Atlantic and welcomed their sisters in their homes where the women had to help with house chores until they found a job or married. The example of the M. family illustrates the above arguments on unequal gender treatment in inheritance practices. Martin M. and Magdeleine married in 1802. Magdeleine, as first-born daughter, inherited her parents’ seventeen-hectare property, and Martin (the son of a propertied family with twelve hectares) brought a 1000-franc dowry into the marriage. This was a homogamous marriage (within the same socioprofessional group). Because the couple only had three children, all were treated fairly equally. Jean, the first-born son, inherited the family assets when in 1830 he married Marie, whose dowry worth 1,000 francs was used to compensate Jean’s siblings. As ancient practices prevailed, their marriage was homogamous. Jean-Etienne, the secondborn son, was compensated for his share of the inheritance when in 1854 he married Marianne, the daughter of a local propertied farmer (homogamy). They then emigrated to Latin America. Marie, the third-born daughter, was also compensated in 1844 upon her marriage with Jean-Baptiste D., a propertied shoemaker in the city of Bayonne. They also later emigrated to Latin America. Unlike to her brothers, Marie’s marriage was exogamous because she married outside her professional group in the city where she was employed in the service sector before marriage. Although the three children had different destinies, they all maintained their social status, each receiving their legal portion of the inheritance. This changed in the next generation because Jean had a larger family (eight children). While in the previous generation Jean received half and his siblings a quarter of the assets, Jean’s eight children were each entitled to 9.4 % of the assets (except the heir who additionally received the quarter extra share worth 25 %). However, the sons did better than the daughters. 37 Cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Celibacy and Gender Inequalities in the Pyrenees in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Tindara Addabo, Marie-Pierre Arrizabalaga, Cristina Borderias and Alastair Owens (eds.), Gender Inequalities, Households and the Production of Well-Being in Modern Europe, London 2010, 219–234. 38 On Basque women’s destinies in cities cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, Destins de femmes dans les Pyre´ne´es au XIXe sie`cle: le cas basque, in: Annales de De´mographie Historique, 2 (2006), 135–170; Marie-Pierre Arrizabalaga, Basque women and urban migration in the 19th century, in: The History of the Family, 10, 2 (2005), 99–117. 39 Cf. Johanna Leinonen and Donna R. Gabaccia, Migrant Gender Imbalance and Marriage Choices: Evidence from the United States, Canada, the United Kingdom, Sweden and Norway, 1860–1910, in: L’Homme. Z. F. G., 25, 1 (2014), 31–50.

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Jean’s sons married into propertied families (homogamous marriages for Se´bastien, his fourth-born single heir, and Jean, his sixth-born son) or emigrated to Latin America (for Jean, his second-born son, and Jean-Etienne, his third-born son). Jean’s daughters, in contrast, did not do so well, being deprived of compensation when they married. Dominiquette (his first-born daughter) married a landless farmer’s son (Martin Q.). Jeanne-Marie ( Jean’s eighth-born daughter) married a propertied farmer’s son (Pierre D.) who became a landless farmer. The two other daughters, Marie, fifth-born, and Catherine, seventh-born, also experienced downward social mobility as they remained celibate in cities (in Bayonne and Bordeaux, respectively), probably refusing exogamous marriages. Thus single inheritance was perpetuated as Se´bastien, Jean’s fourth-born son, married a propertied family’s daughter and inherited the family property. His brothers accepted their smaller compensation in advancement to their succession for emigration to Buenos Aires. By contrast, his sisters accepted down-marriages or celibacy, resulting in their downward social mobility. Many Basque women thus were unequally treated and had lower destinies than their brothers. These conditions seemed to be accepted for the sake of the family house and its lineage. Apparently, none of the children dared or managed to force partition and therefore the sale of the family assets in order to cash their legal share of the inheritance. In any case, they had to wait until both parents died to be paid off their full portion (9.4 % only) and by then, they were older and had made a life for themselves. Thus, some ancient inheritance practices seemed to prevail over the Civil Code and personal interests. Around the turn of the twentieth century, however, Basque women avoided lower destinies because many accepted emigration to the Americas (to California in particular) where male relatives had earlier settled and were willing to pay for the fare across the Atlantic. Once there, the women tried to marry well and to fare better than most of their sisters at home.

4.

Basque Women and California’s Common Law

French Basques settled in California after 1850 when the gold rush began. Before then, many had moved to Latin America (Argentina, Uruguay, Mexico and Cuba, among other destinations).40 Most of them originated from rural villages and hoped to acquire cheap land to perpetuate their lifestyle. Those who emigrated to California after 1860 wished to herd sheep to then acquire vast lands in the American West. Many became cattle raisers and/or farmers in places such as Kern County, California, and called upon

40 William A. Douglass and Jon Bilbao, Amerikanuak. Basques in the new world, Reno, NV 2005.

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their brothers, sisters, nieces and nephews to join them, thus forming communities where women played a role in the development of the family businesses.41 In California, French Basques were subject to the Common Law, according to which devolution depended on patrimonial regimes and/or wills. These legal acts gave individuals the complete liberty to transfer assets to whoever they wanted. Without a patrimonial regime contract which determined what each spouse owned personally and shared together, married women had limited rights and powers. They only owned their personal and inherited patrimony (their dowry, personal property and other personal effects). They were not entitled to their husband’s personal wealth and to the profits made during the marriage, except the house they lived in, the couples’ savings, personal objects used daily in their home and the assets attributed to the spouse by will.42 Basque women, however, acquired extensive devolution rights in California because their patrimonial agreements clearly outlined the patrimonial succession clauses after death or in the case of a divorce. In these documents, each spouse was free to decide how he or she wanted to transfer patrimony. While in France, under community agreement, a deceased person’s patrimony was divided between the spouse (50 %) and the children (50 %), in California all patrimonial wealth was transferred freely, so that it was rarely divided up equally between the spouse and the children. The data indicate that Basque women seemed to have greatly benefited from these agreements, more so than in France. More than 80 % of French couples who resided in Kern County in California between 1880 and 1940 were endogamous, that is marriages between people originating from France, and for many, from the same rural areas.43 In addition, the data show that most of the Basque couples successfully established independent family businesses. While many owned farms or ranches, others opened hotels, shops or other commercial enterprises, which they managed as couples, in the same way their parents had managed the family farm or business in France. Yet, with a patrimonial agreement, female spouses’ rights were greater than in France. According to the sources, Basque couples agreed to a patrimonial regime known as “joint tenancy” with the right of survivorship. This legal contract indicated that, upon one of the spouses’ death, the joint patrimony was transferred to the surviving one who became the sole legal owner of the deceased person’s shares of the business with the sole legal right to dispose of or sell 41 On Basque women’s destinies in the American continent cf. Marie-Pierre Arrizabalaga, L’e´migration des pyre´ne´ennes en Ame´rique du Nord aux XIXe–XXe sie`cles, in: Histoire sociale – Social History, 40, 80 (2007), edited by Marie-Pierre Arrizabalaga, 269–295; Marie-Pierre Arrizabalaga, Les femmes pyre´ne´ennes et l’e´migration transatlantique aux XIXe et XXe sie`cles: une re´alite´ mal connue, in: Natacha Lillo and Philippe Rygiel (eds.), Rapports sociaux de sexe et migrations, Paris 2006, 59–70. 42 For basic information on marriage law according to California’s Common Law cf. https://www.e ducaloi.qc.ca/en/capsules/matrimonial-regimes-rules-managing-and-dividing-property, access: 30 November 2019. 43 For Basque endogamous marriages cf. Arrizabalaga, Mixed Marriages, see note 11, 426–450.

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the property as he or she wished, even when there was a will. Thus, the property identified in the joint tenancy agreement was tied to the co-signers of the contract and could never be contested by others (including the children). Couples could also write a will to which their children were entitled, but this document concerned assets other than the joint tenancy. Thus, the data show that French Basque women greatly benefited from California law. Other circumstances explain why the power of French Basque women expanded in California. The family reconstitution data indicate that, among these couples, the husbands were on average nine years older than their wives. As a consequence, the women often became widows at a young age (in their forties or fifties sometimes). According to the US censuses of 1930 and 1940, these widows were always provided for upon their husbands’ death. They often declared themselves as sole owners of the property they earlier had in common with their husband as joint tenants and therefore co-owners and co-managers. In the end, the women owned their homes and/or farms, ranches, hotels, shops or other businesses, some of which were of considerable value (several thousand dollars). As sole owners, they could dispose of the property in their own free will and for their own benefits. Upon their husbands’ death, they often decided to sign a joint tenant agreement with one or several of their adult children to engage them into the partnership, so that they could later take over the family business. In these cases, the censuses indicated that the parents/widow and the children (some being married) lived together as stem families, showing that French Basque families reproduced the same household forms as in France. Later, upon the widows’ death, the surviving joint tenant(s) (one or several children) exclusively acquired all assets outlined in the agreement to the detriment to their other siblings.44 The assets outside of the tenancy may then be attributed to anyone by will, benefiting the other children (those excluded from the joint tenancy). By this process, some form of single inheritance was perpetuated in California with or without compensation for the excluded siblings. Grace E.’s genealogy can illustrate the above arguments. Grace was born in Anhaux in 1894, in a family of six children. As a younger daughter, she did not inherit the family house and farm. In order to avoid downward social mobility, she migrated to California in 1914 where fellow countrymen had settled down. For four years, she worked for Jean I. who originated from her hometown and owned the Franco American hotel in Tehachapi (Kern County, California). She then married Jean E., a Basque immigrant from Saint-Etienne-de-Baı¨gorry and a sheep ranger who had established himself here, together with his uncle. In 1929, the couple bought the Commercial Hotel and in 1931 the Noriega Hotel which they managed together as joint tenants. When her husband 44 Marie-Pierre Arrizabalaga, Des Françai(se)s naturalise´(e)s ame´ricain(e)s. Quel he´ritage français au cœur de la Californie depuis 1880?, in: Claire Bourhis-Mariotti, François Pernot and E´ric Vial (eds.), L’Homo americanus: des Ame´rindiens a` Donald Trump, en passant par les pe`lerins du Mayflower et John Wayne …, Montreuil 2020, 118–150.

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passed away in 1933, Grace owned and managed the hotel alone while raising her four children. By 1939, some 25 years after immigration, Grace felt integrated enough to apply for US citizenship. While her two oldest daughters (Mary and Jennie) married Basque men born in California who fared well as cattle raisers, Grace associated her two sons, Albert and Louis, to the family business as joint tenants, so that when she died, the two sons managed the hotel together. Louis got his wife, Janice, involved in the business. When he died in 1979, his wife and Albert ran the business together as joint tenants. Eventually, Albert, a celibate, died in 1988, and Janice became the sole owner and manager of the hotel. She then associated her two daughters to the business, Rachelle and Linda, who are currently running the hotel as joint tenants and co-owners. Thus, the data on devolution practices in California between 1880 and 1940 indicate that Basque women acquired new rights in California, some which they could not have enjoyed in France. Many became equal partners and associates with their husbands. As joint tenants, the couple managed the business together. Before 1920, women had a subordinate status because their activities and personal wealth were subject to marital consent. In addition, when their husbands became US citizens, they acquired their husbands’ citizenship whether they wanted it or not. After 1920, however, with the nineteenth amendment to the Constitution, these women who had become US citizens by marriage could vote. And after 1922, with the Cable Act, those who were still French citizens could apply for citizenship in their own free will and in their own name.45 And they did (as Grace) so that they could vote and feel integrated in the local society. All in all, the data indicate that 80 % of the French in the study became US citizens upon or after marriage. Yet, it was the joint tenant agreement which empowered the Basque women residing in California. Some of these women owned sizable properties and businesses which, as widows, they run alone or (if they chose so) with one or several children who lived in their houses as stem families. Thus, French Basques seemed to successfully perpetuate some traditional succession practices, securing the protection of the surviving spouse’s interests and later transmitting the family business to one child, male or female (some form of single inheritance as in the Basque Country). The data clearly show that women were not discriminated against. They worked hard with their husbands in order to build family businesses, some of which became very profitable. As a result, both gained in status, powers and wealth, higher ones than those of the heir or heiress who took over the family farm in France. This might have encouraged further Basque female emigration to California after 1880.

45 On the issue of women, immigration and citizenship cf. (among other publications) Martha Gardner, The Qualities of a Citizen. Women, Immigration, and Citizenship, 1870–1965, Princeton, NJ 2005.

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5.

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Conclusion

In the Old Regime, Basque inheritance practices were not differentiated by gender but by birth rank. The first-born male or female child had the highest status because he or she inherited all family assets. The other children were treated more poorly, no matter the sex, the second-born marrying into a propertied family and the third remaining celibate at home. With the Civil Code of 1804, Napoleon I wished to abolish gender and birth rank inequalities. In the Basque Country, however, new inequalities emerged, some affecting women more so than men and the youngest sisters in particular. Indeed sons had better opportunities besides inheritance, and some took their shares of the inheritance to marry into propertied families of equal status or migrate to the Americas (where they generally fared well). More daughters assumed heirship and headship than sons, thus giving the impression that they gained status with the new law. In reality, they were treated unequally compared to their male counterparts, having to share ownership with their parents first and their husbands later. Some women managed to get around this discrimination by marrying late and choosing a man of lower status. Yet more women than men had to assume the difficult responsibility of transmitting the family assets intact to the next generation and caring for their aging parents. The younger sisters were most discriminated against as many experienced lower social mobility due to celibacy or lower marriage (in the village or in cities). To avoid lower destinies, some opted for exogamy, especially in cities. Yet, by the end of the nineteenth century, many joined their brothers (or other relatives) settled in California, married Basque settlers there, and often fared well. There, they often gained in status and powers as they married propertied men, became co-managers of the family business as joint tenants, and later sole owners of their husbands’ wealth as widows. Their status improved even further as they became US citizens and US voters after 1920. With time, this position was perhaps better than that of an heiress in France. This might have encouraged other Basque women to emigrate to the United States after 1880.

Lena Radauer und Maren Ro¨ger

Mobilität und Ordnung. Eine Rechts- und Gesellschaftsgeschichte deutsch-russländischer Eheschließungen von 1875–19261

1913 u¨bersandte das Generalkonsulat Moskau dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg eine russische Zeitungsvero¨ffentlichung, in der die rechtlichen Bestimmungen fu¨r Eheschließungen im deutschen Kaiserreich scharf kritisiert wurden.2 Seitdem 1875 in Deutschland die Zivilehe eingefu¨hrt worden war, mussten Paare zuerst vor den Standesbeamten treten, bevor sie sich den religio¨sen Segen fu¨r ihre Verbindung holen konnten. Dies galt auch fu¨r die rund eine Million im Kaiserreich lebenden Ausla¨nderInnen, darunter UntertanInnen des zaristischen Russlands, die an dritter Stelle der Einwanderungsstatistik standen.3 Da selbst Paare, bei denen beide russla¨ndische Staatsbu¨rgerInnen waren, auf zivilrechtlichem Weg getraut werden mussten, sah die Zeitung „Golos Moskvy“ die Wu¨rde der im Kaiserreich lebenden Russla¨nderInnen mit Fu¨ßen getreten. Mit imperialem Gestus antwortete das konservative russische Blatt auf die administrativen Ordnungen im deutschen Kaiserreich, die neben der stetig anwachsenden Gruppe der MigrantInnen insbesondere transnationale Paare vor die Herausforderung stellten, bei ihrer Ehe – von der Schließung bis nach einer potenziellen Auflo¨sung – durch die Rechtssysteme beider Herkunftsstaaten zu navigieren.4 Der Beitrag fokussiert die Eherechte im Deutschen und im Russla¨ndischen Reich in ihren transnationalen administrativen und individuellen Folgen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre, als beide Gesellschaften durch Migration und Krieg eng verflochten waren und sich folglich Paare vermehrt zu grenzu¨berschreitenden Ehen entschlossen. Er beleuchtet die Herausforderungen, die fu¨r die Rechts- und 1 In Anlehnung an den russischen Sprachgebrauch wird in dem vorliegenden Beitrag das Adjektiv „russla¨ndisch“ genutzt, wenn von Institutionen oder dort lebenden Personen die Rede ist, wohingegen „russisch“ in sprachlich-kulturellem Sinn verstanden wird. ¨ bersetzung von Golos Moskvy, 279, 4/17. 12. 1913, in: Geheimes Staatsarchiv Preußi2 Deutsche U scher Kulturbesitz (GStA PK), I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11899. 3 Zahlen nach Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Go¨ttingen 2005, 313. Die Millionenmarke war nach 1900 u¨berschritten. ¨ ber die Folgen von Migration auf Geschlechterbeziehungen vgl. Edith Saurer, Liebe und Arbeit. 4 U Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Margareth Lanzinger, Wien/Ko¨ln/ Weimar 2014, 119ff.

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Verwaltungssysteme durch Prozesse der „Durchstaatlichung“5 zum einen und durch perso¨nliche Mobilita¨t zum anderen entstanden, die unterschiedlichen und teils widerspru¨chlichen nationalstaatlichen und imperialen Prinzipien folgten.6 Gleichzeitig lotet der Aufsatz potenzielle Konsequenzen der intermarriage fu¨r die Einzelnen aus. Damit ko¨nnen sowohl die Bedeutung des Zivilrechts fu¨r Individuen insgesamt als auch geschlechtsspezifische Vor- und Nachteile herausgestellt werden, wobei der Verlust der Staatsbu¨rgerschaft beziehungsweise das Pha¨nomen der Staatenlosigkeit als Folge eines grenzu¨berschreitenden Lebenswandels u¨berwiegend Frauen traf.7 Anfangspunkt der Untersuchung ist die Einfu¨hrung der Zivilehe im deutschen Kaiserreich; Endpunkt das Jahr 1926, als das neue sowjetische Familiengesetzbuch die Praxis der rechtlichen Eheschließung unterminierte, indem die Kohabitation der Ehe juristisch gleichgestellt wurde. Gleichzeitig wurden mit der zunehmenden Abschottung der einzelnen Staaten in der Zwischenkriegszeit deutsch-russla¨ndische Eheschließungen erheblich erschwert. Die Grundlage bilden Gesetzestexte und ¨ berlieferungen aus deutschen und russla¨ndischen Archiven, u¨berwiegend VerwalU tungsvorga¨nge betreffs Staatsbu¨rgerschaft, wobei der komparative und verflechtungsgeschichtliche Blick u¨ber die bisherige Forschungslage hinausgeht.8 Interessiert sich die Geschichtswissenschaft schon la¨nger fu¨r die Regulierung von Staatsbu¨rgerschaft, treten die transnationalen Herausforderungen fu¨r Verwaltung und Recht seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sowie ihre Auswirkungen auf Individuen erst langsam in den Fokus.9

5 Vgl. grundlegend Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, 23. 6 Zum Kaiserreich vgl. Do¨rte Lerp, Imperiale Grenzra¨ume. Bevo¨lkerungspolitiken in Deutsch-Su¨dwestafrika und den o¨stlichen Provinzen Preußens 1884–1914, Frankfurt a. M. 2016, 47. 7 Der gegenwa¨rtige Beitrag nutzt die Begriffe der Staatsbu¨rgerschaft und -angeho¨rigkeit synonym. Vgl. Linda Edmondson, Women’s Rights, Gender and Citizenship in Tsarist Russia, 1860–1920: the Question of Difference, in: Patricia Grimshaw (Hg.), Women’s Rights and Human Rights: International Historical Perspectives, Basingstoke u. a. 2001, 153–167. Zur Staatenlosigkeit vgl. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 36 (2018): Ausgeschlossen. Staatsbu¨rgerschaft, Staatenlosigkeit und Exil, hg. von Doerte Bischoff u. Miriam Ru¨rup. 8 Fu¨r eine Behandlung von case studies u. a. auf Grundlage von Oral-History-Interviews vgl. Lena Radauer, Wedding the „Enemy“. Unions between Russian Women and „German“ Prisoners of the First World War, in: Adrienne Edgar u. Benjamin Frommer (Hg.), Intermarriage from Central Europe to Central Asia: Mixed Families in the Age of Extremes, Lincoln 2020 (in Druck), 255–280. 9 Vgl. mit Fokus auf binationale Ehen in Hinblick auf Deutschland diverse Publikationen von Christoph Lorke, mit Blick auf deutsch-osteuropa¨ische Ehen Maren Ro¨ger, Choices Made in Times of Rising Nationalism and National Socialism, Intermarriage between Germans and Eastern Europeans, 1871–1945, in: Edgar/Frommer, Intermarriage, wie Anm. 8, 281–312.

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1.

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Ehe- und Familienrecht in Deutschland und Russland 1875–1914

Ab dem 18. Jahrhundert wurde im Ehe- und Familienrecht staatliches Einheitsrecht immer wichtiger, wa¨hrend religio¨s gepra¨gte Normen zunehmend in Frage gestellt wurden. Dabei setzten die Vera¨nderungen im deutschen Kaiserreich deutlich fru¨her ein als im Zarenreich. Eine Za¨sur stellt das Jahr 1875 dar, als die deutsche Regierung die Eheschließung zur alleinigen Sache des Staates machte. Das junge Deutsche Reich bestand aus Regionen mit heterogenen Bevo¨lkerungen, in religio¨ser und ethnischer Hinsicht, in denen Eheschließungen unterschiedlich geregelt waren. So kannten die su¨ddeutschen Staaten in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts noch sozial induzierte Ehehindernisse.10 Mit dem Gesetz zur Einfu¨hrung der Zivilehe wurde die Eheschließung im gesamten Kaiserreich standardisiert. Alle, egal welcher Herkunft oder Glaubensrichtung, mussten nun zuerst vor den Standesbeamten treten, bevor sie auch religio¨sen Segen einholen konnten. Im Sinn des gegen die katholische Kirche gefu¨hrten Kulturkampfes sollte die Macht der Kirche eingeschra¨nkt und die des Staates ausgebaut werden. Das Eherecht war somit ein Element des „Vorru¨ckens des Staates in die Fla¨che“, der im Fall des deutschen Kaiserreichs sowohl nationalstaatlich, imperial als auch dem Reichsprinzip folgend, also die unterschiedlichen Bevo¨lkerungsgruppen unter einer Gesetzgebung integrierend, gedacht wurde.11 Das neue Gesetz ermo¨glichte erstmals die Eheschließung u¨ber konfessionelle und religio¨se Grenzen hinweg. Die Mo¨glichkeit fu¨r „Mischehen“, wie der zeitgeno¨ssische Begriff vor allem fu¨r interkonfessionelle und interreligio¨se, selten fu¨r interethnische Beziehungen lautete,12 wurde genutzt, wie ein deutlicher Anstieg katholisch-protestantischer und christlich-ju¨discher Ehen zeigt – insbesondere unter Angeho¨rigen der ¨ ffentlichkeit Unterschichten und des Kleinbu¨rgertums in den Großsta¨dten.13 In der O rief dies mitunter offenen Protest hervor. Ethnokulturelle Vorstellungen von der deutschen Nation hatten sich, so die Historikerin Miriam Ru¨rup, bei der Reichsgru¨ndung durchgesetzt, und die Rolle der Frauen bestand darin, „den Fortbestand zur 10 Vgl. Klaus-Ju¨rgen Matz, Pauperismus und Bevo¨lkerung. Die gesetzlichen Ehebeschra¨nkungen in den su¨ddeutschen Staaten wa¨hrend des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. 11 Vgl. Jo¨rg Ganzenmu¨ller u. Tatjana To¨nsmeyer (Hg.), Vom Vorru¨cken des Staates in die Fla¨che. Ein europa¨isches Pha¨nomen des langen 19. Jahrhunderts, Ko¨ln/Weimar/Wien 2016; Lerp, Imperiale Grenzra¨ume, wie Anm. 6, 47. 12 Erst im Nationalsozialismus wurde „Mischehe“ zum pejorativen Terminus fu¨r Eheschließungen nicht-ju¨discher Deutscher mit als ju¨disch markierten Personen. Vgl. zum Umgang mit Ausla¨nderehen im NS-Staat Maren Ro¨ger, Die Grenzen der „Volksgemeinschaft“. Deutsch-ausla¨ndische Eheschließungen 1933–1945, in: Klaus Latzel, Elissa Maila¨nder u. Frank Maubach (Hg.), Geschlechterbeziehungen und „Volksgemeinschaft“, Go¨ttingen 2018, 87–108. 13 Vgl. Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Go¨ttingen/Zu¨rich 2000, 147, 149, 154.

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homogenen Nation zu sichern“.14 Richtig deutlich wurde dies erst mit der Reform des Staatsbu¨rgerschaftsrechts 1913 und der Debatte u¨ber Eheschließungen in den Kolonien, als das Deutsche Reich – seit den 1880er-Jahren zum u¨berseeischen Imperium mutiert – eine weitreichende ethnonationale Verengung der Verehelichungsmo¨glichkeiten beschloss.15 Dass Gesetze traditionelle Geschlechterrollen festschrieben, zeigte das 1900 in Kraft getretene Bu¨rgerliche Gesetzbuch (BGB), das die privatrechtlichen Bestimmungen im Deutschen Reich vereinheitlichte. Aus den unterschiedlichen Rechtstraditionen seien dabei, so die Rechtshistorikerin Ute Gerhardt, jene ausgewa¨hlt worden, die Frauenrechte limitierten.16 Insbesondere verheiratete Frauen waren Einschra¨nkungen, wie in der Gescha¨fts- und Eigentumsfa¨higkeit, ausgesetzt.17 Nachteilig war auch das Unehelichenrecht, das den Schutz der ehelichen Familie des Mannes vor die Rechte des unehelichen Kindes stellte, gleichzeitig aber der Mutter bloß eingeschra¨nkte Handlungsfa¨higkeit zuerkannte.18 Auch in Russland waren Frauen ihren Ehema¨nnern untergeordnet und hatten ihnen beispielsweise an den Wohnort zu folgen, selbst ins Ausland.19 Dennoch fanden sie sich im Vergleich zu anderen europa¨ischen La¨ndern seit 1753 in einer verha¨ltnisma¨ßig emanzipierten rechtlichen Lage wieder. In diesem Jahr war das Recht auf eigensta¨ndigen Besitz fu¨r Ehefrauen formalisiert worden, was in erster Linie fu¨r Adelige sowie Kauffrauen relevant war, wa¨hrend unter der ba¨uerlichen Bevo¨lkerung die Gewohnheit bestand, verheirateten Frauen immerhin einen gewissen eigensta¨ndigen Besitz zuzuerkennen.20 Die Situation im Zarenreich unterschied sich zudem darin, dass die Heirat bis zum Zusammenbruch der Monarchie eine religio¨se Handlung blieb. Zwar gab der Staat Gesetze u¨ber die Praxis von Eheschließungen vor, jedoch lag die Exekutive und damit die Kontrolle bei religio¨sen Instanzen, wobei die orthodoxe Kirche eine beson-

14 Miriam Ru¨rup, Das Geschlecht der Staatenlosen. Staatenlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, in: Journal of Modern European History, 14, 3 (2016), 411–429, 414. 15 Vgl. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbu¨rgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, 47ff. 16 Vgl. Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung: Frauen im Recht, Mu¨nchen 1990, 144–148. 17 Vgl. Ute Gerhard, Die Frau als Rechtsperson – oder: Wie verschieden sind die Geschlechter? Einblicke in die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fu¨r Rechtsgeschichte, 130 (2013), 281–304, 288. 18 Vgl. Anja Armend-Traut, §§ 1615a–1615n – Nichteheliche Kinder, in: Mathias Schmoeckel (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 4: Familienrecht, Tu¨bingen 2018, 1113–1185, 1149f., insbes. 1152. 19 Ausnahme war, wenn dieser exiliert wurde. Vgl. Art. 102 in: I. D. Morduchaj-Boltovskij (Hg.), Svod Zakonov Grazˇdanskich [Bu¨rgerliches Gesetzbuch], Sankt-Peterburg 1912, Bd. 10, 11–12; Art. 853, in: ebd., Bd. 9, 101. 20 Vgl. Michelle Lamarche Marrese, The Enigma of Married Women’s Control of Property in Eighteenth-Century Russia, in: The Russian Review, 58, 3 (1999), 380–395; Barbara Alpern Engel, Women’s Rights a` la Russe, in: The Russian Review, 58, 3 (1999), 355–360, 357.

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ders ma¨chtige Position im Zarenreich innehatte.21 Die Sonderstellung der Kirche war insofern fu¨r die staatliche Einheit Russlands von Bedeutung, als religio¨se Autorita¨t – u¨ber die Orthodoxie hinaus – als Herrschaftsinstrument genutzt wurde.22 Der Einfluss der orthodoxen Kirche nahm ab der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts sogar zu und hielt auch einer in Fachkreisen immer lauter werdenden Diskussion u¨ber die Sa¨kularisierung der Ehe stand.23 Wesentlich fru¨her als im Deutschen Reich war die interreligio¨se Ehe bereits 1721 ¨ ffnung Russlands zum unter Peter dem Großen legalisiert worden, der im Sinne der O Westen Verbindungen zwischen seinen UntertanInnen und Europa¨erInnen guthieß. Das russla¨ndische Recht ermo¨glichte glaubensu¨bergreifende Verbindungen jedoch nur zwischen Angeho¨rigen bestimmter Religionen und Konfessionen: So konnten ProtestantInnen und Ju¨dInnen heiraten, KatholikInnen und Ju¨dInnen jedoch nicht. Fu¨r Anha¨ngerInnen des orthodoxen Glaubens galten grundsa¨tzlich restriktivere Bestimmungen als fu¨r Andersgla¨ubige, zum Beispiel waren ihnen interkonfessionelle Eheschließungen nur nach orthodoxer Kirchenordnung mo¨glich.24 Wa¨hrend interreligio¨se Ehen ab 1830 im gesamten Russla¨ndischen Reich mo¨glich waren, schlugen sich das unterschiedliche historische und rechtliche Erbe sowie die vielfa¨ltige ethnisch-religio¨se Zusammensetzung des Territoriums weiterhin in Abweichungen und Ausnahmen im Ehe- und Familienrecht nieder.25 Seit den 1860er-Jahren war nicht nur ein Prozess der administrativen Vereinheitlichung des Vielvo¨lkerreichs im Gang, sondern auch eine sprachlich-kulturelle Russifizierung der Bevo¨lkerung. Beim Eherecht zeigten sich jedoch durch Beibehaltung der relativ toleranten Gesetzgebung die Grenzen der Russifizierungspolitik.26

21 Vgl. Gregory L. Freeze, Bringing Order to the Russian Family: Marriage and Divorce in Imperial Russia, 1760–1860, in: Journal of Modern History, 62, 4 (1990), 709–746, 713 (Fußnote 11). Ausnahme waren die Baptisten, deren Register von staatlichen Instanzen gefu¨hrt wurden. Eheschließungen zwischen Angeho¨rigen atheistischer Volksgruppen wurden durch deren Bra¨uche geregelt. Vgl. Vladimirovicˇ Abramcumov, Problemy i kollizii bracˇnogo prava Rossijskoj Imperii (konec XIX–nacˇalo XX veka) [Probleme und Kollisionen im Eherecht des Russla¨ndischen Imperiums ˇ tenie, 1 (2013), 39–113, 44. (Ende 19.–Anfang 20. Jh.)], in: Christianskoe C 22 Vgl. Paul W. Werth, The Tsar’s Foreign Faiths: Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia, Oxford 2014, 9. 23 Vgl. Paul W. Werth, Empire, Religious Freedom, and the Legal Regulation of „Mixed“ Marriages in Russia, in: The Journal of Modern History, 80, 2 (2008), 296–331, 300. 24 Wobei fu¨r das seit 1809 zum Russla¨ndischen Reich geho¨rende protestantische Finnland eine Sonderregelung galt, vgl. Hermann Klibanski, Handbuch des gesamten russischen Zivilrechts, Berlin 1911, Bd. 1, 30–32, 38. 25 Vgl. Klibanski, Handbuch, wie Anm. 24, 41f.; Werth, Empire, wie Anm. 23, 299, 303, 305. 26 Zum Konzept der gema¨ßigten Russifizierung vgl. Andreas Kappeler, Russland als Vielvo¨lkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, Mu¨nchen 1992.

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Zwischen den Ordnungen: Rechtslage, Verwaltungspraxis und ihre Auswirkungen

Nationale Privatrechtsordnungen legten den Rahmen fu¨r Ehe und Familie fest, von der Eheschließung bis zu deren Ende, sei es durch Scheidung oder Tod. Die versta¨rkte fernra¨umliche Mobilita¨t gegen Ende des 19. Jahrhunderts fu¨hrte dazu, dass bilaterale Herausforderungen entstanden, wenn nationale Privatrechte kollidierten. Aus dem Bedu¨rfnis, durch Staatsvertra¨ge bestimmte Themenfelder des internationalen Privatrechts, unter anderem im Bereich des Familienrechts, zu regeln, konnten 1902 und 1905 sechs internationale Konventionen abgeschlossen werden. Die Vertra¨ge schrieben vor, dass das Recht des Herkunftslandes maßgeblich sein sollte, egal, wo die Ehen geschlossen oder geschieden wurden. Doch wa¨hrend Deutschland alle Konventionen ratifizierte, trug Russland nur die Regelungen u¨ber Zivilprozesse mit. Dies fu¨hrte unter anderem dazu, dass Richter in Deutschland an Scheidungsurteile binationaler Paare, die in Russland ausgestellt wurden, nicht gebunden waren, wenn diese deutsche Bestimmungen ignorierten.27 Binationale Paare befanden sich damit „zwischen den Ordnungen“ der Rechtssysteme. Im Folgenden werden wir zuerst die administrativen und rechtlichen Hu¨rden nachvollziehen, die PartnerInnen aus Deutschland und Russland u¨berwinden mussten, um miteinander die Ehe einzugehen. Danach diskutieren wir das Risiko der Ungu¨ltigkeit einer Ehe und stellen rechtliche Herausforderungen dar, die die Auflo¨sung der Ehe mit sich bringen konnten. Denn die Auswirkungen fu¨r den Einzelnen, ha¨ufiger noch die Einzelne, konnten verheerend sein. Wollten deutsche und russla¨ndische Staatsbu¨rgerInnen in Deutschland miteinander die Ehe eingehen, waren die notwendigen Schritte – je nach Geschlecht der Personen – unterschiedlich. In jedem Fall hatte der Standesbeamte zu pru¨fen, ob die Heiratswilligen rechtlich befugt waren, einander zu ehelichen, das heißt, ob sie verwandt, bereits verheiratet oder geschieden waren und ob das Recht des Herkunftslandes eine neuerliche Verma¨hlung zuließ. Insgesamt kontrollierten die Beho¨rden, ob auch den Eheschließungsgesetzen in Russland Genu¨ge getan wurde. Um Zivilehen im Einklang mit dem russla¨ndischen Recht zu schließen, bekamen deutsche Standesbeamte Instruktionen u¨ber die in Russland herrschenden Bestimmungen. Ihnen zu entsprechen war in der Praxis jedoch kompliziert, da es den deutschen Instanzen geradezu unmo¨glich war, eventuelle Ehehindernisse nach russla¨ndischem Recht festzustellen.28 Die Zeitschrift „Der Standesbeamte“ versuchte, die 27 Vgl. beispielhaft Urteil des Reichsgerichts, 4. Zivilsenat vom 19. April 1920, in: GStA PK, I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11900. 28 Zusammenstellungen u¨ber die Eheschließungsrechte der einzelnen Staaten gab es zeitgeno¨ssisch kaum. Vgl. Ludwig Schmitz u. Albert Wichmann, Die Eheerfordernisse der Ausla¨nder im Deutschen Reiche, insbesondere in Preußen. Praktisches Handbuch fu¨r Standesbeamte mit Musterbeispielen und Nachweisen, Meiderich am Niederrhein 31905, Bd. 1, Einleitung (o.S.).

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Amtstra¨ger so gut wie mo¨glich u¨ber die komplexen Rechtslagen zu informieren, doch zeugen Zuschriften davon, wie viel Unsicherheit weiterhin bestand. Als Exekutoren der „Durchstaatlichung“ standen sie ha¨ufig der Herausforderung ratlos gegenu¨ber, wie mobile Biografien in die neuen Ordnungen passen konnten. Ausla¨nderInnen mussten sich dem Preußischen Ehegesetz von 1854 zufolge vom Heimatland attestieren lassen, dass keine Ehehindernisse bestanden. Diese Vorschrift, die 1899 fu¨r das ganze Kaiserreich affirmiert wurde, bereitete vielen grenzu¨berschreitenden Paaren dieser Zeit Schwierigkeiten.29 Es kam vor, dass eine Antwort der Heimatbeho¨rde ausblieb, den Anwa¨rterInnen die finanziellen Mittel fehlten, um internationale Beho¨rdenkorrespondenz zu betreiben, oder das Recht des Herkunftslandes derlei „Ehefa¨higkeitszeugnisse“ nicht kannte. Im Russla¨ndischen Reich gab es zuna¨chst keine Instanzen, um Eheerlaubnisse fu¨r ausla¨ndische Beho¨rden auszustellen: Staatliche Organe waren unbefugt, die orthodoxe Kirche stellte sich quer. Transnationalen Paaren blieb lediglich die Mo¨glichkeit, individuelle Ausnahmen zu erwirken. Ansuchen um eine Befreiung vom Ehefa¨higkeitszeugnis wurden dann beim zusta¨ndigen Regierungspra¨sidenten im deutschen Kaiserreich eingebracht und von den Justizministern entschieden. Erfolgte eine Ablehnung, kam das de facto einem Eheverbot gleich. Die staatlichen Rechtsprechungen, die u¨berall ausgeweitet wurden, hielten mit der fernra¨umlichen Mobilita¨t nicht mit. Erst 1902 gelang es, eine Lo¨sung fu¨r diese rechtliche Inkompatibilita¨t zu finden: Die jeweilige Kirchengemeinde, die fu¨r den im Ausland lebenden russla¨ndischen Staatsbu¨rger zuletzt in seiner Heimat zusta¨ndig gewesen war, wurde dazu bestimmt, die no¨tigen Dokumente auszustellen.30 Die Umsetzung der Anweisung zog sich bis 1908. Obwohl rechtliche Unklarheiten fortbestanden, galt dieses russla¨ndisch-deutsche Abkommen als internationaler Durchbruch. Der Ablauf bestand fortan darin, dass der im Ausland lebende Russla¨nder beziehungsweise die Russla¨nderin in seiner/ihrer Kirchengemeinde das no¨tige Zeugnis anforderte, welches an die russla¨ndische Botschaft in Deutschland u¨bergeben wurde, die wiederum das von den deutschen Beho¨rden geforderte Dokument ausstellte. Erst dann konnte die standesamtliche Eheschließung durchgefu¨hrt werden. Weiterhin galt die Heirat in Russland allerdings nur in Verbindung mit einer kirchlichen Zeremonie als rechtsgu¨ltig. Das Russla¨ndische Reich war 1871 zuna¨chst unter jenen Staaten gewesen, deren Staatsbu¨rgerInnen von der Beibringung von Ehebefa¨higungszeugnissen befreit worden waren. 1889 wurde diese Erleichterung jedoch im Zuge der Kampagne Otto von 29 Vgl. Lorke, „Die schwierigste Aufgabe im ganzen Standesamtsbetrieb“, in: Meike Sophia Baader, Petra Go¨tte u. Wolfgang Gippert (Hg.), Migration und Familie. Historische und aktuelle Analysen, Wiesbaden 2017, 277–291. Vgl. auch weitere Publikationen von Lorke aus dem Kontext seines einschla¨gigen Habilitationsprojekts an der Universita¨t Mu¨nster. 30 Vgl. Valentina Aleksandrovna Veremenko, Dvorjanskaja sem’ja i gosudarstvennaja politika Rossii (vtoraja polovina XIX – nacˇalo XX v.) [Die ho¨fische Familie und die Staatspolitik Russlands (zweite Ha¨lfte 19. bis Anfang 20. Jh.)], Sankt-Peterburg 2009, 42f.

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Bismarcks gegen „Reichsfeinde“ zuru¨ckgezogen, um Zuwanderung unattraktiver zu machen und Ausweisungen zu vereinfachen.31 Insgesamt wurden in der Folge ca. 32.000 russla¨ndische Staatsbu¨rgerInnen aus dem deutschen Reichsgebiet deportiert.32 Das Ministerium fu¨r A¨ußere Angelegenheiten des Zarenreichs kritisierte die Abschiebung von aus Russland stammenden Personen, die fu¨r Deutschland keine politische Gefahr darstellten, darunter verarmte Witwen und Frauen, die von ihren russla¨ndischen Ehema¨nnern getrennt lebten.33 Russland ging im Gegenzug dazu u¨ber, vormals preußischen Ehefrauen ausgewiesener russla¨ndischer Staatsbu¨rger die Einreise zu verweigern. Laut dem Historiker Eli Nathans war diese Reaktion auf die Umsta¨nde ihrer Eheschließungen nach nicht-russla¨ndischen Normen zuru¨ckzufu¨hren.34 So unterschiedlich die nationale Politik beider Imperien war, es vereinte sie, dass beide Staaten an Frauen ein Exempel statuierten und sie so zu Verliererinnen politischer Aushandlungsprozesse machten. Wesentlicher geschlechtsspezifischer Unterschied war, dass Frauen durch intermarriage in der Regel in ihrem Herkunftsland zu Ausla¨nderinnen wurden.35 Da sowohl im Russla¨ndischen als auch im Deutschen Reich das Staatsbu¨rgerschaftsrecht patrilinear war, wurde Frauen im Fall transnationaler Eheschließungen die Staatsbu¨rgerschaft ihres Ehemannes u¨bertragen: Ausla¨ndische Frauen wurden bei der Eheschließung mit deutschen Ma¨nnern ebenfalls zu Bu¨rgerinnen des Kaiserreichs, deutsche Frauen hingegen verloren ihre Staatsbu¨rgerschaft, wenn sie einen Ausla¨nder heirateten.36 Doch auch die Praxis der Denaturalisierung, also des Verlusts der Staatsbu¨rgerschaft, brachte Unterschiede in den nationalen Rechtslagen hervor, die wiederum in erster Linie Frauen negativ betrafen. Nicht eindeutig war die Antwort auf die Frage, ob eine russla¨ndische Staatsbu¨rgerin, die einen Ausla¨nder nach den Vorgaben seines Herkunftslandes (also z. B. mittels Zivilehe) ehelichte, ohne kirchliche Trauung nach russla¨ndischem Recht ihre Staatsbu¨rgerschaft verlieren wu¨rde. Obwohl einige Juristen das Gesetz affirmativ deuteten, galten diese Frauen in der Praxis in Russland als unverheiratet und damit weiterhin als russla¨ndische Untertaninnen.37 Effektiv kam dies einer doppelten Staatsbu¨rgerschaft gleich. Ihre Kinder galten im Zarenreich als un31 Vgl. Eli Nathans, The Politics of Citizenship in Germany: Ethnicity, Utility and Nationalism, New York 2004, 154. 32 Vgl. Eric Lohr, Russian Citizenship. From Empire to Soviet Union, Cambridge, MA/London 2012, 63. 33 Archiv Vnesˇnej Politiki Rossijskoj Imperii, f. 137 op. 475 d. 97 (1886) l. 99–100, in: Lohr, Russian Citizenship, wie Anm. 32, 65. 34 Vgl. Nathans, Politics, wie Anm. 31, 154. 35 Vgl. Andreas Fahrmeir, Staatsangeho¨rigkeit und Exil im 19. Jahrhundert, in: Exilforschung, wie Anm. 7, 24–34, 31. 36 Vgl. Wilhelm Cahn, Das Reichsgesetz u¨ber die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und Staatsangeho¨rigkeit vom 1. Juni 1870, Berlin 31908, 10f.; Oliver Trevisiol, Die Einbu¨rgerungspraxis im Deutschen Reich 1871–1945, Go¨ttingen 2006. 37 Vgl. Veremenko, Dvorjanskaja sem’ja, wie Anm. 30, 37f.

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ehelich, was negative Auswirkungen auf das Erbrecht hatte. Da die Ehe zwischen ausla¨ndischen Staatsbu¨rgerInnen nach deren nationalem Recht sehr wohl in Russland anerkannt wurde, konnte der Wechsel der Staatsbu¨rgerschaft vor der Eheschließung einen Ausweg bieten, ein ebenfalls komplizierter Prozess. Sofern eine transnationale Ehe in Russland anerkannt wurde, erhielten ausla¨ndische Frauen, die sich mit einem russla¨ndischen Untertanen verma¨hlten, in Folge der Gesetzeslage ohne weiteres Zutun dessen Staatsbu¨rgerschaft. Auch im Fall einer Scheidung oder des Ablebens des Ehemannes konnten sie die russla¨ndische Staatsbu¨rgerschaft beibehalten.38 Geschiedene oder verwitwete Russla¨nderinnen, die bei der Eheschließung mit einem Ausla¨nder ihre Staatsangeho¨rigkeit aufgeben mussten, bekamen diese – im Gegensatz zu ehemals deutschen Frauen, bei denen es manchmal komplizierter wurde – auf einfachen Antrag zuru¨ck.39 Selbst ihre Kinder hatten das Recht, ab dem Zeitpunkt ihrer Vollja¨hrigkeit die russla¨ndische Staatsbu¨rgerschaft anzunehmen.40 Ungu¨nstig war jedoch die Situation ausla¨ndischer Frauen, die russla¨ndische Untertanen in Zivilehe und damit auf in Russland nicht anerkanntem Weg ehelichten, da sie ihre urspru¨ngliche Staatsbu¨rgerschaft dadurch zwar verloren, ihnen die russla¨ndische Staatsbu¨rgerschaft aber nicht zuerkannt wurde.41 Da eine Eheschließung im deutschen Kaiserreich – so war die rechtliche Vorgabe – auch dem Landesrecht im Herkunftsland des Partners standhalten musste, war die deutsche Regierung seit Einfu¨hrung der Zivilehe 1875 im Dialog mit russla¨ndischen Instanzen aktiv um eine Lo¨sung bemu¨ht.42 Die Gefahr der Staatenlosigkeit von Frauen infolge transnationaler Eheschließungen war jedoch als Pha¨nomen nicht ha¨ufig genug, um großes Interesse zu wecken, und blieb unbeachtet, bis sich 1905 der International Council of Women des Themas annahm.43 Wa¨hrend russla¨ndische Beho¨rden in Kauf nahmen, dass mit Ausla¨ndern nach deren Vorgaben verheiratete Staatsbu¨rgerinnen sowohl im Herkunftsland des Ehepartners als auch in Russland als Inla¨nderinnen galten, blieb im deutschen Kaiserreich noch bei der Aushandlung des Reichs- und Staatsangeho¨rigkeitsrechts von 1913 die Option einer Doppelstaatsbu¨rgerschaft fu¨r transnational verheiratete Frauen 38 Vgl. Art. 855, in: Morduchaj-Boltovskij, Svod, wie Anm. 19, Bd. 9, 101. ¨ bersetzung Bd. IX 39 Vgl. Art. 853, in: Morduchaj-Boltovskij, Svod, wie Anm. 19, Bd. 9, 101; vgl. U der Gesetzessammlung, in: BArch B: R 901/35409. 40 Vgl. Art. 1027 des Gesetzes vom 10. 2. 1864, aus: Nikolaj Michajlovicˇ Korkunov, Ukorenie inostrancev i prekrasˇcˇenie poddanstva [Die Einbu¨rgerung von Ausla¨ndern und die Beendigung der Staatsbu¨rgerschaft], in: ders., Sbornik Statej. Obsˇcˇie voprosy prava. Istorija prava. Gosudarstvennoe pravo. Mezˇdunarodnoe pravo [Aufsatzsammlung. Allgemeine Rechtsfragen. Rechtsgeschichte. Staatliches Recht. Internationales Recht], Sankt-Peterburg 1898, 322–361, 324. 41 Zum Problem der Staatenlosigkeit vgl. Kathrin Kollmeier, Staatenlos in einer staatlich geordneten Welt. Eine politische Signatur des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Souvera¨nita¨t, Menschenrechten und Zugeho¨rigkeit, in: Neue Politische Literatur, 57 (2012), 49–66. 42 Vgl. Rossijskij Gosudarstvennyj Istoricˇeskij Archiv (RGIA), f. 821 op. 10 d. 635, 674, 707, zit. nach: Veremenko, Dvorjanskaja sem’ja, wie Anm. 30, 38–42; vgl. auch Abramcumov, Problemy, wie Anm. 21, 39–113, 85–88. 43 Ru¨rup, Das Geschlecht, wie Anm. 14, 414.

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ebenso tabu wie ein Ehepaar mit unterschiedlicher Staatsangeho¨rigkeit.44 Das Russla¨ndische Reich ero¨ffnete den Individuen noch deutlich mehr Spielra¨ume, das deutsche Kaiserreich hingegen schottete sich zunehmend nationalstaatlich ab und bot selbst der zahlenma¨ßig kleinen Gruppe der transnational Verheirateten keine Mano¨vrierra¨ume jenseits des Bina¨rcodes der Nationalstaatlichkeit. Wollte eine Frau ihre deutsche Staatsbu¨rgerschaft nicht aufgeben, musste der Partner sich um Naturalisierung in Deutschland bemu¨hen. Die Chancen osteuropa¨ischer Ma¨nner, insbesondere ju¨dischen Glaubens, standen schlecht. Im Kaiserreich und versta¨rkt in der Weimarer Republik formierte sich Widerstand gegen den Zuzug osteuropa¨ischer Juden, die als Bedrohung der deutschen Nation wahrgenommen wurden.45 Die zunehmend restriktive Einbu¨rgerungspolitik Preußens innerhalb des deutschen Kaiserreichs wurde auch den anderen deutschen Staaten aufgezwungen; die Einbu¨rgerungszahlen zwischen 1870 und den 1890er-Jahren blieben trotz dreifacher Zuwanderung konstant.46 Schwammige Kriterien fu¨r die Einbu¨rgerung ließen den Beho¨rden große Spielra¨ume. Laut Nathans’ Studie stellte der Wunsch, eine preußische Frau zu heiraten, den Hauptgrund fu¨r Ausla¨nder dar, um um Einbu¨rgerung zu ersuchen. Die meisten Antragssteller waren russla¨ndische Staatsbu¨rger.47 Mitunter sollte die Erlangung der deutschen Staatsbu¨rgerschaft auch die Auflo¨sung einer Ehe ermo¨glichen, da im zaristischen Reich auch die Ehescheidung fest in den Ha¨nden der Kirche lag, die u¨ber solche Ansuchen mit gro¨ßter Strenge entschied.48

2.

Politisierung und Normalisierung: Deutsch-russländische Ehen zur Zeit des Ersten Weltkrieges

Ehen u¨ber nationale Grenzen verkomplizierten sich weiter, als der Erste Weltkrieg begann. Russland war in der Behandlung von „enemy aliens“ besonders hart und ging selbst gegen russla¨ndische Staatsbu¨rger mit deutschen Wurzeln vor. Deutschland war ebenfalls unter den Staaten, die im Lauf des Ersten Weltkrieges Angeho¨rige verfeindeter Staaten inhaftierten, die auf ihrem Staatsterritorium lebten.49 Dass auch fru¨here eigene Staatsangeho¨rige durch intermarriage zu Ausla¨nderinnen und damit zu Angeho¨rigen feindlicher Staaten wurden, ist ein wenig beachteter Aspekt. Zudem traten vermehrt Schwierigkeiten fu¨r Personen aus dem o¨stlichen Europa auf, Ehefa¨higkeitszeugnisse aus ihren Heimatla¨ndern zu erlangen, um eine Ehe in Deutschland einzugehen. Das Preußische Justizministerium sah zwar die humanita¨ren 44 45 46 47 48 49

Ru¨rup, Das Geschlecht, wie Anm. 14, 417f. Gosewinkel, Schutz, wie Anm. 15, 46, 186. Nathans, Politics, wie Anm. 31, 139, 142. Nathans, Politics, wie Anm. 31, 154. Vgl. Freeze, Bringing Order, wie Anm. 21, 733–744. Vgl. Fahrmeir, Staatsangeho¨rigkeit, wie Anm. 35, 32; Gosewinkel, Schutz, wie Anm. 15, 115–134.

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Herausforderungen, insbesondere im Fall von Kindern, die nicht legalisiert werden konnten, positionierte sich 1916 aber dennoch dagegen, „die Eheschließung russischer Staatsangeho¨riger mit deutschen Bra¨uten […] zu erleichtern“.50 Bereits im Folgejahr musste der Minister seine politisch motivierte Auffassung revidieren, „da die Erschwerung der Eheschließung fu¨r die zahlreichen im Inlande befindlichen Russen Mißsta¨nde in sittlicher Hinsicht zur Folge hatte“.51 Frauen sollten aber, wie sowieso vorgeschrieben, explizit auf den Verlust ihrer deutschen Staatsangeho¨rigkeit hingewiesen werden. Zu der stetig wachsenden Anzahl an Russla¨ndern und Russla¨nderinnen im Deutschen Reich schon vor dem Ersten Weltkrieg kamen nun u¨ber eine Million russla¨ndische Kriegsgefangene ins Kaiserreich.52 Auf der anderen Seite der Front gerieten 168.000 Deutsche im Zarenreich in Gewahrsam.53 Bei Abschluss der großfla¨chigen Repatriierungsmaßnahmen befanden sich 1921/22 noch circa 1.500 ehemalige kriegssowie zivilgefangene Deutsche in Russland, wa¨hrend zwischen 12.500 und 19.500 russla¨ndische Kriegsgefangene in Deutschland verblieben.54 Perso¨nliche Gru¨nde u¨berwogen zumeist politische, wenn Personen nicht in die Heimat zuru¨ckkehren wollten.55 Kriegsgefangene durften Ehen nur mit Einwilligung der Lagerleitung eingehen, die den Auftrag hatte, die Zahl „tunlichst zu beschra¨nken, da selten […] festgestellt werden kann, ob der Gefangene nicht bereits in Rußland verheiratet ist“.56 1920 aber fasste der Innenminister zusammen, dass „in vielen Fa¨llen Eheschließungen russischer, noch nicht aus der Gefangenschaft entlassener Kriegsgefangener mit deutschen Ma¨dchen von den Standesa¨mtern vollzogen worden sind, ohne daß die Lagerdirektion hiervon vorher Kenntnis erhalten und ihre Genehmigung zur Eheschließung erteilt hatte“.57 Die Naturalisierungsakten geben Einblick, welch wichtige Rolle der Heiratswunsch der Kriegsgefangenen bei der Entscheidung u¨ber den Einbu¨rgerungsantrag spielte.58 Im Gewahrsamsstaat Russland machte sich bei der Behandlung seiner Kriegsgefangenen die panslawische Idee bemerkbar, was insgesamt als Abkehr von einer an 50 GStA PK, I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11900. Vgl. auch die weitere Korrespondenz. 51 GStA PK, I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11900. 52 Die Anzahl russla¨ndischer Staatsangeho¨riger im Deutschen Reich stieg laut offizieller Statistiken von 46.967 im Jahr 1900 in zehn Jahren auf 137.697. Vgl. Kaiserliches Statistisches Amt (Hg.), Statistisches Jahrbuch fu¨r das Deutsche Reich 34, Berlin 1913, 12; Reinhard Nachtigal, Zur Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, in: Milita¨rgeschichtliche Zeitschrift, 67, 2 (2008), 345–384, 351, 354. 53 Nachtigal, Anzahl, wie Anm. 52, 366. 54 Vgl. Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacij (GARF) f. r-3333 op. 3 d. 317 l. 388; Johannes Baur, Zwischen „Roten“ und „Weißen“ – Russische Kriegsgefangene in Deutschland nach 1918, in: Karl Schlo¨gel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941, Berlin 1995, 93–108, 98. 55 Baur, Zwischen „Roten“, wie Anm. 54, 103. 56 BArch Potsdam 15.01, 12396, 102, zit. nach: Baur, Zwischen „Roten“, wie Anm. 54, 73. 57 GStA PK, I HA Rep. 77 Ministerium des Innern Tit. 227, Nr. 68, Bd. 7. 58 GStA PK, I HA Rep. 77 Ministerium des Innern Tit. 227, Nr. 68, Bd. 6; ebd., Bd. 7, Bl. 74.

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religio¨sen Zugeho¨rigkeiten ausgerichteten Nationalita¨tenpolitik und als eine Sta¨rkung von ethnisch-nationalen Kriterien gewertet werden kann. Gema¨ß einem Privilegiensystem war es zuna¨chst Slawen – darunter auch solchen deutscher Staatsbu¨rgerschaft – ab Mitte 1917 erlaubt, russla¨ndische Frauen zu ehelichen.59 Ihre Ansuchen wurden einzeln gepru¨ft und setzten voraus, dass die Kriegsgefangenen eine Einnahmequelle sowie einen Bu¨rgen vorweisen konnten und gewillt waren, die russla¨ndische Staatsbu¨rgerschaft anzunehmen. Zudem war eine schriftliche Einwilligung der Braut vonno¨ten. Fu¨r nicht-slawische Kriegsgefangene konnten im Fall einer Schwangerschaft individuelle Ausnahmen vom Verbot der Eheschließung gewa¨hrt werden.60 Jedoch zeigten sich die Grenzen der Durchstaatlichung darin, dass das Eheverbot auf lokaler Ebene umgangen werden konnte, wovon katholische Kirchenbu¨cher zeugen.61 Anfang 1918 wurde unter der neuen bolschewistischen Regierung das Recht auf Eheschließungen zwischen Kriegsgefangenen und russla¨ndischen Frauen auf alle Nationalita¨ten erweitert.62 Doch in der Umsetzung wurde die neue Richtlinie ungenu¨gend an regionale Beho¨rden kommuniziert, sodass die o¨rtlichen Abteilungen des Zentralkomitees fu¨r Kriegsgefangene und Flu¨chtlinge (Centroplenbezˇ), deren Erlaubnis fu¨r Eheschließungen von Kriegsgefangenen unerla¨sslich war, weiterhin im Unklaren u¨ber die herrschenden Bestimmungen waren.63 Neben besagter Erlaubnis mussten Kriegsgefangene eine Reihe an Dokumenten fu¨r eine Eheschließung vorlegen, so die Unterschrift der Brauteltern, dass keine Einwa¨nde gegen die Ehe bestanden, und eine Besta¨tigung, dass der Bra¨utigam Junggeselle war.64 Allerdings befanden sich nicht alle Kriegsgefangenen im Zusta¨ndigkeitsbereich der bolschewistischen Regierung. In weiten Gebieten Russlands dauerte der Bu¨rgerkrieg an, womit ein Teil der Kriegsgefangenen noch bis 1922 wechselnden Ma¨chten unterstand. Unter dem pro-zaristischen Machthaber Alexander Kolcˇak waren etwa noch Mitte 1919 Eheschließungen lediglich Kriegsgefangenen slawischer Herkunft erlaubt, ¨ berfu¨hrung die damit ihre Loyalita¨t zu Russland unter Beweis stellen konnten.65 Die U deutscher Kriegsgefangener in die russla¨ndische Staatsbu¨rgerschaft war unter der Regierung Kolcˇaks nicht vorgesehen.66

59 Permskij Vestnik Vremennogo Pravitel’stva [Permer Anzeiger der Provisorischen Regierung], 16. 6. 1917; vgl. Reinhard Nachtigal, Privilegiensystem und Zwangsrekrutierung. Russische ¨ sterreich-Ungarn, in: Jochen Oltmer Nationalita¨tenpolitik gegenu¨ber Kriegsgefangenen aus O (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, 167–193. 60 GARF f. r-200 op. 1 d. 643 l. 39–39 ob.; GARF f. r-3333 op. 3 d. 326 l. 51–56 ob. 61 Vgl. Elena Glavatskaya u. Iulia Borovik, Death and Marriage. World War I Catholic Prisoners in the Urals, in: Transylvanian Review, 24, 4 (2016), 28–40, 38. 62 GARF f. r-393 op. 1 d. 66 l. 22. 63 Vgl. GARF f. r-3333 op. 3 d. 539 l. 48, 72. 64 GARF f. r-3333 op. 3 d. 539 l. 73–75. 65 GARF f. r-200 op. 1 d. 643 l. 38–39 ob.; GARF f. r-200 op. 1 d. 642 l. 334. 66 GARF f. r-200 op. 1 d. 643 l. 3, 12.

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Die Repatriierung der Kriegsgefangenen bescha¨ftigte die russla¨ndische Regierung bis 1921 und war ein Kernthema der sowjetischen Emigrationspolitik.67 Einheimischen Ehefrauen ausla¨ndischer Kriegsgefangener, wie generell Familien ausla¨ndischer Staatsbu¨rger, war es erlaubt, aus Russland auszureisen, solange sie u¨ber korrekte Dokumente verfu¨gten.68 Um aber zu vermeiden, dass derartige Ehen lediglich zum Zwecke der Emigration eingegangen wurden, wurde spa¨ter die Klausel hinzugefu¨gt, dass die Ehe mindestens sechs Monate Bestand gehabt haben musste.69 Ebenso kehrten russla¨ndische Staatsbu¨rger aus der Kriegsgefangenschaft mit ausla¨ndischen Ehefrauen heim. Geha¨uft trat das Pha¨nomen auf, dass deutsche Frauen ihren Ehema¨nnern nach Russland folgten, wo sie von ihnen dann verlassen wurden.70 Diese mittellosen Frauen, die sich oft ohne Sprachkenntnisse in einem ihnen fremden Land wiederfanden, bescha¨ftigten die russla¨ndischen Beho¨rden in erster Linie aus Sorge vor Spionageakten, wa¨hrend die Frage ihrer Staatsbu¨rgerschaft nicht auftaucht.71

3.

Europa nach 1918 – Neuordnung der Geschlechterverhältnisse und transnationaler Eheschließungen?

Die Bolschewiki begannen unmittelbar nach ihrer Machtergreifung eine Transformation der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Sowjetrussland, die der Jurist Lynn Wardle als „most remarkable example of an official state effort to radically transform and de-privilege the institution of marriage in the recent centuries“ bezeichnet.72 Die auf marxistischen Idealen basierende vollsta¨ndige Umstrukturierung sollte auf die Befreiung der Frau und das „Dahinschwinden“ der Familie hinauslaufen, deren Funktionen von sozialistischen Institutionen u¨bernommen werden wu¨rden.73 Wenige Wochen nach der Oktoberrevolution wurde das Dekret zu Zivilehe, Kindern und der Fu¨hrung von Personenstandsbu¨chern verabschiedet, das die Eheschließung an zivile Instanzen 67 Vgl. Yuri Felshtinsky, The Legal Foundations of the Immigration and Emigration Policy of the USSR, 1917–27, in: Soviet Studies, 34, 3 (1982), 327–348, 337. 68 Ein Visum zur Einreise z. B. nach Deutschland war erforderlich. GARF f. r-3333 op. 1 d. 3 l. 139; GARF f. r-3333 op. 3 d. 317 l. 189; Felshtinsky, Legal Foundations, wie Anm. 67, 338. 69 Fa¨lle von Ehen, die ku¨rzer als sechs Monate bestanden, wurden einzeln gepru¨ft. GARF f. r-3333 op. 3 d. 317 l. 237; vgl. GARF f. r-3333 op. 1 d. 3 l. 139. 70 GARF f. r-3333 op. 3 d. 317 l. 174. 71 Wenn die deutsche Herkunft der Ehefrauen eindeutig festgestellt werden konnte, wurden diese in ihre Heimat zuru¨ckgefu¨hrt. Vgl. GARF f. r-3333 op. 3 d. 326 l. 25; GARF f. r-3333 op. 3 d. 317 l. 174. 72 Lynn D. Wardle, The „Withering Away“ of Marriage: Some Lessons from the Bolshevik Family Law Reforms in Russia, 1917–1926, in: The Georgetown Journal of Law & Public Policy, 2, 2 (2004), 469–522, 470. 73 So laut dem Titel von Wardles Aufsatz: The „Withering Away“, wie Anm. 72.

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u¨bertrug.74 Die Registrierung von Ehen wurde damit aus den Ha¨nden der Kirche genommen, wobei die kirchliche Heirat zuna¨chst als optionaler, privater Akt fortbestand. Zu bedenken gilt allerdings, dass die Bolschewiki erst 1922 die Macht u¨ber das gesamte Territorium Russlands erlangten und bis dahin in Teilen des Landes zaristische Verwaltungsstrukturen weiterhin Bestand hatten. Im Oktober 1918 wurde vom Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee ein umfangreicheres neues Familiengesetzbuch kodifiziert.75 Neben der Eheschließung und -scheidung wurden darin auch ausgesprochen progressive Bestimmungen in Bezug auf Frauenrechte, Rechte der Kinder und dem Erbrecht vorgegeben. Die gesetzliche Gleichstellung von Frau und Mann schlug sich unter anderem darin nieder, dass beide bei der Eheschließung ihren Namen aussuchen und zum Familienoberhaupt werden ¨ berdies wurden ihnen die gleichen Besitzrechte zuteil. Fu¨r transnationale konnten.76 U Paare war die Abschaffung der Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen Kindern relevant, da bislang bei der gescheiterten Anerkennung einer binationalen Ehe der Status der Kinder als außerehelich ein zentrales Problem gewesen war. Progressiv war ebenso, dass fortan beiden PartnerInnen bei der Eheschließung die Wahl ihrer Nationalita¨t freigestellt wurde.77 Sowjetrussische Staatsbu¨rgerinnen konnten demnach bei der Ehe mit Ausla¨ndern ihre Staatsbu¨rgerschaft behalten. Diese Praxis unterschied ¨ bertragung der Nasich maßgeblich von der nach internationalem Recht u¨blichen U tionalita¨t des Ehemannes auf die Frau und fu¨hrte zu ungewollten Fa¨llen von Doppelstaatsbu¨rgerschaft.78 Wa¨hrend diese fortschrittliche Rechtslage ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter bedeutete, war sie nach Meinung des Russlandhistorikers Eric Lohr von dem politischen Streben motiviert, die Anzahl sowjetischer Staatsbu¨rgerInnen anzuheben sowie die der Ausla¨nderInnen auf sowjetischem Boden niedrig zu halten.79 Gleichzeitig wurde aber auch Ausla¨nderinnen, die sowjetische Bu¨rger ehelichten, nicht la¨nger automatisch die Staatsbu¨rgerschaft des Ehemannes u¨bertragen. Wollten diese ihren Ehema¨nnern nach Russland folgen, musste beim Innenministerium ein

74 Vgl. Dekret o grazˇdanskom brake, o detjach i o vedenii knig aktov sostojanija [Dekret zu Zivilehe, Kindern und der Fu¨hrung von Personenstandsbu¨chern], Nr. 160 (18. 12. 1917). 75 Vgl. Kodeks zakonov ob aktach grazˇdanskogo sostojanija, bracˇnom, semejnom i opekunskom prave [Gesetzbuch zum Zivilstandsgesetz, Ehe-, Familien- und Vormundschaftsgesetz], Nr. 818 (22. 10. 1918). 76 Vgl. Paul Ginsborg, Familienrecht und Familienleben: Das Gesetz von 1918, in: ders., Die gefu¨hrte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900–1950, Hamburg 2014, 62–66. 77 Vgl. Art. 103, in: Kodeks zakonov ob aktach, wie Anm. 75. 78 Seit 1922 erlaubte der sogenannte Cable Act US-amerikanischen Frauen, bei der Ehe mit Ausla¨ndern ihre Staatsbu¨rgerschaft beizubehalten, jedoch nur, solange sie nicht u¨ber la¨ngere Zeit im Ausland ansa¨ssig waren – eine Einschra¨nkung, die Frauen gegenu¨ber Ma¨nnern weiterhin benachteiligte. Vgl. Nancy F. Cott, Marriage and Women’s Citizenship in the United States 1830–1934, in: The American Historical Review, 103, 5 (1998), 1440–1474, 1464f. 79 Vgl. Lohr, Russian Citizenship, wie Anm. 32, 253.

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Ansuchen um Einreiseerlaubnis gestellt werden.80 Transnationale Ehen fanden explizit erst in einem 1923 verabschiedeten Gesetzestext Erwa¨hnung, der allerdings lediglich Heiraten russla¨ndischer Staatsbu¨rger im Ausland erwa¨hnte.81 Hingegen erlaubten andere sowjetische Republiken, wie etwa die Ukraine, Ehen zwischen ihren eigenen und ausla¨ndischen Staatsbu¨rgern.82 Nach vielen Diskussionen auf lokaler Ebene trat 1926 ein radikales neues Gesetz in Kraft, das Eheschließung und -scheidung in private Abmachungen transformierte.83 Damit wurden auch Paaren in nicht offiziell registrierter Kohabitation dieselben Rechte eingera¨umt wie Ehepaaren. Die Eintragung der Ehe blieb „weiterhin im Interesse des Staates sowie der Betroffenen und bot den unanfechtbaren Beweis der Ehe, war aber forthin keine Bedingung einer Ehe“.84 Die Bedeutung der Aufwertung der Kohabitation gegenu¨ber der Ehe du¨rfte allerdings fu¨r transnationale Paare relativ gering gewesen sein. Konkret fu¨r gemischte Ehen relevant war der Beschluss, dass beide PartnerInnen nach der Heirat ihre Staatsbu¨rgerschaft behalten wu¨rden.85 Die Patrilinearita¨t des Staatsbu¨rgerschaftsrechts wurde hiermit endgu¨ltig unterminiert. Die Emigration aus Russland blieb zuna¨chst auf der Basis gemischter Ehen noch legal; im Folgejahr wurde sie dann praktisch gestoppt.86 Die Immigration nach Russland kam 1927 zu einem ja¨hen Ende, die Entwicklung ging hin zu einer Politik der Abgrenzung des Sowjetstaates.87 Weit u¨ber Russland hinaus machten sich in der Zwischenkriegszeit nationalistische Tendenzen bemerkbar, auf Basis derer Mobilita¨t zunehmend kontrolliert wurde.88 Waren die familienrechtlichen Vera¨nderungen in Sowjetrussland fundamental, blieben die Wandlungen in Deutschland u¨berschaubar, wenngleich die Position von Frauen mit dem 1918 zugestandenen Wahlrecht durchaus gesta¨rkt wurde. Trotz Kritik nationaler und internationaler Frauenrechtsorganisationen blieb das Staatsbu¨rgerschaftsrecht patrimonial. Eheschließungen u¨ber Grenzen waren damit weiterhin mit den gleichen Fallstricken behaftet. 80 Vgl. GARF f. r-3333 op. 3 d. 131 l. 31. 81 Vgl. Pravila vydacˇi zagranicˇnymi organami Narodnogo Komissariata Inostrannych Del zagranicˇnych vidov na zˇistel’stvo rossijskim grazˇdanam [Regeln zur Ausgabe von ausla¨ndischen Ausweisen an russla¨ndische Bu¨rger durch ausla¨ndische Organe des Volkskommissariats fu¨r A¨ußere Angelegenheiten], 584 (5. 6. 1923). 82 Vgl. Felshtinsky, Legal Foundations, wie Anm. 67, 346 (Fußnote 67). 83 Vgl. Kodeks zakonov o brake, sem’e i opeke [Gesetzbuch zur Ehe, Familie und Vormundschaft], 612 (19. 11. 1926); fu¨r die Diskussion vgl. Wendy Goldman, Freedom and its Consequences: The Debate on the Soviet Family Code of 1926, in: Russian History, 11 (1984), 362–388. 84 M. M. Wolff, Some Aspects of Marriage and Divorce Law in Soviet Russia, in: Modern Law Review, 12, 3 (1949), 290–296, 292. 85 Vgl. Art. 8, in: Kodeks zakonov o brake, wie Anm. 83. 86 Vgl. Felshtinsky, Legal Foundations, wie Anm. 67, 339, 342. 87 Vgl. Felshtinsky, Legal Foundations, wie Anm. 67, 336. 88 Vgl. Doerte Bischoff u. Miriam Ru¨rup, Ausgeschlossen: Staatsbu¨rgerschaft, Staatenlosigkeit und Exil. Zur Einleitung, in: Exilforschung, wie Anm. 7, 9–20, 10.

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Lediglich in den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als sich die Beschaffung no¨tiger Dokumente nach dem Zerfall der Imperien im o¨stlichen Europa fu¨r heiratswillige Einzelpersonen schwierig gestaltete, zeigten sich die Beho¨rden der Weimarer Republik bedingt hilfsbereit. Entscheidungen u¨ber die Befreiung von der Beibringung eines Ehefa¨higkeitszeugnisses wurden rascher getroffen, eingebu¨rgert wurde aber weder mehr noch leichter.89 Die im Kaiserreich angewandten Kriterien hatten weiterhin Bestand, zudem scheint mitunter in der trockenen Beho¨rdenkorrespondenz Antislawismus auf. Bereits 1919 befand der Justizminister, dass die hohen intermarriage-Zahlen von deutschen Frauen mit russla¨ndischen und polnischen Ma¨nnern „eine wenig wu¨nschenswerte Durchsetzung des deutschen Volksko¨rpers mit fremdstaatlichen Elementen“ bedeute.90 Die in der Praxis vorgenommene Hierarchisierung der Bevo¨lkerung in der Weimarer Republik nach Kriterien der Abstammung, die sich in der Gewa¨hrung oder Ablehnung von Staatsbu¨rgerschaftsantra¨gen a¨ußerte, ließ sich laut dem Migrationshistoriker Dirk Hoerder 1933 von der nationalsozialistischen Regierung nahtlos u¨bernehmen.91 Die Frauen in Deutschland historisch zugedachte Rolle, die, wie Miriam Ru¨rup anmerkt, darin bestand, „Mischehen zu verhindern“, wurde in der Weimarer Verfassung besta¨tigt, die die Ehe als Basis fu¨r die Erhaltung der Nation beschrieb.92

4.

Fazit

Bei der Betrachtung deutsch-russla¨ndischer Eheschließungen zwischen 1875 und 1926 werden die Unterschiede in Rechtslage und Politik beider La¨nder in Bezug auf die zunehmende fernra¨umliche Mobilita¨t klar, und dennoch steuerten beide La¨nder innerhalb des Untersuchungszeitraums einem a¨hnlich restriktiven Umgang mit Zuwanderung entgegen. Wa¨hrend im Deutschen Reich die interreligio¨se Ehe erst mit Einfu¨hrung der Zivilehe im Jahr 1875 zugelassen wurde, bestand diese Mo¨glichkeit im russla¨ndischen Vielvo¨lkerreich bereits u¨ber ein Jahrhundert – trotz der Vormachtstellung der orthodoxen Kirche bis zur Machtu¨bernahme durch die Bolschewiki. Ende 1917 wurde schließlich auch in Russland die Ehe zu einer sa¨kularen Handlung. Die historisch gewachsene Toleranz gegenu¨ber interreligio¨sen und mitunter auch interethnischen Ehen wurde nicht gebrochen durch Prozesse von „Durchstaatlichung“ im Russla¨ndischen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die durchaus ethnokulturell gepra¨gt waren. Hingegen trat im deutschen Kaiserreich eine ethnonationale Engfu¨hrung des 89 GStA PK, I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11901. 90 GStA PK, I HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 11900, Bl. 260. 91 Vgl. Dirk Hoerder, Geschichte der deutschen Migration. Vom Mittelalter bis heute, Mu¨nchen 2010, 97. 92 Vgl. Ru¨rup, Das Geschlecht, wie Anm. 14, 414.

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Eherechts deutlicher zutage. Dort hatte die Sa¨kularisierung der Ehe zudem keine Vereinfachung der intermarriage gebracht. Vielmehr waren transnationale Paare mit administrativen Hu¨rden konfrontiert, die insbesondere fu¨r russla¨ndische Staatsangeho¨rige aufgrund unterschiedlicher Rechtslagen schwer zu u¨berwinden waren und sie spa¨ter durch kontingente Entscheidungsmerkmale fu¨r Diskriminierung anfa¨llig machten. Die Vereinheitlichung nationaler Rechtsprechungen hielt mit der wachsenden fernra¨umlichen Mobilita¨t der Individuen nicht mit. Die Auswirkung des Privatrechts auf das Individuum zeigt sich versta¨rkt am Beispiel grenzu¨berschreitender Ehen. Einzelne gerieten zwischen die Ordnungen. Vor allem Frauen konnten zwischen die Rechtssysteme fallen, da die Staatsangeho¨rigkeitsrechte u¨ber 1918 hinaus in weiten Teilen der Welt so ausgelegt waren, dass Frauen bei einer Heirat mit Ausla¨ndern ihre urspru¨ngliche Staatsangeho¨rigkeit aufgeben und die ihres Mannes annehmen mussten. Wurde die Eheschließung aber vom anderen Staat nicht anerkannt, das Paar geschieden oder starb der Mann, drohten den Frauen beziehungsweise ihren Kindern Staatenlosigkeit und Enteignung. War die rechtliche Position der Frauen in der russla¨ndischen Gesellschaft Ma¨nnern gegenu¨ber zwar benachteiligt, insgesamt aber hinsichtlich der Eigentumsrechte sta¨rker als im Deutschen Reich, konnte die Patrilinearita¨t des Staatsbu¨rgerschaftsrechts fu¨r sie auch hier negative Folgen bergen. Russland war insofern ,großzu¨giger‘ mit Staatsbu¨rgerschaftsprivilegien, als man gewillt war, Frauen Doppelstaatsbu¨rgerschaften zu gewa¨hren, um Staatenlosigkeit zu vermeiden. Die Vermeidung sozialer Ha¨rtefa¨lle spielte eine zentrale Rolle in den Verhandlungen zur Anerkennung der in einem fremden Rechtssystem geschlossenen Ehen zwischen russla¨ndischen und deutschen Staatsbu¨rgerInnen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dennoch nahmen beide La¨nder bei internationalen politischen Verhandlungsprozessen in Kauf, dass Frauen zu ,Kollateralscha¨den‘ und in Scheidungs- oder Todesfa¨llen staatenlos wurden. Gleichzeitig ließen die vermehrt mobilen Individuen die beiden Staaten nicht von ihren patrilinearen und partiell ethnonationalen Ordnungsprinzipien abru¨cken. Wa¨hrend des Ersten Weltkrieges waren Frauen in gemischten Ehen nicht nur Ausla¨nderinnen in ihrem Herkunftsland, sondern als Angeho¨rige einer Feindnation im Krieg „enemy aliens“. Doch selbst dieser Umstand hielt deutsch-russla¨ndische Paare nicht von Eheschließungen ab, die zu Kriegszeiten auch unter Umgehung herrschender Gesetze eingegangen wurden. Erst die radikale Umgestaltung von Familie und Ehe in der Sowjetunion infolge der Oktoberrevolution befreite die Frau von dem Zwang, die Staatsbu¨rgerschaft des Mannes anzunehmen. Der Patrilinearita¨t des Staatsbu¨rgerschaftsrechts wurde zumindest im bolschewistischen Russland ein Ende gesetzt. Doch die formale Emanzipation der Frauen hinsichtlich der Staatsbu¨rgerschaftsrechte ging mit einer zunehmenden Skepsis gegenu¨ber fremdstaatlicher Pra¨senz auf dem eigenen Territorium einher, was alsbald zum Verbot transnationaler Ehen fu¨hren sollte. Hatte die zunehmende Abschottung der Sowjetunion unter Stalin verheerende Folgen auch fu¨r deut-

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sche Staatsbu¨rgerInnen in Russland, wurden in der Weimarer Republik Ausla¨nder, insbesondere aus Osteuropa, abgedra¨ngt. Mobile Personen, die u¨ber Grenzen hinweg heiraten wollten, sto¨rten dann aus anderen Gru¨nden – eben aufgrund eines ethnonationalen Wertigkeitsdenkens @ die Ordnungen.

Die Großmütter und wir: Freiwilligkeit, Feminismus und Geschlechterarrangements in der Schweiz

„Wo liegt der Unterschied zwischen uns und unseren Grossmu¨ttern?“, lautete die unbequeme Frage, mit der Ruth Marx die Leserinnen der feministischen Zeitschrift „Emanzipation“ 1987 konfrontierte.1 Sie zielte auf die Alternativkultur der Neuen Frauenbewegung mit ihrem vielseitigen Dienstleistungsangebot von Frauen fu¨r Frauen. Dazu geho¨rten Frauenzentren in allen gro¨ßeren Schweizer Sta¨dten, eine autonome feministische Presse, kulturelle Einrichtungen, Anlaufstellen und Beratungsangebote, die sozialpolitische Defizite kompensierten – von Nottelefonen fu¨r vergewaltigte Frauen u¨ber Frauenha¨user bis hin zu Informationsstellen fu¨r Opfer von Menschenhandel. Diese Projekte verdankten ihre Existenz durchwegs dem unentgeltlichen Einsatz von Freiwilligen und zehrten von deren Bereitschaft, ihr Engagement als Teil der eigenen Emanzipation und als Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel zu verstehen. Doch in den 1980erJahren verlor diese Szene an Schwung, die Zahl freiwilliger Mitarbeiterinnen nahm ab. Das provozierte unter den Aktivistinnen eine grundlegende Auseinandersetzung u¨ber Sinn und Zweck der eigenen Ta¨tigkeit. Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hatte das freiwillige Engagement angesichts der fortschreitenden Professionalisierung von sozialen Dienstleistungen? Was vermochte es zu bewirken? Hatte es u¨berhaupt das erhoffte soziale Transformationspotenzial? „Ich glaube“, meinte die eingangs zitierte Ruth Marx, „dass der wesentliche Unterschied zwischen den sozialen Ta¨tigkeiten unserer Grossmu¨tter und den Freiwilligenarbeiten in heutigen Frauenprojekten […] im Legitimationszwang liegt“. Ha¨tten Frauen ihre Ta¨tigkeiten ein halbes Jahrhundert zuvor nicht „auch nur im entferntesten“ legitimieren mu¨ssen, sei diese Selbstversta¨ndlichkeit verloren gegangen. Die Mitarbeit in Frauenprojekten wu¨rde heute mit politischen Zielen begru¨ndet. Doch ausgerechnet die Diskussion daru¨ber sei „la¨ngst eingeschlafen“. Was die politisch engagierte Erwachsenenbildnerin Ruth Marx hier anspricht, soll uns im vorliegenden Beitrag bescha¨ftigten: die feministische Politisierung der Freiwilligkeit und die schwierige Frage nach deren Konsequenzen – fu¨r das feministische ¨ berlegungen stu¨tzen sich auf Quellenmaterial Milieu und fu¨r die Gesellschaft. Unsere U 1 Hier und im Folgenden Ruth Marx, Gratisarbeit wie eh und je?, in: Emanzipation, 13, 1 (1987), 3–5, 5.

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aus der Deutschschweiz und bezwecken, Denkansto¨ße zu vermitteln und neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen. Sie sind bewusst skizzenhaft. Doch was meinen wir u¨berhaupt, wenn wir von Freiwilligkeit sprechen? Mit welchen Kategorien la¨sst sich das diffuse Feld der Freiwilligkeit analysieren, mit welchen Begriffen die Ka¨mpfe um Definitionsmacht und Deutungshoheit auf dem Gebiet des unbezahlten Engagements fassen? Freiwilligkeit ist ein schillerndes Pha¨nomen und la¨sst sich historiografisch nur schwer einfangen. Sie taucht als Praxis spontan auf, ist flu¨chtig und amorph. Dieser Eindruck steht im Widerspruch zu den Erwartungen, die an das unbezahlte Engagement herangetragen werden. Freiwilligkeit, so ein aktueller Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Forschung, solle den „sozialen Kitt in einer stark individualisierten, modernen Gesellschaft“ bilden.2 Offensichtlich besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, was Freiwillige tun, und wie ihr Handeln gedeutet wird. Ausgehend von dieser Beobachtung schlagen wir vor, Freiwilligkeit als einen Modus zu begreifen, der soziale Beziehungen zwischen Menschen regelt und die Gesellschaft ordnet. Als Verfahrensweise und Art und Weise des Seins funktioniert dieser u¨ber allta¨gliche Praktiken der freiwilligen Hilfe, die nur scheinbar spontan erfolgt. Tatsa¨chlich ist die Freiwilligkeit in Prozesse der sozialen Distinktion und gesellschaftlichen Integration eingebunden. Sie wird von Diskursen und Repra¨sentationen gerahmt, welche das unentgeltliche Engagement mit Bedeutungen aufladen, mit denen sich individuelle AkteurInnen und gro¨ßere Kollektive identifizieren ko¨nnen. Unser Beitrag setzt sich fu¨r eine solche Lesart der Freiwilligkeit ein und wa¨hlt dafu¨r eine geschlechterhistorische Herangehensweise. In einem ersten Schritt richten wir den Blick auf die Freiwilligkeit innerhalb der politischen Kultur der Schweiz. Als eigensta¨ndiger Bereich sozialer Praxis ist sie ein Pha¨nomen der Moderne, freigesetzt durch neue Formen der Vergesellschaftung, die eng mit dem Aufbau staatlicher Strukturen und mit Prozessen der sozialen Differenzierung korrespondierten. Drehpunkt dieser Entwicklung waren hochgradig vergeschlechtlichte Diskurse um Rechte und Pflichten, die Frauen und Ma¨nnern unterschiedliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten zuwiesen und so eine gesellschaftliche Arbeitsteilung konstituierten. Wie wir in einem zweiten Teil zeigen, geriet dieses Arrangement in den 1970er-Jahren in die Kritik. Insbesondere die Neue Frauenbewegung stellte institutionalisierte Gewissheiten radikal in Frage und ku¨ndigte den jahrzehntelang gu¨ltigen Gesellschaftsvertrag auf. Wir thematisieren diesen Bruch als eine Neucodierung der Freiwilligkeit, die mit Praktiken der Solidarita¨t innerhalb der feministischen Alternativkultur korrespondierte und der Freiwilligkeit eine neue Bedeutung verlieh: Freiwilligenarbeit war nicht mehr Dienst an

2 Isabelle Stadelmann-Steffen u. Anita Manatschal, Freiwilligenta¨tigkeit in Kantonen und Gemeinden. Befunde aus dem Schweizer Freiwilligen-Monitor, in: Monica Budowski, Ulrike Knobloch u. Michael Nollert (Hg.), Unbezahlt und dennoch Arbeit, Zu¨rich 2016, 207–232, 207.

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Staat und Gesellschaft, sondern ein Mittel zur Emanzipation der Frauen und zur Revolutionierung sozialer Machtverha¨ltnisse. Unser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, ein Desiderat zu beheben, sondern will eine eklatante Forschungslu¨cke kenntlich machen – nicht nur fu¨r die Schweiz. Freiwilliges Engagement fristet in der historischen Forschung ein Mauerblu¨mchendasein.3 Dieser Umstand hat System, wie die Historikerin Melanie Oppenheimer bereits 2001 konstatierte: Das Desinteresse der Geschichtswissenschaften an der Freiwilligenarbeit hat mit der Deklassierung unbezahlter (weiblicher) Ta¨tigkeiten durch das ma¨nnlich codierte Produktivita¨tsparadigma zu tun.4 In der feministischen Forschung ist diese Kritik nicht neu.5 Sie hat mittlerweile die Geschichtsschreibung in ihren Bemu¨hungen ¨ berum die Erweiterung des Arbeitsbegriffs inspiriert.6 Doch selbst in ju¨ngeren U blicksdarstellungen bleibt die Freiwilligenarbeit unberu¨cksichtigt.7 Auch die Literatur zur Geschichte der Gemeinnu¨tzigkeit und Philanthropie behandelt die Freiwilligkeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht als eigensta¨ndigen Untersuchungsgegenstand, ebenso wenig wie die um die Jahrtausendwende florierende Forschung zur Zivilgesellschaft.8 Erste Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass Studien zur Freiwilligkeit die Systemfrage neu zu stellen vermo¨gen.9 Anders als die Ka3 Eine Ausnahme bilden die Arbeiten aus dem Umfeld der Historiker Matthew Hilton und James McKay zu Großbritannien: Matthew Hilton u. James McKay (Hg.), The Ages of Voluntarism. How We Got the Big Society, Oxford 2011. Vgl. auch Nicole Kramer, Die Entwicklung des Voluntary Sector in Großbritannien und Perspektiven fu¨r die Erforschung gesellschaftlichen Wandels in den 1970er und 1980er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft, 42, 2 (2016), 326–353. 4 Vgl. Melanie Oppenheimer, „We all did voluntary work of some kind“: Voluntary Work and Labour History, in: Labour History, 81 (2001), 1–11. 5 Wegweisend Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beitra¨ge zur Berliner Sommeruniversita¨t fu¨r Frauen Juli 1976, Berlin 1977, 118–199. Vgl. auch Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik, 15 (2001): Freiwilligkeit. Wie frei – wie willig?, hg. von Luisa Gru¨nenfelder u. a. 6 Vgl. Brigitta Bernet u. Jakob Tanner (Hg.), Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz, Zu¨rich 2015; Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag, 24, 2 (2016): Arbeit in der Erweiterung, hg. von Brigitta Bernet, Juliane Schiel u. Jakob Tanner. 7 Vgl. z. B. Jo¨rn Leonard u. Willibald Steinmetz (Hg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Ko¨ln/Weimar/Wien 2016. 8 Auch das Standardwerk zur Gemeinnu¨tzigkeit in der Schweiz nimmt Freiwilligkeit nicht in den analytischen Fokus. Vgl. Beatrice Schumacher (Hg.), Freiwillig verpflichtet. Gemeinnu¨tziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800, Zu¨rich 2010. Exemplarisch zur historischen Zivilgesellschaftsforschung vgl. Ralph Jessen, Sven Reichardt u. Ansgar Klein (Hg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004; aus einer geschlechterhistorischen Perspektive: Karen Hagemann, Sonya Michel u. Gunilla Budde (Hg.), Civil Society and Gender Justice. Historical and Comparative Perspectives, New York 2008. 9 Vgl. z. B. Christine G. Kru¨ger, Dienstethos, Abenteuerlust, Bu¨rgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert, Go¨ttingen 2016; Matthias Ruoss, Die neuen Freiwilligen. Gemeinnu¨tzigkeit in der Schweiz, 1970–1990, in: Historische Zeitschrift, Beihefte 76 (2019): Freiwilligenarbeit und gemeinnu¨tzige Organisationen im Wandel. Neue Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Nicole Kramer u. Christine Kru¨ger, 153–168.

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pitalismusgeschichte, die sich bis dato nicht ganz vom Produktivita¨tsparadigma emanzipieren konnte, o¨ffnet gerade ein geschlechterhistorischer Zugang den Blick auf gesellschaftliche Regeln und Ordnungsprinzipien sowie Dynamiken der sozialen Integration. Dieser verspricht, ganz im Sinne der fru¨hen geschlechtergeschichtlichen Forschung, eine neue Lektu¨re historischer Entwicklungen, die das Potenzial hat, ga¨ngige Ordnungskategorien zu unterlaufen.10

1.

Freiwilligkeit und Geschlecht: Eine andere Geschichte von Rechten und Pflichten

Im Dezember 1945 debattierte das Schweizer Parlament einen Antrag zur Einfu¨hrung des Stimm- und Wahlrechts fu¨r Frauen, einen weiteren in der langen Reihe von Vorsto¨ßen mit derselben Forderung. Erleichtert stellte ein Mitglied der Regierung fest, dass die befu¨rwortenden Stellungnahmen der Stimmrechtsvereine „mit keinem Wort darauf angespielt haben, was das Schweizervolk den Frauen wa¨hrend des Weltkrieges zu verdanken hat, und dass wir diese Frage [das Frauenwahlrecht] unabha¨ngig von dieser Dankesschuld ruhig diskutieren du¨rfen“.11 Die ruhige Diskussion bedeutete fu¨r die Regierung, dass sie die Frage der politischen Gleichberechtigung der Frauen weiter vor sich herschieben konnte. Bis zur Einfu¨hrung des allgemeinen Erwachsenenstimmrechts im Februar 1971 sollte ein weiteres Vierteljahrhundert verstreichen.12 Diese Geschichte ist hinla¨nglich bekannt und braucht hier nicht weiter ero¨rtert zu werden. Die Ausfu¨hrungen des Bundesrates enthalten aber einige bemerkenswerte Wendungen, ¨ berlegungen zur Geschichte der Freiwilligkeit die wir zum Ausgangsprunkt fu¨r unsere U in der Schweiz nehmen wollen. So entbehrt beispielsweise der im Zitat enthaltene Widerspruch von „Schweizervolk“ und „Frauen“ nur auf den ersten Blick jeglicher Logik. Denn bei na¨herer Betrachtung bringt der Ausdruck zentrale Koordinaten in der Organisation der o¨ffentlichen Aufgaben zum Ausdruck, die auf institutionalisierten Geschlechterzuschreibungen beruhen. „Schweizervolk“ ist hier na¨mlich keineswegs in einem ethnischen Sinn zu verstehen, etwa als Bezeichnung fu¨r alle Menschen schweizerischer Nationalita¨t. Der Begriff meint vielmehr das Stimmvolk, die „Schweizerbu¨rger“ – ein Ausdruck, der selbst in der neueren Forschungsliteratur gerne in einem Wort geschrieben wird und kein Pendant findet in der Bezeichnung von

10 Vgl. Joan Kelly, Women, History and Theory. The Essays of Joan Kelly, Chicago/London 1984. 11 Bundesrat Eduard von Steiger, zit. nach: Yvonne Voegeli, Zwischen Hausrat und Rathaus. Auseinandersetzungen um die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz 1945–1971, Zu¨rich 1997, 189. 12 Vgl. Voegeli, Hausrat, wie Anm. 11; Beatrix Mesmer, Staatsbu¨rgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverba¨nde 1914–1971, Zu¨rich 2007.

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Staatsbu¨rgerInnen anderer La¨nder.13 Weder gibt es Franzosenbu¨rger noch Deutschbu¨rger oder gar Britenbu¨rger. Bei den Komposita „Schweizervolk“ und „Schweizerbu¨rger“, die im politischen Diskurs bis heute gerne mit „dem Souvera¨n“ gleichgesetzt werden, handelt es sich begrifflich und semantisch vielmehr um schweizerische Besonderheiten, die bis 1971 nur im Maskulinum denkbar waren, wie der scharfe Gegensatz von Schweizervolk und Frauen belegt. Diese diskursive Trennung ist Teil eines nationalstaatlich gerahmten Systems von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Praktiken, in dem die Freiwilligkeit als Modus fungiert, der fortlaufend Rechte und Pflichten zuweist und die im sogenannten Milizsystem kondensierten Besonderheiten der politischen Kultur der Schweiz hervorbringt. Bereits im fru¨hen 19. Jahrhundert, und damit lange vor der Bundesstaatsgru¨ndung von 1848, dachte die liberal gesinnte gemeinnu¨tzige Elite „die Schweiz als Nationalstaat voraus“.14 In ihren vergeschlechtlichten Entwu¨rfen sicherte sie dem zivilgesellschaftlichen Vereinsleben und der freiwilligen Gemeinnu¨tzigkeit eine zentrale Rolle im Aufbau und der Organisation des Staatswesens zu. Die unentgeltliche Mitarbeit der Frauen, laut der Historikerin Beatrix Mesmer das Ergebnis der ma¨nnlichen „Aufga¨ ffentlichkeit, begru¨ndete eine bendelegation“ in der neu entstehenden bu¨rgerlichen O spezifische Teilung der Verantwortlichkeiten: Das weibliche Engagement in der Fu¨rsorge und Armenerziehung, bei der Disziplinierung der Unterschichten und in der Ma¨dchenbildung, in der Volkschule und der außerfamilia¨ren Kleinkinderbetreuung entlastete die o¨ffentliche Hand und die Beho¨rden, deren Wirkungskreis sich demnach auf die eng umschriebenen Aufgaben der inneren und a¨ußeren Sicherheit und des Infrastrukturaufbaus konzentrieren konnte.15 Die Aktivita¨ten der gemeinnu¨tzig ta¨tigen Frauen fanden außerhalb der politischen Institutionen, aber in enger personeller Verflechtung mit der politischen Elite statt.16 Quasi als Verla¨ngerung der innerha¨uslichprivatisierten Arbeitsteilung organisierten gemeinnu¨tzige Praktiken o¨ffentliche Aufgaben entlang der Geschlechterdifferenz und halfen mit, das bu¨rgerlich-liberale Geschlechterarrangement als gesellschaftlich verbindliche Norm zu zementieren und die Vorstellung natu¨rlich begru¨ndeter „Geschlechtscharaktere“ zu bekra¨ftigen.17 13 Exemplarisch Beatrix Mesmer, Pflichten erfu¨llen heisst Rechte begru¨nden. Die fru¨he Frauenbewegung und der Staat, in: Schweizerische Zeitschrift fu¨r Geschichte (SZG), 46, 3 (1996), 332–355, 354. 14 Beatrice Schumacher, Einleitung, in: dies. (Hg.), Freiwillig verpflichtet, wie Anm. 8, 10–26, 15. 15 Vgl. Beatrix Mesmer, Ausgeklammert – Eingeklammert. Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988, 56f. 16 Vgl. Traverse. Zeitschrift fu¨r Geschichte, 13, 1 (2006): Philanthropie und Macht, 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Thomas David, Nicolas Guilhot, Malik Mazbouri u. Janick Marina Schaufelbuehl; Itinera. Beihefte zur SZG, 44 (2017): Die Schweiz und die Philanthropie: Reform, soziale Vulnerabilita¨t und Macht (1850–1930), hg. von Alix Heiniger, Sonja Matter u. Ste´phanie Ginalski. 17 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, 363–393.

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Um 1900 existierte in der Schweiz eine florierende, weltanschaulich breitgefa¨cherte und gut organisierte weibliche Vereinskultur, an der rund zehn Prozent der erwachsenen Frauen teilhatten. Ihr Wirkungskreis konzentrierte sich auf soziale Zwecke, und ihre Diskurse, die sich um Wohlta¨tigkeit, Ehrenamt, weibliche Bestimmungen und Pflichten drehten, rekurrierten auf die Komplementarita¨t von weiblichen und ma¨nnlichen Leistungen fu¨r das Gemeinwohl.18 Die diskursiven Grenzen zwischen Ehre und Amt, Pflicht und Freiwilligkeit waren fließend, die Unterschiede allenfalls graduell, was sie fu¨r Forderungen nach Mitspracherechten anschlussfa¨hig machte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert pflegten Frauenorganisationen, ihre ehrenamtlich und freiwillig erbrachten Leistungen na¨mlich als eine Art politisches Reifezeugnis und folglich als eine Vorleistung auf die (erhoffte) Zuerkennung der politischen Mu¨ndigkeit auszuweisen.19 Diese Rhetorik verband sich mit der Strategie, nicht das volle Stimm- und Wahlrecht zu fordern, sondern auf die schrittweise Einfu¨hrung der politischen Partizipationsrechte zu setzen – zuna¨chst auf kommunaler Ebene in Bereichen der ehrenamtlichen Selbstverwaltung wie Kirchenpflege, Schule und Fu¨rsorge, in welchen Frauen qua Freiwilligenarbeit bereits u¨ber langja¨hrige Erfahrungen und Sachkompetenz verfu¨gten.20 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhielt die strategische Neigung vieler Aktivistinnen, freiwilliges Engagement und Bu¨rgerpflicht gleichzusetzen, ungemein Auftrieb. Frauenrechtlerinnen nahmen die fehlende Kriegsvorbereitung der Beho¨rden zum Anlass, um die eigene Organisations- und Leistungsfa¨higkeit zu demonstrieren, aber auch, um die Professionalisierung der weiblich konnotierten Wohlta¨tigkeit voranzutreiben.21 1915 lancierten verschiedene Frauenorganisationen eine Sammelaktion, konzipiert als weibliches Pendant zu der erstmals auf Bundesebene geplanten direkten Steuer, wie Julie Merz 1915 im „Jahrbuch der Schweizerfrauen“ resu¨mierte: „Die Frauenspende beweist das erwachende Mitverantwortungsgefu¨hl der Schweizerfrauen fu¨r das Gedeihen des Staatshaushaltes. In bewusster Verantwortlichkeit aber ruht der Wille zum Mitspracherecht, denn Pflichten erfu¨llen heißt Rechte begru¨nden.“22 Die Schlussformel zeugte von einem neuartigen staatsbu¨rgerlichen Selbstbewusstsein der Frauen, wenn nicht gar einem eigensinnigen Pflichtversta¨ndnis, das sich in der selbstbestimmten Definition von Bu¨rgerpflichten a¨ußerte. Ohne die Aufforderung durch ma¨nnliche Entscheidungstra¨ger abzuwarten, griffen die Initian18 Vgl. Mesmer, Ausgeklammert, wie Anm. 15, insb. 225 zu den Angaben der Aktivistinnen. 19 Vgl. Elisabeth Joris u. Beatrice Schumacher, Helfen macht stark. Dynamik und Wechselspiel von privater Fu¨rsorge und staatlichem Sozialwesen, in: Roman Rossfeld, Thomas Buomberger u. Patrick Kury (Hg.), 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg, Baden 2014, 316–335, 329. 20 Vgl. Sibylle Hardmeier, Fru¨he Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930): Argumente, Strategien, Netzwerk und Gegenbewegung, Zu¨rich 1997. 21 Vgl. Joris/Schumacher, Helfen, wie Anm. 19; Brigitte Ruckstuhl u. Elisabeth Ryter, Beraten, Bewegen, Bewirken. Zu¨rcher Frauenzentrale 1914–2014, Zu¨rich 2014. Zur Professionalisierung der Sozialarbeit in der Schweiz vgl. Sonja Matter, Der Armut auf den Leib ru¨cken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960), Zu¨rich 2011. 22 Zit. nach: Mesmer, Staatsbu¨rgerinnen, wie Anm. 12, 51.

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tinnen in die Ausgestaltung staatlicher Kompetenzen ein. Die semantische Verwischung von Pflicht und Freiwilligkeit, charakteristisch schon fu¨r den weiblichen Gemeinnu¨tzigkeitsdiskurs vor 1914, erhielt mit dem Beharren auf den (politischen Partizipations-)Rechten eine neue Spitze. Der Verweis auf die „Dankesschuld“, um nochmals auf das zu Beginn dieses Abschnitts wiedergegebene Zitat zuru¨ckzukommen, spielte auf diese langja¨hrige politische Praxis der Frauenbewegung an. Der Bundesrat honorierte insbesondere, dass Frauenorganisationen weibliches Engagement im Zweiten Weltkrieg gerade nicht mit der Erfu¨llung von Bu¨rgerpflichten in Analogie brachten, dass sie davon absahen, sich ihrer Verdienste zu ru¨hmen, um ihre Forderungen zu begru¨nden, und die unza¨hligen unentgeltlich erbrachten Leistungen in der Aufrechterhaltung der Landesversorgung, der Fu¨rsorge, der Krankenpflege, der Flu¨chtlingsbetreuung, der Wehrmannshilfe, der milita¨rischen Hilfsdienste – ganz zur Erleichterung der Regierung – nicht in „Form eines Kourantgescha¨ftes“ in Anschlag brachten, kurz: dass sie darauf verzichteten, die politischen Entscheidungstra¨ger in die unangenehme Lage zu versetzen, im Namen des „Schweizervolkes“ eine „Dankesschuld“ begleichen oder ausdru¨cklich ablehnen zu mu¨ssen.23 In der skizzierten Gemengelage von geforderten Rechten, erfu¨llten Pflichten und Freiwilligkeit in Form von Spendenbereitschaft und Mitverantwortung scheinen zentrale Merkmale der politischen Kultur der Schweiz durch: allen voran die tragende Bedeutung des Milizsystems, das durch Kriegsvorbereitung und Mobilmachung aktualisiert, in seinen Konturen gescha¨rft und mehr denn je auf die ma¨nnliche Wehrpflicht als Kern der Staatsbu¨rgerschaft ausgerichtet worden war. „Milizsystem“ ist die „nur in der Schweiz u¨bliche Bezeichnung“ fu¨r die auch in anderen modernen Demo¨ bernahme von o¨ffentlichen Aufgaben und kratien charakteristische, ehrenamtliche U 24 A¨mtern. Als schweizerisches Spezifikum nennt die historische Literatur indessen den damit verbundenen hohen Grad der „Selbstorganisation der Zivilgesellschaft“, verstanden als konstitutive Beteiligung von Laien auf allen Ebenen des politischen Systems – von den kommunalen Beho¨rden u¨ber Exekutiva¨mter in einzelnen Kantonen bis hin zum nationalen Parlament.25 Im politischen Amt vermengen sich so Pflicht und Ehre auf eine unverwechselbare Art und Weise: Viele kommunale Verfassungen kennen noch heute den Amtszwang, selbst fu¨r Gewa¨hlte, die sich nicht fu¨r ein Ehrenamt zur Verfu¨gung gestellt haben.26 Die semantischen Verwischungen im Diskurs der ge-

23 Zit. nach: Voegeli, Hausrat, wie Anm. 11, 189. Vgl. auch Regula Sta¨mpfli, Mit der Schu¨rze in die Landesverteidigung. Frauenemanzipation und Schweizer Milita¨r 1914–1945, Zu¨rich 2002. 24 Wolf Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen, Prozesse, Perspektiven, Bern 32012, 82. 25 Mesmer, Staatsbu¨rgerinnen, wie Anm. 12, 11. Fu¨r den deutschen Kontext vgl. Jessen/Reichhardt/ Klein, Zivilgesellschaft, wie Anm. 8. 26 Laut neueren Erhebungen u¨ben schweizweit rund 100.000 Personen kommunale Verwaltungsaufgaben im Nebenamt aus, und dies weitgehend ehrenamtlich. Vgl. Andreas Ladner, Die Ab-

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meinnu¨tzigen Frauen ru¨hrten daher nicht von einer begrifflichen Verwirrung, sondern fingen gerade solche Besonderheiten der politischen Partizipation ein und setzten die weiblichen Ta¨tigkeiten mit dem gleich, was die Performanz staatsbu¨rgerlicher Ma¨nnlichkeit im Milizsystem charakterisierte: die Ausu¨bung des politischen Ehrenamtes. Nicht nur etymologisch, sondern auch in seiner politischen Semantik hat das Milizsystem milita¨rische Urspru¨nge. Es ist quasi die zivile Verla¨ngerung der Milizarmee mit ihrem Dienstobligatorium fu¨r alle ma¨nnlichen Staatsbu¨rger, schließlich war die Armee auch Vorbild fu¨r die Organisation des Politischen. Ideologisch leitete sich die politische Staatsbu¨rgerschaft lange von der Dienstpflicht ab, eine Kausalverbindung, ¨ berho¨hung der Kriegsverschonung im die sich infolge der erinnerungspolitischen U 20. Jahrhundert noch versta¨rkte und in den Debatten um die politischen Rechte der Frauen von Stimmrechtsgegnern regelma¨ßig bemu¨ht wurde.27 Die obligatorische Dienstpflicht indessen la¨sst sich keineswegs auf ihren Zwangscharakter reduzieren, ebenso wenig wie das zivile Milizsystem ausschließlich auf der Freiwilligkeit beruht. Vielmehr verma¨hlt das Milizprinzip Armee und Politik, Milita¨r und Zivilgesellschaft: Die Dienstpflicht und das Ehrenamt erga¨nzen sich wechselseitig und konstituieren zusammen Geschlechterordnung und Staatsbu¨rgerschaft. Aufopferung und Leistungsbereitschaft fu¨r das Gemeinwohl sind die Antriebskra¨fte sowohl im Milita¨rischen als auch in der Gemeinnu¨tzigkeit. Gemeinsam bilden sie das vielgeru¨hmte staatsbu¨rgerliche Ethos, dessen Ursprung in der freiwilligen Annahme der Pflicht liegt. „Eines der Grundelemente unseres Heeres ist der Gedanke der Freiwilligkeit“, schrieb der Milita¨rhistoriker Hans-Rudolf Kurz 1960 in einer Abhandlung zu den freiwilligen Leistungen fu¨r die Landesverteidigung.28 Er betonte, „dass die Freiwilligkeit geradezu eines der besonderen Kennzeichen unseres Wehrsystems bedeutet“. Denn sie erfolge „unentgeltlich, aus reinem Pflichtgefu¨hl und aus Freude an der Sache“ ebenso selbstversta¨ndlich durch die Heereskommandanten, die sich als „Autodidakten“ permanent um die eigene Weiterbildung und Ertu¨chtigung bemu¨hten, wie durch Mu¨tter und Gattinnen, die mit Waschen, Putzen und Flicken ganz „selbstversta¨ndlich“ die Ausru¨stung der Wehrma¨nner instand hielten und diesen auch sonst „die Ha¨rten des Dienstes mildern“ und „dem Staat eine nicht unerhebliche Arbeit ab[nehmen]“.29 Wie sich im Politischen die Armee spiegelt, so bildet die Armee die Aufgabenteilung ab, wie sie sich im modernen Bundesstaat etabliert hat: eine Unterscheidung und gleichzeitig ha¨ngigkeit der Gemeinden von der Milizpolitik, in: Andreas Mu¨ller (Hg.), Bu¨rgerstaat und Staatsbu¨rger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, Zu¨rich 2015, 105–123. 27 Rudolf Jaun, „Weder Frauen-Hauswehr noch Frauen-Stimmrecht“. Zum Zusammenhang von Geschlecht, Stimmrecht und Wehrpflicht in der Schweiz, in: Itinera, 20 (1998), 125–136. Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz. Identita¨t – Nation – Geschichte 1291–1991, Zu¨rich 1991, 178ff. 28 [Hans-Rudolf] Kurz, Die Freiwilligkeit – ein Grundelement der Schweizerischen Armee, in: Der Fourier. Offizielles Organ des Schweizerischen Fourierverbandes und des Verbandes Schweizerischer Fouriergehilfen, 33, 4 (1960), 121–128, 121. 29 Kurz, Freiwilligkeit, wie Anm. 28, 124f., 128.

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ein fugenloses Ineinandergreifen von o¨ffentlichen Leistungen mit Pflichtcharakter und freiwillig erbrachten Diensten, die nicht weniger verpflichtend sind, im Unterschied zu den Pflichten aber nicht mit Rechten korrelieren. Der feministische Topos, „Pflichten erfu¨llen heißt Rechte begru¨nden“, bringt diese Ambiguita¨t des Ehrenamtes in der politischen Kultur der Schweiz paradigmatisch zum Ausdruck. Er transponiert die freiwillig erbrachte Leistung von Frauen in eine staatsbu¨rgerliche Pflicht und u¨bertra¨gt die Logik des Milizsystems mit seiner Korrelation von Ehrenamt und Partizipationsrechten auf das Gemeinnu¨tzige. Erscheint diese Strategie auf den ersten Blick als erfolgsversprechend, so scheiterte sie an der im Ehrenamt selbst angelegten Geschlechterdifferenz. Das Ehrenamt als ma¨nnlich codierte Einrichtung blieb gegenu¨ber feministischen Aneignungsversuchen weitgehend immun – und zwar bis heute.30 Als ehrenamtlich galt und gilt na¨mlich nur, was aus aufrichtig empfundenem, reinem Pflichtgefu¨hl entspringt und keineswegs aus taktischem Kalku¨l erbracht wird, mit einem auf Gewinn und Nutzen schielenden Auge, oder eben um eine „Dankesschuld“ einfordern zu ko¨nnen. Dahinter steckt eine elita¨re Logik, deren Exklusionskraft sich am Beispiel der Parlamentarierentscha¨digung aufzeigen la¨sst. Als das Bundesparlament 1903 u¨ber die Taggelder und Reiseentscha¨digungen fu¨r seine Mitglieder beriet, stellte der Bundesrat klar: „Die Wahl in den Nationalrat bedeutet eine Auszeichnung, die gewisse Anforderungen an den Gewa¨hlten stellt, denen er sich nicht entziehen kann. Hinwiederum ist die Mitgliedschaft der Bundesversammlung in den Augen des Schweizervolkes vor allem ein Ehrenamt und soll es bleiben, und wenn auf der einen Seite durch Zuerkennung eines Taggeldes es auch dem weniger Bemittelten gestattet werden soll, diese Wu¨ rde zu bekleiden, so darf auf der andern Seite diese Entscha¨digung nicht so bemessen werden, dass das Amt um dieser willen gesucht wird.“31

Fu¨r die erstarkende Arbeiterschaft stellten die mickrigen Taggeldzahlungen handfeste Hindernisse dar, die ihren politischen Einfluss begrenzten. Die Ehre und die Wu¨rde, die das Amt umgeben, waren also Statusmerkmale privilegierter Ma¨nner. Die klassenspezifische, vor allem aber geschlechtliche Konnotation des Ehrenamtes artikulierte sich in der unterschiedlichen Gemengelage von Anspru¨chen und Rechten, die mit der Freiwilligkeit verbunden werden durften. Das Milizsystem amalgamierte fu¨r ma¨nnliche Elitenangeho¨rige wirtschaftliche, milita¨rische und politische Fu¨hrungsaufgaben, Qualifikationen, Kompetenzen und A¨mter zu einem biografischen Karrieremodell, das zumindest bis Ende der 1980er-Jahre Bestand hatte. Statt sich wechselseitig zu konkurrieren und Akteure vor die Qual der Wahl zu stellen, wirkte 30 2016 u¨bernahmen noch immer doppelt so viele Ma¨nner wie Frauen Fu¨hrungsaufgaben in der institutionalisierten oder formellen Freiwilligenarbeit. Vgl. Schweizerische Arbeitskra¨fteerhebung (SAKE), Unbezahlte Arbeit, vero¨ffentlicht am 16. 10. 2018 (unter www.bfs.admin.ch). 31 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Taggelder und Reiseentscha¨digungen der eidgeno¨ssischen Beho¨rden, vom 7. Dezember 1903, in: Bundesblatt, 5, 49 (1909), 191.

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ehrenamtliches Mehrfachengagement, das heißt A¨mterkumulation und Machtkonzentration, fu¨r Ma¨nner als karrierefo¨rdernder Multiplikator, wa¨hrend die Verma¨hlung von Miliz und Ehrenamt zugleich das ma¨nnliche Monopol am Staat sta¨rkten und ein a¨ußerst resistentes Bollwerk gegen das Eindringen von Frauen bildeten.32 „L’esprit de milice“, verku¨ndete noch 1986 ein Mitglied der Landesregierung, „est un autre nom a` l’esprit civique. Et cet esprit civique […] c’est la Suisse.“33

2.

Feministische Neucodierungen: „Gratisarbeit“, „Freiwilligenarbeit“, „unbezahlte Arbeit“

Die Absage an das alte Modell der weiblichen Freiwilligkeit kam als Eklat. Am 10. November 1968 stu¨rmten Studentinnen die Feier zum 75-ja¨hrigen Bestehen des Zu¨rcher Frauenstimmrechtsvereins. Andre´e Valentin, eine der Protestteilnehmerinnen, ergriff das Mikrofon und rief in die Runde: „wozu diese Feiern mit Musik und Bankett? […] Was haben wir Frauen in den fu¨nfundsiebzig Jahren unserer Bewegung tatsa¨chlich erreicht? Noch immer mu¨ssen wir um das Stimmrecht ka¨mpfen, nein: betteln um ein Recht, das die Frauen in jedem andern Land seit fu¨nfzig Jahren ausu¨ben.“34 In der Geschichtsschreibung gilt dieses Happening gemeinhin als Auftakt zur Neuen Frauenbewegung in der Schweiz.35 Die Sto¨raktion fu¨hrte den Vertreterinnen der Alten Frauenbewegung das Scheitern ihrer langja¨hrigen Strategie brutal vor Augen. Die Rechnung, sich mit – freiwillig und unentgeltlich erbrachten – Vorleistungen das Stimm- und Wahlrecht zu verdienen, war schlicht nicht aufgegangen. Das war keine neue Erkenntnis, sondern bereits nach der Ablehnung der ersten nationalen Stimmrechtsvorlage durch das ma¨nnliche Stimmvolk im Februar 1959 offensichtlich. Basler Lehrerinnen reagierten mit einem Proteststreik auf den Entscheid, den sie als Schlag ins Gesicht empfanden. In Zu¨rich rief der Frauenstimmrechtsverein zum Boykott des freiwilligen Dienstes fu¨r die Landesverteidigung auf.36 In diesen noch isolierten Protesten zeichnete sich aber bereits die Aufku¨ndigung jenes Gesellschaftsvertrags ab, der freiwillige und unentgeltliche Leistungen von Frauen fu¨r das Gemeinwohl zur Selbstversta¨ndlichkeit erhoben hatte. 32 Vgl. Andre´ Mach, Thomas David, Ste´phanie Ginalski u. Felix Bu¨hlmann, Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010, Baden 2017. 33 Jean-Pascal Delamuraz, L’esprit de milice, in: Der Geist des freiwilligen Dienens – L’Esprit de milice. Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft, 57 (1986), Aarau u. a. 1986, 9–18, 18. 34 Die Rede ist abgedruckt in: Elisabeth Joris u. Heidi Witzig (Hg.), Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz, Zu¨rich 1986, 536. 35 Vgl. May B. Broda, Elisabeth Joris u. Regina Mu¨ller, Die alte und die neue Frauenbewegung, in: Mario Ko¨nig u. a. (Hg.), Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren, Zu¨rich 1998, 201–226. 36 Vgl. Renate Wegmu¨ller, Es reicht: Der Basler Lehrerinnenstreik vom 3. Februar 1959, in: Olympe, 28 (2009), 142–146; Voegeli, Hausrat, wie Anm. 11, 380.

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Doch erst Ende der 1960er transformierte sich das diffuse Gefu¨hl in Rebellion.37 Radikale Gesellschaftskritik wurde zum Programm der Neuen Frauenbewegung. Neben der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs war die Revolutionierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eines ihrer fru¨hen Kernanliegen. So bezweckte die transnational organisierte Kampagne „Lohn fu¨r Hausarbeit“, die von Frauen tagein, tagaus unentgeltlich erbrachten Leistungen sichtbar zu machen, womit sie den engen, auch in der neomarxistischen Theoriebildung ausschließlich am Erwerb orientierten ¨ koArbeitsbegriff radikal in Frage stellte.38 Dieser neue „feministische Blick in die O nomie“ ru¨ckte nicht nur Hausarbeit und Kindererziehung, nicht nur scheinbar selbstversta¨ndliche Liebesdienste und Betreuungsleistungen fu¨r Familienangeho¨rige in den Fokus, sondern auch das freiwillige Engagement von Frauen in der Wohlta¨tigkeit.39 „Gratisarbeit“ wurde zur neuen feministischen Leitkategorie solcher Auseinandersetzungen. Beispielhaft spiegelte der Neologismus die Verbindung von kritischer Analyse und politischer Intervention, die kennzeichnend war fu¨r das Agieren der Neuen Frauenbewegung. Feministinnen markierten mit Wortscho¨pfungen vormals unpolitische Bereiche und besetzten sie mit neuer Bedeutung. Um diese doppelte Funktion zu erfu¨llen, hatten die Begriffe oft einen polemischen Unterton. „Gratisarbeit“ bezeichnete na¨mlich nicht nur die unsichtbaren und kaum honorierten weiblichen Leistungen, sondern klagte zugleich die einseitige Zuweisung solcher Ta¨tigkeiten an die Frauen ein und legte die darin enthaltene Naturalisierung der angeblich weiblichen Bestimmung offen.40 Insofern schloss die Wortscho¨pfung an die Debatten um die Forderung „Lohn fu¨r Hausarbeit“ an, blieb aber auch der etymologischen Bedeutung des Wortes „gratis“ treu, das laut Duden „um den bloßen Dank (und nicht um Belohnung)“41 meint. Der Begriff Gratisarbeit, der sich bis heute einer anhaltenden Popularita¨t im feministischen Diskurs erfreut, fand in den fru¨hen 1980er-Jahren durch die Arbeiten der Soziologinnen Anna Borkowsky und Ursula Streckeisen als Oberbegriff fu¨r Hausarbeit, ehrenamtliche Ta¨tigkeit und sogenannte Eigenarbeit Eingang in

37 Vgl. Christina Spa¨ti u. Damir Skenderovic: Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur, Baden 2012. 38 Simona Isler, Lohn fu¨r Hausarbeit? Befreiungsperspektiven der Frauenbewegung in den 1970erJahren, in: Bernet/Tanner, Ausser Betrieb, wie Anm. 6, 216–236. Zum internationalen Kontext vgl. Louise Toupin, Le salaire au travail me´nager: Chronique d’une lutte fe´ministe internationale (1972–1977), Montre´al 2014. 39 Ruth Hungerbu¨hler, Die Bedeutung des Bedeutungslosen. Zur Entwicklung der Hausarbeitsdebatte in der Frauenbewegung, in: Emanzipation, 9, 7 (1983), 3. 40 Grundlegend Bock/Duden, Arbeit aus Liebe, wie Anm. 5. Fu¨r die Schweiz vgl. Ursula Streckeisen, Von der Aktualita¨t der Familienpolitik, in: Emanzipation, 6, 1 (1980), 22; Anna Borkowsky, Die unbezahlten Frauenarbeiten: „… ich habe ziemlich gestaunt, auf was ich mich da eingelassen habe …“, in: Emanzipation, 10, 5 (1984), 9. 41 Stw. „gratis“/Herkunft, in: Duden online, unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/gratis, Zugriff: 8. 11. 2019.

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die sozialwissenschaftlichen Debatten.42 Mit a¨hnlich kritischem Beiklang griffen gewerkschaftliche Texte den Begriff in der zweiten Ha¨lfte der 1980er auf, indem sie darauf hinwiesen, dass die vorherrschende Arbeitsteilung nicht-berufsta¨tige Frauen dazu pra¨destiniere, auf der Suche nach sinnstiftenden Bescha¨ftigungen durch „Gratisarbeit“ im Freiwilligensektor den neoliberal orchestrierten Sozialabbau abzufedern. Das Fazit der Gewerkschafterinnen lautete: „Die neoliberale Ideologie hat es bei den Frauen besonders leicht.“43 Parallel zur „Gratisarbeit“ war das Kompositum „Freiwilligenarbeit“ ein weiterer Neologismus, der dem feministischen Milieu entstammte und eine Aufwertung des freiwilligen Engagements, ja dessen Gleichstellung mit der bezahlten Erwerbsarbeit bezweckte. Allerdings stand nicht mehr die freiwillig geleistete Arbeit, sondern die Arbeit von (weiblichen) Freiwilligen im Zentrum – wa¨hrend die Losung „Freiwilligenarbeit lebt von den Frauen“ auch an die Vergeschlechtlichung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erinnerte.44 Mit solchen begriffspolitischen Interventionen attackierten Autorinnen der Neuen Frauenbewegung ein u¨ber Jahrzehnte tradiertes und kultiviertes Selbstversta¨ndnis der weiblichen Gemeinnu¨tzigkeit und entzogen der stillschweigenden Selbstversta¨ndlichkeit des unentgeltlichen Einsatzes der Frauen die Grundlage – mit Erfolg. Traditionelle Wohlta¨tigkeitsorganisationen kamen in den 1980ern nicht mehr umhin, auf die feministische Kritik der unbezahlten Arbeit zu reagieren. Ihre Rezeption machte die Neucodierung der Freiwilligkeit auch in Kreisen der etablierten Gemeinnu¨tzigkeit anschlussfa¨hig. Exemplarisch dafu¨r steht eine Kontroverse zur Frage „Ist Gratisarbeit noch modern?“, die das Schweizerische Rote Kreuz 1985 in seinem Vereinsorgan anregte. Die Pra¨sidentin des Schweizerischen Gemeinnu¨tzigen Frauenvereins, Liselotte Anker, verteidigte die weibliche Freiwilligkeit gegen den Vorwurf der Ru¨cksta¨ndigkeit. Mehr denn je erfu¨lle ihre Organisation wichtige gesellschaftliche Funktionen im „Aufbau und in der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ und bewirke dadurch eine „beachtliche volkswirtschaftliche Ersparnis“. Dass die Freiwilligkeit auch weiterhin zeitgema¨ß sei, belege das Mitgliederwachstum ihres Vereins: „Es sind wieder vermehrt Frauen bereit, Verantwortung fu¨r den Na¨chsten zu tragen – im Wissen, dass sie mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag an die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft leisten.“45 Die Ausfu¨hrlichkeit der Argumentation, die sich im Spannungsfeld von neuer Sparrhetorik und Topoi der Alten Frauenbewegung bewegte, belegte den wachsenden Legitimationsbedarf eines gesellschaftspolitischen 42 Anna Borkowsky u. Ursula Streckeisen, Wiedereinstieg von Frauen in den Beruf: theoretische ¨ berlegungen zu Determinanten im domestikalen Arbeitsbereich und im Lohnarbeitsbereich, in: U Schweizerische Zeitschrift fu¨r Soziologie, 8, 2 (1982), 279–310, 296. 43 VPOD-Frauenkommission, Wir Frauen in der Lohnarbeitswelt, in: Diskussion: Magazin fu¨r aktuelle Gewerkschaftspolitik, 3 (1987), 29. 44 Vgl. Marx, Gratisarbeit, wie Anm. 1. 45 Liselotte Anker, Ist Gratisarbeit unmodern?, in: Actio: Ein Magazin fu¨r Lebenshilfe, 2, 94 (1985), 7.

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Modells, das zur Lo¨sung sozialer Probleme beliebig auf die unbezahlte Zeit von Frauen hatte zuru¨ckgreifen ko¨nnen. Dieses Legitimationsdefizit machte auch die Replik von Ruth Gullo, wissenschaftliche Adjunktin im Eidgeno¨ssischen Personalamt, evident, die mit der rhetorischen Frage antwortete, „ob es tatsa¨chlich immer die Frauen sein mu¨ssen, die sich fu¨r unentgeltliche Arbeit zur Verfu¨gung stellen“.46 Gleichermaßen geriet das klassische Milizdenken unter Druck. Eine bu¨rgerlichkonservativen Kreisen entstammende Aufsatzsammlung zu Freiwilligkeit und Milizarbeit, die 1986 unter dem Titel „Geist des freiwilligen Dienens“ erschien, zeugte von erheblichen Irritationen. Eine „Welle der Selbstbestimmung, Selbsterfu¨llung, Selbstbesta¨tigung, Selbsterfahrung usw. erstickt den Milizgeist“, warnte ein alarmierter Anha¨nger des alten Milizsystems. Seine Verwendung von Begriffen der Neuen Frauenbewegung ließ keine Zweifel offen, aus welcher Ecke er die Gefahren kommen sah.47 Mitarbeiterinnen der traditionellen Wohlta¨tigkeit hingegen brachten die symbolische Vergeschlechtlichung von Ehrenamt und Gemeinnu¨tzigkeit nun offen zur Sprache. Sie beklagten die Diskrepanz zwischen der Geringscha¨tzung des Engagements von Frauen und der Wertscha¨tzung fu¨r alles, was in den ma¨nnlich konnotierten Bereich „Milita¨r, Beho¨rden, Feuerwehr und Sport“ falle und als „Dienst am Gemeinwesen“ gelte.48 Es war den Feministinnen also gelungen, die Gratis- und Freiwilligenarbeit bis in die Kreise der Eliten hinein zum Politikum zu machen. Ihre Interventionen, welche die Selbstversta¨ndlichkeit der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung im Freiwilligensektor unterminierten, erzielten schließlich in den 1990er-Jahren Erfolge auf der institutionellen Ebene. Im internationalen Vergleich zwar la¨ngst u¨berfa¨llig und seit 1981 wiederholt von Parlamentarierinnen eingefordert, vollzog die Regierung 1996 einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsstatistik. Im folgenden Jahr erfasste das Bundesamt fu¨r Statistik im Rahmen der periodisch durchgefu¨hrten Arbeitskra¨fteerhebung (SAKE) erstmals die „unbezahlte Arbeit“. Darunter fielen laut der offiziellen Definition sowohl „Haus- und Familienarbeit“ als auch „ehrenamtliche und freiwillige Ta¨tigkeiten sowie informelle unbezahlte Ta¨tigkeiten wie die Nachbarschaftshilfe“. Der Bundesrat begru¨ndete den Entscheid unter anderem mit dem Verweis auf „alte Forderungen der Frauenbewegung“ und internationale Normen, wie sie von UNO-Konferenzen wiederholt besta¨tigt worden seien.49 Die Bedeutung des epistemischen Bruchs, den dieser ¨ bernahme der Entscheid vollzog, ist enorm. Selbst wenn die offizielle Statistik die U 46 Ruth Gullo, Warum werden eigentlich die Ma¨nner ausgeklammert?, in: Actio, 2, 94 (1985), 7. 47 Leonhard Ro¨o¨sli, Einleitung, in: Geist des freiwilligen Dienens, wie Anm. 33, 1–5, 5. 48 Sonya Daeniker-Pfister, Gedanken und Anregungen zur Milizarbeit von Frauen, in: Geist des freiwilligen Dienens, wie Anm. 33, 56–59, 56f. Analog Elisabeth Longoni Portmann, Im Spannungsfeld des Ehrenamtes, in: ebd., 51–54, 52. 49 Bundesamt fu¨r Statistik, Unbezahlt – aber trotzdem Arbeit. Zeitaufwand fu¨r Haus- und Familienarbeit, Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe, Neuchaˆtel 1999, 9. Vgl. zu Deutschland Theresa Wobbe, Making up People. Berufsstatistische Klassifikation, geschlechtliche Kategorisierung und wirtschaftliche Inklusion um 1900 in Deutschland, in: Zeitschrift fu¨r Soziologie, 41, 1 (2012), 41–57.

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Kategorie „Gratisarbeit“ vermied, so leistete der neue Terminus technicus „unbezahlte Arbeit“ auf der Ebene der Datenerhebung genau das, was Feministinnen seit den 1970ern postuliert hatten: Er bekra¨ftigte die De-Naturalisierung der Hausarbeit und machte Arbeit unabha¨ngig vom Kriterium der Bezahlung als Arbeit erkennbar.50

3.

Eine „Pièce de résistance“: Projektarbeit im feministischen Milieu

Waren „Freiwilligenarbeit“ und „Gratisarbeit“ fu¨r die Neue Frauenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren noch prima¨r Kategorien zur Kritik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, so erhielten sie um die Mitte der 1980er eine neue, selbstreflexive Dimension. Mit der Realisierung der sich rasch diversifizierenden Frauenprojekte war eine feministische Gegenkultur entstanden, die auf freiwilligem und unentgeltlichem Engagement basierte.51 Diese autonome Gegenkultur stellte die Aktivistinnen auf eine neuartige Weise vor die Herausforderung, Freiwilligkeit – und zwar die eigene – zu u¨berdenken. Was sich zuvor als Vorwurf nach außen richtete, wurde nun zur internen Selbstbefragung – ein deutliches Zeichen dafu¨r, dass die Neue Frauenbewegung auch in der Schweiz in die Phase der Selbstreflexion eingetreten war. Es lohnt sich, die eingangs zitierte Ruth Marx an dieser Stelle noch einmal zu Wort kommen zu lassen: „Wenn ich mir heute – milde daru¨ber la¨chelnd – anho¨re, wie unsere Grossmu¨ tter fu¨r die frierenden Soldaten Socken gestrickt haben oder unbezahlt in Kantinen ausgeholfen haben oder auch andere gemeinnu¨tzige Arbeiten verrichteten, kommen mir unweigerlich die neu geschaffenen Formen der Gratis- oder symbolisch entlo¨hnten Arbeit innerhalb der Neuen Frauenbewegung in den Sinn.“ Auch diese Ta¨tigkeit, so Marx, trage zur Stabilisierung der Verha¨ltnisse bei und „zementiere damit gesellschaftliche Miseren“. Daru¨ber hinaus stelle die selbst geleistete Gratisarbeit eine „heimtu¨ckische Falle“ dar. Denn die Tatsache der Unentgeltlichkeit immunisiere das Engagement gegen interne Kritik, verschleiere informelle Hierarchien und wirke la¨ngerfristig la¨hmend auf politische Aktivita¨ten.52 ¨ berlegungen stimmte Marx nicht nur in einen lauter werdenden Chor Mit diesen U der Kritik ein. Sie rekurrierte auch auf eine a¨ltere transformatorische und transnational vermittelte Programmatik der Neuen Frauenbewegung, die mit der Schaffung auto50 Ausschlaggebend ist das „Dritt-Personen-Kriterium“: Jede Ta¨tigkeit, die von einer Drittperson ausgefu¨hrt werden kann, gilt als Arbeit. Bundesamt fu¨r Statistik, Unbezahlt, wie Anm. 49, 10. 51 Vgl. Elisabeth Joris, Freira¨ume – Frauenra¨ume. Historische Reminiszenzen an Zeiten des Aufbruchs, in: Esther Quetting (Hg.), Kino Frauen Experimente, Marburg 2007, 144–154; Edith Siegenthaler, Frauenbefreiung durch ma¨nnerfreie Zonen? Die Bedeutung von Frauen vorbehaltenen Orten und Ra¨umen am Beispiel des Frauenzentrums der Frauenbefreiungsbewegung Bern, in: Ariadne – Forum fu¨ r Frauen- und Geschlechtergeschichte, 28, 61 (2012), 54–59. 52 Marx, Gratisarbeit, wie Anm. 1, 5.

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nomer Freira¨ume das doppelte Ziel verfolgte, das Subjekt aus gesellschaftlichen Zwa¨ngen zu befreien und die Handlungsmacht des Kollektivs zu sta¨rken. Die „FraueZitig“, ein seit 1975 regelma¨ßig erscheinendes Zu¨rcher Bewegungsblatt, artikulierte dieses Anliegen in ihrer ersten Ausgabe folgendermaßen: „Wir wollen die Gesellschaft vera¨ndern. Aus der Isolation herauskommen, um unsere Scheisssituation zu erkennen. Deshalb sind wir autonom, deshalb tun wir uns zusammen, arbeiten und lernen miteinander. Mit Frauen setzen wir das in Praxis um, woru¨ber alle reden. Na¨mlich: Solidarita¨t, Kampf und Schwesterlichkeit“.53 Durch das praxeologisch inspirierte Konzept der „Schwesterlichkeit“, ha¨ufiger auch der „Frauensolidarita¨t“, schufen Feministinnen ein neues Koordinatensystem, an dem sie ihr freiwilliges Handeln ausrichteten. Es verlieh Vorstellungen der sozial verstandenen „Mu¨tterlichkeit“, mit der die Alte Frauenbewegung ihre Hilfsta¨tigkeiten familialisiert und als ein hierarchisch-pa¨dagogisches Verha¨ltnis konzipiert hatte, eine radikal-egalita¨re Wendung, die wiederum mit den neuen Praktiken der feministischen Alternativkultur korrespondierte. Eine Aktivistin der Informationsstelle fu¨r Frauen (Infra), die aus der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) in Zu¨rich hervorgegangen war, brachte diesen Solidarita¨tsgedanken 1977 so zum Ausdruck: „Wir arbeiten zwar umsonst, wollen aber kein Wohlta¨tigkeitsverein sein, sondern wir versuchen, Solidarita¨t mit anderen Frauen in der konkreten Situation zu praktizieren. Wir wollen und ko¨nnen auch kein blosser Dienstleistungsbetrieb sein, da wir alle fu¨r diese Arbeit nicht fachlich qualifiziert sind. Die Probleme, die die ratsuchenden Frauen in die Infra fu¨hren, ko¨nnen wir fu¨r sie nicht lo¨sen; bestenfalls ko¨nnen wir ihnen, neben konkreten Informationen (Vermittlung geeigneter Adressen etc.), das Gefu¨hl vermitteln, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht allein dastehen. Durch die Einsicht, dass ihre Probleme nicht nur perso¨nliche sind, gewinnen sie Selbstvertrauen. Wo mo¨glich, mo¨chten wir dies noch versta¨rken mithilfe von Gruppengespra¨chen unter den Besucherinnen und Infrafrauen. Nicht zuletzt ziehen wir daraus einen perso¨nlichen Gewinn: Wir lernen Frauen, Lebenssituationen und Probleme kennen, mit denen wir sonst vielleicht u¨berhaupt nie konfrontiert wu¨rden. Erfolgreich wa¨ren unsere Gespra¨che dort, wo sie, neben der praktischen Hilfe, als Anstoss wirkten zur Infragestellung der heutigen, gesellschaftlichen Situation der Frauen.“54

Die Erkla¨rung ist insofern aussagekra¨ftig, als sie deutliche Abgrenzungen markiert – sowohl gegenu¨ber der alten Wohlta¨tigkeit als auch gegenu¨ber der staatlichen Fu¨rsorgebu¨rokratie. Dabei geht sie von antiautorita¨ren und emanzipatorischen Zielvorstellungen aus, die – typisch fu¨r das feministische Alternativmilieu – Ratsuchende und

53 Zit. nach: Kristina Schulz, Leena Schmitter u. Sarah Kiani, Frauenbewegung. Die Schweiz seit 1968. Analysen, Dokumente, Archive, Baden 2014, 49. Zum Konzept der „sozialen Mu¨tterlichkeit“ vgl. Matter, Armut, wie Anm. 21, 51. 54 Die Infra Zu¨rich, in: Fraue-Zitig, 7 (1977), zit. nach: Joris/Witzig, Frauengeschichte(n), wie Anm. 34, 546.

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Ratgebende zu einem solidarischen Lern- und Handlungskollektiv mit dezentralen Entscheidungsstrukturen vereinen.55 Eineinhalb Jahrzehnte spa¨ter waren diese Hoffnungen weitgehend verflogen, wie Marion Steffens, eine Aktivistin und mittlerweile bezahlte Mitarbeiterin eines Frauenhauses, 1991 ru¨ckblickend feststellte: „Die Verknu¨pfung von Arbeit, Politik und Privatem hatte ja zuna¨chst etwas ausserordentlich Politisierendes, vor allem, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen der spa¨ten 60er- und fru¨ hen 70er-Jahre bedenken. Dieser Impuls und die Beibehaltung der damit verbundenen politischen Ziele liessen sich aber nicht durchhalten.“ Den verlorenen Schwung beklagte sie als eine „Entpolitisierung der Frauenhausbewegung“, die sie vor allem auf die zunehmende Bezahlung und die geregelten Arbeitsverha¨ltnisse zuru¨ckfu¨hrte:56 „Radikal politische Ziele sind demnach wohl kaum mit den Mitteln der Arbeit umzusetzen“, so ihr Fazit.57 In den 1980ern verlor das unentgeltliche Engagement seine unbestrittene Selbstversta¨ndlichkeit. Scheiterten autonome Frauenprojekte nicht an den eigenen, hochgesteckten Anspru¨chen, so waren Schwierigkeiten bei der Suche nach erschwinglichen Ra¨umlichkeiten und Friktionen zwischen den verschiedenen Gruppen – Lesben und Heteras, Mu¨tter und Kinderlose, Politaktivistinnen und Kulturschaffende – die Auslo¨ser.58 Vom unentgeltlichen Engagement lebende Einrichtungen bekundeten zunehmend Mu¨he, genu¨gend freiwillige Mitarbeiterinnen zu finden. Das spu¨rte vor allem die autonome feministische Presse, der die Schreiberinnen – und Leserinnen – zunehmend abhandenkamen. 1996 musste die „Emanzipation“ ihre Arbeit einstellen. 2000 sah auch die einzige deutschschweizerische Lesbenzeitung ihr Ende kommen: „vielleicht ist die Zeit von engagierter Gratisarbeit vorbei“, mutmaßten ihre Herausgeberinnen, „und bald werden wir im Museum als Beispiele fu¨r eine besondere ,Spezie rara‘ (sic) ausgestellt“.59 Zu den Sorgen um das nachlassende Engagement gesellten sich um die Mitte der 1980er-Jahre Klagen u¨ber die als schwierig empfundene Vereinbarkeit von Ausbildung und Familienarbeit, Beruf und projektbezogener Freiwilligenarbeit. 1986 riefen Basler Frauengruppen zum Beispiel zu einer o¨ffentlichen Reflexionsveranstaltung zum Thema „Gratisarbeit – unterbezahlte Arbeit in der Frauenbewegung. Vorteile, Nach-

55 Vgl. Ruth Hungerbu¨hler, Neue autonome Frauenbewegung. Entstehung neuer Frauenorganisationen und -projekte seit Beginn der Siebziger Jahre, in: Eidgeno¨ssische Kommission fu¨r Frauenfragen (Hg.), Die Stellung der Frau in der Schweiz. Teil IV: Frauenpolitik, Bern 1984, 99–118. 56 Marion Steffens, Arbeit und Politik in feministischen Projekten, in: Olympe, 15 (2001), 96–102, 98. 57 Steffens, Arbeit, wie Anm. 56, 102. 58 „Schweizer Frauenzentren: Kei Huus, kei Schtutz“, in: Emanzipation, 12, 5 (1986), 10–12. Zu den inneren Friktionen vgl. Danie`le Lenzin, Die Sache der Frauen. OFRA und die Frauenbewegung in der Schweiz, Zu¨rich 2000, 82–109. 59 Erika Mezger, Editorial, in: Die: Lesbenzeitschrift, 15 (2000), 5.

Regula Ludi und Matthias Ruoss, Freiwilligkeit und Geschlechterarrangements

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teile, offene Fragen und fehlende Antworten“ auf.60 Das nun o¨fters auch im Krisenmodus artikulierte Hadern mit Sinn und Zweck der eigenen Ta¨tigkeit wurde so immer mehr zum Anlass der Selbstbefragung. „Gratisarbeit“ avancierte zu einer Chiffre des Unbehagens gegenu¨ber der selbst geleisteten Freiwilligenarbeit. Spa¨testens um die Mitte der 1980er-Jahre war es im feministischen Milieu keine Selbstversta¨ndlichkeit mehr, in eigener Sache unentgeltliche Arbeit zu verrichten. Der Appell an Gleichgesinnte fruchtete kaum mehr. Erschwerend kam hinzu, dass der lauter werdende Ruf nach Freiwilligen in Zeiten der „Krise des Sozialstaates“ unter anderem auch die feministische Gegenkultur unter Druck setzte. Zudem erwuchs ihr neue Konkurrenz, die zum Teil aus den eigenen Reihen stammte, so unter anderem durch das 1986 von Ruth Marx mitgegru¨ndete Bu¨ro fu¨r Beratung und Kommunikation Femmedia.61 Die rasch expandierende Beratungsindustrie, die professionelle soziale Arbeit und nicht zuletzt die etablierte Gemeinnu¨tzigkeit rekrutierten ehemalige Mitarbeiterinnen feministischer Projekte mit dem Angebot finanziell abgesicherter Jobs.62

4.

Fazit und Ausblick

Die feministische Kritik und Selbstbefragung gipfelten in einer tiefen und anhaltenden gesellschaftlichen Verunsicherung u¨ber Sinn und Zweck, u¨ber Notwendigkeit und Legitimation der Freiwilligenarbeit. Indem sie die Strukturen und Hierarchien offenlegten, welche die Organisation der Freiwilligkeit regulierten, enthu¨llten sie deren Bru¨chigkeit und Verhandelbarkeit. Als Folge davon stellte sich die Grundsatzfrage, „ob dieses Prinzip des freiwilligen und unentgeltlichen Dienstes noch Zukunft hat“ – eine Frage, die mitunter das Vertrauen in die politische Kultur der Schweiz erschu¨tterte.63 Die rasch schwindende Selbstversta¨ndlichkeit der unentgeltlichen und gesellschaftlich wenig honorierten Freiwilligenarbeit von Frauen setzte in den 1990ern einen Reorientierungsprozess in Gang. Foren der etablierten Gemeinnu¨tzigkeit implementierten neue Modelle des unentgeltlichen Engagements, welche die vielfach beklagten Rekrutierungsprobleme beheben und einen la¨ngerfristigen und verbindlichen Einsatz von Freiwilligen garantieren sollten. Zeitgleich etablierten sie neue Fo¨rder- und Aktivierungsprogramme, welche die nicht mehr fraglos verfu¨gbare Freiwilligkeit rational bewirtschafteten: Ausbildungsga¨nge fu¨r Freiwillige, Vermittlungsagenturen, universita¨re Forschungsinstitute, politische Fo¨rderungsprogramme und eine boomende Ratge60 So z. B. die Anku¨ndigung einer Reflexionsveranstaltung zu „Gratisarbeit – unterbezahlte Arbeit in der Frauenbewegung. Vorteile, Nachteile, offene Fragen und fehlende Antworten“, in: Emanzipation, 12, 7 (1986), 28. 61 Vgl. http://www.fetz.ch/medienecho/texte/af_6113.htm, Zugriff: 29. 5. 2019. 62 Viele ehemalige Aktivistinnen machten sich als Anwa¨ltinnen und A¨rztinnen selbststa¨ndig oder gru¨ndeten Beratungsbu¨ros. 63 Ro¨o¨sli, Einleitung, wie Anm. 47, 2.

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berliteratur. Die neue Kultur der Anrufung absorbierte die feministische Kritik und forcierte die Diskussion um die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, die durch die beschleunigte Automatisierung von Produktionsprozessen und die Verbreitung elektronischer Informationstechnologien im Dienstleistungsbereich zusa¨tzliche Brisanz erhielt. Wa¨hrend die feministische Neucodierung des freiwilligen Helfens von Frauen den Modus der gesellschaftlichen Selbstorganisation generell in eine Krise stu¨rzte, ku¨ndigte sich in den skizzierten Entwicklungen ein neuer Trend an. Seit den 1980er-Jahren wich die feministische Kritik sukzessive einer durchgreifenden Kommodifizierung und Monetarisierung freiwillig erbrachter Leistungen, die ein tiefgreifendes Unbehagen an der sich rasch wandelnden Organisation und Umverteilung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit nur notdu¨rftig verdeckte. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass die Entgrenzung des Arbeitsbegriffs als Ergebnis feministischer Neucodierung diese Entwicklung mitverursachte. Ob sich die neoliberal animierte Reorganisation der Freiwilligenarbeit mit Nancy Fraser als List der Geschichte interpretieren la¨sst, muss die ¨ berlegungen, dass in weitere Forschung zeigen.64 Auf jeden Fall aber belegen unsere U der Freiwilligkeit weit mehr steckt, als die eng mit der neuen Kultur der Anrufung verbundene Klage u¨ber ihre verkannte zivilgesellschaftliche Bedeutung erahnen la¨sst. Fu¨r die Geschichtswissenschaft, und insbesondere die Geschlechtergeschichte, ist die Freiwilligkeit ein vielversprechender Untersuchungsgegenstand. A¨hnlich wie die Hausarbeit in den 1970ern ist sie ein epistemischer Ausgangspunkt, der einen neuen Blick auf gesellschaftliche Strukturen und Organisationsprinzipien, soziale Regeln und Subjektkonstitutionen ero¨ffnet.

64 Vgl. Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Bla¨tter fu¨r deutsche und internationale Politik, 54, 8 (2009), 43–57. Vgl. zur Schweiz Regula Ludi, Matthias Ruoss u. Leena Schmitter (Hg.), Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz, Zu¨rich 2018.

Ehe und Scheidung nach der Scharia. Schariagerichtsakten aus dem habsburgischen Bosnien-Herzegowina (1878–1918)

Im Zuge der o¨sterreichisch-ungarischen Okkupation1 der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina im Jahr 1878 kam erstmals ein Gebiet mit einer signifikanten Anzahl an MuslimInnen unter habsburgische Herrschaft.2 Dies hatte zur Folge, dass die neu errichtete o¨sterreichisch-ungarische Verwaltung mit der Regelung islamischer Institutionen, einschließlich des Schariagerichtswesens, konfrontiert war. Die Schariagerichte, die nach islamischen Vorschriften Recht sprachen, blieben auch unter der o¨sterreichisch-ungarischen Herrschaft weiterhin bestehen. Denn die osmanische Gerichtsaufteilung, wonach die jeweiligen Religionsgemeinschaften ehe- und familienrechtliche Angelegenheiten verwalteten, wurde beibehalten. Allerdings kam es zu gewissen Modifikationen: Durch die Errichtung eines Schariaobergerichts als Berufungsinstanz in Sarajevo im Juli 1879 wurde ein zweistufiges Schariagerichtssystem geschaffen. Und die 1883 erlassene „Verordnung u¨ber die Organisation und den Wirkungskreis der Scheriatsgerichte“, welche die Kompetenzen der Schariagerichte unter habsburgischer Verwaltung grundlegend definierte, beschra¨nkte deren Zusta¨ndigkeit auf die Regelung von ehe-, familien- und erbrechtlichen Fragen bei der muslimischen Bevo¨lkerung.3 An diesen Schariagerichten wurde folglich eine Fu¨lle an Akten produziert, welche von der Regulierung und Aushandlung von Ehe- und Familienbeziehungen zeugen. 1 Mit der Okkupation 1878 wurde Bosnien-Herzegowina zwar de facto unter die Verwaltung der Habsburgermonarchie gestellt, blieb jedoch de jure Bestandteil des Osmanischen Reiches. Erst mit der Annexion 1908 wurde Bosnien-Herzegowina formell in die o¨sterreichisch-ungarische Monarchie eingegliedert. Dies hatte allerdings keinen direkten Einfluss auf die Struktur und die Funktionsweise der Schariagerichte. 2 Gema¨ß einer Volksza¨hlung im Jahr 1879 waren 38 % der Bevo¨lkerung Bosnien-Herzegowinas muslimisch, 43 % christlich-orthodox und 18 % katholisch; daneben gab es in mehreren Sta¨dten bedeutende ju¨dische Gemeinden. Vgl. Robin Okey, Taming Balkan Nationalism. The Habsburg „Civilizing Mission“ in Bosnia, Oxford 2007, 8. 3 Zum Schariagerichtssystem unter habsburgischer Herrschaft vgl. Mehmed Bec´ic´, Das Privatrecht in Bosnien-Herzegowina (1878–1918), in: Thomas Simon (Hg.), Konflikt und Koexistenz. Die Rechtsordnungen Su¨dosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2: Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien. Unter Mitarbeit von Gerd Bender u. Jani Kirov, Frankfurt a. M. 2017, 71–135, 114–122.

AUS DEN ARCHIVEN

Ninja Bumann

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Ein großer Teil dieser Dokumente ist heute noch in lokalen Archiven und im Staatsarchiv Bosnien-Herzegowinas (Arhiv Bosne i Hercegovine) erhalten.4 Diese Akten stellen daher einen wichtigen Fundus sowohl fu¨r rechtshistorische als auch fu¨r geschlechtergeschichtliche Studien dar. Da diese Gerichtsdossiers neben den Urteilen und der Korrespondenz zwischen den erstinstanzlichen Bezirksschariagerichten5 und dem Schariaobergericht sowie weiteren Beho¨rden oft auch die durch die jeweiligen Gerichtsparteien eingebrachten Klagen und die Protokolle von der Einvernahme der Gerichtsparteien und ZeugInnen enthalten, lassen sich u¨ber diese Akten ebenso die ,Stimmen‘ von lokalen Muslimen und Musliminnen aus unterschiedlichen sozialen Schichten herauslesen. Daru¨ber hinaus liefern diese Dokumente Daten u¨ber ga¨ngige Ehe- und Familienstrukturen, die sich im Laufe der habsburgischen Herrschaft zu wandeln schienen. Dies illustriert etwa die steigende Scheidungsrate: Wa¨hrend im Jahr 1885 lediglich 173 Scheidungen bei 5.759 Eheschließungen an Schariagerichten durchgefu¨hrt wurden, waren es 1906 bereits 773 bei gleichzeitig 7.311 Eheschließungen.6 Nicht zuletzt werden in den Gerichtsakten geschlechterspezifische Handlungsspielra¨ume sichtbar, zumal das islamische Recht – wie auch die zeitgeno¨ssischen rechtlichen Normen der anderen Religionsgemeinschaften Bosnien-Herzegowinas7 – unterschiedliche Rechte und Pflichten fu¨r Frauen und Ma¨nner vorsah. Wa¨hrend sich nach Schariarecht ein Mann ohne Angabe von Gru¨nden scheiden lassen und sogar lediglich durch die A¨ußerung der Absicht, seine Frau zu verlassen, die Ehe auflo¨sen konnte, war Frauen nur in ganz spezifischen Fa¨llen eine Scheidung mo¨glich.8 Sie hatten hingegen Anspruch auf den sogenannten mehr, eine Brautgabe beziehungsweise das 4 Wa¨hrend der Bestand des Schariaobergerichts im Staatsarchiv Bosnien-Herzegowinas a¨ußerst gut erhalten und inventarisiert ist, sind von den Dokumenten der erstinstanzlichen Schariagerichte oftmals nur einzelne Jahrga¨nge erhalten. Zur Archiv-Problematik bezu¨glich der erstinstanzlichen Schariagerichte vgl. Esaf Levic´, Znacˇaj fonda „Kotarski ˇserijatski sud Tuzla“ kao primarnog historijskog izvora za rekonstrukciju prosˇlosti [Die Bedeutung des Fonds „Bezirksschariagericht Tuzla“ als prima¨re historische Quelle fu¨r die Rekonstruktion der Vergangenheit], in: Gracˇanicˇki glasnik. ˇ asopis za kulturnu historiju [Bote aus Gracˇanica. Zeitschrift fu¨r Kulturgeschichte], 32 (2011), C 223–226, 225. 5 Bis 1906 waren die gerichtlichen Agenden – einschließlich der schariarechtlichen Verfahren – in administrativer und disziplina¨rer Hinsicht den Bezirksvorstehern untergeordnet. Daher wurden die lokalen erstinstanzlichen Schariagerichte bis dahin offiziell als „Bezirksa¨mter als Schariagerichte“ bezeichnet. Im Folgenden werden diese jedoch auch fu¨r den Zeitraum vor 1906 verku¨rzt Bezirksschariagerichte genannt. 6 Vgl. K. u. k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.), Bericht u¨ber die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina 1906, Wien 1906, 519. ¨ berblick u¨ber die gewohnheitsrechtlichen und kirchlichen Ehebestimmungen im habsbur7 Einen U gischen Bosnien-Herzegowina liefert – allerdings mit einem Fokus auf die christlich-orthodoxe Bevo¨lkerung in der Herzegowina – Heiner Grunert, Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herzegowina 1878–1918, Go¨ttingen 2016, 145–186. 8 Vgl. Eherecht, Familienrecht und Erbrecht der Mohamedaner nach hanefitischem Ritus, Wien 1883, 57–86; Eugen Sladovic´, Islamsko Pravo u Bosni i Hercegovini [Islamisches Recht in Bosnien-Herzegowina], Beograd 1926, 75–77, 80.

Aus den Archiven

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Vermo¨gen, das der Mann oder ein Dritter der Ehefrau als Gegenleistung fu¨r die eheliche Gemeinschaft bezahlte oder zusicherte. Wenn dieser mehr jedoch nicht ausbezahlt oder u¨berhaupt nicht festgelegt war, so konnten Frauen bei der Auflo¨sung einer Ehe dennoch dessen Auszahlung fordern.9 Außerdem hatten Frauen bei der Auflo¨sung einer Ehe fu¨r die Zeit der iddet10 Anspruch auf Unterhaltszahlungen, die sogenannte nafaka.11 Diese unterschiedlichen rechtlichen Vorschriften fu¨r Frauen und Ma¨nner wirkten sich durchaus auf das Klageverhalten aus: Die Prozessakten aus dem Bestand des Schariaobergerichts, die sich hauptsa¨chlich auf Ehestreitigkeiten zwischen EhepartnerInnen beziehen, zeigen, dass zwischen 1879 und 1899 Frauen am ha¨ufigsten Klagen wegen Unterhaltszahlungen (insgesamt 83 Klagen) einreichten, gefolgt von Scheidungsklagen (insgesamt 62 Klagen). Ma¨nner hingegen gingen in diesem Zeitraum am ha¨ufigsten wegen des „gemeinsamen Ehelebens“ („zajednicˇko zˇivljenje“, insgesamt 35 Klagen) 12 vor das Schariaobergericht, gefolgt von Verhandlungen zu Unterhaltszahlungen (25 Klagen).13 Als Beispiel fu¨r ein Verfahren vor dem Schariaobergericht kann der Prozess u¨ber die Klage von Abida Tufekcˇic´ herangezogen werden. Diese hatte laut einer Mitteilung der Landesregierung14 in Sarajevo an das Schariaobergericht vom 23. Oktober 1896 folgende Beschwerde eingereicht:

9 Grundsa¨tzlich wurde zwischen dem mehri muaddzˇel und dem mehri mueddzˇel unterschieden: Ersteres bezeichnet den ganzen oder einen Teil des mehr, der bei der Eheschließung u¨bergeben wurde, wa¨hrend bei Letzterem der mehr in Tranchen innerhalb einer gewissen Frist ausbezahlt wurde. Vgl. Eherecht der Mohamedaner, wie Anm. 8, 27–41; Sladovic´, Islamsko Pravo, wie Anm. 8, 71–75. 10 Unter iddet wird die Untersagung jeden intimen Verkehrs mit einem Mann verstanden, die Frauen nach einer Scheidung, Verstoßung oder Verwitwung u¨ber einen bestimmten Zeitraum (i. d. R. drei Monate) angeordnet wurde. 11 Vgl. Eherecht der Mohamedaner, wie Anm. 8, 43–54, 90f.; Sladovic´, Islamsko Pravo, wie Anm. 8, 91. 12 So wurden i. d. R. Fa¨lle bezeichnet, bei denen die Ehefrau den Ehemann gegen dessen Willen und ohne eine offizielle Auflo¨sung der Ehe verlassen hatte und in der Folge der Ehemann die Ehefrau u¨ber den Gerichtsweg zur Ru¨ckkehr bringen wollte. Vgl. Hana Younis, Razvjencˇanja kroz dokumente Vrhovnog ˇserijatskog suda Sarajevo u prvim decenijama nakon Austro-Ugarske okupacije [Scheidungen in Dokumenten des Schariaobergerichts in Sarajevo in den ersten Jahrzehnten nach der o¨sterreichisch-ungarischen Okkupation], in: Halit Eren (Hg.), Proceedings of the Fifth International Congress on Islamic Civilization in the Balkans, Sarajevo 2015, 419–436. 13 Insgesamt sind von diesen Prozessakten aus dem Zeitraum 1879–1899 Dokumente von 578 Gerichtsfa¨llen erhalten; dabei wurden 301 Klagen am Schariaobergericht von Ma¨nnern eingereicht, wa¨hrend 237 von Frauen eingegeben wurden. Vgl. Arhiv Bosne i Hercegovine (ABiH), Vrhovni ˇserijatski sud za Bosnu i Hercegovinu (VSˇS) [Schariaobergericht fu¨r Bosnien-Herzegowina], Inventar: Vrhovni ˇserijatski sud za BiH pri Vrhovnom sudu za BiH [Schariaobergericht fu¨r BiH beim Obergericht fu¨r BiH], Sarajevo 1879–1946. I, 25–54. 14 Die Landesregierung mit Sitz in Sarajevo war die oberste lokale Beho¨rde in Bosnien-Herzegowina und unterstand dem sogenannten bosnischen Bureau des k. u. k. Finanzministeriums, das die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas von Wien aus leitete.

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„Es sind bereits vier Jahre vergangen, seit mich Zajko Zlotrg aus Vitez verlassen hat. Der damalige Kadi aus Travnik hat angeordnet, dass mir als nic´ah [mehr/Brautgabe; Anm.] 833 Groschen 13 Para und als nafaka [Unterhaltszahlungen; Anm.] fu¨r das Kind acht Forint monatlich bezahlt werde. Allerdings hat mir Zajko Zlotrg bis heute nichts bezahlt, und jetzt heißt es beim Schariagericht in Travnik wieder, dass er nun nichts zahlen muss. Ich bitte demnach anzuordnen, dass mir bezahlt wird, was mir nach dem Gesetz zusteht.“15

Aus den Akten ist ersichtlich, dass das Schariaobergericht daraufhin beim lokalen Bezirksschariagericht in Travnik Nachforschungen anstellte. Dabei zeigte sich, dass Abida Tufekcˇic´ bereits im Jahr 1894 am Schariaobergericht Berufung gegen ein Urteil des erstinstanzlichen Bezirksschariagerichts in Travnik eingelegt hatte. Doch das Urteil, wonach sie von ihrem fru¨heren Ehemann Zajko Zlotrg anstelle der geforderten 833 Groschen und 13 Para nur 101 Groschen als mehri misil16 bekommen sollte und er monatlich lediglich 50 Groschen Unterhaltszahlungen fu¨r das gemeinsame Kind leisten mu¨sse, war bereits damals durch das Schariaobergericht besta¨tigt worden. Daru¨ber hinaus erfuhr das Schariaobergericht, dass ein neuerliches Urteil des Bezirksschariagerichts in Travnik vom 2. Mai 1896 besagte, Abida Tufekcˇic´ mu¨sse ihre minderja¨hrige Tochter Sida dem Vater und ehemaligen Ehemann Zajko Zlotrg u¨bergeben. In der Folge stufte das Schariaobergericht die in Tufekcˇic´s Einspruch angefu¨hrten Angaben als unwahr ein und wies ihre im Oktober 1896 bei der Landesregierung eingereichte Klage ab, zumal diese auch nicht auf ordentlichem Wege erfolgt war.17 Dieser Fall zeigt exemplarisch, dass Frauen zur Regelung von Eheangelegenheiten durchaus vor Gericht gingen und u¨ber mehrere Instanzen versuchten, ein in ihren Augen ,gerechtes‘ Urteil zu erwirken. So betonte die Kla¨gerin Abida Tufekcˇic´, dass ihr die Summe, die sie fu¨r den mehr und die nafaka forderte, „nach dem Gesetz“ zustehe. Gleichzeitig geht aus den Akten hervor, dass die Kla¨gerin wohl nur unzureichend u¨ber die Verfahrensregeln informiert war, zumal ihr Verfahrensfehler unterlaufen waren: Denn Tufekcˇic´ reichte ihre Beschwerde vom Oktober 1896 bei der Landesregierung ein, obwohl sie diese direkt beim Schariaobergericht oder beim entsprechenden Be-

15 „Nastala je vec´ cˇetvrta godina kako me je pustio Zajko Zlotrg iz Viteza. Ondasˇnji kadija iz Travnika odredio da mi se plati nic´ah 833 grosˇa 13 para i djecinja (sic) nafaka po 8 frt. mjesecˇno. Nu Zajko Zlotrg do danas nije mi nisˇta platio, to se sada opet veli na ˇserijatskom sudu u Travniku, da on nije sad nisˇta duzˇan platiti. Molim, da se shodno odredi, da se meni plati, ˇsto mi spada po zakonu.“ ABiH, VSˇS, Kutija br. 19, B 1894/36: Tufekcˇic´ Abida protiv supruga Zlotrga Zaimbega zbog svoje i djecˇije nafake, Travnik [Tufekcˇic´ Abida gegen ihren Ehemann Zlotrg Zaimbeg wegen ihrer und des Kindes ¨ bersetzung durch die Autorin. nafaka, Travnik]. U 16 Mehri misil bezeichnet den „herko¨mmlichen mehr“, der dann zu tragen kam, wenn bei der Eheschließung die Ho¨he des mehr nicht bestimmt worden war. Zur Festsetzung des „herko¨mmlichen mehr“ war die Erkla¨rung von zwei ma¨nnlichen oder eines ma¨nnlichen und zwei weiblichen ZeugInnen notwendig. Vgl. Eherecht der Mohamedaner, wie Anm. 8, 28f. 17 Vgl. ABiH, VSˇS, Kutija br. 19, B 1894/36.

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zirksschariagericht ha¨tte eingeben mu¨ssen.18 Dies wirkte sich nachteilig aus, da ihre Beschwerde unter anderem deshalb vom Schariaobergericht abgewiesen wurde. Daru¨ber hinaus lassen sich Rechtsvorstellungen der anderen Parteien herauslesen. So befanden die ZeugInnen, die im Rahmen der ersten Gerichtsverhandlung im Jahr 1894 zur Festsetzung des mehri misil geladen waren, dass der niedrigere mehri misil von 101 Groschen deswegen angemessen sei, weil Abida Tufekcˇic´ zum Zeitpunkt der Eheschließung mit Zajko Zlotrg bereits Witwe war.19 Somit waren die ZeugInnen der Auffassung, dass sich der Wert des mehri misil nicht nur nach wirtschaftlichen Richtlinien bemessen lasse, sondern eben auch nach anderen Kriterien, etwa dem Familienstand der Frau.20 Wie in diesem Gerichtsfall dargelegt, geben die Schariagerichtsakten Aufschluss u¨ber unterschiedliche Rechtsvorstellungen und die Aushandlungsprozesse von Eheund Familienbeziehungen zwischen lokalen Frauen und Ma¨nnern, Schariarichtern und habsburgischen Beamten vor Gericht. Dadurch sind sie ein idealer Quellenbestand, um die im habsburgischen Bosnien-Herzegowina vorherrschenden Ehe- und Familienverha¨ltnisse und -bra¨uche sowie deren Normierung, aber auch deren Konfliktpotenzial zu analysieren. Nicht zuletzt bieten diese Akten einen Einblick in die geschlechtsspezifischen Handlungsspielra¨ume in diesem Bereich.

18 Vgl. Franjo Kruszelnicki, Postupak pred ˇserijatskim sudovima u Bosni i Hercegovini. Otisak iz „Mjesecˇnika“ broj 11 i 12 iz g. 1916 i broj 1, 2 i 3 iz g. 1917 [Verfahren vor den Schariagerichten in Bosnien-Herzegowina. Nachdruck aus der „Monatsschrift“ Nummer 11 und 12 aus 1916 und Nummer 1, 2 und 3 aus 1917], Zagreb 1917, 49, 53. 19 Vgl. ABiH, VSˇS, Kutija br. 19, B 1894/36. 20 Solche Maßsta¨be zur Festsetzung des mehri misil waren im Schariarecht durchaus vorgesehen. So sollte etwa auch die Scho¨nheit der Ehefrau oder deren Jungfra¨ulichkeit beru¨cksichtigt werden. Dies ist in diesem Beispiel auch der Fall, da eine Witwe weniger ,wert‘ war als eine jungfra¨uliche Braut. Vgl. Eherecht der Mohamedaner, wie Anm. 8, 28f.

Traude Kogoj1

Die Eisenbahnerinnen in der Zeit des Nationalsozialismus. Erkenntnisinteresse und Leerstellen

¨ sterreich stellten sich die O ¨ BB (O ¨ sterreichischen Nach 175 Jahren Eisenbahn in O Bundesbahnen) im Fru¨hjahr 2012 dem dunkelsten Kapitel ihrer Firmengeschichte. ¨ sterreich Unter dem Arbeitstitel „Verdra¨ngte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in O 1938–1945“ erforschte das Unternehmen erstmals, welche Rolle die Bahn und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Nationalsozialismus gespielt haben. Das Ergebnis der Forschungsarbeit ist unmissversta¨ndlich. Ohne die Eisenbahn als Transportmittel wa¨re die Kriegslogistik der deutschen Wehrmacht nicht machbar gewesen, ha¨tten die Aggressionskriege in Europa nicht gefu¨hrt werden ko¨nnen. Ohne die logistische Kapazita¨t der Bahn wa¨re der systematische Mord an den europa¨ischen Ju¨dinnen und Juden, an Roma und Sinti, wa¨ren die Deportationen von Homosexuellen, von Angeho¨rigen religio¨ser Gruppen (insbesondere der Zeugen Jehovas), von politisch Andersdenkenden, als „Asoziale“ Klassifizierten und von Sloweninnen und Slowenen in Konzentrationslager nicht mo¨glich gewesen. Drei Millionen Menschen aus fast ganz Europa wurden im Zweiten Weltkrieg mit Zu¨gen in die Vernichtungslager des NS¨ BB als Regimes transportiert. Die Bediensteten der Deutschen Reichsbahn und der O Teil davon waren durch die Deportation von Menschen unmittelbar am Holocaust beteiligt: „Die Reichsbahner“ hatten „unter den deutschen Zivilisten die besten Kenntnisse vom Schicksal der Deportierten“,2 resu¨miert die Ethnologin Karolin Steinke in ihrem Buch „Zu¨ge nach Ravensbru¨ck“. Nur ein einziger Angeho¨riger der Deutschen Reichsbahn wurde wegen Beteiligung an der Deportation von Ju¨dinnen und Juden in die Vernichtungslager angeklagt: Albert Ganzenmu¨ller. 1905 in Passau geboren, stieg Ganzenmu¨ller 1942 zum stellvertretenden Reichsbahngeneraldirektor auf und war mit den Deportationen perso¨nlich befasst. Das Verfahren wurde 1977 wegen Verhandlungsunfa¨higkeit eingestellt. Albert Ganzenmu¨ller wurde 91 Jahre alt und starb 1996. 1 Die Politikwissenschaftlerin und Sachbuchautorin Traude Kogoj leitet seit 2012 das Gleichstel¨ BB-Holding AG und verantwortet die Aufarbeitung der O ¨ BBlungs-/Diversitymanagement in der O Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit. 2 Karolin Steinke, Zu¨ge nach Ravensbru¨ck. Transporte mit der Reichsbahn 1939–1945. Trains to Ravensbru¨ck. Transports by the Reichsbahn 1939–1945, Berlin 2008.

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¨ BB galt das Von Beginn der Bearbeitung der Unternehmensvergangenheit der O Interesse auch den Reichsbahnerinnen. Wie viele Frauen haben wa¨hrend des Nationalsozialismus bei der Bahn gearbeitet? Welchen Ta¨tigkeiten sind sie nachgegangen? Waren sie Mitla¨uferinnen, haben sie dem verbrecherischen Regime als willige Helferinnen gedient oder leisteten sie Widerstand? Die geschlechtergeschichtliche Perspektive ero¨ffnete geeignete Blickwinkel, um zu einem umfa¨nglicheren Versta¨ndnis der Vergangenheit zu gelangen. Wenige historiografische Aufzeichnungen, eine geringe Anzahl an erhaltenen Dokumenten und Artefakten sowie bruchstu¨ckhafte Dokumentation, die weitgehend der Vernichtung der vorhandenen Akten in den letzten Kriegstagen geschuldet ist, erschwerten die Spurensuche. Wissenschaftliche Arbeiten u¨ber die „Reichsbahnerinnen“ in der NS-Zeit fehlen. Die Diplomarbeit von Edith ¨ sterreich von den Anfa¨ngen bis zur Weber u¨ber Frauen im Eisenbahndienst in O Zweiten Republik gibt einen guten Einblick in den Bahnberuf fu¨r Frauen. Die zusammengetragenen Zahlen sind aufschlussreich: So lag der Frauenanteil bei den Bundesbahnen 1927/28 bei drei Prozent, 1934 betrug dieser nur noch 1,5 Prozent. Doch auch in dieser Arbeit bleiben der Anteil und die Rolle der Eisenbahnerinnen in ¨ sterreich in der NS-Zeit vo¨llig ausgespart.3 O

1.

Die ÖBB stellen sich ihrer Geschichte

Kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte setzt Erkenntnisinteresse, Offenheit, Verantwortung, Fa¨higkeit zum Diskurs und die Bereitschaft zur Reflexion voraus. Diese Voraussetzungen gelten fu¨r die Biografiearbeit von Menschen genauso wie fu¨r die Geschichtsarbeit von Menschen in sozialen Konstrukten wie zum Beispiel Unternehmen. Nach 175 Jahren und hunderten Bahnbu¨chern, in denen die Zeit des ¨ BB daNationalsozialismus lapidar mit dem Hinweis abgehandelt wurde, dass die O mals Teil der Deutschen Reichsbahn gewesen seien, war die Voraussetzung fu¨r die kritische Betrachtung der Unternehmensgeschichte endlich reif: „Sehr positiv festzuhalten ist dabei, dass dieses Projekt nicht aus juristischen Zwa¨ngen wie den Sammelklagen in den fru¨ hen 2000er-Jahre (sic) gegen Firmen entstanden ist, sondern einen grundsa¨tzlichen Beitrag zur innerbetrieblichen Bescha¨ftigung mit der NS-Geschichte des eigenen Unternehmens darstellt“,4 schreibt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in der Einleitung der schriftlichen Dokumentation zur Unternehmensgeschichte. Rathkolb war es auch, der den gesamten Aufarbeitungsprozess wissenschaftlich begleitete. Zwei Jahre dauerten die Recherchearbeit, die Auswertung der Sekunda¨rliteratur und 3 Vgl. Kap. „Die Zwischenkriegszeit 1918–1938“ sowie Kap. „Die Zeit der Zweiten Republik“, in: ¨ sterreich. Von den Anfa¨ngen bis zur Edith Weber, Die Rolle der Frauen im Eisenbahndienst in O Zweiten Republik, unvero¨ffentlichte Diplomarbeit, Universita¨t Wien 1997, 67–119, 77, 91. ¨ BB-Holding AG (Hg.), Verdra¨ngte Jahre. Bahn und National4 Oliver Rathkolb, Einleitung, in: O ¨ sterreich 1938–1945, Wien 2012, 4. sozialismus in O

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der grauen Literatur wie Betriebszeitschriften, die Lokalisierung von Prima¨rquellen und das Erschließen von Privatnachla¨ssen. ¨ sterreich entschieden sich die O ¨ BB von Anders als andere große Unternehmen in O Beginn an dafu¨r, die Geschichtsbetrachtung und Reflexion des Nationalsozialismus nicht ausschließlich versierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu u¨berantworten. In diesen Prozess sollten mo¨glichst viele eingebunden werden: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Lehrlinge, aber auch die ehemalige Belegschaft, die Pensionistinnen und Pensionisten. Ab Dezember 2011 wurden in der monatlich er¨ BB“ ganzseitige Themenartikel mit Zeitzeuscheinenden Konzernzeitung „Unsere O gInnengespra¨chen vero¨ffentlicht und die Bediensteten zur aktiven Beteiligung eingeladen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter o¨ffneten ihre perso¨nlichen Archive. Pensionistinnen und Pensionisten erza¨hlten von ihren Erfahrungen, die sie in der NS-Zeit gemacht haben, oder verwiesen auf Menschen, die von damals berichten konnten. Im Zentrum der geschichtlichen Auseinandersetzung mit der Bahnzeit von 1938 bis ¨ BB. U ¨ ber zwanzig Auszubildende meldeten sich 1945 aber standen die Lehrlinge der O im November 2011 fu¨r eine Teilnahme am Geschichtsprojekt. Drei weibliche und vier ma¨nnliche Lehrlinge fu¨hrten, nachdem sie sich mit Bahngeschichte und der Geschichte ¨ sterreich intensiv auseinandergesetzt hatten, die Gedes Nationalsozialismus in O spra¨che mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen: „Als ich gefragt wurde, ob ich bei diesem Projekt teilnehmen will, war ich sofort begeistert, allerdings wusste ich nicht wirklich, was mich dabei erwartet. Es ist schwierig in Worte zu fassen, wie meine Empfindungen sind. Traurigkeit, Wut und Mitleid sind dabei ein sta¨ndiger Begleiter. Ich habe im Laufe des Projekts einige Zeitzeugen interviewt und ich weiß nicht, woher sie die Kraft nehmen, daru¨ ber zu sprechen“,5 schrieb Julia Scherzer, damals Lehrling, zu ¨ berlebenden des Holocaust, mit Projektende. Insbesondere die Gespra¨che mit den U Rudi Gelbard, der nach Theresienstadt deportiert worden war, und mit Norbert Lopper, der im Vernichtungslager Auschwitz zusehen musste, wie seine Ehefrau und seine Schwester von der Rampe des Konzentrationslagers direkt in die Gaskammer geschickt worden waren, vermittelten drastische Einblicke in die menschenverachtende NS-To¨tungsmaschinerie. Die Eindru¨cke und Inhalte aus diesen Gespra¨chen mussten von den Lehrlingen erst verarbeitet werden. Diese wurden im Team diskutiert und bearbeitet. Insgesamt wurden mit vier Zeitzeuginnen und sechs Zeitzeugen Gespra¨che gefu¨hrt. Als Gespra¨chsvorbereitung bekamen die Lehrlinge lediglich biografische Daten zur Verfu¨gung gestellt. Die Entwicklung der Fragen erfolgte eigensta¨ndig. Die Gespra¨che vor Ort wurden ebenfalls ausschließlich von den Lehrlingen gefu¨hrt und von einem Kameramann gefilmt. Mindestens eine pa¨dagogisch ausgebildete Person hielt sich im Hintergrund oder in einem Nebenraum auf, um bei Bedarf fu¨r die Lehrlinge und die ZeitzeugInnen da zu sein. Auszu¨ge aus den Gespra¨chen strahlte der Sender ORF III ¨ BB, Verdra¨ngte Jahre, wie Anm. 4, 116. 5 Zit. nach: Traude Kogoj, Nachwort, in: O

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¨ BB auf Spuren2012 im Rahmen der TV-Dokumentation „Verdra¨ngte Jahre. Die O suche in der NS-Zeit“ aus. Das Quellenstudium, das zusammengetragene Wissen, die enge Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn, die ihre NS-Geschichte bereits 2008 aufgearbeitet hatte,6 die Gespra¨che mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie das Auffinden von Originaldokumenten bildeten schließlich die Basis fu¨r die schriftliche Dokumentation und die Themenausstellung mit dem gleichlautenden Titel „Verdra¨ngte Jahre. Bahn und Na¨ sterreich 1938–1945“. Neben der Vermittlung der Unternehtionalsozialismus in O ¨ BB der Diskurs mit der Bevo¨lkerung mensgeschichte an die Belegschaft war den O ¨ BB-Geba¨ude am Praterstern erstwichtig. Die Themenausstellung wurde 2012 im O ¨ BB-Remise mals gezeigt. Es folgten Ausstellungen im Wissensturm Linz, in der O Salzburg, im GrazMuseum, im Landesmuseum Ka¨rnten, im Europa¨ischen Parlament, im Stadtmuseum Wiener Neustadt, an der Universita¨t Tel Aviv, am Bahnhof Maut¨ BB-Themenausstellung hausen und im Mauthausen Memorial. Seit 2016 wird die O im unternehmenseigenen Bildungszentrum St. Po¨lten/Wo¨rth dauerhaft gezeigt.

2.

Männlich dominierte Perspektive

Die Erkenntnisse aus Quellenstudium und Quellenanalyse, aus vergleichender For¨ berschung und Archivarbeit geben ein relativ pra¨zises Bild von der Dynamik der U ¨ BB7 durch die Nazis und von der Rolle der o¨sterreichischen Bahnbenahme der O diensteten bei der Umsetzung der NS-Ideologie. Eine Woche nach dem Einmarsch der ¨ sterreich im Ma¨rz 1938 waren die O ¨ BB Teil der Deutschen Hitler-Truppen in O Reichsbahn. Die Organisationsstruktur vera¨nderte sich. Rund 20 Prozent der Bahnbediensteten wurden umgehend aus dem Dienst entlassen. Weitere 20 Prozent wurden ins Altreich8 oder in weiterer Folge in die vom nationalsozialistischen Deutschland ¨ sterreich lebenden besetzten Gebiete abgeordnet – also dienstversetzt. Fu¨ r die in O Nazis ging die Tu¨ r weit auf. Wenige Monate nach dem Einmarsch wurden 9.000 der nach dem NS-Verbot im Untergrund arbeitenden Nazis, die sogenannten ,Alten Ka¨mpfer‘, neu eingestellt. Die Leitung der drei Reichsbahndirektionen in Wien, Linz und Villach wurde mit heimischen Eisenbahnern, die alle NS-Parteimitglieder waren, ¨ BB in die Deutsche Reichsbahn wurde ¨ berleitung der O besetzt. Die vollsta¨ndige U 6 Vgl. Andreas Engwert u. Susanne Kill (Hg.), Sonderzu¨ge in den Tod. Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn, Ko¨ln 2009. ¨ sterreichischen Bundesbahnen mit BBO ¨ abgeku¨rzt. Der 7 Bis zum „Anschluss“ 1938 wurden die O ¨ BB verwendet. Einfachheit halber wird im gesamten Text die ab 1945 gebrauchte Abku¨rzung O ¨ sterreichs bezeichneten die deutschen Beho¨rden das urspru¨ngliche deutsche 8 Seit dem „Anschluss“ O Staatsgebiet in den Grenzen von 1937 als Altreich. Diese Differenzierung gegenu¨ber den neu eingegliederten oder annektierten Gebieten wurde als notwendig erachtet, da fu¨r diese Gesetze erlassen wurden, die sich von denen des Altreichs unterschieden.

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¨ sterreich des Reichsverinnerhalb eines Jahres erledigt und die Abwicklungsstelle O kehrsministeriums konnte mit 31. Ma¨rz 1939 aufgelo¨st werden. Die Umsetzung der NS-Ideologie innerhalb des Unternehmens erfolgte eilfertig, die Bediensteten wurden einer politischen Beurteilung unterzogen und die Deutsche Arbeiterfront sorgte insbesondere bei Arbeiterinnen, Arbeitern und Lehrlingen fu¨r die Erziehung zur nationalsozialistischen Gesinnung. In einem Punkt fo¨rderte die vergleichende Forschung eine zusa¨tzliche Erkenntnis zutage: Aufseiten der o¨sterreichischen Eisenbahner sind im Vergleich mit den Reichsbahnern in Hitler-Deutschland mehr Widerstandshandlungen zu verzeichnen. Eisenbahnsabotageakte in der Ostmark waren bereits 1940 Gegenstand einer umfassenden Studie des Reichsicherheitshauptamtes. Allein von Juni bis Mitte November 1941 stellte die Gestapo auf Bahnho¨fen in Ka¨rnten und der Steiermark u¨ ber 200 Einzelsabotageakte fest, heißt es im Sammelbericht der Gestapoleitstelle Wien vom 11. November 1941.9 Prima¨rliteratur, Sekunda¨rliteratur und Popula¨rliteratur beleuchten im Falle der ¨ BB-Unternehmensgeschichte vornehmlich die Geschichte von Eisenbahnern, nicht O ausschließlich die Fu¨hrungsriege, sondern durchaus in unterschiedlichen Funktionen als Reichsbahnpra¨sident, als Lokomotivfu¨hrer, als Feldeisenbahner, als Eisenbahner im Widerstand: 154 Eisenbahner wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. 1.438 bekamen Zuchthaus- oder KZ-Strafen, 135 Bahnbedienstete starben in einem Zuchthaus oder Konzentrationslager.10 Ihre Geschichten sind weitgehend recherchiert und offen gelegt, ihrer wird auf Gedenktafeln namentlich gedacht – zu Recht.

3.

Leerstellen: Jüdische EisenbahnerInnen und Frauen

Wie viele nach dem menschenverachtenden NS-Rassegesetz klassifizierte ju¨dische ¨ BB in welchen Funktionen gearMitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben bei den O beitet? Was ist mit ihnen nach der NS-Machtu¨bernahme passiert? Prima¨rquellen und Originaldokumente, die Aufschluss ha¨tten geben ko¨nnen, sind wie vom Erdboden verschluckt. Bruchstu¨ckhafte Informationen waren lediglich indirekt ausfindig zu machen: in Artikeln der grauen Literatur wie Werkszeitschriften, die sich auf Repressalien fu¨r entlassene, ju¨dische Mitarbeiter beziehen, oder in Inseraten von Eisenbahnerfamilien in „The Jewish Chronicle“, in dem ju¨dische Eisenbahner fu¨r ihre Kinder Familien zumeist in England suchten. Unterlagen dazu wurden entweder nicht als archivierungswu¨rdig erachtet oder in den letzten Kriegstagen vernichtet – wie sa¨mtliche Dokumente der Reichsbahndirektion Wien. Eine a¨hnliche Leerstelle bildet die fehlende Repra¨sentation der Eisenbahnerinnen. Der Forschungsstand u¨ber Frauen bei der Reichsbahn ist schnell wiedergegeben. Trotz ¨ BB, Verdra¨ngte Jahre, wie Anm. 4, 80–91, 81. 9 Vgl. Kap. „Der Widerstand“, in: O ¨ sterreichs Eisenbahner im Widerstand, Wien 1968. 10 Vgl. Friedrich Vogl, O

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des ideologisch aufgeladenen NS-Frauenbildes als treue, sorgende Hausfrau und Mutter, die sich um pflegerische und soziale Belange ku¨mmern sollte und je nach Kinderanzahl mit ,Ehrenkreuzen der deutsche Mutter‘ ausgezeichnet wurde, legte die NS-Fu¨hrungsriege in den „Geheimen Richtlinien fu¨r die Bescha¨ftigung von Frauen im Notfall“ bereits im Oktober 1938 den Grundstein fu¨r die 1939 folgende „Verordnung zur Sicherstellung des Arbeitskra¨ftebedarfs“.11 Der Arbeitseinsatz von Frauen war ganz im Gegensatz zur offiziellen NS-Frauenideologie Teil der Kriegsstrategie. Nach dem Angriff auf Polen 1939 waren der sechsmonatige Reichsarbeitsdienst und nach dem ¨ berfall auf die Sowjetunion weitere sechs Monate Kriegshilfsdienst zu absolvieren. U Die Reichsbahn war mit der Einstellung von Frauen zuna¨chst zuru¨ckhaltend. Die Personalabteilungen bemu¨hten sich vor allem um die Zuweisung von Fremd- und Zwangsarbeitern. Ab 1940 wurden dann ganz offiziell immer mehr Ta¨tigkeitsfelder, die zuvor Ma¨nnern vorbehalten waren, als geeignete Arbeitspla¨tze fu¨r Frauen ausgewiesen. Um den Eisenbahnbetrieb mit Fortgang des Krieges aufrechtzuerhalten, startete 1942 ein massiver Propagandafeldzug zur Anwerbung von Frauen fu¨r die Deutsche Reichsbahn. Wa¨hrend tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, spa¨ter auch Kriegsgefangene und KZ-Ha¨ftlinge fu¨r Bahnarbeiten an der Schiene herangezogen wurden, sollte im Schalter- und Schaffnerdienst und in sicherheitsrelevanten Bereichen wie dem Schrankendienst ausschließlich deutsches Personal arbeiten. Im Amtsblatt der Reichsbahndirektion Wien sprach Reichsbahndirektionspra¨sident Rudolf To¨pfer davon, dass es jetzt an der Zeit sei, „mit allem Nachdruck deutsche Frauen fu¨r den Dienst der Deutschen Reichsbahn zu werben“.12 1943 waren 1,3 Millionen Menschen bei der Reichsbahn bescha¨ftigt, davon 190.000 Frauen, also 14,6 Prozent.13 Bevorzugt eingestellt wurden jene Frauen, die Mitglied in einem der einschla¨gigen NS-Verba¨nde waren wie im Bund Deutscher Ma¨del, im Deutschen Frauenwerk oder in der NSFrauenschaft. Scha¨tzungen zufolge geho¨rten zwo¨lf Millionen Frauen diesen Organisationen an. Eingestellt wurden Frauen in den unteren Lohngruppen im Verkehrs-, im Verwaltungsdienst und im Betriebsdienst der Deutschen Reichsbahn: als Bu¨rokra¨fte mit technischen Kenntnissen und Stenotypistinnen, im Schalter- und Abfertigungsdienst bei Fahrkartenausgaben, Gepa¨ck- und Gu¨terabfertigungen, im Betriebsdienst als Telegrafistinnen, Weichenwa¨rterinnen, Hemmschuhlegerinnen, Zugabfertigerinnen, als Sicherheitsposten bei Gleisarbeiten, als Schrankenwa¨rterinnen, Maschinenund Wagenputzerinnen, im Haus- und Reinigungsdienst, in Werk- und Lagerku¨chen. Das Reichsverkehrsministerium wies alle Direktionen insbesondere darauf hin, dass im Unterschied zu der fu¨r Ma¨nner geltenden Regelung eine Festanstellung fu¨r Frauen nicht vorgesehen sei. Eine eigensta¨ndige Interessenvertretung von Frauen wie den Verband der Reichsbahnbeamtinnen gab es seit der „Gleichschaltung“ 1933 nicht 11 Udo Kandler, Frauen bei der Reichsbahn, Essen 2014, 8. 12 Aufruf Rudolf To¨pfer, in: Amtsblatt der RBD Wien, 12 (1943). 13 Vgl. Kandler, Frauen bei der Reichsbahn, wie Anm. 11, 11.

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mehr. Die Stimmen, die sich vor 1933 fu¨r gleichen Lohn und gleichen Zugang zu planma¨ßigen Stellen stark gemacht hatten, waren zum Schweigen gebracht worden.14 1944 erging vom Reichsbevollma¨chtigten fu¨r den totalen Kriegseinsatz Joseph Goebbels die Anweisung an Verwaltungen und Beho¨rden, dreißig Prozent ihres Personals fu¨r die milita¨rische Verwendung freizumachen. Obwohl als kriegswirtschaftlich wichtiges Unternehmen klassifiziert, mussten mehr und mehr Eisenbahner den Kriegsdienst antreten. Die Arbeitsbelastung fu¨r die verbliebenen Reichsbediensteten stieg und ab 1944 konnten Frauen mit einer eigenen Dienstnadel fu¨r deutsche Eisenbahnerinnen ausgezeichnet werden. In historiografischen und popula¨rwissenschaftlichen Publikationen finden sich allenfalls vereinzelte Hinweise auf Frauen bei der Bahn im Nationalsozialismus. Detaillierte Untersuchungen, die na¨heren Aufschluss u¨ber die Anzahl der o¨sterreichischen Frauen bei der Deutschen Reichsbahn geben sowie u¨ber die Rolle, die diese eingenommen und gespielt haben, fehlen. Das Gleiche gilt fu¨r Frauen, die im Altreich bescha¨ftigt waren. Die von den Lehrlingen mithilfe der Oral-History-Methode gefu¨hrten Gespra¨che leisten erste Schritte in diese Richtung. Sie geben etwa einen tieferen Einblick in den Alltag der Eisenbahnerin Hilde Boaron, die in der NS-Zeit bei einer Nebenbahn im Burgenland ta¨tig gewesen war. Sie erza¨hlte von Repressalien, wenn sie Kriegsgefangenen, die Bahnarbeiten verrichten mussten, ein Stu¨ck Brot gab, wenn sie sich mit ihrem Geliebten, einem zivilen Arbeiter aus Italien, traf. Elfriede Strasser, Tochter eines Eisenbahners, der 1943 hingerichtet wurde, weil er fu¨r die Rote Hilfe (Unterstu¨tzung fu¨r Familien, deren Familienmitglieder in Haft geraten waren) spendete, sprach u¨ber Widerstandszellen innerhalb der Bahn und Denunziationsmuster in der Bevo¨lkerung. Die Gespra¨che fo¨rderten weitere Informationen ans Licht. ¨ BB-TheHilfreich fu¨r eine noch genauere Kontextualisierung erwies sich die O ¨ sterreich menausstellung „Verdra¨ngte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in O 1938–1945“, die bisher an zehn Orten gastierte. Die Ausstellung ero¨ffnete Diskursra¨ume mit der interessierten Bevo¨lkerung, mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, dem Unternehmen und der Wissenschaft. Besonders erwa¨hnenswert sind die Gespra¨che mit Alisa Tennenbaum, die 1939 von Wien mit einem Kindertranstransport nach England fahren musste, oder Zwi Nigal, dessen Vater Eisenbahner war und der 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Geschlossen wurden die Leerstellen damit nicht. Umso gro¨ßer waren die Erwartungen, als 2013 in den Kellerra¨umlichkeiten an ¨ BB ein Archivbestand der ehemaligen Reichsbahndirektion einem Standort der O Villach ausfindig gemacht wurde. Die offenen Fragen zu ju¨dischen Eisenbahnbe¨ BB gestiftetes Dissertationsstidiensteten und zu Frauen sollten durch ein von den O

14 Zu dieser Einscha¨tzung gelangt die Historikerin Susanne Kill auf Basis der bis jetzt aufgefundenen und erhaltenen Dokumente. Susanne Kill leitet die historische Sammlung der Deutschen Bahn AG und hat zahlreiche Publikationen zum Thema vorgelegt.

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pendium in Zusammenarbeit mit dem Institut fu¨r Zeitgeschichte der Universita¨t Wien geschlossen werden. Das Ergebnis der systematischen Bearbeitung der archivierten Dokumente brachte einige weitere Puzzleteile zum Vorschein:15 Die Zahl der ju¨ dischen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner, die im Ma¨rz 1938 bescha¨ftigt waren, konnte nicht letztgu¨ltig eruiert werden. In der Reichsbahndirektion Villach gab es zu diesem Zeitpunkt nachweislich zwei ju¨ dische Mitarbeiter. Einer der beiden war Bahnhofsvorstand in Feldkirch und wurde am 17. Ma¨rz 1938 des Dienstes enthoben. Der zweite Mitarbeiter war Gu¨ terkassier in Lienz und wurde am 23. Ma¨rz 1938 entlassen. Aufgrund dieser Dokumente konnten in der damaligen Reichsbahndirektion Villach 88 Personen namentlich ausfindig gemacht werden, die zwischen dem 12. Ma¨rz 1938 und Oktober 1938 aus politischen und rassistischen Gru¨nden mit beruflichen Konsequenzen und Inhaftierungen konfrontiert waren. 17 Ma¨nner von dieser Liste wurden verhaftet. In keinem der gesichteten Dokumente zur politischen und rassistischen Verfolgung im Zuge der ¨ sterreichischen Bundesbahnen in die Deutsche Reichsbahn sind Inkorporation der O Frauen genannt. 234 Bahnbedienstete waren schon vor dem „Anschluss“ 1938 der NSDAP beigetreten, zwei der Illegalen waren Frauen. Diese Personen kommen zu den 313 illegalen Nazis, die vom ,Gau‘ Ka¨rnten als ,Alte Ka¨mpfer‘ anerkannt waren, hinzu. Unter den ,Alten Ka¨mpfern‘ befanden sich fu¨nf Frauen, von denen vier befo¨rdert wurden. Drei Reichsbahnsekreta¨rinnen wurden zu Reichsbahnobersekreta¨rinnen ernannt, eine Arbeiterin zur Reichsbahnbetriebswa¨rtin. Die fu¨nfte Frau, ebenfalls eine Arbeiterin, wurde mit dem Verweis, dass eine Befo¨rderung „derzeit nicht mo¨glich“ sei, in ihrer Verwendung belassen. Insgesamt waren 547 der 771 NationalsozialistInnen, die aus den Akten des Bestandes der Reichsbahndirektion Villach rekonstruiert werden konnten, sogenannte Illegale und daher ideologisch besonders u¨berzeugte NationalsozialistInnen. 1943 wurde einer Bahnbediensteten fu¨r ihre Arbeit als Lagerfu¨hrerin durch das Reichsverkehrsministerium eine einmalige Pra¨mie von 150 Reichsmark zuteil. Seit Herbst 1941 hatte die Reichsbahnbedienstete auch die Aufgabe inne, weitere Unterkunftsbarracken fu¨r die ausla¨ndischen Reichsbahnarbeiterinnen und -arbeiter aufzubauen. Was genau ins Aufgabenfeld der Bahnlagerfu¨hrung fiel, wen die Reichsbahnbediensteten bewachten, wie die Zusta¨nde in diesen Lagern waren, wie sich die Lagerfu¨hrerinnen und -fu¨hrer gegenu¨ber den ausla¨ndischen Arbeitskra¨ften und

15 Die hier zitierten Daten und Angaben sind dem nicht vero¨ffentlichten Abschlussbericht von Magdalena Neumu¨ller entnommen, die das Archiv der Reichsbahndirektion Villach nach wissenschaftlichen Standards systematisch erschlossen und ausgewertet hat. Vgl. Kap. „Inkorporation der ¨ sterreichischen Bundesbahnen in die Deutsche Reichsbahn 1938“, in: Magdalena Neumu¨ller, Die O ¨ sterreichischen Bundesbahnen im Nationalsozialismus anhand der Akten der ReichsbahndirekO tion Villach, unvero¨ffentlichter Abschlussbericht, Universita¨t Wien 2017, 40–63.

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ZwangsarbeiterInnen verhielten, konnte auf Basis des Archivmaterials nicht rekonstruiert werden.16 Die Verbindung von wissenschaftlichen Studien, Quellenanalyse, Gespra¨chen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Zusatzinformationen aus dem u¨berregionalen Diskurs im Zuge der Ausstellungen sowie die Sichtung und Bearbeitung von u¨ber 900 Ordnern mit Verordnungen, Anweisungen und Schriftverkehr der Reichsbahndirektion Villach lassen vermuten, dass der Versuch, die Rolle von Frauen als Eisenbahnerinnen bei der Deutschen Reichsbahn zu dokumentieren, eine archivarische Leerstelle offenlegt. Diese auf Basis von Interviews zu schließen, wird nicht zuletzt aufgrund des mittlerweile hohen Alters der Zeitzeuginnen immer schwieriger. Bei der Aufarbeitung der ¨ BB-Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit konnte weder na¨her bestimmt werden, O ¨ BB im welche Rollen Frauen eingenommen haben, wie hoch der Frauenanteil bei den O Jahre 1938 war, noch, wie sich dieser bis 1945 entwickelte. Stichproben bei den lu¨ckenhaft vorhandenen Personalakten gehen von unter fu¨nf Prozent aus.

¨ sterreichi16 Vgl. Kap. „Zwangsarbeit bei der Reichsbahndirektion Villach“, in: Neumu¨ller, Die O schen Bundesbahnen, wie Anm. 15, 132–158, 153.

Verwandtschaftshandeln in einer ökonomisch auseinanderdriftenden Gesellschaft: Eine Hochzeit in Benin (Westafrika)

1.

Einleitung

Dass sich Prozesse des Gesellschaftswandels auch und gerade auf Heirat und Ehe auswirken und in diesen spiegeln, ist fu¨r historische und anthropologische Forschung ¨ berraschung. In besonderem Maße gilt dies fu¨r die Prozesse der o¨konomischen keine U Ausdifferenzierung, die sich derzeitig in den afrikanischen Staaten beobachten lassen, fu¨r ein wachsendes Gefa¨lle zwischen Arm und Reich sorgen und zur Bildung der sogenannten neuen Mittelschichten gefu¨hrt haben. Im gegenwa¨rtigen Westafrika pra¨gen diese Prozesse auch vielfa¨ltige soziale Nahbeziehungen. Denn Menschen, die u¨ber ho¨chst unterschiedliche Ressourcen verfu¨gen, unterschiedlich konsumieren und unterschiedliche Bildungsniveaus haben, leben hier ha¨ufig in den gleichen Haushalten oder sind anderweitig eng miteinander vernetzt. Dies hat seinen Grund unter anderem darin, dass erwachsene Geschwister oft o¨konomisch sehr unterschiedlich situiert sind. Sozialer Aufstieg u¨ber Bildungs- und Berufskarrieren erfolgt nach wie vor meist nicht als Aufstieg eines Verwandtschaftsverbands, sondern durch Individuen. Man ko¨nnte dies als unabgeschlossenen Prozess der Klassenbildung bezeichnen oder auch als Ausdruck rasanter o¨konomischer Vera¨nderungen, die eine besondere Volatilita¨t erzeugen. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Situation ergibt sich fu¨r die Menschen jedenfalls die allta¨gliche Herausforderung, die nach wie vor als zentral angesehenen Verwandtschaftsbeziehungen in einem Kontext betra¨chtlicher und wachsender Wohlstandsdifferenzen mit den damit einhergehenden divergierenden Lebensstilen und Normenvorstellungen zu gestalten. Ein zentrales verwandtschaftliches Ereignis ist die Heirat. Aktuelle Forschungen sprechen fu¨r das su¨dliche Afrika von einer „Krise der Heirat“, da nur noch ein kleiner Teil der Bevo¨lkerung tatsa¨chlich formal heirate und den Brautpreis, lobola genannt, entrichte, der noch bis in die zweite Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts als zentrale und unabdingbare soziale Institution beschrieben worden war.1 1 Vgl. John L. Comaroff (Hg.), The Meaning of Marriage Payments, London 1980; Adam Kuper, Wives for Cattle: Bridewealth and Marriage in Southern Africa, London 1982; Harriet Ngubane, The

AKTUELLES & KOMMENTARE

Erdmute Alber

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Julia Pauli und Rijk van Dijk argumentieren nun, dass diese Krise der Heirat keineswegs als Bruch mit der Vergangenheit oder Kritik an den verpflichtenden Austauschbeziehungen zwischen den Familien oder als Wunsch nach individualisierten Lebensverla¨ufen zu verstehen sei. Vielmehr ko¨nnten mehr und mehr Paare die enormen Kosten einer Hochzeit nicht mehr aufbringen.2 Die immens gestiegenen Erwartungen an eine Hochzeit nach neuen, global zirkulierenden Konsummustern, kombiniert mit den lobola-Zahlungen, habe die Hochzeit zu einem zwar erstrebenswerten, jedoch meist unerreichbaren Ereignis werden lassen, das zunehmend nur den gehobenen neuen Mittelschichten vorbehalten sei. Die u¨berwiegende Bevo¨lkerung lebe ohne Trauschein, prunkvolles Fest oder religio¨se Zeremonie zusammen und erfu¨lle nichtsdestotrotz die Erwartung, Elternschaft zu leben, die mehr und mehr von der Heirat losgekoppelt sei. Auch in Westafrika beeinflussen global reisende Bilder von ,weißen‘ und u¨ppigen Hochzeiten die Vorstellungen, Wu¨nsche und neuen Standards.3 Jedoch wird keineswegs von einer Krise der Heirat gesprochen, denn die Zahl der Eheschließungen geht nicht zuru¨ck. Standesamtliche Eheschließungen sind seit der Kolonialzeit ohnehin in einer verschwindenden Minderheit, da die sozialrechtlichen Konsequenzen – gemeint ist der Zugang der Ehepartner*innen zu Krankenversicherung oder Rente – allein fu¨r die im (post-)kolonialen formalen Arbeitssektor arbeitenden Eliten und Mittelschichten gelten. Lokal werden auch religio¨se Trauungen oder als traditionell bezeichnete Eheschließungen als vollwertige Hochzeit angesehen, die durch Rituale des ¨ berfu¨hrung der Braut aus der Austauschs von Brautpreis, Mitgift und einer rituellen U elterlichen Zugeho¨rigkeit in die zur Schwiegerfamilie zustande kommen. Als Grund fu¨r die Persistenz der Heirat la¨sst sich zudem anfu¨gen, dass sie, neben der Beerdigung, als das wichtigste Ereignis gilt, bei dem Verwandtschaftsgruppen zusammenkommen und umfangreiche Austauschbeziehungen bekra¨ftigt werden. Zudem wird die Eheschließung – in welcher Form und in welcher Gro¨ße sie auch begangen wird – als grundlegend fu¨r einen sozial anerkannten Lebensverlauf angesehen. Allerdings sind ihre Bestandteile und die darin jeweils zelebrierten Normen multipel und darin auch variabler geworden. Heutige Hochzeiten zeichnen sich durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Normen aus, die zum Teil sogar simultan an unterschiedlichen Orten evoziert werden. Mo¨glicherweise bedingt eben diese Vielfalt die Persistenz

Consequences for Women of Marriage Payments in a Society with Patrilineal Descent, in: David J. Parkin u. David Nyamwaya (Hg.), Transformations of African Marriage, Manchester 1987, 173– 182. 2 Vgl. Julia Pauli u. Rijk van Dijk, Marriage as an End or the End of Marriage? Change and Continuity in Southern African Marriages, in: Anthropology Southern Africa, 39, 4 (2016), 257–266. 3 Vgl. Adeline Masquelier, How is a Girl to Marry without a Bed? Weddings, Wealth and Women’s Value in an Islamic Town of Niger, in: Wim Van Binssbergen u. Rijk van Dijk (Hg.), Situating Globality: African Agency in the Appropriation of Global Culture, Leiden 2004, 220–256.

Aktuelles & Kommentare

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der Hochzeit als einem „fundamental social building block“,4 auch wenn die Kritik an ihren Kosten fast standardma¨ßig dazugeho¨rt. Im gegenwa¨rtigen Benin bestehen Hochzeiten aus bis zu vier Teilen: der religio¨sen und der standesamtlichen Eheschließung, dem Empfang sowie der als traditionell ¨ bergabe der Braut. Allein der letztgenannte ist unerla¨sslich. In alle Teile bezeichneten U haben global zirkulierende Vorstellungen einer als modern und ,westlich‘ geltenden Hochzeit Einzug gefunden. Inszeniert wird zum einen das Versta¨ndnis der Hochzeit als Austauschbeziehung zwischen zwei Verwandtschaftsverba¨nden und zum anderen die freie Verbindung von Braut und Bra¨utigam als Individuen zu einem Paar: durch die gemeinsame Fahrt im Hochzeitsauto oder den Paartanz, aber auch bei der standes¨ bergangsritualen, etwa amtlichen Trauung und zumindest partiell bei den religio¨sen U beim christlichen Ja-Wort, sowie beim o¨ffentlichen Empfang durch das Nebeneinandersitzen der Brautleute. Der Empfang findet bezeichnenderweise nie in einem der Haushalte der Eheleute statt, sondern oft in einem Hotel oder einem anderen ,neutralen‘ Ort. ¨ bergabe der Frau und In den Haushalten der Braut und des Bra¨utigams wird die U damit eine normative Vorstellung von Hochzeit als Austauschbeziehung zwischen getrennten Verwandtschaftsgruppen gefeiert. Dazu geho¨rt die langwierige Vorbereitung der Braut durch begleitende Frauen und vielfa¨ltige Ko¨rperpraktiken sowie die von Gabentauschpraktiken begleitete zeremonielle Abholung durch Vertreter der Familie des Mannes. Diese Praxis wird als unverhandelbarer Kern einer Hochzeit angesehen, alle anderen Elemente – religio¨se Heirat, Standesamt und Empfang – gelten als rezent. Gema¨ß einer bislang nicht in Frage gestellten Norm sind bei den Feiern in den beiden Haushalten jeweils alle Verwandten willkommen, und sie kommen auch, wenn irgend mo¨glich. Hochzeitsfeiern bei Mittelschichtsangeho¨rigen spiegeln und positionieren daher einerseits die o¨konomische Kapazita¨t der (Familien der) Eheleute. Andererseits wird durch die Teilnahme der gesamten Verwandtschaft die Zusammengeho¨rigkeit o¨konomisch heterogener Personenkreise evoziert. Wie dies konkret aussehen kann, wird nun anhand einer Eheschließung in Benin, die als typisch fu¨r Angeho¨rige der gehobenen Mittelschicht gelten kann, dargestellt.5 Es soll gezeigt werden, dass die 4 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, 376. 5 Dieser Text entstand im Rahmen meiner Forschungen zu Mittelschichtsfamilien aus Nordbenin, die in den administrativen Zentren im Su¨den als funktionale Eliten ihrer Herkunftsregionen leben. Sie wurden im Rahmen des von mir und Dieter Neubert geleiteten Teilprojekts „Mittelschichten im Aufbruch“ an der Bayreuth Academy of Advanced African Studies durchgefu¨hrt. Meine Kenntnisse von Hochzeiten basieren auf Forschungen im la¨ndlichen und sta¨dtischen Benin seit 1992. Ich danke insbesondere Farida und Kamal und ihren Familien, deren Namen anonymisiert sind, sowie Anna Ayeh und schließlich Margaret Lanzinger fu¨r ihre Impulse und Geduld. Vgl. Erdmute Alber, Heterogenita¨t als gelebte Praxis, Norm und Zukunftsgestaltung: Mittelschichtshaushalte in Benin, in: Antje Daniel u. a. (Hg.), Mittelklassen, Mittelschichten oder Milieus in Afrika? Gesellschaften im Wandel, Baden-Baden 2016, 177–194; dies., Pre´parer la Retraite: New Age-Inscriptions in West African Middle Classes, in: Anthropology & Aging, 39, 1 (2018), 66–81.

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Integration o¨konomisch diverser Teilnehmer*innen mit Praktiken der Separation, auch der ra¨umlichen, und der sozialen Grenzziehung einhergeht.

2.

Eine Hochzeitsfeier

Im Sommer 2017 nahm ich an der Hochzeit von Farida und Kamal teil, Angeho¨rige der gehobenen Mittelschicht des Landes. Kamal und Farida lernten sich wa¨hrend ihres Medizinstudiums kennen. Kamal hatte bei Faridas Vater um ihre Hand angehalten, und die geplante Hochzeit fand in beiden Familien große Zustimmung. Die Vor- und Nachbereitungen dieses riesigen Festes erstreckten sich u¨ber Monate und banden eine Vielzahl von Menschen ein. Gefeiert wurde gleichzeitig sowohl im Haushalt von Faridas Vater, einem Wissenschaftler und Politiker, wie auch im Haushalt von Kamals Vater, einem pensionierten Ministerialbeamten und ehemaligen Bu¨rgermeister. Die religio¨se Eheschließung wurde in einer großen Moschee vollzogen. Und schließlich wurde im Saal eines Hotels die standesamtliche Hochzeit vollzogen, und spa¨ter, in einem anderen Saal, ein großer Empfang ausgerichtet. Beide Familien wohnen in Cotonou, der De-facto-Hauptstadt Benins, stammen jedoch aus dem Norden. Auf die enge Verbindung mit ihrer Herkunftsregion verweist die Tatsache, dass die Umgangssprache beider Haushalte eine Lokalsprache aus dem Norden ist. Neben der Verwandtschaft waren freundschaftliche und berufliche Netzwerke beider Familien breit von der bevorstehenden Hochzeit informiert worden. So fu¨llte sich das gera¨umige Haus von Faridas Eltern bereits Tage vor der Hochzeit mit Verwandten aus dem Norden. Die meisten von ihnen kamen aus dem la¨ndlichen Raum und geho¨rten nicht den Mittelschichten an, viele sprachen kein Franzo¨sisch. Am Hochzeitstag selbst beherbergten Faridas Eltern etwa 200 Menschen auf dem Grundstu¨ck; alle Zimmer des sehr gera¨umigen Hauses, viele Ga¨nge und auch ein benachbartes Anwesen waren mit Schlafpla¨tzen belegt. Faridas Eltern hatten die ganze Zeit damit zu tun, neu Ankommenden Schlafpla¨tze zuzuweisen und sie mit Essen zu versorgen. Im Hof war ein großes Zeltdach aufgebaut, unter dem schichtweise fu¨r alle gekocht wurde. An den umfangreichen Arbeiten des Kochens beteiligten sich viele weibliche Ga¨ste, wodurch die Grenzen zwischen Ga¨sten und Mitarbeitenden fließend wurden. Fu¨r einige Eingeladene war dieser Besuch ihre erste Reise in den Su¨den u¨berhaupt. Viele Feiernde verließen wa¨hrend des Hochzeitstags das Grundstu¨ck nicht, sondern reihten sich in ein geselliges Miteinander vieler kleiner Gruppen und Gru¨ppchen ein. Optisch war das gesamte Anwesen vom Muster eines Stoffes gepra¨gt – der sogenannten „Hochzeitsuniform“: Aus einem von der Brautfamilie ausgewa¨hlten und in riesigen Ballen angeschafften Stoff hatten sich, wie dies bei Hochzeiten u¨blich ist, die Ga¨ste individuell Kleider anfertigen lassen. ¨ bernachtungsga¨sten hießen der Hausherr und seine Frau Zusa¨tzlich zu den U wa¨hrend der Tage rund um die Hochzeit einen unabla¨ssigen Strom von Besu-

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cher*innen willkommen, die in Cotonou wohnten oder fu¨r die Hochzeit angereist waren, sich aber selbst anderweitig untergebracht hatten. Unter den Eingeladenen befand sich das gesamte Spektrum zwischen Arm und Reich, die allesamt empfangen und sozial differenziert bewirtet wurden. Besonders sichtbar war dies bei den servierten Getra¨nken, die je nach sozialem Status von einfachem Wasser, selbst gemachten Getra¨nken bis hin zu geku¨hlten industriell gefertigten Softgetra¨nken reichten. Das gesellige Miteinander und die Verko¨stigung der vielen Ga¨ste fanden simultan in den Haushalten beider Familien statt, auch wa¨hrend der anderen Teile der Feierlichkeiten. Die muslimische Eheschließung wurde am Vormittag in einer großen zweisto¨ckigen Moschee in der Gegenwart von etwa 700 Menschen vollzogen. Daran nahmen weder die Mutter der Braut noch die des Bra¨utigams, wohl aber die beiden Va¨ter teil. Die Brautleute reisten, in weiße Gewa¨nder gekleidet, in verschiedenen Autos an. Pra¨sent waren Faridas Geschwister, viele Freund*innen und Arbeitskolleg*innen ihrer Eltern, die ausschließlich zu diesem Teil gekommen waren, und viele, aber bei weitem nicht alle in den beiden Haushalten feiernden Ga¨ste. Insgesamt dominierten hier die Ma¨nner. Einige Elemente erinnerten an eine christliche Hochzeit. So war die Moschee mit Stuhlreihen gefu¨llt, nur die Geistlichen und Vertreter*innen der Familien saßen auf dem Boden. Am Ende verließen Braut und Bra¨utigam die Moschee gemeinsam in einem weißen, geschmu¨ckten BMW. Andere kehrten in die Haushalte, in denen gefeiert wurde, zuru¨ck. Am fru¨hen Nachmittag desselben Tages fand in einem kleinen Saal eines Hotels mit nur rund fu¨nfzig Anwesenden die standesamtliche Trauung statt. Nun war die Kleiderordnung westlich: Die Braut trug ein weißes Hochzeitskleid mit Schleier, der Bra¨utigam einen Anzug. Weder die Va¨ter noch die Mu¨tter der Brautleute waren anwesend, sie wurden durch andere Verwandte repra¨sentiert. Fu¨r das la¨ndliche Nordbenin ist eine solche Stellvertreterfunktion der Eltern typisch, dru¨ckt sie doch das alte Meidungsgebot zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern aus.6 Ein Tu¨rsteher sorgte dafu¨r, dass nur engste Verwandte den Saal betreten konnten. Obgleich die Kleiderordnung der Brautleute zum staatlichen, bu¨rokratischen und in diesem Sinne europa¨isch-modernen standesamtlichen Ritual der Eheschließung passte, verwies die Abwesenheit der leiblichen Eltern auf Normen aus der Herkunftsregion der Brautleute. Der Bu¨rgermeister verku¨ndete im Genre eines mit Bibelzitaten untermauerten Moraldiskurses Rechte und Pflichten einer Ehe, etwa das Gebot der ehelichen Treue. So wurde auch dieses Ritualelement eher als Mischung verschiedener Interpretationen von Ehe und Heirat begangen denn als Akt einer staatlich-bu¨rokratischen Eheschließung. Der große Empfang im Anschluss daran stellte aus der Sicht der anwesenden Hochzeitsga¨ste den Ho¨hepunkt der Feierlichkeiten und den teuersten Teil der 6 Vgl. Erdmute Alber, Denying Biological Parenthood – Child Fosterage in Northern Benin, in: Ethnos, 68, 4 (2003), 487–506.

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Hochzeit dar. Erneut sorgten Tu¨rsteher fu¨r den Einlass jener 1.200 Personen, die Einladungskarten vorweisen konnten. Nun wurden europa¨ische Speisen eines Catering-Service gereicht. Elemente aus dem globalen Repertoire einer „Hochzeit in Weiß“ dominierten, so ein Einzug der von Brautjungfern und Brautknaben begleiteten Brautleute in den Saal, das gemeinsame Anschneiden der Hochzeitstorte oder ein Paartanz. Die Brautleute waren nun in regionaltypisch gena¨hte Gewa¨nder gehu¨llt. Am auf einer Bu¨hne situierten Hochzeitstisch hatten neben Braut und Bra¨utigam Repra¨sentant*innen ihrer Familien Platz genommen, die als Stellvertreter*innen fu¨r die Brauteltern fungierten und Tischreden hielten. Faridas Eltern saßen nicht am Hochzeitstisch. Beide traten weder als Paar noch als Eltern auf, vielmehr positionierten sie sich in ihren jeweiligen beruflichen und freundschaftlichen Bezu¨gen. Er begru¨ßte wichtige Personen und geleitete die ho¨chstrangige anwesende Politikerin in den Saal. Faridas Mutter erschien erst nach einigen Stunden, sie kam in Gesellschaft anderer Frauen, die sie als Freundinnen und Gescha¨ftspartnerinnen vorstellte. Diese Damengruppe trug ihre eigene Uniform,7 anders als die Hochzeitsuniform, die von allen anderen Verwandten Faridas und Kamals und vielen weiteren Ga¨sten getragen wurde. Dadurch wurde die Gemeinsamkeit beider Familien und ihre geteilte Zusta¨ndigkeit fu¨r den Empfang unterstrichen, die in einem Kontrast zu den getrennten Feiern in beiden Haushalten stand. Neben Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten waren Freundinnen und Freunde anwesend sowie wichtige Perso¨nlichkeiten aus der Politik und dem o¨ffentlichen Leben und den Netzwerken der Eltern der Brautleute. Platzeinweiser sorgten fu¨r eine Statusgruppen betonende Sitzordnung. Je wichtiger eine Perso¨nlichkeit war, desto weiter vorne wurde sie im Saal platziert. Der u¨berwiegende Teil der Ga¨ste im Hause von Faridas Familie nahm am Empfang allerding nicht teil. Als am Abend nach dem Ende des Empfangs Faridas Verwandte wieder in das Anwesen ihrer Familie zuru¨ckgekehrt waren, reihten sie sich in das dortige Feiern ein, ¨ bergabe der Braut, zelebriert wurde. Noch bis der letzte rituelle Teil der Hochzeit, die U einmal wurde Farida neu eingekleidet, festlich geschmu¨ckt, rituell gewaschen und auf ihre Abholung vorbereitet. Dann erschien eine Delegation aus Kamals Haus, die zuna¨chst beko¨stigt wurde, und es fanden noch einmal rituelle Transaktionen um die Herausgabe der Braut statt. Diese Handlungen wurden von Frauen, engsten Familienangeho¨rigen von Farida, geta¨tigt. Dazu geho¨rte auch eine Verabschiedung der Braut von ihrer Mutter. Schließlich geleitete eine Delegation von Frauen, unter dem Kom¨ bersetzung des lokal verwendeten 7 Beim Begriff der (Hochzeits-)Uniform handelt es sich um eine U franzo¨sischen Begriffs uniforme. Damit ist keine Milita¨runiform gemeint; vielmehr die weit verbreitete Praxis, dass zu wichtigen Anla¨ssen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder religio¨sen Feiern ein gemusterter Stoff ausgewa¨hlt wird, aus dem sich Ma¨nner wie Frauen individuell ein Gewand schneidern lassen. Dadurch wird optisch Zusammengeho¨rigkeit erzeugt. Es ist auch u¨blich, dass sich Freund*innen gemeinsam einen Stoff zulegen und durch das Tragen gleicher Kleider Zusammengeho¨rigkeit demonstrieren.

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mando einer matrilateralen Tante, die Braut mitsamt ihrer Aussteuer in das Anwesen von Kamal und zur zuku¨nftigen Wohnung des Paares. Wa¨hrend dieses ganzen Teils saß Faridas Vater, der zum ersten Mal an diesem langen Tag nichts zu tun hatte, entspannt und nun ganz unbeteiligt auf einer Terrasse. Meine Schilderung zentraler Abla¨ufe und Elemente der Hochzeit von Farida und Kamal erfolgte wesentlich aus der Perspektive des Haushalts der Braut, da ich die Ereignisse von hier wahrnahm. Dieses Ereignis brachte eine Vielzahl von Menschen zusammen, aus dem Hinterland wie aus der Hauptstadt, die ho¨chst unterschiedlich gebildet waren und u¨ber sehr unterschiedliche Ressourcen verfu¨gten. Wa¨hrend des Hochzeitstages wurden sie streckenweise sogar mithilfe von Tu¨rstehern separiert. Alle eint gleichwohl, sagen zu ko¨nnen, sie ha¨tten an der Hochzeit von Farida und Kamal teilgenommen, auch wenn die Formen der Teilnahme multipel waren. Trotz der Heterogenita¨t konnten sich Menschen ho¨chst verschiedener sozialer Positionierung gleichermaßen eingeladen und dadurch zugeho¨rig fu¨hlen. Zugleich wurde soziale Differenz evoziert und fortgeschrieben, etwa durch unterschiedliche Speisen oder die ungleiche Teilnahme an verschiedenen Ritualelementen. Diese Mischung von Zusammengeho¨rigkeit und Heterogenita¨t wurde unter anderem durch die Verteilung auf unterschiedliche Ra¨ume und Zusta¨ndigkeiten ermo¨glicht. Von Ma¨nnern dominierte Teile der Hochzeit – etwa die religio¨se Eheschließung in der Moschee – lo¨sten sich mit solchen ab, die in den Ha¨nden von Frauen lagen. Die vier Teile ko¨nnten zwar vordergru¨ndig als muslimisch, bu¨rgerschaftlich, gesellschaftlich und traditionell bezeichnet werden, jedoch vermischten sich verschiedene Elemente, was einfache Gegenu¨berstellungen unmo¨glich macht. Alle wiesen Anteile des Muslimisch-Religio¨sen, Politischen, des Staatlichen und des Gesellschaftlich-Repra¨sentativen auf, und bei allen wurde sowohl die normative Idee der Hochzeit als Vereinigung eines Paares wie die der Hochzeit als Austauschbeziehung zwischen zwei Gruppen evoziert und nebeneinander inszeniert.

3.

Schluss

In der sich ausdifferenzierenden beninischen Gesellschaft pra¨gen vielfa¨ltige Formen von Heterogenita¨t das verwandtschaftliche Miteinander auch in den Haushalten und den sozialen Nahbeziehungen. Bei wichtigen Ereignissen wie Hochzeiten in Mittelschichtsfamilien wird diese Heterogenita¨t festgeschrieben, wenn etwa Tu¨rsteher einen Teil der Ga¨ste in den Festsaal hineinlassen und anderen Verwandten den Einlass verwehren. Zugleich wird an der verwandtschaftlichen Zusammengeho¨rigkeit u¨ber o¨konomische Differenzen hinweg festgehalten, wofu¨r neue Formen der Interaktion und dabei konkret auch der Gestaltung von Festen entwickelt werden, die Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergru¨nde zusammenbringen und integrieren. Dabei sind die ra¨umlichen Arrangements wichtig. Einerseits spiegeln sie Differenz, anderer-

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seits ermo¨glichen sie das Zusammenkommen von Verschiedenem und letzten Endes die Koexistenz unterschiedlicher Normen, die in aller Regel als nicht zusammenpassend gedacht werden. Christliche Moraldiskurse finden neben muslimischen Predigten statt, bu¨rgerschaftliche Ideen der individuellen Einwilligung in die Ehe werden neben ¨ bergabe einer Braut inVerhandlungen zwischen Verwandtschaftsgruppen um die U ¨ bergabe weinen und soll ein strahlendes szeniert. Die Braut muss bei der rituellen U La¨cheln beim Fotoshooting der standesamtlichen Eheschließung zeigen. Fu¨r ein Versta¨ndnis fu¨r Prozesse sozialer Differenzierung kann es lohnenswert sein, genauer zu betrachten, wie Beziehungen unter den Bedingungen wachsender sozialer Ungleichheit gestaltet werden, aber auch, welche Formen des sozialen Miteinanders Menschen entwickeln, um mit Ungleichheit umzugehen und Zugeho¨rigkeit partiell u¨ber die Ungleichheit hinweg herstellen. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu dramatischen gesellschaftlichen Konflikten fu¨hrt und wie dies trotz aller Differenzen dann doch eher verhindert werden kann. Dass sich derartige Fragen nicht mit Blick auf soziale Gruppen, Schichten oder Klassen, sondern auch auf der Mikroebene von Haushalten und Verwandtschaftsbeziehungen ero¨rtern lassen, macht sie nicht minder relevant.

Regina Mu¨hlha¨user

Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Zur Entwicklung eines Verständnisses seit den 1970er-Jahren* “Despite being prohibited by international law, sexual violence continues to be employed as a tactic of war in numerous conflicts from Myanmar to Ukraine and Syria to Somalia. It includes mass rape, gang rape, sexual slavery, and rape as a form of torture, ethnic cleansing and terrorism. It accounts in large part for why it is often more dangerous to be a woman in a warzone today than it is to be a soldier.” Schauspielerin Angelina Jolie und NATO-Generalsekreta¨r Jens Stoltenberg1

Heute wird in der Berichterstattung u¨ber aktuelle Kriegs- und Krisensituationen ebenso wie in politischen Kampagnen oder gesellschaftlichen Debatten oft ganz selbstversta¨ndlich davon gesprochen, dass Armeen oder Milizen Vergewaltigung als Waffe, Taktik oder Strategie einsetzen. Dabei entsteht der Eindruck, es sei ganz klar, was gemeint ist – als ginge es um eindeutig beschreib- und eingrenzbare Praktiken. Bei na¨herem Hinsehen mu¨ssen wir uns aber fragen, was mit diesen Begrifflichkeiten bezeichnet wird. Wann wird sexuelle Gewalt als Waffe, Taktik oder Strategie verstanden? Oder umgekehrt gefragt: Wann bleiben Vergewaltigungen, die in bewaffneten Konflikten ausgeu¨bt werden, ,nur‘ Vergewaltigungen und erfahren keine Bedeutungsaufladung als Mittel des Krieges? Generell la¨sst sich feststellen, dass sexuelle Gewalt als Waffe kein klar definierter Terminus technicus ist. Es handelt sich vielmehr um eine mit Bedeutung aufgeladene Argumentationsfigur. Welche Bedeutung transportiert wird, ha¨ngt vom Kontext und der jeweiligen Debatte ab. Auch fu¨r die Rede von sexueller Gewalt als Kriegstaktik oder -strategie gibt es bis heute keine allgemein anerkannten Definitionen. Zwar wird in letzter Zeit begonnen zu diskutieren, welche Praktiken und Konstellationen als Taktik oder Strategie gelten ko¨nnen.2 Insgesamt aber scheinen diese Begriffe vor allem ver* Fu¨r vielfa¨ltige Anregungen und kritische Auseinandersetzungen, die mir geholfen haben, das Thema zu entwickeln, danke ich der International Research Group ,Sexual Violence in Armed Conflict‘ (SVAC, www.warandgender.net) sowie Therese Roth († 2018). 1 Jens Stoltenberg u. Angelina Jolie, Why Nato must defend women’s rights, in: The Guardian, 10. 12. 2017, unter: https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/dec/10/why-nato-must-defendwomens-rights, Zugriff: 25. 11. 2019. 2 Vgl. z. B. Maria Eriksson Baaz u. Maria Stern, Sexual Violence as a Weapon of War? Perceptions, Prescriptions, Problems in the Congo and Beyond, London 2013; Elisabeth Jean Wood, Conflictrelated sexual violence and the policy implications of recent research, in: International Review of the

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wendet zu werden, um zu betonen, dass sexuelle Gewalt kein zufa¨lliges Begleitpha¨nomen des Krieges, sondern ein intrinsischer und regelhafter Teil kriegerischen Handelns ist. Damit wird auch der Unrechtscharakter auf eine ganz bestimmte Weise markiert: als ein Verbrechen, das politisch, moralisch (und juristisch) zu verurteilen ist, weil es Teil milita¨rischer Operationen ist. Die Betonung des besonderen Charakters als Waffe, Taktik oder Strategie ermo¨glicht es, die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieser Form von Gewalt in bewaffneten Konflikten verstehbar zu machen. Damit wird implizit allerdings eine Bewertungshierarchie eingezogen: Sexuelle Gewalttaten erscheinen als weniger schwerwiegend, wenn sie nicht als Instrument gegen den (politischen, nationalen, ethnischen, religio¨sen) Gegner ausgemacht werden. Daru¨ber hinaus wird das Pha¨nomen durch diese Rhetorik isoliert – so, als sei es auf einen „Ausnahmezustand Krieg“ beschra¨nkt und weitgehend losgelo¨st von Praktiken sexueller Gewalt, wie wir sie aus dem Alltag in Nicht-Kriegszeiten kennen. Die feministische Forschung hat in den letzten Jahren zunehmend auf die Probleme dieser Herangehensweise hingewiesen. Doris Buss stellte fest, dass die Rede von sexueller Gewalt als Kriegswaffe dazu fu¨hrt, nur bestimmte Fa¨lle in den Blick zu nehmen. Wa¨hrend des Genozids in Ruanda 1994 beispielsweise lag der Fokus auf sexueller Gewalt als Waffe der Hutu gegen die Tutsi; andere Konstellationen (Vergewaltigungen von Hutu-Frauen durch Tutsi; innerhalb der Hutu- und Tutsi-Gemeinschaften; durch Angeho¨rige der internationalen Friedenstruppen) wurden nicht nur ignoriert, sondern zum Teil regelrecht verschwiegen, weil sie nicht ins Bild passten. Im Ergebnis erschien sexuelle Gewalt „exclusively as the product of an inter-ethnic conflict rather than considering how other social, political and economic structures shaped the violence and genocide“.3 Mit ihrer Analyse der westlichen Berichterstattung u¨ber die Demokratische Republik Kongo hat Ngwarsungu Chiwengo zudem gezeigt, dass unser Versta¨ndnis sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten von einem ethnozentrischen Blick gepra¨gt ist. Wenn etwa der Kongo in Anlehnung an Joseph Conrad als „still the heart of darkness“ oder „rape capital of the world“ beschrieben wird, wie in NGO-Berichten und Fernsehdokumentationen, werden geschlechtsspezifische und rassistische Stereotype abgerufen. Es entsteht der Eindruck, sexuelle Gewalt in Afrika sei qua definitionem anders als

Red Cross, 96, 894 (2014), 457–478; Regina Mu¨hlha¨user, „You have to anticipate what eludes calculation“: Reconceptualising Sexual Violence as Weapon of War, in: Gaby Zipfel, Regina Mu¨hlha¨user u. Kirsten Campbell (Hg.), In Plain Sight: Sexual Violence in Armed Conflict, New Delhi 2019, 3–29. 3 Doris Buss, Rethinking Rape as a Weapon of War, in: Feminist Legal Studies, 17, 2 (2009), 145–163, 160.

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in Europa. Ein tiefer gehendes Versta¨ndnis der Ursachen und Funktionsweisen in unterschiedlichen kulturellen Settings wird abgewehrt.4 Letztlich, so Gabriela Mischkowski, verschleiert ein enger Fokus auf sexuelle Gewalt als Waffe die Komplexita¨t des Pha¨nomens, das heißt, wie sich Vergewaltigung im Krieg ausbreitet, wie sich Geschlechterkonstruktionen, individuelle Dynamiken und Kriegshandeln entwickeln und verschra¨nken.5 Maria Eriksson Baaz und Maria Stern argumentieren, dass genau diese Komplexita¨tsreduktion die Attraktivita¨t der Rede von sexueller Gewalt als Waffe oder Strategie ausmacht, suggeriert sie doch einen gangbaren Ausweg: „[A] strategy can be abolished, a tactic prevented, the use of a weapon can be controlled, and the user of a weapon can be held accountable.“6 Solche Vorstellungen von Pra¨vention und Sanktionierung unterscheiden sich deutlich von dem, was feministische Forscherinnen in den 1970er-Jahren urspru¨nglich dazu bewogen hatte, sexuelle Gewalt als Waffe zu bezeichnen. Im Folgenden mo¨chte ich einige Schlaglichter auf die damaligen Analyseansa¨tze werfen und damit zu den derzeitigen Bemu¨hungen beitragen, ein differenzierteres Versta¨ndnis davon zu entwickeln, was wir meinen, wenn wir sexuelle Gewalt als Waffe, Taktik oder Strategie bezeichnen.7

1.

1970er-Jahre

In ihrem Essay „The Rape of Black Women as a Weapon of Terror“ (1972) griff Gerda Lerner auf Diskussionen afroamerikanischer Frauen zuru¨ck, die Vergewaltigung nicht nur als geschlechtsspezifisches, sondern auch als rassistisches Pha¨nomen problematisierten: „The practice of raping the women […] during many race riots and during periods of terror against Blacks at various times in United States history […] is the ultimate expression of contempt for a defeated foe since it symbolizes his helplessness more fully than any other conceivable act. As such, it functions as only lynching does as a weapon of terror for the whole community. […] The sexual oppression of black women is not only an end in itself; it is also an instrument in the oppression of the entire race. When black men are prevented from defending their women and their children, they are symbolically castrated and assaulted in their essential 4 Vgl. Nwarsungu Chiwengo, Bestialisation, Dehumanisation, and Counter-Interstitial Voices: Representations of Congo (DRC) Conflicts and Rape, in: Zipfel/Mu¨hlha¨user/Campbell, In Plain Sight, wie Anm. 2, 355–378. 5 Vgl. Gabriela Mischkowski, „Ob es den Frauen selbst irgendetwas bringt, bleibt eine offene Frage.“ Ein Gespra¨ch u¨ber die Probleme und Zwickmu¨hlen der internationalen Strafgerichtsbarkeit, in: Insa Eschebach u. Regina Mu¨hlha¨user (Hg.), Krieg und Geschlecht: Sexuelle Gewalt im Krieg und SexZwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, 229–248. 6 Eriksson Baaz/Stern, Sexual Violence, wie Anm. 2, 52, 59. Vgl. auch Kerry F. Crawford, Wartime Sexual Violence: From Silence to Condemnation of a Weapon of War, Washington, DC 2017. 7 Ich danke Lisa Gabriel fu¨r ihre Recherchen und Hinweise zum Thema.

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dignity. Black women, in such a situation, are doubly instrumentalized – as objects of forcible rape and as instruments in the degradation of their men.“8

Lerner fasste sexuelle Gewalt auf zwei Ebenen als „weapon of terror“: als Terror, den weiße Amerikaner in schwarzen Communities verbreiteten, und als Terror, den schwarze Frauen erlebten – die nicht nur Vergewaltigung durch weiße Ma¨nner, sondern auch Ausbeutung und Gewalt innerhalb ihres eigenes Kollektivs erfuhren. A¨hnliche Beobachtungen wurden auch in der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg aufgegriffen, wobei die Diskussion hier versta¨rkt das Ta¨terhandeln in den Blick nahm. 1974 nannten Arlene Eisen Bergman und das mit ihr arbeitende Forscherinnenkollektiv Vergewaltigung einen „classic act of terrorism which not only serves the political function of intimidating a rebellious population, but also allows the rapist to reassert his manhood“.9 US-amerikanische Ma¨nnlichkeitsideale wa¨ren bereits im Zivilleben durchdrungen von Bildern, denen zufolge ma¨nnliche Sexualita¨t aktiv und aggressiv, weibliche Sexualita¨t passiv und unterwu¨rfig sei. Solche Vorstellungen und die damit einhergehenden Praktiken wu¨rden durch die milita¨rische Ausbildung versta¨rkt, in der jeder Rekrut sich als Mann beweisen mu¨sse. Die Verschra¨nkung von Aggression und Sexualita¨t wu¨rde im Milita¨r normalisiert, was sich in der weitgehenden Straffreiheit zeige, die Vergewaltiger erfuhren: „In Viet Nam, the US Military Command made rape ,socially acceptable‘; in fact it was unwritten, but clear, (sic) policy. Systematic mass rape was a policy implemented by consistently covering up reported rapes and making it clear to GI’s (sic) that they had no real need to fear punishment.“10 In dieser Interpretation wird Vergewaltigung als Teil milita¨rischen Kalku¨ls gesehen, weil Armeen geschlechtsspezifische Normen und Praktiken aus Nicht-Kriegszeiten gezielt nutzen, um die Bereitschaft von Ma¨nnern zu erzeugen, sich der milita¨rischen Disziplin unterzuordnen und die Zumutungen des Krieges auf sich zu nehmen – was letztlich heißt, bereit zu sein, zu to¨ten und geto¨tet zu werden. Auch Susan Brownmiller bezeichnete Vergewaltigung in ihrem einschla¨gigen Buch „Against Our Will“ 1975 als eine Waffe – zum einen als eine Waffe, die Ma¨nnern Macht u¨ber Frauen verleiht, zum anderen als Kriegswaffe gegen ein feindliches Kollektiv. In ihrem Kapitel u¨ber den Zweiten Weltkrieg zog sie Zeug*innenaussagen, Milita¨rdokumente und Gerichtsakten heran und beschrieb Vergewaltigung als eine Form der Gewalt, die von Soldaten an allen Fronten veru¨bt wurde: von der deutschen Wehrmacht und der SS ebenso wie von der kaiserlich-japanischen Armee und den jeweils kollaborierenden Truppen; aber auch von den alliierten Streitkra¨ften – von sowjeti¨ ber diese Regelhafschen, amerikanischen, franzo¨sischen und britischen Soldaten. U 8 Gerda Lerner, The Rape of Black Women as a Weapon of Terror, in: dies. (Hg), Black Women in White America: A Documentary History, New York 1972, 172–193, 172f. (Hervorhebung durch die Autorin). 9 Arlene Eisen Bergman, Women of Viet Nam, San Francisco 1974, 69. 10 Eisen Bergman, Women, wie Anm. 9, 61.

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tigkeit hinaus sah Brownmiller aber entscheidende Unterschiede zwischen den Eroberungsarmeen Deutschlands und Japans sowie den Alliierten. Die alliierten Soldaten ha¨tten ein weibliches Opfer vergewaltigt „not because she [was] a representative of the enemy, but precisely because she [was] a woman, and therefore an enemy“. Demgegenu¨ber zeigten die Taten der Eroberungsarmeen eine „overt expression of contempt for women as part of an overall philosophy of the master race, as well as a most pragmatic means of terror“.11 In Bezug auf die NS-Kriegsfu¨hrung und den Holocaust erachtete Brownmiller Vergewaltigung explizit als Waffe: „As rape is the quintessential act by which a male demonstrates to a female that she is conquered – vanquished – by his superior strength and power, it was perfectly logical within the framework of fascism that rape would be employed by the German soldier as he strove to prove himself a worthy Superman. It would have been highly illogical if rape were not in the German soldier’s kit bag of weapons.“12

In Ablehnung des in den 1970er-Jahren dominierenden biologischen Erkla¨rungsmodells, demzufolge Ma¨nner, die vergewaltigen, von ihrem sexuellen Trieb „u¨bermannt“ wu¨rden, besteht ein Verdienst Brownmillers darin, Vergewaltigung – im Krieg wie im Nicht-Krieg – als ein soziales Pha¨nomen beschrieben zu haben.13 In Kriegszeiten, so ihre These, wu¨rde ma¨nnliche Aggression gegen Frauen mit (nationalen, rassistischen ¨ berlegenheitsgefu¨hlen der Soldaten verschmelzen. Vergewaltigung oder religio¨sen) U wu¨rde dann zu einem Teil milita¨rischer Eroberungszu¨ge. Insgesamt wird deutlich, dass Feministinnen wie Lerner, Eisen Bergman und Brownmiller sich mit der Verwendung des Waffen-Begriffs in ihrer Zeit – wa¨hrend der Bu¨rgerrechtsbewegung, der Frauenbefreiungsbewegung und der Proteste gegen den Vietnamkrieg – gegen die damals allgemein akzeptierte Vorstellung wendeten, bei Vergewaltigung handle es sich um eine quasi-natu¨rliche Begleiterscheinung des Krieges oder eine individuelle Grenzu¨berschreitung einzelner Soldaten. Im Zentrum solcher fru¨hen Diskussionen stand die Erkenntnis, dass diese Form der Gewalt innerhalb 11 Susan Brownmiller, Against Our Will: Men, Women and Rape, New York 1975, 64. Die erste ¨ bersetzung wurde 1978 unter dem Titel „Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und deutsche U Ma¨nnerherrschaft“ (Frankfurt a. M.) publiziert. Seitdem sind zahlreiche, zum Teil u¨berarbeitete Auflagen erschienen. 12 Brownmiller, Against Our Will, wie Anm. 11, 44 (Hervorhebung im Original). Ob und auf welche Weise Wehrmacht und SS sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt haben, wird seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Vgl. dazu etwa Zoe Waxman, Exceptional Genocide? Sexual Violence in the Holocaust, in: Amy E. Randall (Hg.), Genocide and Gender in the Twentieth Century, London 2015, 107–120; Regina Mu¨hlha¨user, Reframing Sexual Violence as a Weapon and Strategy of War. The Case of the German Wehrmacht during the War and Genocide in the Soviet Union, 1941–1944, in: Journal of the History of Sexuality, 26, 3 (2017), 366–401; dies., Sexual Violence and the Holocaust, in: Andrea Peto˝ (Hg.), Gender: War, Farmington Hills 2017, 101–116. 13 Vgl. Gaby Zipfel, Sexuelle Gewalt – eine Einfu¨hrung, in: L’Homme. Z. F. G., 27, 1 (2016), 119–127.

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geschlechtsspezifischer Machtstrukturen hervorgebracht und von deren Bedingungen strukturiert wird.

2.

1990er-Jahre

Als sexuelle Gewalt wa¨hrend der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda o¨ffentliche Aufmerksamkeit erregte, fand Brownmillers Buch ein neues Publikum – war es doch nach wie vor die einzig umfassende Monografie zum Thema. In der Aufbruchsstimmung nach dem Ende des Kalten Krieges, als ein grundlegender Wandel gesellschaftlicher Verha¨ltnisse vorstellbar erschien, begannen feministische Forscher*innen, Expert*innen und Aktivist*innen, die Systematik dieser Form von Gewalt sichtbar zu machen und gezielt Lobbyarbeit fu¨r die Unterstu¨tzung der Opfer und die Strafverfolgung der Ta¨ter zu leisten. In diesem Zusammenhang wurde die Annahme, dass die Ausu¨bung sexueller Gewalt im Krieg eine Strategie beziehungsweise Taktik sein kann, auf neue Weise politisiert.14 Dass das Thema in den 1990er-Jahren so viel internationale Aufmerksamkeit erlangte, du¨rfte vor allem auf die Kontexte der Genozide zuru¨ckzufu¨hren sein, in denen die Verschmelzung von extremer Gewalt und Sexualita¨t als besonders schockierend erschien. In einer Serie von Artikeln im Herbst 1992 verwendete „Newsday“-Reporter Roy Gutman beispielsweise den Begriff „rape camps“ im Zusammenhang mit bosnischen Muslima, die in serbischen Gefa¨ngnissen inhaftiert waren. Der Begriff machte schnell Karriere, tauchte in internationalen Medien- und NGO-Berichten ebenso auf wie in politischen Strategiepapieren. Er suggerierte, die Frauen seien prima¨r aufgrund ihrer ethnischen Identita¨t inhaftiert und vergewaltigt worden. Dabei geriet aus dem Blick, dass ihre Gefangennahme vor allem auch darauf zielte, Informationen zu erpressen und ihre ma¨nnlichen Angeho¨rigen zum Aufgeben zu bewegen.15 Um das Schicksal der Frauen zu skandalisieren und Wege zu finden, die Ta¨ter vor Gericht zu bringen, gru¨ndete sich 1993 in den USA die Ad Hoc Women’s Coalition against Crimes against Women in the Former Yugoslavia, der Frauen- und Menschenrechtsgruppen ebenso angeho¨rten wie unabha¨ngige Anwa¨lt*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen.16 Als der selbst ernannte Anfu¨hrer der bosnischen Serben Radovan Karadzˇic´ im Ma¨rz 1993 New York besuchte, reichte die Anwa¨ltin 14 Vgl. Karen Engle, Symposium on the International Criminal Tribunals for the Former Yugoslavia and Rwanda: Broadening the Debate. Feminist Legacies, in: American Journal of International Law, 110 (2016), 220–226. 15 Vgl. Inger Skjelsbæk, The Elephant in the Room: An Overview of How Sexual Violence Came to Be Seen as a Weapon of War, Oslo 2010. 16 Vgl. Tamar Lewin, The Balkans Rapes. A Legal Test for the Outraged, in: The New York Times, 15. 1. 1993, unter: https://www.nytimes.com/1993/01/15/news/the-balkans-rapes-a-legal-test-forthe-outraged.html, Zugriff: 15. 12. 2019.

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¨ berlebende und Angeho¨rige von Opfern aus BosnienCatharine MacKinnon fu¨r U Herzegowina auf Grundlage des Alien Tort Statute vor einem Bezirksgericht eine Zivilklage gegen ihn ein, in der er fu¨r Vergewaltigungen, Zwangsprostitution und sexuelle Folter als Teil des Genozids verantwortlich gemacht wurde.17 Ein halbes Jahr spa¨ter vero¨ffentlichte MacKinnon den Artikel „Turning Rape into Pornography: Postmodern Genocide“.18 Zu einer Zeit, in der serbische Ma¨nner oft als unzivilisierte Sadisten dargestellt wurden, betonte sie, es handle sich um ganz normale Ma¨nner. Dabei griff sie auf ihre Arbeiten zu Pornografie in den USA in den 1980er-Jahren zuru¨ck, in denen sie dargestellt hatte, dass Ma¨nner durch ihre kulturelle Sozialisation lernen wu¨rden, Dominanz und Herrschaft u¨ber Frauen zu erotisieren. Nun u¨bertrug MacKinnon dieses Argument auf den Krieg in Bosnien-Herzegowina und behauptete, der Umgang mit Pornografie im Jugoslawien der Vorkriegszeit ha¨tte dazu gefu¨hrt, dass es den Ma¨nnern in der Kriegssituation ganz natu¨rlich erschien, Frauen zu entmenschlichen. Im Rahmen des Genozids sei Vergewaltigung so „a tool, a tactic, a policy, a plan, a strategy, as well as a practice“19 geworden: „This is not rape out of control. It is rape under control. It is also rape unto death, rape as massacre, rape to kill and to make the victims wish they were dead. It is rape to be seen and heard and watched and told to others: rape as spectacle. It is rape to drive a wedge through a community, to shatter a society, to destroy a people. It is rape as genocide.“20

MacKinnon verwendete diese Rhetorik gezielt, um o¨ffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen, fu¨r eine milita¨rische Intervention zu werben und eine Verurteilung von Karadzˇic´ und weiteren Ta¨tern vor Gericht zu erwirken. Und diese Strategie war erfolgreich. Skandalisierungen des „genocidal rape“ fanden eine breite internationale ¨ ffentlichkeit, und der Begriff verbreitete sich schnell in den Medien, der Politik und O der Wissenschaft. Gleichwohl war (und ist) diese vereindeutigende Sichtweise umstritten.21 So kritisierte etwa die Journalistin Vesna Kesic aus Zagreb, MacKinnon wu¨rde sich durch die Auswahl und Anordnung ihrer Quellen aktiv an der „one-sided nationalistic creation of an enemy“ beteiligen und so den Konflikt festigen und die frauenspezifischen Ge17 Vgl. United States, Kadic et al. v. Karadzic, unter https://casebook.icrc.org/case-study/united-stateskadic-et-al-v-karadzic, Zugriff 15. 12. 2019. 18 Vgl. Catharine A. MacKinnon, Turning Rape into Pornography: Postmodern Genocide, in: Ms. Magazine, Juli/August 1993, 24–30. 19 Catharine A. MacKinnon, Rape, Genocide, and Women’s Human Rights, in: Harvard Women’s Law Journal, 17, 5 (1994), 5–16, 9. 20 MacKinnon, Rape, wie Anm. 19, 11f. 21 Vgl. Pascale R. Bos, Feminists Interpreting the Politics of Wartime Rape: Berlin, 1945; Yugoslavia, 1992–1993, in: Signs, 31, 4 (2006), 995–1025; Doris E. Buss, Making Sense of Genocide, Making Sense of Law: International Criminal Prosecutions of Large-Scale Sexual Violence, in: Amy E. Randall (Hg.), Genocide and Gender in the Twentieth Century. A Comparative Study, London/ New York, 277–297.

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walterfahrungen auf allen Seiten ignorieren und vertuschen.22 Auch die amerikanische Rechtswissenschaftlerin Rhonda Copelon warnte, die Verschmelzung von Vergewaltigung und Vo¨lkermord berge die Gefahr, die geschlechtsspezifische Systematik dieser Form von Gewalt aus dem Blick zu verlieren und die Ausu¨bung letztlich wieder herunterzuspielen. Nur wenn eine Vergewaltigung als „Teil des Vo¨lkermords“ und damit als außergewo¨hnlich verabscheuungswu¨rdiger Akt angesehen wu¨rde, bestu¨nde die Mo¨glichkeit, sie als Verstoß gegen das internationale Strafrecht und damit als Verbrechen anzuerkennen. „Rape as such will most likely remain an inevitable byproduct of war.“23 Um sich dagegen zu verwahren, pla¨dierte Copelon dafu¨r, den Begriff Waffe zu verwenden, um Vergewaltigung als eine geschlechtsspezifische Straftat zu markieren, die darauf zielt, Frauen als Frauen und ma¨nnliche Opfer sexueller Gewalt durch die Reduzierung auf den Status von Frauen zu zersto¨ren. Kimberley Crenshaws Begriff der Intersektionalita¨t zitierend, argumentierte Copelon, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist, das sich mit anderen Machtverha¨ltnissen kreuzt, an dessen Wurzel aber immer geschlechtsspezifische Identifikationen und Zuschreibungen stehen.24 Vor dem Hintergrund der damals aufkommenden postmodernen Theorien zur sozialen und kulturellen Konstruktion von Gender argumentierte Ruth Seifert, dass Kriegsvergewaltigungen besondere Vorstellungen von Ma¨nnlichkeit und Weiblichkeit affirmieren und u¨berhaupt erst hervorbringen wu¨rden. Sie schlug vor, sexuelle Gewalt in Kriegszeiten auf fu¨nf Ebenen zu untersuchen: erstens als eine „Spielregel des Krieges“, derzufolge dem Sieger das Recht zugestanden wird, die Frauen des Feindes zu vergewaltigen; zweitens als „Kommunikation von Mann zu Mann“, mit der dem Gegner u¨bermittelt wird, er ko¨nne „seine“ Frauen nicht schu¨tzen; drittens als Sta¨rkung von Ma¨nnlichkeit, die Kameradschaft und Loyalita¨t unter Soldaten erzeugt; viertens als ein Mittel zur Zersto¨rung des Gegners, indem Frauen als Tra¨gerinnen einer Gesellschaft, ihrer Reproduktion und Kultur angegriffen werden; und fu¨nftens als Effekt der regelhaften Frauenfeindlichkeit in Kriegen, in der Soldaten ihren Frust an schwa¨cher positionierten Personen auslassen.25 Mit ihren Ansa¨tzen verstand Seifert Vergewalti-

22 Vgl. Vesna Kesic, A Response to Catharine MacKinnon’s Article ‘Turning Rape Into Pornography: Postmodern Genocide’, in: Hastings Women’s Law Journal, 5, 2 (1994), 267–280. 23 Rhonda Copelon, Surfacing Gender: Re-Engraving Crimes Against Women in Humanitarian Law, in: Hastings Women’s Law Journal, 5, 2 (1994), 243–266, 246f. Fu¨r eine genauere Analyse der feministischen Diskussion zu „genocidal rape“ in den 1990er-Jahren vgl. Pascale R. Bos, Feminists interpreting the politics of wartime rape: Berlin, 1945; Yugoslavia, 1992–1993, in: Signs, 31, 4 (2006), 995–1025, 1010ff. 24 Vgl. Copelon, Surfacing Gender, wie Anm. 23. 25 Vgl. Ruth Seifert, Krieg und Vergewaltigung. Ansa¨tze zu einer Analyse, in: Alexandra Stiglmayer (Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen. Frankfurt a. M. 1993, 87–112.

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gung nicht als Strategie im engeren Sinne, sondern vielmehr als eine Form von Gewalt, die kriegsstrategische Funktionen und Wirkungen innehat.26 Im Zuge der Einrichtung der internationalen Ad-hoc-Tribunale fu¨r das ehemalige Jugoslawien (1993) und fu¨r Ruanda (1994), des sta¨ndigen Internationalen Strafgerichtshofs (2001) sowie anderer internationalisierter Ad-hoc-Gerichtsho¨fe und nationaler Verhandlungen unter Einbeziehung des Vo¨lkerstrafgesetzbuches wurde die Frage nach der Bewertung des Handelns der einzelnen Soldaten im Kontext u¨bergreifender milita¨rischer Operationen zu einer Frage der Beweiswu¨rdigkeit vor Gericht. Da es in der internationalen Rechtsprechung kaum Erfahrungen mit Fa¨llen sexueller Gewalt gab, mussten Ermittler*innen, Staatsanwa¨lt*innen und Richter*innen neue Strategien fu¨r die Strafverfolgung entwickeln. Michelle Jarvis und Kate Vigneswaran haben beobachtet, dass das sexuelle Element dieses Verbrechens Ermittler*innen und Staatsanwa¨lt*innen tendenziell dazu verleitet anzunehmen, Vergewaltigungen seien perso¨nlich motiviert. Im Vergleich zu anderen Verbrechen wie To¨tungen werde unverha¨ltnisma¨ßig oft davon ausgegangen, bei sexueller Gewalt handle es sich lediglich um „isoliertes oder opportunistisches Verhalten“, losgelo¨st von den eigentlichen Kriegshandlungen. Ziel mu¨sse in Zukunft sein, die strukturellen Bedingungen solcher Taten genauer zu erfassen.27 Libby Tata Arcel hat die Frage nach dem Zusammenspiel von individuellen Ta¨tern und milita¨rischem Kalku¨l 1998 aus sozialpsychologischer Perspektive aufgegriffen. Sie stellt fest, dass „the motives of the individual irregular (combatant)/soldier need not be the same as the aims of those who design the war strategy“.28 Gleichwohl wu¨rden Armeefu¨hrungen, so ihre Hypothese, das Verhalten der Ma¨nner fu¨r eigene Interessen instrumentalisieren und in den Dienst einer Milita¨rstrategie stellen (ebenso wie sie auch in der Position seien, das Verhalten der Ma¨nner zu unterbinden). Wenn milita¨rische und politische Fu¨hrungen die Ausu¨bung sexueller Gewalt tolerieren, so Arcel, sinken die Grenzen dessen, was als sozial akzeptables Verhalten gilt: „This will change the norms, and corrupt and exploit many men, especially the young and poorly educated, in acts they would not commit during peace.“29 Milita¨rische Befehlshaber wu¨rden solches Verhalten unter Ma¨nnern gezielt tolerieren und kultivieren und somit das Aggressionspotenzial der Ma¨nner schu¨ren und sie gleichzeitig an die Loyalita¨t im Ma¨nnerbund Milita¨r binden. 26 Vgl. Ruth Seifert, Vicissitudes of Gender as an Analytical Category: Sexual Violence in Armed Conflicts Revisited, in: Zipfel/Mu¨hlha¨user/Campbell, In Plain Sight, wie Anm. 2, 257–277. 27 Michelle Jarvis u. Kate Vigneswaran, Challenges to Successful Outcomes in Sexual Violence Cases, in: Serge Brammertz u. Michelle Jarvis (Hg.), Prosecuting Conflict-Related Sexual Violence at the ICTY, Oxford 2016, 33–72, 39. 28 Libby Tata Arcel, Sexual Torture of Women as a Weapon of War: The Case of Bosnia-Herzegovina, in: dies. u. Gorana Tocilj Simunkovic (Hg.), War, Violence, Trauma and the Coping Process: Armed Conflict in Europe and Survivor Response, Zagreb 1998, 183–211, 192. 29 Arcel, Sexual Torture, wie Anm. 28, 198.

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Insgesamt zeigt sich, dass feministische Forscherinnen und Expertinnen den Topos sexueller Gewalt als Waffe oder Strategie in den 1990er-Jahren verwendeten, um die internationale Gemeinschaft zu u¨berzeugen, die weit verbreitete Ausu¨bung dieser Form von Gewalt anzuerkennen, die Strafverfolgung der Ta¨ter zu erwirken und Unterstu¨tzung fu¨r die Opfer dieser Form von Gewalt zu realisieren. Insbesondere die Rechtsprechung war in dieser Zeit von großer Bedeutung, und in der juristischen Beweisfu¨hrung ging es immer auch darum, den Zusammenhang von sexueller Gewaltausu¨bung mit kriegerischen Dynamiken aufzuzeigen. Die dabei aufbrechenden Konflikte um die Bedeutung von Geschlecht, Sexualita¨t und ethnischer/nationaler Zugeho¨rigkeit pra¨gen den Umgang mit sexueller Kriegsgewalt und ihren Folgen bis heute.

3.

Schlussbemerkung

Bilanzierend kann gesagt werden, dass der Blick auf a¨ltere feministische Erkla¨rungsansa¨tze vielversprechende Mo¨glichkeiten ero¨ffnet, unser heutiges Versta¨ndnis davon, was wem passiert, wenn sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten ausgeu¨bt wird, kritisch zu u¨berpru¨fen und empirische und theoretische Forschungsansa¨tze zu erweitern.30 Bis heute sind sexuelle Gewalttaten in vielen Gesellschaften in Friedenszeiten verbreitet und es mangelt an Unrechtsbewusstsein. Dies scheint zu einem Bedingungsgefu¨ge beizutragen, in dem sexuelle Gewalt in Konflikt- und Kriegszeiten (wenn Geschlechterverha¨ltnisse besonders instabil sind) als zwar unerfreuliche, aber letztlich doch normale Praxis akzeptiert wird. Solange milita¨rische Befehlshaber nicht proaktiv und mit rigorosen Maßnahmen gegen die Ausu¨bung dieser Form von Gewalt vorgehen, dulden sie das Verhalten ihrer Untergebenen. Und implizit oder explizit nutzen sie dieses Wissen auch in ihrem taktischen und strategischen Denken – selbst dann, wenn Vergewaltigung nicht offen kommuniziert, geschweige denn angeordnet wird. Um zu verstehen, wie sexuelle Gewalt in Zeiten von Krieg und bewaffneten Konflikten (geduldet, gefo¨rdert oder verboten) kommuniziert wird, ist es geboten, implizite ¨ bereinku¨nfte, kulturelle Vorannahmen und eingeu¨bte ko¨rperliche Praxen zu beU schreiben und zu untersuchen, welche Ausformungen sie in den Normen und Organisationsdynamiken bewaffneten Gruppen entwickeln.

¨ berblick zur aktuellen Forschungsliteratur findet sich auf http://warandgender.net/bibliog 30 Ein U raphy/, „Selected Bibliography ,Sexual Violence in Armed Conflict‘“.

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Lyndan Warner (Hg.), Stepfamilies in Europe, 1400–1800, Routledge: New York 2018, 288 S., ca. EUR 39,– (paperback), ISBN: 978-0-8153-8214-0. Dieser Band geht entgegen der gela¨ufigen Auffassung, zusammengesetzte Familien seien ein neues Pha¨nomen – Stichwort Patchworkfamilien –, von der Tatsache aus, dass Stieffamilien historisch weit verbreitet waren, was in der Geschichtsforschung jedoch bisher kaum Beachtung fand. Gea¨ndert haben sich die Ursachen und die Struktur: Sind es heute vorwiegend durch Scheidung zustande gekommene und u¨ber die Mutter mit neuem Partner konstituierte Familien, sind historische Stiefkonstellationen von Witwenschaft und Wiederheirat gepra¨gt und u¨ber die Va¨ter konstituiert. Zwei miteinander verwobene Grundannahmen durchziehen den Sammelband: In der Fru¨hen Neuzeit heirateten Witwer o¨fter und schneller erneut als verwitwete Frauen, daher gab es deutlich mehr Stiefmu¨tter als Stiefva¨ter. Und wa¨hrend heutige Stiefkinder meist in verschiedenen Haushalten wohnende Eltern haben, die oft mit neuen PartnerInnen zusammenleben, bestanden die Stieffamilien in der Vormoderne aus Halbwaisen, die einen Elternteil dazugewannen. In elf locker chronologisch geordneten Beitra¨gen wird ausgehend von der Frauenund Geschlechtergeschichte, die sich intensiv mit Witwenschaft und Wiederheirat befasst hat, und durch Ru¨ckgriff auf die Rechtsgeschichte der Lebenssituation in Stieffamilien in verschiedenen europa¨ischen La¨ndern von 1400 bis 1800 nachgegangen. Im zwo¨lften Beitrag untersucht die Herausgeberin Darstellungen von Stieffamilien in der Kunst der Fru¨hen Neuzeit und entdeckt eine erstaunliche Bandbreite an stieffamilia¨ren Konstellationen, die erst durch die historisch geschulte Sensibilita¨t fu¨r dieses Thema ins Bewusstsein ru¨ckt. Im Buch werden verschiedene Stiefkonstellationen durch Wiederheirat analysiert, es geht um diskursive Praktiken, um die rechtliche Situation und die Erfahrung von Stiefva¨tern, Stiefmu¨ttern sowie Stief- und Halbgeschwistern, und auch illegitime Kinder finden Beru¨cksichtigung, sofern sie im Familienleben einbezogen waren, nicht aber Pflege- oder Adoptivkinder. In ihrer Einleitung fu¨hrt Lyndal Warner in das Forschungsfeld ein, wobei sie vor dem Hintergrund der Vorzu¨ge und der Beschra¨nkungen des demografischen Zugangs zum Thema das Potenzial von diskurshistorischen und geschlechtergeschichtlichen Fragstellungen umreißt und deren Quellenvielfalt herausstreicht, die auch den Band kennzeichnet: Vormundschafts-, Notariats- und Gerichtsakten, Rechtskodizes, Leichenpredigten, Dispensakten, Briefe, Tagebu¨cher, Lieder, Familienportra¨ts, Kunstdrucke. Die meisten Aufsa¨tze gehen von bekannten kulturellen Bildern aus, vor allem vom Bild der bo¨sen Stiefmutter, besprechen Vor- und Nachteile einer Wiederheirat, zeichnen den rechtlichen Rahmen, das bei Wiederheirat gu¨ltige Ehegu¨terrecht und das Erbrecht von Halbgeschwistern und illegitimen Kindern nach und befassen sich mit der gelebten Praxis. Den weitgehend auf Patrilinearita¨t beruhenden vertikalen Familienvorstellungen auf normativer Ebene wird die große Bedeutung der horizontalen

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Beziehungen in der Stiefkonstellation im realen Leben der ProtagonistInnen gegenu¨bergestellt. Alexandra Guerson und Wessel Lightfoot stellen in ihrem Beitrag u¨ber ju¨dische Familien im spanischen Girona nach den antiju¨dischen Verfolgungen von 1391 fest, dass die Praxis der Wiederheirat diesen Familien Schutz und Stabilita¨t in gewaltvollen, unsicheren Zeiten brachte und dass trotz rechtlicher Antagonismen aus den Notariatsakten eine tiefe Beziehung zwischen Stiefeltern und Stiefkindern herausgelesen werden kann. Ana Lathinen konzentriert sich in ihrem Artikel u¨ber Schweden von 1400 bis 1650 auf die rechtlichen, sozialen und o¨konomischen Folgen einer Wiederheirat und kommt zum Schluss, dass in Briefen zwar rhetorisch kein Unterschied zwischen direkter Verwandtschaft und Halb- beziehungsweise Stiefverwandtschaft gemacht wurde, es im rechtlichen Kontext aber große Unterschiede gab und die Vermo¨gensarrangements in der Stiefkonstellation spannungsreicher ausfielen. Anna Bellavitis untersucht am Beispiel von Venedig in der Fru¨hen Neuzeit sa¨mtliche Formen von zusammengesetzten Familien, mit Witwer- und Witwenhaushalten und insbesondere auch die Frage der Integration von illegitimen Kindern. Sie unterstreicht die Diskrepanz zwischen Rechtsnormen und Rechtspraxis: Wa¨hrend erstere die Familie als geschlossen Einheit dachten, waren Familien in der gelebten Realita¨t offene Einheiten, die vor allem auch uneheliche Kinder zu integrieren wussten. In spanischen Adelsfamilien der Fru¨hen Neuzeit war die Integration von illegitimen Kindern fu¨r die Va¨ter und ihre legitimen Nachkommen sogar eine Frage der Ehre, wie Grace E. Coolidge in ihrem Aufsatz u¨ber „virtuelle Stieffamilien“ nachweist. Die aus den außerehelichen Beziehungen der Ma¨nner resultierenden Kinder wurden auch von den Halbgeschwistern im Familienverband akzeptiert, solange sie den Erbprozess nicht beeinflussten. Die praktische Seite der Integration in den Familienverband wurde sogar versta¨rkt von den Ehefrauen vorangetrieben. Die beiden folgenden Artikel konzentrieren sich ausschließlich auf die rechtliche Ebene, so Tim Stretton in Bezug auf die Stiefmu¨tter im fru¨hneuzeitlichen England (mit dower und coverture) und Sebastiaan Roes, der ausgehend von einem Gema¨lde erbrechtliche Konstellationen in Bezug auf „komplizierte Ehen“ und Stieffamilien vor dem Hintergrund des komplexen, weitgehend auf Gu¨tergemeinschaft zwischen den EhepartnerInnen fußenden niederla¨ndischen Rechtssystems durchspielt. Hervorzuheben ist auch der Beitrag von Cornelia Niekus Moore zu Stieffamilien und zusammengesetzten Familien in fru¨hneuzeitlichen, deutschen, protestantischen Leichenpredigten, weil sie mehrere soziale Schichten beru¨cksichtigt – den Hochadel, den Landadel und das Bu¨rgertum – und signifikante Unterschiede feststellt: Wa¨hrend es im Adel kaum Stiefva¨ter gab, weil die verwitweten Adelsfrauen nur selten wieder heirateten, war die Einheirat eines Mannes im Handwerksmilieu eine ha¨ufige Konstellation, die sich auch fu¨r Gelehrtenhaushalte oft nachweisen la¨sst, fu¨r deren Mitglieder die meisten Leichenpredigten u¨berliefert sind.

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Gabriella Erde´lyi befasst sich in ihrem Aufsatz zu Ungarn im 17. Jahrhundert anhand von Autobiografien und Briefen mit den emotionalen Beziehungen in Stieffamilien und unterstreicht die Diskrepanz zwischen der Perspektive der Rechtsnormen, die die vertikale Verwandtschaft stu¨tzt, und der Welt der Emotionen, die vor allem durch die u¨ber die Ehe hergestellten horizontalen Verwandtschaftsbeziehungen gepra¨gt war. Zwei Beitra¨ge zum 18. Jahrhundert beschließen den chronologisch strukturierten Teil des Bandes: Margareth Lanzinger setzt sich mit Stieffamilien und deren emotionalen Beziehungen in o¨sterreichischen Dispensakten auseinander. Sie kann zeigen, dass eine Wiederheirat insbesondere bei Vorhandensein von Kindern sowohl fu¨r Frauen als auch fu¨r Ma¨nner eine erfolgreiche Strategie zur Lebenssicherung war, wobei fu¨r Frauen die o¨konomische Absicherung und Fortfu¨hrung des Betriebes im Vordergrund stand, wa¨hrend es Ma¨nnern um die starke Hand im Haushalt und in der Kindererziehung ging. Dass die ra¨umliche Na¨he in Stiefkonstellationen von besonderer Bedeutung war, zeigt auch der Aufsatz von Sylvie Perrier u¨ber Multigenerationenhaushalte in Toulouse. Die Koresidenz schaffte zwar emotionale Na¨he, konnte aber in der Stiefkonstellation ohnehin verscha¨rft auftretende Konflikte zusa¨tzlich anfachen. Insgesamt tra¨gt „Stepfamilies in Europe“ erheblich zur Verfeinerung unseres Versta¨ndnisses von vormodernen Familienkonstellationen und erweiterter Verwandtschaft bei und fu¨hrt durch eine große Bandbreite an sozialen Schichten, religio¨sen Gemeinschaften und kulturellen Konstellationen. Wie auch der abschließende, um Zusammenfu¨hrung der verschiedenen Stra¨nge bemu¨hte Beitrag von Warner zeigt, ist damit kompetent und vielschichtig ein Forschungsfeld ero¨ffnet, das es zuku¨nftig weiterhin konsequent zu bearbeiten gilt. Siglinde Clementi, Bozen

Julia Moses (ed.), Marriage, Law and Modernity. Global Histories, London/New York: Bloomsbury Academic 2019, 288 pp., ca. EUR 39,– (paperback), ISBN 978-13501-1238-4. Marriage and law are closely intertwined; together they shape history. This provocative collection of essays on marriage is based on conference discussions among the contributors. They share their comparative observations to highlight broad patterns and variations. Temporally, the case studies range from the sixteenth century to the present. The geographic scope is also broad; global analytic frames, especially imperialism and postcolonialism, shape many chapters. There is just one essay on US history, the postscript; although it comes at the end of the book, the larger reform it documents – the recent movement to expand marriage rights to include unions of same-sex partners – seems to have served as an inspiration for

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the whole project. In this postscript, Nancy Cott recounts recent US and global efforts to legalise same-sex marriage. She shows, as editor Julia Moses notes, “the importance of history as a discipline for understanding why and how marriage law has changed over time, and how legal reforms can build on that past”. (p. 16) Several chapters track the varied relationship between marriage and dynastic rule. Helen Watanabe-Kelly’s contribution on royal marriage examines European dynasties. In this study of dynastic marriage strategies we see how monarchs have adapted over time to changing political systems and ideologies. The piece calls attention to “house rules” governing royal marriage. While traditional house rules in England prohibited marriages between royal heirs and commoners, in more recent times, that rule was bent before it was broken. In 2011 when Kate Middleton married Prince William, the court genealogist searched until he found a fifteenth-century Plantagenet ancestor for Middleton, thus giving her royal blood. Royal marriage ceremonies have also evolved along with the functions and aims of monarchy – from the often private ceremonies appropriate for a system in which royal marriages were elite bargains over alliances and territory to the now familiar public spectacles designed for nation building by largely symbolic monarchies. Comparisons are suggested by other chapters on dynasties far removed from Europe. In her contribution on the history of marriage in Siam, Tamara Loos tracks the history of marriage law and royal marriage practices. Changing geopolitical conditions led Siam’s ruling dynasty to rethink marriage in the late nineteenth century. Though a ‘non-colonial’ power, the Siamese state still needed to deal with Western regimes. The strategy involved dynastic rule based on the traditional practice of royal polygyny, but with symbolic acknowledgment of global discourses favouring monogamy. Loos offers telling visual evidence. An 1890s photograph of the royal family depicts the sons of three different royal consorts. In an official 1900 oil painting of the royal family based on this photo, two younger sons of the Queen were substituted for the two born to other consorts. The portrait, intended for global consumption, upheld the monogamous nuclear family ideal while the king had over 150 consorts. Kenneth M. Cuno documents marriage debates in colonial and postcolonial Egypt. He examines Egyptian scholarship on religious and secular law. Competing interpretations within Islamic legal tradition, in interaction with French legal thought introduced under colonialism, produced a kind of hybrid theory of marriage consistent with modern domesticity but distinctive from its European variants. Here too, dynastic politics played a role in spreading this hybrid form; the ruling khedive’s family set a model in the late-nineteenth century by adopting monogamous practices (not just in official portraits) in advance of legal reforms, thus modelling a “modern” family type even while religious law continued to hold open other possible practices. Empire building appears as a frame throughout the entire book; marriage in the expanding British empire of the eighteenth and nineteenth centuries is at the centre of Rebecca Probert’s contribution. British subjects abroad married under a great variety of

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local laws, especially where Anglican officiants – originally the only legally recognised ones – were not available. Such marriages produced legal complications at a time when male British colonisers were increasingly encouraged to marry European women and unions with indigenous women were discouraged. Moreover, metropolitan debates over marriage came into play at exactly the same time, as Protestant dissidents and Catholics resisted the Anglican monopoly over officiation. Probert discusses precedentsetting cases that came up as the British legal system attempted to accommodate marriage law to the expanding political boundaries of kingdom and empire. Several other chapters assess plural marriage forms mentioned in the cases of Siam and Egypt. Concubinage comes under scrutiny in Lisa Tran’s lucid analysis of marriage law in China. She outlines three successive regimes: the late imperial era when concubinage was permitted, if legally ambiguous; the republican era when concubinage persisted but was handled as adultery; and its banning by the People’s Republic of China. Tensions between law and practice, and transition from one regime to another, brought difficulties apparent in the evidence Tran discusses such as divorce case records from the 1950s, when the PRC first attempted to bring existing families into compliance with the new regime of monogamy. In another contribution, on irregular marriages in twentieth-century Canada, Me´lanie Me´thot presents evidence of local tolerance of bigamous unions under some circumstances, despite their blatant illegality and defiance of national law. Tension between law and practice is also documented in Rachel Jean-Baptiste’s analysis of brideprice in Gabon (Central Africa) and its persistence after its outlawing in 1963. Despite earlier European criticism of brideprice as “wife-purchase”, and postcolonial rulers’ attempts to eradicate the practice, the overwhelming majority of families in Gabon still continue to engage in brideprice exchanges. As popular opinion begins to play a larger role in the debate, it has become clear that many Gabonese women regard brideprice as protection for them and their children, rather than an abuse of women’s rights. Jean-Baptiste draws on oral histories and media accounts as well as legislative debates to ground her analysis. Although the law against brideprice is still on the books, the debate seems to be moving towards some form of recognition of it. Several other pieces also emphasise the role of mass-based movements in changing marriage law. Ulrika Harmat’s study of culture wars in Austria(-Hungary) analyses the intersection of politics and marriage law from the late-eighteenth to the late twentieth century. Joseph II began the process of secularising marriage and bringing it under state control. However, his reform went only part way in that Catholic clergy retained their control over marriage, now as state officiants. This ambiguity re-surfaced periodically with every regime change from the 1848 liberal revolution through the early twentiethcentury social democratic revolution. It was only after the Nazi takeover in 1938 that marriage was fully secularised, but the association between fascism and secularisation meant that marriage law was once again contested in postwar Austria.

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Sueann Caulfield’s contribution on marriage rights in Brazil begins with the recent legalisation of same-sex unions and roots this contemporary phenomenon in Brazil’s history of slavery, racial formation and family. The complicated history of marriage, which included formal and informal unions, produced popular practices and ideas that fed into more recent contests over marriage law. The liberal modernisation of marriage on the Western model was challenged by pushbacks from women living in informal unions not recognised by liberal laws, and later from homosexuals. Leigh Denault tracks the complex role that marriage law has played in India’s political development. Denault brings competing Indian perspectives into the colonialera marriage debates, going beyond British colonial discourses. She makes a compelling argument that family and marriage have been significant in shaping the evolution of Indian political ideologies and orientations from the nineteenth century to the present. Multiple legal jurisdictions over marriage, and inconsistencies between secularist Indian thought and Hindu understandings, have contributed to ongoing struggles over the nature of the Indian nation. While many chapters touch on issues of gender inequality implicit in marriage laws, gender asymmetry in marriage and citizenship law is at the centre of Julia Woesthoff’s study of concern over marriages to foreigners in post-Nazi Germany. Woesthoff looks to popular culture, especially print media, to document a growing attack on intermarriages between German women and foreign (especially Muslim) men in the 1950s and early 1960s, long before such marriages were statistically significant. She points to gender asymmetry in citizenship laws affecting marriages to male and female foreigners. Instead of critiquing this legal inequality, the media sources that Woesthoff analyses generally attempted to dissuade German women from marrying foreigners. This collection presents a set of clearly argued contributions to the global history of practices and laws governing marriage. Contemporary debates about marriage law echo throughout the book. These rich studies document the wide range of laws and practices that marriage has involved across time and place. Mary Jo Maynes, Minneapolis

Ulrike Lindner u. Do¨rte Lerp (Hg.), New Perspectives on the History of Gender and Empire. Comparative and Global Approaches, London/New York: Bloomsbury 2020, 307 S., ca. EUR 32,– (paperback), ISBN 978-1-3500-5631-2. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Geschlechtergeschichte als ein dynamischer und produktiver Forschungsansatz innerhalb der Kolonial- und Imperiengeschichte etabliert. Ausgehend von Arbeiten zum British Empire, das bereits in den 1980er-Jahren in das Blickfeld der historischen Genderforschung geru¨ckt ist, hat sich auch die Forschung zur Geschichte des franzo¨sischen, niederla¨ndischen, spanischen,

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amerikanischen und deutschen Kolonialismus in letzter Zeit versta¨rkt geschlechtergeschichtlichen Fragen zugewandt. Die vergleichende Imperiengeschichte zu den großen ost- und su¨dosteuropa¨ischen Kontinentalreichen (Russla¨ndisches Reich, Habsburgermonarchie, Osmanisches Reich) beginnt sich in zunehmendem Maße fu¨r geschlechterhistorische Fragen zu interessieren. Viel zu selten wird jedoch noch immer der Versuch unternommen, neuere Forschungsarbeiten zur Geschichte der maritimen Großreiche mit Studien zur Geschichte der osteuropa¨ischen Kontinentalimperien in Dialog zu bringen. Es geho¨rt zu den besonderen Verdiensten des vorliegenden Sammelbandes, diesen Bru¨ckenschlag zu wagen. Der sprachlich und formal ansprechend gestaltete Band umfasst neun Aufsa¨tze, die auf Beitra¨gen zu einer Konferenz u¨ber „Gender and Empire“ an der Universita¨t zu Ko¨ln im Jahr 2015 basieren. Vier Artikel befassen sich im weiteren Sinne mit der britischen Kolonialgeschichte. Daneben stehen das Deutsche Kaiserreich mit zwei Aufsa¨tzen und das Russla¨ndische Reich, das (US-)American Empire und Italiens Kolonialpolitik in Su¨dosteuropa mit je einem Beitrag im Fokus. Der Untersuchungszeitraum reicht vom spa¨ten 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Thematische Schwerpunkte bilden die staatliche Regulierung des Heiratsverhaltens kolonialer UntertanInnen (Teil 1), die Kontrolle von interkulturellen Begegnungen und intimen Beziehungen (Teil 2), der koloniale Haushalt und die Frage subalterner Dienerschaft (Teil 3) und schließlich die Frage von Schulbildung und Erziehung vor allem von Ma¨dchen in kolonialen Kontexten (Teil 4). Obgleich der Begriff prominent im Titel des Sammelbandes vorkommt, stellen Ulrike Lindner und Do¨rte Lerp in ihrer Einleitung – etwas u¨berraschend – das analytische Potenzial des Konzepts „empire“ grundlegend in Frage. In Anknu¨pfung an Ann Laura Stoler und Carole McGranahan wollen sie den Blick nicht auf „geopolitical entities“ lenken, die von „Imperialisten“ und der europa¨ischen Historiografie als „empires“ bezeichnet wurden, sondern auf o¨konomische, politische und kulturelle Praktiken und Kategorien, die Imperien hervorgebracht und gepra¨gt haben (S. 8f.) Als alternatives analytisches Konzept fu¨r die Untersuchung des dynamischen Gefu¨ges imperialer beziehungsweise kolonialer (Macht-)Beziehungen schlagen sie – wiederum in Anlehnung an Stoler und McGranahan – den Begriff „imperial formation“ vor, wobei sich ihr Erkenntnisinteresse vor allem auf „gendered imperial formations“ richtet, ohne die Bedeutung auch anderer diskriminierender Kategorisierungen wie „class“ oder „race“ zu u¨bersehen. Diese Fokussierung auf die Genese und auf Dynamiken imperialer und kolonialer Macht auf der Ebene sozialer Beziehungen leuchtet durchaus ein. Wenn die analytische Kategorie „empire“ jedoch ganz verworfen wird, stellt sich die Frage, wie denn die entsprechenden Untersuchungsobjekte fu¨r eine „comparative and entangled imperial history“ (S. 5) definiert werden ko¨nnen. In welchen politischen Ordnungen lassen sich „(gendered) imperial formations“ beobachten? Unterscheiden sich diese von entsprechenden „social formations“ in Nationalstaaten und wenn ja, in welcher Hinsicht?

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Alexis Rappas befasst sich in seinem Artikel mit der Regulierung interkonfessioneller Ehen auf der zwischen 1912 und 1943 von Italien beherrschten Inselgruppe der Dodekanes in der su¨do¨stlichen A¨ga¨is. Das Herrschaftsgefa¨lle zwischen italienischen Staatsbu¨rgerInnen und nicht-italienischen UntertanInnen beschreibt er dabei als „colonial setting“. Auch wenn die Beho¨rden sogenannten „mixed marriages“ skeptisch gegenu¨berstanden und die Debatte ab Mitte der 1930er-Jahre zunehmend von ,Rasse‘diskursen gepra¨gt wurde, waren gemischtkonfessionelle Ehen in den 1920er- und 1930er-Jahren auf den Dodekanes-Inseln keine Seltenheit, vor allem wenn es sich um Verbindungen von italienischen Ma¨nnern mit Frauen aus wohlhabenden lokalen Familien handelte. Unklar bleibt dabei der Einfluss der katholischen Kirche – gemischtkonfessionelle Ehen wurden von dieser schließlich auch in Nationalstaaten lange Zeit argwo¨hnisch betrachtet. Auch das Russla¨ndische Reich bemu¨hte sich im fru¨hen 19. Jahrhundert um die Regulierung des Heiratsverhaltens der unter Katharina der Großen ins Land gerufenen ba¨uerlichen Kolonisten. Allerdings unterschla¨gt Julia Malitska in ihrem Beitrag zu diesem Thema, dass es sich dabei nicht um eine Diskriminierung „kolonialer“ Pra¨gung handelte, schließlich durften auch russische Leibeigene in dieser Zeit erst nach der Zustimmung ihrer adeligen Gutsherren heiraten. Ziel der Beho¨rden war es, gemischtkonfessionelle Ehen zwischen (mehrheitlich) protestantischen EinwandererInnen aus Mitteleuropa und orthodoxen RussInnen sowie Verbindungen u¨ber Standesgrenzen hinweg zu verhindern und so die traditionelle soslovie-[Sta¨nde-]Ordnung, die Struktur des „confessional empire“ (Robert Crews) und die o¨konomische Basis des Feudalsystems zu schu¨tzen. Mit intimen Beziehungen zwischen Mitgliedern der kolonialen Oberschicht und der indigenen Bevo¨lkerung in Deutsch-Ostafrika im spa¨ten 19. Jahrhundert befasst sich Bettina Brockmeyer. Im Mittelpunkt steht die Frage einer mo¨glichen Liebesbeziehung zwischen Magdalene Prince, der Ehefrau des deutschen Milita¨rkommandanten, und Mpangile, Mitglied einer hochstehenden lokalen afrikanischen Familie. Mpangile wurde 1897 von den deutschen Machthabern zum Tode verurteilt. Brockmeyer ha¨lt es nicht fu¨r ausgeschlossen, dass damit (auch) eine intime Beziehung mit Magdalene Prince bestraft wurde. Andeutungen im 1903 vero¨ffentlichten Tagebuch ¨ berzeugend arguder deutschen Adeligen ko¨nnten entsprechend ausgelegt werden. U mentiert Brockmeyer, dass das Schweigen kolonialer Archive u¨ber mo¨gliche Liebesbeziehungen zwischen weißen Frauen und afrikanischen Ma¨nnern nicht als Beleg fu¨r deren Nicht-Existenz gewertet werden du¨rfe. Die Selbstwahrnehmung und -inszenierung einer US-Amerikanerin auf den Philippinen im fru¨hen 20. Jahrhundert steht im Zentrum der Abhandlung von Silvan Niedermeier. Er hat Briefe und Fotografien von Mary Denison Thomas, der Frau eines amerikanischen Kolonialbeamten, ausgewertet. Damit lenkt er den Blick nicht nur auf das oft u¨bersehene American Empire in der Zeit des Hochimperialismus, sondern auch auf Rollenbilder von Frauen in diesem kolonialen Projekt. Ausgeru¨stet mit einer

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tragbaren Kodak-Kamera, machte sich Thomas ihr eigenes ,Bild‘ von ihrem neuen Lebensumfeld. Niedermeier sieht darin einerseits das Streben einer „new woman“ nach Agency im kolonialen Setting. Deutlich wird aber auch, dass Thomas mit ihrem paternalistischen Blick auf die lokale Bevo¨lkerung und mit ihrer Selbstinszenierung die sozialen Hierarchien der amerikanischen Kolonialherrschaft fest verinnerlicht hatte und mit ihren Fotografien reproduzierte. Jan Severin lenkt den Blick auf den Umgang mit (ma¨nnlicher) Homosexualita¨t in der deutschen Kolonie Su¨dwestafrika im fru¨hen 20. Jahrhundert. Dabei kann er zeigen, dass der beru¨chtigte § 175 StGB in den Kolonien nur auf Weiße angewandt wurde. Besonders hart wurden dabei gleichgeschlechtliche Kontakte mit afrikanischen Ma¨nnern geahndet, da diese zugleich die 1905 festgeschriebene ,Rassen‘trennung verletzten. Dass Severin homosexuelle weiße Ma¨nner jedoch nicht nur als Opfer juristischer Diskriminierung, sondern auch als Kolonialherren und Ta¨ter in den Blick nimmt, die ihre Macht u¨ber afrikanische Untergebene bislang brutal auszunutzen wussten, illustriert sein Bemu¨hen um einen differenzierten Blick auf diese spezifische „imperial formation“. Soziale Beziehungen und Machthierarchien in „colonial homes“ stehen im Fokus der Beitra¨ge von Elizabeth Dillenburg und Eva Bischoff. Dillenburg bescha¨ftigt sich mit Su¨dafrika und Neuseeland im fru¨hen 20. Jahrhundert, Bischoff mit „settler colonies“ in Australien im 19. Jahrhundert. Dillenburg kann zeigen, dass Versuche der britischen Kolonialherren, die „servant crisis“ durch die Rekrutierung von jungen afrikanischen beziehungsweise Maori-Frauen zu bewa¨ltigen, weitgehend am Widerstand der lokalen Bevo¨lkerung scheiterten. Die Idee des „(British) colonial home“ als Bu¨hne einer europa¨ischen Zivilisierungsmission traf in zunehmendem Maße auf die Angst der indigenen Bevo¨lkerung vor dem Verfall von Sitte und Moral jener Frauen, die bei Weißen arbeiteten. Bischoff zeichnet am Beispiel von zwei Qua¨ker-Familien ein komplexes und widerspru¨chliches Bild des „settler home“ in Australien. Wa¨hrend Haushalte weißer Kolonisten in Tasmanien gekidnappte junge Aborigines-Frauen zur Arbeit als Hausangestellte zwangen, waren Qua¨ker-Haushalte in Su¨daustralien Orte der Begegnung und kulturelle Kontaktzonen. Eine Reduktion des „settler home“ in Australien als konflikthafte „frontier“ greife daher zu kurz. Die Aufsa¨tze von Jana Tschurenev und Divya Kannan befassen sich mit Diskursen u¨ber und Programmen von Frauenbildung in Indien im 19. und fru¨hen 20. Jahrhundert. Tschurenev wirft dabei auch den Blick auf britische Frauen, die in Indien als Lehrerinnen arbeiteten und so eine aktive Rolle im Projekt der europa¨ischen Zivilisierungsmission einnahmen. In Kannans Beitrag stehen die Mitarbeiterinnen der London Missionary Society im Zentrum, die sich in Su¨dwest-Indien fu¨r die Schulbildung von Frauen aus armen und niederen Kasten engagierten. ¨ berblick zeigt, welchen großen geografischen und zeitlichen Bereits dieser kurze U Bogen der vorliegende Sammelband spannt. Die einzelnen Beitra¨ge dokumentieren jeweils innovative, archivgestu¨tzte neue Forschung, die sowohl fu¨r die Imperien- als

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auch fu¨r die globale Geschlechtergeschichte neue Perspektiven ero¨ffnet. Dass der in der Einleitung versprochene systematische Vergleich und der Blick auf wechselseitige Beziehungen beziehungsweise Verflechtungen der einzelnen Fa¨lle weitgehend unterbleiben, ist bedauerlich, du¨rfte jedoch in der großen thematischen Bandbreite der Fallstudien begru¨ndet sein. Frithjof Benjamin Schenk, Basel

Sara L. Kimble u. Marion Ro¨wekamp (Hg.), New Perspectives on European Women’s Legal History, New York/London: Routledge 2017 (= Routledge Research in Gender and History 24), 452 S., EUR 45,99 (paperback), ISBN 978-1-138-80554-5. Der Konnex zwischen Recht und Frauenemanzipation einerseits, zwischen Stimmrecht und Zivilrecht andererseits sowie zwischen nationalen und internationalen Rechtsstandards liegt schon lange im Fokus der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Dieser Zusammenhang ist evident und dennoch empirisch komplex, zumal in der vergleichenden oder transnationalen Betrachtung. Das vorliegende Buch will nun genau an dieser Stelle Forschungen bu¨ndeln. Zugleich geht es ihm aber noch um ein weiteres: Er widmet sich den „ersten Juristinnen“ sowie dem Anteil von Juristinnen an der Reformierung von Rechtsnormen und der Rechtspraxis. Dabei verfolgt der Band die These, dass sich Frauen durch die rechtliche Ungleichbehandlung der Geschlechter dazu provoziert sahen, selbst durch juristische Bildung und berufliches Engagement eine Vera¨nderung herbeizufu¨hren, und dass sie eben daran systematisch gehindert wurden. Denn der Zugang zum Juristenberuf wurde Frauen ha¨ufig genau mit dem Hinweis verwehrt, dass sie nicht stimmberechtigt seien. Nachdem Frauen das Stimmrecht erlangt hatten (bekanntermaßen in Europa ungleichzeitig), trat der krasse Unterschied zwischen ihrer staatsbu¨rgerlichen Gleichberechtigung und der rechtlich festgeschriebenen Unterordnung noch deutlicher hervor. Doch nicht u¨berall, wo den Frauen das Stimmrecht verwehrt wurde, waren diese auch im Zivilrecht besonders schlecht gestellt. Mit Blick auf die angerissenen Zusammenha¨nge breitet der Sammelband ein ganzes Bu¨ndel von miteinander verwobenen Fragestellungen aus, und er bietet dabei eine beeindruckende Fu¨lle empirischer Daten. Die in den letzten Jahrzehnten durch Grundlagenforschungen erreichte Zunahme an empirischem Wissen sowie u¨ber feministischen Internationalismus schla¨gt sich in den Beitra¨gen auf eindru¨ckliche Weise nieder. Der Einleitung vorangestellt sind zwei kurze Statements von Pionierinnen der Geschlechtergeschichte, Ute Gerhard und Karen Offen. Die von den Herausgeberinnen verfasste Einleitung skizziert sodann das oben aufgerissene Forschungsprogramm. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert, wovon sich der erste mit Geschlecht und Macht im Familienrecht in der Zeit von den 1860er- bis 1960er-Jahren befasst, der

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zweite mit den ersten Juristinnen und ihrem Anteil an der Frauenrechtsbewegung (women’s rights movement) und der dritte mit Reformen, welche den rechtlichen Status von Frauen in verschiedenen La¨ndern betrafen. Auffa¨llig ist dabei, dass auf Seite 1 ohne weitere Begru¨ndung ein Zeitrahmen nur fu¨r den ersten Teil genannt wird, fu¨r die anderen Abschnitte diese Frage aber vo¨llig offenbleibt. Die aufgeworfenen Fragen betreffen Staatlichkeit, Staatsbu¨rgerschaft und Sa¨kularisierung, also die Stellung der Frauen im Lichte der Aufkla¨rung. Hier ist der Ru¨ckgriff auf die „Sattelzeit“ also durchaus angebracht und es leuchtet nicht ein, warum dies nicht noch konsequenter formuliert und reflektiert wird. Was das Ende der zeitlichen Betrachtung betrifft, so wa¨re 1970 grob die Zeit, zu der Frauenrechte auch im ,Privaten‘ langsam national und international Anerkennung fanden. Die Auswahl der La¨nder, die in den Fokus geraten, wird ebenfalls nicht begru¨ndet. Ein Gewinn des Sammelbandes ist, dass er den Blick auch auf die vermeintlichen Peripherien richtet; die Schlussfolgerungen daraus werden aber nur ansatzweise systematisiert. Teil eins – „Gender and Family Law“ – ist sehr disparat, und die Ausfu¨hrungen in der Einleitung nehmen eine ku¨nstliche Trennung zwischen „Western European civil codes“ zur Zeit der Großreiche und „national codification“ in den Nationalstaaten vor, ohne dabei Kontinuita¨ten in Rechnung zu stellen und ohne den diskursiven Zusammenhang von Familie und Nation mitzudenken (S. 6). Der Beitrag zu Griechenland von Evdoxios Doxiadis macht deutlich, dass fru¨here, weniger verrechtlichte Formen der Vergemeinschaftung (aus osmanischer Zeit) formal tatsa¨chlich gro¨ßere Spielra¨ume ¨ berblick u¨ber Familienrechte, fu¨r Frauen offenließen. Gloria Nielfa liefert einen U Rechtsformen und Juristinnen in Spanien von 1868 bis 1950. Es sticht dabei insbesondere die Tragweite der Regimewechsel hervor, auch hinsichtlich des Einflusses der Kirche. So hoch der Stellenwert, den die (rechten) Diktatoren der Familie zudachten, auch war, sie schra¨nkten tatsa¨chlich Frauenrechte und die Handlungsspielra¨ume von Frauen ein. Außerdem gibt es im ersten Abschnitt zwei Aufsa¨tze zur Tschechoslowakei, die sich beide mehr oder weniger mit demselben Thema befassen, na¨mlich mit dem eklatanten Widerspruch zwischen der Emphase, mit welcher das Frauenstimmrecht in der neu gegru¨ndeten Tschechoslowakei allseits gutgeheißen wurde, und den fortgesetzten Restriktionen im Familienrecht. Melissa Feinberg und Jana Osterkamp kommen je zu der Erkenntnis, dass Rechtsreformen im Sinne der Frauenbewegung am Widerstand der Kirche und der konservativen Parteien scheiterten und dass deshalb insbesondere die Sa¨kularisierung der Eheschließung (welche auch ein staatlich geregeltes Scheidungsrecht beinhaltet ha¨tte) trotz jahrelanger Debatten nicht umgesetzt wurde. Die Erkla¨rung Osterkamps ist besser nachvollziehbar als die von Feinberg. Letztere bezeichnet den Sieg der Konservativen schlichtweg als nicht demokratisch (S. 91f.), weil ja das feministische Argument lautete, es ginge – im Sinne gleiches Stimmrecht, gleiches Privatrecht – um die Vollendung der Demokratie. Osterkamp gelingt es dagegen zu erkla¨ren, warum die in der Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung der Frauen von der Mehrheit der Juristen und Politiker eben nicht so

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verstanden wurde, dass dies auch eine Auswirkung im Privaten und mithin im Privatrecht haben sollte (wofu¨r die Konservativen auch ins Feld fu¨hrten, die Verfassung schu¨tze ja auch die Familie und diese ko¨nnte nur funktionieren, wenn klar wa¨re, wer das Sagen ha¨tte). Zwar ist man heute zu einer anderen Auffassung gelangt, aber dennoch greift es zu kurz, einfach das alte Argument der Frauenbewegung zu wiederholen. Denn es gilt letztlich die Qualita¨t und die Wirkungsmacht der auf beiden Seiten vorgebrachten Argumente nachzuvollziehen; vo¨llig u¨berwunden ist na¨mlich religio¨ser Rigorismus ganz offensichtlich nicht. Der zweite Abschnitt, „Women in the Legal Profession“, befasst sich mit Frankreich (Sara L. Kimble), Belgien (Eva Schandevyl), Jugoslawien (Gordana Stojakowic´), Bulgarien (Krassimira Daskalova), Polen (Iwona Dadaj), Deutschland (Marion Ro¨wekamp) und Finnland (Mia Korpiola). Es geht dabei durchga¨ngig um die Genese der Zulassung von Frauen zum Juristenberuf, die ha¨ufig in mehreren Stufen verlief, wobei Frauen zuna¨chst als Anwa¨ltinnen und oft erst spa¨ter als Richterinnen und Staatsanwa¨ltinnen wirken konnten. Dieser Teil vermittelt sehr gute Einblicke in das Rechtsversta¨ndnis und die Praxis der einzelnen La¨nder. Es wird deutlich, wie unterschiedlich die jeweiligen Rechtskulturen den oben skizzierten Zusammenhang von weiblicher Partizipation an der Rechtsprechung und Stimmrecht verhandelten. Insgesamt erha¨rten die Ausfu¨hrungen die These, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Frauenbewegungen und juristischer Bildung gibt und dass die Juristinnen sich ha¨ufig als Anwa¨ltinnen der Frauen und als Sprachrohr der Frauenemanzipation verstanden. Schließlich wird auch klar, dass es sich bei den Juristinnen um eine sehr kleine Elite handelte, die aber durchaus wirkma¨chtig war. Insgesamt sind diese Darlegungen sehr gelungen, gerade auch, weil sich zeigt, wie unterschiedlich das verhandelte Thema konnotiert war. Daru¨ber hinaus entha¨lt Teil zwei einen Aufsatz u¨ber Feminismus und Kriminologie in Großbritannien. Anne Logan gibt Einblick in das Engagement von Feministinnen in einer Bewegung, die sich fu¨r Liberalisierungen im Justizwesen und im Strafvollzug einsetzte; nicht zuletzt die Erfahrungen der Suffragetten mit der britischen Exekutive legten dies nahe. Abschnitt drei, „Transnational and International Interactions“, beginnt mit einem Aufsatz u¨ber die Verhandlung von Gleichberechtigung im internationalen Recht und mithin u¨ber die Bescha¨ftigung des Vo¨lkerbundes und der Vereinten Nationen mit Frauenrechten. Catherine Jaques zeichnet eine Entwicklung von den Verhandlungen u¨ber die Staatsangeho¨rigkeit von Ehegattinnen (Frauen verloren durch die Heirat bis in die 1940er-Jahre ihre Staatsangeho¨rigkeit) bis zur Anerkennung von Gleichberechtigung als einem Grundsatz internationalen Rechts in den 1970er-Jahren nach. Die Frage der Staatsangeho¨rigkeit steht auch im Zentrum der Ausfu¨hrungen von Regina Wecker zur Schweiz, die sehr pra¨zise die im schweizerischen Staatsaufbau angelegten Hemmnisse fu¨r die Gleichberechtigung von Frauen darlegt und in dieser Hinsicht insbesondere die Verankerung der Staatsangeho¨rigkeit in der Bu¨rgergemeinde untersucht. Wecker nimmt auf viele Fragen Bezug, die von u¨bergeordneter Bedeutung sind,

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und zeigt eindru¨cklich, wieso gerade die Schweiz mit der Gleichstellung von Frauen, insbesondere mit dem Stimmrecht, so spa¨t dran war. Es leuchtet jedoch nicht ganz ein, wieso sich dieser Aufsatz in Abschnitt drei befindet. Dasselbe gilt fu¨r Anna Covas Text u¨ber Frauenrechte in Portugal; die Tatsache, dass es hier auch um die internationalen Verbindungen portugiesischer Frauenrechtlerinnen und um den Einfluss des Code Napole´on geht, ist kein ausreichend stichhaltiger Grund. Ansonsten besta¨tigt sich die schon oben gemachte Beobachtung u¨ber den Einfluss der (rechten) Diktaturen auf die Stellung von Frauen. Zuletzt erschließt Susan Zimmermann die grundlegenden Argumentationslinien in der Auseinandersetzung u¨ber „Protektionismus“ (also die Durchsetzung von speziellen Arbeitsrechten fu¨r Frauen, wie von der International Labour Organization favorisiert) und einem strikten Gleichheitsfeminismus, der Arbeitsstandards nur fu¨r Frauen als Diskriminierung ablehnte (wie vom Open Door Council vertreten). Indem sie die Stoßrichtung beider Stro¨mungen entlang eines raceclass-gender-Ansatzes analysiert, gelingt es ihr, die fraglichen Debatten entlang dieser Kriterien neu zu begreifen. Insgesamt ist der Sammelband, auch wenn er in Konzeption und Schlussfolgerungen nicht immer stringent ist, sehr empfehlenswert, und zwar, weil er erstens sehr genau recherchierte empirische Untersuchungen zusammenbringt und zweitens neue Impulse insbesondere zum Thema „erste Juristinnen“ gibt. Die Erschließung empirischen Wissens wird nicht zuletzt durch ein umfassendes Register erleichtert. Natali Stegmann, Regensburg

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Maren Lorenz, Menschenzucht. Fru¨he Ideen und Strategien 1500–1870, Go¨ttingen: Wallstein 2018, 416 S., 24 Abb., EUR 34,90, ISBN 978-3-8353-3349-9. In ihrem neuesten Buch untersucht Maren Lorenz, Professorin fu¨r Geschichte der Fru¨hen Neuzeit an der Ruhr-Universita¨t Bochum, Vorstellungen u¨ber menschliche Fortpflanzung und Perfektionierung, die sich bis in die Antike zuru¨ckverfolgen lassen. In ihrer diskurs- und wissenschaftsgeschichtlichen Studie bezieht sich Lorenz auf Michel Foucault, um die biopolitischen und sprachlichen Voraussetzungen aufzuzeigen, die hinter Ideen menschlicher Zucht standen und stehen. Sie macht damit auf die Herrschaftsverha¨ltnisse aufmerksam, die wu¨nschenswerte Qualita¨ten des Menschen wie ,Rasse‘, Klasse oder Geschlecht jeweils mit definierten, wenn auch Diskurse und Akteur*innen stets vielfa¨ltig gewesen waren. Mithilfe des Konzepts von sich verschiebenden Denkstilen nach Ludwig Fleck erkla¨rt Lorenz, wie sich Ideen der Bevo¨lkerungspolitik im Laufe der Jahrhunderte vera¨nderten und normalisierten. Legitimita¨t wurde dabei vor allem durch Wissenschaftler*innen erzeugt, deren Traktate denn auch den Hauptquellenbestand der Untersuchung ausmachen. Daneben zitiert Lorenz literarische Utopien, medizinalpolizeiliche Schriften, Zeitschriften, Ratgeber, Enzyklopa¨dien und Predigten. Geografisch (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, USA) und zeitlich (1500–1870) ist die Studie a¨ußerst breit angelegt. Der bewusst gewa¨hlte Fokus liegt allerdings auf dem 18. Jahrhundert, in dem laut Lorenz unterschiedliche Diskurse zusammenliefen und wichtige Akzente fu¨r den Zuchtgedanken gesetzt wurden. Das erste Kapitel beschreibt die Grenzen der Sagbarkeit von proto-eugenischen Ideen im Humanismus. Diese wurden vor allem an abgelegenen Schaupla¨tzen verhandelt, wie zeitgeno¨ssische literarische Utopien zeigen. Mo¨gliche Ansa¨tze zur ko¨rperlichen und geistigen Perfektionierung des Menschen wurden oft im Rahmen von Fortpflanzungsdiskursen verhandelt und waren dabei stark von antiken Autoren wie Platon inspiriert. Tommaso Campanella bezog sich etwa auf die antike Imaginationstheorie mit dem Vorschlag, Frauen sollten beim Geschlechtsverkehr von perfekt geformten Ma¨nnerstatuen umgeben sein, damit sich diese Eindru¨cke positiv auf das noch ungeborene Kind auswirken konnten. Im Gegensatz zu Platon beschra¨nkten sich vormoderne christliche Autoren allerdings darauf, Bevo¨lkerungsplanung innerhalb eines monogamen, christlich abgesegneten Ehemodells zu fordern. In der Aufkla¨rung wurden Perfektibilita¨t und Zeugungsvorgang zunehmend naturwissenschaftlich erkla¨rt, wenn auch Elemente aus christlichen oder antiken Theorien weiterhin eine wichtige Rolle spielten. Wa¨hrend Missbildungen, Krankheiten oder andere als unerwu¨nscht definierte Eigenschaften zuvor als Strafe Gottes angesehen worden waren, lag es jetzt vor allem in der Verantwortung der Eltern, sich um gesunden Nachwuchs zu bemu¨hen. Den Beitrag von Staat und Verwaltung zur Bevo¨lkerungspolitik beschreibt Lorenz im zweiten Kapitel. Kameralisten forderten bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eine

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Einschra¨nkung von Onanie und Ehelosigkeit, um unno¨tigen Samenverlust zu vermeiden. Gleichzeitig wurde versucht, kirchliche Eheverbote fu¨r „Wahnsinnige“ oder „Impotente“ (S. 85) gesetzlich zu verankern. Wichtig fu¨r diesen Prozess war die zwischen 1770 und 1800 etablierte Medizinalpolizei. Ziel war es, eine allgemeine „Glu¨ckseligkeit“ des Staates durch „gesunde Zucht“ (S. 102) zu erreichen, hinter der individuelle Rechte zuru¨ckstehen mussten. Dieses Argument war allerdings ma¨ßig erfolgreich, da Kritiker*innen gerade im 18. Jahrhundert auf die bu¨rgerliche Entscheidungsfreiheit im privaten Raum verweisen konnten. Der dritte Abschnitt bescha¨ftigt sich mit dem proto-eugenischen Diskurs in Frankreich („la grande nation malade“), der fru¨her einsetzte als im Deutschen Reich und einige Besonderheiten aufwies. So spielte im 18. Jahrhundert die Angst vor einer gesellschaftlichen Degeneration sowie die diesbezu¨gliche Verantwortung ,der Frau‘ in ihrer naturalisierten Rolle als Mutter und Erzieherin eine wichtige Rolle. Im kolonialen Frankreich pra¨gte zudem eine besonders ambivalente Haltung gegenu¨ber der ,Rassenmischung‘ („Me´tissage“) den Diskurs. In England wurden vor allem sta¨ndische Fragen diskutiert, wie Lorenz im vierten Kapitel zeigt. 1798 brachte Thomas Malthus mit seinem Essay „On the Principle of Population“ auf den Punkt, was als Befu¨rchtung bereits la¨nger in der Luft gelegen hatte: Die Zahl der Menschen in einem Staat durfte nur so hoch sein, dass ihre Erna¨hrung noch gewa¨hrleistet werden konnte. Die Popularita¨t von Malthus’ Thesen la¨sst sich mit dem Bevo¨lkerungswachstum wa¨hrend der Industrialisierung sowie den Hungerepidemien in Irland erkla¨ren, die den Zeitgenoss*innen die soziale Frage deutlich vor Augen fu¨hrten. Im fu¨nften Kapitel bescha¨ftigt sich Lorenz mit der Situation in den jungen USA („Neue Menschen fu¨r die Neue Welt“). Hier spielte die Diskussion der ,Rassenfrage‘ eine noch gro¨ßere Rolle als in Europa. Sie vermischte sich mit Ideen aus der Phrenologie, die Charaktereigenschaften anhand der menschlichen Scha¨delstruktur nachzuweisen versuchte. Diese vererbten Veranlagungen waren zwar zuna¨chst als regulierbar dargestellt worden, beispielsweise durch Erziehung und Umwelt. Allerdings wurde die in der Theorie angelegte Naturalisierung im Anschluss auf die Spitze getrieben und diente schließlich als Argument, Afroamerikaner*innen als minderwertig zu klassifizieren und aus dem amerikanischen Gesellschaftsideal auszuschließen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die intermarriage zwischen ,Schwarzen‘ und ,Weißen‘ in rund dreißig US-Bundesstaaten gesetzlich verboten. Trotz zunehmender Rezeption proto-eugenischer Theorien in der Bevo¨lkerung, etwa durch Ehe- und Sexualratgeber (Kapitel 6), kam es kaum zu einer praktischen Umsetzung. Die Existenz von eindeutigen Vererbungsgesetzen innerhalb der menschlichen Fortpflanzung war eher eine umstrittene Mo¨glichkeit als eine wissenschaftliche Tatsache, eugenische Experimente waren zu unsicher und der Widerstand der Bevo¨lkerung zu groß, so argumentiert Lorenz abschließend. Erst die Publikationen Darwins, Galtons und anderer Evolutionstheoretiker im letzten Drittel des 19. Jahr-

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hunderts legitimierten ein breiteres „eugenisches Denkkollektiv“ (S. 325), das allerdings auf den Tendenzen der vorangehenden Jahrhunderte aufbauen konnte, den eugenischen Diskurs zu normalisieren. Durch die a¨ußerst sorgfa¨ltige Einordnung ihrer Quellen gelingt es Maren Lorenz, eine erstaunliche Kontinuita¨t im proto-eugenischen Denken aufzuzeigen. Immer wieder weist sie darauf hin, dass Passagen aus Werken vormoderner Autoren Jahrzehnte spa¨ter noch Wort fu¨r Wort u¨bernommen wurden – bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Frage, inwiefern die Rechte des oder der Einzelnen in Bezug auf Fortpflanzung eingeschra¨nkt werden ko¨nnen und sollen, ist auch heute wieder aktuell. Neben einer ethischen Debatte u¨ber ku¨nstliche Reproduktion und Genmanipulation werden auch altbekannte Versuche, insbesondere die Ko¨rper von Frauen* zu kontrollieren, wieder diskutiert, wie die Abtreibungsdebatte zeigt. Auch in Hinblick auf heutige Diskriminierungsfragen leistet Lorenz’ Buch daher einen wichtigen Beitrag. Die ausfu¨hrlichen Quellenbeschreibungen fu¨hren allerdings zu einer gewissen Redundanz innerhalb des Buches. Der diskurstheoretische Zugang erschwert gleichzeitig einen Einblick in die Praktiken von Akteur*innen, ein Problem, das die Autorin selbst anerkennt. Durch den Fokus auf normativ-wissenschaftliche Quellen werden zudem nur wenige Autorinnen zitiert. Zwar beschreibt Lorenz im letzten Kapitel kurz den Einfluss der ersten A¨rztinnen ab den 1840er-Jahren auf die Fortpflanzungsdebatte. Zu fragen wa¨re allerdings, ob mit einem breiteren Wissenschaftsbegriff nicht auch Autorinnen aus der Vormoderne ha¨tten mit einbezogen werden ko¨nnen. Hierzu wa¨re weitere Forschung no¨tig. Neben neuen Impulsen fu¨r die Geschlechtergeschichte wirft das Thema auch weitergehende Fragen fu¨r die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen auf. Lorenz beschreibt an einigen Stellen, wie proto-eugenische Ideen mit Erkenntnissen aus der Tierzucht legitimiert wurden. Dieser Vergleich war mo¨glicherweise nicht nur deshalb provokativ, weil er den Menschen auf das Niveau von Tieren hinabsetzte, sondern auch umgekehrt Fragen fu¨r die Tierzucht implizierte. Denn auch diese war Gegenstand von historisch spezifischen Diskursen u¨ber Tierschutz, o¨konomischen Nutzen und sta¨ndische Veredelung, wie Harriet Ritvo fu¨r das viktorianische England gezeigt hat.1 Interessant ist dabei nicht zuletzt die Verbindung zwischen dem Sprechen u¨ber Tiere und Kategorien wie race, Klasse und Geschlecht, beispielsweise in Bezug auf die Kontrolle von Ko¨rpern. So ist es vielleicht nicht u¨berraschend, dass ein Autor mit dem Pseudonym Anaxagoras seinen Vorschlag aus dem Jahr 1769, Prostitution zu eugenischen Zwecken staatlich zu kontrollieren, mit dem Verweis auf die Tierzucht legitimierte (S. 76). Es ist Maren Lorenz’ Verdienst, dass sie mit ihrem Buch „Menschenzucht“ einen Anstoß gegeben hat, u¨ber solch unterschiedliche Dimensionen des Zuchtdiskurses 1 Vgl. Harriet Ritvo, The Animal Estate. The English and other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987, 45–81.

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nachzudenken und weiter zu forschen. Ihre sorgfa¨ltig recherchierte und detaillierte ¨ berblick zu proto-eugenischen Diskursen, der sowohl Studie bietet einen fundierten U Quellen neu erschließt als auch bisherige Erkenntnisse zur Ehe-, Sexualita¨ts-, Wissenschafts- und Medizingeschichte zusammenfasst und unter einem neuen Gesichtspunkt betrachtet. Aline Vogt, Basel

Anna Bellavitis, Women’s Work and Rights in Early Modern Urban Europe, Cham: Palgrave Macmillan 2018, xiv + 266 S., ca. EUR 104,– (print), ISBN 978-3-31996540-6 (eBook: ISBN 978-3-319-96541-3). Mit der Feststellung „Frauen haben immer gearbeitet!“ ero¨ffnet Anna Bellavitis ihr Buch zur Arbeit und den Rechten von Frauen in Sta¨dten des fru¨hneuzeitlichen Europa. Damit bringt sie ihr Anliegen auf den Punkt, na¨mlich zu zeigen, dass Frauen als Werkund Erwerbsta¨tige stets in der Arbeitswelt pra¨sent waren, wenn auch ha¨ufig zu anderen Konditionen als Ma¨nner. Die drei zentralen Begriffe im Buchtitel, Frauen, Arbeit und Rechte, sind im definierten Raum der Stadt situiert, ein Raum, so die Autorin, der durch die Erfahrungen von Ma¨nnern und Frauen geformt und zugleich sehr rigide durch o¨konomische und politische Institutionen strukturiert wurde, aber auch sehr offen fu¨r mo¨gliche Beta¨tigungen war. Die Zugeho¨rigkeit zu einer Stadt bedeutete, Teil der Bu¨rgerschaft zu werden, um soziale Begu¨nstigungen und o¨konomische Privilegien zu erhalten und sich zugleich ihren Regeln zu unterwerfen. Ihren Fokus richtet sie auf große und kleine Sta¨dte, von Hafensta¨dten und Handelsmetropolen bis hin zu kleinen Zentren im la¨ndlichen Raum. Die Kultivierung von Ga¨rten und die Viehhaltung durch Frauen in den Sta¨dten werden ebenso beru¨cksichtigt wie die Beziehungen zwischen Stadt und Land im Kontext von Mobilita¨t, Immigration und protoindustriellen Pro¨ berblick der Forschungsduktionsprozessen. Bellavitis strebt keinen vollsta¨ndigen U ergebnisse der letzten Jahrzehnte an, sondern hinterfragt Chronologien und Thesen u¨ber Entwicklungsprozesse sowie ra¨umliche Muster sozialer Ordnung wie das European Marriage Pattern oder eine Nord-Su¨d-Differenz im Ehegu¨terrecht, die viel zu oft als gegeben vorausgesetzt wu¨rden. Dementsprechend pra¨gt die Vielfalt der Muster und Praktiken die Darstellung. Das Buch erschien zuerst 2016 in einer italienischen Ausgabe. Fu¨r die englische Fassung wurde der Text u¨berarbeitet und neu erschienene Literatur bis 2018 aufgenommen. Die 18 Kapitel sind teilweise neu angeordnet und in drei Hauptteile gegliedert: 1. Frauen, Arbeit, Rechte und die Stadt, 2. Die Bescha¨ftigungen von Frauen und 3. Werksta¨tten und Ma¨rkte. Am Ende steht eine kurze Zusammenfassung mit einem Fokus auf Vera¨nderungen und Kontinuita¨ten. Der erste Teil beginnt mit dem Nachweis, dass Frauen generell erwerbsta¨tig waren. Ein wichtiges Merkmal der Geschlechterdifferenz ist die bis heute signifikante Lohn-

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differenz zuungunsten der Frauen. Obwohl Frauenarbeit u¨blich war, ist sie in der ¨ berlieferung nicht immer leicht nachzuweisen. In seriellen Dokumenten historischen U wie Steuer- und anderen Haushaltsverzeichnissen sind arbeitende Frauen unterrepra¨sentiert, denn im Gegensatz zu Ma¨nnern wurden sie eher u¨ber ihre Positionen innerhalb der Familien als To¨chter, Ehefrauen und Witwen als u¨ber ihre Ta¨tigkeiten definiert. Selbstbeschreibungen in Bezug auf Ta¨tigkeiten fielen beispielsweise in Zeugenaussagen vor Gericht ebenfalls unterschiedlich aus. Wa¨hrend sich Ma¨nner mit „Ich bin …“ durch ihre Erwerbsta¨tigkeit definierten, pra¨sentierten sich Frauen mit den von ihnen ausgeu¨bten Ta¨tigkeiten: „Ich mache oder arbeite als …“. Neue Forschungsansa¨tze versuchen daher, durch Analysen entsprechender Verben die Arbeit von Frauen und deren Vielfalt genauer zu erfassen und sichtbar zu machen.1 Hinsichtlich des Verha¨ltnisses von Frauen zu Handwerksorganisationen lehnt Bellavitis die These einer stetig zunehmenden Exklusion von Frauen zugunsten des Vorschlags von Angela Groppi ab, die mit dem Bild der Bewegung a¨hnlich einem Akkordeon von Phasen der Inklusion und der Exklusion in Abha¨ngigkeit von den jeweiligen o¨konomischen Entwicklungen ausgeht.2 In Bezug auf die Regulierung von Frauenarbeit behandelt die Autorin auch religio¨se und moralische Aspekte. Im Kontext der Globalisierung der europa¨ischen Handelsaktivita¨ten verweist sie auf sich vera¨ndernde Praktiken des Konsums und deren geschlechtsspezifische Wahrnehmungen. Die globalen Gu¨terstro¨me fu¨hrten zu vera¨nderten Formen der gewerblichen Produktion, die Frauen neue Mo¨glichkeiten und Bedingungen der Erwerbsta¨tigkeit boten. Mit der Frage „North versus South?” widmet sich Bellavitis der ra¨umlichen Dimension o¨konomischer Rechte von Frauen und deren unterschiedlichen Auslegungen innerhalb Europas, die die Mo¨glichkeiten wie auch die Praktiken des Wirtschaftens entscheidend pra¨gten. Neben dem Ehegu¨terrecht, dem Erbrecht und den Rechten von Witwen thematisiert sie die Frage der Gescha¨ftsfa¨higkeit und der Berechtigung zum selbststa¨ndigen Signieren, aber auch Fa¨lle, in denen eine Geschlechtsvormundschaft verordnet wurde. Eine grundsa¨tzliche Nord-Su¨d-Differenz, die an Normen und Praxis der Mitgift festgemacht wird, ha¨lt die Autorin fu¨r empirisch nicht evident und weist die daraus abgeleiteten Thesen von Tine de Moor und Jan Luiten von Zanden zuru¨ck.3 Abgeschlossen wird der erste Teil mit einem Kapitel u¨ber die Rechte des Lernens und Lehrens und zur intellektuellen und ku¨nstlerischen Arbeit als Profession. Im zweiten Teil zeigt Bellavitis, in welchen Bescha¨ftigungen Frauen am ha¨ufigsten zu finden waren. Zuerst werden die Arbeitsverha¨ltnisse und -bedingungen von 1 Vgl. Maria Ågren (Hg.), Making a Living, Making a Difference. Gender and Work in Early Modern European Society, Oxford 2017. 2 Vgl. Angela Groppi, Lavoro e proprieta` delle donne in eta` moderna, in: dies. (Hg), Il lavoro delle donne, Roma/Bari 1996, 119–163. 3 Vgl. Tine De Moor u. Jan Luiten van Zanden, Girl Power: The European Marriage Pattern and Labour Markets in the North Sea Region in the Late Medieval and Early Modern Period, in: The Economic History Review, 63 (2010), 1–33.

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Dienstbotinnen und Sklavinnen dargestellt. Ein wesentliches Beta¨tigungsfeld fu¨r Frauen waren pflegende und versorgende Arbeiten. Im Fall von Hebammen, Ammen und Prostituierten waren diese direkt an den weiblichen Ko¨rper gebunden. Die Lebensund Arbeitsbedingungen dieser Frauen werden ausfu¨hrlicher behandelt. Die Ta¨tigkeiten von Frauen in Gewerbe und Handel verfolgt Bellavitis im dritten Teil. Ausbildungen deckten bei Frauen das gesamte Spektrum von formellen Ausbildungsverha¨ltnissen bis hin zu informellen Formen ab. Die Ta¨tigkeiten in den Werksta¨tten waren in Familienbeziehungen und die Regularien von Handwerksorganisationen eingebunden. Im 18. Jahrhundert ergab sich in Frankreich der besondere Fall, dass sich vor allem Na¨herinnen in eigenen Zu¨nften organisieren konnten. Im Textilsektor bot die Verarbeitung von Seide an vielen Orten Frauen die Mo¨glichkeit zu qualifizierter handwerklicher Arbeit. Weniger bekannt ist, dass Frauen im Druckereigewerbe vielfa¨ltige Gelegenheiten zur Erwerbsarbeit bis hin zur Beta¨tigung als Unternehmerinnen fanden. Fu¨r den Handel zeigt Bellavitis, dass der Lebensmitteleinzelhandel fest in Frauenhand war und Frauen daru¨ber hinaus auf zahlreichen weiteren Einzelhandelsma¨rkten Waren verkauften. Am Groß- und Fernhandel waren Frauen ebenfalls mit sehr unterschiedlichen Beta¨tigungen beteiligt. Nicht selten brachten sie bei der Eheschließung wesentliche Teile des kaufma¨nnischen Kapitals ein. Ehefrauen von Kaufleuten konnten einen rechtlichen Status als Kauffrauen mit entsprechender Gescha¨ftsfa¨higkeit innehaben und verwalteten die Gescha¨fte auch in Abwesenheit ihrer Ma¨nner oder betrieben zum Teil auch eigene. Vor allem Witwen waren als Unternehmerinnen ta¨tig und unverheiratete Frauen investierten in Handelsgesellschaften. Im Ergebnis kann man feststellen, dass sich in Sta¨dten lebende Frauen in fast allen Sektoren beta¨tigt und ihre Mo¨glichkeiten genutzt haben, auch in solchen Bereichen, die heute als genuin ma¨nnlich gelten, etwa auf dem Bau, beim Milita¨r oder in vielen Handwerken. Ha¨ufig waren die Zuga¨nge jedoch begrenzt und von situationsbedingten Mo¨glichkeiten abha¨ngig. Sobald Frauen begannen, sich mit Beta¨tigungen zu etablieren, die von Ma¨nnern beansprucht wurden, machten diese ihre Anspru¨che unverblu¨mt gegen die Frauen geltend, wie etliche im Buch zitierte Beispiele vom 16. Jahrhundert an deutlich machen. Die vermeintliche Pra¨ferenz von Frauen fu¨r bestimmte Ta¨tigkeitsfelder du¨rfte mit diesen Restriktionen in Zusammenhang stehen. Die Folge war und ist, dass arbeitende Frauen in der großen Mehrheit bei den schlechter bezahlten ha¨uslichen Dienstleistungen, in der Pflege, in Lebensmitteleinzelhandel und -verarbeitung sowie in der Textilproduktion zu finden sind. Diese an sich nicht neuen Erkenntnisse lassen sich nun auf breiter empirischer Grundlage differenziert darstellen und werden um die grundlegende Dimension des Rechts erweitert. Erfreulicherweise beru¨cksichtigt die Darstellung im Gegensatz zu anderen, insbe¨ berblickswerken Beispiele aus deutschen sondere in englischer Sprache publizierten U Sta¨dten, wobei die Autorin nur englischsprachige Publikationen durchsehen konnte. Die das Anliegen der Autorin unterstu¨tzende Arbeit von Christine Werkstetter wurde

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daher leider nicht herangezogen,4 was zeigt, wie wichtig internationale Publikationen von Forschungsergebnissen sind. Durch seine breite Literaturauswahl bietet das Buch ¨ berblick u¨ber die umfangreichen Forschungen in den romanischen auch einen U La¨ndern, die neben der englischsprachigen Literatur gerade in der deutschsprachigen Forschung sta¨rker rezipiert werden sollten. Durch seinen Aufbau und Literaturreferenzen am jeweiligen Kapitelende la¨sst sich das Buch gut in der Lehre einsetzen. Mit ihrer Darstellung des aktuellen Forschungsstandes setzt Anna Bellavitis Maßsta¨be fu¨r eine geschlechtergeschichtliche Fundierung der historischen Forschung u¨ber die wirtschaftlichen und rechtlichen Verha¨ltnisse der großen Mehrheit der arbeitenden Bevo¨lkerung, die der gegenwa¨rtigen Fru¨hneuzeitforschung etwas aus dem Blick zu geraten scheint. Das Buch ist daher eine sehr zu empfehlende Lektu¨re. Christof Jeggle, Bamberg

Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich u. Corinna Oesch, Ka¨the Schirmacher. Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und vo¨lkischer Politik, Wien/Ko¨ln/Weimar: Bo¨hlau 2018, 596 S., 26 Abb., EUR 55,–, ISBN 978-3205-20721-4. Die von Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch vorgelegte Darstellung zu Ka¨the Schirmacher (1865–1930) ist ein u¨beraus gelungenes Beispiel fu¨r den Erkenntnisgewinn, den die theoretisch begru¨ndete Abkehr der historischen Biografieforschung von homogenen Subjektvorstellungen und kausalen Deutungsversuchen in der praktischen Umsetzung zu erzielen und vermitteln vermag. Hervorgegangen aus dem vom o¨sterreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefo¨rderten Schirmacher-Projekt am Institut fu¨r Zeitgeschichte der Universita¨t Wien, steht die Publikation erfreulicherweise auch im Open Access zur Verfu¨gung.1 Mit ihrer Studie ero¨ffnen die drei Historikerinnen „unterschiedliche Perspektiven auf Spannungsfelder und Gegensa¨tze, die Ka¨the Schirmachers Lebensweg kennzeichneten“. „Radikale Frauenbewegung und vo¨lkischer Nationalismus“ werden dabei als „zwei Knotenpunkte von Ka¨the Schirmachers Aktivismus“ (S. 20) benannt. Diesen 4 Vgl. Christine Werkstetter, Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverha¨ltnisse im 18. Jahrhundert, Berlin 2001. Aus deutscher Sicht erga¨nzen ließe sich im Forschungsu¨berblick der vieldiskutierte Aufsatz von Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, zuerst 1976, Neudruck in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Go¨ttingen 2012, 19–49; zur Rezeption vgl. dies., Der Aufsatz u¨ber die „Geschlechtscharaktere“ und seine Rezeption. ¨ bersetzung von 1981, 89. Eine Spa¨tlese nach dreißig Jahren, in: ebd., 83–105, zur englischen U 1 Ein Link zum kostenlosen Download des PDFs findet sich auf der Website des Forschungsprojekts unter: https://schirmacherproject.univie.ac.at/ bzw. auf der Verlagswebsite unter: https://www.vrelibrary.de/doi/book/10.7767/9783205208280, Zugriff: 9. 11. 2019.

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sich in verschiedenen Kontexten und Ausdrucksformen darstellenden Aktivismus fassen die Autorinnen begrifflich und konzeptionell als „Agitation“ – und betrachten Schirmacher als exemplarische Vertreterin eines durch diese Praxis o¨ffentlichen Sprechens in den sozialen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts neu hervorgebrachten „sozialen Typus […]: Personen, die es sich zur Aufgabe machten, fu¨r eine Sache, von der sie u¨berzeugt waren, o¨ffentlich einzutreten“ (S. 28). In einer zweiten grundlegenden Deutung wird die ausgepra¨gte „autobiografische Praxis“ Schirmachers, die ihre briefliche Korrespondenz und publizistische Produktion akribisch dokumentierte, sich in zahlreichen Texten selbst verortete und historisierte und ihren Nachlass kurz vor ihrem Tod an die Universita¨tsbibliothek Rostock u¨berschrieb, zum zentralen Untersuchungsgegenstand. (S. 514f.) In sechs Kapiteln – von denen das erste als Einleitung fungiert und zusammen mit dem letzten Kapitel (beide von Johanna Gehmacher und Elisa Heinrich gemeinsam verfasst) den methodisch-theoretischen Rahmen der Arbeit setzt – analysieren die Historikerinnen Schirmachers Strategien und Praktiken mit Blick auf ihre berufliche Entfaltung und Selbstbehauptung, familia¨ren Netzwerke und transnationalen Beziehungen und beleuchten das Agieren der radikalen Frauenrechtlerin und spa¨teren vo¨lkischen Politikerin in den wechselnden Arenen ihrer politischen und publizistischen Beta¨tigung. Hauptsa¨chliche Basis ihrer Untersuchung ist die vom Harald Fischer Verlag herausgegebene Mikrofiche-Ausgabe des Schirmacher-Nachlasses, den Gehmacher, Heinrich und Oesch aufgrund des enormen Umfangs des u¨berlieferten Materials entlang gewa¨hlter Fragestellungen, datenbankgestu¨tzt, bearbeitet haben. Die einzelnen Kapitel des gemeinsam konzipierten Buchs sind von je einer oder zwei Autorinnen gezeichnet, um die „Forschungsinteressen, Arbeit am Material und Text“ (S. 9f.) zu verdeutlichen. Die erste thematische, von Johanna Gehmacher verfasste Perspektive („II. Eine moderne Frau“, S. 37–158) setzt in einer biografischen Situation an, in der die junge Schirmacher nach Abschluss des Lehrerinnenseminars in ihrer Heimatstadt Danzig 1883 zwecks berufsbezogener Weiterbildung zuna¨chst ihren Geburtsort Richtung Berlin, dann Deutschland verließ. An der Pariser Sorbonne legte sie als eine der ersten Frauen u¨berhaupt das franzo¨sische Oberlehrerinnenexamen im Fach Deutsch ab, das in Deutschland nicht anerkannt wurde. In Liverpool unterrichtete sie Deutsch an einer Ma¨dchenschule und nutzte den dort offenen Universita¨tszugang zur akademischen Weiterbildung in Germanistik und Romanistik. In Zu¨rich wurde sie 1895 mit einer Dissertation u¨ber den franzo¨sischen Renaissancedichter The´ophile de Viau promoviert. Souvera¨n analysiert Gehmacher die Strategien, mit denen Schirmacher in zunehmender Herauslo¨sung aus der elterlichen Autorita¨t und tradierten Vorstellungen bu¨rgerlicher Geschlechterverha¨ltnisse ihre berufliche Karriere und o¨konomische Lage absicherte, ,kameradschaftliche‘ Beziehungen zu Ma¨nnern pflegte und sich in ausgepra¨gtem politischen Bewusstsein der Modernita¨t ihrer beruflichen und privaten

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Selbstentwu¨rfe in die Diskurse der Frauenbildungs- und Frauenberufsbewegungen des spa¨ten 19. Jahrhunderts o¨ffentlichkeitswirksam einschrieb. In Kapitel III („Netzwerke, Beziehungen, Praktiken“, S. 159–281) umreißt Elisa Heinrich zuna¨chst das familia¨re Netzwerk der in eine protestantische Getreideha¨ndlerfamilie geborenen Schirmacher, in dem unter anderem ihr ju¨discher Schwager Otto Mu¨nsterberg als Unterstu¨tzer ihrer Bildungsambitionen eine wichtige Rolle spielte, und nimmt dann ihr nicht-verwandtschaftliches Beziehungsleben in den Blick. Gegenu¨ber nachtra¨glichen Zuschreibungen, die Schirmachers langja¨hrige Lebensgemeinschaft mit der Journalistin, Schriftstellerin und spa¨ter deutschnationalen Landtagsabgeordneten Klara Schleker (1852–1932) als eine lesbische Paarbeziehung ,identifizierten‘ und auf eine nicht belegte Interpretation in einer unvero¨ffentlichten Dissertation aus den 1970er-Jahren zuru¨ckzufu¨hren sind, setzt Heinrich u¨berzeugend den deutungsoffenen Begriff des „Intimen“ ein (S. 195–200), um Schirmachers von besonderer Na¨he gekennzeichnete Beziehungen zu einzelnen Menschen zu thematisieren. Mit sensibler Sprache geht Heinrich ausfu¨hrlich auf die bis zum Tod Schirmachers wa¨hrende „Liebes- und Arbeitsbeziehung“ (S. 227) mit Schleker ein, wobei ihre kleinteilig gegliederte Darstellung von der Textstrukturierung ihrer Koautorinnen deutlich abweicht. Heinrichs Reflexionen zu den unterschiedlichen Beziehungskonstellationen innerhalb der Frauenbewegung(en) sowie zu Schirmachers o¨ffentlichen Interventionen in die Debatte um eine mo¨gliche Ausdehnung des § 175 machen deutlich, dass sich deren „Praktiken wie ihre Positionierungen im Felde des Intimen und der Sexualita¨t“ einer eindeutigen Festlegung als entweder normativ-hegemonial oder gegenhegemonial entziehen (S. 260). Die sich hieran anschließende Darstellung der „transnationalen Praktiken in einer inter/nationalen Frauenbewegung“ u¨bernimmt Corinna Oesch, bevor sie in Kapitel IV Schirmachers wechselnde Verortungen in den „Arenen der Frauenbewegung“ ¨ berlegungen zur „Theatralita¨t des Politischen“ (S. 283–416) untersucht. Der sich an U anlehnende Begriff der „Arena“ meint hier „jene Ra¨ume, die aus Debatten zu Streitfragen in der Frauenbewegung hervorgingen, an denen Ka¨the Schirmacher federfu¨hrend beteiligt war“ (S. 286). Geschickt ordnet Oesch ihre Analyse des umfangreichen Quellenmaterials entlang thematischer Schwerpunktsetzungen. Mit hoher Informationsdichte stellt sie Schirmachers fru¨he Bescha¨ftigung mit der Frauen(erwerbs)arbeit und ihr Engagement fu¨r den Abolitionismus dar, arbeitet die zum Teil mehrdeutigen Positionierungen Schirmachers in den radikalen Ausdifferenzierungen der Frauenbewegung heraus, analysiert Schirmachers Kritik an der Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht und ihre Hinwendung zu den britischen Suffragetten, mit der sie sich von der internationalen Frauenstimmrechtsbewegung lo¨ste, und zeigt abschließend ihre um 1905 einsetzenden Versuche, deutschnationale Positionen im radikalen Flu¨gel der Frauenbewegung zu verankern. Dabei blendet Oesch die Verwobenheit der einzelnen Agenden nie aus, sondern macht die besondere Rolle Schirmachers als „transnationale Vermittlerin und Propagandistin“ (S. 338) in der deutschen, franzo¨-

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sischen und internationalen Frauenbewegung wie auch ihre in mehrfacher Hinsicht preka¨ren Position(ierung)en sichtbar. In einer letzten Perspektive („V. Arenen des Nationalismus“, S. 417–511) untersucht Johanna Gehmacher die autobiografische Neuverortung Schirmachers zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als diese in patriotischer Begeisterung einerseits und schwieriger Erwerbslage andererseits neue Agitationsra¨ume zu erschließen begann. Zunehmend wandte sich die Aktivistin, die schon vor dem Krieg Verbindungen zu alldeutschen Kreisen geknu¨pft hatte, „dem von deutschem Chauvinismus und rassistischem Antisemitismus gepra¨gten radikal nationalistischen Lager“ zu (S. 441) und bemu¨hte sich nach perso¨nlichen Erfahrungen antifeministischer Zuru¨ckweisung politisch aktiver Frauen in diesem Kontext (vergeblich) um die Schaffung eines vo¨lkischen Frauenverbandes. Im zweiten Abschnitt ihrer Darstellung richtet Gehmacher – in Anknu¨pfung an bereits vorliegende historische Arbeiten zu Schirmachers Engagement in der Deutschnationalen Volkspartei und im Ring nationaler Frauen – den Fokus auf die versta¨rkten Anstrengungen einer (Selbst-)Historisierung Schirmachers nach den Umbru¨chen des Jahreswechsels 1918/19. In einer anregenden Analyse verknu¨pft sie die verschiedenen, nicht selten als ,Geschichtsschreibung‘ verkleideten autobiografischen Setzungen Schirmachers mit ihren Positionierungen am a¨ußersten rechten Rand politischer Netzwerke in der Weimarer Republik. Sie schließt mit dem Pla¨doyer, „in der Forschung zu historischen Frauenbewegungen noch umfassender zu reflektieren, wie eng manche Aussagen der Historiografie mit Historisierungsanstrengungen historischer Akteurinnen verbunden sind“. (S. 511) Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch haben eine beeindruckende Studie vorgelegt. Nicht nur ist das Ergebnis ihrer kollaborativen Auseinandersetzung mit Leben, Werk und den „Hinterlassenschaften“ (Sigrid Weigel) Schirmachers spannend zu lesen. Die methodisch-theoretische Reflexion, mit der die drei Historikerinnen ihre unterschiedlichen Forschungsinteressen an „der Sexualita¨tsgeschichte, der transnationalen Frauenbewegungshistoriografie, der Geschichte des vo¨lkischen Nationalismus und der Auto/Biografieforschung“ (S. 526) in „einem mehrstimmigen Wir“ (S. 513) zusammenfu¨hren, ist inspirierend und kann die genannten Forschungsfelder mit der exemplarischen Untersuchung Schirmachers nur bereichern. Cornelia Baddack, Koblenz

Laura Fahnenbruck, Ein(ver)nehmen. Sexualita¨t und Alltag von Wehrmachtsoldaten in den besetzten Niederlanden (= L’Homme Schriften 24), Go¨ttingen: V& R unipress 2018, 474 S., 24 Abb., EUR 49,90, ISBN 978-3-8471-0742-2. German history of sexuality and World War II is experiencing a (modest) boom. Following the pathbreaking “Sex after Fascism” by Dagmar Herzog and “Eroberungen”

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by Regina Mu¨hlha¨user, historians are looking at sexual desire and intimacy to draw new conclusions about war in Nazi Germany and the occupation of Europe.1 Rather than dismissing romantic and sexual relationships as something that happens independently of war, scholars of sexuality show how intimacy reflects and engenders power relationships, offering a window through which we can read changing wartime society. Laura Fahnenbruck’s study of sexual relationships between Wehrmacht soldiers and occupied Dutch women offers a welcome contribution to this trend. The book follows Regina Mu¨hlha¨user’s categorisation of sexual encounters into three types: the first, and by far the longest section discusses consensual sexual encounters and relationships, a shorter second one prostitution, and a brief third one sexual violence. Following a long tradition of viewing women who slept with Germans as “collaborators” who deserved their public shaming after liberation, Dutch interpretations have moved to considering these relationships as normal love stories: “boy meets girl.” Fahnenbruck does a fine job of problematising this normalisation. For one, wartime sexuality was political. German men wearing uniforms who promenaded with Dutch women on the streets and later had sex with them in the park made a profound statement about the power of the occupier over the public space. Moreover, Dutch women who embarked on these relationships exercised a level of agency that is missing in the notion of a “normal” romantic encounter. Working on a wide and inventive set of sources from Dutch and German archives, Fahnenbruck offers a compelling account of Alltagsgeschichte that points out the political dimension of everyday acts. Nazi ideology viewed the Dutch as “racial equals”, which shaped much of this sexual encounter. The population of the occupied Netherlands was to be persuaded to join Nazi Germany, and romantic relationships were seen as an ideal tool. Accordingly, Wehrmacht publications (a fascinating part of the book discusses Tornistenschriften) scripted the Dutch as feminine and sexually available, and the Nazis as masculine. Moreover, following a short period of combat, the Netherlands was rear army area (“Etappe”), meaning that the soldiers had here relatively few duties and considerable time for relaxation – and for acting out. “Ein(ver)nehmen” persuasively shows how the Wehrmacht catered to the soldiers to keep them calm and happy, offering cultural events, movies, pubs and military brothels. The occupiers reordered the public sphere: German cinemas were largely open only for Germans, but Dutch women could enter as well – in the company of a German man. Similarly, the 9 pm curfew was only valid for the Dutch, but a Dutch woman accompanied by a German soldier was fine. When Dutch police intervened against soldiers’ conduct, the Germans usually did not take it seriously.

1 Cf. Dagmar Herzog, Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton 2005; Regina Mu¨hlha¨user, Eroberungen: Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010.

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Some soldiers used their time in Holland looking for a life partner, be it by going out or using marriage adverts. In fact, a mixed Dutch-German marriage in the Netherlands entailed less red tape than in Germany after the Nazi remake of marriage laws, as Elizabeth Heineman has shown.2 Not that many people married, though, as the bride was to move to Germany after the wedding, and apparently not many Dutch women were keen to do that; between 1942 and 1943, only 1,600 such marriages were closed. Fahnenbruck’s book demonstrates how sexuality can add new insights about the workings of the folk community. Most German soldiers had a less permanent connection in mind. They dated, for weeks or months, before they were sent to a different location. The author shows how Dutch women were seen as a trophy and a reward rather than a partner. German men were persistent in their advances, asked out women on the street and refused to take no for an answer. If a woman became pregnant and reached out to the father for alimony, the tone of the relationship usually changed. Fahnenbruck’s discussion of the soldiers’ letters before and after the news of pregnancy makes for chilling reading. Some women sued the hesitant fathers, who in return tried to prove that the woman was promiscuous, using his friends’ statements for corroboration. Trials at Wehrmacht courts could take years and the mothers often lost. Still, the fact that the Dutch women could press charges offers a stark contrast to Eastern Europe, where the occupied women were not seen as having what the Nazis called “gender honour”. While the book follows categorisation of sexual encounters into consensual relationships, sex work and sexual violence, it shows that, at the same time, coercion and sexual violence were pervasive, blurring the categories. Some soldiers coaxed the Dutch women into relationships. Fahnenbruck offers examples of women who were willing to go on dates and were assaulted. Another woman had a relationship with one soldier who arranged for his friends to gang rape her to prevent a paternity suit. Similarly, sex workers had a limited measure of control; they could not refuse soldiers showing up unannounced in the middle of the night. Moreover, they bore the brunt of responsibility for public health in venereal disease infections. The discussion of sex work indicates the divide between the master narrative of Dutch occupation as a land of romantic possibilities, and the reality where many soldiers (in spite of their assertive conduct) had no opportunity for consensual romantic encounters; if they wanted to have sex, they went to the brothel. In addition to the Wehrmacht-run brothels, Dutch brothels continued with both Dutch and German clients. Compared to France, as analysed by Insa Meinen and others, it seems that the conditions for prostitutes were better, they received higher pay and had to serve fewer clients.3 Fahnenbruck describes military brothels as “Fordist” in their modern, effective 2 Cf. Elizabeth Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley 1999. 3 Cf. Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen 2002.

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way of running things: women wore prescribed clothing, the clients waited in a respectable, boring sitting room with water, lemonade and beer (but no spirits); after having sex (with a condom), they were expected to leave. Visiting a brothel became something akin to a sauna. Unfortunately, the author was able to find out only a little about the lives and experience of the women prostitutes. The sex-positive Wehrmacht (the book is a large confirmation of the Herzog argument) was mostly concerned about public health insofar as it thought about sex work. Fahnenbruck uses Annette Timm’s concept of sexual citizenship – namely, whose sexual conduct made them part of the state community and whose meant they were excluded.4 German soldiers stationed in the Netherlands had the highest rate of sexually transmitted diseases among Wehrmacht soldiers across Europe. However, an infected soldier faced, besides treatment, no repercussions. The treatment was unpleasant and offered no privacy, but soldiers who avoided the visits to the sanitary sites had relatively little to fear. The sex workers’ experience was very different. There were regular raids on the brothels, where all sex workers were collected (in an act of German-Dutch cooperation), and brought to a forced examination. If a sex worker was caught multiple times with infection, she could be deported to a concentration camp or serve time in prison. Fahnenbruck mentions seventy women who were imprisoned in Vught, apparently as “asocial” prisoners; some were later deported to Ravensbru¨ck. With findings like these, the author opens fruitful future fields of research. The persecution of marginalised victims, including “asocial” prisoners, has been one of the most interesting research areas in history of concentration camps. Scholars such as Christa Schikorra and Sylvia Ko¨chl have demonstrated how to examine the persecution of “asocial” women,5 and future historians will be able to expand on Fahnenbruck’s findings. The final, shortest section discusses sexual violence. The Dutch resistance encouraged “decent” women to stay home, thus letting women bear the double burden: either they stayed effectively imprisoned in their four walls or they went out, endangering their good reputation. After the above examples it should not surprise that some of the soldiers took coercion one step further and assaulted the women. Some women pressed charges at Wehrmacht courts, which, however, were skewed in favour of the rapist. In order to qualify as rape the woman had to resist noticeably for the entire duration of the assault; being threatened by a weapon did not always count. This makes for a depressing reading, not least because the description of courts siding with the attacker has not changed over the past seventy-five years. In fact, the only rapes that were effectively prosecuted were by Turkmen soldiers, that is people of colour. An analogy that this 4 Cf. Annette Timm, The Politics of Fertility in Twentieth-Century Berlin, Cambridge 2010. 5 Cf. Christa Schikorra, Kontinuita¨ten der Ausgrenzung. “Asoziale” Ha¨ftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbru¨ck, Berlin 2001; Sylvia Ko¨chl, “Das Bedu¨rfnis nach gerechter Su¨hne”: Wege von “Berufsverbrecherinnen” in das Konzentrationslager Ravensbru¨ck, Wien 2016; Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr and Elke Rajal, “Arbeitsscheu und moralisch verkommen”: Verfolgung von Frauen als “Asoziale” im Nationalsozialismus, Wien 2019.

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incident raises is the group sexual assault by presumed asylum seekers in Cologne during the night of New Year’s Eve 2015 that prompted the revision of the German rape law. Incidentally, the Turkmen soldiers are the only non-white people in the book. In context of Dutch colonial history (to mention Jennifer Foray’s “Visions of Empire”), and the recent push to globalise and decolonise German twentieth century history, this is disappointing. Fahnenbruck presents a detailed study of intimate life between occupiers and the occupied, and how seemingly private acts of sex and love can cast light on power relationships in a racist, totalitarian regime. The writing is deeply steeped in the historiography. Unfortunately, the implementation is at times dry, repetitive and disregards the macro level. For instance, the author discusses at length sex work, labour and coercion in Nazi Germany, but it was not clear to me what is her position. Nowhere in the book does she touch on the famous Dutch resistance. This may be a welcome conceptual choice – to show wartime Netherlands beyond the good/bad debate – but such a concept should be identified as such. The book is based on a wealth of examples, but often I wished the author would go a bit deeper in her discussion, and perhaps I could learn more about the women and girls, when the sources allow. In one point, Fahnenbruck brings up an attempted rape of a Jewish woman and her mother in May 1942. A few weeks earlier, Germans forced all Dutch Jews to wear the Star of David. Two months later, the deportations of Dutch Jewry started. It would have been important to learn what happened to the two Jewish women – whether they were deported and murdered, and when. Perhaps they were the lucky few who survived in hiding. Giving all this information would have been possible without using names if the archive in question demanded anonymisation. In many respects, these are the problems of a German PhD dissertation turned into a book before thorough revision (albeit the book is based on a PhD dissertation written at the University of Groningen). Yet these are issues that are easy to fix. They would have made the book more suitable for graduate teaching in classes on gender history, the history of sexuality and modern German history alike. Anna Ha´jkova´, Coventry

Alexander Zinn, „Aus dem Volksko¨rper entfernt“? Homosexuelle Ma¨nner im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2018, 695 S., EUR 39,95, ISBN 978-3-593-50863-4. Der Soziologe und Historiker Alexander Zinn bescha¨ftigt sich in seinem ju¨ngsten Buch, das auf seine Dissertation aus dem Jahr 2017 zuru¨ckgeht, mit der Verfolgung homosexueller Ma¨nner im Nationalsozialismus aus einer regional- sowie bisweilen mikrogeschichtlichen Perspektive. Obwohl die Verfolgung Homosexueller fu¨r die NS-

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Zeit bereits gut erforscht ist – so liegt bereits ein Lexikon der Homosexuellenverfolgung 1933–1945 vor1 –, zeigt Zinn u¨berzeugend, dass dieses Kapitel der Geschichte noch lange nicht als abgeschlossen gelten kann. Die Studie ist klar strukturiert. Nach einer Einfu¨hrung (Kapitel 1), in der die Grundlagen der Untersuchung ero¨rtert werden (Forschungsstand, Thema, Fragestellung, Thesen, Quellen, Begriffe, Methode, theoretische Perspektivierung), und einer knappen Darstellung der Vorgeschichte (Kapitel 2: „Homosexualita¨t in den Jahren 1871–1930“) folgt der Hauptteil. Dieser besteht aus zwei Abschnitten: einer sozialgeschichtlichen Studie des „homosexuellen Alltags in den 30er Jahren“ (Kapitel 3), die verschiedene Milieus ausleuchtet und „Identita¨ts- und Netzwerkbildung“ (S. 28) in den Fokus ru¨ckt, und einer Untersuchung der Verfolgung homosexueller Ma¨nner, die auf drei Ebenen analysiert wird: auf Reichsebene (Kapitel 4), auf Ebene des Landes Thu¨ringen (Kapitel 5) und auf der lokalen Ebene des Landgerichtsbezirks Altenburg (Kapitel 6). Anschließend geht Zinn auf die Rehabilitierung von Verfolgten und Verfolgern nach Ende der NS-Herrschaft ein (Kapitel 7) und endet mit einem Resu¨mee (Kapitel 8). Die narrative Struktur der Studie verla¨uft entlang der Biografien von Verfolgten und Verfolgern, die in Kapitel drei vorgestellt und immer wieder thematisiert werden. Dies fu¨hrt zu Wiederholungen, die allerdings nicht redundant erscheinen, werden doch die wiederkehrenden Zitate und Aspekte stets aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Indem Zinn auch Funktiona¨re des nationalsozialistischen Staates unter die Verfolgten reiht, wird der historischen Ambivalenz Rechnung getragen, dass homosexuelle Ma¨nner sowohl Ta¨ter als auch Opfer sein konnten. Als theoretische Perspektivierung wa¨hlt Zinn das bewa¨hrte Stigma-Konzept, das Erving Goffman 1963 vorstellte. „Gegenu¨ber dem antiken Versta¨ndnis des Stigmas als ko¨rperliches Zeichen [Goffman nahm Bezug auf die antike Bedeutung des Begriffs; Anm.] wird es in der Soziologie allgemeiner als eine perso¨nliche Eigenschaft verstanden. Lautmann beschreibt gesellschaftliche ,Stigmatisierung‘ als einen ,Prozess, in dem die Angeho¨rigen einer Sozialkategorie von voller Teilhabe an den gesellschaftlichen Gu¨tern ausgeschlossen werden, weil sie ein zutiefst abgelehntes, tendenziell auszurottendes Merkmal an sich tragen‘.“ (S. 38) Im konkreten historischen Kontext (Kriminalisierung, Pathologisierung etc.), so die u¨berzeugende Argumentation Zinns, la¨sst sich somit Homosexualita¨t als Stigma verstehen. Die Chance, Goffmans Konzept etwa um aktuelle queertheoretische Ansa¨tze zu erweitern, bleibt allerdings ungenutzt. So weist zum Beispiel Hanna Hacker darauf hin, dass der erkenntnisleitende Begriff der „Sichtbarkeit“, der auch bei Goffman eine zentrale Rolle spielt (S. 39f.), mit Blick auf weibliche Homosexualita¨t Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine mehr¨ ffentlichkeit“ als Referenzrahmen fu¨r „Sichtbarkeit“ erschichtige Definition von „O ¨ ffentlichkeit ist in meinem Ansatz stets auch Gegeno¨ffentlichkeit, fordert: „Lesbische O 1 Vgl. Gu¨nter Grau u. Ru¨diger Lautmann, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945. Institutionen – Kompetenzen – Beta¨tigungsfelder, Berlin/Mu¨nster 2011.

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allein schon aufgrund der randsta¨ndigen Position von Frauen in herrschenden sozialen Strukturen; dennoch ist […] die Wechselseitigkeit von herrschender und subversiver ¨ ffentlichkeit im Einzelnen zu erfragen.“2 Fu¨r die Untersuchung der Lebens- und O Verfolgungssituation homosexueller Ma¨nner im Nationalsozialismus, wofu¨r Zinn zum Großteil bislang unerforschte Quellen heranzieht (hauptsa¨chlich Dokumente der Verfolgerseite sowie autobiografisches Material), erscheint Goffmans Ansatz dennoch sinnvoll. Dadurch ko¨nnen die Verfolgten na¨mlich nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteure gezeigt und ihre Handlungsspielra¨ume ausgelotet werden (Stichwort StigmaManagement: Homosexualita¨t, so die Annahme, ist per se nicht sichtbar, und daher stehen Homosexuelle „vor der Herausforderung, die verschiedenen Informationen und Signale, die u¨ber ihre Veranlagung Auskunft geben ko¨nnen, in ihrem Sinne zu kontrollieren und zu steuern.“ S. 40f.). Die eingangs formulierten Thesen, die Zinn u¨berzeugend argumentiert, werden im Resu¨mee in die Forderung nach einem Paradigmenwechsel transformiert: Homosexuelle im ,Dritten Reich‘ sollten nicht nur als Opfer eines „vermeintlich allma¨chtigen Verfolgungsapparat[s]“ gesehen werden; auch sei die Ansicht zu verwerfen, „eine angeblich zutiefst homophobe Bevo¨lkerung“ habe „die Ausgrenzung homosexueller Ma¨nner aus der ,Volksgemeinschaft‘ mittels Denunziationen unterstu¨tzt“ (S. 532). Zwar wurde schon fru¨her gefordert, die Agency verfolgter Homosexueller in den Fokus zu ru¨cken, doch demonstriert Zinn eindru¨cklich, was dies in letzter Konsequenz fu¨r die Geschichtsschreibung bedeutet. So rekonstruiert er detailreich anhand konkreter Beispiele von Verfolgten aus verschiedenen Milieus die Vielschichtigkeit von Handlungsweisen und -optionen. Durch die Untersuchung der Verfolgungspolitiken, -logiken und -praktiken auf Reichs-, Landes- und lokaler Ebene gelingt es ihm – unter Heranziehung des von Ernst Fraenkel 1941 fu¨r die Charakterisierung des nationalsozialistischen Staates entworfenen Konzepts des dual state (Normenstaat und Maßnahmenstaat) –, Widerspru¨chlichkeiten dieser Politiken, Unzula¨nglichkeiten der Beho¨rden (Unterbesetzung, mangelnde Kenntnisse u¨ber die lokale Szene etc.) und Antagonismen, die sich zwischen den verschiedenen Institutionen immer wieder ergaben, darzustellen. Vor diesem Hintergrund erscheint jedoch Zinns Argumentation gegen eine Bewertung des staatlichen Umgangs mit lesbischen Frauen als Verfolgung inkonsistent – er spricht von der „Theorie einer Verfolgung lesbischer Frauen“ (S. 314). Zinn geht zwar nur an zwei Stellen kurz auf dieses Thema ein (Kapitel 4.5 und 4.7), doch wird hier ein grundlegendes Problem der forschungsleitenden Kategorienbildung deutlich. Zinn beschra¨nkt na¨mlich seine Betrachtungen nicht einfach nur auf die Verfolgung ma¨nnlicher Homosexualita¨t – eine Vorgehensweise, die aufgrund der großen Unterschiede im Umgang mit ma¨nnlicher und weiblicher Homosexualita¨t im ,Dritten Reich‘ ¨ sterreich, 2 Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualita¨t“, O 1870–1938, Wien 2015, 289.

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durchaus sinnvoll erscheint. Er schließt vielmehr aus, dass Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen u¨berhaupt verfolgt wurden, weil dies von der Reichsfu¨hrung nicht gewollt war. Letzteres traf zwar zu, doch folgert Zinn daraus, dass es daher keine Verfolgung weiblicher Homosexualita¨t im NS-Staat gegeben haben kann. In den vielen, vor allem von Claudia Schoppmann vero¨ffentlichten Einzelfallstudien zum Umgang mit weiblicher Homosexualita¨t sieht Zinn keine Akte der Verfolgung dokumentiert. Mitunter bleiben sogar Forschungsergebnisse ausgeblendet, die Widerspru¨chlichkeiten und Antagonismen des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates eben auch im Umgang mit lesbischen Frauen aufzeigen – obwohl Zinn diese Facetten des NS-Staates so detailreich mit Blick auf die Verfolgung ma¨nnlicher Homosexualita¨t schildert, wie den Fall eines „Wehrmachtsangestellten, der in Absprache mit der Polizei als Agent provocateur auftritt“, um eine Anordnung Himmlers zu umgehen, die der Polizei den Einsatz eines Agent provocateur verbot (S. 404). So geht Zinn etwa ausfu¨hrlich auf die Angleichung der Rechtsprechung in der ,Ostmark‘ im Jahr 1940 ein, wo das o¨sterreichische Strafgesetz in Kraft geblieben war, das auch weibliche Homosexualita¨t kriminalisierte. Dabei ero¨rtert er, dass der Staatssekreta¨r im Justizministerium, Roland Freisler, die entsprechende Entscheidung des Reichsgerichts, die die Auslegung des § 129 Ib des o¨sterreichischen Strafgesetzes verscha¨rfte, bei einer Rede vor OLG-Pra¨sidenten und Generalstaatsanwa¨lten am 31. Ma¨rz 1942 dahingehend interpretierte, dass „lesbische Liebe“ demnach nicht zu bestrafen sei. Zwar erwa¨hnt Zinn, dass Freislers Richtlinie nicht von allen Richtern beachtet worden sei. „So verurteilt das Landgericht Wien noch am 17. Dezember 1943 zwei Frauen nach § 129.“ (S. 284) Er geht aber nicht darauf ein, dass 1943 von diesem Gericht insgesamt 13 Frauen wegen „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“ verurteilt wurden, 1942 sogar 20,3 und dass drei dieser Frauen daru¨ber hinaus unter Verweis auf jene Entscheidung des Reichsgerichts verurteilt wurden, durch welche die Angleichung erfolgt war.4 Selbst nach der Definition Zinns mu¨sste dies als eine nationalsozialistische Maßnahme zur Verfolgung Homosexueller gelten, die eben auf Frauen angewendet wurde. Ausschlaggebend ist hier Zinns Definition des Begriffs Verfolgung. Dieser ist „eher ,konservativ‘ ausgelegt. Als solche werden staatlich oder parteiamtlich initiierte Gesetze, Erlasse oder Maßnahmen verstanden, die auf eine Verletzung der Menschenwu¨rde oder des Rechts auf freie Entfaltung der Perso¨nlichkeit zielten, so insbesondere Beschra¨nkungen individueller Freiheitsrechte wie des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung, ko¨rperliche Unversehrtheit oder freie Wahl des Aufenthaltes und Berufes.“ (S. 30) ¨ sterreich, in: Invertito. 3 Vgl. Hans-Peter Weingand, Homosexualita¨t und Kriminalstatistik in O Jahrbuch fu¨r die Geschichte der Homosexualita¨ten, 13 (2011), 40–87, 50. 4 Vgl. Johann Karl Kirchknopf, Ausmaß und Intensita¨t der Verfolgung weiblicher Homosexualita¨t in Wien wa¨hrend der NS-Zeit. Rechtshistorische und quantitative Perspektiven auf Dokumente der Verfolgungsbeho¨rden, in: Invertito, 15 (2013), 75–112, 83.

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Indem aber Zinn seine Definition des Begriffs Verfolgung auf „staatlich oder parteiamtlich initiierte Gesetze, Erlasse oder Maßnahmen“ beschra¨nkt, u¨bernimmt er die Kategorisierungen des NS-Regimes, was das Potenzial seines Forschungsansatzes beeintra¨chtigt. Vor einer zu eng an nationalsozialistische Logiken anknu¨pfenden Kategorisierung hat Gudrun Hauer bereits 1997 gewarnt: „Die Verwendung der Kategorie ,Verfolgung‘, zugespitzt auf die gezielte Ermordung in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, ist u¨ber weite Strecken unzureichend und zugleich verzerrend fu¨r eine Untersuchung der Situation von Lesben wa¨hrend der NSZeit.“5 Es geht hier nicht darum, den Verfolgungsbegriff in Richtung „Stigmatisierung“, „Ausgrenzung“ oder „Diskriminierung“ auszuweiten, um dem „ohne Frage berechtigte[n] Bedu¨rfnis lesbischer Frauen nach Anerkennung und Gleichberechtigung“ zu entsprechen, was, wie Zinn befu¨rchtet, einer Nivellierung des Begriffs gleichka¨me (S. 30f.). Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Facetten staatlicher Sanktionierungen aufgrund geschlechtlicher und sexueller Zuschreibungen zu ergru¨nden, die gerade im Nationalsozialismus eben nicht immer nur von der Reichszentrale ausgingen. Dies wu¨rde auch helfen, den nationalsozialistischen Staat besser zu verstehen.6 Zinns Studie wird insgesamt ihrem Anspruch gerecht, einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der nationalsozialistischen Verfolgung ma¨nnlicher Homosexualita¨t zu vollziehen. Facettenreich zeichnet er ein umfassendes Bild der Lebenssituation homosexueller Ma¨nner verschiedener sozialer Milieus im ,Dritten Reich‘. Sie werden nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteure mit Handlungsspielraum gezeigt. Mit Blick auf die Lebenssituation lesbischer Frauen ist Zinns Studie jedoch kritisch zu sehen. Hier wa¨re ebenfalls ein Paradigmenwechsel angebracht. Johann Karl Kirchknopf, Wien

5 Gudrun Hauer, Lesben im Nationalsozialismus: Blinde Flecken in der Faschismustheoriediskussion, in: Barbara Hey, Ronald Pallier u. Roswith Roth (Hg.), Que(e)rdenken: Weibliche, ma¨nnliche Homosexualita¨t und Wissenschaft, Innsbruck/Wien 1997, 142–156, 150. 6 Vgl. Laurie Marhoefer, Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State: A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939–1943, in: The American Historical Review, 121, 4 (2016), 1167–1195.

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Jana Osterkamp, Family, Domination and Difference. Family Law(s) in the Habsburg Monarchy as a Challenge for the Empire In empires there is often no ‘ideal type’ of family as the smallest unit of the political order, since, by definition, empires are characterised neither by one confession, nor one society, nor one state order. How marriage, family and gender roles were legally framed, socially understood and privately lived varied hugely depending on different confessional groups and different levels of power in the Habsburg Monarchy. On the one hand, this article examines the differences in family law that existed between Hungarian and non-Hungarian Crownlands and between members of different religions. On the other hand, family and family law are presented as an essential part of political theory as well as of nineteenth-century state building and nation building. This complementary perspective is not least intended to counteract the “invisibility of the state” in gender history.

Evdoxios Doxiadis, “Ous o Theos Synezeuxen, Anthropos me Chorizeto”: State, Church and Divorce from the Ottoman Empire to the Early Modern Greek State The Greek Orthodox world has consistently accepted in principle the possibility of divorce. In the Byzantine Empire both state and Church recognised various grounds for divorce, certainly favouring husbands over their wives but without entirely excluding the latter from the possibility of seeking a divorce. Under Ottoman rule Orthodox Christians were often able to expand their options to dissolve unwanted marriages by appealing to Kadi (Islamic) courts. In response the Orthodox Church progressively loosened the restrictions on divorce so that by the time of the establishment of the modern Greek state (1829) Greeks enjoyed some of the most permissive divorce regulations in Europe. The Greek state did not directly challenge those privileges despite the otherwise radical transformation of the judicial system in Greece which was under strong European influence. The ease of divorce came under increasing attack

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from moralists and early feminists, predominantly over its supposed effects on the welfare of women. By the end of the nineteenth century the tide had changed so dramatically that in 1919 the Greek state severely restricted the ability of men and women to divorce. This paper examines the Ottoman period and the early decades of the modern Greek state to identify how marriage was perceived, the grounds for dissolving it and the agency of women in this process.

Marie-Pierre Arrizabalaga, Women, Inheritance and Empowerment: French Basque Women’s Adaptation to Legal Systems across Spaces, Times and Places Using archival data from three different projects, this paper intends to show that in the past 250 years, Basques of southwestern France have been confronted with a succession of three different legal systems: the unequal Customs of the Ancien Re´gime, imposing single impartible inheritance by transferring all assets to first-born male or female heirs, the egalitarian laws of the Civil Code of 1804, imposing equal partible inheritance between all siblings, male and female, and finally the free-to-choose legal system of Common Law in California where Basque immigrants transferred assets to whoever they wanted. At first glance, Basque women seem to have been treated rather fairly, especially first-born daughters. Yet looking at the data more carefully, it appears that no matter the systems, Basque women have often been treated more unequally and unfairly than men, their power and status being lower than men’s. However, across times, places and spaces, the data show that these women have used their own resources and capabilities to resist inequalities, adapt to the laws and at times acquire greater powers and status.

Lena Radauer and Maren Ro¨ger, Mobility and Order. A Legal and Societal History of German-Russian Marriages 1875–1926 This article focuses on German-Russian marriages between the late nineteenth century and the 1920s, showing how increasing personal mobility and new migration patterns came into conflict with often rigid legal and administrative systems. Transnational couples frequently ended up caught between the orders of nation states and empires, and it was mostly women who bore the consequences such as statelessness. Patrilinear Civil Law thus had significant gender specific consequences. The study begins with the introduction of civil marriage in the German Empire and ends with the year 1926 when the new Soviet code on family law undermined the practice of legal marriage. At the same time, both states made German-Russian marriages considerably more difficult due to tendencies of isolation and ethnonational closures in the inter-war period.

Abstracts

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Regula Ludi and Matthias Ruoss, The Grandmothers and Us: Voluntarism, Feminism and Gender Arrangements in Switzerland What is voluntarism, and how can we conceptualise it as a subject of historical research? In this article we address these questions with regard to the relationship between gender arrangements and voluntarism in modern Switzerland. Our considerations are based on the assumption that voluntary aid is not a spontaneous act or an amorphous activity but rather constitutes a mode that regulates social relations and structures social order. Building on this premise, we first outline the emergence of a political culture in the nineteenth century that organised public life and the social division of labour around a gendered discourse on rights and duties, and accordingly assigned different tasks to men and women. In the second part of this article, we argue that feminists in the 1970s radically challenged this arrangement, a rupture we interpret as the recodification of voluntarism. Corresponding with the emergence of new practices of solidarity among feminists, such reclassification changed the significance of voluntarism. Instead of providing services in support of the state and the common good, feminists defined voluntary engagement as a means of women’s liberation and an instrument for revolutionising power relations in society.

Anschriften der Autor*innen

Erdmute Alber, Facheinheit Ethnologie, Universita¨t Bayreuth, Universita¨tsstraße 30, 95440 Bayreuth, Deutschland – [email protected] Marie-Pierre Arrizabalaga, CY Langues et Etudes Internationales (LEI), CY Cergy Paris Universite´, 33, boulevard du Port, 95011 Cergy-Pontoise, France – marie-pierre. [email protected] Cornelia Baddack, Bundesarchiv, Potsdamer Straße 1, 56075 Koblenz, Deutschland – [email protected] Ninja Bumann, Institut fu¨r Osteuropa¨ische Geschichte, Universita¨t Wien, Unicampus ¨ sterreich – [email protected] Hof 3, Spitalgasse 2–4, 1090 Wien, O Siglinde Clementi, Kompetenzzentrum fu¨r Regionalgeschichte, Freie Universita¨t Bozen, Dantestraße 4, 39042 Brixen, Italia – [email protected] Evdoxios Doxiadis, Department of History, Simon Fraser University, 8888 University Drive, Burnaby, British Columbia V5 A 1S6, Canada – [email protected] Anna Ha´jkova´, Department of History, University of Warwick, University Road, Coventry, CV4 7AL, United Kingdom – [email protected] Christof Jeggle – [email protected] Johann Karl Kirchknopf, Institut fu¨r Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universita¨t ¨ sterreich – [email protected] Wien, Universita¨tsring 1, 1010 Wien, O Claudia Kraft, Institut fu¨r Zeitgeschichte, Universita¨t Wien, Unicampus Hof 1, Spi¨ sterreich – [email protected] talgasse 2–4, 1090 Wien, O

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¨ BB-Holding AG, Gleichstellung-/Diversity Management, Am Traude Kogoj, O ¨ sterreich – [email protected] Hauptbahnhof 2/7, 1100 Wien, O Margareth Lanzinger, Institut fu¨r Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universita¨t Wien, ¨ sterreich – [email protected] Universita¨tsring 1, 1010 Wien, O Regula Ludi, Interdisziplina¨res Institut fu¨r Ethik und Menschenrechte, Universita¨t Fribourg, Av. de Beauregard 13, 1700 Fribourg, Schweiz – [email protected] Mary Jo Maynes, Department of History, University of Minnesota, 1010 Heller Hall, 271 19th Ave S, Minneapolis, MN 55455, USA – [email protected] Regina Mu¨hlha¨user, Hamburger Stiftung zur Fo¨rderung von Wissenschaft und Kultur, Feldbrunnenstraße 52, 20148 Hamburg, Deutschland – [email protected] Jana Osterkamp, Collegium Carolinum, Hochstraße 8, 81669 Mu¨nchen, Deutschland – [email protected] Lena Radauer – [email protected] Maren Ro¨ger, Geschichte, Universita¨t Augsburg, Universita¨tsstraße 10, 86159 Augsburg, Deutschland – [email protected] Matthias Ruoss, Department of History, Columbia University, 413 Fayerweather Hall, 1180 Amsterdam Avenue, MC 2527, New York, NY 10027, USA – matthias. [email protected] Frithjof Benjamin Schenk, Departement Geschichte, Hirschga¨sslein 21, 4051 Basel, Schweiz – [email protected] Natali Stegmann, Institut fu¨r Geschichte, Universita¨t Regensburg, Universita¨tsstraße 31, 93053 Regensburg, Deutschland – [email protected] Aline Vogt, Departement Geschichte, Universita¨t Basel, Kanonengasse 27, 4051 Basel, Schweiz – [email protected]

Weitere Hefte von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ 30. Jg., Heft 2 (2019)

30. Jg., Heft 1 (2019)

Innenräume – Außenräume

Fall – Porträt – Diagnose

hg. von Maria Fritsche, Claudia Opitz-Belakhal und Inken Schmidt-Voges

hg. von Regina Schulte Xenia von Tippelskirch

180 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-0989-1 eBook: € 19,99 ISBN 978-3-8470-0989-4

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Vorschau: 31. Jg., Heft 2 (2020)

32. Jg., Heft 1 (2021)

Verstörte Sinne

Frauenwahlrecht – umstrittenes Erinnern

hg. von Ulrike Krampl und Regina Schulte Erscheint im Oktober 2020

hg. von Birgitta Bader-Zaar und Mineke Bosch Erscheint im April 2021

L’Homme Schriften Bd. 25: Therese Garstenauer

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Vorschau: Bd. 26: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal (Hg.)

Politik – Theorie – Erfahrung 30 Jahre feministische Geschichtswissenschaft im Gespräch Erscheint im Sommer 2020

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Ältere Ausgaben von „L’Homme. Z. F. G.“ (1990 bis 2015) sind im Böhlau Verlag erschienen und über die Redaktion erhältlich: www.univie.ac.at/Geschichte/LHOMME/ und [email protected] Heft 26, 2 (2015) Maria Fritsche, Anelia Kassabova (Hg.) Visuelle Kulturen

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Heft 26, 1 (2015) Ulrike Krampl, Xenia von Tippelskirch (Hg.) mit Sprachen

Heft 20, 1 (2009) Ulrike Krampl, Gabriela Signori (Hg.) Namen

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Heft 19, 2 (2008) Christa Hämmerle, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Krise(n) der Männlichkeit?

Heft 25, 1 (2014) Margareth Lanzinger, Annemarie Steidl (Hg.) Heiraten nach Übersee

Heft 19, 1 (2008) Ute Gerhard, Karin Hausen (Hg.) Sich Sorgen – Care

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