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German Pages [316] Year 2019
Edmund Burke und sein politisches Arbeitsfeld in den Jahren 1760 bis 1790 Ein Beitrag zur Gesdiidite der liberalen Ideen und des politischen Lebens in England Von
Richmond Lennox
Mit 6 Abbildungen und 1 Kartenskizze
Mûnàen und Berlin 1923 • Druck und Verlag von R. Oldenbourg
Alle Redite einsdiließlicb des Û b c r s e t z u n g s r c d i t e s vorbehalten
Meiner Mutter in D a n k b a r k e i t zugeeignet
Vorwort. Edmund Burke gehört zu der Zahl jener Menschen aus dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, deren Denken dazu half, gewisse Ideale und Grundüberzeugungen des bürgerlichen Zeitalters zu formen und heraufzuführen, — die jedoch selbst diesem Zeitalter noch nicht eigentlich zuzurechnen sind. Aus diesem Grund erscheinen sie den folgenden Generationen in wechselndem Licht: bald nah, bald fern, bisweilen als ihresgleichen, dann wieder als fremd und tief-innerlich verschieden. Und gerne wendet sich der Blick des bürgerlichen Zeitalters, in dem wir heute noch leben, diesen seinen nächsten Ahnherren zu, zumal seitdem die Epoche aus dem Stadium der Selbstgewißheit in das der zweifelnden Fragen übergetreten ist. Es handelt sich um Gestalten, deren Wesen sich oft nicht recht in die Linie einfügen will, welche Europas allgemeine geistige Entwicklung um die Jahrhundertwende von 1800 genommen hat. Nachdrücklich sperren sie sich gegen geschichtliche Konstruktionen, welche das Vielerlei der Gedankenströmungen und der seelischen Möglichkeiten allzu entschieden vereinfachen wollen. Immer aufs neue erweist es sich, daß in diesen Menschen die Elemente anders gemischt waren als die Nachfahren bei raschem Hinblicken meinten. Jeder Generation tritt daher die Aufgabe entgegen, diese ihre Vorfahren, mit deren geistigem Erbe wir noch heute weiter wirtschaften, von neuem kennen zu lernen. In dieser nie völlig zu »erledigenden« Aufgabe der Rückschau erblickt die vorliegende Schrift über Burke die Rechtfertigung ihres Entstehens. Um eine ausführliche Darstellung von Burkes Leben konnte es sich bei ihr freilich nicht handeln. Eine solche wäre in Deutschland nur unter großen Schwierigkeiten zu schreiben, gewisse Lebensabschnitte und Tatsachenkomplexe wohl überhaupt nicht genügend zu fassen. Auch kann die Geschichtswissenschaft ein ein-
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gehendes »Leben Burkes« vermutlich getrost entbehren. Burke gehört ja nicht zu den Persönlichkeiten, deren menschliche Eigenart der Nachwelt so viel bedeutet oder welche in die Entwicklung ihres Landes so nachdrücklich eingegriffen haben, daß die Historie verzeichnen müßte, welche Handlungen und Gedanken die einzelnen Jahre seines Lebens erfüllt haben. Von den Ahnherren des 19. Jahrhunderts ist Burke gewiß nicht der größte. Wohl aber einer der wirkungsvollsten. Die Gedanken, die er vertrat, sind auch heute noch nicht abgestorben, und der Anstoß, den sie zu ihrer Zeit andern gaben, pflanzt sich gleichfalls noch fort. Durch die zahlreichen Neudrucke Burke'scher Schriften in den letzten Jahren wird auch äußerlich bewiesen, daß man ihn in England heute noch nicht unter die Mumien der Geistesgeschichte zählt, die in den Bibliotheken verstauben. Edmund Burke wurde nicht, wie so viele andere Gestalten seiner Epoche, von der Folgezeit vergessen und später dann wieder entdeckt. Das 19. Jahrhundert hat sich viel mit ihm beschäftigt. Doch fand immer nur ein Teil seiner Gedankenwelt und seiner Lebensarbeit bei den nachfolgenden Generationen Teilnahme und Bewunderung. Man vermißte die Einheit, welche das Ganze seines Lebens zusammenschloß, und hielt sich darum an diejenige Hälfte dieses Lebens, die den eigenen Anschauungen gemäß zu sein schien oder den eigenen Interessenkreis sachlich stärker berührte. Seit der »tiefsinnige Burke« von den konservativen Romantikern in Deutschland auf den Schild gehoben wurde, sehen die deutschen Betrachter Burkes seine geschichtliche Bedeutung vor allem in seinem Kampf gegen die gleichmachenden Dogmen über Staat und Gesellschaft, welche die französische Revolution in die Welt geschleudert hatte. Die Franzosen betrachten Burke natürlich erst recht unter dem Gesichtspunkt seiner Stellungnahme zu den Ideen ihrer großen Staatsumwälzung. In der englisch-amerikanischen Literatur über Burke liegt der Fall gerade umgekehrt. Von ihr wird diese Seite Burkes möglichst im Schatten gehalten. Von dem Feind der Menschenrechte und der von Paris aus verkündeten Freiheitsgedanken, von dem fanatischen Kreuzzugsprediger gegen den Jakobinismus ist wenig und nur mit Mißbehagen die Rede. Ein bedauerndes Kopfschütteln über eine solch seltsame »Entgleisung« des sonst so trefflichen Mannes ist nicht selten. Bei den Schriftstellern liberaler Fär-
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bung herrscht die Tendenz, die französische Revolution gegen Burkes Angriffe in Schutz zu nehmen und seine Vorwürfe nach Möglichkeit abzuschwächen und zu widerlegen1). Diese Einseitigkeit der Betrachtungsweise beginnt nunmehr auf beiden Seiten zu schwinden. Die vorliegende Untersuchung möchte dazu beitragen. Ihr Zweck ist, die den deutschen Betrachtern im allgemeinen ferner liegende Hälfte von Burkes Leben in ein helleres Licht zu rücken. Sie sucht Burkes Geistesart und Lebensinhalt zu schildern, wie diese in den Jahrzehnten vor Ausbruch der französischen Revolution erscheinen. Zu diesem Zwecke sind natürlich auch die Schriften aus Burkes letzten Jahren herangezogen worden, soweit sie sich nicht unmittelbar mit den französischen Vorgängen beschäftigen. — In der Fragestellung hat meine Arbeit einen Vorgänger in dem gedrängten und inhaltsreichen Abschnitt, welchen Felix Salomon in seiner Biographie des jüngeren Pitt den Lehren Burkes gewidmet hat*). Ich versuchte, wie es eine Sonderschrift erlaubt und fordert, auch den Menschen Edmund Burke neben seinen Gedanken deutlich werden zu lassen, dazu den Kreis, in dem sein Leben sich abspielte und der so vieles daran bedingt und erklärt. Aus dem gleichen Grunde erschien es auch angebracht, bei einigen von Burkes Zeitgenossen und politischen Gegenspielern Halt zu machen. Das Wesen eines Menschen wird in seinen Vorzügen und Schranken nicht deutlich, solange man nicht weiß, welche anderen Formen von Individualität und Lebensgestaltung in dem gleichen Kreis möglich und vorhanden waren. Freilich bleibt es eine Halbheit, daß das Bild Burkes nicht durch die Schilderung seines Kampfes gegen die Jakobiner abgeschlossen ') A u ß e r Bnckle's History of Civilization in England, v o r allem die Arbeiten des Gladstone-Schülers und liberalen Ministers John Morley: Life o i E d m u n d Burke, zuerst 1879 erschienen, seitdem bis 1912 a b e r ein Dutzend A u f l a g e n ; ein mit großer Gewandtheit, W ä r m e und innerem Anteil geschriebenes Buch. — Vor dieser Lebensbeschreibung ließ Morley eine Analyse der Lehren Burkes erscheinen ( " E d m u n d B u r k e " , 1869). Die Probleme, mit denen es B u r k e zu tun hatte, sind Morley als einem Angehörigen des gleichen Volkes und angehenden Politiker samtlich nicht nur geschichtliche, sondern zugleich auch Gegenwartsprobleme. Unter diesem Gesichtspunkt spricht er sie durch. Das 18. Jahrhundert tritt dabei häufig neben dem 19. in den Schatten. B u r k e wird nicht selten einfach als Heros der liberalen Weltanschauung gepriesen, immer an ihr gemessen. *) Felix Salomon, P i t t der Jangere, Leipzig 1906.
Vlll wurde, der sich aus den Uberzeugungen und Idealen seines ganzen Lebens naturgemäß ergab. Als Entschuldigung für dies Versäumnis läßt sich nur ein praktischer Grund anführen: erst vor wenig Jahren ist ein Buch erschienen — von Friedrich Meusel1) —, welches sich speziell mit den Ideen des alten Burke und seinem Kampf gegen die französische Revolution befaßt. Mag so der Spezialcharakter der einen Arbeit durch den der anderen entschuldigt sein.
München, Frühjahr 1920.
Friedrieb Mensel, Edmund Barke und die französische Revolution. Berlin 1913.
Inhaltsübersicht. Zur Einfahrung: Burkes Wesenszüge und seine Stellang innerhalb der Entwicklungsgeschichte des liberalen England
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Erstes Kapitel.
Borfces Autorenjahre. 1. L e h r z e i t und S c h r i f t s t e l l e r e i Burkes Herkunft — Schuljahre — Studienzeit in London — Das soziale Aufsteigen des Schriftstellerstandes um die Mitte des 18. Jahrhunderts — Bedeutung Richardsons und Samuel Johnsons für diese Entwicklung — Johnson und Burke — Burkes erste Schriften — »On the Sublime and Beautiful« — Lord Bolingbroke — Seine nachgelassenen Schriften — »Vindication of Natural Society« — Gedankengang der »Vindication« — Burke der Verfasser; seine Absichten — Zusammenhang mit Röusseäus Erstlingsschriften ? — Urteil Burkes aber Rousseau 1760.
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2. Ü b e r g a n g v o n der S c h r i f t s t e l l e r e i z u r P o l i t i k Gründung des »Annual Register« 1759 — Burke als Privatsekretär 'William Gerard Hamiltons — Verbindung mit Lord Rockingham — Eintritt ins Unterhaus (1765).
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Zweite* Kapitel.
Die englische politische Welt am die Mitte des 18. Jahrhunderts und die Elemente des Neuen in der Zeit Georgs III, 1. D a s E n g l a n d d e s 18. J a h r h u n d e r t s in d e r T h e o r i e Das Urteil des Auslands — Voltaires Schilderung — Montesquieu und Locke — Popularisation der Lehren Lockes im England des 18. Jahrhunderts.
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2. D i e t a t s ä c h l i c h e n V e r h ä l t n i s s e Die Londoner Aristokratengesellschaft
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3. M ö g l i c h k e i t d e s E i n b l i c k s in die P a r l a m e & t s o l i g a r c h i e ? . . . Lord Chesterfield und Horace Walpole.
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4. D i e G e p f l o g e n h e i t e n d e r P a r l a m e n t s o l i g a r c h i e Die Stellung Georgs II. — Grundsatzloeigkeit der Parteiführer — Der ältere Pitt — Bedeuttang der Beredsamkeit im Unterhaus — Die Stufenleiter der Korruption.
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5. B e g i n n p o l i t i s c h e n L e b e n s in d e r b f l r g e r l i c h e n S c h i c h t . . . Anfänge der Parlamentsberichterstattung — Zeitungen und 'Kaffeehauspolitik — Debattiergesellschaften — Bedeutung der politischen Karikaturen — Die Verhältnisse auf dem Land.
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6. W a n d l u n g e n s e i t 1760 Wegfall alter. Auftauchen neuer politischer Probleme — Neue Aktivität des Königtums: Georg III. — Die Fragen der Reichsorganisation.
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Drittes Kapitel. Edmund Burkes persönliches Wesen and seine Rode in Parlament und Partei. 1. B u r k e a l s P e r s ö n l i c h k e i t Art seiner politischen Leistungen — Grenzen seines persönlichen Wesens — Pathetik — Der rednerische und der Doziertrieb in ihm.
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2. B u r k e s S t e l l u n g in s e i n e r P a r t e i und im U n t e r h a u s Die Rockinghamgruppe — Burkes Verhältnis zu seinen vornehmen Parteigenossen — Schranken der politischen Laufbahn Burkes — Seine Leichtigkeit des Arbeitens — Neigung zur Ausführlichkeit — Übermäßige Länge seiner Reden — Ihre Wirkung dadurch beeinträchtigt.
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3. B u r k e n a c h d e m T o d e L o r d R o c k i n g h a m s (1782) Burke als Gefolgsmann von Charles James Fox — Die Koalition mit Lord North — Opposition gegen den jüngeren Pitt; steigende Heftigkeit und Reizbarkeit Burkes — Charakteristik Burkes durch Goldsmith.
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Viertes Kapitel. Barke und der englische Staat 1. » T h o u g h t s on t h e C a u s e of t h e P r e s e n t D i s c o n t e n t s « , 1770 . . Der Fall Wilkes — Entstehung und Gedankengang der Schrift — Vergleich mit der Tonart und Kampfesweise der »Juniusbriefe«. 2. D i e W e n d u n g e n » l e i t e n d e P r i n z i p i e n « und » s t a a t s m ä n n i s c h e K l u g h e i t « bei B u r k e 3. S t a n d d e s D e n k e n s ü b e r d i e G r u n d l a g e n d e s e n g l i s c h e n Staates beim Auftreten Burkes Delolme — Blackstone — David Hume — Lord Bolingbroke.
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4. B u r k e s A u f f a s s u n g d e s e n g l i s c h e n S t a a t e s 110 Burke und die whigistische Tradition — Gefühlsmäßige Überzeugung als Ausgangspunkt — Verhältnis zu der rationalistischen Staatstheorie — Der »Appeal from the New to the Old Whigs« (1791) — Hervorkehrung der konservativen Elemente des Whigismus im »Appeal« — Stellung zur Revolution von 1688 — Auffassung der Vertragslehre — Definition des Staats in den »Reflections«, des Volkes im »Appeal« — Verwerfung des Rechts der Majorität der Köpfe — Verschleifung des Gegensatzes zwischen Naturzustand und Kultur — Ursprung dieser Ansicht — »Ver-
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jährung« und »günstiges Vorurteil« — Abneigung gegen das theoretischformale Denken — Gesetze und »Geist« — Die »lebendige Verfassung« — Das englische Staatswesen führt das Denken des 18. Jahrhunderts zur Achtung vor einem bestehenden historischen Gebilde — Burkes Denken »pietätvoll«, aber noch nicht eigentlich historisch. 5. B u r k e s S t e l l u n g zu den e i n z e l n e n F a k t o r e n des englischen Staates '24 Auffassung des Königtums — des Oberhauses — des Unterhauses — Die Bewegung zur Verfassungsreform — Burke im Gegensatz zu ihr — D i e Verhaltnisse bei den Wahlen — Formal-rechtliche Typen von Wahlorten — Faktische Typen — Formen der Wahlkäuflichkeit — Verhältnis der gewählten Vertreter zu ihrer Wählerschaft — Burke lehnt die Wahlreform ab — Gedanke der »virtuellen« Vertretung — Streben Burkes, die Wählerschaft politisch zu organisieren — Dabei Beschränkung auf die Honoratiorenkreise — Wahrung der Selbständigkeit der gewählten Kandidaten — Burke und seine Wählerschaft in Bristol — Burkes Stellung zum Parteiwesen — Mißtrauen gegen die parteilosen Politiker — Burkes Ideal die Partei alteingesessener Adeliger — Lob der »alten Whigs« aus der Zeit Marlboroughs — Burkes Auffassung der politischen Rolle des whigistischen Hochadels — Burke lehnt den Vorschlag kützerer Parlamentsperioden ab — Grund realpolitische Erwägungen. 6. B u r k e s V o r g e h e n gegen die h ö f i s c h e n E i n f l a s s e : der P l a n der »Economical Reform« von 1780 142 Charakter seiner Einführungsrede — Zweck seiner Reformvorschläge — Der modern-rationale Geist darin — Kennzeichen whigistischer Befangenheit — Erlöschen seines Reformeifers vor whigistischen Sinekuren. Fünftes Kapitel. Burke und das britiadie Reich. Vorbemerkung: Das Problem der Organisation des Britischen Reiches nach dem Pariser Frieden 1763 — Die Rolle Burkes 149 1. Ü b e r b l i c k a b e r die E n t w i c k l u n g der e n g l i s c h - a m e r i k a n i schen S t r e i t f r a g e 1764 bis 1775 Grenvilles Stempelsteuer — Lord Rockinghams Declaratory Bill — Charles Townshend — Lord North — Der Bostoner Teekrawall — Die Zwangsgesetze.
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2. B u r k e s S t e l l u n g n a h m e in der a m e r i k a n i s c h e n S t r e i t f r a g e . 169 Ohnmacht der Parlamentsminderheit — Burkes Schriften zur amerikanischen Frage — Forderung eines Systems in der amerikanischen Politik — Einschätzung des amerikanischen Volkstums — Analyse seiner Wesenszüge — Vergleich mit einer universalgeschichtlichen Skizze von John Adams (1765) — Burkes praktische Folgerungen aus der Sachlage: Verwerfung des gewaltsamen Vorgehens — Stellung zur Rechtsfrage — Die Erhaltung des geistigen Bandes zwischen Mutterland und Kolonien das wichtigste Ziel — Möglichkeit eines Ausgleichs der Ansprüche— Burkes Definition des »Reiches«.
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Bnrkes Vorschläge vom Unterhaus verworfen — Burkes Urteil fiber den englisch-amerikanischen Krieg, die amerikanische Unabhängigkeit und das Eingreifen Frankreichs. 3. B u r k e und die i r i s c h e F r a g e ; seine w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h e n Ansichten 199 Die irische Freiwilligenarmee 1779 — Englische Zugeständnisse an Irland 1780/1782 — Geringes Hervortreten Burkes in der irischen Frage — Freihändlerische Wendungen bei Burke — Frage seines Verhältnisses zu den Lehren Adam Smiths — Burkes »Thoughts and Details on Scarcity« 1795 — Ablehnende Stellung Burkes zu Pitts Handelsvertrag mit Frankreich 1786/1787 und zu Pitts irischem Programm 1785. 4. Die zweite Seite der irischen Frage: P r o t e s t a n t e n und K a t h o l i k e n in I r l a n d — B u r k e und d e r T o l e r a n z g e d a n k e 223 Die Entrechtung der irischen Katholiken durch die unter Wilhelm III. und Anna erlassenen Strafgesetze — Burke und die englische Hochkirche — Burke für Toleranz — Sein Urteil über den Protestantismus der Reformationszeit — Burke far vollständige Rehabilitation des irischen Katholikentums — Aufflackern des calvinistischen Fanatismus: die Govdonunruhen in London 1780 — Die Grenze von Biirkes Toleranzgefühl: Feindschaft gegen die »Atheisten« — Die irische Katholikenfrage 1792 — Richard Burkes Mißerfolg in Dublin. 5. B u r k e als V e r f e c h t e r d e r H u m a n i t ä t s p o l i t i k : I n d i e s . . . . Burke und die Philanthropen Die O s t i n d i s c h e K o m p a n i e bis 1773 Anfänge ihrer Herrschaft in Bengalen — Lord Norths Reguliergesetz 1773 — Ablehnende Haltung Burkes. Warren Hastings Hastings' Politik in Bengalen 1772/1774 — Der Kampf im Rat von Calcutta — Der Mahrattenkrieg und Haidar Alis Angriff — Hastings' Gegenmaßregeln — Vorgehen gegen den Raja von Benares und die Beghums von Oudhe. B e h a n d l u n g d e r i n d i s c h e n A n g e l e g e n h e i t e n in E n g l a n d . . . Die Unterhauskommissionen von 1782 — Burkes Berichte — Fox' Reformplan 1783 — Burkes Begründungsrede — Pitts East India Bill 1784 — Ihr Eindruck auf Hastings. B u r k e s A n g r i f f auf H a s t i n g s Burkes Rede Ober die Schulden des Nabob von Arcot 1785 — Vorbereitung der Anklage gegen Hastings — Die Verhandlungen im Unterhaus fiber Burkes Klagartikel—Die Haltung Pitts — Der Hastingaprozeß.
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Edmund Burke. Edmund Burke war keine der Naturen, in deren Innerem zeitlebens zwei Mächte miteinander ringen. Auch zu den Menschen, die in glücklichem Gleichgewicht des Empfangens und Gebens im Laufe der Jahrzehnte sich geistig wandeln, ist er nicht zu rechnen. Sein Wesen trug einen ganz festen, bestimmten Stempel. Die Einheitlichkeit seiner Denkweise konnte mitunter zur Einförmigkeit und Starrheit werden. In jungen Jahren schon legten sich ihm die Richtlinien fest, die seine Gedanken und seine Arbeit leiten sollten, und zeitlebens hielt er sich streng innerhalb der Grenzen, welche sie ihm gezogen hatten. Dabei verschloß er jedoch keineswegs die Sinne vor den verschiedenerlei geistigen Strömungen seiner Zeit und seines Landes, in dessen ewig regsamem Mittelpunkt er ein angestrengtes Leben führte. Im Gegenteil, dies ganze Leben war eine unablässige Auseinandersetzung mit den Bewegungen rings um ihn her. Immer trat Burke auf den Plan, immer nahm er deutlich Stellung, freundlich oder feindlich, wie es seinen Überzeugungen jeweils entsprach. Fast stets geschah es mit der ganzen Kraft seines rednerischen Temperaments, das sich bei ihm im Alter noch erhitzte, statt, wie bei anderen Menschen, ruhiger zu werden. Seine Leidenschaftlichkeit, seine Fähigkeit, die Sprache zu handhaben und eindrucksvoll zu formen, seine Gabe, die eigenen Überzeugungen in immer neuen Wendungen auszudrücken, belebt die Unbeweglichkeit und Unverrückbarkeit seiner Grundgedanken und wirft gleichsam ein spielendes Licht über sie, durch das sie reicher und wandelbarer erscheinen, als sie gewesen sind. Der erste Eindruck von Burkes Handlungen und Äußerungen ist darum eher derjenige der Ungleichförmigkeit. Man empfindet zunächst bei ihm Widersprüche und schillernde Unbestimmtheiten; L e n n o x , Edmond Borke.
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2 Gegensätze zeigen sich hier vereinigt, die sich sonst auszuschließen pflegen. Die Nachwelt hat darum Jahrzehnte gebraucht, bis sie von der Meinung abkam, in Burkes Leben sei ein großer Bruch erfolgt. Der Konservative findet anderes an ihm zu loben als der Liberale. Beide nehmen sie ihn als einen der großen Vorkämpfer ihrer Weltanschauung für sich in Anspruch, und beide tun dies mit Recht. Aus diesen Gründen ist es trotz der Geschlossenheit von Burkes Wesen nicht möglich, dies, wie es bei manchen anderen Persönlichkeiten angeht, mit wenigen Leitsätzen zu fassen und deutlich zu machen. Was könnte man als Erstes von ihm aussagen? Er war Engländer, aber ein Ire von Geburt; ein Sohn des 18. Jahrhunderts, doch von den Zügen, welche diesem Jahrhundert die besondere Art geben, zeigt er nur wenige. Ein Schriftsteller war er, dei unter die Politiker ging und doch zeitlebens den Autor in sich nicht verleugnen konnte. Einer der größten Redner seines Zeitalters und seines Volkes überhaupt, dem dennoch der unmittelbare Erfolg in der Mehrzahl der Fälle versagt blieb. Jahrzehntelang war er einer der führenden Köpfe des englischen Parlaments, und trotzdem gelang es ihm nie, in den Kreis der wirklich herrschenden und leitenden Staatsmänner seines Landes aufzusteigen. Er war ein Mann der Opposition und der politischen Propaganda, ein Reformer, Vorbote einer kommenden Epoche und dabei doch ganz konservativ und mit allen Fasern in der Generation seiner Großväter verwurzelt. Die Nachwelt sieht in ihm vor allem den Schöpfer einer neuen Art, Staat und Staatsleben anzuschauen, während er selbst sich mit den altüberkommenen Ansichten seiner Umwelt in der vollsten Ubereinstimmung fühlte und auf nichts einen so großen Stolz setzte wie gerade hierauf. Jede dieser Aussagen über Edmund Burke benötigt, wie man sieht, sogleich ihr Gegengewicht, um nicht in die Irre zu führen. Jede gibt einen Einzelzug von Burkes Wesen, doch die individuelle Verbindung des Ganzen ist dadurch nicht ersichtlich. Zum Teil wird Burkes eigentümliche Art und die Besonderheit seiner Wirkung durch den Umstand erklärt, daß seine Leistungen immer zwei Kreisen zugleich angehören: der Literatur und dem konkreten politischen Leben. Sachliche Erfahrungen, bestimmte politische Fragen waren stets sein Ausgangspunkt, aber er schritt darüber hinaus, da er die allgemeine Bedeutung, die tieferen Zusammenhänge des jeweils vorliegenden politischen Einzelfalles auf-
3 zeigen wollte. So prägte er Sätze, die über den Augenblick hinaus durch Inhalt und Form lebendig blieben, Sätze, die auch späteren Geschlechtern bei ihrem Tun noch etwas lehren können und in welchen die Fortbewegung des politischen Denkens der Zeit ihren Ausdruck fand. In solchen Thesen sah Burke selbst jedoch nicht das Ziel seiner Arbeit, sondern lediglich ein Hilfsmittel, die besondere Frage zu klären, mit der er es eben zu tun hatte. Auch fühlte er sich nicht etwa als Beobachter, der außerhalb des lärmenden Treibens der Zeitgenossen steht und bedächtig seine Gedanken darüber zu Papier bringt. Er wollte auch nicht allgemeine Regeln der Seelen- und Menschenkunde sammeln oder politische Sentenzen prägen, wie es im 17. Jahrhundert die klugen französischen Aristokraten vom Schlage La Rochefoucaulds und des Kardinals von Retz getan hatten. Ebensowenig erblickte er seine höchste Lebensaufgabe darin, ein großes Geschichtswerk oder ein gewichtiges Handburch der Staatskunde zu verfassen, wie er es wohl vermocht hätte. Seine Schriften sollten nicht beschreiben und nicht forschen, sie sollten wirken, rasch und gründlich wirken. Die Möglichkeiten des Augenblicks sollten durch sie erfaßt und die Öffentlichkeit gepackt werden, um die Politik des Landes in die Richtung zu zwingen, welche Burke und seine Parteifreunde für die notwendige hielten. War dies Ziel erreicht, dann mochten die Blätter verwehen, wie das gesprochene Wort verweht. Burke glaubte nicht, daß seine politischen Schriften dauernd lebensfähig sein würden, und der eigentlich literarische Ehrgeiz bestimmte ihn bei ihrer Abfassung nicht. Freilich gab es Augenblicke in seinem Leben, in denen er wehmütig resigniert von seiner, wie er meinte, vergänglichen Tagesschriftstellerei hinübersah in das ruhige Land der stillen geistigen Forschung, die er in seiner Jugendzeit kennen gelernt hatte 1 ). Diese eigentümliche Verbindung des Praktischen und Allgemeinen, des Journalismus und der Literatur, der Politik und der Staatsphilosophie ist in Edmund Burkes Schaffen der auffallendste Wesenszug. Seine Gründe liegen ganz im Menschlich-Persönlichen. Andere Merkmale finden ihre Erklärung durch die Zeit. Burkes Generation hatte von den beiden vorangehenden Geschlechtern einen reichen Bestand ganz fester geistiger, staatlicher und gesellschaftlicher Traditionen überkommen, in welche sie selbst ebenfalls hineinwuchs, 1
) Brief Burkes an den Historiker Robertson, 1777, Corresp. II, 164 f.
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4 die sie aber dabei doch vielfach umbildete, ausweitete und an vielen Punkten bereits zu sprengen begann. Gerade Burke hat an diesem Vorgang als einer der Lebhaftesten mitgewirkt. Aber — und dies ist ein weiterer wesentlicher Punkt — im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, war er sich keineswegs bewußt, wann er das Neue brachte und wo sich die Widersprüche mit den Ansichten der Vorfahren auftaten. Seine Grundsätze glaubte er sämtlich von der Tradition seines Landes bestätigt zu finden und hatte doch nur zur Hälfte recht damit. Er sann nicht über die Zukunft nach, sondern hielt den Blick auf die Gegenwart gerichtet, und für diese Gegenwartsfragen suchte er als einer der Ersten seiner Zeit Hilfe und Vorbild auch bei der Vergangenheit. Es wäre ungenügend, Edmund Burke allein aus seiner Umwelt heraus erklären zu wollen. Aber man darf niemals dieses England des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus dem Auge verlieren, wenn man ihn verstehen will — in seinen Schwächen so gut wie in seinen Verdiensten und großen Leistungen. Auch wäre die breite Fülle seines praktisch-politischen Wissens ohne diesen Hintergrund schlechthin unverständlich. Sie erscheint in dem Europa seiner Tage ohnehin schon bisweilen als eine Art Wunder. In der Entwicklungsgeschichte des englischen Liberalismus bildet Burke das große Mittelglied zwischen Locke und Gladstone, von denen er je durch zwei Generationen getrennt ist. John Lockes stille Gelehrtenarbeit hatte das Ergebnis aus den religiösen und politischen Kämpfen der bewegten Stuartzeit gezogen. Er entwarf das Bild eines Staates, der nur den Zweck hat, das Individuum in seinen Rechten und angeborenen Freiheiten zu schützen, und setzte dann diesen Staat dem neuen England von 1688 gleich. Mit dem breiten Strom der anerkannten nationalen Überlieferung übernahm die Zeit Burkes diese Lehre. Aber Burke gab ihr dabei eine neue Wendung. Aus dem rational begründeten Liberalismus wurde bei ihm der moralisch empfundene. Die abstrakt logische Begründung des freiheitlichen Staates dachte er nicht noch einmal durch. Sein Auge war gebannt durch den Anblick von dessen lebendiger Verkörperung, die er in dem England seines Jahrhunderts zu finden meinte. Burke richtete sein Streben darauf, nunmehr den Sinn und inneren Zusammenhang auch der kleinsten Teile dieses Staatswesens zu erfassen, um die Größe und Schönheit des Ganzen immer eindringlicher begreifen zu können.
5 Pietätsgefühl und moralische Gewißheit traten so an Stelle theoretischer Beweisführung. Burke hegte die durch keinerlei Zweifel erschütterte Uberzeugung, seine politischen Grundanschauungen seien die eines »guten« Menschen allein würdigen. Im Zusammenhang mit dieser seiner Auffassung steht es, daß Edmund Burke einer der Urheber jener bekannten Lehre wurde, wonach England nicht allein als Hort der politischen Freiheit, sondern auch als moralisch-humanitäre Weltmacht schlechthin unter den europäischen Staaten einen singulären Platz einnimmt. Im folgenden Jahrhundert führte Gladstone diese Idee dann zum Gipfel. In der Entwicklungsreihe der genannten drei großen Vorkämpfer der liberalen Staatsauffassung, Locke — Burke — Gladstone, verschob sich der Schwerpunkt stetig von der reinen politischen Theorie weg zur praktischen Tätigkeit des Staatsmannes hin. John Locke war ein Gelehrter, der die Öffentlichkeit mied und in seiner Stube systematische Werke vollendete, welche zur Ausreife Jahre gebraucht hatten. Es gab freilich Gelegenheiten, bei denen er an der praktischen Politik seiner Tage tätigen Anteil nahm, doch geschah dies immer nur als Berater, der im Verborgenen blieb, oder als Mitglied kleiner Kommissionen. Edmund Burkes Leben spielte sich schon in ungleich höherem Grade in der Öffentlichkeit ab. Er war ein Mann des Parlaments und nicht der Bücherstube, soviel er auch an Wissenschaften in sich trug. Gladstone vollends war durchaus öffentliche Persönlichkeit, ebensosehr und mehr noch als irgendein konstitutioneller Herrscher seiner Zeit. Seine Beredsamkeit wirkte weit über die herkömmlichen parlamentarischen Schranken hinaus. Sie fand ihre Resonanz bei der ganzen bürgerlich empfindenden Nation. Die Schriftstellerei, bei Burke doch noch das Hauptmittel, politisch zu wirken, ist bei ihm bloßes Nebenwerk geworden. Es braucht nicht noch besonders betont zu werden, daß der Entwicklung, welche der englische Liberalismus vom 17. zum 19. Jahrhundert, vom theoretischen Entwurf zur praktischen Herrschaft nahm, das allmähliche Emporkommen der bürgerlichen Schicht parallel geht, die der natürliche Träger der liberalen Gedanken war. Burke ist der erste große Vertreter dieser bürgerlich-städtischen Bevölkerung im politischen Leben Englands gewesen. In seinem äußeren Leben hat er es spüren müssen, daß er um eine Weile zu früh gekommen war.
Erstes Kapitel.
Burkes Autorenjahre. i. Geboren ist Burke im Jahre 1729. Er war ein Altersgenosse Lessings, siebzehn Jahre jünger als Rousseau, fünf jünger als Kant, fünfzehn älter als Herder. Um die Mitte des Jahrhunderts war er soweit herangewachsen, daß er sich mit eigenen Augen in der Welt umzusehen vermochte. Damals kam er aus seiner irischen Heimat in das Getriebe von London. Das Zeitalter der Aufklärung hatte eben seinen Höhepunkt überschritten und begann sich zur Neige zu wenden, als er ein Mann geworden war. Von seinen Jugendjahren vorher ist nicht viel zu berichten. Er stammte aus einer sogenannten »normannischen«, d. h. im Mittelalter nach Irland eingewanderten protestantischen Familie. Sein Vater hatte sich als Rechtsanwalt in Dublin niedergelassen und dort eine erfolgreiche Praxis begründet. Seine Mutter gehörte einer katholischen Familie an. Auch nach der Heirat war sie bei ihrem Glauben gegeblieben. Es ist klar, daß diese Mischehe der Eltern in dem Sohn die Neigung zu religiöser Toleranz stärken mußte. Mit zwölf Jahren wurde der kleine Edmund in die Schule eines Quäkers nicht weit von Dublin geschickt. Mit vierzehn Jahren, 1743, kam er dann in das Trinity College in Dublin, wo er bis zu seinem zwanzigsten Jahre blieb. Er erwarb sich dort die übliche, auf der klassischen, vor allem lateinischen Literatur ruhende Bildung. Lebhafte geistige Interessen beschäftigten ihn, aber sie wechselten im Laufe dieser Schuljahre beträchtlich. Zuerst zog ihn Physik an, dann Philosophie und Logik, dann Geschichte und schließlich Poesie. Diese letzte Vorliebe hielt am längsten vor, obwohl Burke niemals so recht den Mut aufbrachte, sein Dichtertum ganz ernst zu nehmen. Was wir an Proben seiner Kunst noch besitzen, zeigt, daß dazu auch kein Anlaß bestand. Eines dieser Gedichte Burkes beginnt schwungvoll mit dem Aufsteigen
7 Auroras am Morgenhimmel und schildert dann unter reicher Verwendung gehobener Ausdrücke den Tageslauf des jungen Poeten. Das Wesentliche ist aber doch die Feststellung, daß der Nachmittag, an welchem keine Schule ist und Edmund Burke spazieren gehen kann, rascher und angenehmer verstreicht als die Stunden auf der Schulbank vormittags. Das Ganze klingt folgendermaßen aus: "Thus far the muse has, in a feeble lay, Shown how I spend the various hours of day: The story placed in order by the sun, Shows where ray labours ended, — where begun",
nämlich im Bett. »A feeble lay« ist wirklich für dieses und die anderen Gedichte die angemessenste Bezeichnung. Burke kam auch bald selber zu dem Entschluß, lieber nicht weiter zu dichten. Er fand, daß »ein mittelmäßiger Poet nicht zu ertragen sei; ein mittelmäßiger Jurist zu werden, ginge noch eher an «. So bequemte er sich seufzend, dem Wunsch seines Vaters Folge zu leisten und das Rechtsstudium zu ergreifen. Im Alter von 18 Jahren legte Burke eine etwas moralisch trockene Frömmigkeit an den Tag. Mit einem jüngeren Freund, dem Sohn des Quäkers, bei dem er früher in die Schule gegangen war, wechselte er Briefe über Religion und Moral. Er sprach sich darin über die Vergänglichkeit des Menschen aus und über die Demut, die ihm gezieme; wenn diese fehle, sei der Teufel gleich bei der Hand. »Wir sollten uns immer wie Büßer betragen, denn der Rechtschaffenste von uns ist nicht mehr als ein Sünder.« Ähnliche Wendungen gebrauchte er noch am Anfang seiner Londoner Zeit. (Im Jahre 1750 ging er nach London und trat in die große Rechtsschule, den »Temple«, ein.) In einem Bericht seiner ersten Eindrücke an einen Dubliner Studiengenossen finden sich folgende Sätze: »Eine Schilderung Londons und seiner Bewohner würde einen Band füllen. Die Gebäude sind sehr schön. Man kann es einen Lasterpfuhl nennen; aber seine Spitäler und Wohltätigkeitsanstalten, deren Türme den Himmel durchbohren, leiten, wie ebensoviele Blitzableiter, die Wut des Himmels ab 1 ).« In den späteren Jahren kommen solche Ausdrücke eines Winkelpastors bei Burke nicht mehr vor. Rasch gewöhnte er sich an das bunte Leben und raschere Tempo der Hauptstadt und kam aus der provinzialen Enge heraus. *) Prior, Life of Burke I, 2. Aufl. 1826, S. 37. — Burke Corr. I, S. 10, 13.
8 In der Zeit vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Lebensjahr wird der Mensch in geistigen Dingen mündig. Er tritt heraus aus dem kleinen Kreis, in welchem er sich in .Kindheit und Schulzeit bewegte und dessen Beschaffenheit und bestimmende Ansichten er mehr oder minder als eine Selbstverständlichkeit ansah. Der Einfluß seiner Zeit und der eben auf der Höhe stehenden Generation dringt nun in stärkeren Wellen auf ihn ein und erweckt, was an geistigen Möglichkeiten in ihm liegt. Seine Tätigkeit erhält eine ungefähr bestimmte Richtung und seine Interessen im allgemeinen einen deutlichen Umkreis. Für Burkes innere Entwicklung in diesen grundlegenden Jahren haben wir nur ganz spärliche Zeugnisse. Sicher ist es, daß sich der größere Teil seiner späteren Uberzeugungen schon in diesem Lebensabschnitt gebildet oder gefestigt hat. Zunächst scheint Burke ein Studentenleben in London geführt zu haben. Auch auf dem Lande trieb er sich häufig herum. Anfangs war er noch mit seinem Rechtsstudium beschäftigt, später wandte er sich immer entschiedener der schönen Literatur und eigener Schriftstellerei zu. Die Zeit, in der sich Burke den Reihen der freien Schriftsteller zugesellte, bedeutet für die äußere Geschichte dieses Standes in England eine Periode des Übergangs und der allmählichen Wende. Um die Mitte des Jahrhunderts begannen sich in der englischen Schriftstellerwelt zwei soziale Klassen zu vermischen und auszugleichen, welche bisher völlig getrennt gewesen waren, sich gegenseitig gehaßt und mit groben Worten befehdet hatten. Am kürzesten kann man sie als die Aristokraten und die Plebejer bezeichnen. Die eine Klasse der Autoren waren Gentlemen, ländliche Grundbesitzer, denen es gefiel, Dichter zu sein. Uber der Poesie vergaßen sie aber doch niemals, daß sie Gentlemen waren — mit allen Pflichten dieses Standes, der sich als den besten Kern des englischen Volkes fühlte und rühmte. Die vornehme Gesellschaft las ihre Dichtungen, verkehrte mit ihnen auf gleichem Fuß und feierte sie, vor allen anderen »Mr. Pope«, den Formgewandtesten von allen. Neben dieser Schicht von Schriftstellern gab es eine zweite, der die Zukunft gehörte. Freilich hatte sie hart zu kämpfen, bis sie durchdrang. Viele ihrer Vertreter verkamen in Hunger und Elend. Sie mußten schreiben, schreiben, was es nur irgend zu schreiben gab, um sich nur gerade über Wasser halten zu können. Diese Art von Autoren erhielt ihren Gattungsnamen von
9 ihrem Hauptquartier in London, Grub Street. Ihr Patriarch war der alte Daniel Defoe — Verfasser nicht nur des Robinson Crusoe, sondern noch einer ganzen Reihe weiterer Romane und außerdem politischer Broschüren und aller möglichen sonstigen Schriften. Wer kennt all die Literaten und kleinen Dichter, die sich an die vornehmen Herren herandrängten, wo sich nur Gelegenheit bot, und um ihre Gönnerschaft oder wenigstens ihre Subskription bettelten, durch endlose Widmungen, die von Schmeicheleien geradezu tropften. Wie oft war es eine Lebensfrage für sie, ob ihr Geldbeutelchen nicht völlig versiegen würde, bevor sie jemand fanden, der die Widmung anzunehmen geruhte und mit einer kleinen Summe belohnte. Diese mußte dann wieder ausreichen bis zum nächsten »Werk«, und die unerläßlichen Trinkgelder an Portiers und Lakaien verschlangen doch gleich wieder so schrecklich viel davon. Dieses System des Mäzenatentums — ein klägliches Abbild der Verhältnisse der Humanistenzeit — setzte sich bis in die sechziger Jahre des Jahrhunderts fort. Anspielungen in Goldsmiths »Vicar of Wakefield« setzen es noch als bestehend voraus. Doch im wesentlichen hatte sich die Stellung der Autoren damals verändert. Eine Verbesserung war damit freilich zunächst nicht gegeben, sondern nur eine neue Form drückender Abhängigkeit. An die Stelle des vornehmen Mäcens begann als zahlender Auftraggeber oder Abnehmer der große Buchdrucker zu treten, der also zugleich Verleger wurde. Das waren meist gerissene, harte Geschäftsleute, die es sehr wohl verstanden, das riesige Angebot der vielen nach Beschäftigung suchenden Autoren auszunutzen und den Preis bis zum äußersten herabzudrücken. Die Schriftsteller waren gezwungen, um die Wette nach Themen zu suchen, welche Aussicht auf Interesse beim Publikum und also auch auf Wohlwollen beim Verleger besaßen. Beliebt waren populär-historische Werke, meist über englische Geschichte in dem oder jenem Zeitabschnitt. Goldsmith spricht einmal seinen Verdruß über an die vierzig Autoren aus, welche in London recht behaglich davon leben konnten, daß sie »im Droschkengaultrott« historische und politische Arbeiten lieferten 1 ). Auch Burke stand in seinen ersten Londoner Jahren dieser populärgeschichtlichen Schrift') Vicar of Wakefield, Kap. 20. — Goldsmith selber hat sich in der Tätigkeit des gewerbsmäßigen Historikers versuchen müssen. 1761 verfiel er sogar auf eine Geschichte Mecklenburgs, bei Gelegenheit der Heirat Georgs III. mit einer mecklenburgischen Prinzessin.
10 stellerei nicht fern. Hatte aber ein Schriftsteller das Unglück, bei keinem Buchhändler anzukommen, dann war sein Leben eine Reihe von Leidensstationen. Deren vorletzte war das Dasein als Dichter von Gassenhauern, die letzte das Schuldgefängnis. Smollett hat ein solches Schicksal in dem Bericht des verlumpten Dichters Melopoyn im »Roderick Random« tragikomisch geschildert1). Um die Mitte des Jahrhunderts begann das bürgerliche Schriftstellertum in der gesellschaftlichen Achtung zu steigen. Den Dank dafür schuldete es zwei Männern vor allem. Der eine von diesen war Richardson, der erste englische bürgerliche Schriftsteller, der als solcher europäische Berühmtheit erlangt hatte. Bei Defoes Robinson, der schon früher einen Siegeszug über die Länder angetreten hatte, vergaß man noch den Verfasser über der Gattung des Werkes. Richardson dagegen verschwand nicht hinter seinen Büchern. Sein ernsthaft-braver Kampf gegen eine lockere Kavaliersmoral, seine realistische, weitausholende Darstellung des bürgerlichen Lebens der eigenen Zeit machten Epoche nicht nur in der Geschichte der europäischen Literatur, sondern auch in der Entwicklung des bürgerlichen Europas selber. Richardson war durch den äußeren Vorteil begünstigt, daß er selbst Besitzer einer Druckerei war und darum sein eigener Verleger sein konnte. Den Nöten des Schriftstellerlebens war er so von vornherein entrückt. Der zweite Vorkämpfer der bürgerlichen Autoren hatte schwerer zu ringen. S a m u e l J o h n s o n arbeitete sich kraft seiner unglaublichen Zähigkeit und einer fast übermenschlich robusten Arbeitskraft aus den Tiefen des gelehrten Proletariertums herauf zu einer unabhängigen und zentralen Stellung im literarischen Leben des Landes2). Er wurde das Orakel in allen Fragen des Geschmacks und Stils und in dieser Stellung der Nachfolger Popes. Wenig ist so bezeichnend für diese Zeit, die glaubte, an den Idealen der vorhergehenden Generation festzuhalten und doch immer weiter von ihnen 1 ) Smollett, Roderick Random, Kap. 6 i f f . Vgl. auch Fielding, Joseph Andrews, III, 3. — Viel Aber Autorendasein, Clubs, Buchhändlerkniffe in Goldsmiths "Citizen of the World". — Im allgemeinen siehe Leslie Stephen, English Literature and Society in the 18 f» Century, 1910. — Sydney, England and the English in the 18 t h Century, 1891. *) Siehe in Boswells«Life of Johnson« die Fülle von Arbeiten, welche Johnson in den vierziger Jahren für den Buchhändler Cave geliefert hat.
Ii wegtrieb. Johnson selbst war der eifrigste Verkünder von Popes Ruhm. Doch welch ein Unterschied! An Stelle des feinen, aristokratischen, überempfindlichen und krankhaft reizbaren Pope, welcher mit den Magnaten des Landes zu verkehren pflegte, als Literaturdiktator nun der ungeschlachte und massige Johnson, der sich in einem proletarierhaft groben Lebensstil gefiel. Wie ein langsam bewegliches Ungeheuer erscheint er zunächst, nicht nur seiner äußeren Gestalt nach, sondern auch in seinem geistigen Wesen — voll Pedanterie, Ungeschliffenheit und plumpem Moralismus. Aber dann bricht plötzlich aus dieser Masse, wie aus einem Vulkan, ein urwüchsiger, trockener Scherz hervor, in knorrigen Wendungen und mit dröhnender Stimme geäußert, der den Gegenpart entwaffnet und vollkommen lahmlegt. Dazu verfügte Johnson über eine behäbig patriarchalische Würde und eine schwer lastende Gelehrsamkeit. Ein solch absonderliches, witziges Ungetüm faszinierte die Zeitgenossen; Johnson, der starre Tory, welcher den Ausspruch tat, der erste Whig, das sei der Teufel gewesen, fand seine Gefolgschaft aus allen Parteien und den verschiedensten sozialen Schichten. Seinem engeren Jüngerkreis, der sich seit 1764 als »Literary Club« konstituiert hatte und zwei Jahrhunderte hindurch den Hohen Rat für das literarische London bildete, gehörte auch Burke an. Johnson und Burke waren ein seltsames Paar. Nicht allein wegen des Gegensatzes der politischen Überzeugung — Burke war ein ebenso hitziger Whig wie Johnson Tory —, sondern vor allem wegen ihrer ganz verschiedenen Art, sich menschlich zu geben. Burke war von Natur äußerst höflich — oft sogar recht umständlich in seiner Höflichkeit; Johnson fand in gleichem Maße sein Behagen darin, recht ungehobelt aufzutreten. Die gegenseitige Hochschätzung der beiden war aber dennoch gleich lebhaft und dauerte ungeschwächt von 1758, dem Jahre, in dem sie sich kennen lernten, bis zu Johnsons Tod, 1784. Als der junge Burke mit Samuel Johnson zum ersten Male in Berührung kam, konnte er bereits eine Leistung als Schriftsteller vorweisen. Im Jahre 1756 waren zwei Arbeiten von ihm erschienen. Die eine, umfangreichere und wichtigere gehörte dem Gebiete der Ästhetik an: »Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen«, lautet ihr Titel. Das Buch ist jetzt tot, hat aber seinerzeit auf die Fortentwicklung der ästhetischen Theorien stark gewirkt. Burke ging bei seiner Unter-
12 suchung von der These aus, daß man aus den Kunstwerken selber die Gesetze der Kunst nicht ableiten könne. Die Kunstkritik beginne am falschen Ende, wenn sie aus den Dichtungen, Gemälden, Bauwerken usw. die ästhetischen Gesetze ableiten wolle1). Man müsse vom Betrachter und dessen geistiger Beschaffenheit ausgehen. Burke versucht darum, durch Analyse der verschiedenen Seelenregungen und ihrer Zusammenhänge mit den verschiedenen Eindrücken der Außenwelt die allgemeinen Prinzipien der ästhetischen Wirkung zu ergründen. Sein Ziel ist es, auf diese Weise eine »Logik des Geschmacks« festzustellen, welche über die individuelle Willkür hinausgeht2). Natürlich betrachtet er seine Arbeit nur als einen ersten Schritt zu diesem Ziel hin. Auffallend ist in diesem Werk Burkes das Streben nach Klarheit und Übersichtlichkeit. Er teilt das Ganze 1) Burke, On the Sublime and Beautiful I, 19: Art can never give the rules that make an art. *) Eine genauere Betrachtung von Burkes ästhetischen Ausführungen fällt aus dem Rahmen der vorliegenden Arbeit heraus. Hier nur eine schematische Übersicht seiner Ergebnisse:
Arten der menschlichen Seelenregungen
Veranlaßt durch
Entsprechende Arten ästhetischer Eindrücke.
X. Gruppe: Trieb der Selbsterhaltung.
Schreckund Schmerzgefahle.
Eindruck des E r h a b e n e n . (Das Gefühl des Schreckens dabei das latente Urmotiv, das zu Erstaunen, Bewunderung, Verehrung gedämpft ist.)
II. Gruppe: Gesellschaftstrieb, a) Zug der Geschlechter zueinander, b) Geselligkeitstrieb im allgemeinen.
Sympathie, Nachahmungstrieb, Ehrgeiz usw.
Eindruck des S c h ö n e n . (Die Gegenstände, welche im Beschauer Liebe, Freude, Vergnügen u.dgl. wachrufen.)
Außere Ursachen und Kennzeichen des »Erhabenen«: Dunkelheit, Verworrenheit, Kraft, Ausdehnung, Leere, Einsamkeit, Schweigen, endlose Fortdauer, Gleichförmigkeit, Pracht, plötzlich einsetzende Laut- oder Lichterscheinungen usw. Außere Kennzeichen des »Schönen« : Verhältnismäßige Kleinheit, Weichheit, Glätte, angenehme Unterschiede der Teile, helle und freundliche Farben. [Alles sehr vage Bestimmungen],
13 in viele kleine Abschnitte mit Sonderüberschriften und Zusammenfassungen am Ende jeder größeren Abteilung. Später kam er seinen Lesern nie mehr so entgegen. Da schrieb er in einem breiten, äußerlich ungegliederten Strom nieder, was er über eine Frage zu sagen hatte. Der Wert der einzelnen Kapitel von Burkes ästhetischer Schrift wechselt sehr stark, wie bei einer Erstlingsarbeit, zumal auf diesem Gebiet ja nicht verwunderlich ist. Neben feinen psychologischen Beobachtungen — doch mehr aus dem Bereiche des Lebens wie der Kunst — finden sich zuweilen recht banale Erörterungen und Erklärungsversuche1). Besonders über Architektur bringt er seltsame und enge Dogmen vor. Burkes zweite Schrift aus dem gleichen Jahre (1756) steht der ästhetischen Arbeit an sachlichem Wert um vieles nach. Eigentüch bedeutet sie kaum mehr als eine literarische Spielerei. Doch läßt sie die Stellung erkennen, welche der junge Burke zu den allgemeinen Fragen seiner Zeit einnahm, und beweist, daß sich seine grundlegenden Überzeugungen von später schon damals fixiert hatten. Zum erstenmal ergreift er in der das Zeitalter bewegenden Diskussion der allgemeinen Ideen über Gesellschaft, Staat und Religion das Wort. Im Jahre 1751 war Lord Bolingbroke gestorben, dreiundsiebzig Jahre alt. Auch seine Gegner räumten ein, daß er einer der glänzendsten Geister seiner Generation war. Die Eleganz seiner Schreibweise'wurde als Muster gepriesen. Die Aristokratie feierte ihn als den allseits vollendeten Vertreter ihres Standes. Die Tories blickten mit Wohlgefallen auf ihn als auf ihren besten Wortführer und patriotischen Verfechter ihrer Grundsätze, die Deisten und Aufklärer auf der anderen Seite rechneten ihn unter ihre eigenen Bundesgenossen, wenn er sich auch noch so ') In einem historischen Gemälde, findet er, kann helle und bunte Draperie nie glücklich wirken. Bei Gebäuden, welche die Wirkung des Erhabenen erstreben, sollen Baumaterial und Ornamente in düsteren Farben gehalten sein: schwarz, braun, tiefpurpurn. Weiß wird mit den übrigen hellen und leuchtenden Farben ausgeschlossen. Erhabene Bauwerke sollen überhaupt finster und dunkel sein. An gotischen Kathedralen tadelt Burke das Übermaß an Winkeln. Die Kreuzform des Grundrisses habe den Nachteil, daß der Beschauer von außen nie das ganze Bauwerk übersehen und seine Dimensionen richtig würdigen könne. Es erscheine immer nur eine gebrochene, zusammenhangslose Figur mit stets wechselnden Richtungen, ohne die rhythmische Abgestimmtheit des Perspektivischen und des Lichts. Ein Fehler, der in dem ungezügelten Durst nach Abwechslung seine Ursache habe, »dessen Überwiegen immer wenig Platz für wahren Geschmack übrig läßt«.
14 schnöde bemühte, einen Trennungsstrich ihnen gegenüber zu ziehen und Entrüstung über ihr zersetzendes Treiben zu heucheln. In frühen Mannesjähren war Lord Bolingbroke durch die Ungunst der politischen Konstellation aus der Bahn geworfen worden. Das Whigregiment unter den beiden ersten hannoveranischen Königen machte ihm, dem Minister der vorangehenden Toryregierung, der sich sogar einmal mit der verfehmten Dynastie der Stuarts eingelassen hatte, die weitere Betätigung im öffentlichen Leben unmöglich. Aus dem Oberhaus war er ausgestoßen worden. Durch die unfreiwillige Muße wurde er auf die Schriftstellerei geführt. Doch blieb sie immer nur Liebhaberei, in der sein rastloses Temperament etwas zu tun fand. Das Meiste, was er schrieb, blieb jahrelang unveröffentlicht in seinem Schreibtisch liegen, kaum, daß ein paar gute Freunde einen Privatdruck erhielten. Das Bedenklichste blieb am längsten ungedruckt. Lord Bolingbroke trug nur dafür Sorge, daß es nach seinem Tode veröffentlicht werden sollte. Denn die Welt sollte wohl einmal seine Gedanken zu Gesicht bekommen, aber er selber wollte keine Unannehmlichkeiten davon haben. Lord Bolingbroke hatte einen Verstand von rascher und kühner Art. Bei allem eigenen gelehrten Wissen war er jeglicher Art von gelehrter Pedanterie und Feierlichkeit spinnefeind. Auch für vollklingendes Pathos, für alle Rhetorik in politisch-nationalen wie in Glaubensdingen war er ganz unzugänglich, so gut er selbst es auch verstanden hatte, zu reden und zu deklamieren, als er selber noch auf der höfisch-politischen Schaubühne stand. Er predigt nicht in seinen Schriften, sondern er zieht Schlüsse und baut Beweise auf, ohne unnötigen gelehrten Aufwand. Darum hatte er eine Vorliebe für die Briefform, in der es ihm erlaubt war, sich hierhin und dorthin zu wenden und nach Belieben abzubrechen wie in einer geistvollen und lebhaften Unterhaltung. Doch plaudert er in seinen Schriften nicht etwa nur so obenhin, sondern er kennt die Dinge, von denen er spricht, mögen es selbst so abgelegene und schreckhafte Dinge wie griechische und jüdische Zeitrechnung oder Urgeschichte sein. Lord Bolingbroke gehört zu dem Typus jener hervorragenden Verstandesmenschen des 18. Jahrhunderts, die sich der scholastischtheologischen und auch der barock-professoralen Gelehrsamkeit entwunden hatten und bei denen die Wissensfülle niemals zur erdrückenden Last wurde. Auf Kosten anderer Fähigkeiten der Seele war ihr
15 Intellekt zu einer beneidenswerten Verbindung von Schärfe und Beweglichkeit gelangt. Mit raschen, federnden Schritten gingen sie durch die Welt des Geistigen hin, ohne aus innerer Schwere oder durch die langsame Gewissenhaftigkeit des Fachgelehrten an ein bestimmtes Gebiet gefesselt zu werden. Es machte dem Exminister Lord Bolingbroke Freude — weil er denn nichts Besseres zu tun hatte —, die Freiheit und Selbständigkeit des eigenen Geistes zu genießen und seinen Verstand spielen zu lassen, um über Wirklichkeiten und althergebrachtes Gerede zur Klarheit zu kommen. Aber dies geschieht ohne den fanatischen Zug anderer Aufklärer. Auch der Joumalistentrieb Voltaires — dem Bolingbroke sonst in vielen Eigenschaften verwandt ist —, das Bedüi fnis, in kurzen Abständen etwas Gedrucktes in die Welt hinausflattern zu lassen und bei der Abfassung wie später bei der Veröffentlichung einen prickelnden Genuß zu empfinden, fehlt bei dem Lord. Bolingbroke machte sich nicht zum Knecht seiner Liebhaberei. Er blieb doch immer der große Herr, der nicht wollte, daß die Menge ihm über die Schulter sah. Er besaß freilich Temperament genug, um sich bei seiner Schriftstellerei recht zu ereifern und seine Klinge durch die Luft pfeifen zu lassen, um die Gegner zu treffen. Doch es fiel ihm nicht ein, sich als Arbeiter für das Reich des aufgeklärten Geistes zu fühlen oder etwa gar als Kampfgenossen deistischer Pastoren zu gebaren. So schlecht fand er die Welt denn doch nicht, daß gerade er sich anstrengen sollte, sie ernstlich zu verbessern. Er machte seine Feststellungen über sie, und damit gut. Sein eigenes Leben sollte durch deren Konsequenzen nicht gestört werden. 1754, drei Jahre nach dem Tode dieses Mannes, kamen in 5 Bänden seine nachgelassenen Schriften endlich auf den Markt. Für das literarische London bedeutete dies natürlich ein Ereignis allerersten Ranges. Schriften zur Politik und Geschichte waren schon in den vorausgehenden Jahren, teilweise schon zu Bolingbrokes Lebzeiten erschienen. Die neuen Bände brachten das Bedenklichste, seine Anschauungen über Religion und Philosophie. Schon das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes stachelte das Interesse und die Neugier des Lesers genügend an: »Über das Wesen, den Umfang und die Realität des menschlichen Wissens. — Gedanken über die Narrheit und Einbildung der Philosophen, besonders in Fragen der philosophischen Grundlagen. — Über die Entstehung ihrer prahlerischen Wissenschaft. — Die Ausbreitung von Irrtum und Aberglauben. —
16 Teilweise Versuche, die Mißbräuche der menschlichen Vernunft zu reformieren.« Die Enttäuschung in den Kreisen der altgläubigen Tories, die in Bolingbroke einen der Ihrigen gesehen hatten, war bitter und für die Betrachter komisch1). Die Deisten empfanden ein stilles Behagen. Begreiflicherweise entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über die Sätze des verstorbenen Lords. Doch auch dieser schien immer noch etwas im Rückhalt zu haben. Im Jahre 1756 erschien eine Abhandlung: »Rechtfertigung der natürlichen Gesellschaft, oder Überblick über das Elend und Übel, das aus jeder Art von künstlicher Gesellschaft für die Menschheit entsteht. — Brief an Lord . . von einem verstorbenen vornehmen Schriftsteller.« Dies konnte natürlich kein anderer sein als Bolingbroke. Auch der Stil bestätigte dies. Die fünf Bände der »Philosophischen Werke« Bolingbrokes hatten die Grundlagen der Religion analysiert. Die neue Schrift gab in entsprechender Weise eine kritische Wertung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft. Diese wurde mit dem ursprünglichen Zustand der Menschheit verglichen, einer lediglich in Familien gegliederten »natürlichen Gesellschaft«, die noch ohne Gesetze und künstliche Bestimmungen und Bindungen lebte. Das Ergebnis des Vergleichs ist durchaus negativ. Die Schrift erörtert die Beziehungen der Staaten untereinander, d. h. die Menschenschlächterei der endlosen Kriege, angefangen von den ersten Eroberern des grauen Altertums, Sesostris und Semiramis. Sie redet von der Sinnlosigkeit des nationalen Hochmuts, des Hasses und der Verachtung von Angehörigen anderer Nationen. Es folgt die Kritik der drei Verfassungsformen — Despotismus, Aristokratie und Demokratie — und ihrer notwendigen Übelstände. Die athenische Demokratie sei nur eine Art »zusammengesetzter Nero«, Florenz ganz und gar Abbild von Athen und auch Roms innere Politik sei wenig besser gewesen. Wie steht es jedoch mit der aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemischten Verfassung? Dies ist ein gefährlicher Punkt in der Erörterung, wie der Verfasser selbst zugibt. Die gemischte Verfassungsform war ja das große Dogma und der Stolz des damaligen England. Aber auch hier gelangt die prüfende Betrachtung zu einem verwerfenden Urteil. Eine so komplizierte Maschine, wie eine gemischte Verfassung sie darstelle, sei fortwährenden Hemmungen und Reibungen ausgesetzt; *) Horace Walpole, Brief an Horace Mann, 1. Dezember 1754.
17 dazu kommen die einander widerstreitenden Prinzipien der drei sie zusammensetzenden Faktoren: König, Adel und Volk. Weiterhin vor allem der das Ganze vergiftende Parteigeist. Es bleibt noch die Gegenfrage: Worin bestehen die V o r z ü g e der »politischen Gesellschaft« vor dem ursprünglichen »natürlichen Zustand«, welche die geschilderten Schäden aufwiegen, und wer genießt diese Vorzüge? Die Armen gewiß nicht. Neun Zehntel der Menschheit müssen sich ja durch das Leben quälen. Man sehe nur einmal das Elend der englischen Bergwerksarbeiter an — mehr als 100 ooo Menschen —, die in den Tiefen der Erde begraben sind und in den giftigen Dämpfen ihre Gesundheit und ihre Lebensjahre hingeben, ohne die geringste Aussicht, ihre wirtschaftliche Lage dadurch jemals verbessern zu können. Der kleine Rest, dem die Arbeit der überwiegenden Mehrheit der Menschen allein zugute kommt, die Reichen, haben vom Leben ebenfalls längst nicht soviel Genuß, wie man glaubt. Soweit sie nicht nur reich, sondern zugleich auch Träger der Macht im Staate sind, hält sie die Unruhe und beständige Erregung des politischen Lebens und der Hofintrigen dauernd in Atem und die Macht verdirbt ihren Charakter. Den reichen Privatleuten nimmt das Wohlleben die körperliche und geistige Spannkraft und ihre Lebenstriebe sinken zu dem Bedüifnis nach einem bloß bequemen, untätigen Fortexistieren herab. Der letzte Posten, den man zugunsten der politischen, künstlichen Gesellschaft buchen könne, nämlich die geistige Kultur, wiegt die Summe von Elend und Nichtigkeiten auf der anderen Seite nicht auf. Der Eigenwert der Kultur sei überhaupt noch nicht nachgewiesen. Man schließe immer in einem Kreis: die schönen Künste sind notwendig für die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Gesellschaft notwendig zur Existenz dieser Künste. Die Ursache, daß wir in das Elend der politischen Gesellschaft geraten sind, in der die Vielen immer das Eigentum der Wenigen sind, ist die Mißachtung der dem Menschen von der Vorsehung verliehenen Kraft, nämlich der »natürlichen Vernunft«. Statt deren »kühlem Licht« zu folgen, haben die Menschen den Nacken unter das Joch der politischen wie der theologischen Sklaverei gebeugt. Der Kampf gegen den Leviathan der Staatsgewalt, diese monströse Masse von absurden Vorurteilen und verwerflichen Bräuchen, sei eine viel wichtigere Sache, als die, Kniffe einer kleinen Schar von ehrgeizigen und wahnwitzigen Priestern aufzudecken. »Wir leiden unter einer tödlichen L e n n o x , Edmund Burk«.
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18 Auszehrung und bemühen uns dabei nur, einen wunden Finger zu kurieren.« So der Gedankengang der Schrift. Das Publikum las sie mit Interesse, doch ohne sich weiter sonderlich aufzuregen. Denn man wußte ja nun seit beinahe zwei Jahren, daß Lord Bolingbroke andere Ansichten gehegt hatte als man früher meinte. So nahm man jetzt diese Thesen über Staat und Gesellschaft ohne Überraschung hin. Die Schrift stammte aber gar nicht von Bolingbroke. Langsam sickerte in den literarischen Kreisen durch, daß der junge Burke sie unter Bolingbrokes Maske verfaßt hatte. Burke konnte sich freuen, daß ihm das literarisch-stilistische Experiment so gut gelungen war. Er hatte ja nicht nur die große Öffentlichkeit, sondern auch nahe Bekannte Bolingbrokes und Kenner seiner Gedankenwelt und seines Stils getäuscht. Aber Burkes eigentlicher Plan war durchaus fehlgeschlagen. Die stilistische Nachahmung war ihm nämlich nur Mittel zum Zweck gewesen. Er wollte Bolingbroke mit seinen eigenen Waffen überwinden und an einem überzeugenden Beispiel erweisen, wohin die wahllose Anwendung solcher Gedankenspielereien — als dies erschienen ihm die Argumentationen Lord Bolingbrokes und seiner Geistesverwandten — führen würde: nämlich zu einer Auflösung von Staat und Gesellschaft und aller Grundlagen des Lebens. Alle Erörterungen der Schrift waren von ihm ironisch gemeint. Der Leser sollte denken: »Ach, welch alberne Spitzfindigkeiten!« Freilich begegnete es Burke, daß die Argumentationen seines Bolingbroke oft ernsthafter herauskommen, als er beabsichtigt, und viel von seinen, Burkes, wahren Überzeugungen mit hineinfließt. Es liegt nahe, die Frage aufzuwerfen, ob nicht vielleicht die ganze Schrift als eine positive Nachahmung Bolingbrokes begonnen worden ist und Burke erst nachträglich zum Gegner und Satiriker dieser Lehren sich gewandelt hatte. Daran darf man aber nicht denken. Hätte Burke jemals an dem rationalistischen Sezieren der Grundlagen des staatlichen und politischen Lebens ein positives Gefallen gefunden und sich in diese Denkweise selber eingelebt, so hätte er bei einer späteren Abwendung und Sinnesänderung die Satire viel deutlicher und auffälliger gestaltet. So wie die Schrift vorliegt, ist aber die satirische Absicht kaum zu merken, es sei denn in den Sätzen, welche von dem Elend der Reichen handeln; die Deklamation wird da allzu hohl und oberflächlich, als daß man sie ernst nehmen könnte. Nein, Burke stand der rationalistischen Art,
19 die Grundlagen bestehender Institutionen zu zergliedern und zu kritisieren, von vornherein iremd und feindlich gegenüber. Bei seiner inneren Ablehnung war er von einer naiven Selbstsicherheit und Überzeugtheit erfüllt, so daß er als gewiß annahm, das Publikum weide über die Folgen Bolingbrokescher Denkweise (wie er sie in seiner Imitation vorlegte), ebenso ehrlich entrüstet sein wie er selbst und werde künftig von dem ganzen Aufklärertum nichts mehr wissen wollen. In dieser Hoffnung täuschte sich Burke, wie gesagt, durchaus. Als er die Schrift im Jahre 1765 zum zweiten Male herausgab, fügte er darum ein erklärendes Vorwort hinzu, in dem er sich als den Verfasser bekannte und seinen eigenen Standpunkt auseinandersetzte, damit nicht etwa die Leute, die von seiner Autorschaft wußten, ihm selber die Ansichten zuschrieben, welche die Schrift vortrug. In diesem Vorwort von 1765 ist schon der ganze Burke der folgenden Jahrzehnte im Keim enthalten. Er wendet sich gegen die spielerische Gedankenspekulation im allgemeinen. Was ist damit gewonnen, meint er, wenn man beweisen will, der Mensch sei nicht besser wie ein Tier, Gut und Böse werde in diesem oder einem künftigen Leben nicht entsprechend belohnt und bestraft, und Gott sei weder gerecht noch gut ? Dies sei ein Mißbrauch der menschlichen Vernunft. Man könne dies nicht besser beweisen als durch die Anwendung der Bolingbrokeschen Methode auf die staatsphilosophischen Probleme. Wenn der Mensch seine schwache Vernunft als Maßstab verwenden wolle, um alle Dinge zu beurteilen, die von einer höheren Macht und höheren Vernunft geschaffen seien, dann könne er freilich vieles kritisch zerfasern. Doch was für eine Methode sei dies! Der erste Schritt zu einer wirklichen Erforschung der großen Weltprobleme bestehe darin, sich der Grenzen der eigenen Fassungskraft bewußt zu sein. Wenige Jahre vor Burkes »Vindication of Natural Society« hatte Rousseau seine Bearbeitung der Preisfrage der Akademie von Dijon veröffentlicht und ihr kurz daraul seinen zweiten Traktat über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen folgen lassen. Eine Gesellschaft, welche auf nichts so stolz war wie auf das Bewußtsein, auf den Höhen des Geistes und Geschmackes stetig weiter emporzuschreiten, bekam plötzlich zu hören, welche Kluft der Verderbnis sie von der ursprünglichen reinen, hohen Natur trenne. Voll Neugier drängte sie sich um den Verkünder solch sonderbarer Lehren. Mit einer erstaunlichen Schnelligkeit wurde Rousseau zur europäischen 2*
20 Berühmtheit. Seine beiden Schriften berühren sich mit dem Thema von Burkes satirischem Versuch so nahe, daß man sich fragen muß: Hat Burke sie gekannt, als er seine »Vindication of Natural Society« verfaßte ? Ein zwingender Beweis für das Gegenteil ist nicht zu führen, doch ist nicht wahrscheinlich, daß sie ihm schon 1756 bekannt waren, denn es ist nicht anzunehmen, daß sich Burke daran machte, durch eine satirische Anwendimg der spekulativen Methode auf das Problem »Staat und Gesellschaft« deren Gefährlichkeit und Haltlosigkeit nachzuweisen, wenn er Rousseaus Arbeit bereits gelesen hatte. War doch von diesem die gleiche Methode auf eben dasselbe Problem in vollem E r n s t angewendet worden, und zwar um nichts weniger radikal wie in Burkes Schrift, welche der Verfasser doch selbst schon als eine übertreibende S a t i r e betrachtete. Auch hätte Burke schwerlich die Schilderung des Naturzustandes und die Frage, wie die bürgerliche Gesellschaft und die geistige Kultur zusammenhängen, mit so wenigen mageren Sätzen abtun können, wenn er Rousseau vorher gelesen hatte, der gerade diese Fragen in den Mittelpunkt seiner Erörterung stellt. Aber wenige Jahre später kannte Burke die Anfangsschriften Rousseaus sicher; 1760 nämlich, in einer Rezension von Rousseaus »Brief über das Theater«, lehnte er dessen frühere Schriften ausdrücklich ab. Er mißbilligte ihre Neigimg zum Paradoxen und ihre Vorliebe für eine bis zur Misanthropie gesteigerte starre Tugendhaftigkeit. Eine Satire auf die bürgerliche Gesellschaft zu schreiben, sei ein ganz geistreicher Sport. Doch wenn man es zu weit treibe, erschüttere man die Anschauungen über Recht und Unrecht und am Ende ergebe sich lediglich ein allgemeiner Skeptizismus. Ein gewisses Mittelmaß sollte nach Burkes Meinung die Gedankenarbeit und Spekulation eben nie überschreiten, und die Menschen durften auch nur bis zu einer gewissen Grenze geistreich sein. Diese Grenze war ihm durch die Gnindsätze von Recht und Moral gegeben, welche ihm inhaltlich feststanden und für ihn der Diskussion und Untersuchung nicht bedurften 1 ). 1
) Ich gebe die Stelle im Wortlaut, da sie schwer zugänglich und sowohl für Burkes Anschauungen wie als Zeichen der europäischen Berühmtheit Rousseaus (schon vor dem Erscheinen von dessen eigentlichen Hauptschriften) wichtig ist. Annual Register for the Year 1759, London 1760, Seite 479ff.: "None of the present writers have a greater share of talents and learning than
21 Seine beiden Arbeiten von 1 7 5 6 hatten Burke in der Londoner literarischen Welt einen guten Ruf verschafft. In diesem Kreise bewegte er sich mit großem Wohlgefallen. Ein kluger Beobachter hatte damals (1761) folgenden Eindruck von ihm: »Er ist ein vernünftiger Mensch, hat aber sein Literatentum noch nicht abgelegt und meint, es gebe nichts so Entzückendes wie Schriftsteller und selber einer zu sein. Bald wird er zu einer besseren Erkenntnis kommen«1). Burke war diesem Ziele schon näher, als sein Beurteiler wußte. E r war von der Schriftstellerlaufbahn schon seit einiger Zeit stark abgerückt. 2.
Burkes Übergang vom Autorentum zur praktischen Politik vollzog sich allmählich während der Jahre 1 7 5 7 bis 1765. In dieser Zeit erwarb er sich die Schulung für das Parlament, das sich ihm durch eine Gunst des Zufalls auftat, als er 37 Jahre alt geworden war. Von da an kann man seine eigentlichen Mannesjahre rechnen. Sein Leben hatte feste Form gefunden und seine Arbeit ihren bestimmten regelmäßigen Umkreis und gleichartigen Charakter durch drei Jahrzehnte hindurch. Demgegenüber tragen die Jahre vor 1765 noch den Rousseau; yet it has been his misfortune and that of the world, that those of his works which have made the greatest noise and acquired to their author the highest reputation, have been of little real use or emolument to mankind. A tendency to paradox, which is always the bane of solid learning, and threatens now to destroy it, a splenetic disposition carried to misanthropy, and an austere virtue pursued to an unsociable fierceness, have prevented a good deal of the effects which might be expected from such a genius. A satire upon civilized society, a satire upon learning, may make a tolerable sport for an ingenious fancy, but if carried farther, it can do no more (and that in such a way is surely too much) than to unsettle our notions of right and wrong, and lead by degrees to universal scepticism. His having before attempted' two such subjects, must make his attack upon the stage far less formidable than otherwise it would have been. This last subject has been often discussed before him; more good pieces have been written against the stage than in its favour; but this is by far the most ingenious, spirited and philosophical performance that ever appeared on theatrical entertainments. The author has placed the matter in a light almost wholly n e w . . . . " Horace Walpole, Letters ed. Cunningham III, S. 420, July 22 th 1761: " . . . there were Garrick and a young Mr. Burke, who wrote a book in the style of Lord Bolingbroke, that was much admired. He is a sensible man, but has not worn off his authorism yet, and thinks that there is nothing so charming as writers and to be one. He will know better one of these days."
22 Stempel des Suchenden und Unbestimmten — wenigstens was das Äußere des Lebens anging. Als er im Winter 1756/57 heiratete — seine Ehe wurde eine sehr glückliche —, waren seine Zukunftsaussichten noch keineswegs geklärt. Allerlei Pläne, die sich miteinander nicht vertrugen, beschäftigten ihn. Nach seiner Weise trieb er sich bald in London, bald auf dem Lande herum, sah auch nach Frankreich hinüber und hegte eine Weile die Absicht, nach Amerika auszuwandern1). Dann machte er vergeblich den Versuch, von Pitt durch Empfehlung eines Mittelsmannes den freigewordenen Posten eines englischen Konsuls in Madrid zu erlangen2). Im Jahre 1759 verfiel er, zusammen mit dem Verleger Dodsley, einem der großen, unternehmenden Buchhändler der Zeit, auf den Plan, eine neue Zeitschrift herauszugeben. Burke lud sich damit eine Arbeit auf, die, äußerlich betrachtet, mehr als undankbar war. Das neue Unternehmen wollte von anderer Art sein als die bürgerlichliterarischen Zeitschriften, die in der Zeit der Königin Anna aufgekommen waren und deren berühmteste Addisons und Steeles »Spectator« ist. Noch vor kurzem hatte Johnson in seinem »Rambler« und seinem »Idler« diese Gattung des unterhaltenden und erziehenden bürgerlichen Wochenblattes zu erneuern versucht. Burkes neue Gründung sollte den politischen Interessen des lesenden Publikums Rechnung tragen, ohne doch ein bloßes Partei- und Kampforgan zu sein. Sie hieß »Annual Register, or a view of the history, politicks and literature..« und erschien in der Form eines Jahrbuches. Das quantitative Maß des Gebotenen entspricht jedoch ungefähr dem eines Jahrgangs unserer Monatsschriften. Um äußere Unhandlichkeit zu vermeiden, wurde zweispaltig und mit sehr kleinen Lettern, aber auf gutem Papier gedruckt. Der Band umfaßt etwa 500 Seiten. Das Schema der Einteilimg ist folgendes: Zuerst wird in historisch berichtender Form eine Jahresübersicht über die englischen und die auswärtigen politischen und kriegerischen Vorgänge gegeben. Es folgt die »Chronik«, d. h. ein Sammelsurium zeitlich geordneter interessanter Zeitungsnotizen. Hier kann man durcheinander von einzelnen politischen Ereignissen lesen, von Todes- und Unglücksfällen, von stark besuchten Märkten und von Ochsen und Schweinen von erstaun-
J
Borke, Korr. I. S. 32 (1757). ) Chatham, Korr. I, S. 43off. (1759).
23 lichem Gewicht. Sehr viel wichtiger ist der folgende Abschnitt, der die wichtigsten Staatsurkunden des Jahres im Wortlaut gibt. An erster Stelle stehen natürlich die englischen Dokumente, in der Regel mit der Thronrede und der Antwortadresse der beiden Häuser des Parlaments beginnend. Doch auch französische und sonstige Staatsakten, Friedens- und Bündnisverträge, manchmal auch ein Übersichtsplan über den englischen Staatshaushalt für das betreffende Jahr, erscheinen hier. Zum ersten Male war damit dem englischen Publikum ein Mittel in die Hand gegeben, sich eine verlässige Kenntnis dessen, was in der Politik des Inlands und Auslands vorfiel, zu erwerben. Die zweite Hälfte des Bandes bringt populärwissenschaftliche Aufsätze, Reiseberichte, Auszüge aus interessanten Schriften. Auch eine Blütenlese von Gedichten fehlt nicht, die freilich unter dem übrigen Inhalt des Bandes ein etwas verlassenes Dasein führen. Den Beschluß bildet die Besprechung von etwa fünf bis sechs in dem betreffenden Jahr erschienenen Büchern, mit Textproben. Burke hat es verstanden, in der kleinen Auswahl sowohl bei der wissenschaftlichen wie der schönen Literatur wirklich das Bedeutende zu treffen. Man findet hier Adam Smiths großes nationalökonomisches Werk ebenso besprochen wie den Ossian und Sternes »Tristram Shandy«. Die Bedeutung des »Annual Register« liegt aber doch vor allem in seinem politisch-historischen Teil. Es gehört zu den Ahnen all der Staatskalender, historisch-politischen Jahresübersichten und statistisch-politischen Jahrbücher, die im Laufe des folgenden Jahrhunderts in allen großen europäischen Ländern auf der Bildfläche erschienen sind. Burke hatte das Bedürfnis des englischen Publikums nach einem solchen Hilfsmittel richtig erkannt. Für den Verleger wurde das Unternehmen eine glänzende Spekulation, da einzelne Bände in zweiter, ja dritter Auflage erscheinen mußten. Burke bezog für die gewaltige Arbeitslast, welche die Fertigstellung des »Annual Register« jedes Jahr bedeutete, jeweils die lächerlich geringe Summe von ioo Pfund. Sein Name erschien in dem Unternehmen offiziell nie, obwohl er es eine Reihe von Jahren ganz allein herausgab. Auch als er sich mit Mitarbeitern in die Aufgabe teilte, behielt er doch den wichtigsten und schwierigsten Teil, die Abfassung des politischen Jahresberichts noch lange bei. Manch ein anderer hätte schon daran genügend Arbeit für das ganze Jahr gefunden. Für Burke war es
24 nur eine Nebenbeschäftigung, welche neben seiner angestrengten und zeitraubenden Tätigkeit im Parlament herging. Diese ständige Arbeit für das »Annual Register« war es, welche dem politischen Wissen Burkes seine erstaunliche Spannweite verlieh. Burkc hatte im Jahre 1759 noch eine weitere Tätigkeit übernommen. Er wurde Privatsekretär des Parlamentsmitgliedes William Gerard Hamilton und ist es sechs Jahre lang gebheben. Hamilton gehörte seiner politischen Begabung nach dem guten Durchschnitt an. In einer Unterhausdebatte ein paar Jahre zuvor war er kometenartig hervorgetreten und hatte dadurch große Erwartungen erweckt, die er später nicht erfüllte. Dies trug ihm den Spitznamen »Singlespeech« ein. Die Annahme der Stellung bei Hamilton war nicht ohne Gefahren für Burke, der über einen solchen Hilfs- und Anfängerposten seinem Alter nach jetzt schon hinaus war. Selbstverständlich erwarb er in der praktischen Politik und der Verwaltung des Landes durch seine Tätigkeit bei Hamilton wertvolle Kenntnisse, besonders nachdem dieser Sekretär 'des Vizekönigs in Dublin, d. h. eigentlicher Chef der irischen Verwaltung geworden war. Aber schließlich brach der typische Konflikt zwischen den beiden doch aus. Burke wollte sich einen bestimmten Bruchteil seiner Zeit für seine literarische Tätigkeit sichern, die er noch immer als sein eigentliches und wichtigstes Mittel ansah, vorwärtszukommen. Hamilton wollte ihn ganz an seinen Dienst binden. Burke wollte mit der Gegenwart nicht auch zugleich seine Zukunft verkaufen. So endete das Verhältnis in unerquicklicher Weise. Im Frühjahre 1765 brach Burke seine Beziehungen zu Hamilton ab und verzichtete dabei auf ein irisches Jahrgeld, welches ihm dieser verschafft hatte. Wenige Monate später trat in seinem Leben die entscheidende Wendung ein. Sein Vetter William Burke, mit dem er (wie auch mit seinem Bruder Richard) in diesen Jahren eine Art von Kompanieexistenz führte und der sich durch Betriebsamkeit und politisches Maklergeschick hervortat, — dieser Vetter veranlaßte den derzeitigen Premierminister Lord Rockingham dazu, Edmund Burke zu seinem Privatsekretär zu machen. Von da an war Burke in Glück und Un glück mit Rockingham und dessen Parteigenossen verbunden. Die Zeit des Glückes ging rasch zu Ende. Rockingham hielt sich nur wenig über ein Jahr auf seinem Ministerposten. Vom Sommer 1766 ab stand seine Partei volle sechzehn Jahre ohne Unterbrechung in der Opposition.
25 Im Winter 1765/66 hatte Lord Rockingham seinem neuen Helfer und Parteigenossen einen Sitz im Unterhaus verschafft. Seit langer Zeit schon hatte Burke als Zuschauer von der Galerie die Parteien und die Gepflogenheiten des Hauses studiert. Wenige Wochen nach seinem Eintritt als Mitglied hielt er in einer Debatte über die amerikanischen Kolonien seine erste Parlamentsrede. Es war nicht — wie zumeist sonst bei Erstlingsreden in dieser Zeit — das eingelernte Gestümper halber Schuljungen, sondern die Leistung eines fertigen, im Vollbesitz seiner Kräfte stehenden Mannes, der jetzt mit einem wohlüberlegten Programm in der politischen Öffentlichkeit seine Stellung nahm. Die Lehrzeit war zu Ende. Fassen wir nunmehr das Tätigkeitsfeld ins Auge, das Burke sich erwählt hatte. Erst auf diesem Hintergrund kann seine Persönlichkeit und die Richtung seines Wollens deutlich werden.
Zweites Kapitel.
Die englische politische Weit um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts und die Eie« mente des Neuen in der Zeit Georgs III. i. Zwei Jahrhunderte lang ist England von dem übrigen Europa als ein politisches Idealland angestaunt und gepriesen worden, doch in merklich verschiedener Weise: Im 19. Jahrhundert stand England im Mittelpunkt der europäischen Welt als Hort und Verkörperung der liberalen Ideen, welche dem ganzen Zeitalter das Gepräge gaben. Im 18. Jahrhundert war die Begeisterung für das englische Staatswesen vielleicht noch leidenschaftlicher, das Lob noch lauter und widerspruchsloser, aber die Einstellung war dabei eine andere. England stand nicht im Brennpunkt der europäischen Welt, sondern lag wie eine Art von Märchenland an deren Rande. Alles schien dort anders zu sein wie auf dem Kontinent mit seinen großen und kleinen Despotien, seinen gedrillten Söldnerarmeen, seiner Willkür in Justiz und Verwaltung, und alles besser. Ein jeder, der sich von den heimischen Verhältnissen bedrückt fühlte und in ihnen zu verkommen drohte, blickte sehnsüchtig oder resigniert nach diesem freien Lande hinüber. Das »Land der Freiheit« nannte England sich selbst, und der Kontinent stimmte dem nachdrücklichst zu. »Das freieste Volk unter dem Himmel« heißen die Engländer bei Schiller in »Kabale und Liebe«, und ähnliche Wendungen und Gedanken lassen sich bis in die Operntexte des Zeitalters hinein verfolgen. Selbst ein souveräner Geist wie Voltaire hemmt seine sonst nichts verschonende Spottlust, wenn er von dem englischen Staatswesen spricht. In einer der vielen Erzählungen, in welchen Voltaire seine Weltauffassung mit einer harmlos-liebenswürdigen Miene zu verbreiten wußte, der »Prinzessin von Babylon«, reist die Heldin, die schöne
27 Formosante, Tochtcr des großen Königs Belus von Babylon, durch alle zivilisierten Länder, um den zugehörigen Helden, den wunderbaren indischen Jüngling Amasan wieder aufzufinden. Endlich trifft sie ihn, unglücklicherweise genau in dem Augenblicke, wo er ihr zum ersten Male untreu wurde, und eilt entrüstet wieder davon. Nun muß er ihr seinerseits nachreisen, um sie wiederzugewinnen, durch die ganze Reihe der Länder, welche von der Erzählung noch nicht »verbraucht« sind. Jedes dieser Länder erhält nämlich in dieser als Märchen aufgeputzten Satire im Vorbeigehen eine Beurteilung. Die ganze Geschichte dient nur als Vehikel für diese. Uber die Geschichte und Zustände Englands wird Amasan bei seinem dortigen Aufenthalt von einem Parlamentsmitglied in folgender Weise unterrichtet: »Wir sind lange ganz nackt einhergegangen, obwohl das Klima nicht warm ist. Wir sind lange von Menschen, die aus dem alten, vom Wasser des Tiber bespülten Lande Saturns kamen, wie Sklaven behandelt worden. Aber wir haben uns selber viel mehr Übel zugefügt, als wir von unseren ersten Besiegern zu ertragen hatten. Einer unserer Könige hat die Niedrigkeit so weit getrieben, daß er sich zum Untertan eines Priesters erklärte, der auch an den Ufern des Tiber wohnte und der Alte von den sieben Bergen hieß. Es ist lange die Bestimmung dieser sieben Berge gewesen, über einen großen Teil Europas zu herrschen, welches damals von Tölpeln bewohnt war. Nach dieser Zeit der Erniedrigung sind Jahrhunderte der Wildheit und Anarchie gekommen. Unser Land, das stürmischer ist als die Meere, welche es umgeben, ist durch unsere Zwistigkeiten ausgeraubt und mit Blut getränkt worden; mehrere gekrönte Häupter sind durch Todesstrafe umgekommen; mehr als hundert Prinzen aus königlichem Geblüt haben ihre Tage auf dem Schafott beschlossen. Dem Henker käme es zu, die Geschichte unserer Insel zu schreiben, da er es war, der alle großen Ereignisse beendet hat. Es ist noch nicht lange her, seit — der Gipfel des Grausigen — einige Leute, die einen schwarzen Mantel trugen, und andere, die über ihren Jacken ein weißes Hemd gezogen hatten, und die von tollen Hunden gebissen waren, das ganze Volk mit ihrer Tollwut ansteckten. Alle Bürger wurden entweder Mörder oder Abgeschlachtete, Henker oder Hingerichtete, Verwüster oder Sklaven, und dies im Namen des Himmels und auf der Suche nach dem Heiland.
28 Wer möchte es glauben, daß aus diesem schauderhaften Abgrund, aus diesem Chaos von Zwietracht, Greueltaten, Unwissenheit und Fanatismus, am Ende das vollkommenste Staatswesen hervorgegangen ist, das es jetzt vielleicht in der Welt gibt ? Ein reicher und geehrter König, allmächtig um Gutes, ohnmächtig um Böses zu tun, steht an der Spitze eines freien, kriegerischen, handeltreibenden und aufgeklärten Volkes. Die Großen einerseits und die Vertreter der Städte andererseits teilen mit dem Herrscher das Recht der Gesetzgebung. Ein seltsames Geschick ließ die Erfahrung machen, daß immer Unordnung, Bürgerkriege, Anarchie und Armut dann das Land verwüsteten, wenn die Könige nach der unumschränkten Gewalt strebten; und Ruhe, Reichtum, allgemeines Glück herrschten nur dann bei uns, wenn die Könige erkannten, daß sie nicht absolut waren. Alles wurde entwurzelt, wenn man über unerkennbare Dinge stritt. Alles ging seinen ordentlichen Gang, wenn man sich nicht um sie kümmerte. Unsere siegreichen Flotten tragen unseren Ruhm über alle Meere und die Gesetze stellen unseren Besitz sicher. Kein Richter kann sie willkürlich auslegen. Niemals erläßt man einen Haftbefehl ohne Begründung. Richter, die einen Bürger hinrichten ließen, ohne die Zeugnisse zu veröffentlichen, welche ihn anklagen, und das Gesetz, das ihn verdammt, würden wir wie Mörder bestrafen. Es ist wahr, daß es bei uns zwei Parteien gibt, welche sich mit der Feder und mit Intrigen bekämpfen. Aber sie vereinigen sich auch stets, wenn es sich darum handelt, die Waffen zur Verteidigung des Vaterlandes und der Freiheit zu ergreifen. Beide Parteien überwachen einander. Sie hindern sich gegenseitig, den heiligen Schutz der Gesetze zu verletzen. Sie hassen sich, aber den Staat lieben sie. Es sind zwei eifersüchtige Liebhaber, welche um die Wette derselben Herrin dienen. In dem gleichen Geist, der uns die Rechte der menschlichen Natur erkennen und aufrecht erhalten ließ, haben wir auch die Wissenschaften bis zu dem höchsten Punkt emporgehoben, welchen sie bei den Menschen überhaupt erreichen können. Die Ägypter, die für so große Mechaniker gelten, die Indier, die man für so große Philosophen hält, die Babylonier, welche prahlen, seit 430000 Jahren die Sterne beobachtet zu haben, die Griechen, welche so viele Phrasen und so wenig Gründliches geschrieben haben, wissen geradezu nichts im Vergleich mit unseren kleinsten Schulkindern, welche die Entdeckungen
29 unserer großen Meister studiert haben. Wir haben der Natur im Laufe von 100 Jahren mehr Geheimnisse entrissen, als das ganze Menschengeschlecht vorher im Laufe vieler Jahrhunderte entdeckt hatte. Dies ist der Zustand, in dem wir leben. Ich habe Ihnen weder die guten noch die schlechten Seiten verhehlt, weder unseren Schimpf noch unseren Ruhm, und ich habe nichts übertrieben1).« In diesem kleinen Vortrag, der dem liebenswürdigen Wunderprinzen Amasan beim Tee auf einem englischen Landsitz gehalten wird, spielt Voltaire eine Fülle seiner staats- und geschichtsphilosophischen Ansichten aus, — nicht nur in den einzelnen Sätzen über Papst, Mittelalter und Puritanerkriege, sondern mehr noch in dem Tonfall des Ganzen. Doch dies beschäftigt uns hier nicht weiter. Ich führe die Stelle vielmehr darum an, weil sie in einem hübschen, abgerundeten Bilde zeigt, was der Kontinent an England eigentlich zu bewundern fand, ehe durch Burkes Schriften gegen die französische Revolution der konservative und irrationale Geist des englischen Staatswesens betont und als das eigentlich Bewundernswerte hingestellt wurde. Das freie, ideale England, wie es der Höhezeit der Aufklärung erschien, trug die Farben Lockes und Newtons. Dieses England für Europa entdeckt zu haben, war Voltaires folgenreiche Tat. Niemand verstand es so trefflich wie er, seine Überzeugungen und Entdeckungen wieder und wieder der Öffentlichkeit aufzutischen. Fast gleichzeitig mit Voltaire weilte Montesquieu in England. Er arbeitete schwerer und brauchte länger. Aber er hat seine Eindrücke mit viel tieferen Begründungen formuliert und darum die grundsätzhchen Anschauungen seiner Zeit und der Nachwelt über Charakter und Aufbau des englischen Staatswesens ungleich nachhaltiger bestimmt. Voltaires Aussagen beeinflußten nur den Kontinent, Montesquieu wirkte auf die Ansichten der Engländer selbst wieder zurück. Sie übernahmen sein Urteil über ihren Staat mit großer Befriedigung und gerieten dabei stark in den Bann seiner Lehre von der Trennung der drei Gewalten, welche er in der englischen Verfassung verwirklicht fand. Ohnehin stammte ja Montesquieus Theorie und die englische Tradition aus der gleichen ursprünglichen Quelle, nämlich der Staatslehre Lockes, die im Staate eine gesetzgebende, föderative und ausführende Gewalt geschieden hatte und als Staatszweck den Schutz der Rechte des Individuums bezeichnete. ') Voltaire, L a princesse de Babylone (1768), Abschnitt 8.
30 Lockes Staatstheorie bestimmte England das ganze 18. Jahrhundert hindurch, aber doch nur in dem Sinne, daß sie die allgemeinen Leitsätze für die Auffassung des englischen Staatswesens gab. Um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts hatte Daniel Defoe die Arbeit geleistet, die Grundsätze Lockes volkstümlich zu machen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Seitdem lebten sie in hunderterlei Veränderungen und Abschwächungen, vermischt mit allen möglichen Gefühlsverbindungen im englischen Volke fort. Es ist der typische Vorgang. Grundsätzliche Gedankenarbeit über Staat und Gesellschaft kann erst dann wirksam werden, wenn sich ihre Thesen über die Masse des Volkes hin verbreitet, d. h. wenn sie sich verdünnt und verflüchtigt haben. So geht es mit den Ideen von Marx noch heute, so ging es mit denen Montesquieus und Rousseaus in der französischen Revolution. In einem gleichen Aggregatzustand wurden auch Lockes Gedanken bestimmend für die englisch-amerikanische Welt. Wieviel von dem theoretischen Unterbau, den Locke dem englischen Staat geschaffen hatte, den Engländern um die Mitte des 18. Jahrhunderts einigermaßen vertraut war, ist aus einer Szene von Smolletts Roman »Roderick Random« (1748) zu ersehen. Der Held der Geschichte gerät mit einem Franzosen in einen Streit über Gottesgnadentum, Absolutismus und dergleichen und führt dabei all die Argumente an, »welche üblicherweise verwendet werden, um zu beweisen, daß jeder Mensch ein natürliches Recht auf Freiheit hat; daß Untertanengehorsam und Schutz von seiten des Herrschers (allegiance und protection) im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen; daß der König, wenn das Band durch seine Tyrannei gebrochen sei, dem Volk für seinen Vertragsbruch verantwortlich und der Bestrafung durch das Gesetz unterworfen ist, und daß die Aufstände der Engländer, welche die Sklaven der absoluten Monarchie mit dem Namen »Rebellion« brandmarken wollen, nichts anderes sind als ruhmreiche Mannhaftigkeit, wodurch die Unabhängigkeit (ihr angeborenes Recht) aus den räuberischen Klauen eines übergreifenden Machtgelüstes (usurping ambition) gerettet wurde«1). Gegen die monarchische Doktrin wußte man sich wohl zu wehren, wenn auch manchmal Freiheit und englisches Roastbeef, Despotismus und die französischen Wassersuppen, die man drüben in Calais bekam, selt*) Smollett, Roderick Random, chap. 43.
31 same Begriffsverbindungen eingingen. Sehr viel blasser und unklarer waren jedoch die Meinungen über das Positive, nämlich über den eigentlichen Inhalt und Umfang der »angeborenen Freiheitsrechte«, von denen man so viel sprach. In der Literatur der Jahrhundertmitte kehrt öfter die Bemerkung wieder, daß die Engländer immer sehr rasch bereit seien, ihre Freiheiten zu betonen und ein Lob auf sie anzustimmen, sie jedoch genau zu nennen, fiele ihnen sehr viel schwerer. Die Wendung »englische Freiheit« war eben seit langem zu einem der großen nationalen Worte geworden, welche in der politischen Diskussion und Unterhaltung wie eine Signaltrompete sofort auf den Instinkt der Hörer wirkten. Soweit das politische Glaubensbekenntnis in den Köpfen überhaupt klar war, bestand es um die Mitte des Jahrhunderts ungefähr in folgenden Sätzen: »Ich glaube, daß die höchste oder gesetzgebende Gewalt dieses Reiches in König, Lords und Gemeinen ruht; daß Seine Majestät König Georg Georg II. Souverän oder oberster Vollstrecker des Gesetzes ist; ihm gebührt darum in allem Loyalität; der König hat kraft seiner königlichen Prärogative die Macht, Zeit und Ort der Parlamentstagungen zu bestimmen. Die Ubereinstimmung von König, Lords und Gemeinen ist notwendig zum Zustandekommen eines Gesetzes. All diese drei Gewalten machen zusammen nur einen Gesetzgeber aus. Jede von ihnen hat das Recht, ein vorgeschlagenes Gesetz unabhängig von den anderen anzunehmen oder abzulehnen. Sie sind alle drei gebunden, den neugeschaffenen Gesetzen selbst zu gehorchen«1). 2. In solchem Licht wollte der englische Staat der Höhezeit des 18. Jahrhunderts sich gesehen wissen. Wie erscheint er der Nachwelt ? Schon Montesquieu setzte an den Schluß seines berühmten Kapitels über die englische Verfassimg die bedenklichen Worte: »Es ist nicht meine Aufgabe zu untersuchen, ob die Engländer sich tatsächlich der geschilderten Freiheit erfreuen oder nicht. Es genügt mir zu sagen, ') Die Sätze sind einer Flugschrift Bolingbrokes entnommen (A freeholder's political catechism), die in der Sammlung von Bolingbrokes politischen Aufsätzen (1748) abgedruckt ist. Vor der angeführten Stelle werden die natürlichen Rechte des Menschen und insbesondere des Engländers behandelt, nach dem »Glaubensbekenntnis« noch einige von den darin enthaltenen Begriffen (Loyalität, Prärogative) genauer bestimmt.
32 daß sie durch ihre Gesetze begründet ist, und meine Forschung geht nicht darüber hinaus«1). Ein seltsamer Satz in einem staatswissenschaftlichen Werk! Auch er zeigt, in welch hohem Grade Montesquieus Denken formaljuristisch gebunden war. Bestimmter urteilte Friedrich der Große, der zwar das englische Staatswesen und die Probleme, die es bewegten, nur sehr wenig kannte, aber dafür die Technik und Gepflogenheiten der englischen Politik seiner Zeit aus langjähriger eigener Erfahrung um so besser. Er setzte England in Parallele mit der Demokratie des alten Rom, die durch das von ehrgeizigen Führern mißleitete und dann unterdrückte Volk selber ihr Ende gefunden habe. »Dies ist das Schicksal, worauf England sich gefaßt machen kann, wenn das Unterhaus nicht den wahrhaften Interessen der Nation den Vorzug vor der schmählichen Korruption gibt, die sie erniedrigt«2). Friedrich der Große, gewohnt, die europäische Welt um sich her in einem kühlen, unbarmherzigen Licht zu sehen, hat hier, wie so oft, in politischen Dingen einen viel schärferen Blick bewiesen wie alle seine Zeitgenossen. Im ganzen hat sich seine Voraussage zwar nicht bewahrheitet, aber der Vergleich mit dem letzten Jahrhundert der römischen Republik trifft doch den Kern der Sache. Neben Rom ist das England des 18. Jahrhunderts die größte Oligarchie, welche die europäische Geschichte aufzuweisen hat. Hier wie dort lag der Schwerpunkt im Staat bei den großen Familien. Hier wie dort beruhte deren Machtstellung darauf, daß sie es meisterhaft verstanden, auf dem Instrument der theoretischen und auch von ihnen selber mitverkündeten Rechte der großen Masse der Bürger zu spielen und diese durch alle möglichen Mittel der Beeinflussung, Bestechung und des wirtschaftlichen Drucks in ihrem Dienste zu gebrauchen. In Rom wie in diesem England waren solche Praktiken eine durchaus anerkannte, untadelige Überlieferung, an welcher man nicht rüttelte, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Das innerpolitische Leben bestand in dem Wettstreit und Kampf zwischen den Familien und verschiedenen Gruppen der herrschenden Schicht des großen und mittleren Adels, und ein »homo novus« hatte nicht weniger hart um seine Zulassung zu ringen wie seinerzeit in der römischen Republik. Man könnte die Parallele bis ins einzelne hinein l
) Esprit des lois X I , 6. .
*) Essai sur les formes du Gouvernement, 1777.
33 verfolgen. Auch auf kultur- und sittengeschichtlichem Gebiet ist die Ähnlichkeit oft genug erstaunlich. Die vornehmen Herren wußten ihr Dasein zu genießen. Zu ihrem Leben gehörte auch, daß sie ein Reich verwalteten und regierten, aber ausgefüllt wurde es durch diese Tätigkeit keineswegs. Was sie sonst trieben, war oft moralisch sehr wenig einwandfrei, aber was machte dies aus? Die Moral hatte ihren angestammten Platz in den Predigten am Sonntag, wo sie laut werden konnte; im übrigen hatte sie die Freuden des standesgemäßen Lebens nicht zu behindern. Lord Bolingbroke äußerte einmal über den französischen Adel seiner Zeit, dessen Erziehung beschränke sich darauf, drei Dinge zu erlernen, nämlich zu fechten, zu jagen und den Damen den Hof zu machen. Vom Staat werde er sorgfältig ferngehalten. Doch auch der englische Adel lernte jene drei Künste vor allen anderen. Auch seine politischen Kenntnisse waren in der Mehrzahl der Fälle recht gering, trotz des von den Ahnen überkommenen Platzes im Oberhaus, oder des, man kann beinahe auch sagen, ererbten Sitzes im Hause der Gemeinen. Doch der englische Adel bewahrte sich im Unterschied von dem französischen trotz des tollen Treibens, in dem er sich vielfach gefiel, Energie, Frische und die Kraft zu befehlen und Befehle durchzusetzen. Winter und Frühjahr wurden in London verbracht. Man saß im Parlament und regierte, gab einander große Gesellschaften, veranstaltete Maskenbälle — nicht nur in der Karnevalszeit — und die jungen Leute erhitzten sich für die italienische Oper und ihre Sterne. Wenn dann die Parlamentsession zu Ende war, zog die ganze vornehme Gesellschaft wieder hinaus auf ihre großen Landsitze. Dort in den Schlössern mit den weiten Parks vergaßen sie die Politik, fühlten sich wie kleine Könige, hielten« Fuchshetzen, sammelten italienische Bilder, klatschten mündlich und schriftlich übereinander und genossen die neuesten Skandale. Denn diese Gesellschaft war ungemein reich an Skandalen, die sich immer gleich mit Windeseile herumsprachen. Wie sich diese Magnaten vor Mit- und Nachwelt fühlten und wie sie vor ihr zu erscheinen wünschten, wird in den Porträts deutlich, welche Joshua Reynolds malte. Wie van Dyck im 17. Jahrhundert, war Reynolds im 18. der offizielle Maler des vornehmen England. Er ließ mit sich handeln und gab in seinen Bildnissen wohl oft ein wenig L e n n o i , Edmund Borke.
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34 Schönheit und Anmut zu. Die vornehmen Herren und Damen, die er malte, haben in ihrer Erscheinung alle etwas festlich Gehobenes. In Wirklichkeit waren sie keineswegs immer so elegant und prinzlich, wie sie sich auf ihren Porträts darstellen. Die Grobheit des englischen Volksnaturelles, das im 18. Jahrhundert noch ganz ungebändigt war, brach oft genug auch in den Kreisen des Adels durch. Er teilte völlig jene urwüchsig-wilde Freude des Volkes an derben Possen und Witzen massiver Art, die sich auch in den Romanen dieser Zeit so oft findet, selbst bei dem zugleich graziösesten und gewandtesten Schriftsteller dieser Epoche, Henry Fielding. Die geistigen Interessen der vornehmen Kreise waren — einige wenige Ausnahmen abgerechnet — nicht allzu groß. Von der Art des Verkehrs und Gesprächtons ist in den Bildnissen der Ladies, welche damals die Sterne der Londoner Gesellschaft waren, noch etwas zu spüren. Es sind schlanke Gestalten mit heller Haut und blauen Augen in leichten, wallenden, weißen Gewändern ohne Salonsteifheit. Bei den meisten meint man aber doch eine gewisse Flauheit und Leere des Seelenlebens zu spüren, so groß ihre Klugkeit und Gewandtheit in dem geselligen Treiben auch gewesen sein mag. Ein sentimentaler Aufblick, der sich oft findet, kann über den Mangel an tieferem Gehalt nicht hinwegtäuschen, zumal er manchmal ungewollt ins Mokante hinüberspielt. 3Eine aristokratische Gesellschaft, welche in einem Staat die unbestrittene Herrschaft besitzt, hat keine Veranlassung, über die regelmäßigen Handgriffe und Gepflogenheiten des politischen Betriebes sich zu äußern. Wer innerhalb des Kreises aufgewachsen ist, kennt sie. Dem Außenstehenden aber und der Nachwelt bleiben sie verborgen, wenn nicht, durch einen Zufall ein Lichtstrahl in den abgeschlossenen Kreis der Herrschenden selbst hineinfällt. Die Briefe Ciceros werfen ein solches Licht auf die Geistesart und das Treiben der Aristokratie des spätrepublikanischen Rom. Über das Leben der Londoner Gesellschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind uns glücklicherweise Zeugnisse von ganz ähnlichem Charakter und gleichem literarischen Wert erhalten. Es ist dies die Korrespondenz zweier Meister der Kunst, Briefe zu schreiben, Lord Chesterfields und Horace Walpoles. Beide sind in höchstem Maße individuelle Menschen und beide doch zugleich auch typische Vertreter
35 ihres sozialen Kreises. Wenn man von dem gut bürgerlichen Edmund Burke herkommt, glaubt man hier eine ganz andere Welt vor sich zu haben. Dabei handelt es sich doch um unmittelbare Zeitgenossen Burkes und bei Horace Walpole fehlte selbst die persönliche Berührung nicht. Lord Chesterfield ist in der populären Überlieferung als besonders unmoralisch verrufen. Dabei war er nicht schlimmer als seine Standesgenossen überhaupt, besaß zudem sehr viel mehr Geist und menschliche Feinheit als die anderen. Er hätte prächtig in die Tafelrunde des Königs von Preußen gepaßt. Sein beißender Witz, der ihn berühmt und gefürchtet machte, war ganz in dem Geschmack von Sanssouci gehalten. Chesterfields Wesen ist dem von Lord Bolingbroke, welchen er als Schriftsteller rückhaltlos und ohne Neid bewunderte, nahe verwandt. Doch fehlte Chesterfield das jähe Temperament, das Bolingbroke im Leben vorwärts trieb und ihn einst hatte scheitern lassen. Vor jedem literarischen Verdienst beugte sich Chesterfield in Selbstverständlichkeit. Nach seiner Meinung war die Gesellschaft Addisons und Popes keine geringere Ehrung als die irgendeines gekrönten Hauptes. Überhaupt war er von allem plumpen Standeshochmut gänzlich frei, auch ein viel zu kluger Rationalist, um dessen Hohlheit nicht zu fühlen. Als in den Londoner adeligen Kreisen wieder einmal die Mode um sich gegriffen hatte, sich von den amtlichen Herolden kimstreich den eigenen Stammbaum auf großen Tafeln kalligraphisch aufzeichnen zu lassen und damit die Wände der eigenen Behausimg zu verzieren, übte Lord Chesterfield eine stumme Kritik. Zur Ergänzung der Ahnengalerie seiner Familie, der Stanhopes, ließ er sich zwei neue Bilder malen und hängte sie an den Beginn der Reihe als Stammeltern des Geschlechts, versehen mit der Unterschrift »Adam de Stanhope« und »Eva de Stanhope«, sorgte auch dafür, daß dies bekannt wurde. Aber wie Lord Chesterfield Wert darauf legte, von Vorurteilen frei zu erscheinen, so hütete er sich auch, in eine Pose entgegengesetzter Art zu verfallen. Er machte kein Hehl aus seiner Befriedigung, daß ihm das Geschick just die angenehme Rolle eines reichen Earl von Chesterfield zugewiesen hatte. Keiner seiner Standesgenossen trug so viel von französischer Geistesart in sich. Dem französischen Lebensstil strebte er zeitlebens zu. »Approfondissez« war sein Wahlspruch; freilich faßte er ihn in besonderer Weise auf. Vertiefung war für ihn eine größtmögliche Steigerung
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36 weltmännischer Gewandtheit und Sicherheit. Die Literatur, an der er sich erbaute und die ihn in diesem Streben bestärkte, waren die Schriften der französischen Aristokraten des vorhergehenden Jahrhunderts, der großen Menschenbeobachter La Rochefoucauld und Kardinal von Retz. Das waren ihm wahlverwandte Geister; so wenig wie er gaben jene sich Täuschungen über die Triebkräfte des menschlichen Lebens hin und so wenig wie ihm kam ihnen deswegen der Gedanke, die Welt zu meiden oder sie verbessern zu wollen. Wenn man die Wirklichkeit nur kenne, finde man schon die Mittel, mit ihr auszukommen, lautet ihre Lehre. Das Mittel Chesterfields war »die Kunst zu gefallen«, Grazie, Liebenswürdigkeit und vollendeter Schliff. Chesterfield warnt davor, jemals in einer Gesellschaft den Ton angeben zu wollen; man soll sich ihr vielmehr stets einfügen, aber dabei immer bedacht sein, die Menschen bei ihrer schwachen Seite zu fassen und auf diese Weise zu leiten. Auch in der Politik muß man so verfahren und darum vorher ihre Technik kennen. Die beiden großen Faktoren, welche das öffentliche Leben regieren, sind Habsucht und Ehrgeiz. Jeder, der sich auf dem politischen Feld hervorzutun sucht, ist sicher von einer dieser beiden Leidenschaften geleitet. Bei Chesterfield selbst war es der Ehrgeiz1). Lord Chesterfield war ein geschickter und eifriger Politiker. Doch auch er wurde, wie Bolingbroke, durch die jahrelange ministerielle Alleinherrschaft Robert Walpoles fast ganz ausgeschaltet und höchstens als Diplomat im Ausland verwertet. Als nach Walpoles Sturz die Bahn frei wurde, behinderte ihn fortschreitende Taubheit mehr und mehr und schließlich mußte er sich aus dem politischen Leben ganz zurückziehen. Nur bei besonderen Gelegenheiten steckte er seine Hände mit in das Spiel der Parteien hinein. Vor allem lag ihm daran, seinem Sohn die Wege zu ebnen und ihn in der politischen Welt vorwärts zu bringen. Es war ein illegitimer Sohn — die Mutter hatte Lord Chesterfield verführt, weil er eine Wette eingegangen war, dies fertig zu bringen. Doch über das Kind hielt er in väterlichgütiger Weise die Hand und suchte es nach seinem Erziehungsideal l ) Das andere Bedürfnis fand bei ihm seine Befriedigung durch eine reiche Heirat. Deren Schattenseiten wurden von vornherein dadurch ausgeglichen, daß Chesterfield gleichzeitig mit seiner Eheschließung ganz offiziell eine neue Maitresse nahm, welche von ihm und von Pope öffentlich angedichtet wurde. Dies ein Beispiel für den Lebensstil dieser Gesellschaft.
37 für die Welt und das öffentliche Leben tauglich zu machen. In seinen Briefen lebt dies alles fort. Lord Chesterfield (geboren 1694, gestorben 1772) war um eine Generation älter als Burke. Aber auch in Burkes Periode gab es Vertreter seiner Weltanschauung, seines Lebensstiles und auch seiner Art, die Politik anzusehen, in Fülle. Sie fanden sich unter den Parteifreunden Burkes so gut wie unter seinen Gegnern. Chesterfield vertritt am glänzendsten den Typus des vornehmen Standesherm, dessen Ehrgeiz sich auf das politische Gebiet geworfen hat und welcher dabei nicht durch prinzipielle Ansichten oder feste Bindung an eine Partei in seinem Streben nach Befriedigung behindert ist, — dessen Leben aber doch durch die Politik keineswegs ausgefüllt wird. Vielmehr bleibt daneben noch Raum für eine Reihe recht tingleichwertiger Interessen, eine Skala von der Freude an literarischen Dingen bis herab zu den Nervensensationen des Spieltischs. Neben diesem Typus, den ich den aktiven nennen möchte, findet sich innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Schicht noch ein zweiter, der passive. Dies ist der vornehme Herr, der in die politische Welt eintritt, weil dies eben Standestradition ist und er ja auch nicht die mindeste Mühe hat — außer etwa finanzielle Aufwendungen —, in diese Welt hineinzugelangen. So sitzt er mit anderen seinesgleichen im Parlament, aber sein eigentlichstes Leben beginnt doch erst da, wo die Politik ein Ende hat. Seine Interessen sind nur zu einem kleinen Bruchteil politische. Durch ihre große Zahl waren die Vertreter dieses Typus gleichwohl ein wichtiger Faktor in dem parlamentarischen Leben. Kaum mündig, hielten sie ihren Einzug in das Unterhaus und kamen dann viele Jahre lang zu den Sessionen nach London. Sie bildeten das Rohmaterial, welches die Parteiführer und die Regierung mit legitimen oder illegitimen Mitteln bearbeiten mußten, wenn sie ihre Politik durchsetzen wollten. Zu dieser Klasse der vornehmen Politiker aus Tradition und sozusagen im Nebenamt, gehört der andere der großen Briefschreiber dieses Zeitalters, Horace Walpole. Es hat einen tieferen Grund, wenn im folgenden nicht allein von dem Typischen an Horace Walpole sondern auch von seiner Persönlichkeit als solcher die Rede ist. Er ist mit Burke geistesgeschichtlich in einer besonderen Weise verbunden. Beide haben dazu beigetragen, der Entwicklung des englischen Geistes eine Wendung auf die Romantik hin zu geben, wenn auch jeder auf einem völlig
38 verschiedenen Gebiet. In Burkes Altersschriften gegen die französische Revolution wurde das Mittelalter vom politisch-historischen Standpunkt aus neu gepriesen. Horace Walpole war der erste, der sich dem Mittelalter von der ästhetisch-literarischen Seite her wieder näherte. Doch der Anlaß, ihn hier neben Burke zu stellen, ist ein anderer: Horace Walpole ist, als Mensch genommen, Burkes Gegenpol unter dessen Zeitgenossen. Es dient zur Warnung vor vereinfachender Konstruktion der geistigen Entwicklung, wenn man sieht, wie hier zwei so völlig verschiedene Persönlichkeiten gleichzeitig aus demselben Kulturkreis herauswachsen konnten. Alles an den beiden Charakteren ist entgegengesetzt: die Wünsche und die Ziele im Leben; Art und Rhythmus, sich den Mitmenschen zu geben und die Umwelt selber aufzunehmen; die Selbsteinschätzung und die Weise, mit den Enttäuschungen des Daseins fertig zu werden und die Fragen der eigenen Zeit zu verarbeiten. Horace Walpole ist um zwölf Jahre älter als Burke und im gleichen Jahre (1797) wie dieser gestorben. Äußerlich war sein Leben durch drei Umstände bestimmt: durch seine Abkunft war er ein Mitglied der vornehmen Gesellschaft, als ein jüngerer Sohn war er in seinen Mitteln beschränkt und ihm fehlte auch die Neigung sehr vieler solcher jüngeren Söhne, durch ein Hasardspiel in der politischen Welt sein Glück zu machen. Sein Vater, der Premierminister Robert Walpole, stürzte nach einer mehr als zwanzigjährigen, durch beispielloses parlamentarisch-taktisches Geschick und ungehemmte Verwendung aller brauchbaren Mittel aufrechterhaltenen Regierung gerade in der Zeit, als der Sohn seine öffentliche Laufbahn beginnen sollte. Wie die meisten seiner Standesgenossen war er unmittelbar nach der »grand tour« (der großen Reise durch die Länder des europäischen Festlandes, welche den üblichen Abschluß der vornehmen Erziehung bildete) mit 22 Jahren in das Unterhaus eingetreten. Er war der Vertreter eines Wahlorts, in welchem er sich nicht einmal persönlich sehen zu lassen brauchte, geschweige denn damals oder später mit der Pflicht von Wahlreden belästigt wurde. Vorher hatte er über ein Jahr in Florenz verbracht. Auf diese Zeit seines Lebens blickte er später immer mit Sehnsucht zurück. Schließlich fand er jedoch auch in der Heimat einen Lebensstil geistigen Genusses, wie er ihm zusagte. Sein Stolz und Ehrgeiz fand sein Objekt in der eigenen Familie. Sein Vater war nach seinem
39 Sturz als Earl von Orford in das Haus der Lords eingezogen. Das Haus Orford sollte gedeihen und wirtschaftlich sichergestellt werden. Zu diesem Zweck mühte sich Horace Walpole um eine geschickte Heiratspolitik der Familie. Für seine eigene Person blieb er aber Junggeselle, wurde Sammler, Kunstliebhaber, Autor. Ein sehr angenehmer und beliebter Gesellschafter war er immer schon gewesen, denn er hatte die glückliche Gabe einer großen natürlichen, nicht künstlich anerzogenen Liebenswürdigkeit. Der Witz Lord Chesterfields war scharf und beißend, der seine war gutmütig-milde, verzeihend und der eigenen menschlichen Schwäche wohl bewußt. Aber wohler als in der Londoner Geselligkeit fühlte sich Horace Walpole draußen unter seinen Sammlungen auf seinem kleinen Landsitz Strawberry Hill. Dort hatte er sich ein Haus gebaut, das er für gotisch hielt. Er war nämlich in eine stille Liebe zu der alten englischen Gotik verfallen, die er als sein Steckenpferd vor seinen Bekannten halb trotzig, halb schelmisch verteidigte. Strawberry Hill, zugleich als Kloster, Schloß und Museum gedacht, innen und außen in gotischem Stil gehalten, war schlimme Talmi-Gotik. Aber grundsätzlich war damit doch eine neue positive Einschätzung der alten mittelalterlichen Bauweise erreicht. Auch auf literarischem Gebiet vertrat Horace Walpole seine neue Welt. 1764 ließ er einen Roman erscheinen, »Das Schloß von Otranto«, welcher der erste Vertreter der schauerromantischen Gattung ist. Trotz seiner vielen privaten Interessen und der ihn ausfüllenden Sammlerneigungen saß Horace Walpole sechsundzwanzig Jahre im Parlament —und dies ist in unserem Zusammenhang das typisch Wichtige. Mit hellen Augen gab er acht auf alles, was im Unterhaus geschah und folgte den Verhandlungen, wenn sie nicht gar zu langweilig wurden. Von dem Menschlich-Charakteristischen, was es dabei zu beobachten gab, entging ihm nichts. Durch die offizielle Staffage ließ er sich nicht täuschen. Als Sohn seines Vaters hatte er ja reichlich Gelegenheit gehabt, frühzeitig zu lernen, wie es hinter den Kulissen der parlamentarischen und höfischen Welt zuging. Dennoch konnte auch er von Überraschung und einen halb ernsten, halb komischen Entsetzen ergriffen werden, wenn der Widerspruch von Theorie und Praxis in dem Getriebe der Partei- und Personalpolitik wieder einmal besonders schreiend geworden war und ihn die Behauptungen und tönenden Versicherungen der Parteiführer hinter das Licht geführt hatten.
40 Solche Erfahrungen steigerten in ihm dann wieder eine instinktive Abneigung gegen alle großen Gesten und Heldenposituren. Denen vermochte er nicht zu trauen und darum geriet er bei den Menschen, bei welchen er etwas von wirklicher Größe spürte — Friedrich der Große und Pitt — in Unsicherheit und Zwiespältigkeit. Seine Beurteilung schwankte da immer zwischen Mißtrauen, Bewunderung und Zweifel hin und her. Da er selbst ein ganz unpathetischer Mensch war, so war ihm alles Predigertum — religiöses, moralisches und politisches in gleicher Weise — von Herzen unangenehm, ebenso alle markant zur Schau gestellte Tugendhaftigkeit. Aus diesen Gründen entwickelte sich in ihm eine ziemliche Abneigung gegen Burke. Ein Freudentag war es für ihn, wenn einer der Männer, die sich jahrelang als tugendhafte Patrioten aufgespielt hatten, und von der moralischen Warte herab den alten Walpole, Horaces Vater, als Verderber der Nation angegriffen hatten, von seiner Höhe herabfiel, sobald ein Ministerposten winkte. Horace Walpole lebte stets im Augenblick, seine Ansichten und Urteile waren darum immer von dem letzten Eindruck bestimmt. So ist Subjektivität einer seiner am meisten hervorstechenden Züge. Macaulay sah darin Charakterlosigkeit. Er vermißt in Walpoles Schriften »jedes erhabene oder zarte Gefühl, jedes leitende große Prinzip« und kann den Grund hiefür nur in einer »ungesunden und zusammenhangslosen Geistesbeschaffenheit« finden1). Dies Urteil ist sachlich ebenso falsch wie psychologisch bezeichnend. Macaulay urteilt, wie immer, ganz als Sohn seines Jahrhunderts und Horace Walpole war eben ganz und gar der eines anderen. Er lebte in dem raschen, leichten Takte des 18. Jahrhunderts; er war zu beweglich, aufnahmefähig und springlustig, um immer derselbe zu bleiben und immer die gleiche Farbe zu zeigen. Er ließ sein Leben nicht von bestimmten großen und allgemeinen Ideen formen und regeln wie Macaulay, der Sohn des liberalen Zeitalters, das ernsthafter, prinzipieller, aber auch viel eintöniger und steifer ist als das Ancien Régime. »Es gibt Menschen, die wesentlich Spiegel dessen sind, was sie umgibt; man tut ihnen Unrecht, wenn man sich beharrlich nach ihrer Überzeugung, nach ihren inneren Kämpfen und tieferen Lebensresultaten erkundigt«, sagt Jacob Burckhardt über Enea Silvio2). Auch Horace Walpole gehört zu den Menschen dieser Art und Macaulay ') Macaulay, Essays. l ) Kultur der Renaissance in Italien.
41 tut ihm gegenüber das Unrecht, von dem Burckhardt spricht. Wo sollte Horace Walpole die großen leitenden Prinzipien hernehmen? Was er davon in der Welt um sich her in offizieller Geltung sah, war wenig und dies Wenige Heuchelei oder Selbstbetrug. Er war zu ehrlich und zu klug, um dies mitzumachen. Aber um für eine Änderung der Verhältnisse zu kämpfen, fehlte ihm die Kraft und der gesammelte politische Wille. Sich vollends bloß auf dem Papier für eine bessere Welt einzusetzen, wäre ihm lächerlich vorgekommen. So nahm er die Dinge, wie sie waren, gab sich keinen Illusionen über sie hin und lebte sein Leben, wie es ihn freute. Dies waren alles Erwägungen, die einem Menschen wie Burke ganz ferne lagen. »Ich ziehe vor, an die Welt ebenso zu denken, wie diese nach meiner Erfahrung jedesmal an mich gedacht hat, wenn ich ihren Trost am meisten brauchte: — überhaupt nicht«, schrieb Horace Walpole einmal in einer trüben Stunde. Im allgemeinen lebte er in einem heiteren, liebenswürdigen und warmherzigen Epikureismus dahin. Er wurde darüber keineswegs zum bloßen Egoisten. Die allgemeinen Begebenheiten vermochten sehr wohl, ihn echt zu erregen. An seinen Freunden hielt er viele Jahrzehnte fest — bereit, ihnen mit Taten zu helfen, wo es nötig war. Den inneren Ausgleich zwischen seiner privaten Welt und der öffentlichen, die ihn doch auch beschäftigte, fand er schließlich darin, die öffentlichen Vorgänge zu beschreiben. »Meine Neigimg ist es mehr, Geschichte zu schreiben, als in ihr zu agieren.« Aber in der Art, wie er sie schreibt, bleibt er doch ganz er selbst. Alles ist ganz persönlich und subjektiv gehalten. Er vermeidet auch als Geschichtsschreiber alles Agieren. Er will sich auf das historische Katheder ebensowenig stellen wie auf die Tribüne des politischen Agitators, auch hier im völligen Gegensatz zu Macaulays Art. Er will nicht Prinzipien demonstrieren, sondern er macht Beobachtungen für sich und seine Freunde und will dadurch auch der Nachwelt eine Handhabe der Erkenntnis geben. So werden seine Berichte eine lockere Verbindung von allgemeiner Darstellung, Tagebuch und Notizensammlung. Daneben gehen seine Briefe her. Unermüdlich schrieb er lange lebendige, inhaltsreiche Briefe. Hier lesen wir von allem, was die Angehörigen der Gesellschaftsschicht, die im Staat den Ton angab, nur irgend interessieren konnte und in ihren Gesichtskreis kam: von Parlamentsverhandlungen und Ministerkrisen, Bällen, Gartenfesten und den
42 Schönheiten und Moden, die es dabei zu sehen gab; von Hochzeiten, Scheidungen und Skandalen, Operngrößen und Tänzerinnen, Methodistenpropaganda, Räuberüberlällen und Hinrichtungen, alles bunt durcheinander, wie es das Recht des Briefes ist. 4So wird in dem schriftlichen Nachlaß von Lord Chesterfield und Horace Walpole diese längst vergangene Londoner Welt mit all ihren großen und kleinen Begebenheiten lebendig. Das einzelne, was die beiden Briefschreiber berichten, ist, wie jeder Brief, oft genug anfechtbar und bloßes Gerücht. Das Typische ist dafür um so wahrer und nicht durch irgendwelche Hintergedanken tendenziös verzerrt. Das bezeichnende Merkmal des englischen parlamentarischen Treibens um die Mitte des 18. Jahrhunderts war vollendete Grundsatzlosigkeit. Schon in den Jahrzehnten vorher hatte sie ihren Anfang genommen und dauerte auch weit über die Jahrhundertmitte hinaus. Doch ihren Höhepunkt erreichte sie um diese Zeit. Nach der verfassungsrechtlichen Theorie waren, wie wir gesehen haben, die drei maßgebenden Faktoren des Staates König, Lords und Unterhaus. Tatsächlich waren es vielmehr die verschiedenen Gruppen und Fraktionen der Whigaristokratie, welche in beiden Häusern des Parlaments saß, zusammen mit dem kleinen Landjunkertum, das in ihrem Gefolge einherzog. Der König war lediglich eine Figur auf ihrem Brett. Das Größte, was er politisch allenfalls zu erreichen vermochte, war, ein Ministerium lahmzulegen — ein Zustand, der in der Geschichte dieser Jahrzehnte häufig genug wiederkehrt. Die beiden hannoveranischen George waren keine Könige nach dem Herzen der Engländer. Steif, schwerfällig, schwunglos war ihr Wesen. Alles Leichte und Spontane, all die vielseitigen Gaben eines gewandten Aristokraten, all die persönlichen Eigenschaften, mit denen seinerzeit der Stuartkönig Karl II. seine schwierige Lage innerhalb der englischen politischen Gesellschaft zu verbessern gewußt hatte, fehlten. Ebenso mangelten alle Züge, die zu einer derben Volkstümlichkeit hätten führen können. Kurfürstliche Schwere, Nüchternheit und Würde konnten niemanden gewinnen. Die hannoveranischen Whigkönige vermochten darum nicht, die Fesseln, welche ihnen durch die Verfassung von 1688 und die Landestradition angelegt waren, zu sprengen oder auch nur zu lockern. Sie waren zufrieden, wenn sie durch hartnäckige Zähigkeit
43 und durch bauernhafte, behutsame Schlauheit der Taktik einen Vorteil für ihr niederdeutsches Stammland ergattern konnten. Unverhohlen wird einmal die Abhängigkeit Georgs II. von den Whigs in einer der politischen Balladen geschildert, welche damals die öffentlichen Vorgänge dem Volk deutlich machten und vor der Entwicklung des Zeitungswesens der öffentlichen Meinung eine erste Ausdrucksmöglichkeit gaben. Es heißt da von der eben herrschenden Whigfaktion und dem König (1742): "Whom they pleas'd they put in, whom they pleas'd they put out. And just like a top they all lashed him about, Whilst he like a top with a murmuring noise Seem'd to grumble, but turned to these rude lashing boys." 1 )
Das Bild war gut gewählt. Zu murren, aber sich zu fügen, war Georgs II. Los gegenüber den Whigs seine ganze lange Regierungszeit hindurch. Es fragte sich nur, wer ihn beherrschen durfte. Darüber tobte der Kampf unter den Parteien, als nach dem Sturz der Regierung Walpoles eine lange Zeit der politischen Windstille ihr Ende gefunden hatte. Welches waren diese Parteien? »Whigs«, »Tones«, »Patrioten«, »Hofpartei«, alle diese Namen wurden häufig und wechselseitig verwendet, aber wenn man genauer hinsieht, so findet man nichts als ein halbes Dutzend Koterien und Cliquen mit mehr oder weniger befähigten, mehr oder weniger skrupellosen Führern an der Spitze, die sich zu größeren Vereinigungen zusammentun, um sich darauf wieder hinterrücks anzufallen oder sich gegenseitig heimlich die Anhänger wegzupraktizieren. Während vieler Jahre um die Mitte des Jahrhunderts erschien die Ministerkrise im politischen Leben Englands als der eigentlich normale Zustand, und manchmal war viele Wochen hindurch überhaupt keine Regierung vorhanden, weil die Parteiführer nicht handelseinig werden konnten. Lord Chesterfield schreibt einmal (1755): »Die Ministerposten leeren und füllen sich jeden Tag von neuem. Der Patriot vom Montag ist der Höfling vom Dienstag und der Höfling vom Mittwoch der Patriot vom Donnerstag. Mehr oder weniger ist dies allerdings schon immer der Fall gewesen, aber ich glaube wirklich, nie so unverschämt und skrupellos wie jetzt«8). Von einer anderen ähnlichen Gelegenheit (1744) heißt ') Horace Walpole an Horace Mann, 16. Oktober 1742, aus einer Ballade von 27 Strophen. *) Chesterfield, Letters to his Friends: 19. Dezember 1755 an Dayrolles.
44 es bei Horace Walpole: »Seit Lord Granville zurücktrat, ist alles in der Schwebe. Die Führer der Opposition verhängten sofort Schweigepflicht über ihre Partei; alle Anträge wurden ohne die kleinste Debatte erledigt — kurz alle machten ihre Geschäfte. Man hat von der Korruption der Höflinge gehört; aber glaube mir, im Vergleich mit der schamlosen Feilheit der Patrioten, die mit ihrer Ehrenhaftigkeit hausieren gehen, wird sie zu einem Nichts. Stelle Dir nur vor: zweihundert Leute von der allerausbündigsten Tugend stellen sich drei Wochen lang zu Verkauf.... Sie stehen da wie auf einem ländlichen Dienstbotenmarkt, um sich anwerben zu lassen. All dies, während nicht die geringste Sicherheit bestand: an dem einen Tag war die Koalition zustandegebracht, am nächsten war die Abmachung wieder zerrissen«1). Derartige Situationen kehrten im Laufe des Jahrhunderts immer wieder. Es gab eine Reihe von Politikern, deren Staatskunst lediglich darin bestand, in solchen Lagen die Talente eines Regisseurs zu zeigen, verbunden mit denen eines Maklers — Parteiführer, deren einziges Ziel es war, selber in der Regierung zu sitzen, ohne jedes Programm für die Politik nach außen. Nach innen gab es bis in die sechziger Jahre hinein ganz allgemein überhaupt keines, es sei denn das der Erhaltung des bestehenden Zustandes. Es gab Parteiführer, die in allen Regierungen saßen, so verschieden diese auch sonst zusammengesetzt sein mochten, und von denen es ganz bekannt war, daß sie nach einer bestimmten, recht kurzen Frist regelmäßig von Eifersucht gegen ihre Amtskollegen ergriffen wurden und diese zu unterminieren trachteten. Eine solche Figur war um die Mitte des Jahrhunderts der eine der Brüder Pelham, der Herzog von Newcastle. Auch diejenigen politischen Führer, bei denen sich der bloße Trieb nach Amt und Macht mit dem höheren verband, bestimmte sachliche Ziele oder allgemeine Tendenzen im Staate durchzusetzen, mußten das Intrigenspiel im Parlament mitmachen und taten dies ohne inneres Widerstreben. Auch das Gebaren des älteren Pitt weicht in den langen Jahren, als er noch nicht der Diktator Englands in dem Kriege gegen Frankreich geworden war, von dem üblichen Brauch in keiner Weise ab. Zunächst war er der Wortführer der populären Opposition. Dann brachte er sich allmählich durch allerhand Wendungen, alle möglichen Kombinationen mit anderen ') Horace Walpole an Horace Manu, December 24. 1744.
45 Faktionsführern und damit abwechselnd durch donnernde grundsätzliche Kampfansagen in die Höhe und kam so der Regierungsbank immer näher. Freilich war von Anfang ein Unterschied des politischen Kalibers zwischen ihm und anderen Parteiführern merkbar. Jene waren geschickte, redekundige politische Geschäftsmänner. In Pitt steckte etwas Elementares und Imperatorisches. Seine Persönlichkeit samt den pompösen Gesten, in denen sie sich auszudrücken liebte, hat mehr von dem feierlich-kraftvollen Stil des 17. Jahrhunderts als von der Gewandtheit des Rokoko. In der Art, wie Pitt in der politischen Welt emporkam, zeigt sich eine weitere Eigentümlichkeit dieser Verhältnisse. Einen sicheren Rückhalt fand Pitt freilich erst dann, als er sich mit einer der einflußreichen whigistischen Gruppen, den Gren/illes, verschwägert hatte, aber von den ersten Jahren seiner parlamentarischen Tätigkeit an, war er eine Gestalt im Unterhause, mit der die Gegner rechnen mußten. Zum mindesten war er ein sehr belästigendes Element für sie. Seine stürmische, überwältigende, immer aus dem Augenblick geborene Beredsamkeit zerstörte die vorbedachten Kreise der Verhandlungen und lenkte sie auf andere Bahnen als geplant und erwünscht war. Ein rednerisches Talent hatte im englischen Parlament des 18. Jahrhunderts einen weiten Spielraum und einen hohen Grad der Macht. Parlamentarische Verhandlungen sind freilich in allen Ländern und Zeiten auf rednerische Leistungen abgestellt. Der gute Redner ist immer einflußreicher als ein schlechter. Aber eine äußerlich formvollendete und wirkungsvolle Darlegung eines politischen Standpunktes ist bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Zeitaltern doch nicht von gleicher Wichtigkeit. Ebenso wechselt das Verhältnis der im Plenum gehaltenen Reden zu den eigentlichen Entscheidungen der Parteiführer; auch ist das verborgene Spiel der Kommissionsberatungen nicht in allen Parlamenten von gleicher Bedeutung. Ziehen wir die englischen Zustände ein Jahrhundert später zum Vergleich heran. Hippolyte Taine, ein Beobachter von seltener Schärfe, hörte bei einer der wichtigsten Unterhaussitzungen des Jahres 1860 zu. Er gewann von den Verhandlungen den Eindruck der Sachlichkeit und einer schon fast nachlässigen geschäftsmäßigen Einfachheit1). l
) Taine, Aufzeichnungen Ober England; deutsch bei Diederichs, 1906, S. 2 i 7 f .
46 Ein Jahrhundert zuvor war der Geist ein anderer. Um seinesgleichen zu finden, muß man bis in die Zeit der Freistaaten des Altertums zurückgehen oder allenfalls in das Zeitalter der Humanisten, das auch eine Folge schön formulierter Sätze als einen Eigenwert genoß. Was aber in der Renaissance nur ein schöner Schmuck des öffentlichen Lebens war, gehörte in dem englischen Parlament des 18. Jahrhunderts, wie ehemals in den antiken Demokratien, unmittelbar zum Handwerkszeug. Es war keine Parade- und Festberedsamkeit, sondern eine, die immer im Dienst ganz bestimmter politischer Absichten stand. Als Lord Chesterfields Sohn sich dem Alter näherte, in welchem er in das Parlament eintreten sollte (nämlich kurz nach erreichter Mündigkeit), wurde der Vater nicht müde, ihm wieder und immer wieder einzuschärfen, wieviel auf die Kunst der blendenden Formulierung in diesem Parlament ankomme. Er ermahnte ihn unaufhörlich, doch ja Fleiß und Mühe aufzuwenden, um die rhetorische Technik zu erlernen, denn Chesterfield war der Ansicht, die parlamentarische Redekunst ließe sich durch Aufmerksamkeit und Übung so gut erlernen wie das Gewerbe eines Schuhmachers. »Wenn Du in das Parlament kommst, wird Dein Ruf vielmehr auf Deinen Worten und Perioden beruhen als auf der Sache. — Die Eleganz des Stils und der Tonfall der Perioden machen den Haupteindruck auf die Hörer. Gib ihnen nur ein oder zwei runde Perioden in einer Rede, die sie sich merken und wiederholen können, dann gehen sie zufrieden nach Hause, so wie man aus der Oper nach Hause geht und dabei den ganzen Weg lang ein paar Lieblingsmelodien summt, die ins Ohr eingingen und leicht gefaßt wurden. Die Mehrzahl hat Ohren, aber wenige Urteilskraft; kitzle die Ohren und verlaß Dich darauf, Du fängst ihre Urteilskraft, an der freilich nichts Besonderes ist«1). »Wisse, daß kein Mensch in diesem Lande eine Rolle spielen kann, außer durch das Parlament. Dein Schicksal hängt davon ab, was für einen Erfolg als Redner Du dort haben wirst, und ich gebe mein Wort, daß der Erfolg sehr viel mehr von der Form als von der Sache bestimmt ist. Mr. Pitt und Mr. Murray, der Solicitor-General, sind die unvergleichlich besten Redner (speakers). Warum ? Nur weil sie die besten Rhetoren (orators) sind. Sie allein können das Haus entflammen oder beruhigen; sie allein finden eine solche Aufmerk*) Chesterfield, Letters to his Son, December 9, 1749.
47 samkeit in dieser zahlreichen und geräuschvollen Versammlung, daß Du eine Stecknadel fallen hören könntest, während einer von beiden spricht. Kommt dies daher, daß der Inhalt ihrer Reden besser oder ihre Argumente schlagender sind als die von anderen ? Nicht im geringsten; sondern das Haus verspricht sich Vergnügen von ihnen und paßt darum auf, findet es auch und spendet daher Beifall. Mr. Pitt im besonderen hat sehr wenig parlamentarische Kenntnisse; seine Sache ist in der Regel windig und seine Begründung oft schwach; aber seine Beredsamkeit ist vorzüglich, seine Bewegungen gefällig, seine Aussprache richtig und harmonisch; seine Perioden sind gut gebaut und jedes Wort, welches er gebraucht, ist das allerbeste und ausdrucksvollste, das an der betreffenden Stelle gebraucht werden kann. Dies und nicht der Inhalt dessen, was er sagt, machte ihn zum Paymaster, dem König und den Ministern zum Trotz. Zieh dir den Schluß daraus, der auf der Hand liegt«1). — »Wenn du in das Unterhaus kommst und meinst, daß du deine Aufgabe gelöst hast, wenn du klar und ohne Zierrat verständige Dinge vorbringst, täuschst du dich gewaltig. Als Redner wirst du nur nach deiner Beredsamkeit eingeschätzt und in keiner Weise nach dem Stoff, den du bringst; den Stoff kennt jeder fast in gleicher Weise, aber nur wenige können ihn ausschmücken«1). — »Das Rezept, ein Redner zu werden, und zwar ein solcher, der Beifall findet, ist kurz und leicht: Nimm gesunden Menschenverstand quantum sufficit, füge ein wenig Anpassung an die Regeln und Ordnungen des Hauses hinzu, bringe auf der Hand liegende Gedanken in einem neuen Licht, und richte das Ganze mit einer großen Menge von Reinheit, Korrektheit und Eleganz des Stils an«3). Lord Chesterfields Ratschläge sind etwas durch die Art seiner l)
Feb. i x , 1751. *) March 18, 1751. ') Feb. 12, 1754. •— Vgl. auch Chesterfields eigene Erfahrungen (Brief vom 15.Februar 1754): " T o govern mankind, one must not over-rate them; and t o please an audience, one must not over-value it. When I first came into the House of Commons, I respected that assembly as a venerable one; and felt a certain awe upon me; but upon better acquaintance, that awe soon vanished; and 1 discovered, that of the five hundred and sixty, not about thirty could understand reason, and all the rest were "people"; that those thirty only required plain common sense, dressed up in good language; and that all the others required only flowing and harmonious periods, whether they conveyed any meaning or not; having ears to hear, but not sense enough
48 eigenen Parlamentsreden bestimmt; diese waren formal wohlfrisiert, aber zuvor
daheim
vorbereitet.
In unvorhergesehenen
gelang es ihm viel weniger, Erfolge zu erringen.
Debatten
Zu der Klasse der
ganz großen Rednerbegabungen, welchen in jedem Augenblick der politischen Diskussion die Gedanken zugleich mit ihrer wirksamsten Formulierung zuströmen, welche dafür aber der Gefahr ausgesetzt sind, sich ins Endlose zu verlieren oder eine übergroße Fülle von Bildern aneinanderzuhängen, gehörte Lord Chesterfield nicht. Die Wahrheit seiner Bemerkungen über die Psychologie des Unterhauses wird dadurch in keiner Weise berührt. Z u Burkes Zeit hatten die Parlamentsverhandlungen noch ganz den gleichen,
weitschweifig-oratorischen
Charakter wie in den Tagen Chesterfields.
E s war eher noch weiter
damit gekommen, da jetzt nicht nur ein großer Redner, sondern fast ein halbes Dutzend den Ton des Hauses bestimmten.
Eine Natur
wie Lord Chesterfield war imstande, sich ihrer eigenen
Rhetorik
kritisch gegenüberzustellen und sie als ein lediglich praktisches Mittel zu begreifen, aber andere Parlamentarier lebten sich so sehr in diesen rednerischen Stil ein, daß er ihnen überhaupt zur zweiten Natur wurde. Bei Burke ist dies in hohem Grade der Fall. So groß nun aber die Wirksamkeit der rhetorischen keiten im englischen
Parlament
des 18. Jahrhunderts
Fertig-
auch
war,
dafür war doch gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Die Abstimmungen wurden noch durch andere Einflüsse und recht viel handgreiflichere Mittel bestimmt.
Horace Walpole bemerkt ein-
mal von einer Abstimmung des Jahres 1 7 5 5 , bei welcher Pitt trotz aller hinreißenden Redegabe doch in der Minderheit geblieben war: »Wenn Beredsamkeit überzeugen könnte, hätte Mr. Pitt mehr als 1 0 5 gegen 3 1 3 Stimmen gehabt; aber es ist lange her, seit die Künste der Überredung kunstvoll genug waren, um wirklich zu überreden — Rhetorik wurde erfunden, als es noch keine Posten und Spezialaufträge
gab« 1 ).
Das
Gegengewicht
gegen
die
parlamentarische
Beredsamkeit bildete ein virtuos durchgebildetes System der Korruption.
Bei deren Schilderung kann man die Stufenleiter ebensogut
to judge. These considerations made me speak with little concern the first time, with less the second and with none at all the third. I gave myself no farther trouble about anything except my elocution and my style; presuming without much vanity, that I had common sense enough, not to talk nonsense." l ) Horace Walpole an Horace Mann, 16. November 1755.
49 von oben wie von unten beginnen. Wer um die Zeit der Jahrhundertmitte selbst der politischen Bestechung nicht zugänglich war, verstand es dafür um so besser, die Bestechung anderer zu organisieren. So Robert Walpole und Pelham in der Zeit Georgs II., Lord Bute und Lord North in derjenigen Georgs III. Die großen Lords waren durch Hofämter mit den diesen anhängenden jährlichen Riesengehältem zu gewinnen. Die Mitglieder des Unterhauses hatten verschiedene Möglichkeiten der Bereicherung, von oben und von unten her. Die Regierung bezahlte ihre Gefolgsleute mit Posten in der Zivilverwaltung oder der Armee, mit Pensionen, ja es kam sogar vor, daß man bei Ministerdiners Banknoten von mehreren hundert Pfund unter der Serviette finden konnte, wenn nicht ein noch öffentlicherer Weg der Zustellung gewählt wurde. Daneben fanden sich die Einkünfte von unten, »Geschenke« und Gratifikationen von Bittstellern und Schützlingen. Noch ein volles Jahrhundert später, 1856, erregte ein Entwurf, mit dem Patronagesystem der Parlamentsmitglieder zu brechen und die Posten in der Staatsverwaltung künftig unterschiedslos auf Grund einer allgemeinen Prüfung an befähigte junge Leute zu vergeben, Kopfschütteln und sogar Entrüstung. Man erklärte, daß die geplante Neuerung eine Revolution des Staatsdienstes bedeute, — daß die Welt, in welcher man lebe, längst nicht moralisch genug sei, um eine solche Neuerung ertragen zu können, — daß die Ämter als legitime Kriegsbeute ein wertvoller Anreiz zur Beteiligung der Bevölkerung am politischen Leben seien, den man nicht beseitigen dürfe1). Das victorianische Zeitalter war moralisch unendlich viel strenger und rigoroser als das Jahrhundert vorher. Wenn man um 1856 ohne die »Kriegsbeute« nicht auszukommen meinte, so war vollends 1756 alles auf sie berechnet. Man bemühte sich, die gebotenen Gelegenheiten nach Kräften auszunützen. Die Literatur der Zeit ist voll von diesen Dingen, die für sie zu den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart gehören. Man hat dafür höchstens ein spöttisches Augenzwinkern. Aus der Fülle der Beispiele seien hier nur zwei herausgegriffen, von beiden Enden der Stufenleiter her. Smolletts Roman »Roderick Random« ist kulturgeschichtlich deshalb besonders wertvoll, weil er l ) Graham Wallas, Politik und menschliche Natur; deutsch bei Diederichs 1 9 1 1 , S. 155t. (Urteile über die Reformvorschläge von Trevelyan).
L e n n o x , Edmund Burlce.
4
50 in großen Teilen lediglich eine getreue Wiedergabe der eigenen Lebenserfahrungen des Verfassers mit allen Realitäten und Einzelheiten bietet. Der Held des Romans kommt, wieSmollett selber, aus Schottland nach London, um dort, wie so viele andere junge unternehmende, aber mittellose Leute, irgendwie sein Glück zu machen. Da er bei einem Wundarzt in der Lehre war, verfällt er auf den Gedanken, sich auf dem Marineamt um die Stelle eines Arztgehilfen auf einem englischen Kriegsschiff zu bewerben. In und vor dem Marineamt findet er eine ganze Schar von Landsleuten, die schon seit Monaten täglich herumlungern und immer wieder nachfragen, ob die Bestallung, welche ihnen nach bestandener Fachprüfung versprochen wurde, ausgefertigt sei. Beinahe jede Woche werden sechs oder sieben solcher Diplome ausgestellt, aber nur für solche Bewerber, welche es verstanden haben, den Marinesekretär durch ein »Geschenk« zu ködern. Für die anderen wird niemals ein Posten frei. Die Höhe der notwendigen Gabe ist ganz genau bekannt: die offiziellen Gebühren für das Diplom betragen etwas über i y 2 Pfund, das Geschenk für den Sekretär mehr als das Doppelte dieser Summe, 3 % Pfund 1 ). Das Verhältnis wird auch bei anderen Anstellungen entsprechend gewesen sein; so kann man sich ausrechnen, warum ein solcher so reich mit Trinkgeldern ausgestatteter Posten wie der des Marinesekretärs einen Parlamentarier locken konnte. Dies ist aber nur einer der verschwindend kleinen Ausläufer des Systems. Obenan in der langen Korruptionsskala standen die Inhaber der großen Hofämter, welche nicht nur für ihre eigene Person ungeheure Gehälter bezogen, sondern das Amt außerdem noch »kultivierten«, wie der technische Ausdruck lautete, d. h. durch Patronage sich weitere Einnahmen schufen. So brachte der Herzog von Montague in seiner Eigenschaft als Aufseher der königlichen Garderobe — er hatte außerdem noch eine Reihe ähnlicher Ämter inne — bei dieser Abteilung des Hofhalts volle dreißig nominelle Schneider und Harnischmacher unter. Diese bezogen natürlich ihrerseits wieder Gehälter und mußten für die Erlangung der Stelle dem Herzog ihren Tribut entrichten2). Ein solches großes Hofamt wie das genannte des Herzogs von Montague war selbst begreiflicherweise auch nicht umsonst zu haben. Die Gegenleistung
]) 2)
Smöllett, Roderick Random, Kap. 15, 16, 18. Horace Walpole an Horace Mann, 24. Juli 1749.
51 wurde entweder auf dem politischen Gebiet gebracht — Einsetzung des eigenen Einflusses im Sinne des Hofes und der Regierung — oder auch sie war eine rein materielle Gabe, d. h. irgendein sehr erhebliches Präsent an eine wichtige Person innerhalb der maßgebenden Kreise1). 5Unterhalb der Gesellschaftsklasse, welche das Staatsleben bestimmte, die Mitglieder des Parlaments und der Regierung stellte, im Winter in der Hauptstadt ein modisch-großzügiges Leben führte, im Sommer auf ihren Schlössern und Landsitzen saß, wuchs im Laufe des Jahrhunderts eine zweite, bürgerliche Schicht heran. Auf dem literarischen Gebiet hatte sie sich zuerst geltend gemacht2); im öffentlichen Leben setzte sie sich sehr viel langsamer durch. Immerhin begann von der Mitte des Jahrhunderts ab so etwas wie eine »öffentliche Meinung« deutlicher zu werden. Sie wollte von der parlamentarischen Welt unabhängig sein, stellte sich sogar in einen gewissen Gegensatz zu dieser und fing an, eine Art von Aufsichtsrecht über sie zu beanspruchen. Das erste äußere Zeichen dieser neuen Entwicklung waren die immer wiederholten Versuche einiger unternehmender Buchhändler, den Wortlaut der Verhandlungen und Reden des Unterhauses zu veröffentlichen (was nach den bestehenden Parlamentsprivilegien verboten war). Alle paar Jahre begann das Geplänkel von neuem, allerlei Kunstgriffe wurden angewendet. Z. B. wurden die Verhandlungen unter durchsichtigen Decknamen berichtet, die Namen der Redner nur mit den Anfangsbuchstaben gegeben. Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre erlahmte dann das Unterhaus in seinem Widerstand gegen die Veröffentlichungen, ohne jedoch ausdrücklich auf sein Privileg zu verzichten. Von der Mitte des Jahrhunderts ab begann sich auch das Zeitungswesen kräftiger zu entwickeln. Die Balladen, die als Vorläufer der Zeitungen die öffentlichen Vorgänge glossierten und als Flugblätter im Straßenhandel verkauft oder von bezahlten Straßensängern auf öffentlichen Plätzen heruntergeleiert wurden, sind schon erwähnt worden. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten sie x
) Einen solchen Fall berichtet z. B. Horace Walpole 1741: Zur Erlangung eines Postens als Stallmeister der Königin worden der maßgebenden Hofdame ein Paar Diamantohrringe im Werte von 1400 Pfand verehrt. «) Vgl. Kap. I.
4»
52 noch fort, traten aber an Wichtigkeit hinter die Zeitungen zurück. Diese trieben eine Partei- und Personalpolitik höchst robuster Art. Politische Gegner wurden mit den gröbsten persönlichen Beschimpfungen und irgendwo aufgerafften Verleumdungen angegriffen. Die Zeitungen waren hierin Helfer und Genossen einer Literatur von Pamphleten und Flugschriften, welche in diesen Jahrzehnten den Kampf der Faktionen und Koterien im Parlament begleitete und persönlich verschärfte. Soweit diese Publizistik nur eine Art Begleitmusik zum parlamentarischen Treiben vollführte und ihr Leserkreis auf die Politiker beschränkt war, ist sie nicht sehr wichtig. Bedeutungsvoller ist die Frage, wie weit dergleichen damals bereits an die große, politisch nicht unmittelbar beteiligte Masse der englischen Bevölkerung herangedrungen war. Den Typus des Kaffeehauspolitikers kann man in England und Frankreich gleichmäßig bis gegen den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen1), aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatte die englische Kaffeehausweisheit einen gewaltigen Vorsprung vor der französischen gewonnen. »Ich lese alles Politische, was erscheint, den .Daily', den ,Ledger', den .Chronicle', den .London Evening', den .Whitehall Evening', die siebzehn Magazines und die zwei Reviews; und wenn sie sich auch gegenseitig hassen, ich liebe sie alle. Freiheit, mein Herr, ist der Stolz des Briten und ich ehre alle ihre Wächter.« So läßt Goldsmith in seinem »Vicar of Wakefield« einen Portier sprechen und ihn darauf die eigene politische Philosophie, die er aus dieser Lektüre schöpft, folgendermaßen entwickeln: »Ich ehre den König, wenn er tut, was wir wollen; aber wenn er es weiter so treibt wie die letzte Zeit, will ich mich nicht mehr um ihn bekümmern. Ich will nichts gesagt haben. Ich habe nur meine Gedanken. Ich hätte einige Dinge besser gemacht«8). — So vertraut und zeitlos diese Sätze anmuten, man konnte doch auch einen anderen Extrakt aus der politischen Lektüre ziehen. Mochten noch so viele der Zeitungsnachrichten aus dem Kaffeehausklatsch geboren sein, dem sie als Gegengabe ihrerseits den Stoff zum Weiterleben lieferten*), sie gaben doch der breiten Öffentlichkeit eine erste Handhabe, um an den po*) Vgl. Addison, Spectator Nr. 403 mit Montesquieu, Lettres persanes Nr. 130. *) Vicar of Wakefield, cap. 19. ') Vgl. Goldsmith, Citizen of the World, letter 4.
53 litischen Vorgängen überhaupt teilzunehmen und eine Ansicht kundzugeben; auch begann sich der Wert und innere Gehalt dieser Presseerzeugnisse von den sechziger Jahren ab wesentlich zu heben. Die Bedeutung, welche die Gründung von Burkes »Annual Register« für diese Entwicklung hatte, ist schon hervorgehoben worden. Neben der Publizistik (und vielleicht noch mehr als diese) trugen die Debattiergesellschaften dazu bei, politische Interessen und politische Schulung in weiteren Kreisen zu verbreiten. Diese Vereine boten sozusagen Kaffeehauspolitik in organisierter und außerordentlich verbesserter Form. In einer Londoner Zeitung von 1779 findet sich z. B. folgende, durchaus nicht tingewöhnliche Anzeige: »Apollogesellschaft zur Diskussion aller historischen, literarischen, politischen und theologischen Fragen. — Morgen: Debatte über folgende Frage: Wäre nicht die Vereinigung von Großbritannien und Irland das Mittel, die Beschwerden jenes Landes zu beheben und unser eigenes zu sichern? Beginn pünktlich acht Uhr. Eintritt 6d. Limonade und Bier im Nebenraum zu haben. NB. Der Saal wird mit Wachskerzen erleuchtet werden«1). Beim ersten Lesen wirkt diese Anzeige (welche in der Übersetzung gekürzt wurde) ein wenig komisch, bei längerer Überlegung nicht mehr. Die Männer, welche in dieser oder irgendeiner anderen ähnlichen Gesellschaft zusammenkamen, mühten sich ernsthafter um die Lösung der politischen Fragen ihrer Zeit und verstanden mehr davon, als in irgendeinem anderen europäischen Lande in der entsprechenden Bevölkerungsklasse damals der Fall war. In Frankreich bestand eine politische Unterhaltung darin, geistreiche Raketen über Naturrecht und Gesellschaftsvertrag in die Luft steigen zu lassen. In Deutschland versammelte man sich allenfalls, um ein Festcarmen anzuhören, das zum Lob der Großtaten des betreffenden Landesvaters zum Vortrag gelangte2). Auch Burke soll in den fünfziger Jahren seine Redegabe zuerst in einer Londoner Debattiergesellschaft geübt haben, und es geht die Sage (deren Wahrheit nicht auszumachen ist), daß der Kämpe, gegen den er sich vor allem versuchte, ein Bäckermeister aus dem betreffenden Stadtteil gewesen sei. Auch späterhin sind bedeutende englische Staats*) Wortlaut bei Sydney, England and the English in the 18 "> Century II, S. 163. — In der Übersetzung gekürzt. *) FOr ein Beispiel siehe Berliner Monatsschrift, November 1790: Ramler, Ode auf Friedrich Wilhelm II.
54 männer und große Redner zuerst durch die Schule eines Debattierklubs gegangen. Noch ein weiteres Element trug dazu bei, eine öffentliche Meinung zu bilden: die politische Karikatur. Zur Festigung bestimmter Ansichten über Persönlichkeiten und politische Richtungen wirkt bei der Masse des Volkes ja nichts so stark wie sie. Schon die Kunst Hogarths barg ein starkes komisch-satirisches Element in sich, doch war dieses sozial und nicht politisch gerichtet. Die eigentlich politische Karikatur, die in Zeichnungen ausgedrückte Kritik der jeweiligen Tagesereignisse, kam erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf. Ihr Meister war James G i l l r a y . Seine Holzschnitte wurden als Einzelblätter auf den Straßen verkauft. Er band sich nicht an eine bestimmte Partei — seine geringeren Berufsgenossen werden es wohl ebensowenig getan haben. Gillray überläßt sich der Stimmung und den Möglichkeiten des Augenblicks. Er packt seine Beute, wo sie sich nur immer zeigt. Seine Zeichnungen haben eine derbe, oft brutale Kraft, sie schonen keine der öffentlichen Persönlichkeiten des Landes, den König und seine Familie am allerwenigsten1). Die häufigsten Gegenstände seiner erbarmungslosen Kunst sind aber selbstverständlich die Führer des Parlaments. Vielleicht war es notwendig, daß dem Übermaß der Rhetorik eine Art der Karikaturenzeichnung das Gegengewicht halten mußte, welche mitunter die Kraft eines Faustschlages besaß und auch den stumpfesten Beschauer aus dem Bann der schönen Worte aufrüttelte. Von der politischen Regsamkeit Londons und anderer großer Städte darf man natürlich nicht auf die des ganzen Königreiches schließen. Das Land und die kleinen Orte waren von gleicher Wichtigkeit für den Gesamtstaat wie die Städte und besaßen weit größeren Einfluß in ihm. Seit Locke galten die »country gentlemen« als das l
) Auf einem Blatt, betitelt »the monstrous craws«, ist Georg III. und seine Familie dargestellt, wie sie das Vermögen des Volkes in ihre Kröpfe füllen. Am schlimmsten kommt die Königin weg, die als eine wahre Hexe mit monströser Gesichtsbildung erscheint. Mit weitaufgerissenen Augen stopft sie sich das negerartige Maul voll, in beiden Händen große Schöpflöffel haltend. Auf einem anderen Blatt ist Georg III. mit einem Eselskopf und heraushängender Zunge auf seinem Throne schlafend dargestellt, darober als Wappen ein gekrönter Esel und der offizielle Wahlspruch: »Honny soit qui mal y pense.t
55 Rückgrat der Nation, auf das alles ankomme1). Von Staat und Politik war jedoch draußen bei diesen nur wenig zu verspüren, außer alle paar Jahre einmal, wenn die Wahlen zum Parlament vor sich gingen. Das war dann zugleich großes Volksfest, eine Art Kirchweih, bei der die Bevölkerung tagelang in den Wirtshäusern saß und Speisen und Getränke in erschreckenden Mengen zu sich nahm. In der übrigen Zeit herrschte draußen auf den Dörfern und in den kleinen Städten immer größte Stille. In seinem engen Kreise lebte jeder dahin, und wenn in solch einer Kleinstadt oder gar einem Dorf ein Fremder auftauchte, so starrte man ihn an und begann einen Klatsch über ihn, als käme er aus einem anderen Weltteil2), — wenn man nicht etwa gar, in besonders einsamen und ungastlichen Dörfern, die Hunde auf ihn hetzte, um sich die Freude eines bewegten Schauspiels zu gönnen. In den einzelnen Dörfern war der große Gutsbesitzer, »the lord of the manor«, der Herr, mochte es ein Lord sein oder nur ein einfacher Squire. Nicht irgendwelche feudale Rechtssatzungen, sondern seine wirtschaftliche Macht zwang die Dorfgenossen, ein möglichst gutes Verhältnis mit ihm zu bewahren und darum seine Übergriffe stillschweigend zu dulden. Fuchshetzen und Schnäpse scheinen im Leben der meisten dieser Squires die Hauptsache gebildet zu haben*). Das geistige Element in dem kleinen, abgeschlossen für sich lebenden Kreise eines Dorfes vertrat der Pfarrer. Er schrieb Predigten, um sie drucken zu lassen, falls er literarischen Ehrgeiz besaß oder — ein stärkerer Beweggrund — sein klägliches Einkommen irgendwie ergänzen mußte. Doch war eine solche Regsamkeit durch1)
Ähnliche Formulierungen noch am Ende des Jahrhunderts. »Sehnen des Staatskörpers« nannte die country-gentlemen Wilberforce. Auch Burke dachte ähnlich. *) Burke selber machte 1752 bei dem Aufenthalt in einer Kleinstadt an der Kaste solche Erfahrungen (Corr. I, S. 28f.). Man hielt ihn zunächst fQr einen »fortune-hunter«. Als man kein Anzeichen sah, daß er nach einer reichen Frau angelte, mußte er wohl ein französischer oder spanischer »Spion« sein. *) Siehe z. B. aber einen solchen Squire: Fielding, Joseph Andrews III, Kap. 4: » . . . he had too great a fortune to contend with: that he was as absolute as any tyrant in the universe, and had killed all the dogs and taken away all the guns in the neighbourhood; and not only that, but he trampled down hedges and rode over corn and gardens with no more regard than if they were the highway«. —• Ebenda Kap. 7, der Lebenslauf dieses Squire (Europareise und Parlamentssitz usw.).
56 aus auffallend. Es lag näher, daß sich ein Pfarrer auf die Schweinezucht warf oder sich im Kartenspiel vervollkommnete. Der Dritte im Dorf, der in seinem Leben einmal ein wenig von der Welt gesehen hatte, war der Karat. Dieser war entweder Gehilfe des Pfarrers im Dorf und noch viel jämmerlicher bezahlt als jener, oder Haustheologe, Elementarlehrer und besserer Dienstbote im Haushalt des Square. Selbstverständlich wurde von dessen Seite verlangt, daß der geistliche Einfluß in Wahlzeiten für den richtigen Kandidaten tätig war1). Die Weltkenntnis des Dorfes verkörperten endlich noch in einer weiteren Abstufung der Wirt und seine Ehehälfte. 6.
Das politische Leben, welches in der bürgerlichen Bevölkerung erwachte, machte sich in den ausgehenden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts doch vorerst nur in einzelnen Augenblicken geltend. Die eigentlich tätige Klasse im politischen Leben der Nation war auch in Edmund Burkes Zeit noch die gleiche wie in den Generationen vorher, nämlich die ländlich-aristokratische. Auch die tiefgreifende Änderimg der sozialen und wirtschaftlichen Struktur des Landes, die besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sich gewaltig beschleunigte und in den Grafschaften des Nordwestens eine ganz neuartige industrielle Bevölkerung anhäufte2), war noch nicht imstande, der politischparlamentarischen Welt ein neues Gesicht zu verleihen. Trotzdem macht die Historie mit Recht bei dem Jahre 1760 einen Schnitt und läßt von da an die »moderne« Entwicklung Englands beginnen. Die Formen des staatlichen Lebens und die soziale Klasse, die dieses trug, blieben noch die gleichen, aber die Probleme, mit denen man es zu tun hatte, begannen sich zu wandeln. Die Zeit vor 1760 erscheint als eine abgeschlossene, in ihrer Weise klassische Welt: die Periode der ausgebildeten Whigoligarchie. Die Jahrzehnte von 1760 an waren dagegen eine Epoche der Unsicherheit, Auflösung, Kritik, Umbildung 1 ) Vgl. Sydney, England in the i8">Century, S. 222. — Quellen: s. z. B. Fielding, Joseph Andrews (passim). Goldsmith, Vicar of Wakefield, Smollett, Roderick Random, Kap. 9 usw. — Es gab auch Inhaber reicher PfrOnden, die es sich lieber in einem vornehmen Badeort wohl sein ließen, statt in ihrer Pfarre zu sitzen. a ) Arnold Toynbee, The Industrial Revolution of the 18 th Century in England, 1908, S. 9 f f .
57 der Traditionen und ganz neu auftauchender Fragestellungen und Aufgaben. Für alle Lebensgebiete gilt dies in gleicher Weise. In der allgemeinen geistigen Entwicklung und der Literatur zeigten sich die gleichen Erscheinungen wie in der Sphäre des Staatlich-Wirtschaftlichen. Wer an diese große Ubergangsperiode zum ersten Male betrachtend herantritt, findet nur ein wildes Durcheinander von Namen und Daten, in die sich kein innerer Zusammenhang bringen läßt: eine verwirrende Fülle von Vorgängen kleinsten Maßstabes, von kurzlebigen Regierungen und Ministernamen, Diskussionen, Lärmszenen, Beschlüssen über Fragen aus allen Weltteilen und scheinbar größte Ziellosigkeit im ganzen. Allmählich gruppiert es sich mehr. Neben Perioden andauernder innerer Krisen und Ministerwechsel, die sich durch Jahre hinziehen, heben sich andere Abschnitte heraus, in denen die politische Leitung größere Gleichmäßigkeit zeigt. Wie die Epoche vor 1760 sich scheiden läßt in die Perioden einer einheitlich geführten Regierung (einmal unter Walpole, das zweite Mal unter dem älteren Pitt) und die der Unsicherheit, des Auf- und Niederflackerns der Parteien und der beständigen Regierungskrisen, so auch die Jahrzehnte nach 1760. Äußerlich wird die Wende eingeleitet durch den Tod Georgs II. und die Nachfolge seines Enkels Georgs III., durch den Sturz. Pitts und den Abschluß des siegreichen, in Europa und den Kolonien gegen Frankreich geführten Krieges. Auf das Ende des großen Ministeriums Pitt folgten zunächst zehn Jahre der Unsicherheit und des steten Hin und Her aller Politik, dann bildet sich die Regierung von Lord North, der in innerem Einvernehmen mit dem König sich volle zwölf Jahre halten kann. Erst der hoffnungslose Ausgang des Kampfes mit den abgefallenen amerikanischen Kolonien zwingt ihn 1782 zum Rücktritt. Darauf beginnt aufs neue eine Zeit der Unsicherheit, diesmal aber nur verhältnismäßig kurz. Ihren Abschluß findet sie 1784 in dem Ministerium des jüngeren Pitt, welcher England in das neue Jahrhundert hineinleitet, in stetem Kampf mit seinem parlamentarischen Gegenspieler Charles James Fox, der ihn schließlich überlebt und für kurze Zeit sein Nachfolger wird. Fühlbar ward das Ende des alten Whigregimes im Laufe der sechziger Jahre; um 1770 herum war man gezwungen, den neuen Problemen ernsthaft ins Gesicht zu sehen. Dafür waren einige Fragen, welche der Politik des Landes bisher zu schaffen machten, fortgefallen. Vor allem die Gefahr der stuartischen Thronprätendenten.
5ß Nach dem Mißlingen des zweiten Versuchs, die hannoveranische Dynastie zu vertreiben — 1745, von Schottland aus —, hatten die Stuarts in Großbritannien endgültig ausgespielt. Ihre bis dahin an Zahl immerhin nicht unbeträchtlichen stillen Anhänger starben allmählich weg oder söhnten sich mit dem nun auch schon zur legitimen Überlieferung gewordenen hannoveranischen System aus. Die stuartische Frage, welche die Nation solange gespalten hatte und zu Zeiten großer europäischer Krisen immer ein Element der Unruhe war, verschwand damit. Ebenso trat fortab ein zweiter Streitpunkt zurück, welcher oft ein Stein des Anstoßes für die Regierungen und Anlaß vieler parlamentarischer Händel gewesen war: er betraf das Kurfürstentum Hannover und dessen Sonderinteressen, welche bisher die eigentlich englische Politik vielfach gekreuzt und sich dienstbar gemacht hatten. Der neue, im Lande selbst geborene König war im Unterschied von seinen beiden Vorgängern in erster Linie Engländer. Außerdem (was wichtiger war als dieser persönliche Umstand) trat nach dem Ende des siebenjährigen Krieges auf dem mitteleuropäischen Festland auf lange hinaus Stille ein. Das Neue war zunächst die Person des Königs. An die Stelle eines dreiundsiebzigjährigen Mannes trat dessen Enkel, ein dreiundzwanzigjähriger. Er war zu jung, um vor seiner Thronbesteigung schon in die Traditionen der Whigs hineingewachsen zu sein, und zudem hatte ihn seine Mutter,eine Gothaer Prinzessin, im Sinne der kleinfürstlichen deutschen Doktrin eines patriarchalischen Absolutismus beeinflußt. Der König war jetzt nicht mehr eine passive Figur, welche die parlamentarischen Machthaber schalten lassen mußte und höchstens durch zähes Festhalten an persönlichen Antipathien deren Wünsche stören und in ihrer Erfüllung verlangsamen konnte. Er war nunmehr eine ganz positive Macht in dem politischen Getriebe, immer auf seinem Posten und durch Jahrzehnte hindurch niemals ermüdend. Georg III. hatte von den Whigs deren Mittel gelernt und übernommen und schuf sich damit einen eigenen Anhang im Staat. Er war ein ausgezeichneter Taktiker, der niemals zu verblüffen war, und besaß außerordentliche Sachkenntnis in allen lokalen und persönlichen Fragen, die ihm wichtig waren. Er bestach und drohte, unterminierte und entzweite die Parteien so eifrig und geschickt, wie es die Whigs in den vierziger und fünfziger Jahren unter sich getan hatten. Dabei verfügte er zu diesem Zweck über sehr viel größere Mittel. Außer durch direkte
59 Bestechung durch Geldzahlungen, Pensionen, Sinekuren, angenehme Ämter konnte er durch sein Recht, Peerswürden, d. h. Sitze im Hause der Lords, zu verleihen, sehr viel erreichen. Die Peerswürde war ein Ziel der Wünsche und des Familienehrgeizes für gar viele Vertreter der Whigaristokratie. Sie war einer der Hauptgewinne, den das politische Spiel für den Adel bieten konnte. Die Stellung eines Ministers dem Parlament und zumal seiner eigenen besonderen Gefolgschaft gegenüber war darum stark abhängig davon, ob er vom König Peerswürden für Mitglieder seiner Partei erlangen konnte oder nicht. Georg III. war in dieser Beziehung Ministern gegenüber, welche ihm nicht behagten, immer sehr unzugänglich. Wenn sie nicht gleich zu Beginn ihrer Regierung mit dem König einen festen Kontrakt geschlossen hatten, erreichten sie später nichts mehr von ihm. Die Jahrzehnte der Regierung Georgs III. waren ein unablässiger Kampf um die Vormacht zwischen den ministeriellen Aristokraten auf der einen Seite — diese waren außerdem noch unter sich entzweit — und dem König auf der anderen Seite. Er wählte jeweils aus der Zahl der Anwärter den Mann zu seinem Minister, der für den Augenblick der willfährigste zu sein schien oder der wenigstens am leichtesten zu ertragen war, bis sich ein angenehmerer Nachfolger gefunden hatte und die Konstellation im Unterhaus einen Wechsel möglich machte. Auch die großen Fragen der Reichspolitik beschäftigten den König lebhaft. In der Behandlung des eifersüchtigen und reizbaren französischen Nachbars verfuhr er mit Vielseitigkeit und nicht ohne diplomatisches Geschick. Aber an so verwickelten Fragen wie etwa der des Verhältnisses zu den nordamerikanischen Kolonien scheiterte er. Mit Hartnäckigkeit und Bestimmtheit des Willens allein war da nichts zu erreichen, zumal gerade die Hartnäckigkeit auf der amerikanischen Seite jedesmal noch um einen Grad stärker war. Die Hauptsache in der Politik war für Georg III. aber doch immer der Machtkampf im Inneren. Am Ende fand er darin in dem jüngeren Pitt seinen Meister. Georg III. hatte ihm selbst geholfen emporzukommen, wäre ihn dann freilich samt seinem »verdammt hochmütigen Gesicht« gern wieder losgeworden, als er sah, daß er sich verrechnet hatte. Aber solange in Fox ein Nachfolger drohte, den er noch viel weniger leiden konnte, mußte er sich fügen. Persönlich war Georg III. ein nüchterner, behäbiger Ehrenmann; sein Familienleben war einwandfrei, seine Lebensweise sehr einfach. In beidem stand er durchaus in
60 Gegensatz zu seinem Vater Frederick, Prinz von Wales, und ebenso zu seinem Sohn, dem späteren Georg IV., zwei ausgesprochenen Lebemännern. Sorgsam war er auf die Erhaltung seiner Gesundheit durch körperliche Bewegung, Reiten usw. bedacht. Unter den Fürsten seines Jahrhunderts steht er dem Vater Friedrichs des Großen der Art nach am nächsten. Bei beiden findet sich eine ähnliche patriarchalische Auffassung der eigenen Stellung und Lebensaufgabe und ein, ein wenig enges Pflichtgefühl ohne eigentliche HerrschergröBe. Bei Friedrich Wilhelm wie bei dem englischen König konnten Fälle eintreten, in denen ein höchst unfürstlicher Mangel an Großzügigkeit, ja einfachstem Anstandsgefühl grell hervortrat. Aber das cholerische Temperament und die Ungeschlachtheit des Brandenburgers fehlt Georg III. Auch muß man den Drilloffizier in den Zivilisten übersetzen und den Ton des Gutsamtmanns in den eines Bankiers. Die Kämpfe um die Regierungsgewalt im Staat waren durch die Beteiligung des Königs noch komplizierter geworden als in der Periode vorher. Wichtiger war jedoch, daß sich der Whigismus wieder auf seine alten Grundsätze besinnen mußte, als die monarchischen Tendenzen sich aufs neue regten. Jahrzehnte lang hatten die whigistischen Prinzipien im Staat unbestritten gegolten und waren dabei verstaubt und verrottet. Nun brauchte man sie wieder für den lebendigen Kampf. Eine rege Diskussion setzte ein, wie der Staat zu gestalten sei und welche Richtung die innere Politik zu nehmen habe, wobei die alten Traditionen teils neu belebt, teils wissentlich oder unwissentlich umgebildet und gestürzt wurden. In diesem Kampf der Geister um die Grundfragen des englischen Staates stand Edmund Burke in der ersten Reihe. Um 1770 etwa war die Periode Georgs II. endgültig Vergangenheit geworden. Das Unterhaus, der politische Mittelpunkt des Landes, zeigte jetzt auch äußerlich ein neues Gesicht. Die parlamentarischen Führer der vierziger und fünfziger Jahre waren um diese Zeit weggestorben und neue Gestalten aufgetreten. Auch der ältere Pitt, der bis 1778 lebte, schied schon gegen Ausgang der sechziger Jahre aus dem politischen Getriebe aus. Schon vorher war er durch seinen Ubergang vom Unterhaus in das Haus der Lords stark in den Hintergrund getreten. Der Earl von Chatham war für die Nation nicht mehr, was Mr. Pitt gewesen war. Dennoch hielt er die Parteien durch seine Unberechenbarkeit und die Eigenwilligkeit seiner politischen
61 Taktik noch lange in Scheu und Unruhe, als sein Körper schon immer mehr versagte, Gicht und Altersbeschwerden ihn stets stärker fesselten. Immer seltener erschien er im Parlament. Immer mehr nahm der Stil seines Auftretens den eines Mahners und Warners aus einer vergangenen großen Zeit an, bis zu dem letzten dramatischen Aufflackern seiner Staatsmannsenergie in der Amerikarede von 1778. Im Typus unterschieden sich die parlamentarischen Führer der neuen Generation von der alten Schule zunächst sehr wenig. Vor allem derjenige unter ihfien, welcher zunächst an die Spitze kam und der die Nation durch ein kritisches Jahrzehnt zu steuern hatte, Lord North, hätte ganz ebenso gut in die Zeit Robert Walpoles und der Brüder Pelham gepaßt. Es war ein Verhängnis, daß die neuen großen Fragen, welche den Leitern des englischen Staates gestellt waren, gerade von einem solchen Mann der alten Schule entschieden wurden, als die Krisis in den siebziger Jahren eintrat. Diese neuen Probleme drehten sich um die Reichsorganisation. Immer mehr wuchs der englische Staat im Laufe des 18. Jahrhunderts über die europäisch-kontinentalen Fragen hinaus. Am Anfang des Jahrhunderts hatte er im Verein mit der Macht der Habsburger das französische Ubergewicht auf dem Festland gebrochen. Um die Mitte des Jahrhunderts sicherte er sich, auf dem Festland durch das Preußen Friedrichs des Großen gedeckt, unter Pitts straffer, zielklarer und willensstarker Führung die unbestrittene Vorherrschaft in der außereuropäischen Welt und den ungestörten Besitz der großen, zukunftsreichen Kolonialgebiete jenseits der Meere. Am Ende des Siebenjährigen Krieges sah sich England im Besitz eines neuen großen Reiches in Nordamerika und eines zweiten in Indien, welches äußerlich noch glänzender erschien. Bald genug wurde die Frage brennend, wie man das Neugewonnene zu sichern und auszubauen habe. In diesen neuen Problem- und Aufgabenkreis wuchs Burke von Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit an unmittelbar hinein. Die Verfassungsfrage, die Beziehungen zu den amerikanischen Kolonien, die Organisation des neuen, von Robert Clive eroberten Herrschaftsgebietes der Ostindischen Kompanie und die Regelung von dessen rechtlichem Verhältnis zum Heimatstaat, diese drei Probleme waren eben aufgeworfen, als Burke in das Parlament eintrat. Sie haben seinem Leben und der politischen Arbeit, die es ausfüllte, bis zum Beginn der französischen Revolution und noch über diesen Zeitpunkt hinaus Richtung und Inhalt gegeben.
Drittes Kapitel, Edmund Burkes persönliches Wesen und seine Rolle in Parlament und Partei. i. Bei den englischen Liberalen des 19. Jahrhunderts hat Edmund Burke als Mensch wie als Denker eine ganz außerordentlich starke, fast uneingeschränkte Verehrung gefunden1). In gleich hohem Maße wird sie schwerlich weiterdauern. Doch wer geneigt ist, dies Leben kritischer und kühler zu betrachten, wer die Grenzen von Burkes persönlichem Wesen stärker empfindet, wem seine Grundprinzipien nicht letzte Wahrheiten zu sein scheinen, der hat die besondere Pflicht, auch zu betonen, wie ungemein reich an Arbeit, Leistung und Inhalt Burkes Leben in seiner Art gewesen ist. Wie schon gesagt, an äußeren Erfolgen war es arm. Politische Karriere machte Burke nicht. Auch von den sachlichen Zielen, für die er seine Lebensjahre und seine Arbeitskraft hingab, konnte er nur recht wenige wirklich erreichen. Die großen politischen Fragen seiner Zeit, um deren Lösung er sich unter Einsetzung seiner ganzen Person mühte, entwickelten sich fast immer in einem anderen Sinne, als er erwartete und ersehnte. Allein Burke gehört nicht zu den Politikern, die man nur nach den praktischen Ergebnissen ihres Handelns bewertet. Man darf bei seiner Leistimg nicht nach den unmittelbaren Ergebnissen fragen. Nicht die entschlossene, verantwortungsvolle, aus der Gegenwart geborene und in die Zukunft weiterwirkende Tat des führenden Staatsmannes macht seine Größe. Er erhielt ja niemals Gelegenheit zu zeigen, was er in einer solchen Stellung vermocht hätte. Seine Leistung war auch nicht die des großen politischen Organisators, der eine Gefolgschaft ') Am stärksten bei Buckle.
63 und Macht für die Zukunft ins Leben ruft, welche die übermächtigen Gegner dereinst niederzwingt. Sein Schaffen gehört einem stilleren, weit weniger sichtbaren Gebiet an. Die Überzeugungen, welche er in unermüdlicher Propaganda auszustreuen wußte, lebten fort; die Empfindungsweise, deren Verkünder er war, verbreitete sich in seinem Volk und wurde in einer späteren Generation schließlich herrschend. So wies Burke der inneren Entwicklung des britischen Reiches die Bahn in langsam, aber nachhaltig wirkender Arbeit. Man kann deren Spuren nicht im einzelnen nachgehen, denn wer wollte es unternehmen, genau abzumessen, auf welche Weise Burkes Kampf für die alten Ideale der englischen Verfassimg, seine Bemühungen um einen groß gedachten Ausgleich mit Amerika, sein Eintreten für das ausgebeutete Indien, sein Verlangen nach moralischer Reinheit in der Kolonialpolitik, das in dem pompösen Verfahren gegen Warren Hastings gipfelte, — auf welche Weise dies alles in das Bewußtsein der Mitwelt einging und die Folgezeit durchdrang? Gar vieles in dem Geist, der das englische Weltreich im 19. Jahrhundert trug und zusammenhielt, leitet sich von Edmund Burke her. Die kontinental-europäische Politik lag ihm lange fern. Vorgänge, wie die Verkleinerung Polens im Jahre 1772 und die Kämpfe Österreichs und Rußlands gegen die Türken, betrachtete er wie ein unbeteiligter historischer Beschauer. Er fand, die große räumliche Entfernung wirke da trennend wie zeitlicher Abstand. England wurde von diesem Kreis absolutistischer Machtpolitik ja kaum berührt. Doch durfte Burke die Ereignisse auf dem Kontinent nie ganz aus den Augen verlieren, denn das »Annual Register« mußte ja jedes Jahr über sie berichten. Dabei erwarb sich Burke jene erstaunlich klare Anschauung der kontinentalen Machtverhältnisse und der besonderen Ziele der einzelnen Staaten, welche später in seinen Kampfschriften gegen die Jakobiner plötzlich hervortritt. Es finden sich darin Übersichten über das politische Europa und die Machttendenzen, die es bewegten, welche in der politischen Literatur dieser Jahre an Schärfe und Anschauungsfülle nicht ihresgleichen finden. In den Jahrzehnten vorher blieb diese Seite Burkes im Dunkel. Als Politiker hatte er keinen Anlaß, sich mit den Verhältnissen des europäischen Festlandes eingehender zu befassen. Er beschränkte sich ganz und gar — wie er einmal einem deutschen Korrespondenten gegenüber sich bescheiden ausdrückte — auf die »kleinen Einzelheiten« der
64 inneren Verwaltung Englands1). Diese »kleinen Einzelheiten« waren die grundlegenden Fragen der Reichsorganisation; gewiß lediglich innere Politik, wenn man so will, aber doch von besonderer Art. Eine mit Zukunftsproblemen geladene Politik war es, die sich mit Ländern dreier Erdteile zu befassen hatte, und welche Fragen von einer solchen Kompliziertheit und breiten Fülle lösen sollte, daß daneben die gleichzeitige, sogenannte große Politik des europäischen Festlandes nur wie ein einfaches Spiel mit fest gegebenen militärisch-diplomatischen Regeln und Traditionen erscheint. Zweieinhalb Jahrzehnte ging Burke in dieser englischen inneren Politik völlig auf. Burke hat als politischer Denker große Augenblicke und immer ist die Wissensfülle und Stoffbeherrschung, mit welcher er an die politischen Fragen herantrat, bewunderswert. Viele Erörterungen und Denkschriften von Männern, die sich für geborene politische Führer halten, nehmen sich neben den seinen nur wie schmale, kümmerliche Bächlein neben einem mächtig dahinziehenden Strom aus. Burke faßte die politische Arbeit in einem hohen und weiten Sinne auf. Der Fuchsverstand des bloßen Parteitaktikers lag ihm so fem wie die Kurzsichtigkeit des politischen Dilettanten, der über ein paar Lieblingsgedanken alles andere vergißt. Aber es kann eben doch niemand sein Leben rückhaltlos der Politik und der unaufhörlich angespannten Arbeit im Dienste einer Partei verschreiben, ohne daß der Mensch in irgendeiner Weise dafür zahlen muß. Als Individuum entwickelte sich Burke nicht weiter, seitdem er im politischen Kampf stand. Die Ruhe, bisweilen auf sein Inneres zu horchen, hatte er nicht mehr und vielleicht auch gar nicht den Willen dazu. Burke war unendlich viel mehr »Persönlichkeit«, wenn er als Redner oder Schriftsteller vor der Nation stand als in dem privaten Verkehr von Mensch zu Mensch. Seine Freunde berichten freilich Rühmendes über seine Fähigkeiten in der Unterhaltung und die Fülle an Geist und Wissen, die er bei solchen Gesprächen zeigte. Es gibt drollige Anekdoten, wie Ungläubige ihn auf die Probe stellen wollten und darum das Tischgespräch auf die abstrusesten Fragen lenkten. Burke jedoch wußte alles, bis zu den entlegensten Einzelheiten altbritannischer Geschichte. Was der Unterhaltung mit Burke ») Burke, Corr. I, S. 399ff. (1772).
65 Reiz und Gewicht gab, war die Präsenz seines Wissens und seine Gabe, sich mühelos den Umständen anzupassen. Er besaß eine ruhige und vertrauenerweckende Art, im Gespräch seine Gedanken und Ansichten auseinanderzusetzen, ohne sich mit dem bloßen Splitterwerk flüchtiger Bemerkungen zufrieden zu geben. Die Gründlichkeit tat wohl, aber die rechte Belebung fehlte doch. All seinen persönlichen, zwanglosen Äußerungen mangelt doch der eigentlich persönliche Tonfall und die Unmittelbarkeit. Vielleicht ging es ihm wie vielen Menschen, die gewohnt sind, ständig öffentlich zu reden und zu schreiben. Seine Redeweise trug auch im privaten Verkehr den Stempel der Druckreife und wurde dadurch seelisch farblos und verwässert. Auch seine Briefe sind von unpersönlicher Blässe. Selbst in den Berichten an seine nächsten Verwandten und Freunde findet sich kaum jemals eine lebendige, aus dem Augenblick geborene Wendimg oder Schill derung, oder der immittelbare Ausdruck von Freude oder Gedrücktheit. Nur wenn sein Ehrgefühl irgendwie gekränkt ist, klingen die Töne etwas voller, ohne doch eigentliche Kraft zu gewinnen. Im allgemeinen begegnet man nur den wohlanständigen, landläufigen Gefühlen eines normalen bürgerlichen Gentlemans, zumeist überhaupt nur den Erörterungen des Politikers über die Lage und die nächsten Aufgaben der Partei. Dabei war Burke keineswegs eine kühle und zurückhaltende Natur. Leidenschaftlich war er und erregbar, aber, was dem Temperament hätte Blut und Farbe geben sollen, fehlte: Kraft und Reichtum der seelischen Stimmungen. Da hält sich alles stets auf einer mittleren Linie. Es war sein Bestreben, im persönlichen Verkehr immer umgänglich, höflich und zuvorkommend zu sein, wenn ihm nicht gerade die eigene Hitze oder die Parteileidenschaft einen Streich spielte. Aber den freien, unbekümmerten Schwung des PersönlichMenschlichen und auch die leichte, feine Grazie — diese besondere Gabe seines Jahrhunderts — sucht man bei ihm vergebens. Eine durchschnittliche wohlmeinende Umgänglichkeit konnte diesen Mangel nicht ersetzen. Burke war ein entschieden pathetischer Charakter. Nicht in dem Sinne, daß er sein eigenes Selbst der Umwelt nur in einer pompösen, faltenreichen Gewandung zu zeigen vermocht hätte. Persönlich gab er sich vielmehr einfach und bescheiden. Aber pathetisch war die Art, in welcher er seine Ansichten und starken Überzeugungen auszusprechen pflegte. In einer öffentlichen Versammlung konnte L t n a o i , Edmund Burke.
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66 dies natürlich weit leichter und eindrucksvoller geschehen als in einem kleinen Kreis oder einem persönlichen Brief. So erscheint es oft, als sei ihm im privaten Verkehr der Wind aus den Segeln genommen. Man ginge zu weit, wenn man diese Eigenschaften nur aus dem Umstand erklären wollte, daß Burke eine rednerische Natur war. Er war dies gewiß in sehr hohem Grade. Die Rhetorik, der gehobene und farbenreiche Stil waren ihm innerstes Bedürfnis, Ausdruck seiner Persönlichkeit und nicht von außen angelernt, wenngleich die parlamentarischen Gepflogenheiten ihn dabei natürlich noch bestärkten. Aber stärker noch als der rednerische Trieb war in ihm der zu dozieren. Es war ihm dringendes Verlangen, die jeweils gegebene Frage vor seinem Hörer- oder Leserkreis sorgfältig auseinanderzugehen, sie wirklich gewissenhaft und einleuchtend zu besprechen und nicht mit einigen oberflächlichen Redensarten abzutun. Das Rhetorische, Pathetische, Drängende und das Bedürfnis, bei den einzelnen Punkten zu verweilen, vollständig und erschöpfend zu unterrichten, spielt in fast allen Reden und Schriften Burkes durcheinander. Der Schriftsteller und der Redner stießen sich in ihm und störten sich gegenseitig. Im privaten Kreise war für den rednerischen Schwung, der ihm in der öffentlichen Welt trug, kein Raum. Was übrig blieb, war ein guter Dozent und ein umgänglicher Bürger, d. h. viel mehr ein Typus als ein Individuum1). 2.
Von dem Ende der sechziger Jahre an hatte Burkes Leben eine feste äußere Form gefunden, bestimmt durch seine politische Arbeit. Er war Mitglied des Unterhauses, ein eifriger und häufiger Redner dort, dazu Sekretär des Führers seiner Parteigruppe, Lord Rocking') Wer dieses Urteil Ober Burkes persönliches Wesen zu lieblos findet, lese zum Vergleich mit Burkes persönlichen Äußerungen ein paar Briefe von dessen Altersgenossen Lessing. Nach seiner Bedeutung für die allgemeine europäische Geistesentwicklung hat Burke ein Recht, mit Lessing verglichen zu werden. Aber als Persönlichkeit kommt er schlecht dabei weg. Lessing hascht nie nach Effekten in seinen Briefen, er putzt sich nicht anf und strebt nicht danach, besonders geistreich zu sein. Burke tut dies in den seinen auch nicht. Aber wie stark tritt Lessings persönliche Eigenart, die gefaßte Kraft seines männlichen Wesens und seiner Überzeugungen auch in ganz nüchternen Berichten hervor. Burke wirkt daneben verwaschen und matt.
67 hams, und der Publizist dieser Gruppe. Er zeigte alle Tugenden des Parteimanns. Auch die Gegner erkannten seine Parteitreue und Zuverlässigkeit an, die eine seiner sympathischsten Eigenschaften ist1). So viel er in Pamphleten und Zeitungen als irischer Abenteurer, heimlicher Katholik, Jesuitenzögling und unter ähnlichen absurden verleumdenden Bezeichnungen herumgezerrt wurde, man mußte doch zugestehen, daß er nicht zu den politischen Freibeutern zählte. Er war keiner der vielen politischen Handlanger, die sich bei der jeweils herrschenden Partei anbiederten, um schließlich den Lohn ihrer Dienste in einem wohlbezahlten Posten der Reichsverwaltung zu finden. Burke hielt an Rockinghäm fest, auch als ihm nach dessen Sturz (1766) Anträge von anderer Seite gemacht wurden. Mit der Rockinghampartei blieb er eng verbunden, solange sie überhaupt bestand, d. h. bis zum Tode ihres Führers im Jahre 1782. Diese Partei war eine kleine Gruppe von Aristokraten jüngeren Alters, die sich um die Mitte der sechziger Jahre zusammenfanden. Die Führer waren Abkömmlinge großer Familien des Hochadels, in denen der Whigismus schon seit Generationen feste Überlieferung war. Ihr ungeheurer Besitz entzog sie den Verlockungen der Korruption. Politische Geschäfte zu machen, war für sie unnötig. Ihr Ziel war, den alten Whigismus wieder in reinerer Form herzustellen und ihn aus seiner Vermorschung und Zerbröckelung aufs neue in dem Glänze erstehen zu lassen, welchen er einstmals besaß. Aber über das einzelne gingen die Ansichten der Parteimitglieder oft weit auseinander. Sogar über eine so grundlegende Frage, wie die der Gestaltung des Wahlrechts, gab es grelle Meinungsunterschiede. Der Zusammenhalt war überhaupt äußerst lose. Den kleinen festeren Kern der Gruppe band vor allem persönliche Freundschaft und Hochschätzung. Die weitere Gefolgschaft war immer sehr unsicher. Neben der Rockinghampartei bestanden noch mehrere andere Fraktionen ähnlicher Struktur. Der Führer einer solchen Gruppe hatte die undankbare Aufgabe, unablässig mit den anderen, entsprechenden Führern um Koalitionen zu feilschen — Verhandlungen, die sich immer wieder zerschlugen, da jede Partei alle Regierungsstellen mit ihren Leuten besetzen wollte. »To come in in corps«, lautete der technische Ausdruck hierfür. Der Führer der Gruppe hatte für seine Gefolgsleute zu sorgen oder er mußte es erleben, daß die Unzu*) Chatham, Correspondence III, S. 1 1 0 : Lord Grafton an Chatham, 1766.
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68 friedenen mit großer Schnelligkeit von ihm abschwenkten und sich einer aussichtsreicheren Faktion anschlössen. Es ist so am Ausgang der sechziger Jahre unendlich viel zwischen den einzelnen Gruppen hin und her verhandelt und intrigiert worden, ohne rechtes Ergebnis1). Die Rockhinghamgruppe war eines der schwächsten dieser Parteigebilde. Lord Rockingham selber, ein Jahr jünger als Burke, war ein rechtlicher Charakter, ein verlässiger Freund seiner Freunde, aber dies genügte nicht, um ein politischer Führer zu sein. Im parlamentarischen Leben war er wenig befähigt, dazu kränklich und schonungsbedürftig. Vor allem mangelte ihm jede Energie. Manchmal wurde die Schwäche der Partei so groß, daß sie sich entschloß, sich im Parlament überhaupt still zu verhalten und die tätige Opposition aufzugeben, bis wieder etwas aussichtsreichere Augenblicke kamen. Nach dem hoffnungslosen Ausgang des amerikanischen Krieges 1782 trat endlich für die Partei eine Wende ein. Rockingham kam als Nachfolger von Lord North zum zweitenmal zur Regierung. Nach einem Vierteljahr starb er, und seine Pairtei brach auseinander. Auch schon in früheren Jahren war sie oft nahe daran gewesen. Nicht etwa, weil die Meinungsverschiedenheiten zu stark wurden oder persönliche Gegensätze sich auftaten, sondern weil der Zusammenhang des Ganzen überhaupt so locker war und eine so lässige Disziplin herrschte. Das einzige treibende Rad der Partei war Burke. Er leistete die Arbeit, lieferte die leitenden Gesichtspunkte und das Programm. Der Herzog von Richmond, neben Rockingham das führende Mitglied der Gruppe und viel temperamentvoller und regsamer als dieser, erkannte die Leistung Burkes auch auch offen an: »Wirklich, Burke,« schrieb er, »Sie haben mehr Verdienst daran als irgendeiner, daß die Partei zusammenhält4).« Burke nahm sich unter den übrigen Parteigenossen merkwürdig aus. Seiner Arbeit stellten sich oft unerwartete Hemmungen in den Weg. Manchmal zeigten sich plötzlich Familienbeziehungen, entfernte Verwandtschaften, von denen er nichts wußte, welche es aber unmöglich machten, im Wahlkampf gegen Lord Soundso ernsthaft aufzutreten. Besondere Der schriftliche Niederschlag liegt in den Korrespondenzen der betreffenden Parteifahrer noch vor. All dies Material wurde um 1830/1840 herum von den Enkeln, Großneffen usw. der betreffenden Lords veröffentlicht, meist vollkommen unsystematisch, selbst ohne NamensQbersicht. •) Burke, Corr. I, S. 371 (November 1772).
69 Schwierigkeit machte es immer, die großen Lords der Partei im Herbst rechtzeitig zum Beginn der Parlamentssession nach London zu bringen. Sie fühlten sich sehr wohl auf ihren Schlössern in Nordengland und blieben gerne noch ein paar Wochen länger dort. Die Politik mochte unterdessen von selber laufen. Wenn sie sich gar einen Kreis Freunde und Nachbarn auf einige Wochen zum Fuchsj eigen auf ihr Schloß geladen hatten, mußte man sie selbstverständlich solange von ihren Parteipflichten befreien. Da halfen dann auch alle Mahnbriefe Burkes nichts. Burke fiel es zu, da er auch im Sommer in der Nähe Londons blieb, die Parteimitglieder, vor allem natürlich Rockingham, über die politischen Vorgänge und Parteiumtriebe in der Hauptstadt auf dem Laufenden zu halten. Die politische Schulung der Lords war teilweise erstaunlich gering. So rief Lord John Cavendish, eines der maßgebenden Mitglieder der Gruppe, Burke einmal zu Hilfe, um für eine Provinzversammlung eine für mehrere Parteien annehmbare Entschließung aufzusetzen; für ihn selber sei dies, so schrieb Cavendish, »eine viel zu schwierige Aufgabe«. Persönlich stand Burke mit seinen vornehmen Parteigenossen recht gut. Der Herzog von Richmond wollte ein Porträt von ihm haben, Lord Rockingham ließ sich selbst mit Burke zusammen von Reynolds malen. Aber trotzdem bestand begreiflicherweise eine große Kluft. Die soziale Sphäre und der Lebenszuschnitt Burkes waren von dem Prinzendasein dieser großen Grundherren von Grund auf verschieden. Burke war ganz frei von dem Ehrgeiz des Emporkömmlings, sich in die Kreise seiner politischen Genossen auch gesellschaftlich eindrängen zu wollen. Die Lords ihrerseits empfanden ihn doch auch stets als einen Außenseiter, so höflich sie gegen ihn waren. Der Tonfall, in dem sie über die Fragen des Tages unter sich zu sprechen pflegten, ist merklich anders — viel frischer und unmittelbarer — als der, in welchem sie mit Burke redeten. Bei aller persönlichen Wertschätzung war er für sie eben doch der Parteisekretär, der einer anderen Gesellschaftsschicht angehörte. Die Führer waren sie selber. Darum kam ihnen auch nicht der Gedanke, Burke mit in das Kabinett aufzunehmen, als sie 1782 endlich zur Regierung kamen. Er erhielt einen reich bezahlten Posten zweiten Ranges, um seinen Vermögensverhältnissen aufhelfen zu können. Schon die Zeitgenossen haben die Frage aufgeworfen, ob Burke wohl deshalb nicht Minister geworden sei, weil er für einen solchen Posten zu reizbar und heftig war. Doch selbst dann hätte
70 er im Kabinett seine Rolle als Staatsmann mindestens so gut durchgeführt wie der ebengenannte Lord John Cavendish. Aber seine Parteigenossen erwogen überhaupt nicht, daß Burke als gleichberechtigter Anwärter auf einen Ministerposten neben den anderen in Frage kommen könnte. Aus Burkes Sphäre nahm man die Minister eben nicht. Burke selber schwieg und fügte sich. In den Zeiten von Rockinghams erstem Ministerium, 1766, war er noch hoffnungsfreudiger gewesen. Damals hegte er noch den ganzen ungebrochenen Stolz eines neuen Parlamentsmitgliedes. Als das nahende Ende der Regierung Rockingham schon deutlich wurde, strebte er darum einen freiwerdenden Ministerposten an. Er wußte, er würde ihn nur kurze Zeit bekleiden können, aber die Folie als ehemaliger Minister würde sein Ansehen im Parlament doch stärken. Sein Wunsch fand jedoch keine Erfüllung; zudem mußte er sich in den folgenden Jahren wegen angeblicher Überhebimg verteidigen, daß er als Nachfolger eines Herzogs hatte Minister werden wollen. Seitdem wurde er in diesem Punkt sehr vorsichtig und vermied es, sich irgendwie vorzudrängen. In den allerletzten Jahren seines Lebens indessen brach der Groll über die ständige Zurücksetzung doch einmal aus ihm heraus, als er, der parlamentarische Veteran, von ein paar jungen Lords angegriffen wurde: »Bei jedem Schritt in meinem Leben (denn jeder Schritt wurde mir durchkreuzt und erschwert), und bei jedem Schlagbaum, an den ich kam, mußte ich meinen Paß herzeigen und immer wieder meinen Anspruch auf die Ehre, meinem Lande nützlich zu sein, durch einen Beweis rechtfertigen, daß ich mit seinen Gesetzen und dem ganzen System seiner Interessen nicht ganz unvertraut war. Sonst gab es keine Stellung, ja nicht einmal Duldung für mich1).« Der Kreis, in dem sich Burke gesellschaftlich bewegte, war der gehoben-bürgerliche. Die Parlamentsferien verbrachte er zwanzig Meilen draußen vor London auf einem kleinen Landgut, das er sich 1769 hatte kaufen können*). Dort versuchte er es ein wenig mit Land*) Burke, Letter to a Noble Lord, 1796. *) Verschiedene englische Schriftsteller haben sich den Kopf zerbrochen, woher er denn plötzlich das Geld dazu hatte. Begreiflicherweise hat ihr Spürsinn trotzdem nur wenig Ober seine Finanzverhältnisse zutage gefördert. Soviel scheint jedoch festzustehen, daß Burke in Aktien der Ostindischen Kompagnie zu spekulieren pflegte, ohne sonderliches GlQck dabei zu haben. Jahrzehntelang steckte er ökonomisch in starken Schwierigkeiten.
71 Wirtschaft und Gärtnerei. Er liebte es, Gäste bei sich zu sehen. Auch in London hatte er allerhand Freunde. Gern ging er in Johnsons literarischen Klub. An den modischen Genüssen der Hauptstadt, welche seine parlamentarischen Genossen zum Schaden ihres Geldbeutels und ihrer Gesundheit reichlichst auskosteten, fand er dagegen keinen Geschmack. Auch für Pferderennen und andere solche nationalenglische Freuden vermochte er keinerlei Interesse aufzubringen. Die wenige freie Zeit, welche ihm die Arbeit des Tages übrig ließ, wollte er, wie er einmal aussprach, entweder zu vernünftigen Unterhaltungen mit guten Bekannten oder zum Studium der wirtschaftlichen Fragen des großen englischen Reiches verwenden. Ohnehin waren seine Stunden durch die parlamentarischen Pflichten, seine politische Schriftstellerei und die Parteikorrespondenz reichlich ausgefüllt, obwohl er schnell und mühelos arbeitete und nicht lange nach den richtigen Worten suchen mußte. Neben seinen übrigen Fähigkeiten besaß er nämlich noch die Journalistengabe, rasch schreiben zu können. Nicht in dem Sinne, daß ihm eine leichte und pointierte Schreibweise zu Gebote stand, sein Stil war vielmehr eher schwer, manchmal umständlich und stark dem Prinzipiellen zugewendet, aber er kam rasch vorwärts bei seinen Arbeiten und seine Ausdrucksfähigkeit erschöpfte sich dabei nicht. Wenn Burke ein Jahrhundert später gelebt hätte, wäre er ohne Zweifel der Leiter einer der großen Londoner liberalen Zeitungen geworden und hätte als solcher auf die Politik seines Landes und die öffentliche Meinimg ganz Europas einen maßgebenden Einfluß ausüben können. Für seine Natur wäre dies wohl die ideale äußere Stellung gewesen; sein Trieb zur Politik hätte sich in dieser Form am freiesten und fruchtbarsten ausleben können. In seinem eigenen Jahrhundert dagegen verdammte ihn die Ungunst der sozialen Verhältnisse zu einem Zwitterdasein. Die Leichtigkeit, welche Burke in der Formulierung seiner Ansichten besaß, verführte ihn dazu, auch da ausführlich zu werden, wo dies nicht am Platz war. Es war ihm ganz unmöglich, sich kurz zu fassen, in Briefen so wenig wie in seinen Reden und seinen Schriften. Er fand schlagende Sätze, erschöpfende Bezeichnungen, aber er war nicht imstande, sich dann mit ihnen zu begnügen. Ja, es ist sogar zweifelhaft, ob er selbst empfunden hat, daß hier das Eigentliche gesagt war. Solche Sätze sind nämlich oft in seitenlange Erör-
72 terungen geringeren Gebaltes eingebettet. Burke ließ sich von dem Fluß seiner Perioden und Gedanken forttragen—denn Gedanken waren es immer —, obne darauf zu achten, wie sich schließlich das Ganze fugte. Auf diese Weise entstanden seine großen Reden und ebenso die Schriften bis hin zu der berühmtesten: der großen »Rhapsodie «der »Betrachtungen über die französische Revolution«. Unendlich viel hat Burke in seinem Leben geschrieben, angefangen von der politischen Tageskorrespondenz (dazu »offene Briefe«, die schon zu ganzen Abhandlungen wurden) bis zu großen Parteischriften, veröffentlichten Reden und Denkschriften. Dazu kamen noch die umfangreichen Arbeiten im »Annual Register«. Und ebensoviel hat Burke öffentlich geredet. Es fiel ihm leicht, er brauchte sich nicht zu zwingen, auch nicht formal vorzubereiten, es sei denn für die ganz großen Reden. Wenn er jedoch das Wort einmal ergriffen hatte, dann hörte er in der Regel so schnell nicht wieder auf, mochte der Anlaß wichtig oder unwichtig sein. Die Grenzen der Fassungskraft bei seinen Hörem vergaß er vollkommen. Seine großen Reden — soweit diese veröffentlicht sind — haben eine ganz unglaubliche Länge; sie wurden so gehalten, wie sie gedruckt sind. Es ist lehrreich, zum Vergleich die Reden Macaulays heranzuziehen, der Burke nicht nur in seiner Weltanschauung und seinen politischen Idealen nahesteht, sondern ihm auch in der formalen Leichtigkeit und der Ausführlichkeit seiner Schreibweise verwandt ist. In seinen Schriften kann er den Leser durch seine Breite peinigen, in seinen Reden nahm er sich dagegen zusammen. Macaulays Parlamentsreden umfassen etwa sechzehn bis achtzehn Druckseiten im Durchschnitt, was etwa ein bis zwei Stunden Redezeit entspricht ; in einem Falle sind es zweiunddreißig Seiten. Burkes Reden beanspruchen im gleichen Druck etwa siebzig bis achtzig Seiten. Man braucht schon mehrere Stunden, um sie aufmerksam durchzulesen, wie lange muß erst ihr mündlicher Vortrag gedauert haben. Allerdings besaßen die Parlamentarier von damals eine wesentlich größere Ausdauer im Zuhören als die von heute. Auch die anderen großen Rednertalente in Burkes Zeit liebten die große Fülle, quantitativ verstanden. Selbst ein so klarer, nüchterner Geist wie der jüngere Pitt bildete darin keine Ausnahme. Fox war imstande, wenn er sich über etwas ärgerte, Wer bis fünf Stunden das Wort zu behalten, ohne sich vorbereitet zu haben, und freilich dann auch, ohne etwas Erhebliches vorzubringen.
73 Man darf auch nicht vergessen, daß die Minorität in den großen Reden ihr einziges Mittel erblickte, sich bei den Verhandlungen des Parlaments und vor dem englischen Volk überhaupt Geltung zu verschaffen. Burke selber setzte Joshua Reynolds einmal seine Auffassung dieser Dinge auseinander. Eine gute Oppositionsrede, meinte er, sei immer ein gutes politisches Kapital. Sie verschaffe dem Redner Achtung und Gewicht in dei Öffentlichkeit, wenn nicht sofort, so doch in der Folgezeit. Außerdem vermöge eine solche Rede die Gesetze, deren Annahme sie bekämpfe, in ihrer praktischen Ausführung abzuschwächen, selbst wenn sie offiziell beschlossen würden. Die Majorität werde doch genügend beeinflußt, um viele Unzuträglichkeiten selbst zu bemerken und sie darum bei der Ausführung des Gesetzes stillschweigend zu mildem. Ferner gebe es im Unterhaus eine Reihe von unabhängigen »country-gentlemen«, die sich keiner Partei dauernd verschrieben hätten und auf die man darum mit einer guten Rede Eindruck zu machen vermöge1). Burkes eigene Redekunst war jedoch der Psychologie dieser »country-gentlemen« recht wenig angepaßt. Auch der Klang seiner Stimme war ungefällig und Spuren irischen Dialekts wirkten störend. Er hatte deshalb bei seinen Hörern nur ganz selten immittelbaren Erfolg. Im allgemeinen sprach er, ohne den Kontakt mit seinem Zuhörerkreis finden zu können, in einem schwachbesetzten Hause. 3Alle Beurteiler Burkes stimmen in der Ansicht überein, daß der unerfreulichste Abschnitt in seinem Leben die Jahre nach Rockinghams Tode gewesen sind. Damals traten alle Fehler und Schattenseiten seines Wesens hervor und rückten das Große und Bedeutende an ihm ins Dunkel. Nach dem Tode Lord Rockinghams ging Burke in allen politischen Fragen mit Charles Fox zusammen. Erst die Verschiedenheit ihres Urteils über die französische Revolution zerbrach die jahrelange Freundschaft und trennte Burke von allen seinen alten Parteigenossen. In den achtziger Jahren dagegen traten Fox und Burke stets gemeinsam auf, und zwar erschien Burke als der parlamentarische Adjutant und erste Gefolgsmann des Jüngeren. Fox seinerseits be J)
Prior I, S. 321 f.
74 kannte sich laut als den politischen Schüler seines älteren Genossen. Schon die Zeitgenossen fanden dies Paar sonderbar. Ahnlich wie Samuel Johnson ist Charles James Fox eine Gestalt von so besonderem Leben und solch einmaligem Gepräge, daß spätere Generationen sie nur noch ahnen und sich irgendwie zurecht konstruieren, aber nicht mehr wirklich vergegenwärtigen können. Schon der jüngere Pitt, der große Gegner dieses Mannes in der Öffentlichkeit und sein Gegenpart auch als Mensch, bezeugte dies. Auf die Frage eines Franzosen, wie ein Mann von so wenig Charakter wie Fox solch großen Einfluß ausüben könne, hatte Pitt die kurze Antwort: »Sie ind eben nicht im Bereich seines Zauberstabes gewesen1).« In der Tat, Fox muß einen ganz besonderen Zauber auf alle Menschen ausgeübt haben, die mit ihm in Berührung kamen. Die einzige Ausnahme bildete König Georg III., der ihn von Herzen haßte und verabscheute. In seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, 1784, ist Fox von Reynolds gemalt worden: dick und gemütlich, von bourbonischer Schwere der Gestalt, häßlichen fetten Händen, mit einem Zug von vergnügter Bonhomie im Gesicht. Sonderbar stechen die buschigen schwarzen Augenbrauen von dem weißen gepuderten Haar ab. Reynolds Bild gibt nur die passiven, lethargischen, konzilianten Seiten von Fox' Wesen wieder. Von der treibenden Kraft, welche in dieser schwerfälligen Gestalt steckte, verrät es nichts. Bonhomie, Lebenslust und die Fähigkeit, restlos dem Augenblick sich hinzugeben, wird bei ihm von einem unerschöpflichen, sanguinischen Temperament getragen. Wie man auch über Fox urteilen mag, das eine muß man zugestehen, daß dieser Mensch all das, was er war, immer ganz und aus vollem, warmem Herzen war. Er begeisterte sich für große politische Freiheitsprinzipien, wo immer er sie fand; er konnte sich wie ein Kind freuen, wenn er im Herodot las, wie die Griechen sich in längstvergangenen Zeiten der Despotie des Xerxes erwehrt hatten; er konnte stundenlang still in der Sonne liegen und die warme Sommerluft genießen. Aber mit ganz der gleichen Hingabe konnte er Tausende von Pfund in einer Nacht über den Spieltisch rollen lassen und sie verlieren, ohne verdrießlich zu werden, und mit der nämlichen Impulsivität, Liebenswürdigkeit und zwingenden Art verstand er es, sich eine politische Anhängerschaft zu organisieren und sie zusammenRosebery, Pitt S. 43.
75 zuhalten. Jahrzehntelang war er Politiker und Lebemann nebeneinander mit dem gleichen Schwung. So vieles bleibt rätselhaft bei seiner Wirkung auf seine Umwelt, so vieles geht in seinen Anschauungen und Interessen durcheinander, aber es stößt sich doch nie. Chesterfields Briefe haben uns gezeigt, was für ein Gewicht Rednergabe im Parlament besaß, wenn der Redner zu der maßgebenden sozialen Schicht gehörte. Charles Fox war ein unerschöpflicher Redner, wenn er auch — wie er selbst lachend zugab — von dem Strom seiner eigenen Worte oft an einen Punkt getragen wurde, an den er zu Beginn nicht entfernt gedacht hatte. Und wenn überhaupt jemand, dann war er die Spitze der Londoner mondänen Gesellschaft. Durch seine Mutter war er zudem mit dem Hochadel verwandt. Dabei war er kein aristokratischer Stutzer, außer in ganz frühen Jahren, sondern grob in seiner äußeren Erscheinung und ohne jegliche Grazie in den Bewegungen. Gerade dies machte ihn beim Volk behebt, das in solchen Zügen etwas Verwandtes spürte. Charles James Fox' Vater Henry Fox, der es später zum Lord Holland brachte, war der gerissenste und grundsatzloseste Politiker der Zeit Georgs II. Der Sohn wurde nach Gesichtspunkten im Stile Lord Chesterfields zu einer weltmännischen Großzügigkeit erzogen, die von moralischen Erwägungen nicht gestört sein sollte. Nur sah Henry Fox nicht wie Chesterfield den Salon, sondern den mondänen Spielklub für den Ort der richtigen Schulung an, mochte diese Schulung dadurch auch wesentlich teurer werden. Noch vor seiner Mündigkeit wurde der Sohn mit einem Parlamentssitz ausgestattet, als er noch gar keine politischen Ansichten besaß. Trotzdem wurde Charles Fox ganz anders als sein Vater. Nicht nur ein Fürst unter den Lebemännern, der es schon mit vierundzwanzig Jahren auf 130 000 Pfund Schulden brachte und im Laufe seines Lebens sein ganzes ererbtes Vermögen über den Spieltisch jagte — dies war ja nur ein Zuviel im Sinne der Erziehung, welche der alte Fox gewünscht hatte —, sondern auch ein Apostel der politischen Freiheit und des Weltbürgertums, der seine Grundsätze selbst ehrlich und ernst nahm und nicht lediglich als Aushängeschild benutzte, wie es sein Vater vielleicht getan hätte. Wohl war auch dieser Sohn Politiker; seine Prinzipien wandelten sich ihm manchmal unvermerkt unter den Händen, in dem taktischen Kampf um die Macht, der im Unterhaus geführt wurde und dessen Kniffe er trefflich verstand. Aber solche Fälle traten nicht häufig bei ihm
76 auf und niemals waren sie bewußte Heuchelei. Alles geschah so impulsiv und so naiv, wie Charles Fox bei aller Klugheit selber war1). Neben Burke hat Fox das größte Verdienst daran, daß der Kampf der englischen politischen Parteien wieder mehr zu einem Ringen grundsätzlicher Anschauungen wurde. Ihrem Inhalt nach sind seine Prinzipien ungleich elementarer und unbestimmter als die Edmund Burkes, seines Genossen, und viel mehr von der gefühlsmäßigen Überzeugung eines feurigen Temperaments getragen als durch Gedankenarbeit errungen und verteidigt. Als Denker und nach dem Maß wirklicher politischer Kenntnisse steht Burke unvergleichlich viel höher. Fox war dafür ein viel gewandterer Parlamentarier, der besonders in der Debatte zu fürchten war, und ein glänzender Parteileiter2) und Agitator. Die zeitgenössischen Karikaturen hebten, Fox zu einem feisten, schlechtrasierten, sich plump bewegenden Buschklepper zu vergröbern. An seiner Seite pflegte Burke als ein dürrer Lehrer oder Pfarrer mit mehr oder minder einfältiger Miene zu erscheinen. In der Tat gaben ihm in den achtziger Jahren die große runde Brille auf der langen Nase, der braune einfache Rock und die Perücke mit dem kleinen Zopf, dazu die dozierend vorgestülpten Lippen etwas Pädagogisches. Sein Ansehen im Parlament war in diesem Jahrzehnt recht gering geworden. Von den jungen Mitgliedern der Gegenpartei, welche Burkes frühere Zeiten nicht erlebt hatten, machten es sich ') Über Fox im allgemeinen siehe G. O. Trevelyan, The early History of Charles James Fox, 2. Aufl. 1881 und George III. and Charles Fox, Vol. I, 19:2. — Über seine politischen Ansichten J. B. Hammond, Charles James Fox, London 1903. *) Einiges über Fox' Lebensstil: Wenn Burke, wie er selbst einmal erzählt, von seinem Studium der politischen Fragen mflde sich am Nachmittag zu der Parlamentssitzung auf den Weg machte, dann konnte er Fox gegen drei Uhr, gerade aufgestanden, und beim Frühstück finden. Dessen »Tag« schloß nicht mit der Parlamentssitzung, sondern begann mit ihr. — Wir wissen nicht, ob dieses Frflhstück mit dem Lever von Fox identisch ist, das zugleich Parteisitzung war. Horace Walpole beschreibt es folgendermaßen: »As soon as he (Fox) rose, which was very late, (he) had a levee of his followers and of the Members of the Gaming Club, all his disciples. His bristly black person and shagged breast quite open, and rarely purified by any ablutions, was wrapped in a foul linen nightgown, and his bushy hair dishevelled. In this cynic weeds and with Epicurean good humour did he dictate his politics.« Auch der Prinz von Wales fand sich bei solchen Besprechungen ein.
77 einige sogar zum Sport, ihm durch Unruhe, Lachen, Husten das Reden unmöglich zu machen oder wenigstens nach Kräften zu verleiden. Zum Teil lag es auch an Burke selbst, daß sein Ansehen in dieser Zeit so sehr gefährdet war. Sein Genosse Charles Fox mochte sich in seiner Taktik Fehler und Eigentümlichkeiten gestatten; er fiel wie eine Katze immer wieder auf die Füße. Burke, der Blutlosere, Ernsthaftere und Dogmatischere, mußte für die gleichen Sünden viel schwerer büßen. Jahrelang hatte er im Namen aller moralischen
The political
banditti.
Karikatur von Gillray, 1788. Burke (links, mit der Donnerbüchse), Lord North (mit dem schartigen Säbel) u n d Fox (rechts, mit dem geschwungenen Dolch) fallen Warren Hastings a n .
und staatlichen Grundsätze im Parlament gegen Lord North gedonnert und ihn mit einem Staatsprozeß bedroht. Im Jahre 1783 fügte es das Spiel der Parteien, daß Burke und Fox mit eben diesem Lord North, den sie als einen Schädling der Nation hatten brandmarken wollen, geruhsam in einer Regierung saßen. Es war wieder einmal einer der Fälle, die grell bewiesen, was man von den PrinzipTiraden der Oppositionsredner zu halten hatte. Für Burke bedeutete die Verbindung mit dem geschmähten North eine Art von moralischem
78 Zusammenbruch. Zudem zeigten die Wahlen des folgenden Frühjahrs, daß diese anrüchige Parteigruppierung nicht einmal durch den taktischen Gewinn zu rechtfertigen war. Das neue Parlament ergab eine gewaltige Mehrheit für den vierundzwanzigjährigen Pitt, der ein Vierteljahr lang die Koalition Fox-North im alten Parlament trotz ihrer Übermacht in Schach gehalten hatte.
K a r i k a t u r d e s j ü n g e r e n P i t t , von GUlray, 1791.
Seitdem war die Partei, deren zweiter Wortführer Burke war, dauernd in die Opposition geworfen. Eine gereizte, verbitterte, oft kleinliche Polemik begann. Burke bekämpfte Pitt so leidenschaftlich wie ein Jahrzehnt zuvor North und rieb sich selbst wund bei diesem Kampf, denn Pitt mit seiner mokanten Kühle war ein weit unange-
79 nehmerer Gegner als früher der behagliche North. Auch war Burkes moralischer Nimbus durch das KoahtionSministerium von 1783 zerstört. Sein Wirken wurde noch durch einen zweiten persönlichen Umstand beeinträchtigt, nämlich durch eine sich fortgesetzt steigernde, maßlose Reizbarkeit und Erregtheit. Schon am Anfang des Jahr-
J)amerSaw. -OT-
Die
ThiPbidisrnm'i
Dolchszene.
Karikatur von Gillray, 1792. Burke stehend; links im Vordergrund sitzt schaudernd Pitt; auf der andern Seite Fox und Sheridan mit beklommenen Mienen.
zehnts fiel sie in den parlamentarischen Kreisen allgemein auf. Es wurde beinahe öffentliche Meinung, Burke sei geistig nicht mehr völlig normal. Man nahm entsprechend wenig Notiz davon, wenn er etwas in seiner heftigen Weise vorbrachte. Auch verlor vieles von
80 dem, was er sachlich zu sagen hatte, sein ganzes Gewicht durch den Tonfall persönlicher Erbitterung, in welchem es geäußert wurde. Am peinlichsten war diese Art seines Auftretens in der Zeit der Debatten über das Regentschaftsgesetz, Anfang 1789. Georg III. war damals durch einen Anfall von Geisteskrankheit regierungsunfähig geworden und die Oppositionspartei lief Sturm, um die Lage auszunutzen und dem Prinzen von Wales, ihrem Gönner, die Regentschaft zusprechen zu lassen. Es hätte dies das Ende von Pitts Machtstellung bedeutet. Durch die unerwartet rasche Genesung des Königs wurde Pitt jedoch im letzten Augenblick von der Gefahr befreit. Die Opposition mußte sich geschlagen zurückziehen und der Spott blieb nicht aus. Bei diesen parlamentarischen Kämpfen verstieg sich Burke in seiner Ausdrucksweise bis zu groben Geschmacklosigkeiten1). In den Jahren der französischen Revolution steigerte sich seine krankhafte Heftigkeit weiter, bis sie in der grotesken »Dolchszene« vom Dezember 1792 ihren Höhepunkt fand. Um dem Parlament die schwarzen Pläne der englischen Revolutionsfreunde unwiderleglich darzutun, zog Burke plötzlich mit großer Gebärde einen Dolch angeblich revolutionärer Herkunft hervor und warf ihn in die Mitte des Sitzungssaales. Sein ehemaliger Parteigenosse Sheridan, nunmehr sein Gegner, hatte die Zeit, in der er seine glänzenden Komödien schrieb, noch nicht so sehr vergessen, um hier nicht den Augenblick zu erfassen. »Das Messer ist da, wo bleibt denn die Gabel?« rief er Burke zu und dessen Pathos verpuffte in Lächerlichkeit. Die Zeiten von Burkes parlamentarischen Erfolgen waren in den neunziger Jahren ganz dahin, besonders seit er mit seiner bisherigen Partei wegen deren Sympathien für die Jakobiner gebrochen hatte. Nun fehlte ihm jeder stärkere Rückhalt, denn der Gegenpartei mochte er sich auch nicht anschließen. Es hat etwas Rührendes wie der von seiner eigenen Partei Verfehmte bei den bisherigen Gegnern, in deren Reihen er doch nicht eintreten wollte, um Schutz bat. Er warf sich nunmehr wieder ganz auf die schriftstellerische Tätigkeit und fand hier ein angemesseneres Mittel, die Revolutionsideen zu bekämpfen und die Nation gegen sie wachzurufen, als Unterhausreden waren. Sobald man damals mit ihm über Politik sprach, sogar dann, wenn man dabei seinen Ansichten durchaus zustimmte, bekam er ') Lecky, V, S. 131.
81 sofort den Gesichtsausdruck eines Mannes, »der sich gegen Mörder verteidigt« 1 ). So übermäßig war damals seine Reizbarkeit geworden. Es war Burkes Verhängnis, daß er zum praktischen Staatsmann und auch zum erfolgreichen Parlamentarier zu wenig Selbstbeherrschung besaß und daß er die reichen Mittel seiner Redegabe und die Triebkraft seines politischen Temperaments nicht den jeweils zu erreichenden
Burke
zaust
Fox
und
Sheridan.
Karikatur von Gillray, 1791. (Rechts Fox; links Sheridan.)
Zielen und der Frage des betreffenden Tages anzupassen wußte. So stumpfte man sich gegen seine Leidenschaft ab. Einer gewaltigen Menge von Arbeit und parlamentarischem Kraftaufwand steht ein geringes Maß parlamentarischer Wirkung gegenüber. Zum Abschluß sei eine freundschaftliche Kritik hierhergesetzt, welche Burkes Tätigkeit schon in früheren Zeiten gefunden hatte. Es ist das Urteil eines unpolitischen Menschen über einen politischen, *) Ein Urteil von Burke befreundeter Seite: Madame d'Arblay, Diary V, S. 3 i 5 f f . (1792). — Hopkins University
Vgl. Laprade, England and the French Revolution, Studies,
L e n n o x , Edmund Borke.
1909. 6
John
82 aber die beste Charakteristik, welche B u r k e zu seinen Lebzeiten gefunden h a t .
Ich meine die scherzhafte Grabschrift Burkes, welche
Oliver Goldsmith v e r f a ß t e : "Here lies our good Edmund, whose genius was such. We scarcely can praise it or blame it too much; Who born for the universe, narrow'd his mind. And to party gave up, what was meant for mankind: Though fraught with all learning, yet straining his throat, To persuade Tommy Townshend to lend him a vote; Who too deep for his hearers, still went on refining. And thought of convincing, while they thought of dining: Though equal to all things, for all things unfit; For a patriot too cool; for a drudge disobedient; And too fond of the right, to pursue the expedient. In short, 'twas his fate, unemployed or in place. Sir, To eat mutton cold, and cut blocks with a razor."') *) Goldsmith, Retaliation (1774).
Viertes Kapitel.
Edmund Burke und der englische Staat. i. Die »Thoughts on the Cause of the Present Discontents« (1770), die erste1) große politische Parteischrift, mit welcher Burke an die Öffentlichkeit trat, waren das Werk eines vierzigjährigen Mannes, dessen Überzeugungen bestimmt und ausgereift waren. Alle Gedankengänge des Burke der neunziger Jahre klingen hier schon an; doch fehlt noch die Fülle und Farbigkeit des sprachlichen Ausdrucks und der Strom der politischen Leidenschaft, welcher seinen Schriften gegen die Ideenwelt der Jakobiner ihre Gewalt gibt. Der Ton ist noch viel ruhiger und sachlicher gehalten, doch spürt der Leser die Wärme und Sicherheit eines innerlich Überzeugten. Die »Present Discontents« waren die erste größere Kundgebung, mit welcher die Parteigruppe Lord Rockinghams sich an die weitere Öffentlichkeit wandte, um Anhänger zu werben. Die Schrift zieht die Bilanz der ersten zehn Regierungsjähre Georgs III., wie sie vom whigistischen Standpunkt aus erschien. Schon seit mehreren Jahren war die parlamentarische Welt einerseits, die Masse der Londoner Bevölkerung anderseits durch eine Angelegenheit in Erregung versetzt worden, welche an sich von geringer Bedeutung war, aber als Symptom der Entwicklung die Aufmerksamkeit auf sich lenkte und die Diskussion über die Grundfragen der englischen Verfassung wieder in Fluß brachte. Es war der sogenannte Fall Wilkes. Die ein Jahr zuvor (1769) veröffentlichten »Observations on a late publication intituled ,The Present State of the Nation'« sind eine polemische Spezialschrift (Entgegnung auf eine finanzwirtschaftliche, pessimistisch gehaltene Broschüre aus einem anderen Parteilager). Sie war darum für die weitere Öffentlichkeit von geringerem Interesse.
6»
81 John W i l k e s war einer der zahlreichen modischen, schuldenbelasteten Londoner Lebemänner. Politisch gehörte er ursprünglich zum weiteren Anhang Pitts. Sachliche und persönliche Motive führten ihn dazu, nach dessen Sturz das folgende Ministerium in der Presse voll Schärfe zu bekämpfen. Ein Artikel aus dem Jahre 1763, in welchem er einen Satz der Thronrede Georgs III. als bewußte Lüge der Regierung bezeichnet hatte, zog ihm einen Prozeß zu, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Bei dem Verfahren ging es ziemlich unregelmäßig zu und die Absicht der Regierung, an einem unbequemen Wortführer der Opposition ein Exempel zu statuieren und ihn bürgerlich tot zu machen, sprang in die Augen. Wilkes zog es vor, außer Landes zu gehen, ehe die gerichtliche Entscheidung fiel. Mehrere Jahre blieb er in der Fremde, immer auf dem Sprung, wieder aufzutauchen, wenn es die Lage der Parteien zu gestatten schien. Unterdessen vertrieb er sich in den Bekanntenkreisen Diderots und Winckelmanns zu Paris und Rom die Zeit. 1768 wagte er die Rückkehr nach England wirklich, stellte sich dem Gerichtshof, um seinen Prozeß auszutragen, kandidierte aber zu gleicher Zeit für das Unterhaus in dem großstädtischen Wahlkreis Middlesex. Mit ungeheurer Mehrheit wurde er gewählt. Das Volk gab seiner Freude über dies Wahlergebnis tumultuarischen Ausdruck. Auch weiterhin war der Londoner Pöbel für Wilkes, der zu seinem Helden geworden war, in seiner Weise hilfreich tätig, indem er Fenster zerbrach, Karossen von vornehmen Angehörigen der Gegenpartei mit Straßenschmutz bewarf und Amtspersonen verprügelte. »Wilkes and Liberty« war die allgemeine Parole geworden. Wilkes' Bildnis prangte in Ladenfenstern, auf Wirtshausschildern und den Hüten seiner Anhänger. Das Ganze war die erste instinktive Regung des außerparlamentarischen England, eine erste Anmeldung seiner Rechte, eine plumpe und ungeschickt tappende, nur halb bewußte Kundgebung gegen die bestehende politische Struktur des Landes. Wilkes selbst besaß taktisches Geschick. Hartnäckigkeit und Geschmeidigkeit wußte er wohl zu vereinen. Er benutzte seinen Anhang im Londoner Volk und machte dessen Gewicht der Regierung fühlbar, ohne sich jedoch über die Grenzen der eigenen Macht zu täuschen. Er blieb darum streng auf dem Wege des formalen Rechts und wußte alle ernstlichen Kraftproben mit der Staatsgewalt zu vermeiden. Der König dagegen stürzte sich plump und unüberlegt in
85 den Streit hinein. Er sah den Ausgang des Falles für grundsätzlich entscheidend an und setzte sich deswegen mit allen Kräften dafür ein, daß das Unterhaus Wilkes nicht als Mitglied anerkennen sollte1). Entsprechend wurden vom Höf und von der Regierung aus die parlamentarischen Drähte gezogen. Wilkes wurde aus dem Unterhaus ausgestoßen. Als fadenscheinige Begründimg für diese Maßregel mußte eine blasphemische und moralisch anrüchige Schrift herhalten, die Wilkes früher einmal für den kleinen Kreis seiner Zechbrüder verfaßt hatte. Als Middlesex ihn glatt aufs neue zu seinem Vertreter wählte, erklärte das Parlament wiederum seine Ausstoßung. Ihr folgte zum drittenmal die Wahl. Noch ein weiteres Mal wiederholte sich das ganze Spiel. Schließlich erklärte die Mehrheit des Unterhauses kurzerhand Wilkes Gegenkandidaten für rechtmäßig gewählt. Durch diesen letzten Schritt war das Parlament unverhohlen in die Rechtssphäre der Wählerschaft eingebrochen. Es konnte nicht fehlen, daß ein solches Vorgehen im Parlament selbst wie in der Presse und der öffentlichen Welt Londons heftige Debatten entfesselte. Zur Unterstützung von Wilkes bildete sich in der Hauptstadt ein Verein der bürgerlichen Radikalen, »Committee of Supporters of the Bill of Rights« genannt. Er war ein Vorläufer zahlreicher ähnlicher Vereinigungen in den Jahren der französischen revolutionären Propaganda. Der Konflikt zwischen Wilkes und der von dem König gestützten Regierung zog sich bis in die siebziger Jahre hinein. Auch die Frage der Pressefreiheit verquickte sich im weiteren Verlauf damit. Wilkes fand die Unterstützung der Stadt London, deren Sheriff2) er 1771 wurde und deren Selbstbewußtsein dem Parlament gegenüber bei diesem Streit wieder einmal zum Ausdruck kam. 1774 wurde Wilkes endlich in dem neugewählten Unterhaus widerspruchlos zugelassen und der Zwist damit begraben. Die Richtungen hatten sich in dem Streitfall folgendermaßen geschieden: Auf der einen Seite die überzeugten Gegner Wilkes' und neben ihnen die an sich Grundsatzlosen, welche jenen aus Eigensinn *) George III., Letters to Lord North, Band I, 25. April 1768; »The expulsion of Mr. Wilkes appears to be very essential and must be effected....« *) E r stieg weiterhin zum Lord-Mayor von London empor. Seine Altersjahre verbrachte er schließlich friedlich mit der Herausgabe von Luxusdrucken antiker Schriftsteller, in glocklichem Besitz einer Villa auf der Insel Wight und zweier Häuser in der Hauptstadt.
86 weiterhin Gefolgschaft leisteten, weil sie nun einmal gegen Wilkes gestimmt hatten. Dazu die von Hof und Regierang materiell abhängigen oder erkauften Parlamentsmitglieder. Auf der Gegenseite Wilkes* radaulustige Gefolgschaft, welche in ihm einen nationalen Heros und großen Führer erblickte . Von beiden Gruppen geschieden war eine dritte, die wichtigste von allen. Sie unterstützte Wilkes Sache gegen die Regierung aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Gründen und auch aus taktischen oppositionellen Erwägungen. Wilkes' Persönlichkeit bewertete sie aber recht gering und für seine Volkstümlichkeit hatte sie nur ein spöttisches Achselzucken. Manchmal waren dabei allerdings einige Neidgefühle spürbar. Dieser dritten Gruppe gehörte, wie seine ganze Partei, auch Burke an. Die Radikalen vom »Verein zur Unterstützung der Bill of Rights« verachteten seine Haltung als schwächlich. Burke andererseits ärgerte sich über das gewaltsame Gebaren der radikalen Apostel1). Dabei gingen deren »Gewaltsamkeiten« über volkstümliche, in unzweideutig-derbem Ton gehaltene Reden, an denen Redner und Hörer ihre Herzen gemeinsam erwärmten, gar nicht hinaus. Im Hinblick auf den Fall Wilkes und seine tieferen Ursachen sind von Burke die »Present Discontents« geschrieben worden, in enger Fühlungnahme mit den anderen Führern seiner Parteigruppe. Noch nachträglich wurde in gemeinsamer Beratung manches verändert oder gestrichen. So fiel z. B. ein Absatz, der die Haltung des alten Pitt kritisierte. Man wollte sich nicht mehr Gegner schaffen als unvermeidbar war. Ohnehin war es ja der Fluch eines jeden Versuchs, in dem England dieser Jahre zu einer sachlich festen politischen Haltung zu kommen, daß dadurch Brücken zu den Nachbarparteien abgebrochen wurden, welche eine so kleine Gruppe, wie die Lord Rockinghams, schwer entbehren konnte. Der Umkreis der möglichen Parteiverbindungen und taktischen Abmachungen wurde auf das äußerste beschränkt, wenn eine öffentliche grundsätzlich-sachliche Kritik die anderen Parteiführer vor den Kopf stieß oder auch nur ihre Empfindlichkeit wachrief. Burkes Schrift sucht deshalb alle persönlichen und direkten Angriffe zu vermeiden. Sie setzt die innere ') Burke, Corr. I, 229 (1770): »A rotten subdivision of a faction amongst ourselves who have done us infinite mischief by the rashness, violence and often wickedness of their measures. I mean the Bill of Rights people.«
87 Lage Englands auseinander und schlägt Mittel vor, um die Schäden zu beheben, natürlich von ihrem Parteistandpunkt aus. Aber die Reklame für die eigene Partei hält sich doch in sehr gemäßigten Grenzen. Es liegt darin Vornehmheit, aber ebensosehr auch eine gewisse Kraftlosigkeit, beides charakteristische Merkmale der Rockinghamgruppe überhaupt. Die »Present Discontents« malen das Bild des damals herrschenden innerpolitischen Systems. Das Bezeichnende dabei ist, daß der König selbst nicht angegriffen wird. Burke erhält vielmehr die Annahme aufrecht, daß eine Hofkamarilla sich zwischen König und Volk gedrängt habe und sich dieses durch systematische Bestechung dienstbar mache. Daß der König selber bei dieser Tätigkeit am eifrigsten und geschicktesten mitwirkte, wird verschwiegen. Überhaupt werden die tatsächlichen Verhältnisse in der Schrift beträchtlich stilisiert und einzelne Vorgänge prinzipieller gedeutet, als notwendig war. Burke vermeinte oft, da Spuren eines bestimmten, vorbedachten Planes zu entdecken, wo lediglich Rückwirkungen des Augenblicks vorlagen. Er setzt auseinander, daß die Macht der Krone auf dem neuen Weg der Beeinflussung des Parlaments wieder gefahrvoll emporgestiegen sei. Die Opfer dieser Entwicklung seien die Familien der großen Whigmagnaten, die es bisher noch nicht über sich gewinnen konnten, gegen einen König aus dem Hause Braunschweig, der spezifisch whigistischen Dynastie, die politische Gegenwehr aufzunehmen. Die Hofpartei verfahre nach einer ganz bestimmten Methode: der Reihe nach bringe sie alle Gruppen an die Regierung, arbeite ihnen aber jedesmal in einer zweiten geheimen Regierung entgegen, schwäche sie dadurch und lege sie nach kurzer Zeit lahm. Nach ihrem Sturz verliere jede Partei auch an ursprünglicher Kraft und werde beträchtlich ärmer an Zahl. Denn jedesmal wollte eine Reihe ihrer Angehörigen nicht mit in die Opposition zurücktreten und traf lieber ihre Abmachungen mit der siegreichen Gegenpartei, um ihre Posten in der Regierung behalten zu können. Dieses System des »doppelten Kabinetts« zusammen mit dem Günstlingswesen habe Englands gegenwärtigen Zustand herbeigeführt, d. h. die Unsicherheit nach innen, die schwächlich unentschlossene Haltung nach außen, welche von der glorreichen Zeit Georgs II., in welcher König und Minister im Einklang lebten, sich so sehr unterscheide.
88 Um ihre Umtriebe zu bemänteln, habe die Clique der Höflinge ein Programm ausgegeben, wonach als Ziel erschien, man müsse alles Parteiwesen unterdrücken und alle politische Käuflichkeit ausrotten, ein Programm — wie Burke sich ausdrückt — »sehr geeignet für die guten Seelen, deren leichtgläubig-moralischer Sinn ein so ungeheures Kapital für geschickte Politiker ist«. Man rede immer von der übergroßen Macht der Aristokratie, welche gebrochen werden müsse, und vertusche damit, daß das Gleichgewicht im Staat jetzt vielmehr von der Seite des königlichen Hofes bedroht sei. Der König habe im Grunde keinen schlimmeren Feind als diese seine sogenannten »Freunde«, da deren Streben nur darauf gerichtet sei, sich aus den reichen Mitteln, über welche das Königtum verfügt, eine angenehme Stellung zu verschaffen. Aus diesem Grunde stiegen die Ausgaben und Schulden der Zivilliste ins ungeheure. Das englische Königtum, wie Burke es sich wünscht, entspricht der Rolle, welche ein liberal-konstitutioneller Fürst in einem .Kleinstaat des 19. Jahrhunderts spielte. Burke kann sich nicht denken, daß der König — außer der Würde, Repräsentant der Nation zu sein — noch etwas anderes begehren könne als Reichtum, persönliches Ansehen und vor allem Behaglichkeit und Ruhe im privaten Leben. Die Erwägung, daß dem kräftigeren und in seinen Mitteln reichen Königtum eines Großstaats stets ein natürlicher Machtsinn innewohnt, tritt bei Burke nicht auf. Auch sonst war er sehr geneigt, whigistischliberale Auffassungen ohne weiteres für allgemeingültige zu halten. So ruft er im weiteren Verlauf der Schrift »die Guten« auf, sich zur Abwehr der geschilderten Schäden zu vereinen. »Im öffentlichen Leben«, so führt er aus, »ist, wie im privaten, unter den Menschen eine Anzahl gut, eine Anzahl schlecht. Die einen in die Höhe zu bringen, die anderen niederzuhalten, ist das erste Ziel aller wahren Politik«. Es ist ein Hauptmerkmal von Burkes Anschauungsweise, daß er die Sache der eigenen Partei stets ethisch bewertet und ihre Ziele mit den Geboten der allgemeinen Moral gleichzusetzen wagt. Er gehörte nicht zu der Zahl der engen Moralisten, welche an alle Geschehnisse des politischen und öffentlichen Lebens nur einen einzigen, starren und kurzen Maßstab anlegen und daraufhin in selbstgewissem Tone Urteile fällen über Gut und Böse. Aber mit den Mitteln des geübten Politikers, dem Augenmaß und der Anpassungsfähigkeit des Staatsmanns wollte er der Moral zum Siege verhelfen, deren Sache er durch
89 seine Partei vertreten glaubte. Konflikte zwischen den Forderungen der Parteipolitik und den ethischen Geboten sind ihm erspart geblieben. Für sein Empfinden ging die Rechnung immer glatt auf. Schon bei Burkes Jugendschrift gegen Bolingbroke und seiner Beurteilung der Leistungen Rousseaus haben wir gesehen, wie sehr ihm jedes Übermaß zerfasernder Kritik verhaßt war. Er blieb deshalb bei seinem Tadel der bestehenden politischen Schäden stets innerhalb der Grenzen des Gemäßigten. Immer wandte er sich heftig dagegen, daß die Verkommenheit der Zeit, die Käuflichkeit und Gewissenlosigkeit der Gesellschaft etwa mit zu schwarzen Farben gemalt werde. Vor edlem erregte es seine Empörung, wenn man sich über solche Dinge in dem Tone des Spottes und der höhnischen Resignation äußerte. Er war der Meinung, daß eine solche Kritik lediglich zerstörend wirken und das Ansehen der alten Institutionen des Staates in der öffentlichen Meinung untergrabe. »Es ist mein Wunsch«, schrieb er einmal (1777) an seine Wähler, »daß Sie kein Vergnügen an der jetzt üblich gewordenen Mode finden mögen, über die Käuflichkeit von Parlamentsmitgliedern zu höhnen. Diese Art von ausnahmsloser Schmähung bewirkt meines Wissens nur, daß von der Institution des Parlaments selber ein schlechter Eindruck entsteht, einer Institution, welche wir wohl oder übel mit frommer Gewissenhaftigkeit bewahren müssen (religiously preserve), wenn wir nicht jeden Anspruch darauf, ein freies Volk zu sein, aufgeben wollen1). Die Meinung von der unterschiedslosen Käuflichkeit des Unterhauses muß auf die Dauer zu einem Abscheu gegen Parlamente überhaupt führen. Es sind die Bestechenden selber, welche diese allgemein gefaßte Anklage wegen Bestechlichkeit verbreiten.« Auch fand Burke, man dürfe seinen Patriotismus nicht soweit treiben, daß man aufhört, sich gegenüber den politischen Gegnern als Gentleman zu betragen2). Alles wirkte in ihm zusammen, seine Kritik der innerpolitischen Zustände innerhalb der Grenze des Mittelmaßes zu halten: sein Bestreben, die äußere Höflichkeit nicht zu verletzen, seine Abneigung gegen jeden Radikalismus im Denken und Wollen und gegen jede Zersetzung der bestehenden Zustände. Wenn man verändern oder tadeln müsse, fand er, solle dies mit Maß und im Einklang mit den Forderungen positiver Burke, Corr. II, S. i g ^ f . ; vgl. auch Letter to the Sheriffs of Bristol (1777), Schlußteil. *) Present Discontents.
90 Moral geschehen, nicht etwa in einer unfruchtbaren Skepsis aus oder gar infolge persönlicher Gehässigkeit. Burke war bestrebt, selbst diese seine Grundsätze nicht zu verletzen. Persönliche kalte Bosheit lag seiner Art fern, so oft er auch (namentlich in seiner späteren Zeit) bei öffentlichen Angriffen auf gehaßte politische Gegner über das Ziel hinausschoß. Seine Fehler waren zügellose Heftigkeit, Grobheit und blinde Hitze, die sich in geschmacklosen rhetorischen Gleichnissen und einem plumpen Pathos Luft machten. Hämische Anzüglichkeiten, Hohn und eine schneidende persönliche Schärfe waren dagegen die Waffen, mit welchen in derselben Zeit ein zweiter politischer Schriftsteller in den Kampf zog: der Autor der J u n i u s b r i e f e . Die Juniusbriefe sind eine Reihe von Zeitungsartikeln, welche im Laufe der Jahre 1769 bis 1772 erschienen; unterzeichnet waren sie mit dem Namen Junius, gemäß dem damaligen Journalistenbrauch, sich Decknamen von antikem Klang zu geben. Ihr Stil ist der einer maßlosen und mitleidlosen Bissigkeit. Die Folgezeit lernte daraus, wie man seine Feder spitzen müsse, um politische Gegner recht zu verwunden. Die Juniusbriefe wirkten wie ein fressendes Gegengift gegen die Auswüchse und skrupellosen Treibereien in den Regierungskreisen. Ihre Angriffe trafen umsomehr ihr Ziel, als der Verfasser — im Gegensatz zu anderen Journalisten — über die Verhältnisse unheimlich unterrichtet war. Die Politiker gerieten in Aufregung über den unerhörten Ton und jeder mühte sich, zu entdecken, wer unter der Maske stecke. Mit einem Ruck wurde die Bedeutung der englischen Presse für die Landespolitik durch diese Artikel gehoben. Der Reihe nach und wie es Gegenartikel ergaben, suchte sich Junius seine Gegenstände und persönlichen Opfer aus. Er nahm das Verhalten der Regierung im Falle Wilkes unter die Lupe. Niemals wich er vor einer Entgegnung zurück, niemals gab er eine seiner Behauptungen als irrig oder unberechtigt auf. Falls die Argumente der Gegner für einen Gegenangriff zu schwierig wurden, machte er einen kleinen raschen Schritt zur Seite, manchmal begleitet von einer höhnisch-ironischen Verbeugung, und richtete seine Pfeile auf ein neues Ziel. Seine Sprache war kurz, knapp, ohne jede überflüssige Pathetik, ganz gefechtsmäßig gehalten. Vor nichts machte Junius Halt, auch vor dem König nicht. »Das englische Volk ist dem Hause Hannover treu; nicht aus sinnloser Bevorzugung einer Familie vor einer anderen, sondern aus der Überzeugung heraus, daß die Ein-
91 setzung dieser Familie zur Stütze der bürgerlichen und religiösen Freiheiten notwendig war. . . Durch Unterschiede des Namens können wir nicht lange getäuscht werden. Der Name Stuart für sich allein ist nur verächtlich; bewaffnet mit der Autorität des Herrschers werden die Grundsätze der Stuarts zur Gefahr. Der Fürst, welcher ihre Haltung nachahmt, sollte sich durch ihr Vorbild warnen lassen. Statt sich aufzublasen wegen der Unanfechtbarkeit seines Anspruchs auf die Krone, sollte er sich erinnern, daß dieser, wie er durch eine Revolution erworben wurde, durch eine zweite verloren gehen kann«1). So schloß ein Artikel, der die Haltung des Königs im Falle Wilkes in Form eines ganz direkten »offenen Briefes« besprach. Er ist der bedeutendste der ganzen Reihe; viele der anderen stehen in Ton und Gehalt wesentlich niedriger. Junius berechnete seine Angriffe auf volkstümliche Vorurteile, er spielte z. B. die altüberkommene englische Eifersucht gegen die Schotten aus. Er hegte auch keine Skrupel, die körperliche Häßlichkeit eines Gegners zu verhöhnen. Burke lag eine solche Kampfesweise ganz fern. Trotzdem wurde er damals schon und auch noch später mehrfach für den Verfasser der Juniusbriefe gehalten und in der Presse deswegen angegriffen, obgleich er die Urheberschaft nachdrücklich, mit einer beinahe ängstlichen Geschäftigkeit in Abrede stellte. »Wenn ich etwas gegen Personen in Amt und Würden einzuwenden habe, gebrauche ich dabei, wie Sie selbst sehr gut wissen, keine Mittel außer denen, welche jeder ehrenhafte Mann vor seiner eigenen Würde verantworten kann«, erklärte er2). Junius Angriffsweise war für Burke ebenso unmöglich wie dessen Stil. Sein Naturell war viel zu weich, sensibel und reizbar, um eine derartige Preßfehde durchführen zu können, bei welcher eiskalte Klarheit, Konzentration, erbarmungslose Härte und eine Portion Gewissenlosigkeit die ersten Erfordernisse waren. Bei Burke sprach stets die eigene Erregbarkeit, sei es in Empfindungen der Bewunderung und der Liebe oder des Zorns und des Abscheus unverkennbar mit hinein. Auch strebte er immer, vom bloß Alltäglichen und Persönlichen weg zum Grundsätzlichen und dauernd Geltenden zu gelangen. Bei Junius steht es umgekehrt: alles Prinzipielle, Allgemeine, Sachliche kommt erst in zweiter Linie und ist bloßes Mittel im Kampf. l)
The Letters of Junius, Brief 35 (19. Dezember 1769). *) Burke, Corr. I, 268.
92 Die Erörterung hält sich ganz an die Gegenwartspolitik und ihre Träger. Da sich Junius einfach als einen »Mann aus dem englischen Volk« gibt, sich keiner der bestehenden Parteien verschreibt und auch nicht lediglich für die alten whigistischen Grundsätze und die Interessen des englischen Adels seine Feder führt, erscheint er sehr viel »bürgerlicher« als Burke und in dieser Beziehung dem Fühlen des 19. Jahrhunderts näher verwandt. An Kraft, Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit der politischen Wirkung konnten die »Present Discontents« mit Junius nicht wetteifern. Burkes Schilderung des »höfischen Systems« wirkt konstruiert und gekünstelt, seine Kritik ein wenig akademisch matt neben dem starken politischen Willen, dem lebendigen Haß und den frechen Attacken gegen ganz bestimmte, allseits sichtbare Machthaber in den Juniusbriefen. Die »Present Discontents« hatten als Parteikundgebung in der Öffentlichkeit zunächst wenig Erfolg. Aber im weiteren Verlauf der Entwicklung bewiesen sie mehr Nachdruck und Lebensfähigkeit als die Juniusbriefe. Junius richtete seine ganze Kraft auf den Augenblick. Er verstand, seine Gegner an ihrer verletzbarsten Stelle zu treffen, aber damit war seine Wirkung auch erschöpft. Inhaltlich haben seine Artikel der Folgezeit nichts mehr zu sagen, nur ihre Dynamik hat Schule gemacht und vermag, an bestimmten Stellen den Leser noch heute zu fesseln. An Tiefe der Auffassung politischer Probleme und ebenso an Verantwortungsgefühl steht Burke hoch über Junius. Dieser eröffnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte von Englands politisch-öffentlichem Leben. Burkes Leistung wirkte auf die Entwicklung des europäischen Geistes ein. 2. »Die Aufgabe des spekulativen Philosophen ist es, die Ziele des Staats zu bestimmen. Es ist die Aufgabe des Politikers, welcher der Philosoph in Aktion ist, die richtigen Mittel zu finden, die zu diesen Zielen führen, und sie wirksam anzuwenden.« Diese Sätze der »Present Discontents« umschreiben Burkes Stellung zu Theorie und Praxis des staatlichen Lebens. Er schied die abstrakte Staatslehre, deren Berechtigimg er nicht verneinte, die seiner Natur aber doch etwas Fremdes war, von der praktischen Politik ab. Anderseits sah er diese praktische Politik in dem Glanz einer »Philosophie in Aktion«. Da-
93 durch ist zugleich seine Kampfstellung nach beiden Seiten gegeben. Er wandte sich gegen jedes doktrinäre Hineinreden der Theoretiker in das lebendige Dasein des Staates, aber ebenso auch gegen die bloßen Tages- und Konjunkturpolitiker, die sich in seiner Umgebung zu Dutzenden fanden. Wenn er im Parlament um sich blickte, konnte er wirklich nur wenig Politiker entdecken, welche auf die Bezeichnimg »Philosophen in Aktion« auch nur in einem sehr abgeschwächten Sinne hätten Anspruch machen können. Immer und immer wieder erhob Burke die Forderung, der wahre Politiker müsse »leitende Prinzipien« besitzen. Dieser Ausdruck ist den folgenden Generationen sowohl im liberalen wie im romantischkonservativen Sinne sehr geläufig geworden. In Burkes Zeitalter war er es nicht. »Leitende politische Prinzipien« sind eine Lieblingswendung Burkes. Er verstand darunter nicht lediglich die dauernden Gesichtspunkte und Ziele der Machtpolitik des eigenen Landes, also etwa solche Prinzipien, wie sie Friedrich der Große seinen Nachfolgern zur Erhaltung und Mehrung der Macht und Schlagkraft des preußischen Staates in seinem politischen Testament auseinandersetzte. Die dauernden Interessen Englands sind in Burkes »leitenden Prinzipien« mit inbegriffen, aber sie erschöpfen sie nicht. Ebensowenig decken sich für ihn die »leitenden Prinzipien« mit den Ergebnissen des konstruktiven Denkens über den Staat und die Art seiner Entstehung. »Leitende Prinzipien« sind ihm etwas Lebendigeres, Beweglicheres, Anpassungsfähigeres als die Sätze der rationalen Staatstheorie ; und sie sind doch etwas Hohes, Heiliges und Unwandelbares. Es sind die Ideale der Weltanschauung und der Moral, die edelste und reinste Auffassung des englischen Staates, seines Wesens und seiner Aufgaben, welche er darunter versteht. Eine stete Wechselwirkung soll zwischen diesen Prinzipien und den praktischen Aufgaben des Staatslebens bestehen. Die tatsächlich bestehenden Verhältnisse sollen nicht nach dem starren Schema bestimmter Überzeugungen und Lieblingsgedanken gewaltsam zurechtgebogen werden. Doch ebensowenig soll man im politischen Alltag die großen und hohen Grundsätze vergessen, die den Aufschwung des Ganzen bedingen. Für solche »leitenden Prinzipien« setzte sich Burke während seiner ganzen politischen Tätigkeit ein, zuerst gegen eine ideenlose Steignation in der Politik des eigenen Landes, im Alter gegen die starren
94 Lehren der Jakobiner, die von Frankreich herüber drangen. Burkes Kampf gegen die Ideen der französischen Revolution war nicht nur durch die Abneigung des geschulten und erfahrenen politischen Fachmanns gegen Männer begründet, die ihm als dilettierende, in die Politik verirrte Literaten erschienen. Eine plumpe Herrschaft mechanischer allgemeiner Lehrsätze drohte jetzt die den Staat still und weise regelnden »leading principles« abzulösen und den ganzen Bau des Bestehenden zu zertrümmern. Da rief Burke erregt seine Warnungen in die Welt. Wie er dem politischen Dogma die »leitenden« Grundsätze gegenüberstellte, so tritt bei ihm an die Stelle der Logik und starren Folgerichtigkeit des politischen Handelns die staatsmännische »Klugheit« (prudence), welche vor Ausnahmefällen nicht die Augen verschließt, sondern Mittel sucht, um auch ihnen gerecht zu werden. Burke verwahrte sich dabei ausdrücklich dagegen, damit jene kleine Klugheit im Sinne zu haben, die allein das Heute und Morgen bedenkt und darüber das Übermorgen vergißt. Er meinte auch nicht das bloße Diplomatengeschick. Die »Klugheit« des Staatsmannes, so wie er sie verstand, setzt die leitenden Prinzipien jeweils soweit in die Wirklichkeit um, als mit dem Wohl der eigenen Generation und einer ungefährdeten Fortdauer des Staatsgebäudes vereinbar ist. Die Gegenwart hat nach Burke für den Politiker stets den Vorrang vor der Zukunft. Kein Staatsmann darf das Glück und die Kräfte der eigenen Generation vergessen oder sie gar bewußt zum Opfer bringen, um einen von der Theorie entworfenen »besseren Zustand« herbeizuführen. Hier liegt eine bezeichnende Schranke der Ideenwelt Burkes. Die Abschwächung der festen Staatsdoktrinen zu »leitenden Prinzipien«, die Betonung der staatsmännischen »Klugheit« bei Burke sind äußere Kennzeichen für die Rolle, welche er innerhalb der geistigen Entwicklung Europas gespielt hat. Seit mehr als einem Jahrhundert war das europäische Geistesleben durch die Kraft des mathematisch-rationalen, logisch aufbauenden Denkens bestimmt worden. Nachdem um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Gewalt der großen religiösen Leidenschaften ermattet war, sanken auch allmählich die theologisch-dogmatischen Bindungen dahin, welche noch der Weltbetrachtung des 16. Jahrhunderts von großen Kämpferpersönlichkeiten angelegt worden waren. Ein anderer Geist trat nunmehr herrschend hervor: der Trieb, die Welt im Denken logisch von Grund
95 auf neu zu konstruieren und durch beobachtenden und kombinierenden Scharfsinn aus allen Einzelerscheinungen des Lebens das Gemeinsame, Durchgehende, Allgemeine herauszulösen. Das Besondere, die tausendfältige Vielheit des Daseins geriet in Vergessenheit, aber durch das Dickicht einer verworrenen Überlieferung waren gerade, klare Wege für das Denken geschlagen und die Menschen, welche sie gingen, fühlten sich stolz und befreit. Den Nachdruck und die asketische Kraft der Denker des 17. Jahrhunderts ersetzten die des Aufklärungszeitalters durch Geschmeidigkeit. Der logischkonstruktive Geist, den die Descartes, Hobbes und Leibniz in ihren Ländern begründet hatten, wandelte sich im weiteren Verlaufe mehr zu einem logisch-kritischen um. Die Neigung zu positiver Systembildung wurde schwächer. Voltaire, Hume, Lessing, Friedrich der Große unternahmen den Versuch, die Welterkenntnis in einen Rahmen zu zwingen, nicht mehr. Um die Zeit ihres Todes wurde es deutlich, daß das rationalistische Zeitalter seinem Ende zuging. In Deutschland zeigte sich die Wendung zuerst bei Herder und in dem neuen Shakespearekultus, in Frankreich in dem Gefühlsindividualismus Rousseaus, in England wurde sie in den Lehren Burkes merkbar. Was Rousseau für das Individuum geleistet hat — die Zerbrechung der verstandesmäßigen Schranken, die sein Wesen einengten —, hat Burke als erster in der Betrachtung des Staatslebens getan. Burke und Rousseau, deren politische Denkweise und deren Ideale den denkbar schärfsten Gegensatz bilden, stehen in der allgemeinen Wendung, welche den Geist Europas nunmehr vom Rationalismus hinwegführte, doch auf einer gemeinsamen Linie. 3Doch wäre es verfehlt, hier zu gerade und zu rasche Striche zu ziehen. Burkes Auffassung vom Wesen des englischen Staates bedeutet nicht immer einen Gedankenfortschritt. Man muß betrachten, was für Ideen über den Grundcharakter des englischen Staates zuletzt geäußert worden waren, um ermessen zu können, wo Burke die Entwicklung weiterführt und wo er im Banne des Alten bleibt. Vier Schriften sind hier vor allem zu nennen. Jede davon trägt ihr besonderes geistiges Gepräge und sie sind alle unter sich so verschieden wie von den Arbeiten Burkes. Zwei sind gelehrte, systematische Werke, die von aller Tagespolitik sich fernhalten und das
96 Grundwesen des englischen Staatswesens darlegen wollen. Doch geschieht dies für ein sehr unterschiedliches Publikum und mit verschiedener Absicht. Die dritte Schrift ist für einen allgemeinen Kreis gebildeter Leser bestimmt, kritisch untersuchend, unbeeinflußt von Parteizielen oder Tagesströmungen. Die letzte ist eine grundsätzlich gehaltene politische Programm- und Parteischrift, wie die von Burke selber, aber dessen Uberzeugungen ganz entgegengesetzt. Ich meine die Werke von Delolme und Blackstone, die Essays von David Hume und Lord Bolingbrokes »Idea of a Patriot King«. Der Genfer Delolme war ein Schüler Montesquieus. Sein Werk »Constitution de l'Angleterre« (1771 zuerst erschienen) war für den Kontinent von größerer Bedeutung als für England selber. Die Mitglieder der französischen Nationalversammlung von 1789 schöpften ihre Kenntnis des englischen Staatswesens aus diesem Buch und sahen die englische Verfassung unter seinen Gesichtspunkten an. Aber es wurden doch auch die Engländer selbst durch Delolmes Auffassung ihres Staates beeinflußt. Kein Geringerer als der Verfasser der Juniusbriefe schließt die Vorrede zur Gesamtausgabe seiner Artikel mit einem Satz Delolmes und einer warmen Empfehlung von dessen Buch; er rühmt es als ein tiefes, gründliches und geistvolles Werk. Man darf annehmen, daß ein solches Urteil an dieser weithin sichtbaren Stelle Delolme nicht wenige Leser in England verschafft hat. Durch die zahlreichen Auflagen seines Buches wird dies auch äußerlich bewiesen. Delolme fußt auf dem »Esprit desLois«. Er gibt eine Fortbildung und Ausgestaltung der Lehre Montesquieus von der Gewaltenteilung, die in der englischen Verfassung vorliege, und er stellt den Aufbau des englischen Staates in einem Vergleich mit der republikanischen Staatsform und den absoluten Monarchien Europas dar. Doch ist ihm dabei der Vergleich mit den Republiken das Wichtigere, denn die Überlegenheit der englischen Verfassung über den kontinentalen Absolutismus brauchte er seinem Leserkreis nicht mehr zu beweisen. Als Beispiel der republikanischen Staatsform erscheint in erster Linie das Rom des Altertums, daneben verwertet Delolme auch die eigenen Erfahrungen aus seiner Heimat Genf. Wichtig ist in seinen Ausführungen die ausgesprochene Gegnerschaft gegen die Lehren seines Landsmannes Rousseau. Delolme hat von dem republikanischen Staatsleben einen ganz anderen Eindruck erhalten als jener; an die
97 »volonté générale« Rousseaus vermag er nicht zu glauben. Er ist der Ansicht, daß in einer politischen Versammlung die Masse des Volkes den organisierten Führern gegenüber immer machtlos sei; die Menge komme, um zu hören, worum es sich handle, ohne sich selber vorbereitet zu haben. Sie sei darum auf die Vorschläge und Anträge der Führer und Parteimänner angewiesen, wenn überhaupt irgendein Ergebnis erzielt werden solle1). Dies sei die Art und Weise, auf welche die »volonté générale« zustandekomme. Delolme preist darum die Repräsentatiwerfassung, die der unmittelbaren Demokratie ebenso überlegen sei wie der uneingeschränkten Monarchie. Den Beweis hierfür findet er in der englischen Verfassimg. So psychologisch scharf und wirklichkeitsgetreu er die Verhältnisse in seiner republikanischen Heimat anzuschauen weiß, so formalistisch ist seine Denkweise, wenn er von dem englischen Staatswesen redet. Schon das aus Ovid genommene Motto des Buches »ponderibus librata suis« verkündet den Gesichtspunkt, unter welchem Delolme die englische Verfassung ansieht. Die politische Wissenschaft ist für ihn eine »science régulière«, welche zwingend ableiten und beweisen kann. Er vergleicht sie mit der Geometrie und vertritt den Standpunkt, auch bei der Betrachtung politischer Objekte müsse man den Blick nur auf die das Ganze bedingenden Formen richten und das bloß Äußerliche beiseite lassen. Das Wirksame im Staat ist für ihn lediglich die formale, rechtliche Kompetenzverteilung. »Wer die Ursachen erforschen will, welche das Gleichgewicht eines Staates bewirken, tut gut, dabei von dem ganzen Apparat von Flotten, Armeen, Außenhandel, weiten und fernen Besitzungen abzusehen, mit einem Wort, von all den großen Dingen, welche die Oberfläche einer mächtigen Gesellschaft stark verändern, welche aber keinen Einfluß auf ihr wesentliches Prinzip haben.« Delolme betrachtet daher Großmächte und Kleinstaaten von dem nämlichen Standpunkt. Immer richtet er seinen l)
V g l . D e l o l m e , E n d e d e s e r s t e n B a n d e s (4. A u f l . 1 7 8 5 ) : »La v o l o n t é d e
t o u s (er m e i n t d a m i t R o u s s e a u s v o l o n t é générale) n ' e s t d a n s le f o n d q u e l ' e f f e t d e l a r u s e d e q u e l q u e s a m b i t i e u x q u i rirent en secret. — C e u x q u i c o n n o i s s e n t l ' i n t é r i e u r d e s r é p u b l i q u e s et e n g é n é r a l la m a n i è r e d o n t l e s choses se p a s s e n t d a n s les t r è s gTandes a s s e m b l é e s , c o n v i e n d r o n t q u e le p e t i t n o m b r e q u i est réuni, q u i a g i t e t q u i est v u , a u n t e l a v a n t a g e v i s - à - v i s d u g r a n d n o m b r e q u i a les y e u x t o u r n é s s u r e u x , e t q u i est sans u n i o n , q u e , m ê m e a v e c u n e a d r e s s e m é d i o c r e , ils s o n t t o u j o u r s les m a î t r e s d e s résolutions.« —
Vgl. auch Kap.
»Le p e u p l e n ' a d u p o u v o i r q u e p o u r le d o n n e r ou le laisser p r e n d r e . « L e n n o x , Edmond Borke.
7
IX:
98 Blick nur auf das Innerpolitische. In dieser Weise stellt er auch das englische Staatswesen dar und berichtet von den Prinzipien der bürgerlichen Freiheit in den englischen Rechtssätzen, der Rechtsprechung und der Gesetzgebung. Das Ganze ist durchsetzt mit geschichtlichen Rückblicken über die Entstehung des gegenwärtigen Zustandes und den schon erwähnten Vergleichen mit anderen Staatsformen. Von allen ausländischen Beurteilern der englischen Verfassung ist Delolme derjenige, der sie am rückhaltslosesten bewundert. Unter den Engländern selbst steht Burke hierin an seiner Seite. Aber in der Art des Lobes und der Begeisterung besteht zwischen Delolme und Burke ein wesentlicher Unterschied. Burke blickt mit ehrfürchtigem Staunen auf die Fülle verborgener Weisheit, die sich in der englischen Verfassung findet und welche ein einzelnes schwaches Individuum nur zu einem Teil erfassen und wiedergeben könne. Delolme fühlt sich als Kenner und Fachmann, der über seinem Stoff steht. Er glaubt, gerade als Ausländer, der das ihm Neue schärfer ansieht wie die Einheimischen, die Grundlagen des englischen Staates besser fassen zu können als es die Engländer selbst vermögen. Er bewundert die Klarheit des Baues der englischen Verfassung, die vollkommene Übersehbarkeit und Ausgeglichenheit ihrer Teile und — dem Motto seines Buches gemäß — das mechanische Gleichgewicht aller in ihr enthaltenen Kräfte, deren Größe und Richtung er sämtlich mit den Maßstäben seiner rationalen Wissenschaft festgestellt zu haben glaubt. So wundervoll ausbalanciert scheint ihm der englische Staat, daß in ihm sogar die Nachteile einer freiheitlichen Verfassung fehlen, welche sonst unumgänglich scheinen, und die Freiheit trotzdem bis zu ihrem Gipfelpunkt geführt ist. Dieser ideale Zustand ist nach Delolmes Ansicht das schließliche Endergebnis eines selten glücklichen Zusammenwirkens geschichtlicher Umstände während sechs Jahrhunderten, von Anfang an erleichtert und gefördert durch eine vorteilhafte geographische Lage. So habe die Freiheit in der Welt hier endlich einen Tempel und ein dauerndes Asyl gefunden 1 ). *) Vgl. Delolmes begeisterte Schlußworte: »A l'abri dans sa citadelle, elle (die Freiheit) y regne sur une nation d'autant plus digne de ses faveurs, qu'elle s'efforce d'étendre l'empire de sa divinité, et porte dans chaque partie de sa domination les douceurs de l'industrie et de l'égalité. — Elle entretient dans son sanctuaire ce fen sacré, si difficile à allumer, et qui une fois éteint.
99 Delolmes Begeisterung für die englische Verfassung geht soweit, daß er sich dabei sogar in Gegensatz zu seinem sonst verehrten Meister und Vorgänger Montesquieu stellt. Dessen Lehrsatz, daß jede Staatsform den Keim ihrer Zerstörung schon in sich trage, will Delolme für die englische nicht gelten lassen. Er tadelt, daß Montesquieu in seinen Bemerkungen über England viel zu allgemein bleibe ; obwohl er im Lande gewesen sei und mit Politikern verkehrt habe, berichte er doch meist nur, was er vermute, und nicht, was er gesehen habe. Bei seiner Darlegung, wie die drei Gewalten in der englischen Verfassung geteilt seien, legt Delolme den Nachdruck auf die Macht der Krone und das Schwergewicht, welche diese nach seiner Ansicht der ganzen Staatsmaschine gab. Die Macht des Königs habe jetzt genau das richtige Maß. Sie dürfe nicht darüber steigen, noch weniger aber noch weiter sinken. Denn die Freiheit der englischen Nation beruhe darauf, daß die politischen Führer sich nicht die Exekutive anmaßen könnten, da diese fest in der Krone verankert sei. Dadurch sei Übergriffen der Aristokratie oder der Volksvertreter ein für allemal ein fester Riegel vorgeschoben. »Die englische Verfassung«, meint Delolme, »wird dann zu bestehen aufhören, wenn entweder die Krone in ihren Einkünften nicht mehr von der Nation abhängt oder wenn die Volksvertreter an der ausübenden Gewalt teilzunehmen beginnen1) «. Delolme übersieht dabei ganz, daß die parlamentarischen Führer in der Periode Georgs II. die Exekutive schon jahrzehntelang in Händen gehalten hatten. Überhaupt hat er für den besonderen Charakter des Unterhauses als Mittelpunkt des Staatslebens und politisches Forum der Nation keinen Blick. Er sieht in ihm nur das, was es dem formalen Recht nach im Staate war: einer der Teile der gesetzgebenden Gewalt. Delolme tat sich viel darauf zugute, daß er sein Werk nach nur einjährigem Aufenthalt in England begann, daß er es so schnell zu Ende führte und ihm so wenig Fehler dabei unterliefen4). Es wäre kaum so rasch gegangen und er hätte bei der Darstellung der einzelnen seroit peut-être pour toujours. . . Quant au philosophe^ chaque fois, que ses réflexions tombent sur le sort constant des sociétés civiles parmi les hommes, et qu'il observe en soupirant les causes nombreuses et puissantes qui paroissent les entraîner tous, inévitablement, à un état incurable d'esclavage politique: il peut se consoler en voyant, que la liberté a enfin découvert son secret au genre humain et s'est assuré un asyle. « l ) Band II, Kap. 19 (4. Aufl.), vgl. Kap. 17 und 18. *) Vorrede zur 4. Auflage, London 1785.
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100 Institutionen der Gesetzgebung und Rechtspflege sehr viel größere Plage gehabt, wenn er sich dabei nicht auf ein ausgezeichnetes Hilfsmittel hätte stützen können. Dies war Blackstones kurze Zeit vorher (1765) veröffentlichtes grundlegendes Werk über die Gesetze Englands, das dieses ganze verwickelte Gebiet für die Allgemeinheit überhaupt erst zugänglich machte. Aus dem Wust von Gesetzen, Parlamentsbeschlüssen und Präzedenzfällen, durch den die Engländer selber sich kaum hindurchfanden und in welchem vollends ein Ausländer sich hoffnungslos verirren mußte, schuf Blackstone eine klare, systematische Darstellung, welche dann auf Generationen hinaus das beherrschende Werk über diesen Gegenstand blieb. Blackstone, der erste Professor für englisches Recht an der Universität Oxford, war eine stille, sachliche Gelehrtennatur, persönlich langsam und pedantisch, ohne viel politische Aktivität, ein Arbeiter, der sich in den Grenzen seines Fachs hielt und an seinem Schreibtisch früh alterte und sich verbrauchte. Seine »Commentaries on the Law of England« sind ursprünglich aus Vorlesungen entstanden, was noch zuweilen an einem gewissen väterlich ermahnenden Ton zu spüren ist. In vier dicken Bänden geben sie das System der englischen Verfassung und des öffentlichen und privaten Rechts. Als Einleitung ist ein grundsätzliches Kapitel über die Natur der Gesetze im allgemeinen und der englischen im besonderen vorangestellt, das auf den Lehren Lockes fußt. Der Zweck des Staates besteht nach Blackstone darin, die absoluten Rechte der Individuen zu schützen. Der Staat darf also die Rechte, welche aus seiner eigenen Entstehung erst sekundär folgten, nicht den primären, schon von Natur gegebenen Rechten seiner Mitglieder überordnen wollen. Jeder Mensch gibt im Staate von seiner natürlichen Freiheit nur soviel auf, als es zum Vorteil der Gesamtheit unbedingt nötig ist1). Die Theorie, daß ein vorgesellschaftlicher Zustand in der Geschichte jemals tatsächlich bestanden Lehrreich ist das Beispiel, welches Blackstone zur Erläuterung dieses allgemeinen Satzes anführt: Eine Verordnung König Eduards IV., welche sich gegen die Modetorheit riesiger Schuhschnallen wendete und ein Höchstmaß festsetzte, war ein Übergriff; denn die Rechte des Individuums wurden dadurch beschränkt, ohne daß die Gesamtheit einen Vorteil davon hatte. Das Statut Karls II. dagegen, welches vorschreibt, daß alle Leichen in einem wollenen Anzug bestattet werden sollen, »verträgt sich mit der öffentlichen Freiheit, denn es fördert den Wollhandel, auf dem das allgemeine Wohl der Nation in hohem Maße beruht«.
101 habe und durch die bewußte gemeinsame Willenshandlung eines Gesellschaftsvertrags beendet worden sei, lehnt Blackstone jedoch ab. Wichtig war es, daß er es unternahm, die berühmten »Freiheiten« der Engländer fest zu bestimmen, auch hier von Locke ausgehend. Es sind: persönliche Sicherheit (Sicherheit des Lebens, der Gesundheit, des guten Rufes), persönliche Freiheit (Freizügigkeit, Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung oder Verbannung) und freies Eigentum (keine Straße darf durch privaten Grundbesitz geführt werden, ohne Einwilligung des Eigentümers). Zur Sicherung dieser Grundrechte bestehen bestimmte Hilfsrechte, nämlich: die Verfassung, die Parlamentsrechte und Privilegien, die Beschränkimg der königlichen Prärogative — dieser im 17. Jahrhundert so hart umkämpfte, nun lange abgestorbene staatsrechtliche Begriff wird als leere Schale immer noch mitgeführt —, das Recht eines jeden Engländers, die Gerichte anzurufen, an den König oder eines der beiden Häuser des Parlaments zu petitionieren und zur eigenen Verteidigung Waffen zu besitzen. Blackstone ist starr konservativ; er findet an den bestehenden Rechtzuständen nicht das mindeste auszusetzen. Die englische Verfassung bewundert er mit ebenso ehrlichem Herzen wie banalen und trockenen Worten. Er rühmt sie als eine vollkommene Verfassung der aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemischten Gattung, in der ein glückliches Gleichgewicht aller Faktoren herrsche. Neben den positiv-dogmatischen Werken Delolmes und Blackstones aus den Anfangsjahren Georgs III. stehen die kritischen Arbeiten, die aus der Höhezeit der Whigperiode zwei, drei Jahrzehnte früher stammen: Humes Essays (1742/52) und Lord Bolingbrokes »Patriot King« von 1738 (erschienen 1748). Neben den dicken Bänden Blackstones wirken die Essays David Humes wie leichte Reiter neben schweren Lastwagen. Die leichten Reiter kamen sehr viel weiter, aber die Lastwagen hinterließen tiefere Spuren. In Humes Aufsätzen spiegelt sich seine ganze geistige Art. Sein Scharfsinn tummelt sich auf allen erdenklichen Gebieten. Vor keinem Vorurteil, keiner überkommenen Meinung macht er Halt. Er dreht und wendet sie prüfend unter den Händen, bis er genau weiß, was er davon zu halten hat. Aber dann ist er auch schon befriedigt und schreibt sein Ergebnis auf für Leute, die sich auch dafür interessieren könnten. In seinen Schriften zieht er Schlüsse und macht Überlegungen, aber er ermahnt
102 nicht und predigt nicht und ruft zu nichts auf. Die Erkenntnis als solche befriedigt ihn vollkommen; es ist ihm gleichgültig, ob sie auch praktisch wirken wird oder nicht. In merkwürdiger Weise verbindet sich in ihm ein rastlos tätiger Trieb, die Dinge im Verstand aufzulösen und bis ins letzte zu zergliedern, mit einem vollkommenen, bewußten Quietismus des Wollens und Handelns. Die großen Geister des 18. Jahrhunderts fühlten sich noch nicht als Fachmenschen. Sie kannten noch nicht die feste Beschränkung der geistigen Arbeit auf ein Gebiet; jedenfalls flößte ihnen eine solche keine besondere Achtung ein. Sie rümpften nicht über Dilettantismus die Nase, waren vielmehr selbst auf allen möglichen Gebieten als Dilettanten tätig. In umfangreichen Werken oder kleinen, leicht verständlichen Aufsätzen schrieben sie über die denkbar verschiedensten Fragen. Mochte die Leistung selbst zeigen, ob der Verfasser ein inneres Recht hatte, von dem Gegenstand zu sprechen, den er behandelte. So redet David Hume in seinen Essays über Fragen des Staats, über philosophische Charaktere, über Handelsbilanz und Zinsen, Bevölkerungszahlen im Altertum, über Liebe und Ehe, Polygamie, Scheidungen und Selbstmord. Welchen Stoff er auch behandeln mag, immer geschieht es mit der gleichen liebenswürdigen knappen Klugheit. Nichts liegt ihm ferner, als viele unnötige Worte zu machen; er sagt die Dinge einmal, und erwartet von dem Leser, daß er aufpaßt und mitdenkt. Den Zweck seiner Aufsätze bestimmt Hume selbst folgendermaßen: »Ich muß mich als eine Art Konsul oder Gesandter aus dem Reich der Wissenschaft in dem der Konversation betrachten, und halte es für meine Pflicht, einen regen Austausch zwischen diesen beiden Staaten zu fördern, welche voneinander so abhängig sind.« Er spricht seine Freude aus, daß in seiner Zeit die Kluft zwischen dem gelehrten Mann der Bücher und dem gewandten und beweglichen Mann der Welt schmaler werde. Er will seinerseits diese Entwicklung weiterfördern. Für uns kommen hier nur diejenigen seiner Aufsätze in Frage, welche sich mit politischen Themen befassen. Sie handeln fast alle von den Elementen des Staates und den Grundlehren der beiden englischen Parteien, der Whigs und Tories. In jedem Aufsatz greift Hume irgend eine Frage heraus, bespricht sie und wirft seine Ideen darüber dem Leser hin, mit einer kurzen Begründung und Belegen aus der antiken und neueren Geschichte.
103 Hume glaubt, daß es ewige politische Wahrheiten gebe, also Sätze, die für alle Staaten und Generationen Geltung besitzen. Aber die Menschheit sei noch viel zu jung und ihre politisch-historische Erfahrung noch zu sehr beschränkt, um vielen dieser Wahrheiten auf die Spur kommen zu können. Eine der bisher erkannten Grundtatsachen sei die, daß der Staat, der einen erblichen Fürsten, einen Adel ohne Vasallen und ein Volk, das durch Vertreter abstimmt, besitzt, die beste Form der Monarchie, der Aristokratie und Demokratie darstelle. Hume teilt also die Anschauung, nach der in der englischen Verfassung die drei Staatstypen ihren besten Ausdruck gefunden haben und sich am glücklichsten miteinander verbinden. Aber im übrigen hält er sich nicht an die üblichen Ansichten. »Frei von Parteiwut und Parteivorurteil« will er die politischen Fragen behandeln. Er gelangt dabei zu wesentlichen Korrekturen der whigistischen wie der toryistischen Lehre. Immer beleuchtet er beide Seiten. Wenn er ausführt, daß Künste und Wissenschaften nur bei freien Nationen gedeihen, unterschlägt er dabei doch die Gegenbeispiele nicht, sondern weist auf das Rom der Kaiserzeit, das Italieh des 16. Jahrhunderts und das Frankreich des 17. Jahrhunderts hin. In gleicher Weise verfährt er den politischen Dogmen gegenüber. Die Lehre vom Gottesgnadentum findet er lächerlich und stellt voll Freude fest, daß sein ganzes Zeitalter diesen »Hokuspokus« endlich überwunden habe. Aber die Lehren der sich modern gebärdenden Whigs verschont er ebensowenig. Die whigistische Grundtheorie, daß die glorreiche Revolution von 1688 keine Neuerung darstelle, sondern lediglich den früheren, von Jakob II. verletzten Rechtszustand zwischen König und Volk wieder hergestellt habe, erklärt er für eine Fabel. Es sei sinnlos, daß die Whigs sich noch immer gegen den klaren Tatbestand auf diese zu tendenziösen Zwecken in die Welt gesetzte Lehre stützen wollten. Die Stuarts hätten sich nicht mehr Macht angemaßt, als die Tudors in dem Jahrhundert zuvor tatsächlich besssen hatten. Die herrschende Stellung, welche das Unterhaus im Staat einnehme, leite sich erst von 1688 her 1 ). Hume bohrt noch tiefer. Er wendet sich gegen die herrschende Theorie, daß die Staaten durch einen ursprünglichen Vertrag ent1
) On the Coalition of Parties: »... It isridiculousto hear the Commons* while they are assuming, by usurpation, the whole power of government, talk of reviving the ancient Constitution.«
104 standen seien. Dies sei eine der überhaupt möglichen Entstehungsformen, die allerbeste von ihnen; doch sei es verfehlt, zu verallgemeinern, was in einem Falle, nämlich in dem England von 1688 tatsächlich vorgekommen sei, und alle anderen Arten der Entstehung von Staaten als ungeheuerlich zu verdammen. »Beinahe alle Staaten, welche gegenwärtig bestehen und jene, von welchen sich geschichtliche Überlieferung erhalten hat, sind ursprünglich durch Usurpation oder durch Eroberung begründet worden oder durch beides — ohne jeden Vorwand der Zustimmung oder freiwilligen Unterwerfung des Volkes.« — »Wenn man nach dem Augenblick forscht, wo die Zustimmung des Volkes bei öffentlichen Vorgängen am allerwenigsten beachtet wurde, findet man, daß dies gerade bei der Begründung neuer Staaten der Fall war«1). Es sei sinnlos, spekulative Sätze aus einem vergangenen Jahrhundert zur Rechtfertigung der eigenen politischen Stellung anzuführen. Die wahre Staatsmaxime sei der Brauch des eigenen Zeitalters®). Alle Regierung beruhe nur auf den Ansichten (opinion) der Regierten von ihren Interessen und ihren Rechten, denn die rohe Gewalt liege bei allen Staatsformen in den Händen der Masse; in Freistaaten bei dem Volk, in Despotien und Militärstaaten bei dem Heer, bei Mameluken oder Prätorianern. Der Herrscher sei gezwungen, diese Mächte sorgsam an dem Zügel ihrer »opinion« zu leiten3). Daraus ergibt sich die Nutzanwendimg für Humes eigene Zeit: Das System der Freiheit habe sich in England jetzt fest gebildet, gleichgültig, auf welchem Wege es ursprünglich entstand und wie man es theoretisch rechtfertigen könne. Die Erfahrung bezeuge seine glücklichen Folgen. Lange Dauer habe ihm innere Festigkeit gegeben. Darum solle sich die Partei der konservativen Mißvergnügten nunmehr mit den gegebenen Zuständen abfinden und die Masse des Volkes solle ihrerseits nicht weiter zu einer tumultuarischen Demokratie hinübersteuern. Volkswut sei etwas Fürchterliches, zumal wenn der alte blinde religiöse Fanatismus dahinterstehe. Es sei eine schwierige und verwickelte Aufgabe, das rechte Gleichgewicht zwischen der monarchischen und der republikanischen Seite Of the Original Contract. *) Of the Coalition of Parties: » . . . T h e true rule of government is the present established practice of the age. That has most authority because it is recent; it is also best known, for the same reason. *) Of the first Principles of Government. l)
105 der englischen Verfassung zu erhalten. Das Unterhaus habe schon den unbedingten Vorrang vor allen anderen Faktoren im Staat errungen. Mit Leichtigkeit könnte es der Krone noch weitere Zugeständnisse abzwingen. Darum sei es gut, daß die Krone innerhalb des Parlaments selber einen hemmenden und mäßigenden Einfluß besitze. Dieser werde von seinen Gegnern mit dem Namen »Abhängigkeit« und »Korruption« gebrandmarkt, aber in bestimmtem Grad sei er zur Erhaltung des Grundsatzes der gemischten Verfassung notwendig1). Hume stellt sich, wie zu erwarten, auch die Frage, welche zukünftige Entwicklung die englische Verfassung nehmen werde. Wenn der gegenwärtige Zustand nicht zu erhalten sei, zieht er die Wendung zum Absolutismus der nach der republikanischen Seite vor. Denn auch in diesem zweiten Falle werde der Absolutismus das Schlußergebnis sein, erkauft durch eine vorherige Periode demokratischer Parteigewaltsamkeiten und des Bürgerkrieges. Darum lieber den geraden und friedlichen Weg zur absoluten Monarchie! Diese »ist der leichteste Tod, die wahre Euthanasia, welche die englische Verfassung finden kann«2). Wie bei Burke ist bei Hume »Mäßigimg« das Losimgswort für das politische Verhalten. Doch Hume faßt es im Sinne verstandesmäßiger Nüchternheit auf, die sich von schönen Theorien nicht blenden lassen soll. Über die üblichen Parteiüberlieferungen seines Landes kam Hume weit hinaus und — was sehr viel mehr bedeutet — auch über den Doktrinarismus der Aufklärung, doch von den Schranken seines persönlichen Wesens befreite sich seine Weltbetrachtung nicht. Alle Zustände, alle Menschen sah er mit dem sachlich und aufmerksam wägenden Verstand und wunderte sich darüber, daß dies nicht alle Leute in der nämlichen Weise taten. Deshalb blieb ihm die Erkenntnis verschlossen, wieviel stärker das Gewicht des zähen Willens oder das einer dumpfen unverständlichen Gewohnheit im Völkerleben ist als dasjenige eines Geistes, der in ruhiger Klarheit bedenkt und abschätzt, ohne sich in den Kampf zu werfen. Alle blinden Regungen von Willen und Leidenschaft berührten Hume unangenehm und schienen ihm der Würde des Menschen nicht zu entsprechen. So zeigt sich auch in seinen Anschauungen über Staat und Gesellschaft, was ') Of the Independency of Parliament. ) Whether the British Government inclines more to absolute Monarchy or to a Republic. 2
106 von seiner Stellung innerhalb der europäischen Geistesentwicklung überhaupt gilt: Er weckte die Folgezeit aus dem »dogmatischen Schlummer«, wie es Kant für seine Person bezeugte. Er machte zu Fragen, was gesicherte Tatsachen schienen. Er stieß Fensterladen auf, durch welche frische Luft in das Haus der Aufklärung eindrang, aber er blieb in dem Hause wohnen. Eine neue Betrachtungsweise findet sich bei ihm oft ganz unmittelbar neben der alten und friedlich mit dieser verbunden. Unter seinen politischen Ausführungen bildet wohl die folgende hiefür das bezeichnendste Beispiel: »Mit Staatsformen steht es nicht wie mit anderen künstlichen Einrichtungen, bei denen man eine alte Maschine beseitigen kann, wenn wir eine andere erfinden, welche genauer und bequemer arbeitet, oder bei denen man ungestört Probe versuche anstellen kann, selbst wenn der Erfolg zweifelhaft ist. . . Die Finger in ein solches Unternehmen zu stecken oder lediglich im Vertrauen auf Hypothesen und Philosophie Versuche zu machen, kann darum niemals Sache eines weisen Staatsverwalters sein; er hat Ehrfurcht vor den Dingen, welche das Zeichen des Alters tragen; wenn er vielleicht auch einige Verbesserungen im Interesse des öffentlichen Wohles versucht, wird er doch seine Neuerungen soviel als möglich dem alten Bauwerk anpassen und die Hauptsäulen und Stützpfeiler ganz unangetastet lassen.« Diese Sätze wären Edmund Burke aus der Seele gesprochen gewesen und auch ihrem Wortlaut nach könnten sie ebensogut von ihm herrühren. Aber sie leiten einen Aufsatz Humes ein, in dem er den Entwurf einer Phantasieverfassung gibt, die mit dem bestehenden staatlichen Aufbau Englands auch nicht die geringste Ähnlichkeit zeigt. Die Staatsmänner sollten nach Hume diesen durch sanfte Abänderungen und leise Verbesserungen seinem Ideal immer mehr annähern 1 ). Hume verfällt hier in Spekulationen, für die Burke die höhnende Bezeichnung »politische Nebelwissenschaft« verwandte. Es ist nicht auszumachen, ob Burke die Essays David Humes gelesen hat, obwohl es wahrscheinlich ist 2 ). Es kommt auch wenig darauf an, denn Spuren haben sie in seinem Geist nicht hinterlassen. Die Tatsache, daß jemand ein bestimmtes Buch einmal gelesen hat, hat ja an sich so wenig zu bedeuten, da jeder Mensch, wie man weiß, ') Idea of a perfect Commonwealth. ') Humes Wort von der E u t h a n a s i a der britischen Verfassung kannte er. Doch beweist dies noch nichts f ü r die Kenntnis der Essays Oberhaupt.
107 eine Reihe von Büchern durchgelesen hat, von denen ihm nichts als der Titel in Erinnerung bleibt, weil ihr Inhalt seiner Geistesart nicht entspricht und darum ohne Eindruck vorübergleitet. So ging es Burke mit Rousseaus »Contrat Social«1) und Humes Art, an die Dinge kühl prüfend heranzutreten, war ihm kaum weniger fremd wie Rousseaus aufgeregter Radikalismus. Unmittelbar berührten sich Burkes Ideen dagegen mit der letzten der vier genannten Schriften (der zeitlich frühesten von ihnen): Lord Bolingbrokes »Ideaof a Patriot King«. Die allgemeinen Theorien, mit denen die höfische Partei ihre Politik verbrämte und gegen die Burke in seinen »Present Discontents« ankämpfte, stammten aus der »Idea of a Patriot King«. Zwei starke Haßgefühle lebten in Lord Bolingbroke. Das eine war die Abneigung des Aufklärers gegen die Sinnlosigkeit der kirchlichen Dogmen und die Betrügereien der Priester aller Religionen. Die wußte er aus Zweckmäßigkeitsgründen klüglich bis zu seinem Tode zu verbergen2). Das zweite war seine Feindschaft gegen Robert Walpole und das whigistische System, dessen führender Vertreter Walpole war. Vielleicht hätte Bolingbroke genau die gleichen Mittel angewendet wie sein glücklicherer Gegner, wenn er an die Spitze des Staates gelangt wäre. In seinen Angriffen und seiner Empörung über die whigistischen Praktiken steckt viel Empfindlichkeit und Verbitterung eines lahmgelegten Staatsmannes. Aber dieser Zorn steigerte sich doch zu einem sachlichen und grundsätzlich begründeten Gefühl. Lord Bolingbroke pries das Aristokratenzeitalter vor 1688. Dessen Ausschweifungen seien doch durch Witz belebt gewesen und hätten einen Firnis8) von Galanterie gehabt. Doch seitdem das unbeschränkte Whigregiment eingesetzt habe, sei, so fand er, das politische und kulturelle Leben des Landes in gleicher Weise herabgekommen. Früher sei die Tätigkeit im Parlament eine mühevolle Ehrenpflicht gewesen, jetzt sei sie zum Handelsobjekt geworden, mit dem man spekuliere wie mit Börsenpapieren. *) Vgl. Burkes Äußerung, Prior II, S. 50: »I have read long since the Contrat social. It has left very few traces upon my mind. I thought it a performance of little or no merit and little did I conceive that it could ever make revolutions and give law to nations.« •) Vgl. oben Kap. I. *) Über diesen Firnis hegt eine spätere Zeit wesentlich andere Ansichten.
108 »Unter den alten Formen ist der Staat ein neues unbestimmbares Monstrum geworden; zusammengesetzt ans einem König ohne monarchischen Glanz, einem Senat von Adligen ohne aristokratische Unabhängigkeit und einem Senat von Gemeinen ohne demokratische Freiheit«1). Von dieser Auffassung ging Bolingbroke in seiner Schrift über den Gedanken eines patriotischen Königs aus. Er schrieb sie 1738, veröffentlicht wurde sie erst elf Jahre später. Als Leser dachte er sich vor allem den damaligen Prinzen von Wales, Sohn Georgs II., der in politischer Gegnerschaft zu seinem Vater stand. 1751 raffte ihn der Tod hinweg, ehe er zur Regierung gelangt war. Bolingbroke ergeht sich in seiner Schrift in lebhaften Klagen darüber, daß durch die Käuflichkeit des Parlaments der alte Geist der englischen Freiheit zerstört worden sei. Der Eifer für die Größe und Ehre des Vaterlands habe einer allgemeinen Lauheit Platz gemacht. Eine ungeheuer schwere Aufgabe sei es, den Geist der Vorzeit wieder wachzurufen. Vielleicht könne dies nur eine nationale Katastrophe oder ein schwerer, alle Kräfte anspannender Krieg bewirken. Oder es müßte denn das überraschende Wunder eintreten, daß ein König den Kampf gegen die Verderbnis beginnt und die moralische Reinigung des Staatswesens in die Hand nimmt. Mit enthusiastischen Worten malt Bolingbroke ein solches Glück aus. Der König müsse die Korruption von seinem Hofe vertreiben, sich über die Parteien stellen und die geistige Führung des Landes übernehmen. Um nicht mißdeutet zu werden, sieht sich Bolingbroke gezwungen, seine Auffassung des Königtums zu definieren; an sich hat er an solchen theoretisch-antiquarischen Erörterungen wenig Gefallen. Er will sowohl die Auswüchse der whigistischen wie der toryistischen Lehre zurückweisen: »Ich gebe den Königen nicht die burlesken Attribute Jupiters. Ich male sie nicht, wie sie das Glück der Menschen in der Schicksalswage wägen und den Donnerkeil auf das Haupt aufrührerischer Giganten schleudern. Aber ich will sie auch nicht ausplündern und ihnen, um ihre Majestät zu bedecken, nur ein paar schlechte Lumpen lassen, ebenso unnütz zum Gebrauch wie als Schmuck.« Das Königtum, das er sich vorstellt, ist ein streng verfassungsmäßiges. Der wahre Staatszweck ist das Wohl des Volkes. Wie die ganze Regierung, so hat auch der König diesen zu erfüllen. Das höchste Gut des Volkes ist seine Frei') Bolingbroke, Letters on the Study of History, letter 8.
109 heit; sie gehört zu ihm wie zu einem Einzelmenschen dessen Gesundheit. Ein freies Volk unter einem »patriotischen König« stellt eine patriarchalisch geordnete Familie dar. Das erste Erfordernis hierbei ist, daß der König das ganze Volk wie ein gemeinsamer Vater tunfaßt und sich nicht mit einer Partei »verheiratet«. Die Parteigruppen, welche lediglich durch persönliche Bundesgenossenschaft und Geschäftsgemeinschaft zusammengehalten werden und nicht durch sachliche Ziele, müssen ganz ausgerottet werden. Gewiß wird der patriotische König manchmal eine Partei vor einer anderen begünstigen müssen, aber an keine darf er sich dauernd binden und keine in die Acht erklären. Bolingbrokes Ausführungen gehen bis zu sehr gewagten Punkten vor. Offen erklärt er, der König dürfe auch im Falle bewaffneten Widerstandes einer Partei von seinem Reinigungswerk nicht ablassen. Wie Heinrich IV. von Frankreich müsse er dann seine eigenen Untertanen unterwerfen, sie mit Gewalt einigen und glücklich machen. Mehr noch als in Heinrich IV. erblickt Bolingbroke in der Königin Elisabeth sein monarchisches Ideal. In ihr glaubt er sein Postulat erfüllt zu sehen. Sie stand über den Parteien (so führt er aus) und machte ihr Volk glücklich und groß. Dabei hielt sie sich abseits von den kleinen Händeln des europäischen Festlands und griff erst dann ein, als es um das Ganze ging — entsprechend den natürlichen Richtlinien der Politik Englands, die sich aus dessen Inselcharakter ergeben. Die Schrift über den »Patriot King« ist eine Utopie; doch nicht in höherem Grade Utopie als es andere politische Aufrufe solch weitausgreifender Art auch sind. Die Ziele, die Lord Bolingbroke wies, konnten einen englischen König wohl reizen. Daß es nicht unmöglich war, die Umklammerung der Whigoligarchie bei einigem taktischen Geschick aufzulockern, haben die späteren Erfolge Georgs III. bewiesen. Allerdings entsprach dieser König seinem Wesen nach dem von Bolingbroke aufgestellten Ideal recht wenig und seine Politik ließ vom Geist der Königin Elisabeth nichts spüren. Doch wie man auch über die Ausführbarkeit von Bolingbrokes Plänen urteilen mag, unter allen Umständen gebührt ihm das Verdienst, durch das Feuer und Temperament, mit welchem er seine Sache verfocht, in den stagnierenden Teich des whigistischen Dogmas wieder Bewegung gebracht zu haben. Deren Ergebnis sind Burkes »Present Discontents«.
110 4Wenn man David Humes und Lord Bolingbrokes Gedankengänge im Gedächtnis hat und sich dann den Schriften Burkes zuwendet, springt in die Augen, wie sehr dessen Ideen in den allgemeinen Umkreis der whigistischen Weltanschauung hineingebannt sind. Ohne Widerspruch teilte und vertrat Burke die Überzeugungen, welche die Mehrheit des englischen Volkes in seiner und den beiden vorangehenden Generationen beherrschten. Das Neue, was Burke bringt, liegt in der Art, diese Überzeugungen auszusprechen und anzuwenden. Blackstone redet langsam, lehrhaft, in gewissem Sinne säkular, wie es der Würde des Rechtslehrers geziemt. Delolme schreibt politischer, absichtsvoller und zugleich auch in stärkerem Sinne als Forscher. Er strebt darnach, seinen Stoff philosophisch zu bewältigen und in die geistige Gesamtüberschau der Welt einzuordnen. Hume ist der weitaus schärfste und geistig am wenigsten gebundene Denker unter den vier eben besprochenen Autoren. Seine Ansichten zeigen, daß die Auflösung der rationalistischen Dogmen über staatliche und gesellschaftliche Gebilde schon in Angriff genommen war, noch ehe Burke von seiner Seite aus an dies Werk die Hand legte. Aber Hume vermied den lärmenden politischen Jahrmarkt. So wichtig seine Beobachtungen und Urteile als Zeugnisse sind, in welcher Richtimg sich das Denken über das Problem »Staat« und im besonderen »englischer Staat« fortentwickelte, zu den politischen Schriftstellern im eigentlichen Sinne zählt Hume nicht. Seine Gedanken sickerten weiter, Dämme vermochten sie nicht zu brechen. Die unmittelbare Wirkung auf eine breitere Öffentlichkeit fehlt. Bei Lord Bolingbroke dagegen, dem stärksten Temperament unter den vier, liegt der Nachdruck ganz auf dem unmittelbar Politischen und Agitatorischen. Als Schriftsteller steht er deshalb Burke am nächsten, so schroff sich auch ihre konkreten Urteile voneinander scheiden. Die moralische Reinigimg des öffentlichen Lebens, die Zerstörung eines dunklen Parteiwesens im Staat, waren auch Burkes Ziele, nur sah er an den Stellen weiß, wo Bolingbroke schwarz erblickte. Wichtiger sind jedoch die Unterschiede in ihrer ganzen Art, die Dinge zu betrachten. Bolingbrokes Auge bleibt an Personen hängen, vor allem an seinem verhaßten Gegner Walpole als dem Vertreter des Bösen und einem Wunderkönig als Schöpfer der Besserung. Burke sieht überpersön-
111 liehe Zustände, Überlieferungen und Institutionen, in deren Rahmen die einzelnen Menschen ihr Spiel treiben. In den sachlichen Urteilen berührt er sich am stärksten mit Blackstone, auch in der Rückhaltlosigkeit, mit welcher beide die Vortrefflichkeit der bestehenden Staatsform rühmen. Aber bei Burke wird bewegtes Leben und individuelle Empfindung, was bei Blackstone als trockene, unbehilfliche Feststellung aufgetreten war. Delolmes Art, die rollenden Gewichte zu zeigen, welche das System der englischen Verfassung im Gleichgewicht erhielten, war Burke wenig gemäß, wenn er auch von seinem Gesamturteil befriedigt sein konnte. Humes Methode, die prüfende Sonde einzusetzen, war seiner Geistesart gänzlich fremd, obgleich Hume dabei auch zu Erkenntnissen in Burkes eigener Richtung kam. Mit jedem der vier Autoren hat Burke gewisse Seiten gemeinsam und von einem jeden ist er durch bestimmte andere Wesenszüge getrennt. Es ist daher nicht begründet, wenn man Burkes Denken von dem der Aufklärung und des Rationalismus, von dem es sich offenbar unterscheidet, durch einen scharfen Schnitt ganz sondert und es »historisch-politisch« oder ähnlich benennt. Burkes Ideen haben ihre Wurzel in der whigistischen Überlieferung. Deren rationale Bestandteile hat er zu einem großen Teil, jedoch nicht vollständig, ausgeschieden. Um das theoretische Beweismaterial, welches der Whigismus ehedem vorbrachte, kümmert er sich nicht mehr. Er ersetzt es durch gefühlsmäßige Wertung. Dadurch erhält die Betrachtung der politischen Institutionen Englands eine neue Wärme, Frische und Eindringlichkeit. Burke untersucht nicht, er läßt die Dinge auf sich wirken. Doch geschieht dies nur in dem staatlichen Kreis, der ihm gemäß ist und dessen Gesamtheit er durchaus bejahend gegenübersteht. Mit Menschen und staatlichen Einrichtungen, welche sich in sein Gesichtsfeld, das englisch-whigistische, nicht einfügen wollen, ist er genau so rasch fertig wie irgend ein rationalistischer Dogmatiker seiner Zeit und nicht weniger absprechend und jäh in seinem Urteil wie jene. Burke war ein neuer Blick für den besonderen Geist verliehen, der einer politisch-kulturellen Gemeinschaft innewohnt. Aber wenn er auch zuweilen von dem »großen Gesetz der Veränderung«1) spricht, im Grunde vermochte er doch nur »Zustände« zu sehen, d. h. etwas Bestimmtes und Dauerndes, und nicht ') Letter to Sir Hercules Langrishe, 1792: »We must all obey the great law of change. It is the most powerful law of nature, and the means perhaps
112 »Veränderungen«, d. h. den Fluß und Wandel der Verhältnisse. In das Staatswesen seines eigenen Volks versenkte er sich mit solcher Hingebung und Ausdauer, daß er von den Zuständen des eigenen Zeitalters zu deren geistigen Grundlagen vorzudringen begann und als erster mit beredten Worten auf die Klammern hinwies, welche Englands Gegenwart mit Englands Vergangenheit untrennbar ver banden. Doch der Zug, welcher eine »historisch-politische« Betrachtungsweise erst eigentlich möglich macht, fehlt bei Burke noch: Relativismus, der Sinn, verschiedene Zustände nebeneinander zu sehen und als gleichberechtigt anzuerkennen, lag ihm fern. Etwas völlig anderes ist natürlich der Relativismus des praktischen Staatsmannes, der seine Bausteine zählt, ehe er an das Werk geht, um zu ermessen, wie hoch und geräumig er seinen Bau Oberhaupt anlegen kann. Die Abschätzung der Möglichkeiten und Mittel, welche der Augenblick darbietet, diese Art von politischem Relativismus, hat es in allen Jahrhunderten und Ländern immer gegeben. Burke gehörte zu seinen lauten Verkündern. Dem Denken Burkes fehlte der Trieb, Begriffe und Grundsätze bestimmt und scharf festzusetzen. Er gehörte nicht zu den Naturen, welche aus innerer Nötigimg in die eigenen Anschauungen stets logische Klarheit und einen straffen, durchsichtigen Zusammenhang und Aufbau zu bringen suchen. Ohne Bedenken übernahm er die Ausdrucksweise seiner Umwelt, wenn sie nur irgendwie zu bezeichnen schien, was er empfand. Ob sich bei einer Nachprüfung alles zueinanderfügte, kümmerte ihn wenig. Seiner Systemlosigkeit wurde er sich überhaupt kaum bewußt, da er festen Rückhalt in einer überkommenen politischen und religiösen Weltanschauung fühlte. Aber die radikalen Theoretiker unter seinen Zeitgenossen mochten über die Bequemlichkeiten seiner Logik wohl ebenso in Verzweiflung geraten, wie er über die blutlose Starrheit der ihrigen. Man hat aus der Lässigkeit, welche Burke in dem Gebiet des theoretischen Denkens zeigte, manchmal einen besonderen Ruhmestitel machen wollen. Die Historiker lassen sich ja überhaupt mitof its conservation. A l l we can do, and that human wisdom can do, is to provide that the change shall proceed by insensible degrees.« Letter to the Sheriffs of Bristol 1777: »Nothing in progression can rest on its original plan. W e may as well think of rocking a grown man in the cradle of an infant.«
113 unter verführen, in der Abneigung eines Menschen gegen theoretischgewaltsames Durchdenken allgemeiner, Welt und Menschheit umfassender Fragen ohne weiteres ein positives Verdienst zu sehen, weil ihnen selbst eine solche Abneigung instinktiv in größerem oder kleinerem Maße innewohnt. Die Forschung hat bisher wohl den Blick zu ausschließlich auf die Punkte gerichtet, in welchen Burke zu dem spekulativen rationalistischen Denken seines Jahrhunderts in Gegensatz trat. Sie darf darüber nicht vergessen, wie sehr auch Burke im Banne seines Zeitalters blieb. Man hat ihn dem 19. Jahrhundert zu sehr angenähert, dessen Fragestellungen bei ihm gesucht und ihn gelobt, wo man sie zu finden glaubte. Immer muß man bei »Burke« zwischen dem unterscheiden, was die junge Generation am Ausgang des Jahrhunderts aus den Kampfschriften des Alten, vor allem den »Betrachtungen über die französische Revolution« mit frischen Sinnen und unbeschwert von den traditionellen Lehren der englischen Whigs für sich herausgelesen hat und dem, was Burke selbst dachte und empfand. Das rationale Schema staatlicher und gesellschaftlicher Begriffe hat Burke vermieden, wenn er konnte; aber verworfen hat er es nicht, auch nicht in Humes Sinne Kritik daran geübt. Er trug die gesprengte Schale des alten Gedankensystems noch mit sich herum. Als seine leidenschaftlichen Kundgebungen gegen die französischen Revolutionäre und ihre Gönner in England zum Bruch zwischen ihm und seiner Partei geführt hatten, verfaßte er zur Rechtfertigung seiner Stellungnahme eine große Schrift, den »Appeal from the New to the Old Whigs« (1792). Neben den »Betrachtungen über die französische Revolution« ist der »Appeal« die wichtigste Schrift aus Burkes letztem Lebensabschnitt. Viele Bemerkungen in den »Reflections« erhalten erst durch die Erörterungen des »Appeal« ihr rechtes Licht. Burke beruft sich darin gegenüber den »neuen Whigs«, d. h. der von Fox und Sheridan geführten Partei, die mit ihm gebrochen hatte, auf die Haltung der Whigs von ehedem. Seine eigene echt whigistische Gesinnung bei seinem Kampf gegen die Ideen der Pariser Nationalversammlung sucht er durch Citate aus der großen englischen Vergangenheit zu erweisen. Er gibt zu diesem Zweck eine grundsätzliche Erörterung der whigistischen Lehre, so wie er sie auffaßte. Niemals ließ er sich in die Theorien über die Grundlägen von Staat und Gesellschaft so sehr ein wie hier. Die Sätze im »Appeal« geben darum L e n n o x , Edmund Borke,
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114 die genaue Grenzmarke, bis zu welchem Punkt Burke die traditionelle Auffassung des englischen Staates und seiner Grundlagen fortentwickelte und umbildete. Burkes konservative Neigungen hatten in der Zeit seines Kampfes gegen den französischen verstandesmäßigen Radikalismus besonders ausgesprochene Formen angenommen. Auch im allgemeinen hatten seine jahrzehntelangen Erfahrungen und sein Alter bewirkt, daß sich seine Anschauungen über Staat und Politik verfestigten und voller und umfassender vorgetragen werden konnten. Aber inhaltlich hatten sich seine Überzeugungen nicht gewandelt. Der »Appeal from the New to the Old Whigs« von 1792 widerspricht den »Present Discontents« von 1770 nicht, nur die Blickrichtung ist eine andere geworden. »Unsere Verfassung steht auf einem erfreulichen Gleichgewichtspunkt, mit steilen Abhängen und tiefen Wassern auf allen Seiten um ihn her. Wenn man ein gefährliches Uberlehnen nach einer Richtung beheben will, läuft man Gefahr, daß sie nach der anderen umstürzt«, heißt es in den »Present Discontents«. Burke fühlte sich als einen Wächter der englischen Verfassung und setzte sich jeweils für den ihrer Teile ein, den er am stärksten bedroht glaubte. Um 1770 erschien ihm Unterhaus und Aristokratie durch die Einflüsse des Königtums gefährdet, in den neunziger Jahren sah er die Strömungen von unten und den theoretischen Radikalismus gegen das erbliche Königtum und — auch diesmal — gegen die Aristokratie sich erheben. Der Lage jeweils entsprechend änderte Burke die Betonung. »Obgleich der Staat gewiß eine von der göttlichen Autorität begründete Einrichtung ist, haben seine Formen und die Personen, welche ihn regieren, doch alle ihren Ursprung bei dem Volk«, schrieb er 1770 1 ). In den Zeiten des Appeal hatte er sich nicht mit den Machtbestrebungen des Königtums, sondern mit der Lehre auseinanderzusetzen, nach der die Rechte des Volkes unverlierbar waren und stets neu in Kraft treten konnten. Darum schiebt er jetzt die göttliche Autorität mit viel größerer Wucht in den Vordergrund: »Der Ehrfurcht erregende Urheber unseres Daseins ist auch der Urheber unseres Platzes innerhalb der Ordnung der Existenzen; er verwendet und ordnet uns durch eine göttliche Taktik nicht nach unserem Willen, sondern nach dem seinen und darum hat er uns genötigt (virtually
Present Discontents.
115 subjected us), die Rolle zu spielen, welche zu dem Platz gehört, der uns angewiesen wurde« 1 ). Im »Appeal« kehrt Burke die konservative Seite der whigistischen Freiheitslehre mit besonderem Nachdruck hervor. Seine Bewunderung gehört der ruhmvollen Zeit der »alten Whigs«, d. h. der whigistischen Führer aus der Periode der Königin Anna, Marlboroughs und seiner Genossen. Am Anfang des Jahrhunderts hatten diese bei Gelegenheit eines politischen Tendenzprozesses (Sache verellprozeß) ihre Grundsätze formuliert. Darauf griff Burke nun zurück, um sich gegen seine Gegner, die »neuen Whigs« zu decken. Aus den Aussagen der Whigführer von damals, welche in dem stolzen Gefühle reden konnten, ihr politisches Ziel erreicht zu haben, leitete Burke in seinem »Appeal« einen dauernden und allgemeinen Whigkonservativismus ab, der seinen eigenen Gefühlen entsprach. England war auch für Burke d a s Land der Freiheit. In der großen Zeit der Revolution von 1688 wurde, so glaubt auch er, diese Freiheit aufs neue aufgerichtet und für die Zukunft gesichert. »In dieser ewig erinnernswerten und lehrreichen Periode wurde der Buchstabe des Gesetzes beiseits gesetzt, um des Wesens der Freiheit willen«2). Die Statuten, welche damals neu festgesetzt wurden, haben den Engländern ihre Freiheiten nicht erst gegeben, nein, sie sind selbst schon ein Ausfluß dieser Freiheiten. Burke schloß sich also ganz der üblichen whigistischen Auffassimg der Revolution von 1688 an, welche Hume verspottet hatte 3 ). Die alten Freiheitsrechte der Engländer seien nun durch die Staatsordnung von 1688 gesichert und ihr Fortbestand beruhe auf der ungestörten Weiterdauer dieser Ordnung. Englische Freiheit sei, wie er immer wieder aussprach, »Freiheit mit Ordnung«. Im Einklang mit der Sprechweise der alten Whigs und der von Locke ausgehenden Tradition des Jahrhunderts redet Burke in seinen Schriften gelegentlich von »natürlicher Freiheit«, »allgemeinen Menschenrechten«, »Staatsvertrag«. Doch diese Begriffe verblassen bei ihm oder sie werden ins Passive, unverändert Beharrende gewendet. ') Appeal. *) An Adress t o the King, 1777. ') Seine Kenntnis und Auffassung der geschichtlichen Vorgänge der Periode von 1688 schöpfte Burke aus der maßgebenden whigistischen Darstellung des Bischofs Burnet. S*
116 »Gesellschaft ist gewiß ein Vertrag,« heißt es in den Betrachtungen über die Französische Revolution, »aber ein Vertrag nicht nur zwischen den Lebenden unter sich, sondern zwischen den Lebenden, den schon Gestorbenen und denen, die erst geboren werden sollen. Jeder Kontrakt eines bestimmten Staates ist nur eine Klausel in dem großen uranfänglichen Kontrakt der ewigen Gesellschaft, welcher die niederen mit den höheren Wesen verbindet, welcher die sichtbare mit der unsichtbaren Welt verknüpft, nach einer festen Abmachung — , sanktioniert durch den unverletzlichen Eid, welcher alle physischen und moralischen Wesen bindet und auf ihrem bestimmten Platz hält.« Ein solches Ausweiten des Begriffs »Gesellschaftsvertrag«, wie es Burke hier vornahm, bedeutete im Grunde die Auflösung der ganzen Vertragslehre. Von einer ganz entgegengesetzten Seite nahm diese fast gleichzeitig auch der junge Fichte vor; nach den Gesetzen der rationalen Logik sprach er jedem Menschen das Recht zu, den Staatsvertrag für seine Person in jedem Augenblick zu kündigen und damit aus dem politischen Verband auszuscheiden1). Fichte leugnete die dauernd bindende Kraft des Staatsvertrages, Burke jede Möglichkeit, das Verhältnis zu lösen. Er betrachtete den Staatsvertrag als einmaliges Ereignis der Vergangenheit, welches die Nachkommen dauernd verpflichte und das zudem der Oberherrlichkeit des unwandelbaren göttlichen Moralgesetzes unterworfen sei. »Wenn die Verfassung eines Landes durch eine Abmachung — stillschweigend oder ausdrücklich — festgesetzt ist, gibt es keine Macht, die sie ohne Vertragsbruch ändern könnte, es sei denn mit Zustimmung sämtlicher Parteien. Dies ist das Wesen eines Vertrages.« Bei Fichte 2 ) wie bei Burke verliert die Vertragslehre so ihren eigentlichen Sinn. Das Bezeichnende ist jedoch dabei, daß Burke nie soweit ging, das überlieferte rationale System von Staats- und Gesellschaftsbegriffen ganz zu verlassen. Er verwandte sie und suchte die alten Schlagworte so zurechtzubiegen, bis sie einigermaßen ausdrückten, was er empfand: den Zusammenhang alles Daseins unter der Leitung Gottes und seines moralischen Gesetzes, die Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit; die Bedeutungslosigkeit des Einzelmenschen gegenüber dem von Gott bestimmten All und dem Fluß der Ge*) Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums aber die Französische Revolution, 1793. *) Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 316.
117 nerationen, in welchem alles einzelne verschwindet. In einem solchen Weltbild haben rationale Willensakte einer Menschengruppe, wie ein Staatsvertrag nach der ursprünglichen Auffassung es ist, wenig Platz. Burke schiebt ihn daher zurück und wandelt seinen Sinn, bis auch er ein Element der Bindung an das große Allgemeine wird. In den Betrachtungen über die Französische Revolution findet sich eine Definition des Staates, welche auf die folgende Generation positiv fortgewirkt hat 1 ): »Der Staat sollte nicht lediglich wie ein Kompagniegeschäft in Pfeffer, Kaffee, Kaliko oder Tabak angesehen werden, das man für einen kleinen vergänglichen Gewinn beginnt und wieder auflöst, wenn die Laune der Teilhaber es so will. Man muß ihn mit höherer Achtung betrachten. Denn er ist nicht eine Gemeinschaft in vergänglichen Dingen, die nur der groben animalischen Existenz dienen. Er ist eine Gemeinschaft in aller Wissenschaft; eine Gemeinschaft in aller Kunst; eine Gemeinschaft in jeder Tugend und aller Vollkommenheit2)«. Burke war freilich nicht der erste, der den Staat als eine Lebensgemeinschaft zur Pflege geistiger Güter und zur Vervollkommnung des Lebens ansah. Schon in der »Politik« des Aristoteles konnte man ähnliche Sätze lesen, welche ein sicherlich ebenso warmes Gefühl für den Staat verraten8). Aber Burke sprach es für seine Zeit mit neuer Frische und Unmittelbarkeit aus. Wie wenig jedoch diese liebevollere und umfassendere Auffassung des Staates in ihm den dauernden Ausschlag gab, zeigt seine Definition des verwandten Begriffes Volk im »Appeal«: »In dem Stand der bloßen Natur gibt es nichts, was man .Volk' nennen könnte. . . Die Idee .Volk' ist die Idee einer Körperschaft. Sie ist ganz und gar künstlich und wie alle anderen gesellschaftlichen Fiktionen durch gemeinsame Ab*) Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 3. Aufl. 1915, S. 134!. *) Reflections: " . . . t h e state ought not to be considered nothing better than a partnership agreement in a trade of pepper and coffee, calico or tobacco, . . .to be taken up for a little temporary interest, and to be dissolved by the fancy of the parties. It is to be looked on with other reverence; because it is not a partnership in things subservient only to the gross animal existence of a temporary and perishable nature. It is a partnership in all science; a partnership in all art ; a partnership in every virtue and in all perfection". Die deutsche Übersetzung von Gentz, 1794, verstärkt den Ton gleich beträchtlich, indem sie die Worte „frevelhaft" und „göttlich" hineinbringt. (Wortlaut bei Meinecke, s. 134)
•) Aristoteles, Politik III, 1280a und e; vgl. VII, 1328a.
118 machungen entstanden. . . Wenn darum Menschen den ursprünglichen Vertrag oder die Abmachung brechen, welche einem Staat seine Form und seinen Inhalt als Körperschaft gibt, sind sie nicht länger ein Volk. Sie existieren nicht weiter als Körperschaft. . . Sie sind eine Anzahl lockerer, loser Individuen und nichts weiter. Bei ihnen muß alles wieder von Anfang an beginnen. Ach, sie wissen nicht, wieviele mühsame Schritte getan werden müssen, bis sie sich zu einer Masse bilden, die eine wahre politische Persönlichkeit ist.« In dem letzten dieser Sätze leuchtet die Einsicht auf, mit welcher Langsamkeit geschichtliche Entwicklung sich vollzieht, aber der juristischrationale Gedankengang des Ganzen erweist, wie sehr das Ungeschichtlich-Systematische der Denkweise des 17. und 18. Jahrhunderts auch Burke noch in Bann hielt1). Mit der individualistischen Staatsauffassung, wie sie in der angeführten Erörterung des »Appeal« zutage tritt, steht dann wieder in seltsamem Widerspruch, daß Burke das Recht der zahlenmäßigen Majorität im Staat verwarf. Er fand, in keinem vorstaatlichen Zustand der Menschen könnten die Beziehungen »Majorität« und »Minorität « Geltung haben, da ja überhaupt keinerlei Beziehung zwischen einer größeren Menschenzahl gegeben sei. Auch in dem Vertrag, der den Staat begründet habe, sei jedenfalls im Falle Englands und Frankreichs das Recht der überwiegenden Kopfzahl nicht festgestellt worden, auch nicht stillschweigend; ebensowenig sei dies durch eine spätere Ergänzungsbestimmung geschehen. Dagegen erblickte Burke in der Aristokratie eine Voraussetzung des Staates selbst. Erst durch deren Bestehen sei ein Zustand sozialer Ordnung und Gliederung erreicht, der einen Staat überhaupt möglich mache. Aristokratie sei eine Institution, die schon dem Naturzustand angehöre und nichts Künstliches2). Wie diese Auffassung mit der eben angeführten, daß die Menschen im vorstaatlichen Zustand oder nach Bruch des den Staat begründenden Vertrages nur ein Haufe »loser Individuen« seien, sich l ) Darum geht Leslie Stephen, English Thought in the 18. Century II, S. 225 zu weit, wenn er sagt, bei Burke sei "the metaphysical basis of political rights summarily cleared away". Auch müBte man hinzufügen, daß Burke dafür eine metaphysische Basis politischer Verpflichtungen und Bindungen konstruiert. *) Den Wortlaut von Burkes Lob der natürlichen Aristokratie gibt Felix Salomon, Pitt der Jüngere I 1, S. 94 f.
119 logisch vereinigen läßt, fragt man Burke vergebens. Burke machte sich eben wenig Sorge, ob die von ihm verwendeten Begriffe nebeneinander möglich waren und gebrauchte sie in extrem dehnbarem Sinn. So konnte er von »Naturzustand« reden und dabei den der Kultur meinen; denn der natürliche Zustand des Menschen sei derjenige, in welchem seine natürliche Gabe, die Vernunft, sich am besten auswirken könne. »Art is man's nature« 1 ). Hier liegt einer der seltenen Fälle vor, in denen man den Ursprung einer grundsätzlichen Ansicht Burkes genau feststellen kann. Zugleich zeigt er, wie weit die Uberzeugungen, denen Burke in den Jahren der Französischen Revolution Ausdruck gab, bei ihm schon zurückgingen. Auch eine Aussage von Burkes Sohn wird dadurch bestätigt: »Mein Vater faßt seine Meinungen niemals übereilt, und selbst diejenigen Gedanken, welche mir oft lediglich als das Erzeugnis von Augenblickseindrücken erschienen, waren, wie ich hinterdrein mit voller Sicherheit feststellte, das Ergebnis systematischen Nachdenkens vielleicht von Jahren« ^.Die Auflösung und Verschleifung des Gegensatzes von Naturzustand und Kultur hatte Burke im Jahre 1767 in einem Werk des schottischen Psychologisten Adam Ferguson über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gefunden. Die betreffende Erörterung hatte er in dem Buch besonders freudig begrüßt und in seinem »Annual Register« zum Abdruck gebracht8). ') Appeal. *) Burke, Corr. III, S. 133 (1790). s ) Annual Register 1767, S. 307 f f . : Ferguson lehnte sowohl die Ansicht von der Stummheit des Urmenschen wie die vom Krieg aller gegen alle ab. Als Grundeigenschaften des Menschen glaubte er feststellen zu müssen: seine Neigung zu Freundschaft und Feindschaft, seine Vernunft, seine Fähigkeit, zu sprechen und artikulierte Laute zu bilden. Dies gehöre so zu ihm, wie der Flügel zum Adler. Die Menschheit habe von Anfang an in Familien und Gruppen existiert. Zwischen dem Naturzustand und der Folgezeit dürfe man keinen Trennungsstrich ziehen, denn der Mensch habe immer ein Prinzip des Fortschritts und den Drang nach Vervollkommnung in sich getragen. Die neuesten Erfindungen seien von den allerersten nicht wesensverschieden. "If the palace be unnatural, the cottage is so no less." Burkes Rezension: „ . . .Many of the authors who have written on man, and those too some of the most ingenious, have set out by considering him as an animal, solitary by nature; and others not satisfied with this blindness to what we know and see of his condition in almost all ages and countries, have no less preposterously made him a mischievous one. Nay, one in particular, has thrown out doubts of his having been originally a monkey or baboon.
120 Zwei weitere Lieblingsbegriffe Burkes waren die »Verjährung« (prescription) und das durch die Tradition sich fortpflanzende Vorurteil zugunsten von etwas Bestehendem (presumption). Beide Begriffe hielten sich innerhalb des naturrechtlichen Systems und sollten ihrem Gehalt nach doch etwas Halbhistorisches ausdrücken. »Prescription« und »presumption« stützten die bestehenden Verhältnisse des Staates und der Gesellschaft und gaben ihnen nach Burkes Meinung sogar die formale Berechtigung. »Verjährung« sei die Rechtsgrundlage des Eigentums — dies ein Hauptbegriff der whigistischen Staatslehre schon seit Locke — und der staatlichen Ordnung überhaupt. Zusammen mit dem »günstigen Vorurteil« gebe Verjährung auch die Grundlage für den Vorrang des Adels innerhalb der Gesellschaft 1 ). Burke schreitet erst da frei aus, wo er sich nicht um theoretische Begriffe zu kümmern braucht, sondern sich allein von seinen »wahren, gesunden Prinzipien«, d. h. seinen gefühlsmäßigen Überzeugungen und der Summe seiner Erfahrungen als Staatsmann führen läßt. Er versichert einmal, er wolle die Theorie und Spekulation nicht herabsetzen, weil dies die Vernunft selber herabwürdigen hieße2), aber im Grunde seines Herzens spürte er doch von vornherein Abneigung und beinahe Haß gegen alles Formale und alle Theorie. Aus der Flut der geistigen Uberlieferung hatte er Ideen und Bezeichnungen herausgenommen, die seinen Ansichten angepaßt und ihnen dienstbar schienen; diese erklärte er kategorisch für richtig, alle andere Theorie verachtete er. Vor allem geriet er in Zorn, wenn irgendein rationaler Formalist die tausenderlei Verschiedenheiten in den Verhältnissen des wirklichen Lebens logisch glatt hobeln wollte. Seine eigene Natur trieb ihn immer, sich mit Liebe und Hingebung an den einzelnen Fall und dessen Besonderheiten zu halten, denen man mit einem allgemeinen Mr. Ferguson, instead of adopting either of those capital mistakes (by which we mean the two first, the last being too ridiculous for serious animadversion) has refuted them both in the most masterly manner; by which he has achieved more for the dignity of human nature, as well as for the interest of mankind, than had been done by all the writers who had gone before him in this w a l k . " J) Reflections. — Appeal. •— Vor allem in „Reform of Representation in the House of Commons", 1782. — Ausführlicher bespricht Burkes Lehre von „prescription" und „presumption" Leslie Stephen, II, S. 228ff. *) Reform of Representation.
121 Satz nicht beikommen konnte. Er wurde nicht müde, wieder und wieder zu predigen, daß der Blick für das Besondere und Augenblickliche die Aufgabe und Pflicht des Staatsmannes sei. »Der Staat ist etwas Praktisches, für das Glück der Menschen geschaffen und nicht dafür, ein angenehmes Versuchsobjekt für die Einheitsbedürfnisse visionärer Politiker zu sein«1). Die Art, in der Burke die politischen Einzelfälle vornimmt, ihre Eigentümlichkeiten aufzeigt und die besondere Behandlung, welche sie erfordern, davon ableitet, macht seine Größe als politischer Schriftsteller. Keine Inhaltsangabe einer Schrift Burkes kann darum den besonderen Ton wiedergeben, in dem dort die Gegenstände behandelt sind, keine Zusammenfassung vermag die eigene Lektüre zu ersetzen. Die Grundlagen des englischen Staates standen ihm fest. Hier lag für ihn also keinerlei Anlaß zu politischen Zweifeln oder reformerischer Leidenschaft vor. Mit aller Ruhe und Hingebung konnte er darum an die einzelnen Fragen innerhalb des Ganzen herantreten und sein Wissen und seine Erfahrung in ihren Dienst stellen. Es war dabei seine besondere Gabe, alle Einzelheiten doch immer zugleich auf die Gesamtheit des englischen Staats- oder Gesellschaftskörpers beziehen zu können. Immer beherrschte ihn der Trieb, diese tieferen Zusammenhänge zu ergründen. Er suchte sie nicht, wie Delolme es tat, in der Übereinstimmung oder gegenseitigen Ergänzung formaler Verfassungssätze, sondern in dem leichten, schwebenden »Geist«, der nicht aus den papiemen Bestimmungen abzulesen war, sondern sich darin bemerkbar machte, in welcher Weise diese Bestimmungen gehandhabt wurden, sowie in dem Grad des Einflusses und der Geltung, welchen sie im öffentlichen Leben Englands tatsächlich besaßen. »Die Gesetze reichen nur eine kleine Strecke weit«, heißt es schon 1770 in den »Present Discontents«. »Richtet die Verfassung ein, wie ihr wollt, der unendlich größere Teil ihrer Wirksamkeit muß doch von der Ausübung der Gewalten abhängen, welche der Klugheit und Rechtschaffenheit der Staatsverwalter ohne genaue Festsetzung überlassen ist. Sogar der ganze Nutzen und die Wirkungskraft der Gesetze hängt von diesen ab. Ohne sie ist Euer Staat nichts Besseres als ein Plan auf einem Stück Papier und keine lebende, wirksame Ver') Letter to the Sheriffs of Bristol 1777: „Government is a practical thing, made for the happiness oi mankind, and not to furnish out a spectacle of uniformity, to gratify the schemes of visionary politicians".
122 fassung.« Damit schied sich Burke von Montesquieu und seiner Schule, welche den lebendigen und sich regenden Staatskörper allein formal-verfassungsrechtlich zu betrachten gewohnt war. Er besaß ein für sein Zeitalter neues Empfinden für die konkreten Mächte, welche dem ganzen Staatsleben Antrieb und Richtung geben und deren Dasein und Einfluß man nicht mit einem juristisch geschärften Verstand aus dem Wortlaut von Verfassungsurkunden und Rechtsbestimmungen ablesen kann. Diplomaten rechneten mit diesen Mächten und mußten sie kennen. Doch in verfassungspolitischen Schriften, wie die »Present Discontents« eine ist, pflegte man sie dem Formalen unterzuordnen oder ganz zu vergessen. Und doch verleugnet sich auch in den angeführten Sätzen Burkes der Geist des 18. Jahrhunderts nicht ganz, das allzu geneigt war, die politischen und geschichtlichen Vorgänge allein auf die guten oder schlechten Charaktereigenschaften von Ministern und Regenten — auf »Rechtschaffenheit«, »Klugheit« und deren Gegenteil zurückzuführen. Burke war in seinem Kampf gegen eine papierene theoretische Auffassung von Staat und Gesellschaft nicht ganz ohne Vorgänger in England. Schon Pope hatte mit einer nachlässig-vornehmen Gebärde den formalen Streit um Verfassungsfragen von sich gewiesen und die Wichtigkeit der praktischen Regierung betont: „For forms of government let fools contest, Whate'er is best administered, is best."
Und Hume hatte diese Verse beifällig notiert. In solcher Wendung billigte Burke den Gedanken freilich nicht. Die Verfassungsform war ihm keineswegs neben der eigentlichen Staatsverwaltung eine gleichgültige Sache. Beides war nach seiner Ansicht gar nicht voneinander zu trennen, da er »Verfassung« nicht als theoretische Grundlage des Ganzen, als ein Heft voller Paragraphen oder philosophischer Sätze über das, was man im Staat darf oder soll, auffaßte. »Verfassung«1) war vielmehr für ihn das Staatsleben mit seinen dauernden Antrieben und bewegenden Kräften selbst. Erst als die Entwicklung seines Zeitalters über den Umkreis, in dem sich Burke bewegte und der ihm der natürliche und angemessene war, hinauszutreiben drohte, da wurde auch er Formalist und mit einem erregten »Es steht geschrieben« wies er dogmatisch auf die Sätze der alten Whigs hin. *) „ A living, active, effective constitution" (Present Discontents).
123 Doch solange die Welt des Whigismus noch in sich geschlossen erschien und »Freiheit« eben nur die englische Freiheit von 1688 sein konnte und noch nicht in der jungen französischen Freiheit von 1789 eine gefährliche Nebenbuhlerin fand, hatte er zu solcher Schroffheit keine Veranlassung. Es war nur natürlich, daß gerade durch das englische Staatswesen in dem politischen Denken des 18. Jahrhunderts zuerst Achtung vor geschichtlichen Zusammenhängen und vor den praktischen Erfahrungen der Staatsmänner wachgerufen wurde. Gab es doch in diesem Zeitalter keine Institution, in welcher Vergangenheit und Gegenwart so unlöslich verbunden erschienen, wie in der englischen Verfassung — zumal deren Alter durch die Rechtsfiktion noch beträchtlich hinaufgeschraubt wurde. An Alterswürde konnte damals nur das Papsttum und das römisch-deutsche Kaiserreich sich mit ihr messen. Doch das Papsttum war eben auf dem Tiefpunkt seiner Macht und seines geistigen Einflusses angelangt, zudem war es das spezifische Symbol derjenigen Vergangenheit, welche man überwinden wollte. Die philosophische, aufklärerische Bewegung des Zeitalters lief Sturm, um diesen Rest einer gehaßten und verachteten Welt ganz zu vertilgen. Das römisch-deutsche Kaiserreich war nichts als ein kläglicher Trümmerhaufen, Gegenstand der Beutegelüste seiner Nachbarn und seiner eigenen Mitglieder. Die pompös-ungeschickten historischen Formen, unter denen das Reich in Regensburg und Frankfurt aufzutreten pflegte, waren für das übrige Europa ein Gegenstand komischen oder bestenfalls antiquarischen Interesses. Diese barocken Feierlichkeiten erschienen als ein Gipfel alt väterischer, innerlich vollkommen hohler Pedanterie, wenn nicht gar nur als großes Kostümfest. Das englische Staatswesen hingegen hatte nicht nur die Machtprobe der letzten Jahrhunderte trefflich bestanden, sondern — was dieser Zeit mehr bedeutete — es hielt sich auch vor dem prüfenden Verstand des modernen Zeitalters. In der englischen Verfassung erschien Vergangenheit, die offensichtlich zugleich Vernunft war. Sie lieferte den Beweis, daß Weisheit und Verstand doch nicht nur erst seit ein oder zwei Menschengeschlechtern in die Welt gekommen waren, wie das Selbstgefühl der Aufklärer meinte. Mit Stolz wies Burke darauf hin, daß die Theorien der Staatsphilosophie nur einen kümmerlichen Auszug aus der komplizierten Weisheit des englischen Staatswesens darstellten und überhaupt erst durch dessen
124 Betrachtung gefunden worden seien1). Was Burke beim Anblick der englischen Verfassung empfand und seinem Volk darzulegen strebte, verallgemeinerten dann seine romantischen Schüler in Deutschland. Sie wandten seine Betrachtungsweise auch bei anderen Institutionen an, für welche Burke selbst sie vielleicht nicht ohne weiteres hätte gelten lassen. Burkes Lehre ist auf solche Art der Ausgangspunkt einer neuen geschichtlichen Betrachtungsweise geworden. Sie selbst kann dagegen noch nicht eigentlich geschichtlich genannt werden. Denn Burkes Verhältnis zu Englands Vergangenheit war nicht das der historischen Würdigung, welche das Empfinden für die andere Art und das Eigenrecht einer vergangenen Zeit und für die Abfolge verschieden gerichteter Generationen voraussetzt. Es war vielmehr etwas wie Familiengefühl. »Pietät«, »Empfindungen eines Sohnes dem Vater gegenüber« forderte Burke von dem englischen Staatsmann gegenüber seinem Staat. Beides besaß er selbst im allerhöchsten Maße. Es war Familienpietät, der ein gutes Maß Familienblindheit innewohnte. Das historische Element in Burkes Denkweise war die Verbindung des Vergangenen und Gegenwärtigen, das neue Gefühl für den Fluß der Generationen seines Landes; es führte zum Bruch mit der rationalen Selbstherrlichkeit der Aufklärung. Aber das geschichtliche Denken verbindet die Zeiten nicht nur, es setzt sie auch gegeneinander ab und sinnt ihren geistigen Unterschieden nach. Dies zweite ist in der Ideenwelt Burkes noch kaum spürbar. 5Burke teilte die traditionelle Anschauung, nach der sich der englische Staat aus einem monarchischen, einem aristokratischen und einem demokratischen Bestandteil zusammensetzte. Das Neue war jedoch, daß er weniger die Trennung dieser drei Gewalten betonte, als ihre gegenseitige Verflechtung und unlösliche Verbindung. Aus dem mechanischen, ausgewogenen Nebeneinander, wie es sich noch bei Delolme darstellt, wird bei ihm ein fließendes Ineinander, obgleich Burke die Sonderart der einzelnen Faktoren der Verfassimg nicht leugnete. Von der Rolle, welche Burke dem König im englischen Staat zu übertragen wünschte, ist schon die Rede gewesen2). Es war ') Reform of Representation in the Hoase of Commons, 1782. — Reflections OD the French Revolution. *) Vgl. oben S. 88.
125 die des rechten Whigkönigs, der seine Minister regieren läßt und durch seinen Einfluß ihre Stellung festigt. Der König hat die Befugnis, die vom Parlament genehmigten Gesetze zu verwerfen; das Parlament kann die vom König erwählten Minister ablehnen, indem es gegen sie stimmt. Die Minister sollen aus dem Parlament hervorgehen und mit den großen Interessen des Landes innerlich verbunden sein, d. h. sie sollen nach Burke der großen, grundbesitzenden Aristokratie angehören1). Das Schwergewicht der Aristokratie im Staat sei notwendig und berechtigt durch das des Eigentums, welches der Adel vor allem repräsentiere. Die ganze Staatsorganisation ruhe ja auf dem Grundsatz des Eigentums und nicht etwa auf dem der Mehrheit der Köpfe. »Die große Gefahr der Zeit«, sagte er einmal in den neunziger Jahren, »ist die, daß die bloße Zahl gegen das Eigentum auf den Schild gehoben wird2).« Die Stelle im Staat, an der die Macht des Eigentums ihren stärksten und unmittelbarsten Ausdruck finde, sei das Oberhaus, die Versammlung der größten Grundbesitzer des Landes. Hier trete das Eigentum gleichzeitig in enge Verbindung mit der Krone und der Rechtsprechung (da das Haus der Lords zugleich auch der oberste Staatsgerichtshof war). Für sich allein genüge dies aber noch nicht, da das Haus der Lords das schwächste Glied in der Verfassung sei. Es benötige eine Stütze durch die enge Verbindung mit der Krone einerseits, dem Unterhaus anderseits. Diese zweite werde durch den Einfluß der Peers auf die Wahlen geschaffen. Nach Burkes Lehre ist dieser Einfluß zur Erhaltung der Verfassung notwendig, segensreich und durchaus gerechtfertigt, da allein auf solche Weise das große Eigentum in dem ihm gebührenden Maße auf den ganzen Staat einwirken könne3). Den Mittelpunkt des Staatslebens bildet das Unterhaus, das Kontrollorgan des Volkes. Burke bestimmt sein Wesen dahin: es sei das getreue Abbild der Empfindungen der Nation4). Mit dieser Definition wird zugleich ausgedrückt, was das Unterhaus nicht ist, ') Vgl. unten S. 139t. *) Letter t o Sir H. Langrishe (Ober irische Fragen) 1792: „The great danger of our time, that of setting up number against property". ') Present Discontents, 1770. — A p p e a l , 1791. — C o n d u c t of the Minority, 1793. Die Jahreszahlen zeigen, wie sehr Burkes Ansichten sich gleich blieben. ') Present Discontents: ,,The virtue, spirit and essence of a House of Commons consists in its being the express image of the feelings of the nation".
126 und es sind ihm seine bestimmten Schranken gezogen: Vor allen Dingen ist das Unterhaus kein Werkzeug der Regierung gegenüber dem Volk. Ebensowenig ist es berechtigt, sich selbst als übergeordnete Kontrollbehörde gegenüber der Wählerschaft aufzuspielen und Volksvertreter, die mit klarer Mehrheit gewählt wurden, und den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, aus seinen Reihen auszuschließen, wie dies im Falle Wilkes versucht worden war. Wenn das Unterhaus sich anmaßt, von sich aus über die Ausübung des Wahlrechts zu entscheiden und sich so der Kontrolle des wahlberechtigten Volkes, der es unterworfen ist, zu entwinden sucht, dann hat es seine Befugnisse überschritten und sich als eine selbständige Macht im Staate aufgerichtet. Wie es die Natur aller Menschen bedingt, wird es im weiteren Verlauf eine Macht, der die Kontrolle fehlt, mißbrauchen 1 ). Darum sei das Verfahren des Unterhauses gegen Wilkes von so grundsätzlicher Bedeutung. Es müsse alle Freunde der Verfassung zur Gegenwehr aufrufen. Burkes Definition des Unterhauses enthielt noch einen weiteren, für ihn bezeichnenden Gedanken: Das Unterhaus hat ein Spiegel der Stimmungen der Nation zu sein. Damit ist nicht gesagt, daß es eine Volksvertretung sein soll, die den Verhältnissen der Bevölkerungszahl entspricht. Die Theoretiker, welche von den natürlichen Rechten eines jeden Menschen ausgehen, fordern dies. Von ihrem Standpunkt aus gesehen, genügt die englische Verfassung, so wie sie besteht, den Anforderungen ohne Zweifel nicht2). Dies gibt auch Burke unumwunden zu. Doch nun folgt sein Gegenargument: Der Ausgangspunkt dieser Theoretiker ist gar nicht der richtige. Die englische Verfassung beruht ja nicht auf dem Grundsatz der gleichen Rechte eines jeden, sondern auf dem der Verjährung. Ihre Autorität ist allein darauf gegründet, daß sie seit unvordenklichen Zeiten besteht. Mit ihr ist die Bevorzugung eines Teils der Individuen, welche insgesamt die Nation ausmachen, vor einem andern ebenfalls von alters her gegeben3). Die Verfassung und insbesondere die Form der Zu') Present Discontents. 2) Reform of Representation of the House of Commons, 1782: „ T h e House of Commons . . undoubtedly is no representative of the people, as a collection of individuals. Nobody pretends it, nobody can justify such an assertion". s ) Im Anschluß daran setzt Burke seine Anschauungen von „Verjährung" und „Vorurteil" als den Rechtsgrundlagen des staatlichen Lebens auseinander. (Vgl. oben S. 120.) Er gelangt dabei auch einmal zu einer tieferen Auffassung
127 sammensetzung des Unterhauses ist das Ergebnis der auswählenden und überlegenden Gedankenarbeit von Generationen; und noch viel mehr als dies, sie ist das Ergebnis einer Anpassung an die besondere Wesensart des englischen Volkes, die nur im Laufe eines langen Zeitraums hervortreten konnte1). Das Unterhaus besitzt seine jetzige Form und seine Rolle als einer der maßgebenden Faktoren der Verfassung seit wenigstens fünfhundert Jahren. Warum sollte man es jetzt umändern ? Burke drückt sein Erstaunen darüber aus, daß die englische Verfassung neuerdings bei Angehörigen des englischen Volks selber habe so sehr in Ungnade fallen können. »Diese Verfassung erregte früher die Bewunderung und den Neid der Welt; sie war das Muster für Politiker, das Thema der Redner, der Gegenstand des Nachdenkens der Philosophen überall in der Welt. Sie war der Stolz und der Trost der Engländer selbst. Durch sie lebten sie, für sie zu sterben waren sie willig. Ihre Fehler, wenn sie solche besaß, verhüllte teils die Parteilichkeit, teils ertrug sie die Klugheit. Jetzt sind alle ihre Vortrefflichkeiten vergessen, ihre Fehler werden an das Licht gezerrt und durch alle Künste der Darstellung übertrieben... Dieser Stimmung und den Maßregeln, welche aus ihr entspringen, will ich mich — ich hoffe, nicht ich allein — aufs entschlossenste entgegenstellen«2). Burkes Worte wenden sich gegen die politische Strömung, welche damals eine grundlegende Reform des Wahlsystems forderte und sich gegen 1770 zuerst bemerkbar gemacht hatte. Sie war ein Teil der allgemeinen Bewegung, welche das Land in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts umzuformen begann und sich vorerst in einzelnen, partiellen Reformbegehren entlud, die untereinander ohne bewußten Zusammenhang waren. Man entdeckte Mängel in dem herrschenden System, man empfand das Bestehende nicht mehr als so untadelig, des Begriffs der „Nation" : ,,A nation is not an idea only of local extent and individual momentary aggregation, but it is an idea of continuity which extends in time as well as in numbers and in space". E r hat sie aber nicht klar festhalten können. Sie kreuzte sich immer wieder mit der mechanisch-individualistischen, deren Beispiel die Définition des Begriffes „Volk" im „Appeal" ist, siehe oben S. 1 1 7 t . ! ) Reform of Representation: „ I t is a constitution made by what is ten thousand times better than choice, it is made by the peculiar circumstances, occasions, tempers, dispositions, and moral, civil and social habitudes of the people which disclose themselves only in a long space of time". *) Reform of Representation.
128 wie dies der klassische Whigismus und noch Blackstone getan hatten. Auf allen möglichen Gebieten traten Reformprediger auf, die den alten Brauch angriffen, z. B. im Gefängniswesen, im Strafrecht, in der Frage des Sklavenhandels. Gleichartige Strömungen zeigten sich auf dem literarischen Gebiet. Der Pope-Klassizismus geriet in Gefahr. Auch der Angriff auf das Wirtschaftssystem des Merkantilismus, der von Adam Smith unternommen wurde, gehört in diese allgemeine Bewegung mit hinein. Ebenso stand Burke selber bei seinem Kampf gegen die bisherige koloniale Macht- und Ausbeutepolitik mitten in ihr. Doch in der Frage der Verfassungsreform stemmte er sich dem Entwicklungsstrom, der nach einem halben Jahrhundert unwiderstehlich durchbrach, mit allen Kräften entgegen. Ein einheitliches System fehlte bei den Wahlen für das Unterhaus im 18. Jahrhundert vollkommen. Ob ein Bezirk das Wahlrecht besaß oder nicht, hing von der Stellung ab, die er im Mittelalter eingenommen hatte, ohne Rücksicht auf Veränderungen, welche in den letzten Jahrhunderten vor sich gegangen waren. Die neu aufblühenden Industriestädte des Nordwestens waren gänzlich unvertreten, dafür entsandte Cornwall, dessen kleine Hafenstädte im Mittelalter einen regen Handel betrieben hatten, volle 44 Abgeordnete in das Unterhaus. Es gab wahlberechtigte Orte, die wegen ihrer Winzigkeit geradezu zu Sehenswürdigkeiten wurden und in ihrer unmittelbaren Nähe Städte, die gar kein Wahlrecht besaßen. Auch unter den wahlberechtigten Bezirken selbst fehlte jede Gleichheit des Wahlsystems. An den verschiedenen Orten war das Wahlrecht an ganz verschiedene Vorbedingungen geknüpft, welche sich nur sehr ungefähr in gleichmäßigere Gruppen scheiden lassen. In einigen Wahlbezirken gab es einen freieren Wahlcensus, der allen Einwohnern, welche einen eigenen Herd und Hauseingang besaßen und die Kirchen- und Armensteuer bezahlten, das Wahlrecht verlieh. In den meisten Bezirken wurde dagegen ein bestimmtes Maß von Grundeigentum gefordert, in anderen war das Wahlrecht an den Besitz ganz bestimmter Grundstücke oder Posten in der Lokalverwaltung gebunden, endlich gab es solche, in denen eine enge, geschlossene Körperschaft das Ernennungsrecht besaß1). *) Vgl. George Stead Veitch, The Genesis of Parliamentary Reform, London 1913. — Edward Porritt, The unreformed House of Commons, Cambridge 1903. — Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte, 1913.
129 Dies ist eine Einteilung nach rechtlichen Gesichtspunkten. Näch den tatsächlichen Wahlbräuchen kann man anders scheiden. Nur ganz wenige Wahlkreise waren frei, d. h. die Entscheidung fiel von Fall zu Fall nach einem erbitterten Wahlkampf. Dies waren die Wahlbezirke in den wenigen großen Städten; in ihnen nahmen die Wahlen daher immer einen besonders lärmenden Charakter an. Es gab weiterhin Wahlbezirke, die sich selbst dem Meistbietenden verkauften. Die überwiegende Mehrzahl stand jedoch unter dem Einfluß von »Patronen«, nämlich großen Adeligen, deren Familie seit Generationen die betreffenden Bezirke gesellschaftlich und wirtschaftlich beherrschte — was natürlich auch durch mancherlei große Ausgaben erkauft werden mußte. Soweit diese Patrone nicht selbst iii das Unterhaus einzogen — waren sie doch zumeist Mitglieder des Hauses der Lords — vergaben sie die Abgeordnetenstellen nach ihrem Gutdünken. Wenn ein Wahlkreispatron auf äußeren Vorteil nicht zu sehen brauchte, verschaffte er den von ihm beherrschten Wahlbezirk — jeder Bezirk entsandte zwei Abgeordnete in das Unterhaus — einem seiner Verwandten oder Freunde oder Bekannten oder je* mandem, der ihm von diesen empfohlen worden war. Die Gefälligkeit machte sich dann später wohl einmal durch eine andere bezahlt. War der Patron weniger glänzend gestellt, dann bemühte er sich, seinen Einfluß wirtschaftlich zu verwerten und war nur für zahlungsfähige Kandidaten zu haben. Unter mehr oder minder verhüllten Formen wurde der Wahlkreis dann von seinem Patron direkt verkauft. Die Wahlkreise schieden sich also in die drei großen Gruppen der freien großen demokratischen Wahlkreise, der Patronagewahlkreise — es gab Magnaten, welche über sechs bis sieben Wahlkreise verfügten •— und der käuflichen Wahlkreise, käuflich entweder von dem Patron oder durch unverhüllte Bestechung der Wählerschaft selbst. Die Kosten eines solchen Wahlkreises hatten meist eine bestimmte und durchaus bekannte Durchschnittshöhe, und das Gewerbe eines Wahlkreismaklers (borough-jobber) vermochte seinen Mann zu nähren. Der Wettbewerb trieb natürlich auch hier die Preise hinauf. Namentlich waren die nach England zurückgekehrten Angestellten der Ostindischen Kompagnie für die Landsässigen sehr unangenehme Nebenbuhler, da sie mit ihren reichen Barmitteln alle anderen überbieten konnten und die Korruption gewaltig steigerten, sehr zum Verdruß der einheimischen Bewerber, die bei der Korruption eine bestimmte L e n n o x , Edmund Borlco.
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130 Schranke erhalten wissen wollten, nämlich die ihrer eigenen Zahllingsfähigkeit1). In den freien großen Wahlkreisen ging es auch nicht ohne Bestechung der Wählerschaft ab. Im Gegenteil, man mußte hier fibdie Wahlagitation noch höhere Summen zahlen und hatte nicht einmal die Gewißheit, den Wahlkreis auch zu gewinnen. In Westminster, einem der Londoner Wahlbezirke, kam es zu Monstrewahlen, die dem Sieger an die siebentausend Pfund kosteten. Dabei kam es noch vor, daß der unterlegene Kandidat eine Untersuchung der Rechtsgültigkeit der Wahl verlangte, um dem Gegner nachträglich noch einen rechten Verdruß zu machen, und für diesen Sport — denn als ein Sport wurde das Ganze von den jungen Adeligen vielfach betrachtet — seinerseits noch einmal die gleiche Summe verpuffte 2 ). In den sechziger Jahren kam sogar der Fall vor, daß Anzeigen käuflicher Wahlbezirke in den Zeitungen erschienen. Die betreffenden Makler hatten damit die Frechheit aber doch etwas zu weit getrieben und wurden festgesetzt8). Die Regierungsjähre Georgs III. waren überhaupt die Höhezeit der englischen Wahlkorruption. Seinen Grund hatte dies in dem schon erwähnten Auftreten der kapitalkräftigen Beamten der Ostindischen Kompagnie als Käufer von Parlamentssitzen und mehr noch in der Tätigkeit des Königs selbst, welcher der größte »borough-jobber« des Landes war und seine Mittel ebenso reichlich wie zielbewußt spielen ließ, um die Kandidaten durchzubringen, die ihm eine willfährige Mehrheit in dem neu zu wählenden Parlament verbürgten. Neben der immittelbaren Bezahlung in barem Geld trugen gutes Essen und Trinken am meisten bei, die Wähler zu gewinnen4). In *) Lord Chesterfield sah sich 1767 nach einem Wahlkreis fflr seinen Sohn um. Er berichtet ihm darüber folgendes: »I spoke to a borough-jobber and offered five-and-twenty hundred pounds for a secure seat in Parliament; but he laughed at my offer and said, that there was no such thing as a borough to be had now; for the rich East and West Indians had secured them all, at the rate of 3000 pounds at least, but many at 4000, and two or three that he knew, at 5000. This, I confess, has vexed me a good deal.« (Letters to his Son, July 9, 1767.) *) Horace Walpole, Letters to Horace Mann, January 31, 1750. — Vgl. 5. Juni 1754 Ober einen Wahlkampf zwischen Lord Thanet und Sir James Lowther, dessen Gesamtkosten über 55000 Pfund betrugen. ') Vgl. Franklin, Writings ed. Sparks VII, 384. 4) Es ist zu beachten, daß jeder Wahlberechtigte (freeholder) nur in seinem Heimatbezirk stimmen konnte. Viele waren nach London oder in eine
131 einer Serie von vier Bildern hat Hogarth 1 7 5 5 den Verlauf einer Parlamentswahl dargestellt.
Die Zusammenstellung des Ganzen ist
in diesen Bildern natürlich übertrieben und dramatisch gesteigert, die Einzelheiten sind aber sämtlich wahr, in analoger Weise wie in Callots Stichen der Greuel des dreissigjährigen Krieges. D a s Hauptstück einer Wahl ist nach Hogarth das große Wahlessen, bei dem alle Teilnehmer vor Hitze, Alkoholdunst und Übersättigung
ganz
dumpf und denkfaul werden, wenn ihnen nicht gar ein Schlaganfall droht. Daneben geht die Einzelbearbeitung der Wähler her.
Schlag-
worte regnen auf sie hernieder, unterstützt durch die Beweiskraft eines Trinkgeldes.
Endlich naht der Wahltag.
Der Kandidat steht
auf der hohen Holztribüne, auf der die Abstimmung vor sich geht, und gibt Wahlreden von sich, während die Wähler sich die Treppe hinaufdrängen, um zu stimmen. Zuletzt das »Hussa« für den Sieger, der auf den Schultern seiner Anhänger in den schmutzigen Gassen herumgetragen wird, und anschließend ein neuer Festschmaus 1 ). andere große Stadt verzogen. Zur Wahl wurden sie nach Möglichkeit wieder herbeigeholt. Der betreffende Kandidat mußte dann die Reisekosten ersetzen, den Aufenthalt recht angenehm gestalten und noch einen Extralohn zahlen. ') Lehrreich und psychologisch sehr bezeichnend sind die Eindrücke eines deutschen Beobachters bei einer Parlamentswahl in Westminster, 1782: Carl Philipp Moritz (der Verfasser des »Anton Reiser«), der in diesem Jahre eine Reise nach England machte, schildert den abschließenden Akt der Wahl folgendermaßen: »..Auf dem Platz vor dem Gerüst hatte sich eine Menge Volks und größtenteils der niedrigste Pöbel versammelt. Die Redner bockten sich tief vor diesem Haufen und redeten ihn allezeit mit dem Titel Gentlemen (edle Bürger!) an.« ..(Der gewählte Kandidat muß eine Rede halten.).. »Sobald er anfing zu reden, war die ganze Menge so still wie das tobende Meer, wenn der Sturm sich gelegt hat, und alles rief, wie im Parlamente, hear him! hear himl und sobald er aufgehört hatte zu reden, erschallte ein allgemeines Hurrah aus jedem Munde, und jeder schwenkte seinen Hut und der schmutzigste Kohlenträger seine Mütze um den Kopf. — Kleine Knaben hingen sich an Geländer und Laternenpfähle, und als ob sie überzeugt wären, daß auch sie schon mit angeredet würden, hörten sie aufmerksam dem Redner zu und bezeugten am Ende auf gleiche Weise ihren Beifall, indem sie, wie die Erwachsenen, ihre Hüte um den Kopf schwenkten. Hier wachten alle Bilder von Rom, Coriolanus, Julius Caesar und Antonius in meiner Seele auf. Und mag dies immer nur ein Gaukelspiel seyn, so kann doch selbst eine solche Chimäre das Herz und den Geist erheben. O lieber Freund, wenn man hier siehet, wie der geringste Karrenschieber an dem, was vorgeht, seine Theilnehmung bezeugt, wie die kleinsten Kinder schon in den Geist des Volks mit einstimmen, kurz, wie ein jeder sein Gefühl
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132 Wie sich die gewählten Kandidaten im Unterhaus verhielten, kümmerte einen kleinen Wahlkreis sehr wenig. Sie mußten schon zu den bedeutenden Rednern des Parlaments gehören, wenn genauere Kunde von ihrer politischen Haltung hinaus auf das Land oder in die betreffende Provinzstadt dringen sollte. Das Ansehen der Parlamentsmitglieder in ihren Wahlkreisen war von der Erfüllung ganz anderer Pflichten abhängig. Sie mußten sich für die wirtschaftlichen Vorteile des Bezirkes einsetzen, bei den Parlamentsberatungen wie durch ihre Beziehungen in London überhaupt. Sie sollten ferner eine helfende und schützende Hand über die Einwohner des Wahlkreises halten, die nach der Hauptstadt kamen. Sie mußten Bevorzugung und größere Gewinne in den Handelsgeschäften vermitteln. Den Bürgermeistern und ihren Familienangehörigen sowie sonstigen Honoratioretikreisen mußten sie Ämter, kleine Pensionen und dergleichen Annehmlichkeiten zuschanzen. Wie weit diese Pflichten erfüllt wurden, hing natürlich von dem Wesen und der Betriebsamkeit des einzelnen Parlamentsmitgliedes ab, auch von dem Maß der Sicherheit, das es gegenüber seiner Wählerschaft besaß und dem Grad seiner Kenntnis der lokalen Verhältnisse. Nicht selten waren die Abgeordneten nur gegen irgendein Entgelt zu Dienstleistungen zu bewegen; wenn sie nicht selbst darauf sahen, dann doch in der Regel ihre Portiers1). Man darf nicht vergessen, daß dieses gewiß zweifelhafte System auch gute Seiten hatte. Die kleinen Patronagewahlkreise konnten großen parlamentarischen Begabungen zum Sprungbrett dienen. Auf dem Weg der Familienbeziehungen kamen sie auf raschem Weg und mit unverbrauchten Kräften in das Unterhaus. Sie waren nicht gezwungen, sich erst lange Jahre die Ämterleiter einer organisierten Partei hinaufzudienen, bis ihnen endlich der Rang der Parlamentsreife zuerkannt wurde. Das englische Parlament des 18. Jahrhunderts war nicht, wie die Parlamente der Gegenwart, die Schlußstufe der Laufbahn von Parteibeamten. Der größte Parlamentarier des 18. Jahrzu erkennen gibt, daß er auch ein Mensch und ein Engländer sey, so gut wie sein König und sein Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu M a t h e , als wenn w i r bei uns in Berlin die S o l d a t e n e x e r c i r e n sehen.« (Carl Philipp Moritz, Beisen eines Deutschen in England im Jahre 1782, in Briefen an Herrn Oberkonsistorialrat Gedike, 2. Aufl. Berlin 1785, S. 58 ff.) x ) Vgl. die Romane, z. B. Smollett, Roderick Random.
133 hunderts, der ältere Pitt, zog als Vertreter yoü Old Sarum, des am übelst berüchtigten der kleinen Wahlorte, in das Unterhaus ein1). Auch sein Sohn kam zuerst durch einen kleinen Patronagewahlkreis in das Parlament, ebenso sein Gegner Fox, ebenso auch Burke. War der parlamentarische Ruhm dann errungen, konnten sie alle es wagen, für einen größeren Wahlkreis zu kandidieren, der mehr Ehre brachte. Zwei Mittel waren denkbar, um die Wahlkorruption zu beseitigen oder wenigstens zu mindern: eine Reform der Wahlkreiseinteilung oder eine Verkürzung der Parlamentsperioden, die seit dem Anfang des Jahrhunderts auf sieben Jahre festgesetzt waren.' Beides lehnte Burke ab. Bei der Frage der Wahlkreisreform geschah es aus prinzipiellen Gründen. Er wollte nichts antasten, was »verjährt« und durch jahrhundertelange Gewohnheit bewährt und legitimiert erschien. Er vergaß darüber, daß durch das plötzliche Anwachsen4) der Bevölkerung, welches seit den letzten Jahrzehnten eingesetzt hatte, das Problem sich bedeutend verschärft hatte und weiterhin verschärfte. Immerhin fand hier Burke die Idee der «Verjährung« allein nicht ausreichend, das Alte zu decken. Aber es war einer seiner Grundgedanken, daß die Abgeordneten nicht Vertreter ihres kleinen Wahlbezirkes seien, sondern als Glieder der gesamten Volksvertretung die moralisch verantwortlichen Vertrauensleute des g a n z e n Volkes. Dem Begriff der unmittelbaren, »aktuellen« Vertretimg stellte er den der »virtuellen« Vertretung gegenüber.8) Er meinte, die Unzufriedenheit nicht wahlberechtigter Orte sei unbegründet, solange sie von der Gesamtpolitik und Gesetzgebung des Landes nicht schlechter behandelt würden als die Orte, welche Abgeordnete in das Parlament entsandten. Die Grundlage der virtuellen Vertretung sei nicht direkte Wahl, sondern die Gemeinsamkeit der Wünsche und die gleiche Richtung des politischen Willens, wodurch ein innerer Zusammenhang geschaffen werde. Burke hegte die Hoffnung, daß gerade die Vertreter der kleinen Wahlorte das Wohl des ganzen Landes sicherer ins Auge fassen könnten als die der großen Städte, in denen sich lokale *) 1776 stand in dem Wahlbezirk Old Sarum gerade noch ein Hans, 1792 gar keines mehr. Gewählt wurde aber doch. *} Zahlenangaben bei Arnold Toynbee, The Industrial Revolution of the 18 th Century in England, new edition London 1908, S. 8 ff. ') Letter to Sir Hercules Langrishe 1792. — Reform of Representation in the House of Commons 1782.
134 Sonderbestrebungen mit viel größerem Gewicht geltend machen konnten. Er mußte freilich zugeben, daß eine »virtuelle« Vertretung nur als Ergänzung und Erweiterung einer aktuellen bestehen kann. Der Industriebevölkerung konnte eine »virtuelle« Vertretung durch Angehörige einer ganz anderen sozialen Schicht nichts helfen. Eine Besserung der bestehenden Schäden erhoffte Burke von einer schärferen Kontrolle der Unterhausmitglieder durch die Wählerschaft. Der Abgeordnete solle seiner Wählerschaft in Versammlungen über seine politische Tätigkeit berichten. Auch solle man nach wichtigen Abstimmungen im Unterhaus die Namenlisten veröffentlichen, damit klar werde, auf welcher Seite jeder einzelne stehe1). Die bessere Organisation der öffentlichen Meinung und die stärkere Politisierung der englischen Wählerschaft, die Burke erstrebte, war nicht im eigentlichen Sinne demokratisch gedacht. Unter dem Begriff »englisches Volk« im politischen Sinne schwebte ihm durchaus nicht die Gesamtheit der Bewohner Englands vor, auch nicht die Gesamtheit der Wahlberechtigten. Mit seinem Gedanken der virtuellen Repräsentation der nicht wahlberechtigten Gebiete hätte sich dies zweite ja durchaus nicht vertragen. Das englische Volk waren für ihn die Angehörigen der »respektablen Klassen«, die Honoratioren im weiteren Sinn2). Diese Schichten wünschte er stärker in das politische Leben *) Present Discontents. *) Siehe Remarks on the Policy of the Allies, 1793: Burke redet von den französischen Royalisten und Emigranten: »Almost the whole body of the landed proprietors of France, ecclesiastical and civil, have been steadily devoted to the monarchy. This body does not amount to less than seventy thousand — a very great number in the composition of the respectable classes in any society. I am sure, that, if half that number of the same description were taken out of this country, it would leave hardly anything that I should call the people of England.* Einige Jahre später kam er zu wesentlich höheren Zahlen, aber die Klasse, welche er als das englische Volk im eigentlichen Sinne betrachtete, ist dieselbe geblieben: (First letter on a Regicide Peace, 1796): »I have often endeavoured (NB!) to compute and to class those who, in any political view are to be called the people.. . In England and Scotland those of adult age, not declining in life, of tolerable leisure for such discussions and of some means of information, more or less, and who are above menial dependence (or what virtually is such), may amount to about four hundred thousand. There is such a thing as a natural representative of the people. This body is that representative; and on this body more than on the legal constituent, the artificial representative
135 hereinzuziehen und zu einer wirksamen Aufsicht über ihre Vertreter im Unterhaus zu befähigen. Eine solche engere Verbindung zwischen Parlamentarier und Wählerschaft, d. h. der gehobenen Wählerschaft, sollte aber nach Burkes Meinung nicht etwa auf eine Bindung des Abgeordneten an irgendwelche Wahlkapitulationen oder die Sonderwünsche des Wahlkreises hinauslaufen. Gegen befehlende Anweisungen von seiten der Wählerschaft wandte sich Burke ganz entschieden. Da das Unterhaus keine Versammlung der Delegierten einzelner Orte, sondern eine Vertretung des Gesamtvolks darstelle, müsse jeder Abgeordnete bei den Beschlüssen des Parlaments frei und selbständig Stellung nehmen können, nach bestem Wissen und Gewissen, im Hinblick auf das Wohl des ganzen Landes und nicht seines Wahlbezirks allein. Gewissenhaft und entschlossen erfüllte Burke diese seine Forderutig1) selbst. Bei den Wahlen von 1774 wurde er als Kandidat für Bristol aufgestellt, welches damals die wichtigste Hafenstadt der englischen Westküste war und noch nicht von Liverpool überflügelt wurde. Sechs Jahre vertrat Burke Bristol im Parlament, wohl die Höhezeit seines parlamentarischen Wirkens überhaupt. Er war bemüht, den anstrengenden Pflichten, welche auf dem Abgeordneten einer solchen Stadt lasteten, nach jeder Richtung hin zu genügen. Ungezählte Gänge machte er in London für die Geschäftsinteressen der Kaufleute von Bristol; er schickte Nachrichten und Informationen über die politischen Vorgänge dorthin und ließ seinen Wählern Rechenschaftsberichte über seine eigene Haltung zugehen. Aber in der Gesamtrichtung seiner Politik ließ er sich nicht beirren, auch wenn er damit einmal mit den Bristoler Sonderinteressen in Zwiespalt kam. Er kämpfte für einen Ausgleich mit den amerikanischen Kolonien. Das wußten ihm die Kaufleute von Bristol, deren Handel nach Amerika ging, zu danken. Aber in dem gleichen Geist setzte er sich auch für eine Milderung der wirtschaftlichen Zwangsgesetze gegen Irland ein und dies behagte Bristol, welches den Vorteil aus der Einschnürung Irlands zog, durchaus nicht. Bei den neuen Wahlen im Jahre 1780 hatte Burke deshalb nicht die geringste Aussicht auf eine Wiederwahl depends. This is the British public; and it is a public very numerous. The rest, when feeble, are the objects of protection, when strong, the means of force.« ') Rede nach der Wahl in Bristol 1774 (Works, große Ausgabe 1808, I I I , S. U l i . ) .
136 uqd verzichtete darauf, sich nochmals zu bewerben, als er dies merkte. Hinfort mußte er wieder als Vertreter eines kleinen nordenglischen Patronagewahlkreises im Unterhaus sitzen, wie vor dem Jahre 1774 auch. Die Erfahrung war für ihn schmerzlich und niederdrückend. Aber seine Haltung als Vertreter der großen Kommune wurde in ihrer mutigen Klarheit und Unbeirrtheit vorbildlich für die Folgezeit. Sie ist einer der schönsten Züge aus seinem Leben1). Burkes Bemühen, die gehobenen Schichten der Wählerschaft zu organisieren und ihre politische Anteilnahme zu steigern, war eine Folge seiner Auffassung des Parteiwesens überhaupt. Er eiferte gegen die Heuchelei der Hofkreise, welche die eigene Grundsatzlosigkeit und Selbstsucht mit den schönen Worten Bolingbrokes zu decken versuchten, man müsse die Parteigruppen zerstören, deren Umtriebe dem Lande so viel Schaden brächten. Burke schätzte das englische Parteiwesen ganz positiv ein. Er wollte es nicht etwa als ein unumgängliches Übel betrachtet wissen, mit dem man sich abfinden müsse, sondern rühmte es als eine der notwendigsten Vorbedingungen politischen Lebens in einem freien Staat8). Er fand scharfe, spottende Worte über die »historische Vaferlandsliebe«, d. h. diejenige Art von Whigismus, welche behaglich kannegießernd sich am Freiheitssinn der Vorfahren erbaute und darüber die Vorgänge der Gegenwart nicht bemerkte oder ihnen untätig zusah8). Aus dieser Schläfrigkeit wollte er seine Volksgenossen aufrütteln. Burke war nicht so voreingenommen, daß er die Gefahren des Parteilebens überhaupt geleugnet hätte. Er gab zu, daß eine Partei von der Gefahr bedroht sei, in einen engen fanatischen oder einen eigennützig-geschäftsmäßigen ') Vgl. G. O. Trevelyan, George III. and Charles Fox, 1912, S. 252ff. *) Observations on the Present State of the Nation, 1769. - Present Discontents, 1770. ') Present Discontents: »1 have constantly observed that the generality of the people are fifty years, at least behindhand in their politics. — To be a Whig on the busings of an hundred years ago is very consistent with every advantage of present servility, This retrospective wisdom and historical patriotism, are things of wonderful convenience.... Many a stern republican, after gorging himself with a full feast of admiration of the Grecian commonwealths and of our true Saxon constitution, and discharging all the splendid bile of his virtuous indignation on King John and King James, sits down perfectly satisfied to the coarsest work and the homeliest job of the day he lives in.«
137 Geist zu verfallen. Er leugnete nicht, daß jede Partei »einen Schwanz nach sich zieht, der durch den Schmutz schleift«. Aber diese Schattenseiten gäben kein Recht, die ganze Institution zu verwerfen zugunsten einer Lebensführung als unpolitischer Privatmann. »Wenn schlechte Menschen sich verbinden, müssen sich auch die Guten zusammengesellen,« meint er mit einer für ihn bezeichnenden Wendung ins Moralische. Nur in einer Parteiorganisation kommen alle Einzelnen zu Gewicht und auch die Unbedeutenden werden wertvoll und nützlich, weil sie dem Ganzen größere Schwere geben. Partei ist nach Burkes Definition »eine Gruppe von Männern, welche verbunden sind durch ihre gemeinsamen Bemühungen, das nationale Interesse zu fördern auf Grund eines bestimmten Prinzips, dem sie alle zustimmen«1). Darin liegt die stillschweigende Ablehnung der Partei als politische Geschäfts- und Beutegemeinschaft. Es muß gefordert werden, daß die Überzeugungen des einzelnen Mitglieds mit dem Grundprinzip der Partei im Einklang stehen. Ist dies der Fall, dann wird nach Burke der Einwand gegenstandslos, daß in einer Partei der einzelne sich allzu häufig gegen seine eigene klare Einsicht einem andersgerichteten Beschluß der Gesamtheit knechtisch fügen müsse. Denn wenn die Parteigenossen in der großen Grundrichtung einig sind — meint Burke —, dann stimmen sie in neun von zehn Fällen auch über das gemeinsame Vorgehen im einzelnen überein. Aufgabe der Parteien ist, ihre Ziele mit »Ehrenhaftigkeit« und »Mäßigung« zu verfolgen, doch dürfen sie dabei nicht die Willenskraft und das geistige Feuer erlöschen lassen, ohne die auch die trefflichsten Wünsche für die Allgemeinheit nicht über das Stadium bloßer Spekulation hinauskommen. Die Worte klingen der Nachwelt bekannt ins Ohr, beinahe abgedroschen. Wieder und wieder sind sie ausgesprochen worden, auch Burke fand sie nicht als erster. Doch wer will von einer Predigt verlangen, daß all ihre Wendungen und Gedanken neu sind. Genug, wenn der Sinn der Hörer in die gewünschte Richtung gelenkt wird. Burke hatte ohnehin bei seiner Agitation für eine neu gekräftigte, von Schlacken der Selbstsucht befreite Whiggesinnimg einen schweren Stand. Auf der einen Seite sah er die Masse der Bevölkerung vor sich, ') Present Discontents: »Party is a body of men united for promoting by their joint endeavours the national interest upon some particular principle in which they are all agreed.«
138 die er für seine Partei und für regelmäßige politische Betätigung überhaupt gewinnen wollte und die durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gewitzigt worden war, den Lockrufen der Berufspolitiker zu mißtrauen. Auf der anderen Seite die lose Schar der Parteigefolgschaft selber, die erst zur Geschlossenheit erzogen werden mußte. Den raschen Idealisten und den theoretischen Träumern sollte aus dem Reich der luftigen Wünsche und wechselnden Pläne der Weg zur Tat und zur Wirklichkeit gewiesen werden. Burke wollte ihnen zeigen, daß eine Partei ihre sachlichen Ziele erst durchsetzen kann, wenn sie eine Machtstellung im Staat errungen hat und daß hierzu regelmäßige und nachhaltige Arbeit gehört. Den allzu real gesinnten Parteigenossen und den vornehmen Durchschnittspolitikern dagegen mußte erst der rechte Gemeingeist eingeimpft werden, wenn die Partei nicht immer und immer wieder vor den Widerständen zerstäuben sollte. Darum forderte Burke von den Mitgliedern, daß sie ihr politisches Fortkommen nur im Zusammenhang und im Einklang mit der ganzen Partei suchen sollten. Seine Mahnrufe halfen wenig. Es ist bezeichnend, daß in seiner Schilderung des Wesens einer politischen Partei der Gedanke des Führertums fehlt. Lord Bolingbroke hatte das Heilmittel gegen die Gewissenlosigkeit und Indifferenz im politisch-parlamentarischen Leben Englands in einer Beschränkung des Parteiwesens gesucht. Burke erhoffte gerade von dessen Festigung eine Behebung der Schäden. Darum war er voll Mißtrauen gegen alle Politiker, die ihren Weg für sich allein gingen und sich die Bundesgenossen je nach der Lage suchten. Er war nahe daran, solchen Männern überhaupt den inneren Kontakt mit den Wünschen und Bedürfnissen des englischen Volkes abzusprechen. Vor allem wandte er sich gegen die höfischen Politiker, welche hinter den Vorhängen mitregierten, doch auch gegen den größten unter den »nichtorganisierten« Staatsmännern der sechziger Jahre, nämlich den alten Pitt, war er voll Abneigung und Mißbehagen. Pitts Art, »wie ein Raubvogel in den Lüften über allen Parteien zu schweben, um herniederzustoßen, sobald sich eine gute Beute zeigt«1), reizte ihn ungemein. Burke wollte es noch gelten lassen, wenn Privatleute parteilos und neutral blieben, aber von allen Männern, die ein öffentliches 1)
Burke, Corr. I, S. 206 (1769).
139 Amt innehatten, forderte er die klare Stellungnahme, am allermeisten von der Aristokratie1). Ein Aristokrat sei ja schon durch seine soziale Stellung eine öffentliche Persönlichkeit. Die ideale Partei im Sinne Burkes war eine solche vornehmer und mächtiger, im Lande eingesessener Adeüger. Sie sollten durch gemeinsame sachliche Anschauungen verbunden sein, einen entschiedenen Machtsinn besitzen, um diese zu verwirklichen, doch ihre Ziele sollten ihnen höher stehen als die Regierungsmacht, falls diese nur durch Preisgabe von Grundsätzen erreicht oder festgehalten werden konnte. Sein Ideal fand Burke in Marlborough und seinen Genossen, der Parteigruppe der sogenannten »alten Whigs« vom Anfang des Jahrhunderts, verwirklicht. Auch Robert Walpole, den Führer der darauffolgenden Whiggeneration wollte er anerkannt wissen, und verteidigte ihn gegen die üblichen Angriffe. »Er war ein ehrenhafter Mann und ein echter Whig,« sagt er. Den Vorwurf, daß Walpole die Korruption zum System erhoben habe, erklärt er für Heuchelei und Erfindung der mißvergnügten Opposition. »Er war weit entfernt, durch Korruption zu regieren. Er regierte durch Parteikombinationen2).« Überhaupt betrachtete Burke die Periode des Whigregiments vor 1760 als eine Zeit, wie man sie sich nicht herrlicher wünschen könne. In den Intrigen und der Käuflichkeit der politischen Welt erblickte er eine Gefahr erst, seitdem auch der König dabei tätig war. Auch über seine eigene Partei gebrauchte Burke stolze Worte: »Wenn ich von dem Pfad der Geradheit auf den einer Interessengruppe abgewichen sein sollte, dann geschah dies in der Gesellschaft der Savile, Dowdeswell, Wentworth, Bentinck; mit den Lenox, Manchester, Keppel, Saunders; mit der maßvollen dauernden erblichen Tugend des ganzen Hauses Cavendish — Namen, von deren Trägern einige Euren Ruhm und Euer Reich mit den Waffen vergrößert und alle auf einem nicht weniger ruhmreichen Schlachtfeld für Eure Freiheiten gestritten haben«, schrieb er 1777 an seine Wählerschaft in Bristol*). Er nannte seine vornehmen Parteigenossen geradezu »unvergleichliche Männer«, während doch kaum einer davon poli*) Preient State of the Nation, 1769. ') Appeal from the New to the Old Whigs. — First Letter on a Regicide Peace. ') Letter to the Sheriffs of Bristol, 1777 (über die amerikanische Frage).
140 tische Führergaben besaß und keiner sie ausübte. Freilich gab es Augenblicke, wo sogar bei Burke über die Lauheit und aristokratische Leichtlebigkeit innerhalb seiner Partei der Ärger ausbrach, aber er ließ doch nie ab, den Adel und den Segen und die Notwendigkeit seines Einflusses im Staat grundsätzlich zu preisen. 1772 schrieb er an den Herzog von Richmond: »Ihr Angehörigen der großen Familien und Inhaber der erblichen Stellungen und Vermögen seid anders als Leute wie ich: was wir auch sein mögen durch die Schnelligkeit unseres Wachstums und selbst durch die Frucht, welche wir tragen, — die wir uns schmeicheln, im Hinkriechen auf der Erdoberfläche zu bauchigen Melonen zu werden, ausgezeichnet durch Größe und Geschmack, — wir bleiben doch immer nur einjährige Pflanzen und vergehen mit unserem Sommer und lassen keine Spur zurück. Ihr, wenn Ihr seid, was Ihr sollt, seid in meinen Augen die großen Eichen, die ein Land überschatten; Ihr pflanzt Eure Leistungen ständig von Geschlecht zu Geschlecht fort. Die augenblickliche Macht eines Herzogs von Richmond oder eines Marquis von Rockingham ist nicht so wesentlich. Aber wenn ihre Haltung und ihr Beispiel ihre Grundsätze den Nachfolgern überliefern, werden ihre Häuser die öffentlichen Archive . . . der Verfassung. . . Nicht auf brüchigem Pergament sondern in voller Frische und mit lebendiger Kraft wirksam in den leitenden Männern und natürlichen Interessen des Landes. . . Ich betrachte Eure Lebenszeit nicht als verloren, wenn in diesem Zeitalter des Abgleitens von dem echten Geiste des Landes bestimmte Parteien, sofern dies möglich ist, — im andern Fall die Häupter bebestimmter Familien es zu ihrer Aufgabe machen, durch ihren ganzen Lebenslauf . . . ihren Nachkommen die Grundsätze, welche der Nachwelt rein und unvermischt übermittelt werden sollen, in das Blut zu gießen (to mould int o the very vital stamina of their descendants)«1). Von solchen Gesichtspunkten aus verfocht Burke die alte Stellung der Whigaristokratie gegen die Pläne des Königtums, sie zu erschüttern. Wenn man, wie Burke, alle Änderungen des Wahlrechts als Störung der Verfassungsgrundlagen betrachtete und sich ihnen deshalb widersetzte, war es immerhin doch denkbar, den zweiten Vorschlag anzu') Burke, CoiTespondence I, S. 381 ff. (1772). — Die Satze geben ein bezeichnendes Beispiel fOr Burkes Stil. Durch Häufung der Bilder und leicht veränderte Wiederholungen kann er ungefüge und schwerfällig werden.
141 nehmen, der damals erwogen wurde, um der Bestechlichkeit bei den Wahlen zu begegnen: eine Herabsetzimg der Parlamentsdauer von sieben auf drei Jahre oder auf eine noch kürzere Frist . Es war denkbar, daß dann der Wettbewerb um Unterhaussitze, der die Wahlkosten so sehr in die Höhe trieb, weniger heftig würde, da der Sieger sich seiner Beute nur viel kürzere Zeit erfreuen konnte. Doch Burke lehnte auch diesen Plan ab, diesmal mit den Argumenten eines unbedingten Realisten. Über die Wahlkorruption selbst gab er sich keinen Täuschungen hin. »Der Kandidat«, erklärte er in offener Parlamentssitzung, »darf sich bei der Wahl nicht auf das Zeugnis verlassen, welches ihm seine Haltung im Parlament verleiht, sondern er muß das Zeugnis einer großen Summe Geldes beibringen, die Fähigkeit, große Ausgaben für Gastereien zu machen, die Macht, den Leitern von Körperschaften nützlich zu sein und sie sich zu verpflichten und auch die volkstümlichen Führer von politischen Vereinen und Gruppen für sich zu gewinnen. Es ist zehntausendmal notwendiger, sich als einen mächtigen Mann zu zeigen denn als einen untadeligen, bei fast allen Wahlen, von denen ich etwas weiß1).« Burke stellte diesen Zustand ganz ruhig fest, ohne, wie sonst so oft, Worte der sittlichen Entrüstung beizufügen. Er glaubte auch nicht, daß sich die Wahlgepflogenheiten wesentlich ändern könnten. Ganz sachlich stellte er die käuflichen Wahlkreise in seine parteitaktische Rechnung ein und ärgerte sich, wenn seine Parteigenossen die notwendige Wahlagitation nur lau betrieben. Er ließ ihnen Ermahnungen zugehen, doch auch in den Beutel zu langen und an Parlamentssitzen zu kaufen, was zu haben sei1). Verfassungsbedenken kamen Burke bei dem Vorschlag kürzerer Wahlperioden nicht, denn dreijährige Parlamente hatten ja schon im vergangenen Jahrhundert bestanden. Aber er bestritt, daß die Wirkung die gewünschte sein werde und Wahlkosten und Bestechlichkeit sich verringern würden. Er fand, daß die Geschichte des Landes einer solchen Hoffnung nicht als Stütze diene. Eine Vermehrung der Wahlen fand er schon deswegen bedenklich, weil mit ihnen doch immer eine gefährliche Erschütterung des Staates verbunden sei. Sein eigentlicher Ablehnungsgrund war aber der: der Vorteil bei häutigen Wahlen (d. h. sich in kurzen Abständen wiederl)
Speech on a Bill for Shortening the Duration of Paiiiamento. *) Burke, Correspondence I und II (mehrfach).
142 holenden hohen Wahlausgaben der Politiker) werde nur dem König zufallen. Denn dessen Geldmittel seien denen der landsässigen Familien ja unvergleichlich überlegen. Ein paar kurz hintereinander gehaltene Wahlen müßten seine Gegner entweder politisch außer Wettbewerb setzen oder bankrott machen. »Ich kann mir nicht denken,« meinte Burke, »daß die Verfassung, selbst nicht Ruinen davon, fünf dreijährige Wahlperioden überdauern könnte1).« Hier wie überall ging Burke von der Grundidee aus, daß die bestehenden Formen des englischen Staatslebens vortrefflich seien. Die Schäden, welche sich zeigten, rührten nur davon her, daß das Menschenmaterial sich verschlechtert habe. Zur Abhilfe dürfe man also nicht an den Formen herumexperimentieren, sondern müsse nur die schlechten Menschen entfernen und gute an ihre Stelle setzen. Die »Guten« setzte er in naiver Weise den Mitgliedern und Freunden der Rockinghampartei gleich. Gewisse Fehler, unter ihnen auch die Wahlkorruption, seien schon von Beginn der großen Whigherrschaft an vorhanden gewesen. Doch niemand könne bestreiten, sagte er, daß in keinem Zeitraum der englischen Geschichte Wohlstand, Würde und Freiheit der Nation so sehr gediehen sei, wie in diesem letzten — bei dem alten Wahlrecht und den langen Parlamentsperioden2). Burke war für Reformen nur da zu haben, wo sie die Verhältnisse des klassischen Whigismus zu stützen oder wiederherzustellen schienen. Alle weitergehenden Verbesserungspläne fielen für ihn in das Gebiet leerer Spekulationen und »visionärer« Politik, das ihm so verhaßt war3). 6. Wenn man alle Versuche, das Parlament zu reformieren, ablehnte, blieb nur noch e i n Mittel übrig, die bestehende politische Käuflichkeit zu mindern. Die von Burke empfohlene schärfere Beaufsichtigung der Parlamentarier durch die Kreise der Wählerschaft konnte ja für sich allein keine allzu große Wirkimg haben. In den Miniaturwahlkreisen Cornwalls oder des fernen Schottlands war dergleichen überhaupt nicht möglich. Wenn also am Unterhaus nichts geändert Duration of Parliaments. *) Corr. II, S. 384. — Duration of Parliaments. a ) Correspondence II, S. 383 (1780), gegen Gedanken der Wahlreform, welche andere Mitglieder der Rockinghamgruppe vertraten.
143 werden durfte, war der einzige Weg zur Besserung der, wenigstens die Quellen der Korruption zu verstopfen, die vom König und seinem Hof ausging. Für Burke war diese überhaupt das alleinige Ärgernis; in Wirklichkeit war es nur der auffälligste Teil des ganzen ausgedehnten Systems der Käuflichkeit, an dem die Whigaristokraten ihr vollgerütteltes Maß der Mitschuld hatten. Doch Mißbräuche des Königtums sah Burke mit den Augen des Moralisten und Verfassungseiferers an, solche der Whigs dagegen mit dem verzeihenden Blick des Realpolitikers. Schon in den sechziger Jahren war der Plan aufgetaucht, die Inhaber von Verwaltungsstellen oder höfischen Posten (place men) gesetzlich von der Wählbarkeit in das Unterhaus auszuschließen, um auf diese Weise den geheimen Einfluß der Krone im Parlament zu verringern. Diesen Vorschlag lehnte Burke ab. Er machte den sehr berechtigten Einwand, es sei ein bedenkliches Beginnen, auf diese Weise zwischen dem Parlament einerseits, der Beamtenschaft wie den Offizieren in Heer und Flotte anderseits eine scharfe Trennungslinie zu ziehen und dadurch künstlich einen Gegensatz zu schaffen. Er selbst entwarf einen anderen Plan, den er im Jahre 1780 mit ausführlicher Begründung im Unterhaus einbrachte, zu einer Zeit, als auch draußen in der Provinz sich Regungen unter der Gentry bemerkbar machten. Resolutionen und Eingaben verlangten von Regierung und Parlament eine Reform der verderbten Zustände. Burkes Gesetzesanträge »zur besseren Sicherung der Unabhängigkeit des Parlaments und zur ökonomischen Reform der Zivil- und sonstigen Verwaltung« waren ein wohlberechneter Vorstoß gegen den Herd der höfischen Korruption. Die Rede, in welcher Burke seinen Reformplan dem Parlament auseinandersetzte, ist ein Musterstück staatsmännischer Ruhe. Sie ist keine Agitationsrede und keine bloß negative Kritik eines Wortführers der Minderheit. Sie hascht nicht nach billigen Augenblickswirkungen — von ein paar skurrilen Mätzchen und Stilfiguren abgesehen, die innerhalb des Ganzen jedoch verschwinden. Burke hält sich darin an die Sache und leistet Arbeit. Wie seinerzeit in den »Present Discontents« wies er es auch hier zurück, sich an Personenfragen zu hängen, wo es sich um Überpersönliches handle. Mit kleinen Verbesserungen an einzelnen, besonders anstößigen Punkten sei es auch nicht getan, meinte er, man müsse nach Grundsätzen verfahren, wenn etwas erreicht werden solle.
144 Die Absicht seiner Gesetzesanträge war zugleich die, unnötige Staatsausgaben zu vermindern. Stand man doch mitten im Kriege mit Frankreich und den abgefallenen nordamerikanischen Kolonien. Doch wichtiger als der finanzielle Gesichtspunkt war ihm der andere: der Krone die Machtmittel zu entziehen, mit welchen sie bisher ihren Einfluß im Parlament ausüben konnte. Durch eine größere Über* sichtlichkeit in der Verwaltung der Civilliste wollte Burke dies erreichen. Die Unzahl höfischer Sinekuren sollte beseitigt oder wenigstens eingeschränkt werden. Ebenso sollten die überflüssigen, reich entlohnten Verwaltungsposten künftig wegfallen, welche die Krone als Preise für politisches Wohlverhalten auf Kosten der Steuerzahler zu vergeben pflegte. Von der Zeit des Mittelalters her hatten die kleinen Gebiete von Wales, Lancaster, Chester und Cornwall in ihrer Verwaltungsorganisation noch eine selbständige und gesonderte Stellung vom Hauptland bewahrt. Den überflüssigen Stab der vielen Beamten und Richter für diese Ländchen wollte Burke verringern und eine Verwaltungseinheit mit dem übrigen Staatsgebiet schaffen. Außerdem sollte der weithin zerstreute Grundbesitz der Krone verkauft werden, um die lästige zersplitterte Verwaltung einzusparen. Mit besonderer Energie ging Burke gegen das Durcheinander der alten Hofämter an. Er leuchtete in diese dunklen und verstaubten Ecken hinein und wollte alle diejenigen Posten samt den zugehörigen Rudeln von Unterbeamten abschaffen, deren Obliegenheiten ohne Mühe von anderen Hofämtern mit versehen werden konnten. Es waren in Menge Stellen vorhanden, deren offizielle Aufgaben ein und dieselben waren, sämtlich sehr angenehme, glänzend bezahlte Sinekuren. Auch die Ämter sollten gestrichen werden, die nur in der Feudalzeit einen Sinn gehabt hatten, jetzt aber zwecklos oder gar unwürdig erschienen, wie z. B. die Posten der Aufseher der verschiedenen Sorten königlicher Jagdhunde. Ein weiterer sehr wichtiger Antrag Burkes war, die Gesamtsumme der Ehrenpensionen, welche der König auszahlen konnte, auf höchstens 60000 Pfund jährlich festzusetzen. Bisher war im Pensionswesen alles unklar geblieben und die Willkür der Krone hatte freien Raum. Schon die Summe der dem Parlament offiziell bekannten Pensionen hatte bisher 100000 Pfund jährlich betragen und dies war nur ein Teil des wirklichen Gesamtbetrages aller Pensionen.
145 Ferner sollten einige Staatsämter in Wegfall kommen, in welchen nichts geleistet wurde, und andere von größerer Wichtigkeit sollten neu geregelt werden. Vor allem hatte Burke dabei das Amt des »Pay-master of the Army« im Auge, der die Verwaltung der. zur Löhnung und zum Unterhalt der Armee bestimmten Gelder unter sich hatte. Dies Amt pflegte ungeheure Gewinne abzuwerfen und hatte schon manch einem Politiker ein Riesenvermögen verschafft. Der Pay-master hatte nämlich große Summen von Staatsgeldern in der Hand, mit denen er, zumal in Friedenszeiten, jahrelang spekulieren konnte und deren Zinsen ihm gehörten. Burke wollte die Sonderkasse dieses Amtes, ebenso auch alle anderen kleinen Staatskassen abschaffen und ihre Aufgaben der Bank von England übertragen. Der Staatshaushalt sollte dadurch vereinfacht werden und die unvorhergesehenen und unkontrollierbaren Ausgaben aufhören. Alle diese Reformvorschläge Burkes verbindet ein gemeinsamer Geist. Niemals dachte Burke so sachlich und nüchtern, so rational und modern — beinahe kaufmännisch — wie bei der Begründung dieser Anträge. Nicht ohne tieferen Grund ist es, daß er gerade in der Rede über die »Economical Reform« den Blick auch auf die absolutistischen Staaten des europäischen Festlandes richtete. Er pries die Erfolge der gleichzeitigen Finanzoperationen Neckers in Frankreich und wies auf den wohlberechneten Staatshaushalt Friedrichs des Großen hin1). Zum ersten und einzigen Male in seinem Leben fügt sich Burke hier ohne inneres Widerstreben dem großen Entwicklungsstrom ein, der die europäischen Mächte seit 1500 aus mittelalterlichen Feudalstaaten allmählich zu rational geordneten Amtsund Verwaltungsstaaten machte, in denen die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, Einheitlichkeit, Übersichtlichkeit und Billigkeit regierten, — eine Entwicklung, die sich am schärfsten und bewußtesten in den großen absolutistischen Monarchien vollzog. Jede der Maßregeln, welche Burke in seinem Reformplan vorschlug, beseitigte ') Speech on the Economical Reform, 1780: "The King of Prussia is a great and eminent (though indeed very rare) instance of the possibility of uniting in a mind of vigour and compass, an attention to minute objects with the largest views and the most complicated plans. . . Let me say, that no prince can be ashamed to imitate the king of Prussia; and particularly to learn in his school, when the problem is the best manner of reconciling the state of a court with the support of war." Lennox, Edmund Borke.
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146 irgendeinen Rest des mittelalterlichen zersplitterten Verwaltungskörpers oder einen Finanzbrauch, der nicht dem Staat, sondern dem jeweiligen Verwalter des Amts zugute kam. Niemals setzte sich Burke der alten Zeit mit so schroffen Worten entgegen wie bei dieser Gelegenheit. Er redet von alten Amtern als »unnützen Antiquitäten«, er meint, man werde sich nicht deshalb mit üblen Zuständen abfinden, weil die Vorfahren noch üblere erduldet hätten. »Wenn der Sinn alter Institutionen vergangen ist, ist es absurd, nur ihre Last weiter zu erhalten. Das heißt abergläubisch einen Kadaver einbalsamieren, der nicht eine Unze des Harzes wert ist, das man dazu nötig hat«1). Der Reformeifer, welchen Burke gegenüber den Überbleibseln des Feudalstaates an den Tag legte, war aber doch von dem Vorgehen eines typischen Aufklärers, der über die Sinnlosigkeit der alten Bräuche nur spotten kann, merklich verschieden. Auch Burke lachte über feudale Ämter wie das eines erblichen Kochs oder Truchsessen, aber er verstand, daß sie in der feudalen Zeit einmal einen tieferen Grund gehabt hatten: »Diese alten Gebräuche«, sagt er, »hatten durch die Bedürfnisse von ehedem einigen Sinn. Man wollte Schutz; die Bindung durch Zugehörigkeit zum Haushalt war da, wenn auch nicht die würdigste, so doch die engste.« Uberhaupt verleugnete sich Burkes Wesen auch in der Reformrede von 1780 in keiner Weise. Die ungewohnten Züge, die man in ihr trifft, ordnen sich doch dem Gewohnten unter. Die sachliche Bedeutung seiner Reformen hat man teilweise stark übertrieben und den Anfang einer moralischen Reinigung des öffentlichen Lebens in ihnen sehen wollen2). Die Maßregeln, welche Burkes Rede von 1780 vorschlug, sind nur zum Teil verwirklicht worden. Zunächst verstand es die Regierung North, den ganzen Reformplan zu Fall zu bringen, zur großen Befriedigung Georgs III. Zwei Jahre später, 1782, wurde das Projekt aufs neue vorgenommen, nachdem Rockinghams Partei an das Ruder gekommen war, doch wurden Burkes ursprüngliche Anträge dabei sehr abgeschwächt. Der Reformeifer der l
) Economical Reform: " . . . w h e n the reason of old establishments is gone, it is absurd to preserve nothing but the bnrden of them. Thisissoperstitiously to embalm a carcass not worth an ounce of the gums that are nsed to preserve it. . . .it is to offer meat and drink to the dead, — not so much an honour to the deceased, as a disgrace to the survivors". ') Z. B. Hettner, Engl. Literaturgeschichte, 7. Aufl., S. 351.:
147 Partei war wesentlich größer gewesen, solange sie noch in der Opposition stand. Burke selber trifft dabei kein Vorwurf. Seine Parteigenossen hatten ihm das Amt des Pay-master zugewiesen, damit er durch dessen Einkünfte endlich einmal seinem Vermögen aufhelfen könnte. Doch er regelte das Amt nach den Grundsätzen, die er 1780 vorgetragen hatte, nahm ihm seine Sonderkasse und bestimmte ihm ein festes Gehalt. Doch von der verwässerten Ausführung überhaupt abgesehen, der ganze Reformplan Burkes von 1780 umfaßte nur einen Bruchteil der bestehenden Schäden, obwohl er in sich großzügig und gründlich durchdacht war. Burke gab selbst zu, daß die von ihm beantragten Maßregeln die Aufgabe nicht erschöpften. Vor einzelnen Fragen machte er ganz bewußt Halt, obgleich sie mitten auf seinem Wege lagen. Seine spezifisch whigistische Gesinnung springt dabei wieder auf das deutlichste heraus. Nicht etwa darin, daß er seiner Reformtätigkeit durch die bestehenden Gesetze, die Regeln der Politik, die Interessen des Staates bestimmte Grenzen gesetzt sah, oder daß er von seinem Plan rühmte, er sei praktisch gedacht und halte sich nicht in dem Gebiet offizieller Äußerlichkeiten und leerer Entwürfe. Dies ist bei einem Politiker, der so gemäßigt und bedächtig zu verfahren pflegte wie Burke, nur natürlich und hat mit Parteiüberzeugungen nichts zu tun. Das Bezeichnende ist vielmehr, daß sein Reformeifer sofort erlosch, wo er als Inhaber von Sinekuren, Pensionen und dergleichen nicht Günstlinge und Geschöpfe des Königs, sondern Leute aus der Welt der Whigs fand. Burke war sich dieser Parteivoreingenommenheit nicht bewußt und hätte sie nicht einmal zugegeben, wenn ein Zeitgenosse ihn darauf hingewiesen hätte. Mit dem echten Whigismus begann für ihn eben sogleich die Sphäre der wahren Verdienste um den Staat, bei deren Belohnung man nicht knausern dürfe. Gegen die willkürlichen Pensionen von des Königs Gnaden wandte er sich und versuchte es, ihnen eine bestimmte Grenze zu ziehen. Doch es gab neben diesen noch eine ganze weitere Gruppe Pfründen, nämlich große Sinekuren im Schatzamt1), deren Gebühren und Sportein den Inhabern jährlich Tausende von Pfund einbrachten und welche teilweise sogar erblich waren. In diesen Stellen hatten ') Economical Reform: "The great patent Offices in the exchequer". Burke wollte ihre Einkünfte nur in ein entsprechend hohes festes Gehalt umsetzen.
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148 die Whigminister der vergangenen Jahrzehnte ihre Familienglieder unterzubringen gewußt. Burke leugnete oder vertuschte dies keineswegs. »Wenn wir die Liste des Exchequer durchsehen,« sagte er, »finden wir sie voll von den Nachkommen der Walpole, Pelham, Townshend, — Namen, denen das Land seine Freiheiten und Seine Majestät die Krone verdankt.« Er fährt fort: »Ich ehre den ursprünglichen Rechtstitel wohlverdienten Reichtums und Ranges auch in allem Nachwuchs und allen Übertragungen. Mögen solche Quellen nie vertrocknen! Mögen sie immer in ihrer ursprünglichen Reinheit fließen und das Gemeinwesen durch Generationen erfrischen und befruchten«1). Die Nachkommen eines verdienten Staatsmannes oder Feldherrn, so führt er aus, können mit Recht den Anspruch erheben, daß das Land sie wirtschaftlich sicher stelle. Aber Burke trieb diese Ansicht bis zu einem grotesken Ubermaß. Die ganze Nachkommenschaft ehemaliger Whigminister oder vollends die beliebigen Personen, welchen solche Sinekuren von den ursprünglichen Inhabern abgetreten oder verkauft worden waren, besaßen einen solchen Anspruch auf staatliche Versorgung der allerangenehmsten Art doch wohl nicht. Nicht einmal die Whigs selbst behaupteten es, wenn sie von weniger ausgesprochener Parteiüberzeugung erfüllt waren als Burke. Dessen Grundempfinden: »Alles, was mit dem alten Whigismus zusammenhängt, ist gut und soll weiter florieren«, überschritt bisweilen die Grenze der Naivität. l)
Burke hoffte selbst in aller Unschuld auf eine dieser »Quellen«. Horace Walpole, Journal II, S. 552ff., berichtet aus dem Jahre 1782 von einem etwas naiven Versuch Burkes in dieser Richtung. Burkes Partei schied nach dem Tode Rockinghams wieder aus der Regierung aus. Die Parteigenossen wollten Burke noch schnell eine dieser einträglichen Sinekuren zuwenden, es war aber keine frei. Darum versuchte Burke, durch die Vermittlung von Horace Walpole dessen (wesentlich älteren) Bruder zum Verzicht auf seine Stelle zu bewegen. Gr versprach dafür, die Einkünfte der Stelle bis zu des Bruders Tode diesem zu überweisen. Horace Walpole lehnte es aber mit einiger Ironie ab, seinem Bruder dieses sonderbare Ansinnen eines Fremden zu übermitteln.
Fünftes Kapitel.
Edmund Burke und das Britische Reidi. "Magnanimity in politics is not seldom the tmest wisdom; and a great empire and little minds go ill together." (Borke, Conciliation with America, I 7 7 J . ) In einer ungleich freieren und größeren Weise konnte sich Burkes whigistische Grundüberzeugung in denjenigen staatlichen Aufgaben auswirken, für deren Lösung noch nicht durch die Parteivergangenheit der feste Rahmen geschaffen war. Der siegreiche Abschluß des großen gegen Frankreich geführten Kolonialkriegs durch den Pariser Frieden von 1763, dazu die plötzliche, unvorhergesehene Ausdehnung des ostindischen Herrschafts- und Einflußgebiets durch die Erfolge Robert Clives hatten den englischen Staat vor ganz neue Fragen gestellt. Seine Entwicklung war in diesen Jahren an einen Wendepunkt von universalgeschichtlicher Bedeutung gelangt. Schon seit einem Jahrhundert hatte England die Wesenszüge eines kolonisierenden Handels- und Seestaates getragen, jetzt erwuchs es zu einem Reich, welches alle großen Meere überspannte. Seit der spanischen Monarchie des sechzehnten Jahrhunderts war eine solche maritime Weltmacht nicht mehr aufgetreten. Freilich war zunächst in diesem jungen britischen Reich noch alles keimhaft und unfertig. Der reiche Landergewinn in Asien und Amerika, die Uebermacht zur See verliehen England jetzt Entwicklungsmöglichkeiten vor allen anderen europäischen Mächten, eine Vorzugslage, welche indessen erst erkannt und durch weitausschauende staatsmännische Maßregeln verwertet werden
150 mußte. Den Leitern des englischen Staates erwuchs die Pflicht, das Gewonnene mit dem alten Besitz zusammenzuklammern und vor den alten Feinden und Nebenbuhlern für immer zu sichern. Diese Aufgabe barg eine Fülle verwickelter Probleme in sich. Durch welche Maßregeln ließ sich aus dem Vielerlei von Besitzungen, Niederlassungen und Rechtstiteln in der kolonialen Welt jenseits der Meere ein wirkliches Imperium schaffen, das durch Weisungen vom Mittelpunkt aus zu lenken war und in Zeiten neuer Gefahren seine Kraft einheitlich zusammenzufassen vermochte? Auf welche Weise konnten die Privilegien und verbrieften Rechtsansprüche aus der alten Zeit mit den Erfordernissen der neuen Lage in Einklang gebracht werden? Wie fügten sich die Probleme, welche Politik und Verwaltung des entstandenen Reiches stellten, zu den von den Vätern überkommenen und durch die Tradition geheiligten freiheitlichen Verfassungsformen? Wie ließen sich endlich die Bedürfnisse und Forderungen des Gesamtreichs mit dem Eigenstreben und der Sonderlage der einzelnen Reichsteile ausgleichen? Kurz, wo war in dieser Weltmacht die Grenze zwischen den autoritären und den demokratischen Elementen zu ziehen, wenn die Einheit und Schlagkraft des ganzen, Uber die Welt hin verstreuten Komplexes englischer Siedlungen und Wirtschaftsunternehmungen nicht gefährdet und andererseits das Selbstgefühl und die eingewurzelten Rechtsüberzeugungen der englischen Volksgenossen, auf deren zähem Willen und Geschick das Wachstum des Ganzen überall im letzten Grunde beruhte, nirgends verletzt werden sollte ? Das spanische Reich hatte sich seinerzeit des Kreuzzugs- und Eroberergeistes eines kriegerischen, dem Königtum ergebenen Adels bedienen können, um seine Macht jenseits des Ozeans zu sichern und sie auszudehnen. Für die englische Kolonialmacht kam ein solches Mittel nicht in Frage. Ebensowenig entsprach die militärisch-amtlich bis ins einzelne geleitete und überwachte Kolonisationsweise der franzosischen Nachbarn dem Geist der Selbständigkeit und Selbsthilfe, der das englische Volk vor anderen in der Welt vorwärts gebracht hatte. Die geschichtliche Vergangenheit lieferte den englischen Staatsmännern kein Vorbild, das ihnen die Losung ihrer Aufgabe erleichtern konnte. Ganz aus eigenen Kräften mußten sie der Schwierigkeiten Herr zu werden suchen. i
151 Darum ist es kein Wunder, daß die erste Generation, die mit dem Problem zu ringen hatte, die es zum Teil Uberhaupt noch kaum empfand, schwere Mißgriffe tat. Erst durch Rückschläge und unersetzliche Einbußen wurden ihr die Augen geschärft. Es wäre daher oberflächlich, einen Vorgang, wie den Verlust der nordamerikanischen Kolonien mit der billigen Redewendung abzutun, der große Augenblick habe damals in England ein kleines Geschlecht gefunden. Denn neben fahrlässiger Gleichgültigkeit, blindem Hochmut, unbedachtem Trotz auf die vermeintlich außer Zweifel stehende Durchschlagskraft der eigenen Machtmittel fehlte es ja in dem England dieser kritischen Jahre keineswegs an Handlungen von unbestechlicher Sachlichkeit, wortloser zäher Willenskraft, hohem Verantwortungsgefühl vor der Zukunft und Beweisen einer männlich-vornehmen Selbständigkeit gegenüber dem Schwall politischer Modeansichten und Leidenschaften der Menge. Und mehr noch: den gefährdeten Außenposten fern in Indien hielt in dunklen Zeiten eine Herrscherbegabung für England fest — Warren Hastings. Edmund Burke fiel inmitten dieses Geschehens die Rolle des lauten Mahners und Warners zu. Als einem der ersten Männer seiner Zeit war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß sich die Probleme des in die Weite gewachsenen englischen Reichs mit den üblichen Hausmittelchen dilettantischer Minister nicht beseitigen ließen. Mit Einsatz seiner ganzen ethischen Kraft und seines politischen Temperaments und Willens drängte er daher auf eine Lösung in großem und umfassendem Sinne hin. Persönlich lud er sich dadurch eine Fülle undankbarer, zermürbender Arbeit auf. Jahre hindurch ließ der stumpfe Widerstand einer gedankenlosen Parlamentsmehrheit seine Bemühungen und Warnrufe in dem amerikanischen Streitfall als völlig zwecklos erscheinen. Doch solange er die Hoffnung auf einen rettenden Ausweg noch nicht völlig aufgeben mußte, ließ er nicht nach in seinem Streben, noch in letzter Stunde die Einsicht der Gegenpartei wachzurufen und seine Auffassung der verhängnisvollen Angelegenheit immer sorgfältiger und tiefgreifender zu begründen. Die versöhnliche Haltung, welche er gegen die amerikanischen Rebellen auch nach Ausbruch des Krieges einnahm, erregte das Mißfallen weiter Volksschichten, die eine solche Versöhnlichkeit nur als Schwäche und Lauheit der
152 nationalen Empfindungen, wenn nicht gar als Landesverrat zu deuten wußten. Sein Eintreten für Wünsche der religiösen Sekten empörte die orthodox-staatskirchlichen Kreise und sein Entgegenkommen gegen die Forderungen des bedrückten Irland tat ihm bei seiner eigenen Wählerschaft den größten Schaden. Burke blieb gegen solche Nebenwirkungen seiner politischen Stellungnahme keineswegs empfindungslos, aber sie vermochten ihn doch keinen Schritt von einem Wege abzubringen, der nach seiner Ueberzeugung der richtige und der für das englische Volk notwendige war. Trotz der mannigfachen enttäuschenden und aufreibenden Erfahrungen, welche er infolgedessen im Laufe seiner politischen Arbeit zu machen hatte, ließ diese Nachdrücklichkeit des Bekennens bei Burke auch in den späteren Lebensjahren nicht nach. Als Warren Hastings aus Indien heimgekehrt war, erzwang Burke den Staatsprozeß gegen ihn und nahm die Riesenlast auf sich, die Anklage-Kommission zu leiten. Denn seit Jahren erschien ihm dieser selbstherrliche indische Generalgouverneur als eine politische und moralische Schmach der Nation und als der schlimmste Gegner seines eigenen Ideals englischer Herrschaft. Leidenschaftlich war er entschlossen, dem Heimgekehrten vor Zeitgenossen und Nachkommen ein Schandmal aufzudrücken, ähnlich wie vor vielen Jahrhunderten die Macht der Redegabe Ciceros den Verres für immer gebrandmarkt hatte. Zugleich sollte auf diese Weise gegen alle künftigen Gelüste kolonialer Raub- und Beutepolitik innerhalb des englischen Reiches eine weithin sichtbare Warnungstafel aufgerichtet werden. Alle Kraft und Mühe, welche ihm selber dies Unternehmen kosten mußte, erschien ihm im Vergleich zu der Höhe des Ziels unerheblich. Vor aller Welt wollte Burke erweisen, daß England ein Rechtsstaat sei, in welchem auch der mächtigste Verbrecher seiner verdienten Strafe nicht zu entrinnen vermöge. 1. Edmund Burkes Schriften zur a m e r i k a n i s c h e n F r a g e sind die Meisterleistung seines Lebens. Sie halten sich frei von dem kleinlichen Gezänk, das seine leidenschaftlichen Manifeste gegen die französische Revolution an so vielen Orten entstellt, frei auch von der Advokatenrhetorik, die seinen Reden gegen Warren Hastings einen unangenehmen Beigeschmack gibt. Ihr Geist
153 schwingt sich weit hinaus über die parteipolitische Befangenheit, welche die Bedeutung seiner Reden und Schriften über die Verfassungsfragen herabmindert. Wärme des seelischen Anteils, Fülle der politischen Anschauung, Bestimmtheit, Reife und Verantwortungsgefühl in der Stellungnahme wirken hier zusammen, eine Leistung zu erzeugen, welche innerhalb der politischen Literatur Europas einen Platz in der ersten Reihe fordern kann. Die Vorgänge, durch welche diese Schriften hervorgerufen worden sind, sind längst Vergangenheit. Auch aller Nachklang des Streites ist verstummt. Aber die meisterliche Sicherheit, mit der Burke hier dem Leser ein politisches Problem der folgenreichsten Art vor Augen rückt, und die hohe Auffassung, mit welcher er seine Volksgenossen in einer Lage voller Ziellosigkeit und Gefahren aus der gedankenlosen Flachheit rasch hingeworfener Urteile und der Unklarheit eines gereizten nationalen Selbstgefühls emporführen will zum Bewußtsein einer schweren Entscheidung, bleibt lebendig und Leben weckend. Manch einer der englischen und amerikanischen Staatsmänner des folgenden Jahrhunderts hat daraus gelernt. Ein in die Einzelheiten gehender Bericht Uber Entstehung und Verlauf des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges würde weit über den Rahmen und die Ziele der vorliegenden Untersuchung hinausgreifen.1) Burke ist es ja auch versagt geblieben, auf die tatsächliche Entwicklung der englisch-amerikanischen Streitfrage selbst irgendwie nachhaltig und bestimmend einzuwirken. Es kann sich hier also nur darum handeln, die Motive und Gesichtspunkte zu schildern, welche Burkes Stellungnahme in den kritischen Jahren bedingten. Doch ist es zum Verständnis notwendig, zuvor die Etappen der englischen Politik in das Gedächtnis zurückzurufen, welche im Laufe eines Jahrzehnts den Bruch zwischen dem Mutterland und seinen nordamerikanischen Kolonien herbeiführte. Die englische Reichspolitik in dem Zeitraum zwischen dem Abschluß des Kriegs gegen Frankreich (1763) und dem Ausbruch ') Eine knappe und klare Darstellung gibt Paul Darmstädter, Die Vereinigten Staaten von Amerika, Leipzig 1909, Kap. 3, 5 und 6. Die „Atmosphäre" auf englischer wie auf amerikanischer Seite, die Zustände, Charaktere und Situationen in dem Kriege schildert am lebendigsten G. O. Trevelyan, The American Revolution, 4 Bde., London 1899—1907.
154 des amerikanischen Freiheitskriegs stellt sich der Nachwelt als eine Kette halber Maßregeln, interimistischer Versuche, unüberlegter Vorstoße, rasch darauf folgender Rückzüge und ständiger Reibungen dar. Die Unsicherheit, welche nach der Thronbesteigung Georgs IIL in den parlamentarisch-politischen Kampf im Innern gekommen war, wirkte auf die Behandlung der auswärtigen und der kolonialen Fragen verhängnisvoll ein. Zunächst war das politische Interesse dieser Jahre Uberhaupt durch die inneren Fragen gebunden. Die finanziellen Bedürfnisse des Staates führten dann Regierung und Parlament dazu, den untergeordneten Gewalten draußen Uber See den Blick zuzuwenden. Oie amerikanischen Kolonien und die Ostindische Kompanie sollten zur Tilgung der in dem letzten großen Krieg angewachsenen Staatsschulden und zur Deckung der ständigen Ausgaben des Reichs mit herangezogen werden. Hieraus entsprangen jahrelange Auseinandersetzungen zwischen der Zentralgewalt und diesen beiden abhängigen Macht- und Wirtschaftskomplexen, wobei der Leitung des englischen Staats ein einheitlicher Kurs völlig fehlte. Von den kurzlebigen und durch offene und geheime Gegner so mannigfach behinderten Regierungen der sechziger Jahre ging jede ihre eigenen Wege und kehrte sich wenig an die Maßnahmen ihrer Vorgänger. Der rasche Wechsel der Staatsmänner, welche über die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Organisation des Reichs zu entscheiden hatten, die hochgradige Verschiedenheit dieser Menschen nach Charakter, Temperament und Grundsätzen stellten die Bevölkerung der Kolonien vor immer neue Lagen und weckte ihr Mißtrauen, aber zugleich auch ihr politisches Geschick. Sehr rasch traten bei den Amerikanern ein paar Führer von ganz ungewöhnlicher diplomatisch-taktischer Begabung hervor. Der anfangs nur ganz lockere Zusammenhang zwischen den einzelnen Kolonien wurde im Laufe der Jahre durch den gemeinsamen, sich stets erneuernden Kampf gegen die Ansprüche des englischen Parlaments enger, die politische Organisation ständig besser. Die Führer konnten ihre Bahn immer sicherer und rühriger verfolgen Das Mutterland hingegen vermochte in seiner Politik gegenüber den Amerikanern immer weniger eine durch Grundsätze bestimmte Haltung zu finden und versteifte sich darum immer mehr auf bloße Aeußerlichkeiten der jeweiligen, vorübergehenden Situation. Zu
155 je schärferen Mitteln die Londoner Regierung schließlich griff, um der Schwierigkeiten Herr zu werden, desto hartnäckiger wurde in Neuengland und Virginien der Trotz. Gleichzeitig schwand das bisherige Gefühl einer unzerreißbaren nationalen Zusammengehörigkeit von Mutterland und Kolonien bei diesen in immer stärkerem Maß dahin. Seinen Ausgang nahm der Streit bekanntlich von der Frage, ob das Londoner Parlament der amerikanischen Kolonialbevölkerung Steuern auferlegen dürfe. Der leitende Minister der Jahre 1763/65, George Grenville, einer der whigistischen Parteiführer dieser Zeit, machte einen ersten mißglückten Versuch, das britische Reich wirtschaftlich und politisch straffer zusammenzuschließen. Er ließ zu diesem Zweck die alten merkantilistischen Bestimmungen, welche Produktion und Handel der Kolonien an das englische Mutterland banden und zu dessen Vorteil beschränkten, aber teilweise nur locker gehandhabt wurden, wieder scharfer ausführen und ergänzte sie durch weitere gleichartige Verordnungen. Er hielt sich damit ganz auf dem Boden der wiitschaftspoliüschen Tradition. Die Kolonien seufzten, konnten jedoch solche Maßnahmen nicht wegen Ungesetzlichkeit anfechten. Grenville blieb jedoch dabei nicht stehen. Er unternahm es, den Kolonien durch Beschluß des britischen Parlaments eine Steuer aufzuerlegen, die als Beitrag zur Deckung der Kosten des letzten Krieges dienen sollte. Bisher war es Herkommen gewesen, daß die Londoner Regierung die einzelnen Provinzialvertretungen im Namen der Krone um Geldbewilligungen zu bestimmten, namhaft gemachten Zwecken anging. Grenville war entschlossen, mit diesem Verfahren zu brechen und die Souveränität des Königs und des Parlaments Uber die Kolonien unzweideutig sicherzustellen. Edmund Burke war in dieser Zeit noch nicht ins Parlament gelangt, doch pflegte er als Zuschauer auf der Galerie den Verhandlungen zu folgen und politische Studien zu machen. Er war daher Zeuge, als Grenville im Unterhaus eine Reihe von Bestimmungen durchbrachte, welche den amerikanischen Kolonisten bei Rechtsgeschäften aller Art den Gebrauch amtlich gestempelten Papiers vorschrieben. Ohne sonderliche innere Anteilnahme der Parlamentsmitglieder ging dies Steuergesetz — die „Stempelakte" — durch. Auf eine Stempelsteuer als solche war es Grenville nicht an-
156 gekommen, er hatte vielmehr zuvor bei den amerikanischen Provinzialversammlungen angefragt, ob diese vielleicht eine andere Abgabe, deren Ertrag dem der Stempelsteuer entspreche, vorziehen würden. Aber unbedingt beharrte er auf dem Grundsatz, daß diese Steuer jedenfalls vom Parlament festzusetzen sei und nicht etwa der Genehmigung der einzelnen Provinzialversammlungen bedürfe. Ueber die von deren Seite einlaufenden Proteste ging er stillschweigend hinweg, da er überzeugt war, daß das formale Recht für ihn sprach, und entschlossen, die Autorität des Parlaments auch in den Steuerfragen durchzusetzen. Es war sein fester Glaube, dies sei das einzige und zugleich das gegebene Mittel, die Einheit des britischen Reiches zu schaffen.1) Der juristischen Starrheit seiner Geistesart lag es fem, bei seinen politischen Maßnahmen auch die widerstrebenden Kräfte mit in Rechnung zu ziehen. Wo er ein Recht des Staates erblickte, leitete er in einfacher Schlußfolgerung für den Staatsmann die Pflicht ab, dies Recht mit Entschlossenheit zu praktischer Geltung zu bringen. Als Grenvilles Stempelsteuergesetz bekannt wurde, gerieten die nordamerikanischen Kolonien in Bewegung. Man erkannte dort die grundsätzliche Bedeutung der angekündigten Maßregel sehr wohl und war entschlossen, sich dieser Neuerung nicht zu unterwerfen. Es kam darum in den Jahren 1764/65 zu lebhaften Protestkundgebungen. Gleich damals wurde (wie in den späteren Jahren des Konflikts) der Kampf von den Amerikanern auf dreierlei Weise zugleich geführt: Es tauchte eine politisch-rechtsphilosophische Literatur auf, welche dem amerikanischen Volk, das im Entstehen begriffen war, seine Rechtsüberzeugungen und freiheitlichen Ideale formulierte und ihm die Waffen für die geistige Auseinandersetzung mit dem Mutterland lieferte. Die politischen Führer in den einzelnen Provinzen dämpften mit taktischem Geschick diese Gedanken zu feierlichen Protesten der Kolonialversammlungen ab, die sich streng innerhalb der Grenze des rechtlich Zulässigen hielten. Aber die Würde und Gehaltenheit im Ton dieser Schriftstücke ließ ') " T o set so great a machine in motion, as that of uniting all the outlying parts of the British dominions in one system." Siehe Grenvilles Darlegung seines Standpunkts Grenville Papers IV, S. 3 i 6 f f . (1768) und Parliam. History X V I , S. 8 7 o f . (1770).
157 die Bestimmtheit des Willens und der Gesinnung, welche ihre Urheber beseelte, nur um so deutlicher hervortreten. Sie ließen keinen Zweifel darüber, mit welchem Nachdruck sich die Kolonien den Ansprüchen von Regierung und Parlament entgegenzusetzen gedachten. Als drittes Element wirkte endlich mit der Kraft seiner Fäuste der Pöbel mit. Mißhandlungen und Prügeleien, Radauszenen, Plündereien und Zerstörungen waren die Mittel, mit denen er gegen mißliebige Mitbürger und laue Patrioten vorging. Der Terror der „sons of liberty" sicherte die Einheitlichkeit des Widerstandes gegen die Forderungen und Maßregeln der Londoner Regierung. Der in rauhen Formen geübte gesellschaftliche Verruf zwang alle Andersgesinnten zum Schweigen und trieb in der Folge, als aus dem Konflikt schließlich der offene Krieg geworden war, viele aus ihrer Heimat in ein trauriges Emigrantenleben fern im englischen Stammland. Die Kolonisten beriefen sich in ihren Protesten gegen Grenvilles Stempelsteuer auf das Grundrecht eines freien Volkes, jenes unzweifelhafte Recht, das ihnen so gut wie allen anderen Engländern zustehe: Keine Steuer dürfe ihnen auferlegt werden ohne die Einwilligung ihrer gesetzlichen Vertreter. Im Unterhaus sei die nordamerikanische Kolonistenbevölkerung nicht vertreten und könne es infolge der geographischen Umstände auch gar nicht sein. Als ihre legalen Vertreter seien daher allein die verschiedenen Provinzialversammlungen zu betrachten; also könnten sie nur durch diese verfassungsmäßig besteuert werden.1) Das wirksamste Mittel der Kolonisten, ihren Beschwerden in London Beachtung zu verschaffen, waren nicht solche Rechtsausführungen, sondern der Boykott britischer Waren. Im Herbst 1765 lief bei dem Parlament eine Reihe von Petitionen ein, in denen die geschädigten Kaufleute der großen englisch-schottischen Handelsstädte — London, Bristol, Liverpool, Halifax, Hull usw. — auf den Rückgang des Handels mit Amerika hinwiesen und die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen Grenvilles in düsteren Farben malten.*) *) "Declarations of the Rights and Grievances of the Colonists", erlassen vom StempelsteuerkongTeB in New York, Oktober 1765, Artikel 3 ft. (Text bei Hart, American History told by Contemporaries, 1898, II, S. 402f.). *) Text einer solchen Petition Pari. Hist. XVI, S. 133 f.
158 Dieser hatte im Sommer 1765 zurücktreten müssen und Lord Rockingham Platz gemacht, dessen Ministerium nun vor der Frage stand, ob es die Stempelakte gegen den amerikanischen Widerstand durchsetzen oder sie fallen lassen sollte. Es vermochte nicht gleich zu einem Entschluß zu kommen, sondern zögerte den Beginn der Parlamentssession hinaus, um zuvor noch den Rat von Sachverständigen und Juristen einzuholen. Es wünschte die Angelegenheit sowohl vom Standpunkt des Rechts wie dem der politischen Zweckmäßigkeit zu bedenken. Der Ausweg, welchen es schließlich wählte, war ein Kompromiß: das Recht des englischen Parlaments, auch für die Bevölkerung der Kolonien Steuern festzusetzen, sollte den Protesten der amerikanischen Provinzialversammlungen gegenüber ausdrücklich festgehalten werden. Gleichzeitig wollte man aber darauf verzichten, dies Recht praktisch auszuüben. Dementsprechend legte das Ministerium Rockingham dem Parlament zu Beginn des Jahres 1766 zwei Anträge vor: eine theoretische Erklärung, daß der König und das Parlament von Großbritannien Gewalt hätten, die amerikanischen Kolonien durch Gesetze und Beschlüsse ohne Einschränkimg zu binden.1) Die Umtriebe der amerikanischen Bevölkerung wurden darin als ungehörig verurteilt. Dies war die sogenannte „Declaratory Bill". Der zweite Antrag der Regierung ging auf Widerruf der Stempelakte. Nach lebhaften Debatten vermochte das Ministerium beides zum Gesetz zu machen, trotz seiner unsicheren und allezeit hilfsbedürftigen Stellung im Parlament und der wenig verhüllten Gegnerschaft des Hofes. Für die Declaratory Bill mit ihren Rechtsansprüchen konnte es die autoritären Empfindungen der Parlamentsmehrheit nutzbar machen, für die Aufhebung der Stempelsteuer hatte es im Unterhaus einen entscheidenden Helfer in Pitt, der das Recht, die Kolonien zu besteuern, dem Parlament rundweg absprach (und darum die Declaratory Bill bekämpft hatte). Durch seine stürmische Beredsamkeit wurde die Opposition George Grenvilles, l
) Wortlaut: "That the King's Majesty, by and with the consent of the Lords spiritual and temporal, and Commons of Great Britain in parliament assembled, had, hath, and of right ought to have full power and authority to make laws and statutes of sufficient force and validity to bind the colonies and people of America, subjects of the crown of Great Britain, In all eases whatsoever"....
159 der selbstverständlich sein Werk zu verteidigen suchte, niedergeschlagen.1) Burke, der in diesem Moment zum erstenmal im Unterhaus auftrat, konnte bei dem Kampf gegen die Stempelakte naturgemäß noch keine eigentlich führende Stellung einnehmen. Aber er wie die anderen nahen Genossen Lord Rockinghams hielten fortan in der amerikanischen Frage an dem Kompromiß von 1766 wie an einer Art von Glaubensbekenntnis fest. Sie wurden nicht müde, die Weisheit und Zweckmäßigkeit der Declaratory Bill und des gleichzeitigen Widerrufs der Stempelsteuer zu rtlhmen. England wie den Kolonien sei dadurch Genüge geschehen. Nicht ganz mit Unrecht bemerkten dagegen die Verfechter der uneingeschränkten Parlamentsautorität, die Declaratory Bill sei eine Erklärung ohne Mark und Kraft. Sie diene lediglich als Kulisse, welche die öffentliche Meinung in England darüber täusche, daß die Auflehnung der Amerikaner gegen das Parlament tatsächlich doch tingestraft bleibe. In der Tat machte sich die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung damals Uber die Ansprüche der theoretischen Erklärung des Parlaments wenig Gedanken, sondern hielt sich an den greifbaren Erfolg in der Sache selbst, d. h. die Aufhebung der Stempelsteuer. Sie war geneigt, den politischen Sieg durch Feuerwerk und Böllerschüsse unverhohlen zu feiern, doch wußten die Führer solche unklugen Triumphkundgebungen zu verhindern. Unzweifelhaft hatte aber das Ministerium Rockingham durch sein Entgegenkommen das richtige Mittel gewählt, um den aufsteigenden Gegensatz zwischen der Autorität des Mutterlandes und den Kolonien rasch und entschieden aus der Welt zu schaffen. Im Jahre 1766 war in Amerika ein Neuaufleben der Loyalitätsgefühle gegen König und Parlament zu verzeichnen.*) Es wäre durchaus denkbar gewesen, ') Pitts Debatte mit Grenville: Almon, Chatham's Speeches, 7. Aufl. 1810 I, S. 422—445. — Allgemeine Geschichte der Declaratory Bill und des Repeal: Burke, Annual Register 1766, S. 35ff., Speech on American Taxation 1774, Parliam. History XVI, goff., Memoirs of Lord Rockingham (1852) Band I ; Chatham Correspondence. *) Siehe das Zeugnis von John Adams, der es wissen mußte, November 1766: "The people are as quiet and submissive to Government as any people under the sun; as little inclined to tumults, riots, seditions as they were ever known to be since the first foundation of the Government. The repeal of the Stamp Act has composed every wave of popular disorder into a smooth and' peaceful calm". Trevelyan, American Revolution I, S. 30.
160 daß der Rockingham'sche Kompromiß die Spannung der politischen Kräfte zwischen England und den nordamerikanischen Siedlungen hätte dauernd lösen können, wie es in der angelsächsischen Welt dergleichen Kompromißgesetze so oft vermocht haben. Die Entwicklung lief anders. Wenige Monate nach der Beilegung des amerikanischen Streitfalls mußten Lord Rockingham und seine Berater und Genossen die Macht wieder aus den Händen lassen. Rockinghams Ministerium war von Anfang an nur ein Notbehelf gewesen, bis Georg III. und Pitt über die Bedingungen einig geworden waren, unter welchen dieser die Regierung wieder übernahm.1) Unter dem Kopfschütteln der Zeitgenossen gab Pitt nunmehr die Grundlage seiner bisherigen Machtstellung, die Mitgliedschaft des Unterhauses auf, verwandelte sich in einen Earl von Chatham und machte den Versuch, ein Ministerium über den Parteien zu bilden, indem er Männer aus allen parlamentarischen Gruppen heranzog, die anerkannten Parteichefs aber draußen ließ. Sein Unternehmen konnte nur gelingen, wenn er selbst die Leitung dieser zusammengestückelten Regierung fest in der Hand behielt, eine Bedingung, welche sich durchaus nicht erfüllte. Monatelang weilte Chatham fern von London auf seinem Landsitz, von Krankheit und Altersbeschwerden geplagt, zeitweise sogar völlig arbeitsunfähig gemacht. Die Folge war ein peinlicher Stillstand in der Regierungsführung. Im Parlament riß derweil das unternehmendste der Kabinettsmitglieder, Charles Townshend'), die Zügel an sich. Er war der erfolgreichste und geschickteste Redner, den das Unterhaus in diesen Jahren besaß, ein liebenswürdiger, höchst gewandter Gesellschafter, der von Witzen übersprudelte; als Politiker rückgratlos und geschmeidig wie Gummi. In jedem Augenblick folgte er der politischen Richtung, die für die nächste Zukunft Oberwasser zu haben schien. Er hatte seinerzeit dem Ministerium Grenville angehört, das die Stempelsteuer beschlossen hatte, ebenso dem folgenden Rockinghams, das sie wieder aufhob. Unter Chatham lenkte er jetzt aufs neue den Bahaen Grenvilles zu. Der Gedanke, die Amerikaner zu besteuern und dadurch die eigene Abgabenlast ') V. Ruville, Chatham III, S. ig8ff. *) Charakteristik Townshends bei Burke, vgl. auch Chatham Correspondence II, S. 351.
American Taxation,
1774;
161 ein wenig zu vermindern, besaß in England begreiflicherweise populäre Zugkraft. Auch konnte man darauf zählen, daß der König eine Stärkung der Autorität des Mutterlandes über die Kolonien begrüßen würde. So machte sich Townshend ans Werk. Grenvilles Schroffheit wollte er freilich vermeiden, sondern lieber eine Handhabe benützen, welche ihm die Amerikaner selbst gegeben hatten. Diese hatten nämlich bei ihrer Agitation gegen die Stempelakte den Satz aufgestellt, man müsse zwischen innerer und äußerer Besteuerimg unterscheiden.1) Unter „inneren Steuern" verstanden sie direkte Abgaben im Inland, denen sich kein Bürger entziehen konnte und die darum nur pach Bewilligung der Volksvertreter erhoben werden durften. Als „äußere Steuern" bezeichneten sie die Gebühren, Zölle usw., welche in den amerikanischen Häfen für die eingeführten Waren entrichtet werden mußten und auf deren Preis geschlagen wurden. Durch Verzicht auf die Ware konnte jedermann sich von dieser Art von Besteuerung befreien, wenn er es für gut hielt. Das Recht des Parlaments, in den amerikanischen Häfen solche „äußeren Steuern" zu erheben, welche der Regelung und der Sicherung des Handels dienten, erkannten die Kolonisten an, da die englische Kriegsflotte die Handelsschiffahrt schütze.*) Charles Townshend ersann also Abgaben, die unter den Begriff der äußeren Besteuerung fielen; er legte dem Parlament ein Projekt vor, die Kolonisten durch neue Einfuhrzölle zu belasten. Im Juli 1767 wurde es Gesetz. Diese sog. „Revenue Akte" legte in den amerikanischen Häfen Zölle auf Glaswaren, Porzellan, Papier, Farben, Blei und Tee. Aus den daraus entspringenden Einkünften sollten die Gehälter der von der Krone ernannten Kolonialbeamten und Richter bestritten und dadurch deren Stellung von den Bewilligungen der Provinzialversammlungen unabhängig gemacht werden. (Die Absicht dabei war, einen alten Streitpunkt zwischen
*) Franklin, Writings ed. Sparks, Boston 1856, IV, S. tjzii.,
194.
*) Ebenda S. 181 (Befragung Franklins im Unterhaus, Februar 1766): . . But the sea is yours; you maintain, by your fleets, the safety of the navigation in it, and keep it clear from pirates; you may have therefore, a natural and equitable right to some toll or duty on merchandises carried through that part of your dominions, towards defraying the expense you are at in ships to maintain the safety of that carriage." L e n n o x , Edmund Burke.
II
162 Krone und Kolonien im Sinne der Krone zu entscheiden.)1) Der Geist, in welchem Townshends ganzer Entwurf gefaßt war, wurde später von Burke treffend in folgender Weise gekennzeichnet: „Um die Steuer den Verfechtern der Besteuerung Amerikas schmackhaft zu machen, verfaßte er eine Einleitung, welche die Notwendigkeit solcher Abgaben feststellte. Um mit der amerikanischen Definition in Einklang zu stehen, waren diese Abgaben „äußere", d. h. Hafengebühren; aber anderseits waren es doch B e i t r a g s gebühren, um sie der Gegenpartei angenehmer erscheinen zu lassen. Um die Kolonisten zu erfreuen, wurden sie auf britische Erzeugnisse gelegt; um die Kaufleute in England zu befriedigen, war die Gebühr geringfügig2) . . . Um dem amerikanischen Schmuggel zu begegnen, wurde der Zoll auf Tee von einem Shilling auf drei Pence herabgesetzt. Aber um die Gunst derjenigen zu gewinnen, welche Amerika zu besteuern wünschten . . . sollte er in den Kolonien erhoben werden . . . Dieser feingesponnene Plan hatte das gewöhnliche Schicksal aller Delikatessenpolitik. Seinen Ursprung hatte der ganze Plan . . einzig und allein in dem Bedürfnisr unseren (des Unterhauses) Beifall zu finden. Er (Townshend) war wirklich das Kind des Hauses. Was er dachte, tat oder sprach, geschah stets im Hinblick auf Euch. Jeden Tag paßte er sich Eurer Stimmung an und machte sich hübsch vor ihr wie vor einem Spiegel." 3 )
Schon im ersten Drittel des Jahrhunderts wehrte sich die Provinzialversammlung von Massachusetts gegen das Verlangen der Krone, daß dem Gouverneur ein festes Gehalt ausgesetzt werden sollte. Die Versammlung wollte sich nur auf alljährliche Bewilligungen einlassen, um den Gouverneur in Abhängigkeit von sich zu erhalten. Durch geschickte Taktik (großzügiges Entgegenkommen in der Frage der Gehalts h ö h e , aber zähen Widerstand in der Prinzipienfrage selbst) wußte die Assembly ihren Standpunkt durchzusetzen, siehe Cambridge Modern History VII, S. 64ff. 2) Der Ertrag von Townshends Zollplan war auf etwa 35000 bis 40000 Pfund berechnet, eine im englischen Staatshaushalt unbeträchtliche Summe. 3) Burke, American Taxation, 1774. — Vgl. auch Franklin, Writings V I I , S. 339: Bei den Beratungen über die Revenue-Akte tut Grenville Townshends Vorschläge als bloße Lappalien ab und weist auf ausgiebigere Mittel hin. Wie Townshend merkt, daß das Haus darauf mit Interesse horcht, springt er sogleich, auf und erklärt, daran habe er selbst schon als Erster gedacht, Grenville wolle ihm jetzt unbilligerweise die Ehre dieses Plans rauben.
163 Charles Townshend erlebte die Wirkungen seines leichtsinnigen Vorstoßes nicht mehr. Zwei Monate nach dem Erlaß der RevenueAkte schnitt ihm ein vorzeitiger Tod die politische Laufbahn ab, die er sich zu öffnen meinte. Wenige Wochen später begann in Amerika der Widerstand von neuem. Die Bürgerschaft von Boston beschloß, den Boykott der englischen Einfuhr wieder aufzunehmen. Die Provinzialversammlung von Massachusetts setzte sich mit den Vertretungen der übrigen nordamerikanischen Kolonien in Verbindung. 1768 schickte darauf die englische Regierung Soldaten nach Boston. Deren Einquartierung gab Anlaß zu neuen Mißhelligkeiten und Rechtsdisputen. Schon im Frühjahr 1767 hatten ähnliche Streitigkeiten in New-York zur Suspension der dortigen Provinzialversammlung geführt, ein Vorgang, der ebenfalls den Zündstoff in den Kolonien vermehrte. Der Boykott gegen die englische Ausfuhr tat auch diesmal seine Wirkung. Die Vorstellungen der geschädigten Kaufmannschaft bewogen die Londoner Regierung zum zweitenmal, in der amerikanischen Angelegenheit einen Schritt zurückzutun. Chathams Ministerium war unterdessen vollends aus den Fugen gegangen, im Oktober 1768 der alte Kämpe selbst aus dem Amt geschieden. Die offizielle Nachfolgerschaft fiel zunächst einem wohlmeinenden, aber saumseligen und bequemen Magnaten, dem Herzog von Grafton zu. Zu Beginn des Jahres 1770 ging die Leitung des Kabinetts an Lord North über, der sie zwölf Jahre lang behalten sollte. Ihm fiel es zu, die englische Politik in der letzten Etappe vor dem offenen Ausbruch des amerikanischen Krieges und dann auch während dieses Krieges selbst zu dirigieren. Horace Walpole hat in seinen Aufzeichnungen eine anschauliche Schilderung von dem persönlichen Wesen dieses Ministers entworfen, die in das Gesamturteil ausläuft: „Er besaß weder ein System, noch Grundsätze, noch Scham . . . Er war ein Mann, den wenige haßten und noch weniger Leute achten konnten. Mochte er frei von Lastern sein, er war gewiß in noch höherem Grade ohne Tugenden." *) Frederick Lord North war ein kleiner rundlichplumper Mann mit hochgradig kurzsichtigem Blick und einer grotesken Häßlichkeit der Gesichtszüge. Die Natur hatte diesem Horace Walpole, Memoirs of the Reign of George III., Band IV, S. 77 f,
11*
164 äußerlich wenig reizvollen Menschenwesen ein beträchtliches Maß nüchterner Klugheit verliehen, außerdem als besondere Dreingabe einen behaglichen Witz, den North im Parlament gegen das hallende Pathos seiner Gegner bisweilen sehr glücklich und erfolgreich gebrauchte. Das beherrschende Element seines Charakters war indessen ein unerschütterliches Phlegma. Da er von persönlicher Eitelkeit und dem Bedürfnis nach Volkstümlichkeit durchaus frei war, ließen ihn auch persönliche Angriffe vollkommen gleichgültig. Bei den anstrengenden nächtlichen Unterhaussitzungen war es kein seltenes Bild, den Premier friedlich schlummernd auf seinem Platz zu erblicken, indes die Gegner — Burke und Fox voran — donnernde Reden gegen ihn hielten. Ein Amtsgenosse mußte sich für North notieren, was sie etwa dabei an erheblichen Argumenten vorbrachten. Die Nervenruhe und seelische Harmonie, welche in dieser Gepflogenheit zum Ausdruck kam, geriet auch nicht ins Schwanken, wenn North die weiteren Folgen seiner eigenen politischen Handlungen bedachte. Er hegte allerdings nicht den frivolen, nachlässigen Uebermut, der verschiedenen seiner ministeriellen Genossen eigen war, aber er war zufrieden und beruhigt, wenn seine Maßregeln für die allernächste Zeit ge sorgt hatten; das Weitere stellte er den guten Einfällen anheim, welche die Zukunft schon bringen werde. Norths geschäftsmäßige Nüchternheit, Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit hatten das Wohlgefallen Georgs III. erweckt, der in ihm den Minister fand, den er wünschte und lange gesucht hatte. In kurzen knappen Notizen pflegte ihm der König seine Befehle und Ansichten kundzutun.1) Lord North fügte sich dem stärkeren Willen Georgs, manchmal gegen die eigene bessere Einsicht, und führte seine Politik in Einklang mit dessen Tendenzen. Mit großer taktischer Gewandtheit hielt er im Unterhaus die Stellung der Regierung gegen ihre verschiedenen Gegner und half sich im übrigen von Jahr zu Jahr mit mehr oder minder interimistischen Maßnahmen weiter, abhold allen Extremen und grundsätzliche bindende Entscheidungen nach Möglichkeit vermeidend und verschiebend. Es war eine Art von Trägheitsgesetz, das ihn so lange Zeit an *) George III., W. B. Donne. 1867.
Correspondence
with
Lord
North
1766—1783
ed.
165 der Spitze des Staates erhielt. In verhältnismäßig jungen Jahren war ihm der ehrenvollste Posten übertragen worden, den er in seinem Lande erreichen konnte. Warum sollte er ihn aufgeben, da er ihn nun einmal besaß, im technisch-geschäftlichen Sinne gut versah und dabei vom König gestützt wurde? Wenn die bedenklichen Situationen im Kriege gegen die Kolonien und die beiden Bourbonenstaaten Frankreich und Spanien doch zuweilen selbst seine Gelassenheit etwas erschütterten und ihm Anwandlungen von Amtsmüdigkeit brachten, dann hielt ihn der starre Wille Georgs III., der solcherlei Regungen eines brauchbaren und geschickten Dieners als Unfug betrachtete, auf seinem Platz fest. Lord Norths erster Schritt in der amerikanischen Streitfrage war ein halbes, nach Kräften verhülltes Zugeständnis an die Kolonisten. Im März 1770 wurde im Unterhaus Townshends Zollgesetz wieder vorgenommen. Lord North hielt eine Rede, in der er das Gesetz vom wirtschaftspolitischen Standpunkt aus rundweg verdammte, da es englische Erzeugnisse mit Abgaben belastet habe. Gleichzeitig führte er jedoch aus, den amerikanischen Boykott brauche man wenig zu fürchten, auch werde er keine lange Dauer haben. Die Rede lief in den Antrag aus, Townshends Zölle aufzuheben, soweit sie die englische Produktion schädigten, d. h. bei allen in dem Gesetz genannten Warengattungen außer Tee. Ausdrücklich betonte North, die Aufhebung erfolge lediglich aus wirtschaftlichen Gründen, in der prinzipiellen Frage der Besteuerung weiche die Regierung vor den Amerikanern nicht zurück. „Die passendste Zeit, unser Recht der Besteuerung auszuüben," so erklärte er in energischen Tönen, „ist die, in welcher das Recht verweigert wird. Hinausschieben heißt nachgeben und die Autorität des Mutterlandes ist für immer aufgegeben, wenn man sich nicht jetzt für sie einsetzt." ') Von Townshends Gesetz blieb also jetzt nur mehr die allgemeine Einleitung und die Bestimmung Uber den Teezoll erhalten. Wenig hatte gefehlt, so wäre das ganze Gesetz gefallen. Nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit hatte sich das Kabinett für die Beibehaltung des Teezolls entschieden. North paßte in diesem Punkt seine Haltung den Wünschen des Königs und den Vertretern Parliamentary History XVI, S. 853ff.
166 der scharfen Tonart an,i) welche Wert darauf legten, daß den Kolonisten gegenüber ein sichtbares Zeichen der Rechtsansprüche des Mutterlandes in der Steuerfrage erhalten blieb. In den amerikanischen Häfen wurde ein Zollgebühr von drei Pence für das Pfund Tee erhoben. Da aber bei Tee, welcher aus England nach den Kolonien weiterverfrachtet wurde, d>er seinerzeit bei der Einfuhr in englische Häfen entrichtete Zoll von 1 Shilling pro Pfund von jetzt ab zurückvergütet wurde, bekamen die Amerikaner die Ware billiger als früher und billiger als die Engländer selbst. Die Regierung hoffte, durch solche Kniffe die Kolonisten auf dem sanften Wege des ökonomischen Vorteils zu einer praktischen Anerkennung ihres grundsätzlichen Anspruchs zu verlocken. Wenn es gelang, einen an sich noch so unwesentlichen Präzedenzfall zu schaffen, wäre das Recht des Parlaments, die Kolonien zu besteuern, für die Zukunft unzweideutig festgestellt gewesen. Die Amerikaner waren indes Politiker genug, diesen Sachverhalt gleichfalls zu erkennen. Sie versteiften sich darum jetzt nur um so entschiedener auf den Boykott des von England eingeführten Tees. Der Bedarf wurde nach Möglichkeit durch holländischen Tee gedeckt, der eingeschmuggelt wurde. Die Sperre gegen die anderen aus England eingeführten Waren wurde dagegen aufgehoben. Auf diesem Punkt blieb das Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonien die nächsten Jahre stehen. An Reibereien und Händeln fehlte es natürlich auch weiter nicht, doch konnten Regierung und Parlament eine Weile ihre Aufmerkamkeit von der amerikanischen Frage abwenden. Im Jahre 1774 schlug dann der so lange hingezogene Streit in hellen Flammen empor. Im Spätherbst 1773 kamen in den wichtigsten Hafenstädten der nordamerikanischen Kolonien eine Reihe von Schiffen voll Tee — Eigentum der Ostindischen Kompagnie — an. In Charleston luden die Amerikaner den Tee zwar aus, wußten ihn aber in einem feuchten Keller unterzubringen, wo er in kurzer Zeit rettungslos verdarb. Vor Philadelphia und NewYork mußten die Teeschiffe angesichts der dortigen Volksstimmung umkehren, ohne ausladen zu können. In Boston war die Erregung besonders groß, als das Herannahen der Schiffe gemeldet wurde. Glockengeläute rief zu Volksversammlungen, zu denen auch Be>) Vgl. Franklin Writings V I I , S. 467, 475.
167 wohtier der Nachbarstädte herbeiströmten. Man beschloß, die Landung des Tees nicht dulden zu wollen und gegebenenfalls Gewalt mit Gewalt abzuwehren. In ganz Boston war keine Pistole mehr zu kaufen. Da die Schiffe trotzdem einliefen und die Zollbehörde unter formalistischer Berufung auf die Vorschriften ihrer Dienstordnung sich weigerte, sie unausgeladen zurückzuschicken, überfielen in einer Nacht des Dezember 1773 etwa zweihundert als Indianer maskierte Männer die Schiffe, holten die Ladung heraus, zerschlugen die Teekisten und schütteten ihren Inhalt — einen Wert von etwa zehntausend Pfund Sterling — in das Wasser des Hafens.1) Als im Frühjahr 1774 die Nachricht von diesem verwegenen Uebergriff der Bostoner Bevölkerung in London eintraf, stürzte sich Regierung und Parlament auf die Aufgabe, die Autorität des Mutterlandes in Massachusetts, das seit Jahren die Ansprüche der Kolonien am hartnäckigsten vertreten hatte, nunmehr durch scharfe Strafmaßregeln endlich wieder aufzurichten. Mit Gewalt sollten die störrischen Puritanerschädel dort zur Besinnung und Folgsamkeit zurückgebracht werden. Zu diesem Zweck legte Lord North dem Parlament vier Gesetze vor, die noch vor Schluß der Session unter Dach gebracht wurden.2) Die Petitionen der in England ansässigen Amerikaner blieben unbeachtet, die Erklärungen, welche der Agent der Assembly von Massachusetts machen wollte, wurden nicht angehört. Die amerikafreundliche Minderheit des Parlaments, die das überhastete Vorgehen der Regierung verurteilte, war lahmgelegt durch die unbestreitbare Tatsache des ungesetzlichen eigensinnigen Vorgehens von Boston. Traf doch mitten in die Verhandlungen die Nachricht hinein, daß dort vor kurzem wiederum die Ladung eines Teeschiffes ins Meer geschüttet worden sei.3) Das Parlament beschloß, den Bostoner Hafen für jeden Verkehr zu sperren, bis der Gehorsam zurückgekehrt sei und die Ostindische Kompagnie Vergütung ihrer Eigentumsverluste erhalten habe. Außerdem sollte der alte Verfassungsbrief der widerspenstigen Kolonie verändert, die Befugnisse des von der Krone ernannten Gouverneurs verstärkt, die demokratischen Faktoren dagegen
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) Hart, American Hist, told by Contemporaries II, S. 43iff. ) Parliam. Hist. X V I I , S. 1159 ft. ») Pari. Hist. X V I I , S. 1275. 2
168 geschwächt werden. Oeffentliche Volksversammlungen sollten nur nach vorheriger Genehmigung des Gouverneurs erlaubt sein, die Mitglieder des Oberhauses (Council) der Kolonie sollten künftig von ihm berufen und nicht wie bisher vom Volk gewählt werden. Auch die Ernennung der Richter sollte ihm allein zustehen. Weitere Bestimmungen griffen in die Kompetenzen der Schwurgerichte der Kolonie ein. Das vierte Gesetz verfügte die Rechtmäßigkeit der Einquartierung von Soldaten in Bürgerhäusern — bisher in den Kolonien eine umstrittene Rechtsfrage. Das Parlament hatte bei diesen Beschlüssen außer acht gelassen, daß man es schwerlich nur mit der einen Kolonie Massachusetts zu tun haben werde. Das Mutterland konnte wohl durch seine Fregatten den Hafen von Boston still legen und durch die Garnison die Bürgerschaft zum Schweigen zwingen, aber was war gewonnen, wenn dann das übrige Amerika die Stimme um so lauter erhob? Nach den Erfahrungen der letzten Jahre war nicht anzunehmen, daß es dem Vorgehen des Parlaments gleichmütig zusehen werde. Der neue militärische Gouverneur von Massachusetts, der im Frühjahr dem König in London versichert hatte, vor einem nachdrücklichen Auftreten Englands würden die Kolonisten sich sehr rasch zusammenducken, änderte die Sprache, als er auf dem Schauplatze seiner Tätigkeit angekommen war. Er empfahl der Regierung eine Suspension der Strafgesetze.1) Gelang es doch nicht einmal, die Verfassungsänderungen gegen den Willen der Bevölkerung von Massachusetts einzuführen. Die neu ernannten Richter fanden keine Geschworenen, die vom Gouverneur berufenen Mitglieder des neuen Councils lehnten das angetragene Amt ab oder wurden durch die Verachtung und den Druck ihrer Nachbarn nachträglich dazu gezwungen.®) Weit mehr wurde die Lage jedoch dadurch verschärft, daß die übrigen Kolonien mit Entschlossenheit und ohne Aufschub an die Seite des gemaßregelten Massachusetts traten. Im Oktober 1774 formulierte in Philadelphia der erste „Kontinentale Kongreß" der nordamerikanischen Kolonien in einer gemeinsamen Erklärung die
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Vgl. George III., Correspondence, Brief 264 (Herbst 1774). ) Siehe die Schilderung bei Trevelvan. American Revolution I, Kap. 5.
169 „Rechte und Beschwerden der Kolonien", verlangte vom Parlament den Widerruf der in diesem Dokument beanstandeten Gesetze, forderte die Kolonisten zu einem vollständigen Boykott der englischen Einfuhr auf und gab Richtlinien fUr die Organisation und Anwendung dieses Kampfmittels. Anfang 1775 erhielt das Parlament Kenntnis von der Fortdauer des Widerstandes in Massachusetts und von den Beschlüssen des amerikanischen Kongresses. Noch einmal strengten sich die Vertreter einer Versöhnungspolitik an, den drohenden Bruch zwischen Mutterland und Kolonien in letzter Stunde zu verhindern. Auch Lord North wurde nochmals eine Weile unschlüssig und machte Miene, den Kolonisten in der Frage der Besteuerung entgegenzukommen. Aber gleichzeitig wurde im Parlament über die Vermehrung von Heer und Flotte beraten und ein Gesetz angenommen, das den Neuenglandkolonien jeglichen Handel mit nichtbritischen Gebieten untersagte, alle Milderungen der Navigationsakte aufhob und den Neuengländern außerdem die Fischerei an der Küste von Neufundland sperrte. Wenige Wochen später fielen in Massachusetts die ersten Schüsse. Im Mai erklärte der zweite Kongreß der Kolonien: „Wir sind zur Wahl gedrängt, uns bedingungslos der Tyrannei gereizter Minister zu unterwerfen oder mit Gewalt Widerstand zu leisten. Wir wählen das zweite". Der Krieg war nicht mehr abzuwenden. 2.
In diesen entscheidenden Jahren (1774/75), als der Gegensatz zwischen Mutterland und Kolonien immer schärfere Formen annahm, spannte Burke im Unterhaus alle seine Kräfte an, um die Entwicklung wieder in friedliche Bahnen zurückzulenken. Der Erfolg war ihm dabei versagt. Seinen Versöhnungsversuchen war kein besseres Schicksal beschieden als allen ähnlichen Aktionen, welche von anderer Seite — am eindrucksvollsten von dem alten Pitt — im Parlament unternommen wurden. Seit dem Sturz des Ministeriums Rockingham im Sommer 1766 war die Partei Burkes gerade in der amerikanischen Frage von allem tatsächlichen Einfluß auf den Gang der englischen Politik ausgeschaltet. Die Regierung North stützte sich in beiden Häusern des Parlaments auf eine Mehrheit von zwei Dritteln. Sie brauchte
170 darum Angriffe der Gegenseite nicht zu fürchten. Anträge, welche von der Minorität in der amerikanischen Frage gestellt wurden, pflegten schon bei der ersten Verhandlung zu fallen. Die Minderheitsparteien waren darum allein auf die Mittel der parlamentarischrednerischen Agitation beschränkt, wenn sie ihren Ansichten über Amerika und ihrer Kritik der Regierungsmaßnahmen in der Oeffentlichkeit einiges Gehör verschaffen wollten. Abgesehen von den volkstümlichen Kämpen der Stadt London, den Sawbridge und Wilkes, welche das Ministerium North und dessen parlamentarischen Anhang in skurrilen unverblümten Ausdrücken anzufallen pflegten, waren Burke und an seiner Seite der junge Charles Fox die tätigsten und lebhaftesten Gegner der von der Regierung betriebenen amerikanischen Politik. Als Lord North einmal über die Unermüdlichkeit der Herren von der Opposition ein spöttisches Wort fallen ließ, griff Burke es auf und führte in seiner emphatischen Weise aus, er für seine Person erblicke in dieser absprechenden Bemerkung ein Lob für sich: „Ein Mann, der ehrlich und aufrichtig eine Regierung, welche er für schlecht hält, bekämpft und dabei ausharrt, während andere, an sich Gleichgesinnte allmählich müde werden und aufhören, der ist ein wahrer und aufrichtiger Freund seines Landes . . . nicht das verächtliche Wesen, als das ihn die Gefolgsleute der Regierung so gern hinstellen. Es gibt solche Männer im Unterhaus und ich hoffe, sie werden niemals fehlen." 1 ) Freilich wurde auch er seiner Rolle als erfolgloser Oppositionsredner manchmal etwas müde. Es gab Zeiten, in denen er wie seine ganze Partei ihre Gegnerschaft gegen die Regierungspolitik nur in lauen und gedämpften Tönen zum Ausdruck brachte. Nicht mit Unrecht spottete einmal der alte Pitt über „das sanfte Gezwitscher" der Rockinghampartei, deren Kehrreim stets „Mäßigung, Mäßigung" laute.2) Als im Frühjahr 1774 vom Parlament die Zwangsgesetze gegen Massachusetts beschlossen wurden, wagte die Rockinghamgruppe nicht, dagegen zu stimmen, obwohl sie die geplanten MaßBurke, Speeches I, S. 246 (1774); Pari. Hist. X V I I , S. 1342. ') Chatham, Correspondence III, S. 469 (1770): „The Marquis (Rockingham) is an honest and honourable man, but .moderation, moderation 1' is the burden of the song amongst the body. For myself.. I shall be a scarecrow of violence to the gentle warblers of the gTove, the moderate Whigs and temperate statesmen."
171 regeln verurteilte, sondern enthielt sich der Stimmabgabe. Angeblich geschah dies um die Einheitlichkeit des parlamentarischen Vorgehens gegen das aufrührerische Boston nicht zu stören, tatsächlich bedeutete es ein Zurückweichen vor der Wucht des nationalen Herrenbewußtseins, das in England durch den Bostoner Teetumult auf das äußerste gereizt worden war. Im Unterhaus waren die Autoritätsgefühle des englischen Staates zumal durch die agrarischen Mitglieder verkörpert, deren eigene wirtschaftliche Interessen durch die Spannung mit den Kolonien nicht unmittelbar gefährdet wurden, die also keinen Grund sahen, warum man mit den amerikanischen „Rebellen" nicht endlich kurzen Prozeß machen sollte. Die amerikafreundlichen Parlamentarier, die Vertreter einer Politik des Ausgleichs, wurden von dieser Richtung als charakterlose Schwächlinge, die ohne Herz für die Würde und Größe Altenglands seien, und als Helfershelfer der aufrührerischen Kolonisten mit Haß und Verachtung abgetan. In den Zeitungen wurden sie mit Verleumdungen überschüttet, in den Unterhausdebatten schnitt ihnen die Mehrheit nicht selten durch Husten und Brüllen das Wort ab, wenn sie im Interesse des englischen Gesamtreichs für den Standpunkt der Kolonisten einiges Verständnis zu wecken suchten. Nach dem Ausbruch des Krieges und dem Scheitern aller Versöhnungsversuche beschloß daher die Rockinghampartei in einem Augenblick der Hoffnungslosigkeit und Bedrücktheit, sich angesichts dieser Stimmung der Oeffentlichkeit bis auf weiteres in allen Fragen, welche den amerikanischen Krieg betrafen, der parlamentarischen Stellungnahme überhaupt zu enthalten und der Regierungspolitik zum guten oder bösen Ende ihren Lauf zu lassen. Erst in der folgenden Session (1777/78) wurde diese Taktik als matt und unfruchtbar aufgegeben. Burke unternahm damals einen großen Vorstoß gegen die Regierung, weil diese in dem Krieg die Indianer als „englische Hilfstruppen" gegen die Kolonisten losgelassen hatte. Mit Sengen und Brennen, Massakrieren und Skalpieren führten diese Horden nun im Grenzgebiet den Kampf gegen die Siedlungen der Amerikaner. Wenn es zu einem ernstlichen Treffen kam, pflegten sie in den Wäldern zu verschwinden und ihre englischen Bundesgenossen im Stich zu lassen oder gar sich noch schnell von diesen ein paar Skalpe zu holen. Burke beleuchtete diese Dinge in einer dreieinhalbstündigen
172 Rede, in welcher er alle Register von Pathos, Satire, Leidenschaft und Hohn zog. Nach den Berichten der Zeitgenossen war es die eindrucksvollste und rhetorisch glänzendste Rede, welche Burke überhaupt gehalten hat. Aber ein praktischer Erfolg stellte sich auch bei dieser Gelegenheit nicht ein. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung blieb unerschüttert; Burkes Worte verhallten im Sitzungssaal, da die Oeffentlichkeit — wie bei allen bedenklichen Antragen der Opposition — ausgeschlossen worden war. Von der Rede ist außer kümmerlichen Zeitungsnotizen nichts erhalten.1) Auch mit vielen anderen Reden Burkes aus diesem Jahrzehnt verhält es sich wenig besser. Die parlamentarische Berichterstattung, die noch in den ersten Anfängen steckte'), lieferte bestenfalls kurze Zusammenfassungen, deren sachliche Richtigkeit keineswegs außer Zweifel steht und deren Sprache zumeist mehr von dem Stil des Berichterstatters bestimmt ist als von dem des Redners selber. Wollte ein Parlamentarier den Wortlaut seiner Aeußerungen erhalten wissen und an eine breitere Oeffentlichkeit bringen, dann mußte er selbst hierfür Sorge tragen. Burke besaß weder das Bedürfnis, noch die freie Zeit, sich dieser Mühe oft zu unterziehen. Er hat darum nur zwei seiner Parlamentsreden zur amerikanischen Politik veröffentlicht: eine Rede „On American Taxation" vom Frühjahr 1774 und eine andere über die „Versöhnung mit Amerika" vom Jahr darauf. In der ersten legt Burke seine Auffassung der Steuerfrage dar, die zweite greift weiter aus zu einer Betrachtung des englisch-amerikanischen Problems überhaupt. Ergänzt wurden beide später durch den „Brief an die Sheriffs von Bristol über die amerikanischen Angelegenheiten" (1777), eine Broschüre, in welcher Burke seine Stellungnahme zu dem unterdessen zur Wirklichkeit gewordenen Krieg gegen die- Kolonisten begründet. Ebenso wie einige Jahre zuvor die Schrift über die „Present Discontents" stellten diese Broschüren Burkes zugleich Kundgebungen der Rockinghamgruppe als solcher dar — sie waren eines der wenigen Lebenszeichen, das diese kleine Gemeinschaft vor einer weiteren Oeffentlichkeit geben konnte. Doch die „Present Discontents" hatten das Gepräge eines allgemeinen Parteimanifests ') Parliam. Hist. X I X , S. 694«. (1778). 2 ) Vgl. oben Kap. II.
173 getragen, der Verfasser als solcher hielt sich darin nach Möglichkeit zurück. In den Schriften zur amerikanischen Frage dagegen tritt das Individuum Edmund Burke mit allen seinen persönlichen Ueberzeugungen und Gedankengängen unverhüllt in den Vordergrund. Durch die äußere Form der Veröffentlichung als „Rede" oder „Brief" wurde dieser Umstand freilich erleichtert und sogar gefordert. Er ist aber doch zugleich ein unzweideutiges Kennzeichen, wie stark Burkes Gewicht innerhalb seiner Partei mittlerweile gestiegen war. In den Jahren der „Present Discontents" war Burke für die Gruppe um Lord Rockingham doch nicht viel mehr gewesen als der getreue, geschickte und allezeit rührige Publizist. In der Zeit des amerikanischen Konflikts war er weit mehr: der unbestrittene geistige Führer, von dessen Wissen und Ideen die anderen zehrten. In der folgenden Periode, den achtziger Jahren, ist wieder ein Rückgang von Burkes Einfluß zu verzeichnen. Denn damals war die jüngere Generation der Fox und Sheridan, seiner Schüler, neben ihm emporgewachsen, die sich nur bis zu einem bestimmten Grade noch durch Burkes Gedanken leiten ließen. In den unzähligen Debatten über die amerikanische Frage, welche die Mitglieder des Unterhauses im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen mußten, nahm das bloße Parteigezänk einen außergewöhnlich breiten Raum ein. Sämtliche parlamentarische Gruppen hatten ja in irgendeinem Stadium der komplizierten Streitfrage an der Regierungsgewalt Anteil gehabt, waren an bestimmten Entscheidungen beteiligt gewesen und infolgedessen für die Weiterentwicklung der Verhältnisse mitverantwortlich geworden. Eine jede dieser Parteien war deshalb beflissen, die Schuld an der Tatsache, daß sich der englisch-amerikanische Konflikt in den Jahren 1765/74 so erschreckend verschärft hatte, von sich abzuwälzen und der Gegenseite zuzuschieben. Breit erörterte man bei den Verhandlungen die Vortrefflichkeit der eigenen Maßnahmen und klagte über die Fehler der anderen Parteien, die alles verdorben hätten, wobei es an unverfrorenen Verdrehungen des tatsächlichen Hergangs der Dinge nicht fehlte. Mit Vorliebe führten die Kreise, welche eine „energische" Politik gegenüber den aufsässigen Kolonien empfahlen, aus, die Schwäche des Ministeriums Rockingham, das die Stempelakte fallen ließ, sei die erste Ursache des Uebermuts und der Widersetzlichkeit der Amerikaner gewesen.
174 Damals sei es zuerst zu den Unruhen gekommen, die seitdem nicht mehr geendet hatten. Solchen Behauptungen gegenüber bemühten sich Lord Rockinghams Gefolgsleute nachzuweisen, daß die Aufhebung der Stempelakte die Unruhen nicht hervorgerufen, sondern vielmehr behoben hatte — was der geschichtlichen Wahrheit entsprach — und daß gleichzeitig durch die Ausführungen der „Declaratory Bill" die Souveränitätsrechte des Mutterlandes über die Kolonien unanfechtbar festgestellt und dem Streit der Meinungen entzogen worden seien — eine Ansicht, gegen die man fUglich Zweifel erheben konnte. Auch Burke tat bei diesen parlamentarischen Gefechten das seine. Seine Schriften zur amerikanischen Frage enthalten daher viel Partei-Apologie. In blütenreichen Wendungen preist er die mannhafte, weise, segensreiche Politik, welche Lord Rockingham und seine Freunde im Winter 1765/66 trotz aller Widerstände und Machenschaften zum Siege geführt hatten. Mit urkundlichen Zeugnissen geht er gegen die Verdrehungen an, die „das Ungeziefer der höfischen Berichterstatter" verschuldet habe. Aber der geschichtliche Rückblick auf die Maßnahmen der eigenen Gruppe und die der anderen Parteien dient bei Burke doch nicht lediglich der Parteitendenz. Er ist ihm vielmehr eines der notwendigen Mittel, über die Erfordernisse der gegenwärtigen zugespitzten Situation (1774/75) zur Klarheit zu kommen. „Neun lange Jahre hindurch," so seufzte er 1774 im Unterhaus, „eine Session nach der anderen sind wir in diesem erbärmlichen Kreis von Gelegenheitsgründen und Interimsmitteln herumgetrieben worden. Im Kopf ist uns wirr und im Magen übel von ihnen. In jeder Form haben wir sie erlebt, von jedem Gesichtspunkt aus betrachtet. Die Einfälle sind erschöpft, der Verstand ermattet, die Erfahrung hat ihr Urteil ausgesprochen. Aber die Verbissenheit ist noch imbesiegt."1) Trotzdem nahm er den Kampf gegen diesen von ihm beklagten Starrsinn aufs neue auf, erst jetzt eigentlich mit ganzer Kraft. Das bis zum Ueberdruß behandelte parlamentarische Thema „England und seine nordamerikanischen Kolonien" zeigte bei ihm doch noch neue, bisher nicht gesehene Seiten und, was mehr wert war: Burke befreite seine Behandlung von der Zersplitterung in lauter Einzelheiten. Mit einem *) On American Taxation, Anfang.
175 beherrschenden Griff faßte er den ganzen Komplex der amerikanischen Fragen zusammen und wies ihn unter einheitlich durchgehenden Gesichtspunkten vor. Es waren damals in der Oefifentlichkeit Vorwürfe gegen die Oppositionspartei laut geworden, nur aus Uebelwollen setze sie in der amerikanischen Angelegenheit sämtlichen, in sich doch so widerspruchsvollen und wechselnden Maßregeln der Regierung Widerstand im Parlament entgegen. Burke unterzog sich darum jetzt für seine Partei der Aufgabe, den gemeinsamen Grund dieser Widerstände vor der Oeffentlichkeit deutlich zu machen. Gegen die Regierung erhob er vor allem den Vorwurf, daß sie die Dinge stets nur „in Bissen und Brocken" behandelt habe, ohne auf die inneren Zusammenhänge zu sehen. Man könne bei ihrer Politik gegen die amerikanischen Kolonien gar nicht von einem guten oder schlechten System sprechen, da überhaupt jegliches System fehle. Es sei weder zweckmäßig noch männlich, bei jeder neuen Post aus Amerika nach neuen Grundsätzen suchen zu müssen. „Durch ein solches Verfahren, durch die unvermeidliche Wirkung schwächlicher Ministerratssitzungen hat ein so armseliger Betrag, wie es drei Pence in den Augen eines Finanzmannes sind, und eine so unbedeutende Ware, wie sie Tee in den Augen eines Philosophen darstellt, die Säulen eines Handelsreichs erschüttert, das sich rings tun die ganze Erde erstreckte." Den Angelpunkt des Streites bilde die Frage des Teezolls. Schlagend widerlegt Burke die offizielle Phrase der Regierimg, der Teezoll sei eine rein wirtschaftspolitische Maßregel, und ihre Behauptung, die Aufhebung der übrigen Zollsätze des Townshend'schen Gesetzes sei nicht etwa durch die politischen Verhältnisse veranlaßt worden. Auf beiden Seiten des Ozeans wisse man zur Genüge, daß der Teezoll nur deshalb aufrecht erhalten worden war, damit die theoretische Einleitung des Townshend'schen Steuerplans, welche die Erhebung einer Abgabe in den amerikanischen Kolonien für „passend" erklärt hatte, nicht zu fallen brauchte. Man streite nicht um die drei Pence Abgabe für Tee, sondern um der leeren Sätze dieser Einleitung willen. Dabei enthalte dieses Vorwort, das so krampfhaft verteidigt werde, nicht einmal eine ' ) On American Taxation.
176 grundsätzliche Rechtserklärung, die England nicht aufgeben könne, sondern es sei lediglich von „Zweckmäßigkeit" darin die Rede. Aber, so lautet das Argument der Gegenseite, die Würde des Parlaments hängt daran. „Ich weiß nicht, woher es kommt," antwortet darauf Burke, auch unter Anspielung auf allerhand Kopflosigkeiten, die das Parlament im Laufe der letzten Jahre in innerpolitischen Angelegenheiten begangen hatte, „diese WUrde ist eine schreckliche Belastung des Parlaments. Sie hat in der letzten Zeit jedesmal mit seinen Interessen, seiner Billigkeit und allen Gesichtspunkten der Politik im Kampf gestanden. Weist mir nach, daß der Gegenstand, den Ihr erlangen wollt, etwas Vernünftiges ist; weist nach, daß gesunder Menschenverstand dabei im Spiele i s t . . . dann will ich ihm gern alle Würde zusprechen, die Ihr nur wollt. Aber welcherlei Würde sich von hartnäckigem Beharren in einer Absurdität ableiten läßt, vermag ich nicht zu begreifen." Halbheit und Unklarheit sei die schlimmste Politik, die man jetzt treiben könne. „Entschließen wir uns vor Ende dieser Session zu einem System! Habt Ihr die Absicht, Amerika zu besteuern und eine einträgliche Abgabe dort herauszuholen ? Wenn ja, so sprecht es aus I Nennt diese Abgabe, setzt ihre Gegenstände fest und sorgt für ihre Erhebimg! Und dann kämpft, nachdem Ihr für etwas zu kämpfen habt. Wenn Ihr denn mordet — so raubt auch; wenn Ihr totschlagt, dann nehmt auch Besitz. Aber tretet nicht als Wahnsinnige und Meuchelmörder auf, gewaltsam, rachsüchtig, blutig und tyrannisch — o h n e Z i e l ! Doch mögen Euch bessere Geister leiten."') Burke suchte, wie man sieht, die Vertreter einer frisch-fröhlichen Gewaltpolitik, welche der Regierung den Rücken stärkten und sie in den offenen Kampf mit den Kolonien weitertrieben, von der Basis ihrer eigenen Grundüberzeugungen aus anzugreifen, um auf diese Weise die Sinnlosigkeit des politischen Verfahrens klar zu stellen, das man gegenüber den Amerikanern gewählt hatte. Doch ließ er dabei keinen Augenblick in Zweifel, daß er selbst in Gewaltanwendung keinen Ausweg aus den Schwierigkeiten der Lage erblicken konnte. Er war nicht etwa aus Beweggründen einer pazifistisch-liberalen Weltanschauung ein Gegner aller Machtpolitik überhaupt; im Gegenteil, von dem Geist des merkantilistisch') On American Taxation.
177 machtpolitischen Zeitalters war auch in ihm so manches lebendig. Zumal Frankreich gegenüber, dem alten Nebenbuhler und Feind des englischen Reiches, predigte er nachdrücklich eine Politik der Machtbereitschaft, der Wachsamkeit und des steten Mißtrauens und pflegte der Regierung Vorwürfe zu machen, wenn sie es nach seiner Ansicht darin fehlen lieli."i) Aber für die inneren Angelegenheiten des britischen Reiches erwartete er von einer solchen Politik kein Heil. Die Besteuerimg der Kolonien durch das Parlament lehnte er aus grundsätzlichen Erwägungen ab, obwohl er die rechtliche Zulässigkeit einer solchen Besteuerung bejahte. Sein Gedankengang war der folgende: Die Grundlage des Verhältnisses zwischen England und seinen Kolonien sind die Bestimmungen der Navigationsakte. Durch diese wird die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Kolonisten zum Vorteil des Mutterlandes außerordentlich beschränkt. Erträglich ist dieser Druck für die Kolonien nur deshalb, weil sie ihn seit ihrem eigenen Entstehen gewohnt sind und weil der enge Zusammenhang mit den Wirtschaftskräften Englands ihr eigenes Wachstum gefördert und beschleunigt hat. Als eine weitere Entschädigung für die Nachteile ihrer wirtschaftlichen Beschränkung besitzen die Kolonisten eine freie Verfassung und volle Selbständigkeit ihrer inneren Verwaltung. „Dieser Zustand wirtschaftlicher Knechtschaft und bürgerlicher Freiheit ist zusammengenommen sicherlich nicht völlige Freiheit; aber verglichen mit den gewöhnlichen Umständen menschlichen Daseins, war es eine glückliche und uneingeengte Lage." 2) Sie verändert sich jedoch, wenn zu dem bestehenden Wirtschaftsmonopol des Mutterlandes auch noch die unmittelbare Besteuerung der Kolonien tritt. Beides zusammen bedeutet eine vollkommene, in keiner Weise durch Vorteile ausgeglichene Sklaverei der Kolonisten. Und man vergesse nicht, diese Kolonisten sind Engländer und, wie vielleicht kein anderes Volk der Erde, besessen von einem trotzigen Freiheitssinn. x) Burke, Speeches I. S. 245 (1774), III, S. 255f. (bei Gelegenheit von Pitts Handelsvertrag mit Frankreich, 1786); Speech on the Army Estimates, 1790; Present State of Affairs, 1792. *) „A happy and a liberal condition" (On American Taxation). Gleichartige Ausführungen Burkes schon in der Schrift „Observations on the Present State of the Nation" (1769).
L e n n o x , Edmund Burke.
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178 Ueber den ungebührlichen Trotz der Kolonien waren im Londoner Parlament schon unendlich viel Worte verloren worden. Die jüngsten Parlamentsmitglieder hielten es für passend, mit Emphase zu erklären, die Kolonisten seien dem Mutterland kindlichen Gehorsam schuldig, festzustellen, daß dieser Gehorsam fehle und daraus den bündigen Schluß zu ziehen, daß England die Amerikaner deshalb durch Strenge zur Demut erziehen müsse. Schon im Jahre 1767 machte Benjamin Franklin die Bemerkung, jeder Engländer scheine sich Amerika gegenüber als ein Stückchen Souverän zu fühlen. „Er quetscht sich zu dem König auf den Thron und redet von „unseren Untertanen in Amerika."1) Burke war der Ueberzeugung, daß England mit solchen Deklamationen keinen Schritt weiter komme, denn der trotzige Geist der Kolonisten sei nun einmal eine unbestreitbare Tatsache. „Die Frage ist nicht, ob ihre Art Lob oder Tadel verdient, sondern was wir um Himmels willen damit anfangen sollen." Mit dem Geist der Amerikaner werde man sich abfinden müssen — wie mit einem notwendigen Uebel, wenn man keine freundlicheren Gefühle aufzubringen vermöge. Das Eine stehe jedenfalls fest: Amerika sei kein bloßes Anhängsel Großbritanniens, das man gefahrlos gering achten oder reizen könne. „Eure Kinder wachsen nicht schneller von der Unmündigkeit zum Mannesalter heran als sie aus Familien zu Gemeinden und aus Dörfern zu ganzen Völkern werden," erklärt Burke. Durch begeisterte, beredte Worte sucht er seinen Landsleuten die rapid ansteigende Bedeutung des amerikanischen Volkes und dessen kühne Tatkraft deutlich zu machen: „Lassen wir das Uebrige beiseite und sehen wir nur zu, wie die Neuengländer die Walfischfängerei betrieben haben. Während wir ihnen zwischen schwankenden Eisbergen hindurch folgen und bemerken, daß sie in die entferntesten Eisregionen der Hudsonbay und Davis-Straße eindringen, während wir am Polarkreise nach ihnen Ausschau halten, vernehmen wir, sie sind in die entgegengesetzte Polarzone vorgestoßen und bei den Antipoden angelangt. . . Die Falklandinseln, die für den Griff des nationalen Ehrgeizes zu entfernt und zu phantastisch schienen, sind nur eine Haltestelle für ihren siegreich weiterschreitenden Eifer. Die Aequatorhitze schreckt sie so wenig wie die Winterkälte beider P o l e . . . Weder !) Franklin, Writings ed. Sparks VII, S. 329.
179 Hollands Beharrlichkeit, noch Frankreichs Tatendrang, noch die geschickte und feste Klugheit englischer Unternehmungen haben je dies gefahrlichste und härteste aller Gewerbe so weit geführt wie dies junge Volk, — ein Volk, das auch jetzt noch erst die weichen Knochen der Kindheit hat . . . Wenn ich diese Dinge betrachte, wenn ich bedenke, daß die Kolonien unserer Fürsorge wenig oder nichts verdanken, daß sie nicht durch den Zwang einer wachsamen und mißtrauischen Regierimg in diese glücklichen Formen gepreßt wurden, — daß vielmehr als Folge einer weisen und segenbringenden Vernachlässigimg die großmütige Natur ihren eigenen Weg zur Vollkommenheit einschlagen konnte; wenn ich über diese Wirkungen nachdenke und sehe, welchen Nutzen wir daraus zogen, dann sinkt in mir der Stolz auf die Macht, und aller anmaßende Glaube an die Weisheit menschlicher Pläne schmilzt dahin un$ stirbt. — Meine Strenge läßt nach. Ich gestehe dem Geist der Freiheit einiges zu."1) Diese Sätze mit der Farbkraft ihrer Anschauung und dem rhythmisch rollenden Fortgang des Gedankens zeigen, was der Redner Burke vermochte. In dem darauffolgenden Abschnitt seiner Rede spricht der Staatsmann, der über die äußere Erscheinung der Dinge hinaus zur Erkenntnis der tieferen Kräfte vordringen will, mit denen er sich auseinandersetzen muß. Burke stellte sich die Frage, woher der trotzige Freiheitsgeist der Amerikaner herzuleiten sei, und fand sechs Wurzeln: Die eine ist die geographische Lage der Kolonien. Zwischen der Londoner Regierung und ihnen liegen dreitausend Meilen Ozean. „Die Wellen rollen und die Monate vergehen zwischen einem Befehl und seiner Ausführung; die Unmöglichkeit, einen einzigen Punkt rasch zu erklären, kann einen ganzen Plan zunichte machen." Burke erklärt es für ein politisches Naturgesetz, daß in großen Reichen die Zirkulation der Macht in den Randgebieten schwächer sein müsse als im Mittelpunkt. Auch für despotische Staaten gelte dies in der nämlichen Weise. „Der Türkensultan kann Aegypten, Arabien und Kurdistan nicht ebenso regieren wie Thracien. In der Krim und in Algier 1 ) Conciliation with America. — „Geist der Freiheit" ist hier in erster Linie in dem politischen Sinn empfunden, doch spielt ohne Zweifel auch der Gedanke der wirtschaftlichen Freiheit (als Gegensatz zu merkantilistischer Bevormundung von Seiten des Staats) mit hinein, vgl. S. 210, Anm. 2.
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180 findet er nicht den gleichen Gehorsam wie in Brussa und Smyrna." Wenig früher hatte Franklin den englischen Ministem einen nahe verwandten Gedanken in s e i n e m Stil auszudrucken gewußt: „Meine Herren, bedenken Sie vor allem, daß ein großes Reich, ebenso wie ein großer Kuchen an den Rändern am leichtesten beschädigt werden kann!" — eine als Witz verkleidete drohende Warnung.1) Die übrigen Ursachen des Freiheitssinns der Kolonisten fand Burke in den Elementen des amerikanischen Volkstums selbst. Die Einwohner der Kolonien, so führt er aus, sind Engländer mit spezifisch englischen Ueberzeugungen, Nachkommen von Engländern des siebzehnten Jahrhunderts, welche die Verfassungsgrundsätze und politischen Ideale dieses Kampfzeitalters in die neue Welt hinübergetragen haben. Dort sind diese Gedanken seitdem ungebrochen lebendig geblieben. Das freiheitliche Selbstgefühl der Kolonien wird durch die Formen ihrer inneren Selbstregierung, bei der die demokratischen Faktoren die ausschlaggebenden sind, gestützt und gefördert. Die amerikanischen Provinzialversammlungen sind nach ihrer Zusammensetzung, ihrer Stellung gegenüber der Wählerschaft und ihren Funktionen einem Parlament so ähnlich, daß es nicht zu verwundern ist, wenn diese Volksvertretungen im Laufe der Zeit die Autorität eines Parlaments auch sich zugeschrieben haben und den alten englischen Freiheitssatz „keine Besteuerung ohne Vertretimg" zur Erweiterung und Rechtfertigung ihrer eigenen Befugnisse verwenden wollen. Burke hat ein scharfes Auge für das eigentümliche Advokatengeschick der Kolonisten, das sie befähigte, diese Position dem Mutterland gegenüber zäh und gewandt zu verfechten. Er macht darauf auf merksam, welch ungewöhnliche Verbreitung der Anwaltsberuf in den nordamerikanischen Kolonien hatte und welch ein allgemeines Interesse für Rechtsfragen und Rechtsliteratur«) bei der dortigen Bevölkerung herrschte. Es setzte sie instand, die zukünftigen praktischen Wirkungen eines Rechtsgrundsatzes sogleich voraus zu be') Franklin, Writings ed. Sparks IV, S. 388 (Zeitungsartikel von 1773). *) Burke führt an, daß bei der Ausfuhr von Büchern aus England nach den Kolonien die juristische Literatur nach Zahl und Bedeutung an zweiter Stelle stand und nur von den Andachtsbüchern noch übertroffen wurde. Blackstones grundlegendes Werk (vgl. S. 100f.) fand in Amerika beinahe ebensoviele Käufer wie in England selbst.
181 rechnen und, falls diese ihr bedenklich und anfechtbar erschienen, ohne Verzug mit der Gegenwehr zu beginnen. Als eigentliche Grundlage des nordamerikanischen Volkstums erkennt Burke das protestantisch-religiöse Element. Die Richtung des ausgeprägten Protestantismus, welche in den Neuenglandkolonien die Herrschaft inne hatte, stehe mit der Idee der politischen Freiheit in einer unlöslichen Verbindung. Die Abneigung der protestantischen radikalen Sekten gegen allen staatlichen Absolutismus sei zwar nicht durch ihre dogmatischen Lehren von vornherein bedingt, aber durch die geschichtliche Entwicklung hervorgerufen worden. Der katholischen Religion und auch dem Anglikanismus sei es möglich, mit einem autoritären Staatswesen auszukommen, „aber die Sekten (dissenting interests)," schreibt er, „sind in unmittelbarem Gegensatz zu allen gewöhnlichen Gewalten der Welt emporgewachsen und konnten diesen Gegensatz nur durch nachdrückliche Berufung auf die natürliche Freiheit rechtfertigen. Ihre unmittelbare Existenz hing von der kraftvollen uneingeschränkten Durchsetzung dieses Anspruchs ab. Jeder Protestantismus, auch der kühlste und untätigste, bedeutet eine Art von Widersprechen (dissent). Aber die Religion, die in den nördlichen Kolonien vorherrscht, ist auf den Grundsatz des Widerstandsrechts gebaut: sie stellt ein Widersprechen innerhalb des Widersprechens (dissidence of dissent) und den Protestantismus innerhalb der protestantischen Religion d a r . . . Die Kolonisten verließen England, als dieser Geist auf seiner Höhe stand und in den Auswanderern lebte er am allerkräftigsten." In den weiter südlich gelegenen Pflanzerkolonien sei freilich die Herrschaft des protestantischen Sektentums keine gleich unbedingte, dafür trete hier ein anderer Faktor ein, der einen Freiheitsstolz von noch schärferer Art erzeuge: das Standesbewußtsein einer sklavenhaltenden Aristokratie. Freiheit werde in diesen Gebieten nicht so sehr als ein allgemeines, jedem Menschen zukommendes Gut, denn als eine Art von gesellschaftlichem Vorrecht betrachtet. „So waren die Freistaaten des Altertums gesinnt, so auch unsere gotischen Vorfahren und in unseren Tagen die Polen. So werden alle Sklavenhalter denken, die nicht selbst Sklaven sind. In einem solchen Volk bindet sich der Hochmut des Herrentums mit der Freiheitsgesinnung, festigt diese und macht sie unbesieglich."
182 Burkes Analyse der bestimmenden Wesenszüge des amerikanischen Volkstums ist eine erstaunliche Leistung. Seine Sätze enthalten schon beinahe alle Ergebnisse der späteren geschichtlichen Betrachtung dieser Fragen. Die religiösen Wurzeln des freiheitlichen Denkens in den Neuenglandkolonien, das dem Geist des Feudalherrentums nahverwandte Selbständigkeitsgefühl der Pflanzer von Virginia und Carolina, der Einschlag des Juristen- und Advokatengeistes in dem Leben und den Einrichtungen des jungen Nordamerika, die Förderung der wirtschaftlichen und staatlichen Selbständigkeitstriebe durch die Besonderheit der geographischen Bedingungen — keiner der Zeitgenossen Burkes diesseits oder jenseits des Atlantischen Ozeans hat es verstanden, diese Elemente und ihr Zusammenwirken mit solcher Bestimmtheit und Klarheit zu zeichnen, wie es Burke in seiner großen Rede tat. Der alte Pitt schleuderte bei seinem Auftreten im Parlament wohl bisweilen Worte voll Feuer und Schwung heraus, um den Freiheitssinn der Kolonien zu preisen und mahnend an ihre Bedeutung für die Zukunft des ganzen Reiches zu erinnern, aber solche Aeußerungen sind denkwürdiger als bezeichnende Eruptionen seiner Persönlichkeit wie rein nach ihrem sachlichen Inhalt genommen. Die literarischen Wortführer 1 ) der Amerikaner anderseits, die Adams, Dickinson und Franklin, wußten in diesen Jahren ihre Sache wohl mit Treffsicherheit, Lebhaftigkeit und teilweise auch mit einem bewundernswerten Instinkt für alle taktisch diplomatischen Möglichkeiten des betreffenden Augenblicks zu verfechten, aber ihre Gedankenführung hält sich in einer anderen Sphäre. Burkes Blick drang in eine tiefere Schicht der großen Frage vor als der ihre. Nur John Adams, der rührigste Organisator des amerikanischen Widerstandes und später George Washingtons erster Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl der Union, hatte es einige Jahre vor Burke einmal versucht 2), den Gegensatz des Freiheitssinns der Kolonien und der autoritären Kräfte des Mutterlandes auf einem universalx)
Siehe über sie W. C. Tyler, Literary History of the American Revolution, 2 Bände, London, New Y o r k 1897. *) In einer sowohl in den Kolonien wie in London veröffentlichten Schrift: A Dissertation on the Canon and Feudal Laws (John Adams, Life and Works, 1856, III, S. 446 bis 464). Ursprünglich Artikelserie in der Boston Gazette 1765, abgedruckt London Chronicle. 1768 als Broschüre veröffentlicht.
183 geschichtlichen Hintergrund zu schildern. Es ist lehrreich, sein Bild neben dasjenige Burkes zu stellen. Nach Adams' Auffassung haben zwei böse Mächte in der Weltgeschichte seit Beginn des Christentums eine unheilvolle Rolle gespielt: das hierarchische Herrschaftssystem der römischen Kirche einerseits, die militärisch-feudale Organisation der weltlichen Gewalt anderseits. Beide Mächte lebten in einem engen Bündnis miteinander, das ihre Gefährlichkeit und erstickende Zwangsgewalt noch gesteigert habe. Adams benennt diese Verbindung ,.System der kanonischen und feudalen Gesetze". Erst durch die Reformation habe die natürliche Freiheit des Menschen gegenüber diesen Mächten einer finsteren Unterdrückung wieder Atemraum gewonnen, denn durch die Reformation habe sich in Europa, zumal in England, das Wissen verbreiten können. In England sei sodann unter der verfluchten Rasse der Stuarts der offene Kampf zwischen der Freiheit und dem kanonisch-feudalen System entbrannt. „Dieses große Ringen hat Amerika seine Bevölkerung gegeben," fährt John Adams fort. „Nicht die Religion allein, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern Liebe zu allgemeiner Freiheit, sowie Haß, Schrecken und Schauder vor dem genannten höllischen Bündnis führten zu dem Plan, Amerika zu besiedeln und zu dessen Verwirklichung und Vollendung." Das Staatswesen der amerikanischen Puritaner sei darum in einem unmittelbaren, bewußten Gegensatz zu den feudalen und kanonischen Gesetzen aufgebaut worden. Die Puritaner kamen seinerzeit zu der Erkenntnis, daß die Volksgewalt ein starkes Gegengewicht gegen die Befugnisse des Herrschers und der Priester bilden müsse, wenn der Staat nicht zur „babylonischen Hure", d. h. zu einer Organisation des Unrechts und der Gewak entarten sollte. Den besten Schutz der Freiheit und ihre schärfste Waffe gegen die trügerischen Nebel der Priesterlehren, in welche die feudale Monarchie eingehüllt sei, bilde das Wissen. In den amerikanischen Kolonien werde es darum durch Colleges, Dorfschulen und die Presse mit Recht eifrig gefördert. In dem englischen Mutterland sei der Geist der kanonischen und feudalen Gesetze zwar im Laufe der Zeit zurückgedrängt worden, aber ausgerottet sei er keineswegs. Augenblicklich habe man sich gegen einen neuen Vorstoß dieser verderblichen Kräfte zu wehren, von deren Geist offensichtlich das Stempelgesetz diktiert sei. Dieses habe
184 den Zweck, die Ausbreitung des Wissens in Amerika durch Besteuerung der Druckschriften nach Möglichkeit zu erschweren, und sei der erste Schritt in einem planmäßigen Unternehmen, die von den Vätern überkommene Freiheit Amerikas zunichte zu machen. Adams ruft deswegen seine Landsleute zu einer mit allen Mitteln des Geistes geführten Gegenwehr auf: „Haben wir den Mut, zu lesen, zu denken und zu schreiben. Studieren wir das Gesetz der Natur und erforschen wir den Geist der englischen Verfassung; lesen wir die Geschichte vergangener Zeitalter; betrachten wir die großen Vorbilder von Griechenland und Rom; stellen wir uns unsere eigenen englischen Vorfahren vor Augen, die für uns die angeborenen Menschenrechte gegen einheimische und fremde Tyrannen, gegen despotische Könige und grausame Priester, kurz gegen die Pforten der Erde und Hölle verteidigt haben . . . Laßt die Kanzeln von den Lehren und Gesinnungen der religiösen Freiheit widerhallen . . . Mit einem Wort, öffnet alle Schleusen des W i s s e n s I" *) In John Adams' Schrift hat sich die Verbissenheit des Puritaners auf eine sonderbare Weise mit dem Rationalismus und der Kirchenfeindlichkeit des Aufklärers und den Kniffen eines journalistischen Demagogen verbunden. Diese an so vielen Stellen mit tendenziösem Halbwissen belastete geschichtsphilosophische Konstruktion war neben den Ausführungen Burkes der einzige Versuch, zu einer tieferen Auffassung der Kräfte zu gelangen, welche den Streit zwischen England und seinen nordamerikanischen Kolonien hervorgerufen hatten. Doch wie weit bleibt John Adams hinter Edmund Burke zurück, dessen *) Bemerkenswert ist, daß Adams bei seinen Darlegungen bereits Rousseaus Contrat social zitiert (S. 454). Auch dies eines der Zeichen fflr die Wechselwirkung, welche zwischen der politischen Ideenwelt Frankreichs und derjenigen Amerikas in diesen Jahrzehnten festzustellen ist. Die Beeinflussung ist nicht eine einseitige (Amerika gebend, Frankreich nehmend), sondern die Faden laufen herüber und hinüber. — Georg Jellinek hat den Nachweis geführt, daß die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 von den amerikanischen „Declarations of Rights" von 1776ff. abhängig ist (Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. Aufl. 1904). Die weitere Forschung wird sich die Frage zu stellen haben, in welchem Grade diese amerikanischen Erklärungen ihrerseits schon von französischem Gedankengut beeinflußt worden sind.
185 politische Seh- und Darstellungskraft bei dieser Gelegenheit einen Zug von Genialität besitzt. Eine allgemeine Geschichte des politisch-historischen Anschauungsvermögens und seiner Wandlungen würde an der Rede über die „Versöhnung mit Amerika" schwerlich vorübergehen dürfen. Dem Staatsmann wie dem Geschichtschreiber ist die Aufgabe gestellt — obschon beiden in verschiedener Weise —, aus splitterhaften Berichten und zufälligen Einzelvorgängen die großen tragenden Kräfte eines politischgesellschaftlichen Gebildes zu erkennen, welche dessen Gegenwart und Zukunft bestimmen. Den fernen amerikanischen Kolonien gegenüber, die er im Leben niemals sah, hat Burke diese Aufgabe meisterlich gelöst. Wer Burkes hohe Meinung von der Energie, Widerstandskraft und dem unaufhaltsamen Wachstum der Kolonien teilte, für den ergab sich als unabweisbare Folgerimg, daß die Anwendung von Gewaltmitteln gegen sie aus realpolitischen Gründen abgelehnt werden mußte. Burke glaubte zwar, daß die Uebermacht des Mutterlandes die Amerikaner zunächst niederzuwerfen vermöge; er war darum wie alle Welt später überrascht, als sich die militärische Gegenwehr der Aufständischen so hartnäckig und wirksam erwies. Aber von vornherein war er sich darüber klar, daß auch das völlige Gelingen eines Niederwerfungskrieges und die gewaltsame Eroberung der Kolonien die Streitfrage selbst nicht aus der Welt schaffen werde. Der Widerstand eines stetig anwachsenden, tatkräftigen und selbstbewußten Volkes, wie des amerikanischen, werde immer wieder aufflammen und der Konflikt dann samt allen Schwierigkeiten von neuem da sein. Außer dem unmittelbaren gewaltsamen militärischen Angriff wurde damals in England noch ein zweites Verfahren erwogen, die Kolonisten zur Unterwerfung zu zwingen. Es war dies der sogenannte „war by distress", d. h. der Plan, mit Hilfe der englischen Flotte das Wirtschaftsleben der Kolonien nach Möglichkeit durch Sperren und Schikanen lahm zu legen und die Amerikaner auf solche Weise allmählich mürbe zu machen. Diese Methode wurde später (vor allem auf Betreiben König Georgs) in der Tat angewandt, als die Versuche der Engländer, die Kolonisten mit offener Gewalt in ihrem eigenen Lande niederzuringen, in den Feldzügen der Jahre 1776/78 gescheitert waren. Burke betrachtete
186 ein solches Vorgehen von Anfang an als sinnlos. Nach seiner Ueberzeugung konnte es nur dahin fuhren, daß Englands Kraft und Wohlstand zum Vorteil und zum Behagen anderer Nationen vermindert wurde. Er erklarte es für eine Kurzsichtigkeit, wenn England sich als einen Konkurrenten seiner eigenen Kolonien fühle und glaube, aus deren wirtschaftlichen Verlusten einen Gewinn zu ziehen. Krieg und Gewalt würden darum die Schwierigkeiten nicht beseitigen, sondern dies vermöge allein die Wiederkehr des friedlichen Zustandes zu vollbringen, der vor dem Erlaß der Stempelakte geherrscht habe. Vor dem Ausbruch des Streites über die Besteuerung habe das Verhältnis der Kolonien zu dem Mutterlande auf der Grundlage des Vertrauens beruht. Damit ist Burke zu seinem Stichwort für die Lösung der englisch-amerikanischen Frage gelangt. Nach seiner Ueberzeugung kann allein das Vertrauen der Bevölkerung über die Widersprüche und Unebenheiten hinwegführen, welche sich in großen alten und komplizierten Staatsgebilden notwendig bilden müssen. Darum erklärte er es für die wichtigste Aufgabe der englischen Staatskunst, jetzt das im Verlaufe des Streites verloren gegangene frühere Vertrauen der Amerikaner aufs neue herzustellen. Ganz fest müsse man den Blick auf d i e s e s Ziel gerichtet halten und ihm alle politischen Maßregeln anpassen. Keinem englischen Staatsmann werde die Lösung gelingen, der sich den Amerikanern gegenüber in den leidigen Rechtsstreit der letzten Jahre verbeiße. Der Weg zum guten Ende führe Uber die Grundsätze der staatlichen Zweckmäßigkeit — Burke betont dabei, er wolle diese nicht in dem engen Geist von Kleinkrämern und Subalternbeamten verstanden wissen. Sobald es geglückt sei, den tatsächlichen Ausgleich zwischen England und den nordamerikanischen Kolonien zu schaffen und den früheren friedlichen Zustand zu erneuern, werde der Rechtsstreit, der jetzt so viel Lärm errege, von selbst gegenstandslos werden. Darum sei es eine falsche Taktik, ihn jetzt als die Hauptsache zu behandeln. Burke erklärte rundweg, daß er von den hitzigen Diskussionen Uber den Umfang der theoretischen Souveränitätsrechte, welche Krone und Parlament über die Kolonien besaßen, gar nichts halte. Auch in der amerikanischen Frage tritt seine instinktive Abneigung gegen allen theoretischen Formalismus in Politik und Staatsleben
187 unverhüllt hervor. „Ich lasse mich hier nicht auf Rechtsunterscheidungen ein und versuche nicht, da Grenzen zu setzen; mit diesen metaphysischen Unterscheidungen will ich nichts zu tun haben; jedes Wort davon ist mir verhaßt," heißt es in der Rede über Amerikas Besteuerung. Das Mutterland solle sich begnügen, Kolonien wie früher nur durch Handelsbestimmungen zu binden und solle keine Steuern in ihnen erheben. Warum? Weil auch früher keine erhoben wurden. Dieser lediglich empirisch-geschichtliche Grund gibt für Burke den Ausschlag. „Solches sind die Gesichtspunkte für Staaten und Königreiche, die übrigen überlaßt den Schulen, denn nur dort können sie ohne Schaden diskutiert werden." ') Durch spitzfindige Folgerungen und gehässige Auslegungen werde die Souveränität Uber die Kolonien keineswegs gestärkt, sondern ganz im Gegenteil zersetzt und in Frage gezogen. „Wenn Ihr den Eber hart verfolgt, wird er sich den Jägern zum Kampfe stellen. Wenn Eure Souveränität und die Freiheit der Kolonisten sich nicht ausgleichen lassen, welches von beidem werden sie wählen? Sie werden Euch Eure Souveränität ins Gesicht schleudern ! Niemand läßt sich in die Knechtschaft hineinargumentieren." ') Nach Burkes Ansicht gibt es überhaupt kein abstraktes Recht, dessen Anwendung nicht unter bestimmten Umständen zu grellem Unrecht wird. Vom politischen Standpunkt aus findet er deswegen gar keinen Sinn darin, das Recht in abstracto zu betrachten. Denn die Durchführung aller Gesetze und jegliche gesetzliche Autorität ist von der Richtung abhängig, welche die Ueberzeugung des betreffenden Volkes nimmt.®) Ebensowenig gibt es eine rein abstrakte politische Freiheit. Das bestimmende Merkmal einer freiheitlichen Regierung ist in der Praxis dies, daß sie von ihrem eigenen Volk l
) On American Taxation.
*) Ebenda; vgl. Conciliation with America: „ . . . A n Englishman is the unfittest person to argue another Englishman into slavery." *) Letter to the Sheriifs of Bristol: „General opinion is the vehicle and organ of legislative omnipotence." Vgl. ,,To follow, not to force the public inclination; to give a direction, a form, a technical dress and a specific sanction to the general sense of the community, is the true end of legislature." — In «inem andern Zusaramenhang sagt Burke: „Obedience is what makes government and not the names by which it is called" (Conciliation with America).
188 für frei gehalten wird.i) Jedes Volk mißt seine Freiheit an irgend einem äußeren Zeichen. In den Freistaaten des Altertums waren das die Bestimmungen Uber die Beamtenwahlen oder die Rechtsbefugnisse der einzelnen Stande, bei den Engländern ist es das Recht, die Steuern zu bewilligen oder zu verweigern. Und wie die Engländer denken auch ihre Blutsverwandten, die Kolonisten in Nordamerika. Hieraus ergebe sich für die englische Politik das Gebot, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Wenn mein zu einem Ausgleich kommen wolle, müsse diese empfindlichste Stelle der Amerikaner aller unsanften Berührung entzogen sein. Burke beschwört darum das Parlament, die Frage der Besteuerung durch einen klaren Widerruf aus dem Spiele ganz auszuschalten. Alles komme darauf an, daß der Zusammenhalt des britischen Reiches bewahrt bleibe, der nicht auf äußerlichen Verwaltungsmaßregeln und wirtschaftspolitischen Bestimmungen beruhe, sondern auf der geistigen Einheit, die in der englischen Verfassung ihr Symbol habe. Ein Knechtschaftsverhältnis könnten die Kolonisten auch durch Anschluß an einen anderen Staat finden, „bei Spanien, bei Preußen oder irgend einer anderen Macht", die Freiheit dagegen habe nur England zu vergeben. Es hänge alles davon ab, daß die Amerikaner nicht durch kurzsichtige Maßregeln des Mutterlandes in diesem Glauben erschüttert würden. Denn solange die Kolonien der festen Ueberzeugung seien, daß ihre eigenen Freiheitsrechte in einem unlöslichen Zusammenhang mit der Verfassung des englischen Stammvolkes stehen, solange werde keine Macht der Erde sie von England losreißen können. „Dies sind die Bande, so leicht wie Luft, aber so stark wie Eisenketten." . . . „Solange Ihr die Weisheit habt, die Souveränität unseres Landes als das Heiligtum der Freiheit zu bewahren," heißt es weiter an der betreffenden Stelle *) (und hier zeigt sich die bezeichnende ethisch-religiöse Färbung des englischen Patriotismus, dessen sprachliche Ausdrucksmittel vom alten Testament beeinflußt sind), „als den heiligen Tempel, der unserem gemeinsamen Glauben gewidmet ist, in dem für alle Zeit ') Letter to the Sheriffs: „Ii any ask what a free government is, I answer, thar for any practical purpose it is what the people think so; and that they and not I are the natural, lawful and competent judges of this matter." *) Conciliation.
189 das auserwählte Volk der Söhne Englands der Freiheit dient, solange werden sie ihre Augen auf Euch gerichtet halten. Je großer ihre Volkszahl wird, desto mehr Freunde werdet Ihr besitzen; je feuriger sie der Freiheit zugetan sind, desto vollkommener wird ihr Gehorsam sein." Wenn sich dagegen durch eine verkehrte Politik der Londoner Regierung zwischen den freiheitlichen Privilegien der Kolonisten und der englischen Oberhoheit ein Riß auftut, dann werde der Bann gebrochen sein, das Zugehörigkeits gefiihl der Amerikaner erkalten und der Zerfall des englischen Reiches, „einer der allerbesten und schönsten Schöpfungen Gottes" *) die weitere Folge sein. Burke besprach die amerikanische Frage als englischer Staatsmann, nicht als Anwalt der Kolonisten. Er versuchte es darum nicht, die Schwierigkeiten wegzudisputieren, welche sich auch dem Versuche einer friedlichen Lösung entgegenstellen mußten und in dem natürlichen Gegensatz zwischen den Herrscher- und Machtgefühlen des englischen Volkes auf der einen Seite und dem freiheitlichen Selbstbewußtsein und jugendlich-unbändigen Stolz der aufblühenden amerikanischen Kolonien auf der anderen Seite begründet waren.*) Doch war Burke der festen Hoffnung, daß bei einem Kompromiß zwischen den beiderseitigen Ansprüchen keine der beiden Parteien wirklich wesentliche Grundsätze aufzugeben brauchte. Er verwarf die Ideen George Grenvilles, der die Ansprüche der kolonialen gesetzgebenden Versammlungen zugunsten des Parlaments hatte vernichten wollen, um auf diese Weise die formale Einheit des britischen Reiches zu sichern. Das „Reich" war nach Burkes Auffassung von einem Einzelstaat (also auch dem Königreich Großbritannien) seiner Wesensart nach verschieden. Ein Reich ist nach seiner Definition ein Aggregat vieler Staaten unter einem gemeinsamen Haupt; dies Haupt kann ein Monarch oder eine leitende Republik sein.3) In einem derartigen Reich gibt *) American Taxation, Ende. *) Letter to the Sheriffs: „The difficulty of reconciling the unwieldy haughtiness of a great ruling nation, habituated to command, pampered by enormous wealth, and confident from a long course of prosperity and victory, to the high spirit of free dependencies, animated with the first glow and activity of juvenile heat, and assuming to themselves as their birthright, some part of that very pride which oppresses them." *) Conciliation: ,,An empire is the aggregate of many states under one common head; whether this head be a monarch or a presiding republic."
190 es viele Privilegien und Ausnahmerechte der einzelnen untergeordneten Staaten, welche sich mit der gemeinsamen höchsten Autorität der Reichsleitung zuweilen schwer in Einklang bringen lassen und zu Mißhelligkeiten und Erbitterung Anlaß geben. Aber gerade der Ausdruck „Privilegien" erweist, daß die Oberherrlichkeit der Reichsleitung im Grundsatz anerkannt wird. Denn von „Privilegien" eines Staates zu reden, der völlige Selbständigkeit besitzt, sei sinnlos. Das britische Reich ist nach Burkes Auffassung eine Staatenverbindung, deren gemeinsame Spitze die Krone von Großbritannien darstellt. Damit steht in Zusammenhang, daß Burke dem Parlament zweierlei Funktionen zuschreibt.i) Das Parlament ist nach seiner Lehre erstens die gesetzgebende Instanz für den Staat Großbritannien und der Faktor, welcher die Volksrechte gegenüber der großbritannischen Krone vertritt. Außer diesem lokalen, einzelstaatlichen Charakter trägt das Parlament zweitens noch einen Reichscharakter: es stützt und vertritt die königliche Autorität innerhalb des Reiches und nimmt in ihm die Souveränitätsrechte der Krone wahr. In dieser Befugnis beaufsichtigt und leitet es die gesetzgebenden Versammlungen der untergeordneten Staaten, doch ohne irgend eine davon zu vernichten. Dies letzte ist ein sehr wesentlicher Punkt. Da die provinzialen Legislaturen einander alle gleichgeordnet sind, müssen sie — so führt Burke aus — dem Parlament notwendig untergeordnet sein, damit Friede, Gerechtigkeit und Hilfeleistung zwischen den einzelnen Reichsteilen gesichert bleiben. Aufgabe des Parlaments ist es daher, „durch seine übergeordnete Vollgewalt die Nachlässigen zu strafen, die Gewaltsamen zurückzuhalten und die Schwachen zu unterstützen." Nie soll es sich an die Stelle der abhängigen Gewalten setzen, solange diese die Zwecke erfüllen, um derentwillen sie geschaffen sind. Doch um all den Aufgaben einer vorsorglichen und wohltätigen Oberaufsicht genügen zu können, müssen die B e f u g n i s s e des Parlaments schrankenlos sein.2) So lenkt Burkes ^Gedankengang hier wieder in die Verteidigung von Lord Rockinghams Declaratory Bill ein, die erklärt hatte, daß die vom Parlament erlassenen Gesetze und Bestimmungen „in allen Fällen ohne Aus*) Taxation; Letter to the Sheriffs. 2 ) Taxation.
191 nähme" — also auch in Steuerfragen — bänden. Burlte betont jedoch, dies bedeute (ähnlich wie das Vetorecht des Königs) lediglich eine Art Reserverecht, das nur in Ausnahmefällen hervorgeholt werden solle. Niemals dürfe das Parlament sich seiner in erster Instanz bedienen. Wenn Steuerbeiträge zu leisten seien, solle man sich immer zunächst an die Provinzialversammlungen wenden und ihrem guten Willen vertrauen, der in den früheren Zeiten, zumal im letzten Krieg gegen Frankreich, nicht versagt habe. Den ersten Schritt zur Versöhnung müsse England tun, gerade weil es in dem Streit der stärkere Teil sei und deshalb Entgegenkommen zeigen könne, ohne den Anschein der Furchtsamkeit zu erwecken und seine Stellung bei dem Ausgleich daher von vornherein zu verschlechtern. Freilich geht Burke nicht so weit, über die Aufnahme versöhnlicher Vorschläge Englands in den Kolonien bestimmte Voraussagen zu wagen. „Es ist unmöglich," erklärte er, „sich für ganze Menschengruppen zu verbürgen. Aber ich bin sicher, die natürliche Wirkung von Treue, Milde und Güte von Seiten der Regierenden ist Friede, guter Wille und Achtung bei den Regierten. Ich würde jedenfalls solchen offenen und ehrlichen Prinzipien einmal freies Feld zur Probe geben." Es sind, wie man sieht, Beweisführungen der allerverschiedensten Art, durch welche Burke das Parlament von seiner Ziellosigkeit in der amerikanischen Frage abzubringen sucht. Die Sphären nüchternster Realpolitik bis zu denen eines unbeweisbaren ethischen Optimismus liefern ihm die Erwägungen und Gesichtspunkte, um seine Sache zu vertreten. Für die historische Erkenntnis ist es notwendig, sie zu sondern und nebeneinanderzusetzen, aber der eigentlichste Reiz der beiden Amerikareden Burkes geht durch ein solches Verfahren verloren. Denn in diesen rauschen die politischen Gedanken ohne feste Regel heran, wie die Wellen eines bewegten Sees, gleich und doch ungleich, ewig regsam, ständig sich wandelnd und doch dieselben. Stundenlang vermögen sie Auge und Sinn zu bannen. Die Eigentümlichkeiten des Burke'schen Denkens, die wir in seiner Stellungnahme zu den englischen Verfassungsfragen bereits kennen gelernt haben, zeigen sich in seiner Auffassung der amerikanischen Angelegenheit sämtlich aufs neue. In Burkes Kampf gegen die französische Revolution, zwei Jahrzehnte später,
192 werden sie in verschärften Formen nochmals sichtbar: die Betonung der „Staatsmannsklugheit" und einer in großem Sinn verstandenen staatlichen „Zweckmäßigkeit" gegenüber einem starren Juristengeist und der Unbeweglichkeit formaler Rechtssatze; das instinktive Mißtrauen gegen alles spitzfindige Durchhecheln staatlich-gesellschaftlicher Grundbegriffe — ein Gefühl, das sich zumeist in raschen Sprüngen zu ausgesprochenem Abscheu steigert; ein warmes und innerlich echtes Empfinden für die Freiheitsideale des eigenen Volkes und stolze Befriedigung über deren Leben und Wirken in dem Bau und dem Wachstum des weitgedehnten britischen Reichs. Nur einen unter Burkes Lieblingsgedanken konnte man nach dem Gesagten in seinen Aeußerungen Uber die amerikanische Frage vermissen: den Hinweis auf die vorbildliche Weisheit der Vorfahren. Doch auch dieser Ton wird in der Rede über die „Ver söhnung mit Amerika angeschlagen. „Ich begann mit einem völligen Mißtrauen gegen meine eigenen Fähigkeiten," so berichtet Burke über die Entstehung seines Versöhnungsplanes, „einem gänzlichen Verzicht auf alle eigenen Spekulationen und einer tiefen Verehrung für die Weisheit unserer Ahnen, die uns eine so glückliche Verfassung und ein so blühendes Reich vererbt haben und (was noch tausendmal wertvoller ist) den Schatz der Grundsätze, welche jene formten und dieses errangen." Burke geht darum von einer Reihe von Präcedenzfällen aus dem Spätmittelalter aus, in denen das Parlament mit Großzügigkeit, Klarheit und Sachlichkeit berechtigten Beschwerden untergeordneter Gebiete Genüge tat. Soweit er nur irgend kann, übernimmt Burke den Wortlaut dieser alten Parlamentsbeschlüsse für seine Anträge in der amerikanischen Frage unverändert. „Ich wagte nicht, auch nur ein Teilchen des ehrwürdigen Rostes abzureiben, der das Metall eher schmückt und erhält als es zerstört. Ich wollte nicht mit moderner Politur die edle Rauheit dieses wahrhaft verfassungsmäßigen Materials zerstören," erklärt er mit romantisch-antiquarischem Liebhaber- und Sammlergefühl. „Ich trete in die Fußtapfen unserer Vorfahren, wo ich weder irre gehen noch stolpern kann." Burkes große Amerikarede vom März 1775 lief in den Antrag aus, in der Steuerfrage durch eine ausdrückliche Parlamentserklärung wieder zu der von altersher bewährten Methode zurück-
193 zukehren, d. h. sich an die Bewilligungen der amerikanischen Provinzialversammlungen zu halten, den Teezoll und ebenso die 1774 gegen Massachusetts erlassenen Zwangsgesetze aufzuheben. Einen halbherzigen Versuch, welchen Lord North wenige Wochen vorher unternommen hatte, in der Steuerfrage mit den Kolonien zu einem Ausgleich zu kommen, verwarf Burke als trügerisch, ungenügend und technisch undurchführbar.1) Die Gefühle des Parteimannes gegenüber dem Gegner und sachliche Ueberzeugung hatten am Zustandekommen dieses Urteils einen gleich großen Anteil. Im Unterhause fanden Burkes Darlegungen und Mahnungen trotz allem taube Ohren. Die Mehrheit verharrte weiterhin starr auf dem Rechtsstandpunkte, sprach von der Würde des Parlaments und seiner Autorität, von der man nichts ablassen dürfe und lehnte Burkes Resolution mit 270 gegen 78 Stimmen ab.1) In Form eines Gesetzesvorschlages brachte Burke seine Anträge im folgenden Herbst noch einmal ein, auch dieses Mal ohne Erfolg. Nach einer die ganze Nacht währenden Debatte wurden sie vom Unterhause wiederum abgelehnt. Ohnehin waren sie damals durch die Weiterentwicklung der Lage in Amerika schon überholt. Gerade gegen die „Declaratory Bill" Lord Rockinghams, welche Burke und seine Genossen aus Gefühlen der Partei-Ehre nicht aufgeben wollten, x
) Lord North hatte im Unterhaus unter den größten Schwierigkeiten {da der Abfall des entrüsteten intransigenten Flügels der Regierungsgefolgschaft drohte, vgl. Gibbon, Brief vom 25. Februar 1775, Miscellaneous Works 1796, II, S. 161) eine Resolution durchgesetzt, wonach das Parlament bei -denjenigen Kolonien sich einer Besteuerung von seiner Seite enthalten wollte, welche ihrerseits einen Beitrag zu den Kosten der Reichsverteidigung anbieten würden und bereit seien, die Kosten der Rechtsprechung und Verwaltung in ihrem eigenen Gebiet zu decken. Die Voraussetzung sei dabei, daß die Vorschlage der betreffenden Kolonien ihrer Leistungsfähigkeit entsprächen und die Billigung des Parlaments fänden. Burkes Kritik: Pari. Hist. X V I I I , S. 3 3 5 f f . und in „Conciliation with America". Burke erklärt, die von North vorgeschlagene Maßregel laufe auf ein Lösegeld der Kolonien hinaus, das durch Auktion in den Amtszimmern des Ministeriums festgesetzt werde. E s fehle für dieses Vorgehen jedes Vorbild und jede Wurzel in der Verfassung. Technisch sei der Plan undurchführbar, da endlose Verhandlungen mit jeder der 24 Kolonien notwendig seien, bis die „angemessene" Höhe des Steuerbeitrags einer jeden festgesetzt sei. *) Pari. Hist. X V I I I , S. 538ff. Lennox, Edmund Burke.
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194 hatte sich unterdessen der amerikanische Protest ausdrücklich konzentriert.1) „Die Wende zwischen Krieg und Frieden," schrieb Burke im August 1775 an Lord Rockingham, „ist eine gefährliche Konjunktur für Minister; die klare Entscheidimg des einen oder des anderen Zustandes gibt ihnen dagegen eine ziemlich sichere Stellung. Sobald ihre Sache, wenn auch noch so verrückter Weise, zur Sache der Nation gemacht wird, wird die Stimme der Menge mit ihnen sein. Dann wird es heißen, daß ihre Hand durch ein uneingeschränktes Vertrauen gestärkt werden muß . . . Die winzige Stimme der Vernunft wird sich nicht vernehmlich machen können . . . Was bleibt uns dann übrig, als unter dem Stirnrunzeln des Hofes und den Pfiffen der Menge den dünnen Faden einer grämlichen und tadelsüchtigen Opposition fortzuspinnen, unwert unserer Sache und unserer selbst und ohne Ansehen, Zustimmung und Beliebtheit bei der Nation?"*) Burkes Befürchtungen trafen im wesentlichen ein. Der Krieg brach aus und ging seinen Weg. Die Regierung saß sicher, was für Nachrichten auch aus Amerika anlangen mochten. Die Kaufmannschaft, welche früher in der amerikanischen Frage auf eine Politik des Entgegenkommens hingedrängt hatte, war befriedigt, als die Regierung ihr durch Aufträge von Kriegslieferungen einen Ersatz für den verlorenen Handel mit den Kolonien hingeworfen hatte. Die Kirche und die Juristenschaft stand entschlossen hinter der Regierung, ebenso der größere Teil des Agrariertums. Nur die Londoner City setzte ihre alte Opposition gegen das Ministerium fort. Die paar Mitglieder des Hauses der Lords oder der Gemeinen, welche als Gegner des Krieges bekannt waren, konnten einer geschlossenen Mehrheit gegenüber den Gang der Ereignisse in keiner Weise beeinflussen. Sie hatten zwischen resigniertem Schweigen oder erfolglosen Protesterklärungen zu wählen. Erst der klägliche Ausgang der militärischen Unternehmungen gegen die Kolonien gab ihnen Pari. Hist. X V I I I , S. 963 bis 992. — In der Kampf erklä rung des amerikanischen Kongresses vom Frflhjahr 1775 hieß es: „ B o t why should we enumerate our injuries in detail ? B y one statute it is declared that Parliament can „of right make laws to bind us in all cases whatsoever". What is to defend us against so enormous, so unlimited a p o w e r ? . . . " *) Burke, Correspondence I I , S. 46 f f .
195 schließlich neues Gewicht. Der politische Katzenjammer des Winters 1781/82 führte den Sturz des Ministeriums North herbei und setzte Lord Rockingham an dessen Stelle, um den aussichtslosen Krieg endlich abzuschließen. Zehn Jahre lang hatte das Parlament freie Hand gehabt, die Lösung der amerikanischen Frage von sich aus zu unternehmen. Vom Herbst 1775 an entschieden andere Mächte die Entwicklung: das Bürger- und Bauernheer des Generals Washington und die Unternehmungslust des Pariser Hofes, wo nunmehr der alte schlaue Benjamin Franklin im Auftrage seiner Landsleute erfolgreich seine diplomatischen Fäden spann. Aus diesem Grunde ist es unnötig zu berichten, welche Stellung Edmund Burke während des Krieges zu den einzelnen Ereignissen und Maßregeln eingenommen hat. Nach Lage der Dinge hatten seine Worte keinen Einfluß auf die Geschehnisse und sind auch nicht auf indirektem Wege später geschichtlich wirksam geworden. Neue Züge seiner Persönlichkeit und seines Denkens treten dabei ebenfalls nicht auf. Das Wesentliche ist, daß er und seine Parteigenossen an ihrer Stellungnahme von 1774/75 entschieden festhielten und den Kampf gegen die Kolonisten aus grundsätzlichen politischen Erwägungen verurteilten, gleichviel, ob aus Amerika englische Siegesmeldungen eintrafen oder das Gegenteil. Unverhohlen setzten sie sich dem Kriegstaumel um sie her und all dem leeren gedankenlosen Gerede von „Macht" und „Zwang", welcher die Kolonisten schon klein und gefügig machen werde, entgegen. Mit scharfen Worten äußerte Burke, es gebe nichts Widerwärtigeres, als den Anblick eines Menschen, der sich in eigenen Angelegenheiten nicht allein helfen könne, von politischen Fragen ebensowenig verstehe wie von der Technik des Soldatenhandwerks und zur „Macht" keine anderen Beziehungen aufzuweisen habe, als seine Servilität gegen sie, und der doch, aufgeblasen von Hochmut und Anmaßung, nach Schlachten schreie, welche andere ausfechten müssen und nach einer Gewaltherrschaft verlange, die er gar nicht auszuüben imstande sei.1) „Ich würde mich schämen," schreibt er, ,,mit zu der lärmenden Menge zu gehören, welche die Regierung durch Beifallsgeschrei in zweifelhafte und gefahrvolle Lagen *) Letter to the Sheriffs of Bristol; ebenda die folgenden Citate.
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196 hineinhetzt." . . „Deklamationen über „Rebellion" haben unsere Militärmacht noch nie um ein Bajonett oder einen Schuß Pulver verstärkt ; doch ich fürchte, sie haben viele Musketen g e g e n uns in Bewegung gesetzt." Die unüberlegte und unbeherrschte Haltung der Nation habe ihr die Amerikaner, die sich zunächst nur der Regierungs- und Parlamentspolitik entgegengesetzt hatten, innerlich entfremdet und auf die Seite Frankreichs hinübergetrieben. Burke mahnte, doch nicht zu vergessen, daß es sich um einen Bürgerkrieg handle, der früher oder später durch einen Vergleich sein Ende finden müsse. Das allererste Erfordernis hierzu sei eine versöhnliche Stimmung. Auch die spezifisch whigistischen Ideale wurden durch den Kampf Englands gegen die nordamerikanischen Kolonien stark berührt. Mit Besorgnis sahen Burke, Fox und ihre Gesinnungsgenossen, wie die alten Freiheitsrechte mehr und mehr in Mißachtung und Gefahr gerieten. War es denn etwas anderes gewesen, als die Ideen der glorreichen Revolution von 1688, welche den Amerikanern die Waffen gegen das Mutterland in die Hand gedrückt hatten? „Die Freiheit ist in Gefahr, bei den Engländern unbeliebt zu werden," stellt Burke trauernd fest. „Im Kampfe um eine imaginäre Machtstellung ziehen wir den Geist der Herrschsucht in uns groß . . . Die Grundsätze unserer Vorfahren werden uns verdächtig, weil wir sehen, wie sie den gegenwärtigen Widerstand unserer Kinder beseelen." Was würde die Zukunft bringen, falls es dem König tatsächlich gelang, durch seine Militärmacht und die landfremden Söldner, die ihm die kleinen deutschen Despoten verkauft hatten, den Widerstand der Kolonien gewaltsam zu brechen? Welche Sicherheit besaß dann Englands eigene Freiheit noch? Es war den englischen Whigs ein unbehaglicher Gedanke, daß wenige Jahre zuvor in Schweden das Aristokratenregiment durch einen absolutistischen Staatsstreich des dortigen Königs über den Haufen geworfen worden war. Auch solche Erwägungen trugen das Ihre dazu bei, in den whigistischen Kreisen die Wünsche nach einem durchschlagenden Erfolg der britischen Waffen in Amerika entschieden zu dämpfen. Als im Februar 1778 die ersten Nachrichten von dem Abschluß der französisch-amerikanischen Allianz nach London drangen, und man sah, daß der bisherige koloniale Bürgerkrieg zu einem
197 Krieg auch in Europa führen werde, ließ die englische Regierung die Autoritätsgrundsätze fallen, um derentwillen sie in den amerikanischen Konflikt getrieben war. Unter dem dumpfen, peinlichbedrückten Schweigen aller Parteien brachte Lord North im Unterhause den Antrag ein, die Steuer- und Zwangsgesetze, gegen welche die Amerikaner seinerzeit Beschwerde erhoben hatten, aufzuheben und auf dieser Grundlage mit den Kolonien über den Frieden zu verhandeln.1) Sang- und klanglos trat North damit auf den Boden der Vorschläge Burkes vom Jahre 1775 hinüber. Aber die Zeit, in der solche Maßregeln Abhilfe gebracht hätten, war unterdessen längst verronnen. Seit zwei Jahren hatten die Kolonisten ihre volle Unabhängigkeit erklärt. Der amerikanische Kongreß war entschlossen, die Selbständigkeit zu behaupten und wies das englische Angebot darum ab. Seitdem der Kampf über die alten Streitpunkte von 1774/75 so weit hinausgegriffen hatte, vermochte ein Entgegenkommen in der Steuerfrage, wie Burke es gewollt hatte, die Lage nicht mehr für England zu retten. Der Gedanke der amerikanischen Unabhängigkeit kam Edmund Burke hart an. Seine Wünsche und Ideale von einem großen, einigen, freiheitlichen britischen Weltreich wurden dadurch ja unbarmherzig zerschnitten. Aber er war Staatsmann genug, um sich durch solche Empfindungen die Klarheit des Blickes für das Unvermeidliche nicht verdunkeln zu lassen. Schon im Jahre 1777 erklärte er, die amerikanische Unabhängigkeit ohne Krieg der gleichen Unabhängigkeit m i t einem Kriege vorzuziehen, wenn sie denn nicht vermieden werden könne. „Ich setze so viel Vertrauen auf die Neigungen und Vorurteile der Menschen und so wenig auf irgend etwas anderes, daß ich für unser Land zehnmal mehr Segen von der Zuneigimg Amerikas erwarte, selbst wenn es staatlich selbständig ist, als von einer vollkommenen Unterwerfung unter Krone und Parlament, die von Haß- und Abscheugefühlen begleitet ist." 0 Er empfand es tief, daß die Unabhängigkeit Amerikas für Englands Ruf und Interessen einen schweren Schlag bedeutete, aber „wenn ein Kartenspieler durch Ungeschick viel verloren hat, dann muß er sich dem Spiele anpassen, so wie es jetzt steht, damit Vgl. Annual Register 1778, S. i 3 i f . — Pari. Hist. X I X , S. 762ff. *) Letter to the Sheriffs of Bristol.
198 er nicht noch mehr verliert." ') Mit der gleichen Klarheit wandte er sich gegen die billigen Phrasen von der „Verräterei Frankreichs" und der „Undankbarkeit der Kolonien", die nach der Kunde von dem amerikanisch-französischen Bündnis in England laut wurden. Kühl erklärte er, ein solches Bündnis aufständischer Provinzen mit dem Hauptgegner ihres Herrscherstaates sei zu allen Zeiten etwas politisch Naturgemäßes gewesen. Vorwürfe seien da sinnlos. Aber freilich, nun solle England seinerseits mit Nachdruck gegen das feindliche Frankreich vorgehen und ihm Abbruch tun. Burke war bereit, der Regierung eine noch höhere Truppenzahl zu bewilligen, als sie selbst angefordert hatte, wenn diese Militärmacht nur auf einem anderen Kriegsschauplatze zur Verwendung käme als dem amerikanischen.8) Gegenüber dem Angriffe des französischen Erbfeindes waren alle englischen Parteien einig. *) Rede zum Heeretat, 14 Dezember 1778: Speeches I, S. 411 ff. Pari Hist. X X , 81 ff 2) Ebenda. — Bekannt ist das Auftreten des dem Tode nahen Pitt gegen den Versuch der Rockinghampartei, durch Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit zum Frieden zu gelangen; siehe Pitts berühmte letzte Rede im Oberhaus (7. April 1778), in der etwas von dem Ton der alten römischen Censoren widerklingt. Die Berichte darüber siehe Chatham, Correspondence IV, S. 5 i 9 f f : „Mylords, ich freue mich, daß das Grab sich nicht über mir geschlossen hat; daß ich noch lebe, um die Stimme gegen die Zerstückelung unserer alten edlen Monarchie zu erheben!. . . Solange ich Bewußtsein und Denkfähigkeit besitze, will ich niemals zustimmen, daß die königliche Nachkommenschaft des Hauses Braunschweig. . . ihres schönsten Erbes beraubt wird Wo ist der Mann, der eine solche Maßregel zu empfehlen wagt ?. . . Sollen wir den Glanz unseres Volkes durch die schmähliche Preisgabe seiner Rechte und schönsten Besitzungen beflecken ? Soll dies große Königreich, welches ganz und ungeschmälert die dänischen Raubzüge, die schottischen Einfälle und die normannische Eroberung überdauert hat, — das dem gefürchteten Angriff der spanischen Armada widerstanden hat, jetzt vor dem Hause Bourbon niederfallen? Wahrlich, Mylords, unser Volk ist nicht mehr, was es war!. . . Wenn es unumgänglich ist, sich entweder für den Krieg oder den Frieden zu erklären und der Friede nicht mit Ehren bewahrt werden kann, warum wird da nicht der Krieg ohne Zögern begonnen ?. . . Jeder Zustand ist besser als Verzweiflung Machen wir wenigstens e i n e Anstrengung, und wenn wir denn fallen müssen, so laßt uns als Männer fallen!"
199 3Der amerikanische Krieg und der sich daran anschließende Kampf Englands mit den beiden Bourbonenstaaten Frankreich und Spanien führte rasch auch in I r l a n d 1 ) die Gefahr eines Konflikts herauf. In den Jahren 1778/79 nahm die Anzahl der Kaperschiffe, die sich unter amerikanischer oder französischer Flagge an den buchtenreichen Küsten Irlands herumtrieben, immer mehr zu. Ihre Unternehmungen und Streiche wurden ständig kühner und lästiger. Die Regierung in Dublin verfügte weder über Geld noch über Soldaten, um die irischen Küstenorte vor unerwarteten kecken Landungen der Feinde genügend zu sichern. Die in Irland garnisonierenden Regimenter waren bis auf einen ganz geringen Rest nach Amerika hinübergeschickt worden. Da die Machtmittel des Staates versagten, griff die beunruhigte Bevölkerung Nordirlands entschlossen zur Selbsthilfe. Zum Zwecke der Landesverteidigung bildeten sich Freiwilligenkorps, deren Gesamtstärke in kurzer Frist auf 42 000 Mann anwuchs. Diese unerwartete Hilfsmacht wurde für den Vizekönig in Dublin und das Ministerium in London gar bald ein Gegenstand peinlicher Besorgnis. Die Gefahr amerikanisch-französischer Landungen und Handstreiche auf der Insel war nunmehr freilich beseitigt, aber Irlands eigene Wünsche und Beschwerden erhielten durch diese aus dem Boden gewachsene, selbstbewußte Milizenarmee ein wenig willkommenes Schwergewicht. Die protestantische Kolonistenbevölkerung von Ulster, welche diese Macht in die Wagschale geworfen hatte, war nach ihrer Geistesart den Amerikanern nahe genug verwandt. Die englische Regierung durfte es nicht darauf ankommen lassen, daß sich die nordamerikanischen Vorgänge in Irland wiederholten; sie durfte darum den irischen Freiwilligenorganisationen nur eine liebenswürdige und verbindliche Miene zeigen und mit ihrer dankbaren Anerkennung des patriotischen Eifers dieser Verbände nicht geizen. 1
) M. J . Bonn, Die englische Kolonisation in Irland, 1906, 2 Bände; Cambridge Modern History Bd. VI, Cap. 14; Froude, The English in Ireland in the Eighteenth Century, 1874, 3 Bände (mit einer grundsätzlichen Voreingenommenheit gegen die irischen Katholiken, Sympathie fflr die protestan* tischen Dissenters und ausgesprochener Vorliebe für eine „starke Hand" und Cromwellsche Methoden); Salomon, Pitt der Jongere I, 2, S. 259ff.
200 Die amerikanischen Kolonien hatten sich gegen den Anspruch des britischen Parlaments, ihnen Steuern zuzudiktieren, gewehrt, gegen das System der Handelsmonopole hingegen, das sie in der wirtschaftlichen Dienstbarkeit des Mutterlandes hielt, keinen Einspruch erhoben. Die geltenden wirtschaftspolitischen Bestimmungen Englands wurden in Amerika wohl als eine lästige Fessel empfunden, aber die Erschließung des kolonialen Bodens bot unerschöpfliche Möglichkeiten. Die Bevölkerung des nordamerikanischen Küstenstreifens nahm in unaufhaltsamem, stetem Tempo an wirtschaftlicher Kraft zu. Irland dagegen mußte seinem Wirtschaftsleben erst einmal den allernötigsten Luftraum gegenüber dem übermächtigen Nachbarlande schaffen. Die irischen Beschwerden richteten sich daher in erster Linie gegen die Monopolbestimmungen, durch welche die englische, von inerkantilistischen Gesichtspunkten geleitete Ausbeutungs- und Sperrpolitik die Produktion des abhängigen Landes gelähmt und teilweise zum Vorteil der englischen Konkurrenz völlig vernichtet hatte. Die Kriegshandel und die damit im Zusammenhang stehenden Ausfuhrverbote der letzten Jahre hatten die wirtschaftliche Bedrängnis der Insel noch in besonderem Maße verschärft. Bankerotte und Arbeitslosigkeit nahmen in erschreckender Weise zu. Die englische Regierung konnte es sich bei ihrer schwierigen außenpolitischen Lage nicht länger gestatten, den irischen Nöten gleichmütig zuzusehen. In der Navigationsakte, der berühmten Grundlage des englischen Merkantilsystems, waren keinerlei Erleichterungen zugunsten des irischen Handels vorgesehen. Irische Schiffe wurden nicht als britische Schiffe betrachtet.1) Von allem direkten Handel mit dem englischen Kolonialgebiet war Irland daher in der nämlichen Weise wie die fremden Machte ausgeschlossen.*) Seine aussichtsreiche Wollindustrie war am Ende des siebzehnten Jahrhunderts unter dem übermächtigen Druck des Londoner ParlaIn der ursprünglichen Fassung der Navigationsakte war die irische Schiffahrt in der englischen mit inbegriffen und dieser völlig gleichberechtigt. 1663 wurde dann durch eine Veränderung des Wortlauts Irland aus der Teilhaberschaft an dem Kolonialhandel hinausmanövriert. *) Bei einigen Artikeln von geringer Bedeutung bestand eine Ausnahme (z. B. Ausfuhr von Pferden, Lebensmitteln und Material für die britischen Garnisonen in den Kolonien). Aber von dem gewinnbringenden Handel mit den westindischen Kolonialprodukten war Irland abgesperrt.
201 ments durch prohibitive Ausfuhrzölle im Interesse der englischen Konkurrenz erdrosselt worden. Ursprünglich bestand dabei der Plan, den Iren durch ein Monopol auf die Leinenindustrie einen Ersatz für ihren Verlust zu schaffen; aber ausgeführt wurde dies nicht. Die englisch-schottische Leinenindustrie lebte neben der irischen ruhig fort und kam ihr bald an Bedeutung gleich. Nicht einmal die Leineneinfuhr aus dem Auslande (Holland, Deutschland, Ostseeländer) wurde in dem britischen Reichs- und Herrschaftsgebiete zugunsten des irischen Leinengewerbes gebremst.1) Der englisch-schottische Egoismus, welcher in der Wirtschaftspolitik gegenüber dem niedergeworfenen Irland regierte, trug mehr als alles andere dazu bei, dort die uralten inneren Gegensätze zu mildern und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts ein gemeinirisches Interesse zu schaffen, das sich bedrohlich gegen den Herrscherstaat kehren konnte, wenn dieser einmal durch europäische und transozeanische Händel gebunden war. Von der Entstehung eines einheitlichen irischen Volkes — vergleichbar etwa der Verschmelzimg von Normannen und Angelsachsen in dem mittelalterlichen England — war freilich keine Rede. „Irisch" blieb ein vieldeutiger Begriff. „Iren" waren die alteingesessenen katholischen Bewohner der Insel, welche nach dem Mißlingen des großen Aufstandes gegen den Oranier Wilhelm III. von dem protestanischen England völlig niedergeworfen und entrechtet worden waren. „Iren" war zweitens auch die Bezeichnimg der protestantisch-hochkirchlichen Bevölkerung englischen Ursprungs, welche seitdem sozial und politisch im Lande die ausschließliche Herrschaft innehatte. Nur sie konnte im Parlament von Dublin rechtmäßig für es sprechen. „Iren" nannten sich auch die presbyterianischen Einwohner der Provinz Ulster, die zum größten Teile von Schottland her über den schmalen Meeresarm herübergekommen waren. Da diese Leute nicht der englischen Hochkirche angehörten, galten sie in Irland trotz ihrer protestantischen Herkunft und Gesinnung nur als Bürger minderen Rechts. Ihre Unternehmungslust und Energie wurde von den Verboten der englischen Wirtschaftspolitik am härtesten betroffen. Ungezählte protestantische Familien wanderten darum im Laufe des achtzehnten *) Vgl. die Ausführungen Lord Norths im Unterhaus, 13. Dezember 1779 (Pari. Hist. XX).
202 Jahrhunderts aus der Enge von Ulster in die amerikanischen Kolonien aus, wo freier Raum zur Betätigung von Menschenkraft und Menschenwille gegeben war. Jahrzehnte hindurch hatten die englische Regierung und ihre Vertreter in Dublin es verstanden} sich Irlands oligarchisch verrottetes Wahlsystem1) zunutze zu machen. Durch Bestechung, PfrUndenverleihungen, Abkommen mit maßgebenden Magnatenfamilien und andere Maßregeln dieser Art sicherte die Geschicklichkeit der Vizekönige eine willfahrige Mehrheit im irischen Parlament. Auch eine Reihe von Rechtsbestimmungen diente als bequeme Handhabe, die englische Autorität und das englische Interesse in Irland zu sichern. Schon im Zeitalter der Tudors war die unmittelbare Abhängigkeit der irischen Gesetzgebung von dem Willen des Königs und seiner Londoner Berater rechtlich festgelegt worden.*) Im Jahre 1719 hatte außerdem das englische Parlament ausdrücklich das Recht in Anspruch genommen, Gesetze zu erlassen, deren Geltungsbereich auch Irland umfasse.*) Jetzt hatten die Interessen Irlands in der Freiwilligenarmee, die sich rasch politisierte, plötzlich ein neues, ungewöhnliches und sehr vernehmbares Sprachrohr gefunden. Die begabten und hitzigen Redner der nationalen (anglo-irischen) Opposition im *) Der weitaus größte Teil der irischen Parlamentssitze wurde nach dem Willen einiger Großgrundbesitzer vergeben. Mit diesen Magnaten suchte die Regierung jeweils handelseinig zu werden. Vgl. die Zusammenstellungen Ober die irischen Wahlkreise bei E. Wakefield, An Account of Ireland Statistical and political, London 1812, II, S. 2 8 i f f . , 3 8 3 f f . *) P o y n i n g s ' G e s e t z v o n 1495. Bevor das irische Parlament einberufen wurde, mußten alle Gesetzesvorschläge, welche in der betreffenden Session eingebracht werden sollten, von dem Statthalter und geheimen Rat von Irland dem König und dessen englischem geheimen Rat vorgelegt werden und deren Billigung finden, siehe Bonn I, S. 163, Salomon I, 2, S. 260. Daraus entwickelte sich folgende Geschäftsordnung für die Gesetzgebung in Irland: Das irische Parlament stellt die Leitsätze eines von ihm gewünschten Gesetzes dem irischen geheimen Rat zu. Dieser bringt sie in Gesetzesform (falls er sie nicht verwirft) und übermittelt sie dem englischen geheimen Rat. Dieser kann an dem Entwurf nach Belieben ändern. Die Bill geht darauf an das irische Parlament zurflck, das seinerseits keine Änderungen mehr vornehmen darf, sondern nur annimmt oder ablehnt. a ) D e c l a r a t o r y A c t of t h e 6th G e o r g e I. (1719). Ursprünglich erlassen, um den Charakter des englischen Oberhauses als oberster Appellationsgerichtshof sicherzustellen.
203 Dubliner Parlament wußten sich dies Hilfsmittel gegenüber der Regierung sehr rasch zunutze zu machen. Lord North war klug genug, aus der Entwicklung, welche die amerikanische Streitfrage genommen hatte, für Irland die Lehre zu ziehen und sich diesmal zu Zugeständnissen zu bequemen, ehe es zu spät war, — zumal da Irlands Sympathien für den amerikanischen Freiheitskampf unverhohlen zutage traten. Lord North verfuhr auch in diesem Falle getreu seiner Art, zu lavieren, solange es anging, und sich dann der stärksten Kraft zu fügen, die auf ihn einwirkte. Von der einen Seite drängte Irland, dessen Selbstbewußtsein gegenüber dem in Krieg verstrickten England durch den Eifer und die patriotische Ungeduld volkstümlicher Führer mächtig aufgestachelt wurde. Diese sahen das ideale Ziel eines freien, sich selbst regierenden und wirtschaftlich aufblühenden Irlands unversehens näher gerückt, als ein paar Jahre früher selbst die kühnsten Träume hätten ausmalen können. Eine entschlossene letzte Anstrengung mußte es nun zu einer Wirklichkeit machen. Von der anderen Seite erhob die Kaufmannschaft der an der englisch-schottischen Westküste gelegenen Städte Gegenwehr. Diese Orte hatten seither Irlands wirtschaftliche Ohnmacht ausgebeutet und gaben sich nun einer naiven Empörung hin, daß man ihnen zumuten könne, von einem so bequemen und einträglichen Privileg etwas abzulassen. Sie bestürmten daher das Unterhaus mit heftigen Protestkundgebungen, als dort in den Jahren 1778 und 1779 einige einsichtige Interessenten — Parlamentsmitglieder, welche selbst irischen Grundbesitz hatten — auf die unbestreitbare akute Notlage Irlands hinwiesen und wirtschaftspolitische Erleichterungen und Zugeständnisse von seiten Großbritanniens verlangten. Unter dem Eindruck der Aufregung, die in Liverpool, Glasgow usw. herrschte, verhinderte North zunächst Konzessionen, die über unwesentliche Dinge hinausgingen, aber im Winter 1779/80 wurde drüben in Irland die Mißstimmung so bedrohlich, daß der Minister geraten fand, sich nunmehr eilends auf die andere Seite zu schlagen und den Iren das Recht der Wollausfuhr und des direkten Handels mit den westindischen Kolonien freizugeben.1) Nachdem die Iren dies große wirtschaftliche Zugeständnis errungen hatten, rückten ihre Wünsche sogleich auf das politische ') Pari. Hist. X X , 13. Dezember 1779.
204 Gebiet hinüber. Ihre Führer, voran Henry Grattan, setzten sich als nächstes Ziel, Irland die Freiheit seiner Gesetzgebung zu erkämpfen, die bisherige Beschrankung des Dubliner Parlaments zu beseitigen und die Oberherrlichkeitsansprüche des Londoner Parlaments zu vernichten. Die Gunst der europäischen Lage gestattete Grattan, die Entwicklung der Verfassungsfrage durch eine Politik verhüllter Ultimaten rasch vorwärtszutreiben und England auch da zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Im Frühjahr 1782 traten in England die Whigs der Minorität, die seit geraumer Zeit Öffentlich das Patronat der irischen Wünsche übernommen hatten, die Nachfolgerschaft von Lord Norths unhaltbar gewordener Regierung an. Die irischen Patrioten waren jedoch nicht gesonnen, die Gunst der geschichtlichen Stunde weniger entschieden auzunützen und den eigenen Griff zu lockern, weil in England nunmehr wohlwollende Gesinnungsfreunde in der Regierung saßen. In einer ihm unerwünschten Eile mußte daher das Ministerium Rockingham, dessen Politik im wesentlichen von den beiden rivalisierenden Staatssekretären Charles Fox und Lord Shelburne bestimmt wurde, die Abschaffung der Declaratory Bill Georgs I. und die Einschränkung von Poynings' Gesetz1) in die Wege leiten. Die irische Gesetzgebung wurde damit von den Kontrolleingriffen der britischen Regierung frei. Edmund Burke hat bei der Behandlung der Angelegenheiten Irlands merkwürdigerweise eine weit geringere Rolle gespielt als bei den amerikanischen und indischen Fragen, die ihm an sich so viel ferner lagen als die Nöte des Landes, aus welchem er selber stammte. Dabei kann man nicht sagep, daß er im Laufe seines Lebens sein Geburtsland verleugnet oder vergessen hätte. In seinen Jugendjahren im College von Dublin, hatte er sich Gedanken über die Entwicklung und Nöte Irlands — „our own poor country", wie er einem Freunde schreibt, — durch den Kopf gehen lassen. Auch später, als er sich nach England hinübergewandt hatte und innerhalb der dortigen größeren Verhältnisse heimisch geworden war, schlug sein Herz nicht kühl, wenn Gelegenheit war, Abhilfe Tür Irlands mannigfache Schwierigkeiten zu suchen. Siehe S. 202, Anm. 2; S. 202, Anm. 3.
205 In den Jahren, während derer Burke als Privatsekretär Gerard Hamiltons im Schloß von Dublin arbeitete1), hatte er sich einen tiefen Einblick in die Mechanik irischer Politik verschaffen und ein sachkundiges Urteil über die Gebrechen des Landes erwerben können. Hamilton bekleidete in Irland das Regierungsamt, welches nächst dem des Vizekönigs am wichtigsten und einflußreichsten war: der „Sekretär" des Vizekönigs führte die amtliche Korrespondenz mit dem Ministerium in London; er war der Vertreter der Regierungspolitik im irischen Unterhause, durch seine Hand gingen die Beamtenernennungen und damit der ganze anrüchige Wust der Patronagemaßnahmen und politischen Trinkgelder, auf welchem das Regierungssystem in Irland beruhte. Im Vergleich zu der Käuflichkeit, welche in den politischen Kreisen Irlands herrschte, war die gleichzeitige Korruption Englands noch harmlos zu nennen. Zu solchen Alltagserfahrungen, wie Burke sie in der politischen Zentrale Irlands sammeln konnte, traten Eindrücke von den unterirdischen Kräften, welche die Bevölkerung der Insel in Unruhe und Spannung erhielten. In die Jahre von Burkes Tätigkeit im Dienste Hamiltons fiel nämlich gerade einer der Ausbrüche des sogenannten ,,Whiteboy"-Wesens, d. h. Unruhen der gedrückten Landbevölkerung. Die kleinen Kätner und Taglöhner, welche durch die Ausbreitung*) der von Großfarmern betriebenen Weidewirtschaft beengt und geschädigt wurden, machten ihrem Groll in nächtlichen Zusammenrottungen Luit. Geheimnisvolle Menschenhaufen mit weißen Hemden Uber den Kleidern tauchten bald hier, bald dort auf, hackten Zäune und Hecken der Weidenflächen ab und fügten den großen Viehzüchtern den empfindlichsten Schaden zu, indem sie den Rindern, die nachts draußen auf der Weide lagen, die Kniesehnen durchhieben und dadurch die schleunige Schlachtung dieser Tiere unumgänglich machten. Unbestimmte Gerüchte und übereilte Furchtsamkeit deuteten die Whiteboybewegung als Anzeichen einer planmäßig papistisch - französischen Verschwörung gegen das englische Regiment in Irland. Burke erklärte sie richtig als eine Folge interner wirtschaftlicher Mißstände, als örtliche Siehe S. 24. *) Auch die bisherigen Gemeinweiden wurden vielfach von dieser ver» schlungen, vgl. Bonn, Engl. Kolonisation in Irland II, S. 278.
206 Zuckungen einer verarmten, durch Haß und Verzweiflung aufgestachelten ländlichen Bevölkerungsklasse. Trotz der Pietätsgefühle, welche Burke seiner irischen Heimat gegenüber hegte und der praktischen Schulung und Vorbereitung für die irische Politik, die er im Dienst der Regierung in Dublin durchgemacht hatte, haben ihn die Probleme Irlands doch nie mit der gleichen Kraft in Bewegung gesetzt und seine Staatsmannsleidenschaft in dem Grade aufgerührt wie es der Zwiespalt mit den nordamerikanischen Kolonien, die Uebelstände der Ostindischen Kompanie und in seinen letzten Lebensjahren die jakobinische Gedankenwelt vermocht haben. Seine Schriften über irische Fragen sind entweder unfertig liegen geblieben oder unter hundert Störungen zusammengeflickt und nicht wie andere Veröffentlichungen seiner Feder zuletzt nochmals überarbeitet und geglättet worden. Jedenfalls zeigen sie im Vergleich zu anderen politischen Broschüren Burkes eine gewisse Mattigkeit der Gedankenführung und der sprachlichen Mittel. Auch in den Unterhausdebatten über irische Probleme trat Burke nicht eigentlich führend hervor1). Ebensowenig kann man finden, daß er in dem inneren Kreis seiner Partei als Sachkenner und Autorität in irischen Angelegenheiten eine besondere Rolle spielte. Ist dies ein Zeichen, daß Burke trotz aller Sympathien Irland durch seine jahrelange Abwesenheit innerlich doch ferne gerückt war und die dortigen Verhältnisse nicht mehr genügend übersah? Oder hatte er als englischer Parlamentarier und politischer Agitator zu viel andere Arbeit unter den Händen? Die amerikanische Streitfrage, der Versuch, die höfische Korruption zu vernichten, die Untersuchung der so schwer verständlichen Zustände und Vorkommnisse in Ostindien und später die Propagandatätigkeit gegen das revolutionäre Frankreich verbrauchten freilich Kräfte in Ueberfülle, aber Burke ist hierin nicht mit gewöhnlichen Maßen zu messen. Was parlamentarisch-politische Arbeitsleistung anbelangt, war er ja ein Gigant, wenn sein Herz erst einmal von der Bedeutung einer Frage ergriffen und sein Wille in Hitze gesetzt worden war. ') Auch äußerlich sind Burkes Parlamentsreden zum Thema „Irland" nicht übermäßig utnfangreich, was bei seiner von den Zeitgenossen geflüchteten Weitschweifigkeit viel sagen will.
207 Hat er vielleicht seine Kräfte für Irland nicht mit der gleichen Wucht eingesetzt wie für eine Reihe anderer politischer Ziele, weil er seine
Pflichten und seine
Verantwortung
als
englischer
Parlamentarier zu stark empfand ? E r betrachtete es als den idealen Zweck seines Lebens, die A u f g a b e n eines englischen Volksvertreters in untadeliger und vorbildlicher Weise zu erfüllen. nicht an, daß er in seinem öffentlichen Handeln
D a ging es
Gefühlen eines
irischen Spezialpatriotismus allzu freien Spielraum gewährte 1 ) — er, der so sehr betonte, daß sich das Parlamentsmitglied stets als der Beauftragte des g a n z e n
Volkes zu betrachten habe.
Nebenbei
hatte er auch zu bedenken, daß er ohnehin schon in der gegnerischen Presse als verkappter Jesuit und irischer Abenteurer, der sich in Vgl. auch Burkes eigene, etwas rhetorisch-vollatmige Äußerungen über sein seelisches Verhältnis zu Irland und England: Unterhaus, 3. Dezember 1779 (Pari. Hist. X X ) : „Obwohl er ein Ire von Geburt sei, fohle er sich von innerer Empfindung getrieben, England seine wärmste Dankbarkeit auszusprechen, dem Land, das ihn aus einer unbedeutenden Lebenslage und der Unbekanntheit auf einen Sitz in der großen nationalen Ratsversammlung erhoben h a b e . . . . E r müßte der undankbarste und unwürdigste Mann der Welt sein, wenn er jemals die flberreichen Gunstbeweise vergessen würde, welche England ihm hätte zuteil werden lassen — er wolle nicht sagen, gänzlich unverdient, aber doch unendlich hinausgreifend Ober seine eigenen kühnsten Erwartungen. E r hege die Ansicht, daß jede Maßregel, welche Irland dienlich sei, tatsächlich . . . England nütze. Aber wenn jemals sein Geburtsland ein Zugeständnis verlangen sollte, wodurch den Interessen und der Wohlfahrt Englands Abbruch geschehe, werde er als einer der ersten Männer im Unterhause, in seiner Eigenschaft als britischer Senator, auf die nachdrücklichste und unzweideutigste Weise jeden Vorschlag bekämpfen, welcher direkt oder indirekt dergleichen Zwecke verfolge." 17. Mai 1782 (Pari. Hist. X X I I I ) : „ D i e Sache Irlands stehe seinem Herzen am nächsten. Zu der Zeit, als ihm zum ersten Male die Ehre eines Unterhaussitzes zuteil geworden sei, habe nichts ihn mit solcher Befriedigung erfüllt wie die Aussicht, möglicherweise seinem Geburtsland einen Dienst leisten zu können. Immer habe er sich gesagt: falls ein so unbedeutendes Parlamentsmitglied wie er das Glück haben sollte, England einen wesentlichen Dienst zu leisten und sein Souverän oder das Parlament ihm hierfür eine Belohnung zuerkennen wolle, dann würde er sagen: „ T u t etwas für I r l a n d . . . und ich bin mehr als belohnt." E r sei ein Freund seines Heimatlands, aber die Herren brauchen deswegen nicht eifersüchtig zu sein. Als Freund Irlands sei er selbstverständlich zugleich der Freund Englands, da die Interessen beider Länder nicht getrennt werden könnten."
208 das Unterhaus eingeschlichen habe, Übel gezaust wurde und solchen Verleumdungen keinen Stoff liefern durfte. Noch ein weiterer Umstand trug dazu bei, Burke zur Zurückhaltung in den irischen Angelegenheiten zu bestimmen: Mit großer Energie und Selbstverständlichkeit führte Fox seit den Tagen des zweiten Rockingham 'sehen Ministeriums (Frlihjahr 1782) als anerkannter Leiter der Partei im Unterhaus das Wort auch in der irischen Frage. Burke war dadurch in die Stellung des bloßen Sekundanten zurückgeschoben. Zweifelsfrei lassen sich die Faktoren, infolge deren Burkes politisches Temperament bei der Behandlung der irischen Angelegenheiten so wenig zur Auswirkung kam, nicht nennen. Davon kann aber keine Rede sein, daß Burke aus bloßen elenden Opportunitatsgründen seine Ueberzeugungen verhüllt hätte. Aus einem irischen Literaten war er zum englischen Parlamentarier geworden, betrachtete sich auch innerlich mit Stolz als einen Sohn des englischen Volks, aber vor den Vorurteilen und dem Egoismus des Kleinengländertums zog er einen Trennungstrich. Sein Patriotismus war britischer Reichspatriotismus. Wo Burke ein Entgegenkommen gegen die Wünsche und Bedürfnisse Irlands durch das Interesse des britischen Gesamtreichs gerechtfertigt glaubte, hielt er mit dem öffentlichen Bekenntnis seiner Ansicht nicht zurück. In den Jahren 1778 und 1779 unterstützte er im Unterhaus die Vorschläge, dem irischen Handel einen freieren Spielraum zu gewähren, obwohl er wußte, daß seine Stellungnahme einen unerquicklichen Zwiespalt mit seiner eigenen Wählerschaft herbeiführen mußte.1) Die Stadt Bristol, welche Burke ins Unterhaus entsandt hatte, war nicht gesonnen, massive Wirtschaftsvorteile aufzugeben, damit Irland in der Kriegsnot geholfen würde, und dafür Versprechungen einer künftigen Blüte des englisch-irischen Handels einzuheimsen. Vergebens predigte Burke den Bristoler Kaufleuten, daß der Ueberfluß eines reichen Landes den Handel besser in Bewegung setze als die elementarsten Bedürfnisse eines armen'); daß der Verlust, welchen die englischen Hafenstädte in einem Punkt erlitten, durch den Gewinn in zwanzig anderen aufgewogen werde; daß Gerechtigi) Vgl. s. 135. *) Letters to Bristol on the Trade of Ireland, 1778.
209 keit gegen andere nicht immer Dummheit gegen die eigene Person zu bedeuten brauche, und daß jedenfalls England in seiner derzeitigen Lage die Sympathien Irlands nicht durch primitive Selbstsucht verspielen dürfe, weon es nicht eine Wiederholung der nordamerikanischen Vorgänge auf der Nachbarinsel herbeiführen wolle. Im Verlauf dieser Mahnungen äußert Burke einmal, die englischen Zugeständnisse an Irland, um die es sich damals (1778) handelte, blieben weit hinter der „Liberalität des Handelssystems zurück, welches nach meinem festen Glauben eines Tages angewandt werden wird". Die Frage drängt sich auf, was Burke sich unter dieser Liberalität vorgestellt hat. Zwei Jahre vorher war A d a m S m i t h s großes nationalökonomisches Werk Uber die „Natur und die Ursachen des Volkswohlstandes" erschienen, das die merkantilistische Tradition angriff und das „liberale System freier Ausfuhr und Einfuhr" 1 ) verfocht. Sind Burkes Anschauungen') dadurch beeinflußt worden? Wir wissen von gelegentlichen freundlichen Berührungen zwischen Burke und dem schottischen Professor. Durch die Vermittlung David Humes war schon Ende der fünfziger Jahre eine Beziehung zwischen beiden geschaffen worden. Von Smiths philosophischem Hauptwerk, der „Theorie der moralischen Gefühle" hatte Burke einen starken Eindruck empfangen. Adam Smith sympathisierte seinerseits mit der von Burke und Fox vertretenen politischen Richtung. Erst unter dem Eindruck der Leistungen und der Persönlichkeit des jüngeren Pitt zog er sich von ihnen zurück (1787).') Gleichwohl spricht wenig dafür, daß Burke von dem nationalökonomischen Werk Smiths einen nachhaltigen Anstoß empfangen hat. Schon vor dem Erscheinen des „Wealth of Nations" war Burkes Denken zu manchen Ergebnissen gelangt, welche sich mit den For*) Der Ausdruck wird von Smith, Wealth of Nations Buch IV, Kap. 5 verwendet. *) Zu beachten ist auch Burkes Äußerung in seiner Rede aber die Verwaltungsreform (1780): „Der H a n d e l . . . gedeiht am meisten, wenn er sich selbst Oberlassen bleibt. Das Interesse, der große Führer des Handels, führt nicht blind. E s ist sehr wohl imstande, seinen eigenen Weg zu finden, und seine Bedürfnisse sind seine besten Gesetze." ') J . Rae, Life of Adam Smith (1895), S. 144, 387ff., 405, 410. Lennox, Edmund Burke. TJ
210 derungen berührten, die Adam Smith vortrug. Prior1), Burkes Biograph, berichtet, Smith habe Burke das Kompliment gemacht, er sei unter den Mannern, welche er kennen gelernt habe, der einzige, welcher — ohne vorherigen Meinungsaustausch — die gleichen Ansichten über die Hauptfragen der Volkswirtschaft hege wie er selbst. Die Betrachtung des nordamerikanischen Kolonialvolks und der diesem innewohnenden Wirtschaftsenergie hatte Burke gezeigt, daß Handel und Wirtschaftsleben der bevormundenden Anweisungen der Staatsgewalt nicht immer bedürfen und ihre Wege selbständig zu suchen verstehen.») Seine Abneigung gegen eine im Beamtenund Juristengeist geführte Staatsverwaltung»), seine Zweifel an der Wirksamkeit willkürlich verordneter Paragraphen, sein Glaube an die segensreiche Kraft der alten Volksinstinkte und den Wert der praktischen Erfahrungen, all das machte ihm den Weg zu dieser Erkenntnis leicht. Sie verdichtete sich bei Burke jedoch nicht zu irgendwelchen klaren Einzelforderungen, wie die englische Volkswirtschaft umzugestalten sei. Burke zeigte zwar ein reges Interesse für wirtschafts politische Fragen und hielt es für seine Pflicht, seine Kenntnisse des englischen Wirtschaftslebens fortdauernd nach Möglichkeit zu erweitern. Aber auch auf diesem Gebiet ging er über die Schranken seiner Geistesart nicht hinaus. Ihm fehlte der Trieb, grundlegende Gesetze des Wirtschaftslebens aus der Fülle der beobachteten Tatsachen herauszudestillieren und allgemeingültige Rezepte zu suchen. ') Prior, Life of Burke (1826) I, S. 97. *) Vgl. die S. 179 angefahrten Worte Burkes Ober den Aufschwung der amerikanischen Kolonien und die Wirkungen der „großmütigen" durch stattliche Regelungen nicht behinderten Natur. *) American Taxation: ,,Mr. Grenville thought better of the wisdom and power of human legislation than in truth it deserves. He conceived and many conceived along with him, that the flourishing trade of this country was greatly owing to law and institution and not quite so much to liberty; for but too many are apt to believe regulation to be commerce, and taxes to be revenue." Vgl. auch Salomon I, 1, S. 99. — F o r die Richtigkeit der Ansicht Salomons, Burke habe die Forderung einer größeren Freiheit des Handels vor dem Bruch mit Amerika nicht äußern können, weil ein solcher Angriff auf das herrschende Wirtschaftssystem ihm die ganze (merkantilistisch gesinnte) Partei der Whigs hätte entfremden müssen, habe ich in den Quellen kein Anzeichen finden können.
211 Er war mit den Facten1) selbst zufrieden: Ein- und Ausfuhrzahlen, Bevölkerungsziffern, Lohnhohen studierte er, um sich ein begründetes Urteil über die Kräfte und Richtungen der englischen Volkswirtschaft zu erwerben und ihre Interessen als Politiker abwägen zu können. Wie er die hunderterlei Einzelheiten von politischen Rechten und Gepflogenheiten des englischen Volkes besah, welche in ihrer Gesamtheit „die englische Verfassung" ausmachen, — ohne dabei das Bedürfnis nach systematischer Klarheit und Ubersichtlicher Gliederung seiner Ergebnisse zu spüren, so verfuhr er auch bei seinem Studium wirtschaftlicher Vorgänge und Verhältnisse. Die Siegerfreude, einen ausgedehnten und widerspenstigen Stoff schließlich durch die Kraft des erkennenden Geistes in knappe übersichtliche Formeln zu bannen, war ihm nicht inneres Bedürfnis. Man darf Burke darum nicht befragen, was für Ansichten er etwa Uber den Begriff der Handelsbilanz oder das Wesen des Geldes hegte. Aus dem nämlichen Grund ist auch der Versuch mißlich, eine saubere Rechnimg aufzustellen, ob man ihn zu den Freihändlern oder den merkantilistischen Schutzzöllnern und Monopolverfechtern zu stellen hat. Der seelische Ausgangspunkt für Burkes ganze Politik war sein „Reichsempfinden". Ueberall richtete ach seine politische Arbeit auf das Ziel, den Zusammenhalt des britischen Reiches für die Zukunft fest und lebendig zu bewahren, die Solidarität der einzelnen Reichsteile ebensowohl durch die Gleichheit der Verfassungs- und Rechtsideale wie durch die Verflechtung der Wirtschaftsbeziehungen und die Gemeinsamkeit der materiellen Interessen zu festigen. Allem setzte er sich entgegen, was dieses sein Ideal der inneren Harmonie des britischen Reichs in irgend einer Weise zu gefährden drohte. Er kämpfte darum mit der gleichen Erregung gegen Mißbrauche der Kolonialverwaltung wie gegen das Eindringen politischer „Krankheitsstoffe", wie er sie z. B. in den radikaldemokratischen Gedanken der französischen Revolution erblickte. Aus den nämlichen Erwägungen mißbilligte er eine bloße Nutznießer- und Ausbeutepolitik des großbritannischen Herrscherstaates gegenüber den kolonialen und abhängigen Wirtschaftsl)
Siehe den Aufmarsch statistischer Zahlen in Burkes erster politischer Broschüre „Observations on the Present State of the Nation" (1769) und in einer seiner letzten Schriften „Third Letter on a Regicide Peace" (1797).
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212 gebieten. Er hielt es für eine klügere und weiterschauende Politik, zwischen dem englischen Mutterland und den Kolonialgebieten (zu welchen seiner wirtschaftspolitischen Stellung nach auch Irland zu rechnen war) die Verbindungsfaden gemeinsamer Wirtschaftsvorteile zu ziehen. Der zunehmende Wohlstand der Außenlander mußte nach seiner Ueberzeugung notwendig Uber die Meere auf den Reichsmittelpunkt, die englisch-schottische Insel, zurückwirken. Dies würde größere Vorteile bringen als die Gepflogenheit, wirtschaftspolitische Vorrechte zum Nachteil der abhangigen Reichsteile rücksichtslos auszunützen. Will man Burkes Anschauungen über die englische Wirtschaftspolitik irgendwie klassifizieren, so konnte man allenfalls bei ihm von einer Erweichung und Ausweitung der merkantilistischen Anschauungsweise reden. Denn an die Stelle des englischen Mutterlandes als Nutznießer der bestehenden merkantilistischen Politik tritt in Burkes Wünschen das „Reich", d. h. Mutterland + Dependenzen. Nach seiner Auffassung steht England unter den übrigen Reichsteilen nicht wie ein Hirte unter seiner Herde, welcher seine Schafe nach Gutdünken füttern, scheren und schlachten kann, sondern wie der älteste Bruder, welcher den Familienbesitz verwaltet, unter einer Schar von jüngeren Brüdern, auf deren Freundschaft und Mithilfe er angewiesen ist, und welche ihrerseits an seiner Kraft und seinen Mitteln den unentbehrlichen Rückhalt finden. Nur einmal hat Burke eine spezifisch volkswirtschaftliche Frage zum Gegenstand einer eigenen Abhandlung gemacht. Es sind dies seine „Thoughts and Details on Scarcity" aus dem Jahr 1795, also, wie das Datum zeigt, eine seiner spätesten Arbeiten — ursprünglich eine Denkschrift, welche Burke dem jüngeren Pitt einreichte, als infolge von Mißwachs die Lebensmittelpreise Englands beträchtlich in die Höhe gegangen waren. Die Regierung war damals, auch im Hinblick auf den Krieg mit dem jakobinischen Frankreich, vor die Frage gestellt, ob sie in die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung durch Preisregelungen, Anlage von staatlichen Kornspeichern oder Festsetzung von Arbeitslöhnen eingreifen solle oder nicht. Burke erteilte der Regierung seinen Rat, da er sich als landwirtschaftlichen Sachverständigen betrachtete. Seit Jahren wirtschaftete und experimentierte er nämlich auf seinem Landsitz mit
213 einem heiligen Emst herum, soweit ihm seine Parlamentspflichten die Zeit dazu übrig ließen, und führte über seine Erfahrungen gelegentlich einen Briefwechsel mit agrarischen Fachleuten. Seine Denkschrift von 1795, welche er später zu „Letters on Rural Economy" auszugestalten gedachte, stellt ein Amalgam solcher persönlicher Erfahrungen und Ansichten über Landwirtschaft mit allgemeinen, ohne Begründung hingestellten volkswirtschaftlichen Thesen dar. Die Schrift vertritt ein entschlossenes „Laissez faire" bei der Produktion und dem Handel von Lebensmitteln. Die Anlehnung an Adam Smith'sche Formulierungen ist in diesem Falle unverkennbar, doch Smiths Gedankengänge werden dabei ungemein vergröbert. Burke warnt die Regierung, sich in den freien Gang des Handels einzumengen. Es geht nach seiner Ansicht über die Kräfte des Staates hinaus, die wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.1) Es überschreitet auch seine Kompetenzen. Burke schreibt, er habe oft über das schwierige Problem nachgedacht, welche Aufgaben dem Staat gesetzt seien. Er gelangt zu folgendem Ergebnis: „Der Staat soll sich auf das beschränken, was den Staat oder die Geschöpfe des Staates angeht, nämlich: die äußere Einrichtung seiner Religion, seine Beamtenschaft, seine Einkünfte, seine Wehrmacht zu Wasser und zu Lande, die Körperschaften, die ihr Dasein seinem Spruche verdanken. Kurz auf alles das, was in wahrhaft eigentlichem Sinne „öffentlich" ist : auf den öffentlichen Frieden, die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Wohlfahrt (prosperity)". Dieser letzte Ausdruck bringt in Burkes ohnehin wenig durchsichtige Definition zuletzt noch eine neue Unklarheit hinein, denn den Begriff der Fürsorge für die öffentliche „prosperity" kann auch der patriarchalisch-merkantilistische oder der moderne sozial tätige Staat zur Rechtfertigung seines Wesens und seiner Eingriffe in das Wirtschaftsleben in Anspruch nehmen. Doch ist trotz der Unbestimmtheit der Ausdrucksweise ') Vgl. die Ausführungen Smiths über die Unfähigkeit des Staates, das Wirtschaftsleben zu leiten: ,,A duty . . . for the proper performance of which no human wisdom or knowledge could ever be sufficient" (Wealth of Nations IV, Ende). „An authority which could safely be trusted not only to no single person, but to no council or senate whatever, and which would nowhere be so dangerous as in the hands of a man who had folly and presumption enough to fancy himself fit to exercise it." (Buch IV, Kap. 2.)
214 erkennbar, daß sich Burkes Meinung über den Umfang der Staatsaufgaben sachlich mit derjenigen von Adam Smith deckt. Dieser beschränkt den Staat auf die Erfüllung von dreierlei Pflichten 1. Schutz der Gesellschaft nach außen (Kriegswesen), 2. Aufrecht erhaltung der Ordnung im Inneren (Rechtspflege), 3. Errichtung und Erhaltung von Werken und Institutionen, welche der Förderung des Wirtschaftslebens und der geistigen Ausbildung dienen und die durch die Mittel von Privatleuten nicht geschaffen werden können oder für diese unrentabel sind (Bau von Straßen, Kanälen usw.; Schul- und Kirchenwesen).') Alles, was außerhalb dieser Sphäre liegt, gehört nach Burkes Auffassung dem Bereich des freien Wirtschaftslebens an und wird allein von dessen Gesetzen regiert. Arbeit ist eine Ware wie jede andere. Ihr Preis wird durch Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt. Ist der Arbeitgeber durch einen Eingriff des Staates gezwungen, einen höheren Lohn für die Arbeit zu bezahlen, als dem Kapitalprofit und dem Ersatz für sein Risiko, welchen er von der Arbeitsleistung erwartet, entspricht, dann ist dieser von dem Staat erzwungene Mehrbetrag nichts anderes, als eine dem Arbeitgeber willkürlich auferlegte Steuer. Das Amt der Friedensrichter ist es nicht, durch Festsetzung der Lohnhöhe in den Abschluß der Arbeitsverträge hineinzusprechen, sondern die Durchführung der geschlossenen Kontrakte gegen Rechtsbruch zu sichern. Ein freier Arbeitsvertrag zwischen Farmern und Arbeitern kann nach Burkes Ansicht „ganz unmöglich einer von beiden Parteien beschwerlich sein", da ihre Interessen immer die nämlichen sind. Wie aber, wenn ein Farmer ungewöhnliche Habgier zeigt? „Um so besser," antwortet Burke auf diese von ihm selbst gestellte Zwischenfrage mit einer erstaunlichen Stumpfheit des psychologischen Urteils, „je mehr er seinen Gewinn zu erhöhen wünscht, desto stärker ist er daran interessiert, daß die Leute, auf deren Arbeit sein Gewinn in erster Linie beruht, in gutem Zustande sind. *) Landwirtschaft und Vieh!) Wealth of Nations, Buch IV, Ende; Buch V. *) Smith beurteilte das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit weit größerer Objektivität, siehe Buch I, Kap. 8: „The common wages of labour depend everywhere upon the contract usually made between those two parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little as possible." Die Arbeitgeber
215 zucht können nach Burkes Versicherung allein nach den Grundsätzen des Handels betrieben werden. Falls den Landwirten nicht gestattet wird, nach dem größtmöglichen Gewinn zu streben und reiche oder magere Ernten zu ihrem besten Vorteil zu verwerten, dann sind sie die Sklaven der Verbraucher. Auch diesen würde ein solches Verhältnis keinen Segen bringen. Den Getreidehändlern muß gleichfalls freie Hand gelassen werden. Je mehr Reichtümer sie bei ihrem Geschäfte erwerben, desto besser sowohl für den Landwirt wie den Verbraucher. Der Händler bildet ein natürliches, höchst nützliches Zwischenglied zwischen beiden. An vielen Stellen seines Werks hatte Adam Smith sich bemüht, zu zeigen, welch natürliche( Harmonie zwischen dem rein egoistisch begründeten ökonomischen Streben des einzelnen und dem Vorteil der ganzen Gesellschaft bestehe, eine Harmonie, durch welche das ganze von Smith vertretene System der wirtschaftlichen Freiheit als das zweckmäßigste erwiesen werden soll und zugleich seine ethische Rechtfertigung erfährt. Burke folgt Smith, doch mit weit plumperen Worten: „Der gütige und weise Ordner aller Dinge zwingt die Menschen, ob sie wollen oder nicht, während sie ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele verfolgen, das allgemeine Wohl mit ihrem persönlichen Erfolg zu verbinden." Wenn jedoch, wie die Erfahrung erweist, die Rechnung zwischen dem Wohl der Gesellschaft und dem Nutzen des einzelnen nicht überall glatt aufgeht ? Wenn ein Mann bei dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte sich und seine Familie nicht über Wassel" halten kann, was dann? In einem solchen Fall, so lautet Burkes Antwort, kann er auf Grund der Regeln des Handels und derer der Gerechtigkeit keine Forderungen stellen. Er gleitet hinüber in die Sphäre der christlichen Mildtätigkeit. In dieser hat der Staatsbeamte, dessen Obliegenheit der Schutz des Eigentums ist, nichts zu suchen. Seine Einmischung würde eine Verletzung des
seien den Arbeitern überlegen, weil sie infolge ihrer geringeren Anzahl sich leicht und unauffällig verbinden können und infolge ihrer Mittel weniger dringend auf den baldigen Abschluß der Arbeitsverträge angewiesen sind als die Arbeiter. Vgl. Smith über die Getreidehändler: Buch IV, Kap. 5, Digression concerning the Corn Trade.
216 Eigentumsrechtes darstellen. Die christliche Mildtätigkeit ist Pflicht der Privatleute, ihre Ausübung private Angelegenheit. Burkes Ausfuhrungen gipfeln in der Mahnung, mannhaft auch dem kleinsten Gedanken Widerstand zu leisten, „daß es innerhalb der Fähigkeit des Staates, als Staat, oder auch der Reichen, als Reiche, liege, den Armen jene notwendigen Güter des Lebens zu verschaffen, welche die göttliche Vorsehung nach ihrem Gefallen diesen für eine Weile vorenthalten hat. Uns, dem Volk, soll deutlich werden, daß wir nicht auf den Bruch der Gesetze des Handels, welche die Naturgesetze und folglich die Gesetze Gottes sind, unsere Hoffnung bauen können, den göttlichen Unwillen zu mildern und irgend ein Unglück zu beseitigen, unter dem wir leiden oder welches drohend über uns schwebt." So wird der Gedanke an vorhandene Schäden mit dem Hinweis auf den unerforschlichen Willen Gottes zur Ruhe gewiesen. Diese quietistische Wirkung des religiösen Elements bei Burke ist uns schon in seiner Auffassung der Lehre vom Staatsvertrag und seiner Ueberzeugung von der moralischen Verbindlichkeit bestehender politischer Ordnungen entgegengetreten.') Unzufriedener Pessimismus ebensowohl wie ein energischer Wille, die Grundlagen der gesellschaftlichen Existenz zu ändern, gelten ihm beide als eine ungebührliche und zugleich völlig ohnmächtige Auflehnung gegen den Schöpfer und Ordner der Welt, dessen Weisheit und Güte so vielerorten hervorleuchtet. Dem Menschen geziemt Selbstbescheidung und Klarheit. Nichts ist so verderblich als Selbsttäuschung oder leichtfertige Irreführung anderer über die Grenzen, die menschlichem Glück und menschlicher Kraft gesteckt sind. Aus diesem Grunde glaubt Burke gegen die Bezeichnung der Arbeiterklasse als „labouring poor," „arbeitende Arme," der bei den volkswirtschaftlichen Schriftstellern dieser Zeit (auch bei Smith an mehreren Stellen) und auch in Gesetzen verwendet wurde, eifern zu müssen. Er erblickt darin teils gezierte Humanität am falschen Ort, teils tückische demagogische Heuchelei. „Ich kann einen gesunden, jungen Mann mit fröhlichem Sinn und kräftigen Armen nicht „arm" nennen," erklärt er. „Falls wir uns darin gefallen, diejenigen als Arme zu bemitleiden, welche arbeiten müssen, wenn die >) Vgl. S. 115«.
217 Welt bestehen soll, dann treiben wir mit den Grundbedingungen des menschlichen Daseins Tändelei. Es ist das allgemeine Schicksal des Menschen, daß er sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen muß.1) Dieser alte f l u c h : „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen," und der andere Spruch aus der Paradiesgeschichte : „Füllet die Erde und machet sie Euch Untertan" bilden die Stichworte für die Wirtschaftsphilosophie Edmund Burkes. Gott der Herr ist ein gütiger Herr, der die Schwächen seines Geschöpfes, des Menschen, gar wohl kennt und ihm deswegen nicht zu viel Lasten auflegt. Darum spricht er nach sechs Tagen der Arbeit von einem Ruhetag. In den Bibelspruch „Füllet die Erde", legt Burke den ganzen freudigen Optimismus des achtzehnten Jahrhunderts hinein. Die Freigebigkeit Gottes hat dem Menschen die Herrschaft über die ganze Erde verliehen, dazu die natürlichen Fähigkeiten, eine solche Herrschaft auszuüben. Die ganze Menschheit ist damit auf das reichlichste versorgt; es gibt Platz für alle, und die menschliche Arbeit findet ihren Lohn in den Schätzen der Natur. Dem Menschen ist der Zwang der Arbeit auferlegt, aber er hat damit auch ein R e c h t auf sie, auch darauf, die natürlichen Vorteile zu verwerten, welche die Vorsehung seinem Lande verliehen hat.') Es ist eine Auflehnung gegen den göttlichen Willen, wenn man anderen durch willkürliche Beschränkungen die Möglichkeit der Arbeit und des Verdienstes verengert. So enthält dieser Gedankengang zuguterletzt noch eine Spitze gegen das merkantilistische System. Karl Marx, der die „Thoughts and Details on Scarcity" wie alle übrige volkswirtschaftliche Literatur der Engländer in Händen gehabt hat, gießt (in einer Anmerkung des „Kapital") die Schale seines Zorns und seiner Verachtung über Burke, „diesen durch und durch ordinären Bourgeois" aus. s ) Und in der Tat, die vergnügliche •) Third Letter on a Regicide Peace (1797). *) Letters t o Bristol, 1778 (mit Nutzanwendung gelegenheit). 9)
auf die irische
An-
Marx, Kapital, Buch I, Kap. 24, Anm. 248: Dieser Preßlakai, der im Sold der englischen Oligarchie den Romantiker gegenüber der Französischen Revolution spielte, . . . war durch und durch ordinärer Bourgeois. . . . Kein Wunder, daß er, den Gesetzen Gottes und der Natur getreu, stets sich selbst auf dem besten Markt verkauft h a t . . . Bei der infamen Charakterlosigkeit, die heutzutage herrscht und untertänigst an die Gesetze des Handels glaubt.
218 Leichtfertigkeit, mit welcher sich Burke über das ernste soziale Problem seiner Tage mit dem Hinweis auf die von Gott verordneten Gesetze des freien Handels hinwegsetzt, dazu die Art, wie er seine volkswirtschaftliche Theorie mit einem gefälligen religiösen Zierat ausstattet, mag manch einem die Galle erregen. Die Anschauungen, welche Burke in seiner Denkschrift von 1795 vorträgt, erscheinen wie geschaffen für gedankenlose, wohlgemute Kleinstadthonoratioren und Rentner. Trotzdem ist es irrig, Burke nur als einen der satten Bourgeois zu betrachten, für welche die sozialen Probleme in dem Augenblick gelost sind, in welchem die Dauerhaftigkeit des eigenen Wohlbefindens garantiert erscheint. Burke leugnete zwar, wie wir gesehen haben, daß soziale Nöte überhaupt eine „Frage" darstellen können, wenn das Wirtschaftsleben seinen eigenen freien Gang ging und nicht etwa eine falsche Staatspolitik oder tyrannische Willkür Einzelner außergewöhnliche Verwicklungen herbeigeführt hatte. Die Härten des wirtschaftlichen Daseins und die Unterschiede von reich und arm galten ihm als unabänderliche Tatsachen in gleicher Weise wie Krankheit und Tod oder Gewitter und Meeresstürme es sind. Damit war jedoch für ihn nicht die weitere Folgerung gegeben, daß es das beste sei, dem Lauf der Dinge in behaglicher Passivität zuzuschauen und das eigene Leben zu genießen. Allerhand Berichte und Anekdoten aus Burkes Leben bezeugen, daß er ein offenes Herz für die Nöte seiner Umwelt besaß und mehr als dies: eine rasch entschlossene Hilfsbereitschaft, die nicht nur beträchtliche materielle Opfer brachte, sondern auch vor persönlichen Unbequemlichkeiten nicht zurückzuckte, wenn einem Mitmenschen damit geholfen wurde. Draußen in dem Bezirk seines Landsitzes nahm sich Burke seiner armen Nachbarn an, war bei Krankheiten als eine Art von Medizinmann unter ihnen tätig, gründete eine Genossenschaft zur gegenseitigen Hilfeleistung bei Krankheit und Alter und bemühte sich, diesen Verein durch eigene regelmäßige Teilnahme in Gang zu halten. In den Teuerungsjahren 1795/96 (eben damals, als er seine Denkschrift abfaßte) ließ er in einer zu seinem Besitz gehörenden Windmühle Korn mahlen, davon in seinem Hause Brot backen und gab dies zu einem sehr ermäßigten Preis an die Armen ist es Pflicht, wieder und wieder die Burkes zu brandmarken, die sich von ihren Nachfolgern nur durch eines unterscheiden — Talent!"
219 der Umgegend ab. Es machte ihm auch Freude, bisweilen einen armen Landfahrer, den er mit seinem Gespann auf der Straße überholte, mitzunehmen und ihn auf diese Weise ein paar Meilen Marschierens sparen zu lassen. Viele Arbeit hatte er mit der Beantwortung von Bettelbriefen und einem ganzen Troß von Schützlingen. Sein Taschengeld pflegte er bei Spaziergängen durch Gaben an Bettler aufzubrauchen. Es heißt, daß er meistens seine Hausgenossen alarmieren mußte, wenn er nach einem Ausgang in einer Mietsdroschke wieder vor seiner Londoner Wohnung anlangte. Er fand nämlich dann kein Geld mehr in seinen Taschen, um den Kutscher zu bezahlen. Durch eines der unzähligen Witzworte Johnsons hat sich zufällig auch die Nachricht erhalten, daß Burke einmal in einem Sack steckend in ein Kohlenbergwerk hinabfuhr, um die Verhältnisse dort unten mit eigenen Augen kennen zu lernen — für die damalige Zeit ein Zeichen von ungewöhnlicher Stärke des sozialen Interesses. Ob dergleichen Unternehmungen in Burkes Leben öfters vorgekommen sind, weiß man nicht. Möglich ist es durchaus. So besteht zwischen dem Burke, der die kühl-oberflächlichen Worte von dem rüstigen jungen Mann, der nicht „arm" sei, weil der Zwang der Arbeit auf ihm liege, hinschreibt und welcher findet, es sei glatter Betrug, den Armen etwas anderes anzuempfehlen als ,,Arbeit, Nüchternheit, Einfachheit und Religion", und dem Burke, welcher seinen Wagen für- abgerissene Landstreicher halten läßt, seinen Beutel an Bettler leert und an die Sorgen unbemittelter Nachbarn denkt, ein beträchtlicher Unterschied. Es liegt auf der Hand, daß die Schroffheit der theoretischen Aussprüche in den „Thoughts and Details on Scarcity" durch den Eindruck veranlaßt ist, den die gleichzeitige Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse in dem revolutionären Frankreich auf Burke machte. Um die französische Revolution kreisten Burkes Gedanken in diesen Jahren ja mit einer beinahe abnormen Heftigkeit und Ausschließlichkeit. Alle anderen politischen und wirtschaftlichen Fragen, die in seinem Gesichtskreis auftauchten, setzte er zu der Revolution in Beziehung und beurteilte sie unter dem Gesichtspunkt, ob sie etwa einen Nährboden für jakobinische Ideen und Kräfte bilden könnten. Wenn ja, dann ging Burke sofort in die schärfste Gegnerschaft über. Wie er das Lob der Urväterweis-
220 heit und ehrwürdigen Autorität, die einem großen historischen Staatswesen innewohnen, in die Welt gerufen hatte, um vor dem nach verstandesmäßigen, schematischen Erwägungen willkürlich fabrizierten Staat der Pariser Nationalversammlung Abscheu zu erwecken, so bekannte er sich angesichts der mißlungenen Versuche der französischen Machthaber, die Volkswirtschaft durch Verordnungen und Tarife zu kommandieren, zu Grundsätzen, welche den Staat in allen Fragen der Volkswirtschaft zu einem bloßen Zuschauer machen.1) Die Furcht, daß der englische Staat durch eine von dem Gedanken der Volksbeglückung irregeleitete Wirtschaftspolitik in ein gleich verhängnisvolles Fahrwasser hineingerissen werden könnte wie Frankreich, veranlaßte Burke, Töne eines ausgesprochenen Wirtschaftsliberalismus anzustimmen. Die Anwendung Adam Smith'scher Formeln in dieser Altersschrift Burkes ist ohne Zweifel eine beachtenswerte Erscheinung. Selbst in dem Kopf dieses Lobredners der Vergangenheit begann sich zuletzt der Whigismus des achtzehnten Jahrhunderts in den Liberalismus des neunzehnten umzusetzen. Doch ist hier ein zu weitgehender Schluß gefährlich. Die Verwendimg der Adam Smith'schen Ausdrucksweise in den „Thoughts on Scarcity" bleibt doch im Grunde nur äußerliches Mittel, die beiden Gedanken auseinanderzusetzen, auf welche es Burke in der Schrift vor allem ankam und welche sich bei ihm über Jahrzehnte rückwärts verfolgen lassen *): die Idee der unvermeidlichen Fortdauer der sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede und die Ueberzeugung von der Schädlichkeit einer zu weit ins einzelne getriebenen Staatsverwaltung. ') Wie zu erwarten, fehlt am Ende der „Thoughts and Details on Scarcity" nicht der ausdrückliche Hinweis auf das Unglück, welches die Revolutionsmänner in ihrer tückischen Bosheit In Frankreich angerichtet haben, diese ,,nichtswürdigen Ungeheuer", an welche Burke, wie er sagt, niemals ohne eine „schwer zu beschreibende Mischung von Ekel, Schauder und Abscheu" zu denken vermag. *) Vgl. z. B. Burkes Äußerungen in einer Unterhausdebatte über die Kornausfuhr und Einfuhr, 4. Mai 1772 (Pari. Hist. X V I I ) . Schon damals wandte er sich gegen das „gefährliche Prinzip", daß bei wirtschaftlicher Bedrängnis der Bevölkerung die Staatshilfe einzusetzen habe. „Let us rather incalculate this maxim that they must work out their salvation with their own hand."
221 Man kann Burke vor allem deswegen nicht zu Smiths wirklichen Gesinnungsgenossen rechnen, weil er sich auf die praktischen Folgerungen, auf welche Adam Smith das Hauptgewicht legte, nämlich den Abbruch der merkantilistischen Schranken in dem Handel Englands mit den anderen großen europäischen Mächten, nicht einlassen wollte. Als der jüngere Pitt im Jahre 1786 mit
Unterhausdebatte
über den
Handelsvertrag
mit
Frankreich.
Karikatur von Gillray, J a n . 1787. (Linke Gruppe: die Regierung; vorn Pitt, hinter ihm Dundas usw. Rechte Gruppe: die Opposition; von vom nach hinten: Lord North [kauernd], Fox, Burke [mit der Brille], Sheridan.)
Frankreich einen Handelsvertrag abschloß1), der einem generationenlang betriebenen Zollkrieg der beiden Länder ein Ende machte, da zeigte Burke wie die ganze Oppositionspartei im Parlament nur ein mißvergnügtes Erstaunen und grämlichen Unwillen über ')
S a l o m o n , P i t t I, 2, S . 2 0 5 bis 2 3 7 ;
p o l i t i k i m 17.
und 18.
Schmoller, Die englische
Jahrhundert (Schmollers
Handels-
Jahrbuch 23, 4 [1899]).
222 diese Neuerung, welche dem französischen Nebenbuhler nutzen könnte.1) Ueberhaupt war die von Charles Fox geleitete Gruppe in den achtziger Jahren außerstande, die politischen Handlungen Pitts nach sachlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Zu sehr fraß die Erbitterung über die unerwartete politische Niederlage, die sie im Jahre 1784 durch ihren jungen Gegner erlitten hatte, an ihr; zu gierig stürzte sie sich auf jede Gelegenheit, dem Minister Steine oder wenigstens ein paar Dornenbündel in den Weg zu werfen. In theatralisch-leidenschaftlichen Gesten und Reden erging sich Fox, in geschmacklosem Keifen Edmund Burke. Pitt antwortete ihnen mit einem höflich abgezirkelten Hohn. Der Geist verärgerter Parteisucht beherrschte die Gruppe um Fox auch, als Pitt im Jahre 1785 sein Programm eines Wirtschaftsabkommens mit Irland vorlegte. Irland sollte nach Pitts Plan außer dem direkten Handel mit den englischen Kolonien, den es durch die Zugeständnisse des Ministeriums North schon seit Ende 1780 besaß, den freien Warenaustausch mit Großbritannien selbst erhalten, sofern es sich seinerseits zu einem angemessenen Beitrag zur Kostendeckung der Reichsflotte verpflichten wollte.*) Fox (der im Unterschied von seinem überlegenen parlamentarischen Gegner von volkswirtschaftlichen Fragen nichts verstand) führte seine Opposition im Unterhaus zunächst in der Weise, daß er in den Tönen des besorgten Patrioten die englische Oeffentlichkeit vor einer Schädigimg des Vaterlandes zum Vorteil der Iren warnte. Als darauf Pitt, angesichts der Schwierigkeiten, die sich in England erhoben, die Punkte seines Programms nochmals überarbeitete, so daß sie vom englischen Standpunkte aus gefahrlos erschienen, kostümierte sich Fox zum wahren Freund Irlands um, der nicht die Hand dazu bieten wolle, die Selbständigkeit der irischen Gesetzgebung zu beeinträchtigen, und entzündete gegen Pitts Plan das nur zu leicht aufflackernde Mißtrauen der Iren, welche mit einer eifersüchtigen Wachsamkeit ihre 1782 errungene Verfassungsselbständigkeit behüteten. Mit Hilfe des ihm eigenen volltönenden Temperaments trieb Fox auf diese Weise ein geschicktes, aber reichlich übles Spiel. >) Pari. Hist. X X V I , S. 342 bis 514. •) Salomon, Pitt I, 2, S. 28iff.; Pari. Hist. X X V , S. 3i2ff.
223 Pitts Vorschläge bewegten sich genau in der Richtung, welche Burke für die Reichspolitik erstrebte. Sie mußten dazu führen, daß die Interessengemeinschaft zwischen Irland und England gestärkt und damit das britische Reich in sich selbst fester verklammert wurde. Trotzdem hinderte Burke seinen Parteichef Fox bei dessen Kurs nicht. Er selbst hielt sich bei den Debatten über die Angelegenheit zurück und drückte sich durch Phrasen und durch Kritik an untergeordneten Einzelheiten des Pittschen Programms um eine grundsätzliche Stellungnahme nach Möglichkeit herum. Klarheit und Reinheit des politischen Charakters sucht man in diesem Fall bei ihm vergebens. 4. Das Gesamtproblem „Irland" zerfiel in zweierlei Fragengruppen. Die eine betraf das politische und wirtschaftliche Verhältnis der Insel zu der stärkeren englischen Nachbarmacht, die zweite die alten Gegensätze innerhalb der irischen Bevölkerung selbst. Hier wie überall innerhalb des britischen Staatswesens, beruhten die Zustände des achtzehnten Jahrhunderts auf den großen Entscheidungen, welche am Ausgang des siebzehnten gefallen waren. Die „glorreiche Revolution" von 1688/89, velche die Stuarts zum zweitenmal aus dem Lande jagte, bedeutete den endgültigen Sieg der ständischen Gewalten über die Kräfte des Absolutismus und damit das Ende eines Verfassungskampfes, der schon seit den letzten Regierungsjahren der Königin Elisabeth in mancherlei Formen hin- und hergegangen war. Gleichzeitig kam der Streit der religiös-konfessionellen Kräfte zur Ruhe. Durch die Austreibung der katholisierenden Dynastie der Stuarts, die Einsetzung des Oraniers und die Sicherung der protestantischen Thronfolge wurde der protestantische Charakter des englischen Staates schroff betont. Innerhalb dieses Staates sicherte sich die anglikanische Hochkirche Vorrang und Uebergewicht über die Gruppen des Puritanertums, gestand diesen jedoch von jetzt ab die freie Ausübung ihres Gottesdienstes zu. Doch dauerte es noch geraume Zeit, bis die religiösen Parteileidenschaften der vorangehenden Generationen völlig verraucht waren. Selbst ein so kühler, schneidendscharfer Verstandesmensch wie Jonathan Swift äußert sich noch in
224 der Manier eines regelrechten voreingenommenen Hochkirchenmannes Uber die gefahrliche „Wildkatzennatur" der protestantischen Radikalen. Die im Jahre 1673 erlassene Testakte, welche von den Inhabern sämtlicher Staats-, Gemeinde- und Korporationsämter den Nachweis der Zugehörigkeit zur Hochkirche forderte und sich in gleicher Weise gegen die Katholiken wie gegen die protestantischen Sekten kehrte, blieb in Kraft, wurde nur durch gelegentliche besondere Strafloserklärungen zugunsten der protestantischen Sektierer gemildert. Diese waren außerdem gezwungen, von ihrem Hausbesitz Kirchensteuer zugunsten der Staatskirche zu entrichten (wie alle Engländer) und in ihren Bezirken das lästige Amt eines Kirchenvorstehers zu versehen, wenn die Reihe sie traf, oder durch Zahlung eines Strafgeldes von 15 Pfund diese Pflicht von sich abzuwälzen. Die Geistlichen und Lehrer der Sekten mußten sich durch Unterschrift zu den 39 Artikeln der Hochkirche bekennen, mit Ausnahme der letzten drei Artikel, welche von der Kindertaufe und dem bischöflichen Kirchenregiment handelten.1) Die Katholiken im Lande wurden schärfer gestriegelt. Das Katholikentum, das hieß Irland, denn die Katholiken Englands waren unerheblich an Zahl und Bedeutung. Unter den Fahnen Jakobs II. und der Führung des Earl von Tyrconnel hatte das katholische Irland nach dem Umsturz von 1688 noch einmal den Versuch gemacht, die Herrschaft des Engländertums auf der Insel zu brechen. Religiöse und nationale Antriebe hatten sich bei dieser Erhebung untrennbar verbunden. In der nämlichen Weise vermischten sich nach der Niederwerfung des Aufstands (1691), als die englische Politik ihren Rückschlag führte, die konfessionellen Motive mit denen eines brutalen Machtstrebens. Konfiskationen lieferten die Hälfte des katholischen Grundbesitzes auf der Insel in protestantisch-englische Hände. Im Lauf der Regierungszeit Wilhelms und seiner Nachfolgerin Anna wurde ein umfassendes System von Ausnahmegesetzen*) aufgebaut, welches die einheimische Bevölkerung Irlands politisch und wirtschaftlich !) Vgl. Friedr. Aug. Wendeborn, Der Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Großbritannien, Berlin 1785. — Wendehorn war Geistlicher in einer lutherischen Diasporagemeinde in London. *) Übersicht und Charakteristik bei Bonn, Die englische Kolonisation in Irland II, S. lògli., Parnell, History of the Penai Laws, London 1825.
225 knebeln und für immer zu unschädlichen Knechten machen sollte. Der Grundbesitz von Katholiken mußte zu gleichen Teilen an sämtliche Kinder vererbt werden, um die den Katholiken noch verbliebeneu Ländereien immer mehr zu zersplittern. (War dagegen ein Sohn zum Protestantismus Ubergetreten, dann hatte dieser Anspruch auf das ganze Erbe.) Den Katholiken war der käufliche Erwerb von Grundstücken und ebenso die langfristige Pachtung verboten. Da das Wahlrecht an Grundbesitz von bestimmter Rentenhöhe gekntlpft war, bedeuteten all diese Maßregeln eine völlige politische Entrechtung der katholischen Bevölkerung, welche auf der Insel die weit Uberwiegende Mehrheit darstellte. Den Katholiken wurden die juristischen Berufe — die Pflanzschule eines politischen Führertums — verschlossen. Es war ihnen untersagt, Waffen oder für Kriegszwecke verwendbare Pferde zu besitzen. Katholische Handwerker durften höchstens zwei Lehrlinge halten. Katholische Privatschulen waren verboten, ebenso jede Hauslehrertätigkeit von Katholiken. Da die öffentlichen Schulen allein den Angehörigen der Hochkirche zugänglich waren und die Katholiken ihre Kinder auch nicht im Ausland unterrichten und erziehen lassen durften, so schien trefflich dafUr gesorgt, daß das irische Katholikentuin mehr und mehr in den Zustand einer dumpfen Unwissenheit hinabsinken werde. Mit dem katholischen Klerus endlich glaubte man in wenigen Jahrzehnten ohne blutige Ärgernisse fertig werden zu können. Die vorhandenen Pfarrgeistlichen blieben unbehelligt, wenn sie sich in eine staatliche Liste eintragen ließen. Die höhere Geistlichkeit dagegen und alle Mönche wurden aus dem Land verbannt, bei Strafe des Hängens und Vierteilens im Fall der Rückkehr. Da kein katholisches Priesterseminar im Lande bestehen durfte, kein Bischof zugelassen war, welcher Weihen erteilen konnte, und der Zuzug ausländischer Geistlicher untersagt war, versprachen sich die Protestanten ein baldiges Aussterben des katholischen Klerus auf der Insel. Aber sie hatten nicht die Zähigkeit und Aufopferungsfähigkeit der bedrängten irischen Geistlichkeit in ihre Rechnung eingestellt, ebensowenig die werktätige Sympathie des gemeinen Volkes für seine Seelsorger und Führer. Geistliche, welche sich in das staatliche Register eintragen ließen, besaßen nur ein geringes Ansehen. Die katholischen Bischöfe blieben trotz des Gesetzes, das sie austrieb, irgendwo im Lande. Es fehlte nicht an L e n n o x , Edmund Borke.
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226 Uberzeugten jungen Katholiken, welche zur theologischen Ausbildung nach Frankreich oder Spanien hinübergeschickt wurden, dann als Priester wieder nach Irland zurückkehrten und unter der armen irischen Katholikenbevölkerung eine bettelhafte, aber verantwortungs- und einflußreiche Existenz führten. Viele der säuberlich auskalkulierten Strafbestimmungen gegen die Katholiken konnten infolge der Ohnmacht der lokalen Gewalten nicht ausgeführt werden, bei anderen drückte die Regierung selbst ein Auge zu, teils aus Indolenz, teils deshalb, weil der eigentliche konfessionelle Verfolgergeist im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an Lebenskraft stetig verlor. Die Gehässigkeit und Brutalität der Ausnahmegesetze selbst, mit ihren Prämien für Angeberei und anrüchigen Ködern für Konvertiten war jedoch durch solche Lässigkeit der Ausführung nicht aus der Welt geschafft. In Burkes Nachlaß sind Bruchstücke einer angefangenen, aus seiner Frühzeit stammenden Schrift erhalten, welche sich gegen diese Katholikengesetze richtet und sowohl deren Ungerechtigkeit wie ihre politisch-wirtschaftliche Verkehrtheit nachweisen sollte. Es wäre verwunderlich, wenn man bei Burke, dem Kind einer protestantisch-katholischen Mischehe, inmitten eines Zeitalters, das von den Gedanken der Toleranz und der Humanität die stärksten Antriebe empfing, einer anderen Stellungnahme begegnen würde. Burke gehörte selbst der englischen Hochkirche an. In seinen jungen Jahren hatte ihn sein Interesse für alle geistigen Fragen auch auf das Studium der theologisch-konfessionellen Streitpunkte geführt. In seiner gründlichen und umfassenden Art machte er sich deshalb daran, alle die wichtigen theologischen Schriftsteller des 17. und 18. Jahrhunderts kennen zu lernen. Da er aber durch solcherlei Lektüre zu keiner größeren Klarheit kam, gab er sie wieder auf und beharrte fortan bei den Lehren seiner Kirche.1) Er räumte ein, daß sich in ihren Glaubensartikeln und ihrlr Liturgie Mängel fanden '), aber — so setzt er mit einem für ihn bezeichnenden Konservativismus hinzu — durch Reformen würden solche Spuren menschlicher Schwachheit nicht getilgt, sondern lediglich neu-
») Pari. Hist. X X I , 20. Juni 1780. l
) Vgl. Burke, Correspondence II, S. 270.
227 modisch verändert. Er bekämpfte daher die Strömungen, welche die alten Satzungen der Hochkirche auflockern wollten. Im Jahre 1772 richtete eine Anzahl von anglikanischen Geistlichen, zusammen mit einigen Laien aus dem Rechts- und Aerzteberuf, eine Petition an das Unterhaus, worin sie über den Zwang, sich auf die 39 Artikel der Hochkirche verpflichten zu müssen, Klage führten und sich auf das freie Protestantenrecht beriefen, die Bibel allein aus dieser selbst und ohne die Bindung an Vorschriften menschlicher Herkunft zu interpretieren.1) Bei der Verhandlung der Angelegenheit erklärte Burke trocken, die einzige Beschwerde der Herren sei im Grunde die, daß das englische Volk ihnen nicht in Form der Kirchensteuer Gehalt zahlen wolle, damit sie ihre persönlichen Phantasien als göttliche Wahrheiten vortrügen. An Stelle der Unterschrift unter die 39 Artikel eine Verpflichtung auf die Heilige Schrift im allgemeinen zu setzen (wie vorgeschlagen worden war), sei eine Sinnlosigkeit. Denn die Schrift sei ja nicht „eine Zusammenfassung regelrecht geordneter Lehren, in der niemand den Weg verfehlen kann", sondern „eine höchst verehrungswürdige, aber höchst vielfältige Sammlung von Berichten Uber das. göttliche Walten; eine Sammlung von unendlicher Verschiedenheit: Kosmogonie, Theologie, Geschichte, Weissagung, Psalmendichtung, Sittenlehre, Apologetik, Allegorie, Gesetzgebimg, Ethik — innerhalb verschiedener Bücher, von verschiedenen Verfassern, aus verschiedenen Zeitaltern und zu verschiedenen Zwecken". Ein Prediger, der es vor seinem Gewissen nicht verantworten könne, die 39 Artikel zur Richtschnur seiner Lehre zu nehmen, möge zu derjenigen unter den vielen Sektengemeinschaften übergehen, welche ihm zusage. Die Aufrechterhaltung des alten Glaubens und der inneren Geschlossenheit innerhalb der Staatskirche forderte daher nach Burkes Auffassung als Correlat die weitgehende Freiheit der anderen konfessionellen Richtungen innerhalb des Landes, damit sich die zwiespältigen Geister friedlich scheiden, die zusammengehörigen mühelos finden konnten. Burke setzte sich daher entschlossen für religiöse Duldung ein.
») Pari. Hist. X V I I , S. 251 ff.
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228 Die Toleranzpolitik der aufgeklärten Monarchen des europäischen Festlands betrachtete er mit bewundernder Anerkennung. 1 ) Die übliche Redewendung „unser aufgeklärtes Zeitalter" gebrauchte auch er mit Stolz und Befriedigung. Sein Empfinden von der Notwendigkeit und Schönheit der Duldung anderer Bekenntnisse steht sicherlich in hohem Grade unter dem Einfluß der deistischphilosophischen Bewegung, welche ein paar Jahrzehnte früher über England hingegangen war. Doch zeigt der Toleranzgedanke bei Burke eine spezifisch christliche Färbung. Er erscheint weniger als eine Folgerung aus Ideen über die Würde des Menschen und Hoheit geistiger Arbeit, denn als eine notwendige Konsequenz der dem Christentum innewohnenden Friedfertigkeit. Demgemäß bestritt Burke mit Eifer, daß schon das heidnische Altertum religiöse Duldsamkeit gekannt und geübt habe.2) Er erklärte es für die Aufgabe des Protestantismus seiner Zeit, die hohen Gedanken der Reformation von den ihnen anhängenden geschichtlich-empirischen Schlacken zu reinigen. Das Zeitalter der religiösen Revolution war voll von harten und blutigen Kämpfen. „Die religiöse Leidenschaft warf einen düsteren Schatten über die Politik. Politische Interessen vergifteten und verdarben den Geist der Religion in allen Lagern. Der Protestantismus — in diesem gewaltsamen Ringen wie vordem die päpstliche Religion von weltlichen Interessen und Leidenschaften angesteckt — wurde seinerseits ein Verfolger; manchmal ein Verfolger der Sekten, welche die Grundsätze der Reformatoren weiter führten als diesen passend erschien, und immer ein Verfolger der alten Gemeinschaft, von der er sich getrennt hatte. Dieser Verfolgungsgeist war nicht nur durch bittere Rachsucht, sondern auch durch die erbarmungslose Politik eigener Furcht hervorgerufen." 3 ) In der Gegenwart sei nunmehr die Zeit herangekommen, in welcher der Protestantismus den papistischen Harnisch, den er in den Kämpfen des Reformationszeitalters angelegt habe, abtun solle und der Geist echter Frömmigkeit und wahrer Weisheit, der in den protestantischen Grundsätzen enthalten sei, abgeklärt ans Licht treten könne. Speech Toleranzedikt a) Speech s ) Speech
at Bristol, 1780; Correspondence II, S. 436I (1781, über das Josephs II.). for the Relief of Protestant Dissenters, 1773. at Bristol, 1780.
229 Solche Gedankengänge leiteten Burke, wenn er sich ftlr eine weitgehende Toleranz aussprach. Er unterstützte die Dissenters in ihrem Streben nach größerer Unabhängigkeit in der Fassung ihrer Lehren. Er billigte die Versuche, ihre Pfarrer und Lehrer von der Pflicht, die Artikel der Hochkirche zu unterschreiben, zu befreien — Anträge, welche in den Jahren 1772 und 1773 an dem Widerstand des Oberhauses scheiterten, 1779 dann endlich durchgingen.1) Die Erweiterung der Toleranz gegen die protestantischen Sekten wurde gegen den hochkirchlich-bischöflichen Widerstand im Jahre 1779 deshalb durchgesetzt, weil das Parlament in der vorhergehenden Session den Katholiken wesentliche Verbesserungen ihrer Rechtslage zugestanden hatte und sich nun nicht bei den Wünschen von Protestanten taub stellen konnte. Als sich in Irland die Wolken zusammenzuziehen begannen, hatte die Regierung North nach Bundesgenossen gegen die unbotmäßige anglo-irische Bevölkerung Ausschau gehalten. Sie glaubte, das irische Katholikentum als loyale Hilfstruppe ausspielen zu können und war daher bestrebt, sich dieses durch Zugeständnisse zu verpflichten. Daher unterstützte sie im Jahre 1778 einen von der Minderheitspartei eingebrachten Antrag, der sich gegen eines der Katholikengesetze wendete, das von der neuen Zeit als besonders unbillig und peinlich empfunden wurde.3) Es wurde daraufhin ohne Widerspruch aufgehoben. Burke schwieg während der betreffenden Verhandlungen aus taktischen Gründen. Er überließ die Führung dieser parlamentarischen Aktion einem Parteigenossen, Sir George Savile, dessen protestantische Glaubensfestig!) Pari. Hist. XVII, S. 436 (1772). Burke gebrauchte scharfe Worte gegen diejenigen Dissenters, die sich unter Petitionen gegen die geplante Aufhebung der Unterschrift unter die hochkirchlichen Artikel aussprachen, d. h. eine weitere Ausdehnung der Toleranz über die Grenze der calvinistischen Gruppen verhindern wollten. ("Shall I not say to these men, arrangez-vous canaille ? You, who are not the predominant power, will not give to others the relaxation, under which you are yourself suffered to live". Speech for thé Relief of Protestant Dissenters, 1773, Pari. Hist. X V I I S. 770ff.). *) Lebenslängliches Gefängnis for das Lesen der Messe; die gleiche Strafe für die Lehrtätigkeit von Katholiken; Verlust des Verfügungsrechts über den eigenen Besitz zugunsten des nächsten zum Protestantismus übergetretenen Verwandten usw. — Saviles Relief Bill: Pari. Hist. X I X , S. H38ff. — Burkes Urteil darüber: Speech at Bristol, 1780.
230 keit von keinem Gegner angezweifelt werden konnte. Doch blieb nicht unbekannt, wie sehr die Reformmaßregel in Burkes Sinn war. Die Unterhausmitglieder tuschelten sich zu, der größere Teil der Vorschlage Saviles rühre von Burke her. Saviles „Relief Bill" galt nur für die englischen Katholiken, aber ihre Annahme war ein deutlicher Wink der englischen Regierung nach Irland hinüber, auch dort den Kurs gegenüber der Katholiken entsprechend zu ändern. Daraufhin wurde dort ebenfalls ein Teil der Zwangsgesetze abgetragen. Die Katholiken erhielten das Recht der Bodenpacht mit Fristen bis zu 999 Jahren. 1782 wurde ihnen das Recht des freien Grunderwerbs wieder zugebilligt. Burke äußerte sich Uber dies Gesetz von 1782 mit einem bei ihm ganz ungewohnten Radikalismus. Es ging ihm langst nicht weit genug. Er richtete den Blick nicht auf die Zugeständnisse, welche den Katholiken gemacht wurden, sondern auf die noch bestehenden Harten, welche der Gesetzentwurf von neuem sanktionierte: Ausschluß vom Stimmrecht, von den Beamtenstellen, städtischen Zunftprivilegien, der Geschworenentatigkeit, dem Anwaltsberuf, dem Rechte des Waffenbesitzes usw. Burke erklärte, ein solches Gesetz gleiche mehr einer Proskriptionsliste als einem Gnadenakt.1) Er hielt in Irland eine weitgehende Versöhnungspolitik und vollständige Rehabilitation der katholischen Bevölkerung für notwendig. Es vertrage sich nicht mit den Grundsätzen der großen Revolution von 1688, auf denen das britische Staatswesen ruhe, daß Millionen von Bürgern ihre Verfassungsrechte geraubt seien. Freilich hatte die Umwälzung von 1688, wie Burke selbst scharf hervorhob, in Irland einen anderen Charakter getragen als in England. In England war sie eine Erhebung der breiten Masse des Volks gegen eine kleine Minderheit gewesen, in Irland eine Eroberung von außen her, mit all dem Haß und der Brutalität einer solchen; die Parallelen dazu seien in Irlands mittelalterlicher Geschichte zu finden. Man solle also bei der Behandlung der irischen Frage lieber nicht von „Katholiken" und „Protestanten" reden und religiösen Bekehrungseifer vorschützen, wo es sich doch um die Begründung und den Genuß einer oligarchischen Herrschaft handle 1
) Letter to a Peer of Ireland on the Penal Laws against Irish Catholics, 1782.
231 und gerade die ärgsten Bedrücker den Uebertritten bedrängter Katholiken zu der herrschenden Religion nur mit einem Knurren zusähen, weil sich dadurch die Zahl der „Untertanen" verminderte. Burke hielt das in Irland bestehende System für nicht lebensfähig: „Eine Oligarchie von Plebejern ist ein Monstrum und kein Volk, das nicht nur aus Haus- und Ackersklaven besteht, erträgt sie lange. Die irischen Protestanten sind an Zahl nicht genügend, um eine Demokratie zu bilden; anderseits sind sie zu zahlreich, um den Zwecken einer Aristokratie zu entsprechen." Er war daher dafür, den Katholiken das Wahlrecht zurückzugeben, etwa unter Zugrundelegung eines höheren Census als für Protestanten festgesetzt war. Doch glaubte er, man könne auf eine solche besondere Vorsichtsmaßregel sogar verzichten. Selbst dann werde die Beteiligung der Katholiken an den Wahlen die Zusammensetzung des irischen Parlaments geraume Zeit in keiner Weise praktisch ändern. Aber das Wesentliche werde dennoch sogleich erreicht: das gleiche Recht des Katholiken sei im Grundsatz anerkannt und dadurch der alte unheilvolle Stachel entfernt.1) Die Erleichterungen, welche das englische Parlament im Jahre 1778 den Katholiken gewährt hatte, hatten ein nochmaliges planloses Aufflackern des alten calvinistischen Fanatismus zum Gefolge. Man plante ursprünglich, in der folgenden Session das Gesetz auch auf die schottischen Katholiken auszudehnen, aber bald mußte dieser Gedanke angesichts der Stimmung der von ihren Geistlichen aufgehetzten presbyterianischen Bevölkerung Schottlands aufgegeben werden. Die schottischen Katholiken mußten zufrieden sein, wenn sie und ihre Habe gegen die lärmenden Ausschreitungen des Pobels von Edinburgh und Glasgow Schutz fanden. Im Frühjahr 1780 griff die Bewegung auf England Uber. Zeitungsinserate und Flugblätter forderten zur Gründung einer „protestantischen Vereinigung" auf, welche die papistischen Umtriebe bekämpfen sollte. Die Führung der Aufgeregten ergriff das enfant terrible des Unterhauses, Lord George Gordon, ein junger Adliger, der durch diffuses Gerede, Vorlesen von Zeitungsartikeln und ganzen Broschüren *) Letter to Sir Hercules Langrishe, 1792. — Beachte die Schlußbemerkung Burkes: "Since I could think at all, those have been my thoughts. You know that thirty-two years ago they were as fully matured in my mind as they are now." Vgl. auch Corr. III, S. 363f.
232 die Nerven seiner Parlamentsgenossen zu peinigen und die Tagesordnung zu verwirren pflegte, wenn er in den Debatten zu Wort kam. Nun gebärdete er sich als heldenhafter Verteidiger des Protestantentums gegen die hollischen Anschläge des Papismus. Ein Demonstrationszug von mehreren tausend Menschen gab ihm das Geleit zum Parlamentsgebäude, als er eine Petition überreichte, welche um Widerruf des Katholikengesetzes von 1778 bat. Sie trug an die 120 000 Unterschriften. Der Pöbel hielt das Parlamentsgebäude blockiert, belästigte die zur Sitzung kommenden Abgeordneten, drängte ihnen die Kokarden der „protestantischen Vereinigung" auf, zerzauste einige Perücken, zerbrach Kutschenfenster und johlte einen Erzbischof an. Im weiteren Verlauf wurden die Formen des Tumults bedenklicher. Gefängnisse wurden gestürmt und angezündet, die Häuser der bekannten Toleranzfreunde bedroht, die katholischen Kapellen in den fremden Gesandtschaften unter dem alten konfessionellen Schlachtruf „No popery" demoliert. Schnaps und Bier flössen in Strömen. So ging es mehrere Tilge, bis das Militär die Ruhe in der Stadt wieder herstellte. Edmund Burke hatte sich in den Monaten vorher gegen die unduldsamen, bigotten Kundgebungen aus den Kreisen der schottischen Geistlichkeit öffentlich scharf ausgesprochen.') Jetzt, in den Tagen der Gordontumulte, war er zu stolz, von seiner Sache zu desertieren, als sie für ihre Verfechter peinlich und gefährlich zu werden drohte. An einem der Tage ging er absichtlich auf der Straße unter der Menge herum, ohne zu verbergen, wer er war. Von dem aufgeregten, aber ziellosen und im Grunde roh-gutmütigen Haufen geschah ihm nichts. Der Mut, den Burke bei dieser Gelegenheit bewies, war von einer etwas krampfhaften Art — vibrierende Tapferkeit eines Märtyrers, weit verschieden von soldatischer Kaltblütigkeit, die in diesen Tagen z. B. König Georg III. zeigte, der ohne Furcht vor dem in der Stadt lärmenden Pöbel in seinem Palast wohnen blieb und schließlich das Eingreifen des Militärs von ') Es war nicht ohne Komik, wie daraufhin dem berühmten Mann von würdigen Presbyterianern aus Edinburgh Predigten und Schriftchen zugesandt wurden, welche seine Vorwürfe entkräften und die liberale, versöhnliche Gesinnung schottischer Pfarrer beweisen sollte. Burke fand darin nur wieder den gleichen Verfolgergeist, den er zu brandmarken wünschte, siehe Corr. II, S. 253ff., 266ff.
233 sich aus anordnete, als die Regierung sich zu nichts entschloß. Burkes Nerven wurden durch diese Vorgänge sehr nachhaltig aufgewühlt. Er überschätzte die Gefährlichkeit des Tumults bei weitem. „In what was London" überschrieb sein mit ihm zusammenlebender Bruder einen Brief aus den Unruhetagen.1) Noch ein Vierteljahr später redete Burke von dem „gräßlichen Schauspiel", dessen Gelingen „Recht, Ordnung und Religion unter den Trümmern der Metropole der protestantischen Welt begraben" hätte.*) Von dem Eindruck der Gordontumulte her ist ihm dauernd ein gereizter leidenschaftlicher Abscheu vor allem, was nach Pöbelradau aussah, geblieben. Burke war der Meinung, daß in allen Formen der Religion genug des Guten enthalten sei, um die Ehrfurcht des Menschen zu fordern. Sie alle seien durch die göttliche Weisheit in die Welt gebracht, um die Menschheit emporzufUhren. Burkes Toleranz umfaßt daher im Grundsatz alle Bekenntnisse des Christentums und noch Uber diese Grenze hinaus alle Arten lebendigen religiösen Empfindens. Auch der Welt „der Synagoge, der Moschee und der Pagode"*) wollte er die Achtung nicht versagen. „Die Sache der englischen Staatskirche ist in derjenigen der Religion inbegriffen," erklärte er, ,glicht die der Religion in der Staatskirche." Sekten und religiöse Eigenbrödler seien nicht Feinde, sondern Bundesgenossen in dem großen Kampf, den das religiöse Denken überhaupt gegen die finstere Brut des Atheismus zu führen habe. An diesem Punkt findet Burkes Toleranzgefühl seine harte Schranke. „Die Glaubenslosen sind von der Verfassung geächtet, nicht nur in diesem Lande, sondern bei dem ganzen Menschengeschlecht. Niemals, niemals darf man sie unterstützen, niemals dulden," rief er schon im Jahre 1773 im Unterhaus aus.') Es klingt wie eine erste vorbereitende Probe zu dem gellenden Alarm, den er in den Jahren der französischen Revolution schlug. In der Tat war dieser Bannfluch gegen die Atheisten schon damals durch Eindrücke französischer Verhältnisse hervorgerufen. Burke hatte in ») *) ') *)
Corr. II, S. 350. Speech at Bristol, 1780. Corr. I, S. 270. Speech for the Relief of Protestant Dissenters.
234 dieser Zeit eine Reise nach Frankreich unternommen. Wie alle Auslander von einigem Ruf war er in den Pariser Salonzirkeln mit Liebenswürdigkeit und Interesse empfangen worden und wie jede unbeirrt ihren Weg gehende Persönlichkeit hatte er in dieser stets nach Anregungen und Neuigkeiten durstenden Gesellschaft für einen kurzen Augenblick den Modeton bestimmt.1) Darum ist es wahrscheinlich, daß die kecke, fahrige Freigeisterei und heitere Frivolität dieser Kreise in Burkes Gegenwart gar nicht zum unverhllllten Ausdruck kam. Trotzdem empfand Burke seinen inneren Gegensatz zu den Literaten der franzosischen Hauptstadt zur Genüge. Weit wohler fühlte er sich, wenn er mit harmlosen Vertretern des provinzialen bischöflichen Klerus zusammensaß. Noch weit mehr wie in der Zeit, als er gegen die Bolingbrokesche Zweifelsucht zu Felde zog*), erschien ihm seit dieser Reise nach Frankreich der Unglaube philosophischer Skeptiker und der auflosende Radikalismus der Deisten als anarchistischer Angriff auf die Grundlagen der Kulturwelt überhaupt. Tatsachlich verband sich in dieser Generation häufig der rationalistische Radikalismus des religiösen Denkens mit extremen Wünschen und Methoden auf dem politischen Gebiet. Die aufgeklärt-liberale Religionsgemeinschaft der Unitarier enthielt die eifrigsten Freunde und Lobredner der französischen Nationalversammlung. Ihre Kundgebungen waren es, welche Burke zu dem Gegenschlag seiner „Betrachtungen über die französische Revolution" antrieben. Kein Wunder darum, daß er auch gegen die Unitarier als solche wütete, als die Frage zur Verhandlung stand, ob man die religiöse Toleranz auf sie ausdehnen solle (1792). •) *) Horace Walpole notierte damals spottend die christianisierende Wirkung, welche Burkes Aufenthalt in den Pariser Salons ttbte. Siehe Horace Walpole, Letters ed. Cunningham IV, S. 449: "Mr. Burke is returned from Paris where he was so much the mode that happening to dispute with the philosophers, it grew the fashion to be Christians. St. Patrick himself did not make more converts." *) Vgl. Kap. I. ') Speech on the Petition of the Unitarians, Mai 1792. — Daß die wilden Bilder von Burkes Schauerphantasie Gefahr liefen, lächerlich und possenhaft auszufallen, mag folgendes Beispiel veranschaulichen: „Solange diese kriechenden Insekten (die Unitarier) nur intrigieren und Trinksprflche ausbringen, erfüllen sie uns nur mit Abscheu. Wenn aber . . . die Menge ihres Giftes wächst,
235 Dieselben Motive, welche Burke veranlaßten, den revolutionsfreundlichen Unitariern Widerstand zu leisten, trieben ihn an, sich gleichzeitig der irischen Katholiken nach Kräften anzunehmen. Die politischen Veränderungen in Frankreich hatten auch in Irland die Dinge in einen rascheren Fluß gebracht und dort ein neues Element der Unruhe geschaffen. Die radikalen Republikaner, welche sich zumeist aus den Kreisen der nordirischen Dissenters rekrutierten,
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Der R e v o l u t i o n s f r e u n d P r i c e wird d u r c h ein n ä c h t l i c h e s G e s p e n s t (Edmund Burke) e r s c h r e c k t . Karikatur von Gillray, Dezember 1790.
gründeten in dem Verein der „United Irishmen" eine Organisation zur Verwirklichimg ihrer Ziele. Sie suchten die Bundesgenossenschaft der irischen Katholiken zu gewinnen, um mit diesen gemeinsam eine nachdrückliche Parlamentsreform, die den Einwohnerwährend seine Stärke gleichbleibt, werden sie Gegenstände des größten Schreckens. Eine Spinne in natürlicher Größe ist eben nur eine Spinne, häßlich und ekelhaft; ihr lockeres Netz dient nur. Fliegen zu fangen. Aber, o Gott, man stelle sich eine Spinne vor, groß wie ein Ochse, und die Taue, welche diese um uns spinnt — keine der Wildnisse Afrikas bringt etwas so Furchtbares hervor!"
236 Verhältnissen des Landes Rechnung trug, und Gleichstellung der Katholiken herbeizufuhren. Die bisherige offizielle Vertretung des irischen Katholikentums war das „katholische Komitee" in Dublin gewesen. Dieses spaltete sich im Jahre 1791 in eine kleinere aristokratisch-konservative Gruppe, welche die bisherige Politik, die Regierung nur mit B i t t e n um weitere Schritte in der Richtung der Katholikenbefreiung anzugehen, nicht aufgeben wollte und einen energischeren Flügel, in dem der katholische Mittelstand den Ton angab. Dieser fand, es sei nun endlich Zeit, von der so wenig gutwilligen Dubliner Regierung und der exklusiv protestantisch gesinnten Mehrheit des irischen Parlaments die Rechte, auf welche man Anspruch habe, mit Nachdruck zu f o r d e r n . Es war vorauszusehen, daß diese Gruppe bald den Weg zu den „United Irishmen" finden würde, wenn die Regierung ihren Kurs nicht wechselte. Pitt erkannte die Gefahr, glaubte aber die Katholiken vorerst genügend beschwichtigen zu können, wenn die Regierung zu verstehen gab, sie sei einer Erteilung des Wahlrechts an die Katholiken nicht abgeneigt, doch ohne tatsächlich Maßnahmen nach dieser Richtung einzuleiten.1) Edmund Burke war von größerer Sorge erfüllt. Hier wie anderswo fürchtete er auf das lebhafteste, daß die Mißhelligkeiten und Übelstände des Staats ihre trüben Gewässer in die „cloaca maxima des Jakobinismus"') ergießen würden. Er suchte daher die Regierung und das protestantische Herrentum Irlands zu wirklichen Zugeständnissen an die Katholiken zu drängen, um dadurch einen Damm zwischen diesen und der hitzigen Propaganda der Radikalen aufzurichten. Eine Abschlagszahlung, welche der irische Vizekönig Anfang 1792 gewährte — Wiederzulassung der Katholiken zum Rechtsanwaltberuf — und die Pitt völlig befriedigte, erschien Burke bei weitem nicht ausreichend. Sein Wunsch war, das Katholikentum Irlands durch schleunige Wiedereinsetzung in alle staatsbürgerlichen Rechte an dem bestehenden Staatswesen zu interessieren und die weitergehenden Pläne einer allgemeinen Parlamentsreform (der sich Burke ja auch in England immer entgegengesetzt hatte) dadurch abzuschneiden. Solange die irischen ') Siehe die bei Salomen), Pitt I, 2 im Anhang (S. 591 ff.) abgedruckten Schreiben Pitts an den irischen Vizekönig Lord Westmoreland. ') Second Letter to Sir Hercules Langrishe, 1795.
237 Katholiken durch Ausnahmegesetze zu einem Pöbel herabgedrückt seien, würden sie sich auch als Pöbel betragen und den Einflüssen' radikaler Ideen preisgegeben sein. Wenn man dagegen aus dieser Masse ein aristokratisches Element herauslöse1) und nach Kräften fördere, würde der Katholizismus Irlands seinen natürlichen Charakter wieder erhalten und sich bei dem Kampf gegen den rationalistischen Umsturz in einen Bundesgenossen des alten, auf der geschichtlichen Basis von Autorität und „Verjährung" ruhenden Staates zurückverwandeln. Die praktische Arbeit, welche erforderlich war, um Edmund Burkes irische Politik zu verfechten und zum Siege zu führen, übernahm sein einziger Sohn Richard, der damals in den dreißiger Jahren stand. Im Jahre 1791 hatte er als Vertreter seines berühmten Vaters mit den französischen Emigranten in Koblenz persönliche Verbindung angeknüpft. Nun bot ihm Irland Gelegenheit, seinen eigenen Eintritt in das politische Leben zu vollziehen. Das „katholische Komitee" hatte ihn — im Hinblick auf den Ruf und die Fähigkeiten des Vaters — zu seinem Geschäftsführer gewählt. Anfang 1792 fuhr Richard Burke daher nach Irland hinüber, um die Gruppen des dortigen Katholikentums unter sich wieder zu einigen, von den Lockungen der „United Irishmen" abzuziehen und als ihr Berater und Führer die Regierung in Dublin zu größeren Zugeständnissen zu veranlassen. Pitt hatte ihm, wenn auch unter Zurückhaltung gegen seine Politik und mit Skepsis gegen seine Person, eine Empfehlung an den Vizekönig mitgegeben. So fehlte es Richard Burke bei seinem ersten Auftreten nicht an der Folie. Doch schon wenige Monate später mußte der angehende Staatsmann ein Schiff zur Rückfahrt nach England besteigen. Das katholische Komitee hatte ihn mit einer Ehrengabe von zweitausend Guineen heimgeschickt, um ihn und seine Vermittlerdienste los zu sein. An seinem störrischen Eigensinn, seiner hitzigen Unklugheit und taktischen Ungeschicklichkeit war seine Mission in kürzester Frist vollständig gescheitert. Die irischen Politiker würzten ihre Geselligkeit mit abenteuerlichen Geschichten über die Einzelheiten seines Verhaltens. Einer der radikalen Wortführer, Wolfe Tone, der an die Feinfühligkeit seiner Letter to Sir Hercules Langrishe, 1792.
238 Mitmenschen weiter keine großen Anforderungen stellte und mit einer vergnügten Burschikosität auf die Revolution hinarbeitete, erklärt in seinem Tagebuch Richard Burke für den „frechsten und halsstarrigsten Kerl," der ihm vorgekommen sei. Von der Regierungsseite fielen Urteile, welche in etwas gewählterer Sprache das nämliche besagen.1) Daß sie nicht ganz irrig und ungerecht waren, beweist die Tatsache, daß Richard Burkes eigenes Selbstgefühl trotz der erlittenen Blamage ungetrübt blieb.*) Im Herbst des Jahres versuchte er sein politisches Glück in Irland noch ein zweites Mal. Aber unterdessen hatte das katholische Komitee das Bündnis mit den „United Irishmen" geschlossen. Bei der Nachricht von den militärischen Erfolgen der Franzosen Uber die Armee des alten Europa wehten in den katholischen Stadtteilen Dublins die Fahnen. Richard Burke — der Stolz und die blinde Liebe seines Vaters — war als Politiker dessen Karikatur. 5. Manch einem Beobachter*) des politischen Lebens von England und Amerika ist der eigentümliche Typus des „partiellen Reformers" aufgefallen, jene Männer, die mit einer ungeheuren Zähigkeit und oft ebenso großen Einseitigkeit ihr Leben der Aufgabe widmen, auf einem ganz bestimmten engumgrenzten Gebiet des Staats- oder Wirtschaftslebens eine Reform zuwege zu bringen. Jahr um Jahr appellieren sie an die Oeffentlichkeit, stellen sie die ') Siehe das bei Froude abgedruckte Schreiben Westmorelands : "Mr. Burke is certainly the most unaccountable animal ever employed in any mission.. bis folly and madness.. his imprudence has been beyond expression . . the stories about the pétition are hardly credible." ') Bericht Rieh. Burkes an seinen Onkel, Corr. III, S. 486ff.: " . . . 1 have, in my Irish expédition, made a kind of essay on the public stage, and upon the whole, I have left a tolerably good impression", worauf eine rosige Schilderung seiner Tätigkeit folgt. — Auf seine Selbsteinschätzung wirft auch einer seiner Briefe an die Regierung ein Licht: ,,.. .Wenn ein Teil des Reiches oder das ganze infolge der unausrottbaren Abneigung und des Mißtrauens der gegenwärtigen Regierung gegen uns beide (Burke Vater und Sohn) verlorengehen sollte, wird es ein großes Unglflck sein, aber eines, das in dem Bereich der Möglichkeit liegt" (30. Juli 1793 an Dundas; Froude III, S. i n Anm.) ') Siehe z. B . Emile Boutmy, Essai d'une psychologie politique du peuple anglais au X I X e siècle, Paris 1901, S. 201.
239 nämlichen Anträge, bis das Ziel endlich erreicht ist oder Alter und Tod sie zwingen, die Fortsetzung der gleichen Arbeit jüngeren Händen zu überlassen. Gestalten dieser Art traten in England zuerst am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts in größerer Zahl auf. Zum Teil waren es Jünger der Aufklärung, welche die Kräfte anspannten, um gleichem Recht und „natürlich-vernünftigen" Zuständen in der menschlichen Gesellschaft zum Sieg zu verhelfen und die alten Grausamkeiten und Pedanterien, die der Würde des Menschen Hohn sprachen, verschwinden zu lassen. Zum anderen Teil waren es Männer, die nicht (oder wenigstens nicht unmittelbar) von dem Zeitideal des „denkenden Menschen, des Herrn der Natur" die Antriebe ihres Handelns empfingen, sondern von den religiös-pietistischen Strömungen des Jahrhunderts erfaßt waren. Sie bewegte das Gefühl der Verpflichtung, den Christensinn den Übeln dieser Welt gegenüber stets aufs neue durch die Tat zu bewähren. Die rationalistischen Freidenker empfanden die Härten der sozialen Zustände als barbarische Dummheit, die gläubigen Sektenchristen sahen darin boshaftes Teufelswerk, aber die Wege beider führten in der gleichen Richtung: elende Mitmenschen nicht in ihrer Not verkommen zu lassen. Der Pflichtenkreis Edmund Burkes war so weit, seine politischen Interessen so vielseitig, daß er sich nicht wie diese seine Zeitgenossen in eine oder mehrere Spezialfragen einspinnen konnte. Aber auch seine Politik enthält unverkennbar einen starken Beisatz spezifisch ,»liberaler" Menschenfreundlichkeit. Er begrüßte John Howards Bemühungen, das Gefängniswesen zu bessern1), er unterstützte Reformen des Gesetzes über die Schuldhaft und er bekannte sich nachdrücklich als Freund der Bewegung gegen den Sklavenhandel, deren Vertreter im Parlament seit 1787 der junge William l ) J o h n H o w a r d (geb. 1726, Sohn eines Londoner Kaufmanns) wird 1773 als Sheriff von Bedfordshire auf die Mißstände in den Gefängnissen aufmerksam. E r besucht alle Gefängnisse Englands, berichtet dem Parlament hierober und veröffentlicht 1777 ein Buch "State of the Prisons in England and Wales". E r wiederholt seine Gefängnisvisitationen in England und bereist im Laufe des Jahres alle europäischen Länder, um deren Gefängnisse kennen zu lernen. 1789 wird er bei einer solchen Studienreise in Cherson von einer Epidemie erfaßt und stirbt. Howard war eine streng religiöse Natur, Abstinent und Vegetarier.
240 Wilberforce war.1)
Burke stellte auch selbst im Lauf seiner Parla-
mentsjahre so manchen Reforraantrag im Dienst der Menschlichkeit, z. B. gegen Mißbrauche bei der Strafe des Prangerstehens, gegen Ueberbleibsel des mittelalterlichen Strandrechts usw. Aber
was
soll
man
dergleichen
Einzelhandlungen
Burkes
registrieren, die in seinem Lebenswerk blofie Spreu sind I A l s seine eigentliche Leistung im Dienst des Humanitätsgedankens galt ihm selbst sein Eintreten für die wehrlose Bevölkerung Indiens. Die
englische O s t i n d i e n k o m p a n i e 2 )
gehörte zu
den
Handelsgesellschaften, welche in den letzten Jahren der Königin *) Über die Wurzeln der A b o l i t i o n s b e w e g u n g siehe Leslie Stephen, The English Utilitarians, London 1900, I, S. 113 ff. Über W i l b e r f o r c e : The Life of William Wilberforce by R. J. and S. Wilberforce, 5 Bände, London 1839. Sein Werdegang: Geboren 1759 als Sohn eines reichen Kaufmanns in Hull. Auf den Zwölfjährigen wirken methodistische Einflüsse, welche die Familie wieder ausrottet. Als Siebzehnjähriger geht Wilberforce nach Cambridge, als Zwanzigjähriger zieht er als Vertreter seiner Vaterstadt in das Unterhaus ein. Freundschaft mit dem gleichaltrigen Pitt. Teilnahme an dem Treiben in den modischen Londoner Klubs. Während einer Reise nach Frankreich wird Wilberforce's religiöses Interesse durch einen Reisegefährten geweckt (Herbst 1785). Lektüre der Bibel, Pascals usw.; Meditationsstunden. Im Dezember teilt Wilberforce seinen Freunden die Tatsache seiner inneren Wandlung mit. 1786 Studium der Verhältnisse des Sklavenhandels. Frühjahr 1787 Gründung eines Vereins zur Hebung der Sittlichkeit. Oktober 1787 Tagebucheintrag: "God Almighty has set before me two great objects, the suppression of the slave trade and the reformation of manners." B u r k e hatte schon um 1780 eine Denkschrift mit Vorschlägen für die Regulierung des Sklavenhandels verfaßt, die er aber liegen ließ und erst 1792 hervorholte (Sketch of a Negro Code). Er trat darin dafür ein, die Sklavenschiffe zu registrieren, ihre Ausrüstung und ebenso die Zahl der Neger, die sie aufnehmen durften, genau festzusetzen, in Afrika bestimmte Hafenstationen einzurichten, an die sich die Schiffe halten mußten (Kontrolle durch Kriegsschiffe und staatliche Inspektoren). Prämien für Kapitäne, welche auf der Überfahrt nur 1 unter 30 Negern durch Krankheit verlieren. In Westindien Ernennung von Distriktsaufsehern, Festsetzung bestimmter Ausladehäfen für die Sklavenschiffe, Seelsorge an den Sklaven, Sonntagsruhe, Recht der Neger, Vermögen zu besitzen und zu vererben usw. *) Sir Alfred Lyall, The Rise of the British Dominion in India, London 1893. — Wertvolles Zahlenmaterial in der anonymen "Short History of the East India Company", London, Sewell und Debrett 1793, viele Angaben auch in den Bänden der "Parliam. History".
241 Elisabeth gegründet wurden, in jener Zeit, als der englische Handel sich in plötzlich erwachter Unternehmungslust zum erstenmal auf alle Meeresstraßen hinauswagte. Die Kompanie (seit 1612 als Aktiengesellschaft betrieben) erhielt durch königliches Privileg das Alleinrecht auf den Handel mit den Landern jenseits des Kaps der Guten Hoffnung. Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts hatte das Unternehmen mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen; am Anfang des folgenden wurde es auf eine breitere Grundlage gestellt. Durch Uebernahme von zinslosen oder einen sehr geringen Zins tragenden Staatsanleihen erkaufte es sich die Fortdauer seines Monopols.1) Um 1750 besaß die englische Kompanie etwa ein halbes Dutzend Niederlassungen an der KUste Indiens.9) Sie waren im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts gegründet oder erworben worden. Die drei wichtigsten waren Madras (Fort St. George), Bombay und Calcutta (Fort William). An gleichartigen Punkten des Landes, zum. Teil in bedenklicher Nachbarschaft, befanden sich Siedlungen der französischen') und der holländischen Konkurrenz.4) An der Westküste hatten die Portugiesen noch einige spärliche Reste ihres früheren Herrschaftsgebiets festhalten können.') Die Zeiten der Expansion Hollands und Portugals waren vorbei. Als ernsthafte Nebenbuhler kamen daher nur die Franzosen in Betracht. Das Jahrzehnt 1750/60 entschied auch auf dem indischen Boden, wie in Nordamerika, zu Ungunsten der Franzosen. Fortan brauchte der englische Gouverneur von Madras nicht mehr die Anwesenheit französischer Truppen in SUdindien als negativen Posten in seine politischen Rechnungen einzustellen. Im Ganges-Tiefland gingen in denselben Jahren noch wichtigere Veränderungen vor sich. 1756 marschierte der Landesfürst von Bengalen, der eben den Thron bestiegen hatte, gegen Calcutta. Dem mißtrauischen unbeherrschten Sultan mißfiel es, daß die Eng*) Im Jahre 1730 für die Zeit bis 1766; 1744 für die weitere Spanne 1766 bis 1781. *) Außerdem die Insel St. Helena als wichtige Zwischenstation auf der Strecke nach Indien. Nach der Erwerbung des Kaplandes in den napoleonischen Kriegen verlor sie ihre frühere Bedeutung. ') Pondicherry, Mahe, Chandernagore. *) Ceylon, Dacca (im Gangesgebiet) usw. ') Goa, Damaun, Diu. L e n n o x , Edmund Borke.
16
242 länder diese Stadt (gegen die Franzosen) befestigten. Nach kurzer Gegenwehr wurde Calcutta eingenommen. Die englischen Gefangenen fanden fast alle in einem fürchterlich überfüllten Gefängnisloch in einer Nacht den Erstickungstod. Nur ein Teil der Engländer hatte sich flußabwärts vor den Feinden retten können und auf einer kleinen Insel verschanzt. Als die Kunde von dieser Katastrophe nach Madras drang, faßte man dort einen wagemutigen, verantwortungsvollen Entschluß. Es war bekannt, daß Frankreich eine Expedition nach Indien rüstete, man konnte nicht wissen, binnen welcher Frist sie landen würde. Die Behörden von Madras nahmen es auf sich, um Calcuttas willen ihre eigene Stadt ungedeckt zu lassen. Flotte und Landheer wurden nach Bengalen geschickt, um dort reinen Tisch zu machen. Man hoffte, zum Empfang der Franzosen noch rechtzeitig zurückzukehren, was auch gelang. Im Januar 1787 zersprengte Robert Clive mit den Truppen der Kompanie die Armee des Nabobs von Bengalen. Dieser eine Schlag, der die Ueberlegenheit der europäischen Taktik und Bewaffnung bewies, genügte, um die englische Herrschaft im Mündungsgebiet des Ganges zu begründen. Der Nabob wurde durch eine Verschwörung, an der Clive mitbeteiligt war, gestürzt. Sechzig Jahre früher war die Kompanie bei einem Versuch, mit den einheimischen Gewalten anzubinden, in arge Bedrängnis geraten. Aber unterdessen war das große Reich der mohammedanisch - türkischen Moghule in volle Auflösung übergegangen. Perser (1738) und Afghanen (1757, 1759/61) stießen aus den Gebirgspässen des Nordwestens hervor, die beweglichen Reiterscharen der Mahratten, eines kriegerischen Bundes von Hindustämmen in dem weiten Hinterland von Bombay, brandschatzten die Gangesebene. Als ein Schatten einstiger Macht saß der indische Kaiser wehrlos im Gebiet von Delhi. Seine Souveränität wurde zwar in Worten noch anerkannt, in der Praxis jedoch rücksichtslos mißachtet. Die Provinzialstatthalter wurden zu selbständigen Fürsten, die in dem allgemeinen Wirrwarr nach allen Seiten nach Beute um sich griffen. Die kleinen Ortsmagnaten waren bestrebt, es ihnen nachzutun. Und nun fraß die Macht der Kompanie den Ganges herauf. In Bengalen trat aufs erste ein Zwischenzustand ein, welcher der Selbstsucht und Habgier der neuen englischen Herren freien
243 Spielraum bot. Die Kompanie begnügte sich mit der tatsächlichen Macht; ihre Angestellten blieben, was sie zuvor gewesen waren: private ausländische Kaufleute, denen von dem einheimischen Herrscher zur Förderung des Handels gewisse Privilegien erteilt worden waren. An Stelle des geschlagenen und gestürzten Nabobs bestieg einer von dessen Generalen den Thron. Die Engländer beschränkten sich darauf, die Finanzen und die natürlichen Reichtümer des Landes abzuzapfen, wo und wie sie nur konnten; dem einheimischen Fürsten und seinen Beamten blieb die Verantwortung, trotzdem das Landesregiment aufrechtzuerhalten und die nötigen Einkünfte zu schaffen. Als der eingesetzte Nabob seine Aufgabe nicht meisterte, mußte er einem anderen den Platz räumen. Das mit diesem Wechsel verbundene Intrigenspiel ließ ungeheure Summen in die Taschen der Chefs von Calcutta fließen. Die „Kompanie" stellte in Indien eine Schar junger Männer dar. Nach Erledigung eines Kurses in Buchhaltung machten Sechzehnjährige die lange Reise von London um das Kap nach Indien, um ihr Glück zu versuchen, d. h. als Schreiber (writer) in einer der Faktoreien der Kompanie einzutreten. Elf Dienstjahre brachten sie bereits in die oberste Beamtenklasse hinauf, die der „senior merchants", die durch Rotation in die leitenden Ratskollegien der Kompaniesiedlungen gelangten. Nach Maßgabe des Dienstalters wurden sie darauf Mitglieder der engeren Ausschüsse und schließlich Präsidenten von Bombay, Madras oder Calcutta. Doch im Alter von dreißig Jahren hatten sie in der Regel bereits das Vermögen erworben, um dessentwillen sie in dem indischen Klima Gesundheit und Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Darum warteten sie die Beförderung auf die Endposten der indischen Beamtenlaufbahn meistens nicht mehr ab, sondern kehrten eilends in die Heimat zurück, um dort die andere Hälfte ihres Lebens zu genießen. Die Kompanie bewilligte ihren Angestellten in Indien ein Gehalt, das im Vergleich zu den Lebenskosten und dem gesundheitlichen Risiko gering zu nennen war, doch wurde es von anderer Seite her beträchtlich ergänzt. Nach alter Sitte wagte in Indien niemand, vor einem Höhergestellten zu erscheinen und ein Anliegen vorzubringen, ohne ein kleines Geschenk hervorzuziehen. Eine noch wichtigere Einnahmequelle als solche Sportein war der 16«
244 private Handel, den die Kompaniebeamten im Lande selbst treiben durften. Es war ihnen erlaubt, sich dabei die Legitimation der Kompanie zunutze zu machen. Dank Privileg der einheimischen Machthaber gewährte diese bei den Zollstellen des Inlands ermäßigte Sätze oder völlige Abgabenfreiheit Die jungen, neu aus England gekommenen Burschen taten sich mit eingeborenen Agenten zusammen, da sie selbst ja die Landessprache nicht beherrschten, kein Kapital besaßen und von den Ortsverhältnissen nichts wußten. Sie lieferten die Ausweiskarte der Kompanie und bezogen dafür ihren Anteil an den Geschäftsgewinnen, welche ihre braunen Compagnons damit einheimsten. Als nach dem Zusammenbruch der einheimischen Macht in Bengalen junge englische Commis die tatsächlichen Herren ganzer Distrikte wurden, ohne doch irgendwie über deren Gedeihen Rechenschaft ablegen zu müssen, wuchsen diese Einkünfte aus Geschenken und dem privilegierten Binnenhandel ins ungeheuerliche. Der Handel der Fremden und ihrer Agenten, der „banyans"1) überwucherte das Land. Da nicht daran zu denken war, gegen den Willen der Kompanie die einmal gewährten Zollfreiheiten wieder einzuschränken oder gar abzuschaffen, ergriff der zweite von den Engländern eingesetzte Nabob schließlich das verzweifelte Mittel, alle Binnenzolle überhaupt aufzuheben, um auf diese Weise der inländischen Kaufmannschaft wieder gleiche Bahn mit den Fremden zu gewahren. Die Herren in Calcutta gerieten darüber in helle ') Beachte auch Lord Clives lebhafte Schilderung im Parlament 1772 (Pari. Hist. XVII, S. 356): „Sehen wir uns einen der Schreiber an, die ohne einen Heller in Bengalen ankommen. Sobald er gelandet ist, bewirbt sich ein Banyan, der vielleicht Ober hunderttausend Pfund Vermögen verfügt, um die Ehre, dem jungen Herrn für viereinhalb Shilling monatlich zu dienen. Die Kompanie hat Zimmer besorgt, aber sie sind nicht gut genug: der Banyan macht bessere ausfindig. Der junge Mann macht einen Spaziergang in der Stadt. Er bemerkt, daß andere Schreiber, die nur ein Jahr vor ihm ankamen, ganze Wohnungen oder eigene Häuser innehaben, auf herrlichen Arabern reiten oder in Sänften und Wagen einherkommen; daß sie Harems unterhalten, Gesellschaften geben und sich mit Champagner traktleren. Wie er heimkommt, erzählt er dem Banyan, was er beobachtet hat. Der Banyan versichert ihm, er könne rasch in die gleiche angenehme Lebenslage gelangen. Er stattet ihn mit Geld aus, damit hat er ihn in seiner Gewalt. Die Vorteile des Banyans steigen mit dem Rang seines Herrn, der in der Regel drei Vermögen verbraucht, während er eines e r w i r b t . . . . "
245 Empörung. Das Ergebnis der Streitigkeiten war der Sturz auch dieses Nabobs und die Wiedereinsetzung seines Vorgängers. Die Direktoren der Kompanie in England wurden unterdessen auf die zügellose Beutewirtschaft, die bei ihren Beamten in Ben-
galen eingerissen war, aufmerksam. Sie beschränkten das Recht der Angestellten auf Privathandel. Robert Clive, der im Jahre 1760 nach England heimgekehrt war, wurde nochmals ausgeschickt, um die Verhältnisse zu regeln. Als dem siegreichen Heerführer der
246 Kompanie waren ihm früher Geschenksummen und Zuweisungen in der Höhe von mehreren hunderttausend Pfund zugeflossen, welche er fröhlich willkommen hieß. Insofern erschien er nicht gerade der richtige Mann, jetzt den Augiasstall von Bengalen zu reinigen, aber er besaß die größte persönliche Autorität, dazu die Instinkte eines Staatsgründers, die in diesem Wirrwarr vor allem nötig waren. Die Korruption abzudämmen, gelang ihm zwar nicht (er dachte daran, den Privathandel der Kompaniebeamten auf bestimmte Artikel zu beschränken und einen genossenschaftlichen Betrieb vorzuschreiben), aber er klärte die Verhältnisse wesentlich, indem er die Macht der Kompanie in Bengalen auf eine Rechtsgrundlage stellte. 1765 schloß er nämlich mit dem Moghul ein Abkommen, durch welches der Kompanie in den Provinzen Bengalen, Bahar und Orissa, d. h. dem Gebiet, das sie bereits tatsächlich beherrschte, die Verwaltung des Steuerwesens übertragen wurde. Der Nabob wurde dadurch gewissermaßen mediatisiert. Ihm blieb nur mehr die Aufsicht über die Rechtspflege des Landes. Die Kompanie verpflichtete sich ihrerseits, dem Moghul einen jährlichen Tribut aus den Einkünften der Provinzen zu leisten, und verschaffte ihm außerdem den Besitz des Gebiets von Allahabad, wo er seine Residenz aufschlug. Der Nabob von Bengalen sollte gleichfalls von der Kompanie ein Jahrgeld erhalten, welches ihm seinen Hofhalt und die Entlohnung seines Beamtenstabes ermöglichte. Die Kompanie wollte und konnte zunächst aus diesem Vertrag noch nicht die vollen Konsequenzen ziehen. Die Finanzverwaltung von Bengalen wurde zwar von nun ab im Namen der Kompanie gefühlt, lag aber aufs erste, wie es nicht anders sein konnte, ganz in den Händen eines eingeborenen Fachmanns, Mahomed Reza Khans, der zugleich als Vezier des Nabobs die übrige Exekutive im Lande ausübte, also eine Art gemeinsamer Minister der Kompanie und des Nabobs war. Sobald die Engländer einmal den Fuß in das Landesinnere von Bengalen gesetzt hatten, wurden sie unwiderstehlich in die gesamten Fragen der nordindischen Territorialpolitik hineingezogen. In diesen Jahren galt es bereits, das Verhältnis zu dem nächsten weiter gangesaufwärts gelegenen Staat zu regeln. Dies war das Fürstentum Oudhe. Shuja-ud-Daula, Nabob von Oudhc
247 — er führte den Titel eines Veziers des Moghulenreichs —, ein kriegerischer und tapferer Herr, von dem es hieß, er könne einem Büffel durch einen Säbelhieb den Kopf abhacken, war im Jahre 1764 gegen die Kompanie nach Bengalen hinab marschiert. Dem Stoß der europäischen Truppen hatte sein Heer ebensowenig standhalten können, wie das des Fürsten von Bengalen im Jahre 1757. Die Kompanie hätte mit Leichtigkeit das politische Spiel von Bengalen in Oudhe wiederholen können. Aber Clive hielt es für ratsamer, daß sich die Engländer freiwillig auf Bengalen beschränkten, solange die Fragen der Organisation des neuen indischen Besitzes der Kompanie noch so wenig gelöst waren. Er richtete also die Macht des Fürsten von Oudhe wieder auf, um aus seinem Staat eine Sperrmauer gegen die Wirren des Hinterlandes zu machen. Durch die Besitznahme der Landessteuern Bengalens erhielt die Kompanie auch offiziell Staatscharakter. Es konnte nicht fehlen, daß nunmehr in London Parlament und Regierung bei den Direktoren der Gesellschaft anklopften (1766/67). Die verwickelten juristischen Fragen, ob der Freibrief der Kompanie sie ermächtige, in Indien Funktionen eines Staates auszuüben, wie sich eine von dem indischen Kaiser erteilte Belehnung zu den Grundsätzen des englischen Staatsrechts verhielt, in welcher Weise die Souveränität des englischen Königs sich auf Bengalen erstrecke usw., wurden zwar berührt, aber wieder in den Hintergrund geschoben. Die Regierung gab sich zufrieden, als die Kompanie sich zu praktischen Zugeständnissen bequemte, d. h. aus den Einkünften von Bengalen jährlich 400 000 Pfund an den englischen Staat zu zahlen versprach. Dies geschah in einem Augenblick, als die Finanzen der Kompanie einen glänzenden Anblick boten und die sagenhaften Reichtümer Indiens noch weit größere Zukunftsgewinne hoffen ließen. Die Kompanie war gerade dabei begriffen, die Steuererträgnisse von Bengalen, auf die sie jetzt die Hand gelegt hatte, unmittelbar für ihre Handelsgeschäfte nutzbar zu machen. Der Gewinn der Kompanie beruhte auf der Menge und dem Wert indischer Waren, den sie in England auf den Markt bringen konnte. Zu deren Erwerb hatte sie bisher in ihren Schiffen größten-? teils Silberbarren ausgeschickt, da Silber in Indien einen besonders hohen Tauschwert besaß. Diese Handelsmethode wurde jetzt nur mehr für Madras und Bombay fortgeführt. In Bengalen, wo die.
248 Kompanie als Landesherrin auftreten konnte, verwendete sie die Überschüsse der Landeseinkünfte zum Einkauf von Waren (vor allem Musselin, Kaliko und andere Gewebe, Baumwolle, Rohseide, Indigo, Pfeffer usw.), welche nach England geschickt wurden. Dies war das sogenannte „Investment". Ein zweiter gleichartiger Warentransport (darunter Opium) ging von Bengalen nach China an die dortigen Faktoreien der Kompanie ab und wurde in chinesische Güter (Tee, chinesische Rohseide, Porzellan usw.) umgesetzt, die dann ebenfalls den Weg nach England fanden. Wenn dieser jährliche Warentribut aus Bengalen im londoner Hafen ausgeladen wurde, mochten die Direktoren sich wohl erfreut die Hände reiben. Sie merkten zu spät, daß das Landesregiment in Bengalen auch Pflichten auferlegte. Schon der eigene Vorteil gebot, den Wohlstand dieser Provinzen — eines Gebiets, welches an Umfang Großbritannien tibertraf — nicht zu ruinieren. Die Einnahmen der Kompanie waren in den letzten Jahren gewaltig in die Höhe gegangen; nun schnurrten die Ausgaben nach. Die ßeamtenstellen mußten vermehrt werden, die Militärkosten wuchsen, Bauten und Befestigungen verschlangen Unsummen, zumal sich die Unternehmer solcher Arbeiten daran gewöhnten, der Kompanie gewaltige Rechnungen zu schreiben. Im Jahre 1770/71 betrug der t a t s ä c h l i c h e Einnahmenuberschuß von Bengalen nur etwas über ein Viertel des Werts der Warenmenge, die als „Investment" nach England abging. Schon in den beiden vorhergehenden Jahren hatte das Investment den Einnahmenuberschuß überstiegen. Die Direktoren wirtschafteten in den Tag hinein, bis die Gesellschaft in England vor der Zahlungsunfähigkeit stand.1) Da mußten sie der Regierung melden, daß an eine Zahlung der Jahressumme von 400 000 Pfund nicht zu denken war, und um ein Darlehen des Staats bitten, damit die Finanzen der Kompanie wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnten. 1772/73 kamen daher die indischen Fragen zum zweitenmal vor das Parlament. Da vorauszusehen war, daß die Mißstände diesmal schärfer unter die Lupe genommen werden würden, versuchte die Kompanie, die Untersuchung und Reform der Verwaltung Bengalens vorher noch schnell in die eigene Hand zu nehmen. Im Jahre 1769 *) Auch der Teeboykott der nordamerikanischen Kolonisten schmälerte damals den Handelsgewinn der Kompanie beträchtlich.
249 waren drei Männer als Inspektoren nach Indien geschickt worden, waren aber schon auf der Hinreise in einem Sturm ums Leben gekommen. Nun taten die Leiter der Kompanie Schritte, um aufs neue drei Inspektoren nach Bengalen zu schicken, mit der Befugnis, den dortigen Verwaltungsdienst zu prüfen und zu verbessern. Burke wurde einer dieser Posten angeboten, er lehnte ihn jedoch ab. Außerdem veranlaßte die Kompanie im Unterhaus einen Antrag, die Gewalt der Direktoren Uber die Angestellten in Indien zu verstärken. Doch die Regierung North zog durch diese Pläne rasch einen Strich, da sie entschlossen war, die ganze Frage von sich aus zu untersuchen und im Zusammenhang zu regeln. Das Ergebnis der Parlamentsverhandlungen1) war das „Reguliergesetz" von 1773 — ein erster Versuch, das indische Reich der Kompanie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem englischen Heimatstaat zu bringen. Die Kompanie erhielt die finanzielle Hilfe, deren sie bedurfte, mußte sich aber verpflichten, bis zur Rückzahlung des staatlichen Darlehens die Dividende der Aktionäre auf 6 Prozent zu beschränken. Die Verwaltung der Kompanie sollte eine größere Stetigkeit erhalten, indem die Anzahl der mitbestimmenden Köpfe verringert wurde. Die Amtsdauer der Direktoren wurde von einem Jahr auf vier Jahre verlängert. Sie sollten fortän nur mehr von den größeren Aktionären (solchen mit mindestens tausend Pfund Anteil) gewählt werden. In Indien wurde der Präsident von Calcutta als Generalgouverneur seinen bisherigen Kollegen von Madras und Bombay übergeordnet. Die Mitgliederzahl der leitenden Behörden an den drei Orten, der „Councils", wurde stark vermindert. Ihre Instruktionen empfingen diese Amtsstellen wie früher von den Direktoren in London, doch verlangte die Regierung Einsicht in die Korrespondenz. Die entscheidende Neuerung bestand jedoch darin, daß der Generalgouverneur von Bengalen und die Mitglieder seines Rats nicht von der Kompanie, sondern durch Parlamentsbeschluß ernannt wurden. Außerdem wurde — nach dem Verfassungsrezept der Gewaltentrennung — in Calcutta ein oberster englischer Gerichtshof geschaffen, der von der Exekutive unabhängig war. Bei der Ausführung des „Reguliergesetzes" zeigte es sich, daß viele Punkte unklar gelassen waren. Die Befugnisse der verschie«T Siehe Pari. Hist. X V I I .
250 denen Verwaltungsfaktoren waren nicht genügend gegeneinander abgegrenzt worden und der Wortlaut der Bestimmungen konnte manchmal in verschiedener Weise gedeutet werden. Der schlimmste Uebelstand war, daß die Regierung Indiens zwar ihren Schwerpunkt in Calcutta gefunden hatte, aber nicht in einer einzelnen, frei handelnden, verantwortlichen Person, dem Generalgouverneur, sondern einem Kollegium, dem „Governor General and Council". Die Meinung des Generalgouverneurs gab nur im Fall der Stimmengleichheit im Rat den Ausschlag, im Übrigen besaß er nur das Recht, dem Rat zu präsidieren und dessen Beschlüsse nach außen zu vertreten. Er führte die politische Korrespondenz mit den einheimischen Mächten, aber er war verpflichtet, die einlaufenden Schreiben dem Rat vorzulegen und die Antworten von dessen Beschlüssen abhängig zu machen. Auch die Direktoren gerieten durch die neue Regelung in eine schiefe Position zwischen der Regierung einerseits, die ihre Handlungen zu beobachten und zu beeinflussen wünschte, ohne doch recht dazu imstande zu sein1), und ihren Untergebenen, dem Gouverneur und Rat in Calcutta andererseits, die nicht von ihnen ernannt waren, ihren Befehlen folgen sollten und doch die Erfordernisse der jeweiligen Lage unvergleichlich viel besser zu überschauen vermochten als die Herren im India House in London. Trotz solcher empfindlichen Mängel bedeutete die Regelung von 1773 doch einen entschiedenen Fortschritt. Durch sie wurde den Staatsinstanzen (und damit bei der Verfassung des Landes der ganzen englischen Oeffentlichkeit) eine dauernde Mitverantwortung an der Zukunft des indischen Besitzes und der Politik, welche die Kaufleute der Kompanie in Indien trieben, auferlegt. Man kann der Art, in welcher das Ministerium North die verfahrene Lage der Kompanie wieder in Ordnung zu bringen suchte, Sachlichkeit und Großzügigkeit nicht absprechen. Die Kompanie selbst schrie wehe Uber den Anmarsch des Staates. Sie bot ihre Advokaten auf, um an der Schranke des Parlaments gegen die Eingriffe in ihre verbrieften Rechte Beschwerde zu erheben. Ihr lebhaftester Helfer im Unterhaus war damals kein *) Die Kompanie w a r verpflichtet, Abschriften aller v o n Indien kommenden Depeschen der Regierung vorzulegen, aber nicht die Befehle und Instruktionen, welche von den Direktoren n a c h
Indien geschickt wurden.
251 anderer als Edmund Burke, der die von Lord North beantragten Neuerungen mit ebenso großem Nachdruck wie geringen Beweisen samt und sonders für rechts- und verfassungswidrige Räubereien des Ministeriums erklärte und dabei über Tatsachenfragen die anfechtbarsten Behauptungen aufstellte. Ihn leitete die Besorgnis, die Korruption des Landes würde ins unermeßliche wachsen, falls es dem Hof und der Regierung glücken sollte, auch noch die Verfügung über die indischen Beamtenstellen in ihre Hand zu bringen. Er leugnete, daß ein sachlicher Grund für das Eingreifen des Staats vorliege; die Kompanie würde die Mißstände in Indien schon selber beseitigen, wenn das Parlament die Bestellung der „Inspektoren" nicht gehindert hätte. Burke verharrte geraume Zeit auf diesem Standpunkt. Er verteidigte1) auch weiterhin die Interessen der Kompanie gegen das Ministerium North, auch noch im Jahre 1780/81, als die Frage aufs Tapet kam, ob und unter welchen Bedingungen das abgelaufene Privileg der Kompanie erneuert werden solle. Im folgenden Jahre wandelten sich seine Anschauungen. Die Ursache war sein Eindruck von W a r r e n H a s t i n g s , dem ersten indischen Generalgouverneur.*) ') In den sprachlichen Mitteln erlegte er sich dabei keinen Zwang auf, siehe z. B. Pari. Hist. X X I , 21. März 1780: der von der Regierung vorgeschlagene Plan sei "the most wicked, absurd, abandoned, profligate, mad and drunken intention that ever was formed, . . . a mad and drunken scheme"; X X I I , 22. Mai 1 7 8 1 : "The present motion was the daring effort of a minister determined on rapine and plunder, without regard to truth, honour or justice; a violent and shameless attempt to rob the Company, in order to pursue the purposes of the most lavish waste and corruption...." Burke ist der Ansicht, "the Company's territorial possessions belonged entirely to themselves. . . . He censured his Lordship for appealing to the passions of the House by using the term "Asiatic plunderers"." 2
) Bekanntlich hat M a c a u l a y Warren Hastings' Leben in einem Essay behandelt, der zum Besten gehört, was Macaulay überhaupt geschrieben hat. Auch wenn man sein fesselloses Behagen an effektvollen, farbig ausgepinselten historischen Tableaux (zu denen ihn Hastings' bewegte Lebensgeschichte und ihr indischer Hintergrund besonders reizen mußte) nicht teilen kann und dieses Kaulbachsche Element seiner Darstellungsweise als störend empfindet, bleibt doch die elegante Kraft und Geschmeidigkeit, mit der er seinen Leser durch den ungeffigen, vielfach so fremdartigen Stoff reißt, bewundernswert; noch mehr die Zeichnung der mannigfachen Menschencharaktere, von denen er in seinem Aufsatz sprechen muß. Angaben und Urteile über einzelne Tat-
252 In einem anderen Zusammenhang (s. S. 37 ff.) ergab es sich, Edmund Burke, dem bürgerlichen Eiferer, der sein Leben lang Normen des politischen Wohlverhaltens verkündete, in seinem Zeitgenossen Horace Walpole, dem hemmungslos subjektiven, als plaudernder Beobachter durch die politische Welt schlendernden Rokoko-Aristokraten seinen Gegenpol gegenüberzusetzen. Ein Charakter wie Warren Hastings steht von beiden gleich weit ab. Im Jahre 1749 riß der Wille eines entfernten Verwandten, an den die Vormundschaft über den Elternlosen fiel, den jungen Hastings zum Verdruß seines wohlwollenden Schuldirektors aus einem humanistischen Bildimgsgang in Westminster heraus. Als Siebzehnjähriger betrat er 1750 den Boden Indiens. Man weiß nicht, ob der Vormund sich seiner auf diese Weise zu entledigen wünschte oder ob er sein Bestes meinte. Als im Jahre 1757 die Verhältnisse Bengalens sich wandelten, wurde auch Hastings aus einer bloß kaufmännischen Tätigkeit zu Aufgaben der Politik und Diplomatie hinübergeführt. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren wurde er zum Vertreter der Kompanie am Hofe des Nabobs von Bengalen bestellt, dann als Mitglied in das „Council" von Calcutta berufen. Im Rat stellte er sich auf die Seite des damaligen Präsidenten, der die skrupellose Ausbeutung der Provinz, wie sie die Ratsmehrheit betrieb, zu bekämpfen suchte. 1765 kehrte Hastings nach England Sachen und Personen (z. B. Ober den Rohillakrieg, das Verhalten Impeys usw.) hat die neuere Forschung, die sich auf ein weit umfangreicheres Dokumentenmaterial stützen konnte, vielfach korrigieren müssen. Auch wird eine Zeit, welche die imperialistischen Conquistadoren am Werk sah, im Fall Hastings die Verrechnung zwischen Verdiensten und Schuld ohnehin vielfach anders vornehmen als Macaulay es getan hat. Eine vortreffliche, klar abgewogene Biographie des Generalgouverneurs hat Sir Alfred L y a l l geschrieben (Warren Hastings, London 1889). Wichtiges Briefmaterial ist schon 1841 von G l e i g veröffentlicht worden (Memoirs of the Life of Warren Hastings, 3 Bände). Das Mißvergnügen über Gleigs Begleittext trieb Macaulay zu seinem Essay. — Zur Ergänzung: Sydney C. G r i e r , The Letters of Warren Hastings to his Wife, 1905. Im Besitz des britischen Museums befindet sich eine Fülle noch unveröffentlichten Briefmaterials. Eine wertvolle Auswahl aus Akten, die in Calcutta liegen, hat G. W. F o r r e s t mit einer Einleitung publiziert (Selections of the Letters, Despatches and other State Papers preserved in the Foreign Department of the Government of India 1772—1785, 3 Bände, Calcutta 1890.
253 zurück, aber nur mit einem mäßigen Vermögen, da er für die Künste des Profitmachens kein Interesse und Geschick besaß. Er meldete sich bald wieder bei der Kompanie, um nochmals in Indien Dienst zu tun, wurde 1769 nach Madras geschickt und 1772 zum Präsidenten von Calcutta befördert. Erst von diesem Zeitpunkt an fällt auf das persönliche Wesen des kleinen, zierlich gebauten Mannes ein helleres Licht. Ueber die Jahre vorher ist der Nachwelt wenig mehr bekannt als Aeußerlichkeiten seiner Laufbahn. Clives politische Regelungen, nämlich das System, das Fürstentum Oudhe als einen befreundeten Pufferstaat auszubauen, und den Lehnsvertrag mit dem Moghul fand Hastings als Erbe vor. Das erste Ubernahm er, von dem zweiten lenkte er ab. Die Autorität des Moghuls hatte sich nämlich seit dem Jahre 1765 noch weiter verflüchtigt. 1771 sah er sich gezwungen, den Mahratten, die ihn nach Delhi zurückführten, das Gebiet von Allahabad abzutreten, das ihm die englische Kompanie 1765 zugewiesen und garantiert hatte. Hastings stellte sich nunmehr auf den Standpunkt, durch die Weitergabe des Landstrichs an die Mahratten, die gefährlichsten Nebenbuhler der Kompanie, sei diese von ihrer Verpflichtung entbunden. Die Engländer legten von neuem die Hand auf das Gebiet und gaben es nunmehr gegen eine Geldentschädigung an ihren Bundesgenossen, den Sultan von Oudhe. Als Hastihgs dem Kaiser diese Maßnahme meldete, tat er ihm gleichzeitig kund, daß künftig auch der Jahrestribut aus Bengalen ausbleiben werde. „Im übrigen bete ich zu Gott dem Allmächtigen um eine günstigere Zeitlage, Eurer Majestät meinen Diensteifer zu beweisen" schloß das Schreiben mit orientalischer Höflichkeit. Der englische Gouverneur hatte damals die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Ausgaben der überschuldeten Kompanie nach Möglichkeit verringert und das Land Bengalen, das 1771 durch eine Mißernte und Hungersnot heimgesucht worden war und dessen Wirtschaftsleben außerdem schwer unter der Abwanderung des Silbergeldes litt, entlastet wurde. Darum schaltete er den Moghul, eine Puppe, die sich in den Händen der Mahratten befand, entschlossen aus dem politischen Spiel aus. Auch die Bezüge der zweiten Schattenfigur im Lande, des Nabobs von Bengalen, wurden um die Hälfte gekürzt.
254 Jenseits des Gebiets von Oudhe, zwischen dem Gebirge und dem Ganges, lag die Landschaft Rohilkhund. Dort hatten sich im Lauf des Jahrhunderts afghanische Söldner und Freibeuter, die Rohillas, als Herren der einheimischen Hindubevölkerung festgesetzt und ein selbständiges Fürstentum begründet. 1772 hatten sie eine A l l i a n z mit Oudhe und der Kompanie abgeschlossen; da sie aber zu schwach waren, um in dem Hin und Her zwischen den Mahratten und Oudhe eine feste Position behaupten zu können, war ihr Verhalten unzuverlässig und zweideutig. Hastings kam daher zu der Ansicht, es sei besser, dies Gebiet in stärkere Hände zu geben, um an dem Flußlauf des Ganges gegen die Mahrattenangriffe eine einheitliche, leicht zu verteidigende Grenze zu gewinnen. Er lieh darum dem Fürsten von Oudhe Gehör, als dieser vorschlug, die Rohillas gemeinsam auszutreiben, und für die Mithilfe englischer Truppen Subsidien zu zahlen versprach. Oudhe allein war zu schwach, der Rohillas Herr zu werden. Der Schritt war nicht ohne Bedenken. Daheim in England herrschte große Abneigung gegen weitere Angriffs- und Expansionsgelüste der Kompanie in Indien. Es war vorauszusehen, daß eine Offensivmaßregel gegen die Rohillas Anstoß erregen werde, obgleich sie ganz im Dienst einer Verteidigungspolitik stand. Hastings ließ es daher darauf ankommen, ob sich der Fürst von Oudhe tatsächlich zu dem besprochenen Unternehmen entschließen werde. Im Frühjahr 1774 kam dieser darauf zurück; auf sein Verlangen stieß eine englische Abteilung der Abrede gemäß zu seinem Heer, und durch e i n Treffen wurden die Rohillas aus dem Feld geschlagen. Die Dörfer in der Umgebung des Schlachtfelds gingen in Flammen auf, das Lager der Rohillas wurde von den Truppen des Sultans geplündert und vornehme Kriegsgefangene hatten zuerst unter Hunger und Unbequemlichkeiten arg zu leiden. Der Fürst der Rohillas war gefallen, doch ein anderer Führer vermochte sich bis zum Herbst in einem festen Platz zu halten. Als Fürst des betreffenden Distrikts wurde er schließlich belassen. Er durfte eine kleine militärische Gefolgschaft behalten, die übrigen Rohillakrieger mußte er über den Ganges schicken, wo sie in den Dienst eines anderen Afghanenhäuptlings übertraten. Ein Teil wurde in die Armee des Nabobs von Oudhe übernommen. Die eingesessene Hindubevölkerung blieb völlig unbehelligt. Das Ganze war eine
255 Aktion von der Art, wie sie am Ausgang des römischen Kaiserreichs in den Rhein- und Donaulanden gegen eingedrungene Germanenstämme dutzendmal vorgekommen waren.1) Kurz nach seinem Amtsantritt in Calcutta war Hastings der Befehl zugekommen, Mohamed Reza Khan, den einheimischen Chef der inneren Verwaltung Bengalens (s. o. S. 246) festzunehmen, seines Postens zu entsetzen und seine Amtsführung zu untersuchen. Seine Tätigkeit war den Direktoren verdächtig geworden. Hastings befolgte den Auftrag. Die Untersuchung zog sich infolge ihrer Umständlichkeit und Schwierigkeit bis ins Jahr 1774 hin. Der Gouverneur leitete sie völlig unparteilich (Mohamed Reza Khan wurde auch am Ende freigesprochen), aber gleich bei dem Sturz des eingeborenen Ministers war er entschlossen, ihm weder einen gleichartigen Nachfolger zu geben, noch ihn selbst je wieder einzusetzen, da er fand, nun sei für die Kompanie die Gelegenheit gekommen, den nächsten notwendigen Schritt zu tun, d. h. bei der Verwaltung Bengalens den einheimischen Mittelsmann auszuschalten, der sich, gerade wenn er fähig und energisch war, auch einmal g e g e n die englischen Interessen kehren konnte, falls eine unerwartete politische Konstellation dergleichen erlaubte. Der damalige Nabob von Bengalen war noch minderjährig. Die Leitung seines Hofhalts übergab Hastings Munny Begum, einer der Gemahlinnen des Vaters und Vorgängers dieses jungen Fürsten, da sie in früheren Jahren an dem Hof den ersten Platz eingenommen hatte, für ihr Amt befähigt und doch ganz ungefährlich erschien.2) (Ihre Einsetzung wurde später eines der Lieblingsthemen in Burkes Anklagereden gegen Hastings. Es hieß da, der Gouverneur habe die Verwaltung Bengalens an eine Prostituierte verschachert.) Für das Steuerwesen trug fortan die Kompanie selber Sorge. Die Zentrale der Verwaltung wurde von der Residenz des Nabobs nach Calcutta verlegt. Hastings ließ die Abgaben der großen Grundherrschaften des Landes neu festsetzen. Er regelte ferner Spezialarbeit über den Rohillakrieg, auf Grund lokaler Kenntnis und sämtlicher Quellen, auch der einheimischen: John Strachey, Hastings and the Rohilla War, Oxford 1892. Sie zerstört die Greuellegende, welche zuerst von einem mißvergnügten Offizier aufgebracht und dann von Hastings' politischen Gegnern weiter ausgemalt wurde. 2 ) Siehe Hastings' Schreiben an die Direktoren, Gleig I, S. 253 f f .
256 die Tätigkeit der einzelnen Amter. Rückwärts zu sehen und das frühere Verhalten der einzelnen Kompaniebeamten zu untersuchen, wie ihm die Briefe der Direktoren anempfahlen, hatte er weder Zeit noch Lust. Sein Wille war, eine brauchbare Organisation für die Zukunft zu schaffen. Für dies Werk schien ihm ein gutes persönliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern und Untergebenen unerläßlich.1) In dieser Arbeit, ein Verwaltungssystem aufzubauen, stand Hastings mitten inne, als Lord Norths Reguliergesetz neue Verhältnisse schuf. Heistings selbst wurde unter dem Titel „Generalgouverneur" in seinem bisherigen Amt bestätigt, aber von den elf Mitgliedern, die aufler ihm im Rat von Calcutta saßen, verschwanden zehn. An ihre Stelle setzte das Parlament drei neue Männer. Im Herbst 1774 langten diese, zusammen mit den Mitgliedern des neugeschaffenen obersten Gerichtshofs, in Calcutta an. Hastings erwartete seine drei unbekannten neuen Amtsgenossen mit begreiflicher Spannung. Bereits in der zweiten gemeinsamen Sitzung tat sich eine Kluft auf. Die Neugekommenen verdammten den Rohillakrieg, die Abtretung Allahabads an Oudhe, die Steuerverwaltung und erließen sogleich dementsprechende Beschlüsse, welche sowohl die Erfolge der Hastings'schen Politik wieder in Frage stellten, wie auch sogleich nach außen deutlich machten, daß die Autorität des Generalgouverneurs erschüttert war. Auf dessen Seite stand nur das übriggebliebene Mitglied des früheren Rats, Richard Barwell. Die neuen Männer konnten unbekümmert über die Köpfe der beiden hinwegregieren, da sie die Mehrheit im Rat repräsentierten. Hastings stand vor der Frage, ob er unter diesen Umständen sein Amt weiterführen solle. Seine Gegner besaßen nicht nur dfe Oberhand an Ort und Stelle, sondern sie waren auch durch parlamentarische Beziehungen gedeckt, er dagegen verfügte über nichts dergleichen. Trotzdem entschloß er sich, auszuhalten. Er hoffte auf eine Entscheidung der Direktoren. „Trotz all der Uebel, welche mit einem uneinigen umstrittenen Regiment verbunden sind, ist es besser, zu bleiben, statt die Angelegenheiten der Kompanie in Händen zu lassen, die jedenfalls nicht durch Erfahrung dazu be') Siehe Hastings bei Gleig I, S. 319, 367.
257 rufen sind, sie zu leiten", schrieb er mit dem berechtigten Trotz des Fachmanns nach England. Nur einer der neuen Männer, Oberst Monson, war früher einmal in Indien gewesen. Er hatte während des letzten Krieges gegen Frankreich zuerst in SUdindien, dann auf den Philippinen ein Kommando geführt. Da er die am wenigsten ausgeprägte Individualität der drei war, wurde er von den beiden anderen ins Schlepptau genommen. Der zweite, John Clavering, ein polternder General, hatte mit Auszeichnung in Westindien gefochten. Durch die Gunst des Königs war er auf seinen jetzigen Posten gelangt, dem er in keiner Weise gewachsen war. Was ihm bei seinen neuen Aufgaben an Intelligenz und Sachkenntnis mangelte, suchte er durch gebieterisch-abruptes Benehmen auszugleichen. Der geistige Führer unter den drei war der jüngste, Philip F r a n c i s . Es kann als ausgemacht gelten, daß Francis der Verfasser der Juniusbriefe (vgl. oben S. 90) gewesen ist. Ueber seinen Charakter urteilt Macaulay folgendermaßen: „Junius war sicherlich ein Mann, dem es an wahrer Vaterlandsliebe und Großmut nicht gebrach — ein Mann, dessen Fehler nicht zu der schmutzigen Sorte gehörte. Aber er muß auch ein im höchsten Grade anmaßender und frecher Mensch gewesen sein, zu Bosheit geneigt und zu dem Irrtum, solche Bosheit für Bürgertugend zu halten." Junius blieb seinem Wesen getreu, auch als er am Regierungstisch in Calcutta Platz genommen hatte. Mit Vorliebe zeigte er die Miene eines Tellheim, aber sein Verhalten läßt ihn eher als einen Vetter des Marchese Marinelli erscheinen. Nur der Umstand, daß er die Würde und Ehre seiner Person darin begriffen glaubte, in hartnäckiger Entschlossenheit bei einem einmal gefaßten und öffentlich vertretenen politischen Grundsatz zu verharren, bewahrte sein Intrigantentalent davor, sich ganz auf den Pfaden des persönlichen Vorteils zu verlieren. Seines lebendigen Wirkens und des Spiels seiner Verstandeskräfte war er sich dann am frohesten bewußt, wenn er im Verborgenen sitzend kleine politische Minen legte und springen ließ oder wenn seine Feder einen Gegner giftig verwunden konnte. Seine Stelle in der Regierung Indiens war ihm durch einen Zufall in den Schoß gefallen, als er eben nahe daran war, die Hoffnungen auf ein weiteres Fortkommen in seiner Heimat aufL e o n o x , Edmund Borke.
258 zugeben, und bereits Schritte tat, um sein Glück künftig fern in Amerika mit Landwirtschaft zu versuchen. Mit sehr wechselnden Gefühlen langte er in Indien an. Bald kam es ihm vor, als habe ihn ein unbarmherziges Geschick in die Verbannung gesandt, bald rechnete er sich aus, wie er wohl aus seinen Einkünften Ersparnisse machen könne, um dann als unabhängiger Mann in England eine Rolle zu spielen, bald schmeichelte der verantwortungsvolle Posten, der ihm in Calcutta zuteil geworden war, seinem politischen Ehrgeiz. Auch in Hastings war der Ehrgeiz groß. Bei aller Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit des persönlichen Benehmens besaß der Generalgouverneur eine wahre Leidenschaft des Herrschens. Aber diese stand im Dienst einer Sache. Je länger er sein Amt in Indien innehatte, desto wesenloser wurden für ihn Erwägungen des bloß persönlich-privaten Wohlbehagens, wo es um das Schicksal seines Regentenwerkes ging. Francis dagegen spekulierte zwar darauf, Hastings zu verdrängen und die glanzvolle Stellung eines Generalgouverneurs von Bengalen selber einzunehmen. Auch der Zukunftstraum, als tugendhafter, weiser Staatsreformer in dem britischen Indien eine neue Zeit einzuleiten, erschien ihm voller Reize. Aber hieraus erwuchs bei ihm doch nicht im entferntesten irgend ein Gefühl der inneren Gebundenheit und Verpflichtimg. Opfer wollte er keine bringen. Im Vorbeigehen sollte alles geschehen und dann in England noch viel anderes interessante und vergnügliche Erleben folgen.1)
l)
Vgl. Francis' Privatbriefe an seinen Freund Godfrey:
16. September 1776: " . . . W h e n e v e r I am worth a clear entire sum of forty thousand pounds secure in England, Bengal may take care of i t s e l f . . . . " 4. Februar 1778: " . . . 1 am now, I think, in the road to the government of Bengal, which I believe is the first situation in the world attainable b y a subject. I will not baulk my future; if that hope be disappointed, I shall assuredly not stay here beyond the expiration of the present commission; if it succeeds, you will probably not see me in less than four years from this time. B u t we shall still be young, my friend, with the means and powers of enjoyment." (Memoirs of Sir Philip Francis ed. Parkes-Merivale, 1867, II, .S 69, 121 f.).
259 Er besaß eine reiche Begabung, war auch in den allgemeinen Fragen politischer Verwaltung erfahren und geschickt, aber die besonderen Probleme Indiens waren ihm bis d a h i n fremd geblieben. Gleichwohl stand seine Ansicht über die neuen Verhältnisse, welche ihn umgaben, bereits fest, als er kaum ein paar Wochen in Calcutta verbracht hatte. „Die Fäulnis ist nicht mehr auf den Stamm des Baumes beschränkt, oder auf ein paar Hauptäste; jeder Zweig, jedes Blatt ist verfault," schrieb er nach Hause. Das englische Reich in Indien stehe am Rand des Abgrundes. Die Männer, welche ausgesandt waren, es zu regieren und zu retten, können gar nicht schnell genug die Hand ans Werk legen. Mit hochfahrender Selbstgewißheit handelte Francis nach diesem seinem Eindruck. Der Generalgouverneur verriet sich nach seiner Ansicht schon durch seine Befangenheit gegen die neuen Regierungsgenossen deutlich als der Hauptübeltäter, der jetzt davor zitterte, seine Vergehen würden ans Licht kommen. Ohne Zweifel würde er gern jedem der drei neuen Männer hunderttausend Pfund als Schweigegeld anbieten, wenn ihr Charakter nicht jeden solchen Versuch zur Aussichtslosigkeit verdammt hätte. Sicher war ihm von dem Sultan von Oudhe für die Mithilfe der englischen Truppen im Rohillakrieg eine gewaltige Summe gegeben oder versprochen worden. Darum erschien es den neuen Ratsmitgliedern als ein höchst zweckmäßiger Schachzug, die englische Truppenabteilung schleunigst aus dem Lande der Rohillas abmarschieren zu lassen. Vielleicht würde dann der Sultan in seinem Aerger und seiner Enttäuschung die geheime Abrede enthüllen, welche er mit Hastings getroffen hatte. Ob in der politischen Maschinerie des Landes Stücke brachen, war gleichgültig, falls auf diese Weise die verborgenen Springfedern der Korruption zutage kamen. Hatten doch die Direktoren anbefohlen, alle Veruntreuungen und Uebergriffe der Beamtenschaft zu untersuchen. Nach solchen Gesichtspunkten richtete die Ratsmajorität ihr Benehmen gegen Hastings ein. Zuerst erfolgten dunkle Andeutungen und ironische Bemerkungen über die Motive des Generalgouverneurs; alsdann gingen die drei zu Spezialuntersuchungen über. Im März 1775 erschien darauf der Raja Nuncomar
"7*
260 auf der Bildflache. Dieser, ein alter Brahmane von vollendeter Würde der äußeren Haltung, hatte ehedem am Hof von Bengalen den Posten eines Veziers bekleidet. Er war einer der schlauesten Politiker unter den Eingeborenen des Landes, berüchtigt für sein boshaftes Intrigantengeschick und die Skrupellosigkeit, mit welcher er seinen Gegnern Schlingen legte. Nun fand er sich ein, um dem Rat Zeugnisse vorzulegen, daß Hastings von Munny Begum (S. 255) hohe Summen angenommen habe. Hastings brauste auf. Er werde nicht dulden, so erklarte er, daß ein derartig zweifelhafter Charakter wie Nuncomar in offizieller Ratssitzung empfangen werde, um Anklagen gegen ihn, den Vorsitzenden und höchsten Beamten des Landes, vorzubringen. Die Majorität möge sich, wenn sie wolle, als ein besonderer Untersuchungsausschuß formieren, um der Sache nachzugehen.1) Damit hob er die Sitzung auf und ging, Barwell mit ihm. Aber seine drei Gegner blieben. Unter dem Vorsitz Claverings nahmen sie Nuncomars Dokumente entgegen. Bereits zwei Tage später erließen sie in einer ebensolchen Rumpfsitzung den Beschluß, der Generalgouverneur habe der Kompanie ihr Eigentum, die von Nuncomar bezeichneten Summen, zurückzustellen. Hastings erkannte diesen Beschluß überhaupt nicht als solchen an. Es entwickelte sich die Streitfrage, ob der Gouverneur die Ratssitzungen von sich aus aufheben könne oder ob Mehrheitsbeschluß hierzu notwendig sei. Die Entscheidung darüber konnte erst nach langer Zeit von England eintreffen. Nuncomar spann den angefangenen Faden weiter. Er hielt große Audienzen, um weitere Anzeigen gegen den Generalgouverneur zu sammeln und diese der Majorität zuzustellen. Hastings ') "The chief of this administration, your superior, gentlemen, appointed by the legislature itself, shall I sit at this Board to be arraigned in the presence of a wretch whom you all know to be one of the basest of mankind ? I believe I need not mention his name, but it is Nundcoomar! Shall I sit to hear men collected from the dregs of the people give evidence at his dictating against my character and conduct ? I will not. You may, if you please, form yourselves into a Committee for the investigation of these matters, in any manner which you think proper, but I will repeat that I will not meet Nundcoomar at the Board, nor suffer Nundcoomar to be examined at the Board; nor have you a right to it, nor can it answer any other purpose than that of vilifying and insulting me to insist upon it." ( n . März 1775, Forrest, Selections.)
261 schickte das Aussagematerial an die Direktoren, um einen gerichtlichen Austrag der Sache in England zu veranlassen. Nuncomar klagte er seinerseits vor dem neu eingesetzten Gerichtshof von Calcutta an, daß er einen Mann zu falschen Aussagen gegen ihn, den Gouverneur, gezwungen habe. Clavering, Monson und Francis unternahmen darauf einen demonstrativen, feierlichen Freundschaftsbesuch bei Nuncomar. Im Mai zeigte die Lage unerwartet ein neues Gesicht. Nuncomar wurde unter dem Verdacht der Urkundenfälschung verhaftet. Es handelte sich dabei um eine Angelegenheit, welche mit Nuncomars Anklagen gegen Hastings nichts zu tun hatte, sondern sich in diesem Augenblick aus einem langwierigen Schuldprozeß zwischen Nuncomar und einem anderen Inder herausentwickelte. Ob Hastings dazu half, gegen seinen Feind diesen Stein ins Rollen zu bringen, wird niemals entschieden werden können. Jedenfalls ging nun die Rechtsmaschine ihren weiteren Gang. Die Aufregung in Calcutta über die unerhörten Zwistigkeiten in der Regierung war gewaltig. Die drei Ratsmitglieder schickten ihre Sekretäre und Adjutanten zu Nuncomar ins Gefängnis, um mit ihm weiter zu verhandeln. Die Aufregung wurde derartig, daß Clavering, Monson und Francis es geraten fanden, vor dem Gouverneur einen Eid zu leisten, nie hätten sie im Sinn gehabt, Nuncomar mit Gewalt aus seiner Haft zu befreien. Im Juni kam Nuncomars Prozeß zur Verhandlung. Sir Elijah Impey, der Oberrichter, war mit Hastings befreundet, mit Clavering seit dem Winter zerfallen. Da er wußte, wie eifrig die Ratsmajorität nach Unregelmäßigkeiten bei der Verhandlung ausspähen würde, um einen Schuldspruch zu diskreditieren, hielt er sich aufs strengste an die Gesetzesbestimmungen und verhörte Nuncomar eingehend und unparteilich. Nuncomar wurde schuldig gesprochen. Er war Einwohner von Calcutta. Für Calcutta galten die englischen Gesetze. Diese bestimmten als Strafe für Urkundenfälschung den Tod am Galgen. Ein Präcedenzfall für Calcutta lag bereits aus dem Jahre 1765 vor. Den Richtern war somit die Marschroute vorgezeichnet. Im August 1775 wurde Nuncomar auf offenem Markt gehängt. Vergebens hatte er versucht, einen Aufschub der Strafe zu erwirken,
262 bis das Urteil in England nachgeprüft war.1) Er wandte sich an seine drei Beschützer. Die ließen ihn fallen und schwiegen Claverings, Monsons und Francis' persönlicher Angriff auf den Generalgouverneur war gescheitert, aber der Hader um die Sachund Personalfragen der indischen Verwaltung dauerte im Rat von Calcutta ungeschwächt fort. Die Majorität verwarf Hastings' Bestreben, in Bengalen die einheimischen Zwischeninstanzen auszuschalten und die Autorität der Kompanie in der Verwaltungsorganisation des Landes unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Sie war dafür, die Fiktion der Herrschaft des Nabobs von Bengalen und der Oberherrlichkeit des indischen Kaisers wieder starker zu betonen.®) In der auswärtigen Politik pflegte sie ein tugendhaftes und in mancher Beziehung auch zweckmäßiges System des Stillsitzens, das jedoch für die Zukunft keineswegs ohne Gefahren war. In Oudhe folgte 1775 auf den kräftigen Shuja-ud-Daula in dessen Sohn Asaph-ud-Daula ein Sultan des schlaffen, unentschlossenen Genießertypus. Die Landeseinkünfte gerieten unter ihm bald in die größte Verwirrung. Seine Truppen, welche ihren Sold nicht erhielten, waren dem Meutern nahe. Der Schatz seines Vorgängers war im Besitz seiner Mutter und Großmutter geblieben, die ihn nicht herausgaben. Gegen Hastings' Willen beließ es die Ratsmehrheit bei diesem wirren Zustand des verbündeten Staates. Aus einer Schutzwehr drohte er nunmehr zu einem hinderlichen Trümmerhaufen vor der Tür der Kompanie zu werden. Auch Hastings wollte den eigentlichen Machtzirkel der Kompanie nicht vergrößern, d. h. die europäischen Truppen nicht über ') Eine ausführliche Spezialuntersuchung des Prozesses hat Sir James Stephen vorgenommen (Impey and Nuncomar, 2 Bände, 1899, mir nicht zugänglich). Vgl. auch Impeys Rechtfertigungsrede im Unterhaus, Pari. Hist. X X V I , S. 1341 bis 1416. *) Forrest, Selections II, S. 297 (1775); Hastings bei Gleig II, S. 3of. (1776); in einem Privatbrief an Lord North (Februar 1775) setzt sich Francis dafür ein, daB die englische Souveränität über Bengalen erklärt werden solle (" A fundamental condition sine qua non.... Whether the sovereignty be directly assumed by His Majesty or yielded to him by the Mogul, the possession of Bengal can only be maintained by a system of government under which the natives shall be considered as a conquered people, and which shall have, for its first object, the security of a conquest"). Memoirs of Sir Philip Francis IIS.27f.
263 Oudhe hinaus ins Inland vorschieben, wohl aber durch Abschluß fester Bündnisse mit einheimischen Herrschern das englische Einflußgebiet erweitern. Er empfahl, daß solche Verträge der indischen Fürsten mit dem englischen K ö n i g abgeschlossen werden sollten, um ihnen eine Stabilität zu verleihen, welche Abkommen mit den in kurzen Fristen wechselnden Gouverneuren der Kompanie nicht besitzen konnten.1) Hastings' Politik wollte somit vorsichtig weiter ins Land hinein rekognoszieren, während gleichzeitig die Machtreserven und Autoritätsgrundlagen der Engländer in Indien dadurch verstärkt wurden, daß der englische Staat eine Art Garantenrolle Ubernahm. Sache der Direktoren war es, dem Zwiespalt in der Regierung von Bengalen ein Ende zu machen. Aber ihr Bescheid auf die Protesterklärungen beider Parteien vom Winter 1774/75 war vor dem Jahre 1776 nicht zu erwarten. Die Fahrt von Indien um das Kap nach England beanspruchte damals vier bis sieben Monate. Darum dauerte es immer ein Jahr und mehr, bis auf eine Anfrage der indischen Regierungsstellen eine Instruktion der Direktoren einlief. In neun von zehn Fällen hatten sich unterdessen die Umstände so sehr verändert, daß die Befehle ihren Wert verloren. Aber die Direktoren versuchten in diesem Fall gar keine Entscheidung. Sie lavierten zwischen den gegensätzlichen Meinungen hin und her, ergingen sich in allgemeinen Sätzen und ermahnten zur Einigkeit. Bei der Kenntnisnahme dieses Passus in ihrem Schreiben erscholl im Rat von Calcutta ein einstimmiges Gelächter. *) Siehe z. B. Hastings an Lord North, Februar 1775, Gleig I, S. 508; Denkschrift vom Februar 1777 und Begleitbrief dazu, Gleig II, S. 143 ff., i36ff. NB. den fflr Hastings' Gesamtauffassung wichtigen Schlußpassus der Denkschrift: " I am far from supposing that any general measure of Government, however formed, will completely answer all the ends for which it was projected.. . . The dominion exercised by the British Empire in India is fraught with many radical and incurable defects, besides thos to which all human institutions are liable, arising from the distance of its scene of operation, the impossibility of furnishing it at all times with those aids which it requires from home, and the difficulty of reconciling its primary exigencies with those which in all States ought to take place of every other concern, the interests of the people who are subjected to its authority. All that the wisest institutions can effect in such a system can only be to improve the advantages of a temporary possession, and to protract that decay which sooner or later must end it." Vgl. auch Hastings' Brief an Lord Thurlow, Gleig III, S. 26of.
264 Je langer Hastings in seiner Bedrängnis verharren mußte, desto grimmiger hielt er sein Amt fest. Im September 1776 raffte das Klima Monson weg. Clavering und Francis wurden dadurch in die Minderheit versetzt, denn nun stand das Stimmenverhältnis im Rat zwei gegen zwei und in diesem Fall wurde die Meinung des Gouverneurs ausschlaggebend. Doch Hastings mußte erwarten, daß Claverings einflußreicher Anhang in England für einen gleichgesinnten Ersatzmann Monsons Sorge tragen werde. Der Gouverneur setzte deswegen das Regierungsrad vorerst nur leise wieder nach seiner Seite in Bewegung, aber er war entschlossen, wenn es sein mußte, auch noch ein zweites Mal den Kampf mit einer Ratsmajorität auf sich zu nehmen.1) Es gehört nicht in den Rahmen dieses Buches, den Wechsel der Konstellationen im Rat von Calcutta im einzelnen weiter tu verfolgen. Lord North, der Hastings persönlich nicht kannte, war seinem Parteigenossen Clavering, dem Mann seiner eigenen Wahl, naturgemäß mehr geneigt. Aber nach seiner Gepflogenheit schob er unliebsame Streitszenen und Kraftproben mit widerstrebenden Direktoren oder einflußreichen Aktionären der Kompanie möglichst hinaus. Als dann der amerikanische Krieg eine fttr England bedenkliche Weltlage heraufführte, fand North es ratsamer, den indischen Generalgouverneur jetzt nicht zu wechseln. Die technischen Schwierigkeiten, welche die Kompanieleitung daran hinderte, die Politik ihrer Beauftragten, des Rats von Calcutta, wirksam zu dirigieren, bestanden in verkleinertem Maßstab auch für den Generalgouverneur gegenüber den ihm untergeordneten Amtsstellen von Madras und zumal dem weit entfernten Bombay. Auch waren die Behörden dieser beiden Orte bisher gewohnt gewesen, ihre Politik selbständig zu führen. Sie konnten sich noch gar nicht daran gewöhnen, bei wichtigen Handlimgen erst Gutachten des Generalgouverneurs abzuwarten. *) Gleig II, S. IIX: Brief des Gouverneurs an einen seiner Interessenvertreter in London, 26. September 1776: "If a friend of Clavering's is sent out to reinforce his party, I most . . . either quit the field, or resolve to remain and have a new warfare, perhaps more violent than the last to encounter. This first is a wretched expedient, which I will never submit to. Having gone through two years of persecution, I am determined now that no less authority than the King's express act shall remove me or death."
265 Die Engländer in Bombay waren immer noch auf ein ganz kleines Territorium beschränkt. Sie schauten nach einer Gelegenheit aus, sich an weiteren Punkten der KUste festzusetzen. 1775 ließen sie sich in ein Bündnis mit einem vertriebenen Großen der Mahratten, Ragoba, ein, welcher ihnen die nahe Bombay gelegene Insel Salsette und einen kleinen KUstenort (Bassein) zu geben versprach, wenn sie ihm militärische Hilfe leisten würden, damit er seine frühere Stellung im Mahrattenstaat wieder erlange. Die damalige Struktur des Staatswesens der Mahratten kann man sich deutlich machen, wenn man sich etwa vorstellt, daß im westfränkischen Reich tun die Zeit des Aussterbens der Karolinger noch Merovinger gelebt und den nominellen Königstitel geführt hätten. Neben einem erblichen bedeutungslosen Königtum bestand im Mahrattenstaat ein gleichfalls erblicher Majordomat, das Amt des Peshwa. Zu jener Zeit wurde jedoch auch dieses schon von neuen Kräften überwuchert. Die drei wichtigsten Verwaltungsämter waren ihrerseits bereits erblich geworden, außerdem hatten andere Magnaten die Herrschaft über weite Provinzen an sich gezogen, doch ohne den Zusammenhang mit den Interessen des Gesamtstaates zu verlieren. Man kann sie etwa als Herzoge bezeichnen. Gegen äußere Feinde traten sie oft sehr nachdrücklich hervor. Der Peshwa und die Minister saßen in Poona, unweit von Bombay hinter der Höhe des steilansteigenden Gebirges der indischen Westküste. Ragoba war Peshwa gewesen, aber gestürzt worden. Ein unmündiger Neffe nahm seinen Platz ein. Der Vorstoß der Engländer von Bombay nach Poona mißlang vollkommen. Hastings hatte den ganzen Plan, von dem er zu spät erfuhr, sogleich rundweg verurteilt, war aber jetzt dafür, im Interesse des englischen Ansehens in Indien nach der erlittenen Schlappe den Krieg nicht übereilfertig zu beenden.1) Die Haltung der Direk') Vgl. die Taktik, welche Hastings 1783 dem Gouverneur von Madras einschärfte: " . . . t h a t ground of policy which in all countries, but especially in this, forms the readiest and the easiest road to peace. That policy consists in a vigorous prosecution of the war; moderation amidst success, firmness in every change of fortune, but a guarded avoidance of that submission, which in eagerly soliciting and courting pacific arrangements adds the insolence, encourages the obstinacy, and justifies the perseverance of the enemy in war, and in every case gives him the plea of dictating his conditions" (Forrest, Selections I I I , S. 937ff.).
266 toren war bezeichnend: sie tadelten das Vorgehen der Behörden von Bombay, ordneten aber an, die Beute — Salsette und Bassein — nicht herauszugeben. Langwierige Verhandlungen führten Ende 1776 nahe an den Abschluß eines Friedensvertrags heran. Aber als im Jahre 1777 die Gefahr eines neuen Waffengangs mit Frankreich deutlich wurde und bereits ein französischer Agent in Poona sein Wesen trieb, entschloß sich Hastings, einem zweiten Offensivschlag gegen die Mahratten zuzustimmen, um sie auszuschalten, ehe Franzosen landen und sich mit ihnen verbinden konnten. Er setzte eine Truppenabteilung über Land nach Bombay in Marsch. Aber diese Verstärkung blieb zu lange unterwegs; mittlerweile hatte man in Bombay bereits eine zweite Expedition auf die Gebirgshöhe gegen Poona gewagt, der kein besseres Schicksal beschieden war wie der ersten. Nur notdürftig wurde der militärische Schaden repariert. Die Mahralten waren mit den Machtmitteln, Uber welche die Kompanie zu jener Zeit verfügte, nicht zu bezwingen. Sie machten noch den Generalgouverneuren der napoleonischen Zeit, Wellesley und Lord Hastings, zu schaffen. Erst 1818 konnten sie als unterworfen gelten. Daher war Hastings' Schritt falsch berechnet gewesen, auch abgesehen von dem besonderen Ungeschick in Bombay, welches die Lage so sehr verschlechterte. Der Generalgouverneur hatte nun einen langwierigen, ergebnisarmen Krieg auf dem Hals. Rasche militärische Entscheidungen, wie ehedem in Bengalen, waren diesem Feind gegenüber unmöglich. Der Kampf spielte sich ungefähr in dem Stil der Unternehmungen Kaiser Maximilians I. ab. Kleine militärische Expeditionen, diplomatische Bestechungsaktionen zehrten an den Finanzen der Regierung von Bengalen. Die Lage verschärfte sich außerordentlich, als plötzlich auch die zweite einheimische Militärmacht Indiens als Feind der Kompanie auf dem Plan erschien: Haidar Ali von Mysore. Die Behörden von Madras hatten diesen kühnen Condottiere, der sich in den fünfziger Jahren in Südindien ein Reich zusammengehämmert hatte, durch unkluge Maßregeln gereizt, ohne sich irgendwie gegen die Folgen vorzusehen. Im Sommer 1780 brach Haidar Ali plötzlich gegen Madras hervor und verheerte die ganze Küstenebene.
267 A l s die Nachricht von der Bedrängnis des Südens in Calcutta anlangte, entschloß sich Hastings sofort, was er an Soldaten und Geldmitteln nur irgendwie aufbringen konnte, nach Madras zu werfen, den Krieg mit den Mahratten dagegen in möglichster Schnelligkeit abzubrechen.
Binnen drei Wochen ging die Hilfsexpedition
unter Segel. 1 ) Philip Francis wollte damals die militärische und finanzielle Unterstützung von Madras weit geringer bemessen. In dieser Krisis erwies es sich, daß er zwar die schwachen Punkte in der Politik anderer —
z. B. in Hastings' Mahrattenpolitik —
herauszufinden ver-
stand, aber nicht der Mann war, in gefährlicher Zeit selbst eine Regierung, wie die Indiens, zu führen.
Mit einer kleinen Unter-
stützung wurde in der Südprovinz nichts erreicht.
Es galt eilends,
alle Kräfte anzuspannen, um dort das Glücksrad wieder zu drehen, ehe ein französisches Geschwader vor der Küste erschien und mit Haidar A l i zusammenwirkte. Wenige Tage später bestellte Francis eine Kajüte für seine Heimreise*) nach England.
„The moment I have made my exit,
enter desolation," schrieb er sinnig in sein Tagebuch. *) Vgl. Hastings' Bericht vom 28. Oktober 1780, Gleig II, S. 322 ff. — Über den Mahr&ttenkrieg: " I have severely felt the mortification of being checked in the design which I had formed for terminating the war with the Mahrattas on very different terms.. But all my hopes of aggrandizing the British name and enlarging the interests of the Company, gave instant place to the more urgent call to support the existence of both in the Carnatic; nor did I hesitate a moment to abandon my own views for such an o b j e c t . . " *) Der -Grund for Francis* Heimreise war, daß sein Konflikt mit Hastings im Sommer zuvor extreme Formen angenommen hatte. Barwell, Hastings' Gefolgsmann im Rat, wollte Anfang 1780 nach England zurückkehren. Da hierdurch Hastings im Rat aufs neue in die Minderheit versetzt wurde, reiste Barwell nicht ab, ehe nicht ein Abkommen zwischen Francis und dem Gouverneur zustandegebracht war, wonach Francis versprach, seine Opposition gegen den Mahrattenkrieg aufzugeben und Hastings in dessen Führung freie Hand zu lassen, Hastings dagegen in Personalfragen Zugeständnisse machte. Im folgenden Juni schlug Hastings eine Expedition gegen die Mahratten vor, welche von Norden her ausgeführt werden sollte. Francis verweigerte seine Zustimmung. Das dritte Ratsmitglied, Wheler (Monsons Nachfolger) stimmte wie gewöhnlich mit Francis. Sir Eyre Coote, der militärische Oberbefehlshaber (Nachfolger Claverings, der ein Jahr nach Monson ebenfalls gestorben war) war nicht in Calcutta. Hastings versuchte durch Zureden
268 Der englische Staat hatte damals in Europa um die Herrschaft im Kanal und den Weiterbesitz von Gibraltar schwer zu ringen, außerdem seine westindischen Kolonien zu schützen.
Die Mehr-
zahl der Regimenter stand auf nordamerikanischem Boden.
Die
Ostindische Kompanie hatte daher außer ein paar Kriegsschiffen keine Unterstützung
zu
erwarten.
Das Schicksal von Bengalen,
Madras und Bombay war in dieser Krisis in die Hand des indischen Generalgouverneurs gelegt, der außerdem den Kaufleuten der Kompanie ihr alljährliches „Investment" zukommen lassen sollte. und durch Entgegenkommen in Einzelheiten seines Plans seine Gegner zu gewinnen. Francis blieb bei seiner Ablehnung. Er stellte sich auf den Standpunkt, dieser Angriffsplan sei eine ganz neue Sache. Er habe sich nur verpflichtet, dem Gouverneur in der Führung des Kriegs um B o m b a y freie Hand zu lassen. Der Vermittler des Abkommens vom Januar suchte einzugreifen, aber nach einem kurzen Moment der Unklarheit versteifte sich Francis wieder auf seine Meinung. Hastings' Geduld war nach den Kämpfen und Reibungen von beinahe sechs Jahren jetzt am Ende. Er glaubte sich von Francis boshaft hintergangen. Er gab sein Urteil über dessen Verhalten in schneidenden Worten im Rat zu Protokoll ( " . . . I did hope that the intimation conveyed in my last minute would have awakened in Mr. Francis's breast, if it were susceptible of such sensations, a consciousness of the faithless part which he was acting towards me. I have been disappointed and must now assume a plainer style and a louder t o n e . . . . (Francis' Versprechen, die Einzelheiten des Plans loyal zu prüfen). . . . I do not trust to his promise of candour, convinced that he is incapable of it, and that bis sole purpose and wish are to embarrass and defeat every measure which I may undertake or which may tend even to promote the public interests, if my credit is connected with them. Such has been the tendency and such the manifest spirit from the beginning.. I judge of his public conduct by my experience of his private, which I have found to be void of truth and honour. This is a severe charge but temperately m a d e . . 1 proceed to the proofs of my allegation..") Die Wirkung war, wie Hastings erwartete, eine Forderung durch Francis. Dieser wurde bei dem Duell verwundet. Er war dadurch nicht gesundheitlich unfähig gemacht, in dem indischen Klima weiter auszuhalten. Doch er wollte nur dann weiter bleiben, falls sein Kollege Wheler ihm im Rat Gefolgschaft bei einem rücksichtslosen Kampf gegen Hastings leisten würde, wozu Wheler keine Lust verspürte (siehe Francis' Tagebuch, g. Oktober 1780, Memoirs ed. Parkes-Merivale II, S. 199: " I tell him (Wheler) . . . that I can only stay on the principle of our agreeing first to attack Hastings horse and foot, throwing away the scabbard and neither to give or take q u a r t e r . . " ) Francis' Wansch nach einem ausgiebigen Vermögen war durch außergewöhnliches Glück beim Kartenspiel erfüllt worden.
269 In SUdindien mußte das KriegsglUck entscheiden. Hastings warf sich unterdessen auf die Aufgabe, durch organisatorische Maßnahmen in Bengalen sowohl dies wichtigste Gebiet der Kompanie gegen Angriffe zu sichern wie auch weitere Mittel zur Durchführung des Krieges herbeizuschaffen. Die Truppenteile, welche nach Madras abgegeben waren, wurden durch Neuaufstellungen zur Not ersetzt. Das „Investment" wurde 1781 auf Kreditscheine der Kompanie zusammengebracht, gleichzeitig seine künftige Suspension nach England gemeldet. Hastings hätte es am liebsten 6chon diesmal nicht mehr geschickt.1) Durch Aenderungen in der Aemterorganisation, welche er damals vornahm, hoffte er gleichzeitig Ersparnisse im Staatshaushalt zu machen. Im Herbst 1780 sah er sich gezwungen, die erste Anleihe auszuschreiben,') aber als ihre Abnehmer kamen nur die in Indien ansässigen Engländer — Angestellte der Kompanie, Richter, Offiziere, private Kaufleute, im ganzen etwa 1500 Leute der „gentleman"-Stufe — in Betracht. Wie rasch mußten die Kriegskosten die von diesen gezeichneten Summen aufzehren 1 Unter diesem Druck wandte Hastings den Blick auf die von Bengalen abhängigen Gebiete. Oudhe war in den letzten Jahren mehr und mehr unter das Protektorat der Engländer geraten. Je größer die Verwirrung seiner Finanzen wurde, je mehr infolgedessen die Rückstände der Subsidienzahlungen an die Kompanie sich häuften, desto nachdrücklicher mußte am Hof des Nabobs der englische Resident und sein Beamtenstab in die Regierungsgeschäfte hineinreden. Aber durch dies doppelte Regiment wurden die Verhältnisse des Landes dann noch undurchsichtiger, der Staatshaushalt noch zerfahrener. Es war ein Zustand erreicht, der in vielem an denjenigen Bengalens vor der Regelung Clives gemahnte. Hastings suchte 1781 durch eine Inspektion an Ort und Stelle und unmittelbare Aussprache mit dem Nabob die Verhältnisse l
) Hastings bei Gleig II, S. 376f. ') Hastings bei Gleig II, S. 331: "We have opened our treasury for loans of money, the most mortifying act to me of my government, after having been instrumental in discharging a former debt of one crore and a half of rupees, and of filling their treasuries with near double that amount."
270 zu bessern. Auf der Hinreise nahm er den Weg über Benares, einen der kleinen Klientelstaaten der Kompanie. Die Souveränität über Benares war 1775 von Oudhe an die Kompanie übergegangen. Die Stadtobrigkeit lag in den Händen des Raja Cheyt Singh, der von dem Nabob von Oudhe mit dem Grund und Boden des Gebietes belehnt worden war. Hierfür entrichtete er eine vertragsmäßige feste Jahresabgabe, zuerst an Oudhe, dann nach Calcutta. Nach dem Ausbruch des englisch-französischen Krieges verlangte Hastings (unter Billigung seiner Gegner im Rat) neben dieser gewöhnlichen Abgabe einen Beitrag zu den Kriegskosten. Cheyt Singh zahlte das erstemal, aber in den folgenden Jahren, als sich die Lage der Engländer in Indien verschlechterte, kam er den Forderungen der Regierimg von Bengalen nur mehr mit einer zweideutigen Langsamkeit nach. 1781 beschloß daher der Rat von Calcutta, dem Raja eine Strafsumme aufzuerlegen, welche das Zehnfache der jährlichen Kriegsabgabe betrug.1) Durch diese Maßregel wollte Hastings sowohl Cheyt Singh und anderen Magnaten seinesgleichen deutlich machen, daß in Bengalen die englische Macht noch aufrecht stand, wie auch aus dem bekannten Reichtum des Stadtfürsten von Benares die leeren Kassen von Calcutta speisen. Er gedachte die Angelegenheit auf der Durchreise zu erledigen, nötigenfalls Cheyt Singh durch einen anderen Lehensfürsten zu ersetzen. Da er die Schwierigkeiten unterschätzt hatte, geriet er in Benares unerwartet in eine höchst gefährliche Lage. Ihn begleitete nur eine kleine Truppenabteilung. Ein Teil davon, der den in Haft genommenen Raja bewachte, wurde durch die Bevölkerung von Benares niedergemacht, ein anderer infolge der Unbesonnenheit des führenden Offiziers gleichfalls vernichtet. Der Raja entkam über den Ganges. In der folgenden Nacht rettet sich Hastings mit den paar Mann seines Gefolges, die ihr" noch geblieben waren, vor dem drohenden Ueberfall nach Chunar, dem nächstgelegenen Fort der Kompanie. Von dort dirigierte er die Maßregeln, der Aufstandsgefahr zu be>) Benares zahlte 22 lakhs Rupien gewöhnliche Jahresabgabe, 5 lakhs Kriegsabgabe. Die Strafsumme betrug 50 lakhs. — 1 lakh Rupien ist ungefähr gleich 10000 Pfund Sterling.
271 gegnen. Die Kompanietruppen in der Nachbarschaft wurden rasch zusammengezogen, aller unnötige Alarm vermieden, ein Hilfsangebot des Nabobs von Oudhe abgelehnt, ebenso alle Friedensversuche Cheyt Singhs; wichtige diplomatische Verhandlungen mit den Mahratten, welche gerade im Gang waren, erlitten keinerlei Unterbrechung. In kurzer Frist waren die Truppen des StadtfUrsten zersprengt, seine Kastelle genommen und Benares wieder fest in englischer Hand. Ein anderer Raja wurde eingesetzt, der Jahrestribut erhöht und das Gebiet in eine straffere Abhängigkeit von der Kompanie gebracht. Die ganze Aktion könnte mit anderen Namen auch im „Bellum Gallicum" erzahlt sein. Auch Caesar machte als Gouverneur politische Fehler. Das Bewundernswerte ist die klare Entschlossenheit, mit der in solchen Fällen die entstandenen Gefahren ohne Zeitverluste und anderseits auch ohne jedes bedenkliche Zuviel an Kraftaufwand von ihm bemeistert wurden. Hastings' Handeln bei dem Aufruhr in Benares trug den gleichen Stempel. Die Lage des Nabobs von Oudhe, Asaph-ud-Daula, war, wie bereits bemerkt (S. 262) durch den Umstand besonders erschwert, daß der von seinem Vater Shuja-ud-Daula hinterlassene Staatsschatz im Besitz seiner Mutter verblieben war. Diese und seine Großmutter (Shuja-ud-Daulas Mutter), die beiden „Beghums von Oudhe" hielten zusammen ihren eigenen Hof in Faizabad, hatten sich Truppen geworben und regierten einen weitgedehnten Grundbesitz unabhängig von dem Landesherrn, den sie verachteten. Im Jahre 1775 hatte der englische Resident zwischen ihnen und dem Nabob einen Vertrag vermittelt, wonach die Beghums etwa ein Viertel des Schatzes herausgaben und den ungestörten Besitz des Restes zugesichert erhielten. Gegen Hastings' Willen hatte die Majorität des Rates von Calcutta damals diesem Abkommen zugestimmt. Als Hastings jetzt in Chunar mit dem Nabob sich besprach, kamen die beiden überein, Asaph-ud-Daula solle den Schatz seines Vaters an sich ziehen, ebenso — gegen Geldentschädigung — die LehensgUter, auf welchen die Beghums saßen. Aus diesen Einnahmen sollte der Nabob sodann seine rückständigen Zahlungen an die Kompanie begleichen. Ueber den Garantievertrag von 1775 ging man hinweg; zur Rechtfertigung mußte der Umstand dienen,
272 daß die Beghums den Aufstand Cheyt Singhs begünstigt und unterstützt haben sollten. Es ist recht wahrscheinlich, daß sie dergleichen taten, aber sicherlich kam diese Kunde dem Generalgouverneur, der aus Oudhe irgendwie die ausstehenden Gelder herausholen mußte, um die Truppen in Südindien erhalten zu können, höchst gelegen. Da der Nabob vor den beiden Fürstinnen Angst hatte, konnte er sich zu keinem ernstlichen Schritt aufraffen. Infolgedessen fiel die Leitung des ganzen Unternehmens schließlich mehr oder weniger in englische Hände, da Hastings im folgenden Jahr (1782) von Calcutta aus kategorisch darauf drang, daß die verabredete Aktion ausgeführt werde. Begleitet von dem englischen Residenten und Soldaten der Kompanie, marschierte der Nabob endlich nach Faizabad. Die Beghums machten zuerst Miene, Widerstand zu leisten, unterwarfen sich jedoch dann der Uebermacht. Im allgemeinen verlief das Unternehmen ohne Härten und Gewaltsamkeiten, aber die beiden Minister der Beghums, zwei Eunuchen, wurden in Ketten gelegt, monatelang bei schmaler Kost gefangen gehalten und schließlich sogar mit Körperstrafen bedroht, weil man annahm, daß ein Teil des Schatzes von ihnen verborgen gehalten wurde. Vor dem Forum der Staatsraison läßt sich das Vorgehen gegen die Beghums rechtfertigen, aber es bleibt doch das anrüchigste Vorkommnis in Hastings' Regierung, daß die politischen und militärischen Vertreter Englands in Faizabad in der Doppelrolle von Gläubigern und Bütteln eines lethargischen Sultans gegen den Harem eines andern Sultans auftraten. Die aus Oudhe gewonnenen Summen ermöglichten es dem Generalgouverneur, bis zum Kriegsende auszuhalten. In Südindien gelang es im Laufe des Jahres 1781, Haidar Ali aus dem Küstenland um Madras allmählich wieder hinauszudrängen. Ein französisches Geschwader erschien zu spät, um noch wirksam mit ihm zusammen zu handeln. Die französischen Hafen in Indien waren sogleich nach der Kunde der Kriegserklärimg 1778 von den Engländern weggenommen worden, ebenso später die holländischen, als sich die Niederlande zu Englands Gegnern hinzugesellt hatten (1780). Die französische Flotte besaß also in diesen Gewässern keine Basis mehr.
273 1782 kam nach langen Verhandlungen ein Friedensvertrag mit den Mahratten zustande,1) 1783 endete der Krieg zwischen England und Frankreich, 1784 schloß daraufhin auch Tippu, Haidar Alis Sohn und Nachfolger, Frieden mit der Kompanie. Die nordamerikanischen Kolonien hatte England verloren, aber das Herrschaftsgebiet in Indien überdauerte die Gefahren dieser Kriegsjahre ungeschmälert. In E n g l a n d waren unterdessen die Angelegenheiten Indiens wieder stärker in den Vordergrund gerUckt, als der Freibrief der Kolonie erneuert werden mußte. Wie schon im Jahre 1772, wurden vom Unterhaus zwei Ausschüsse bestellt, um den Stoff durchzuarbeiten (1781/82). In der einen dieser Kommissionen war Burke das treibende Mitglied. Sie hatte sich mit den Fragen der indischen Verwaltung zu befassen. Als Arbeitsergebnis legte sie dem Parlament mehrere Berichte vor; die beiden wichtigsten darunter (der neunte und elfte) wurden von Burke auch in den Buchhandel gebracht. Sie wanderten später in die Gesamtausgaben seiner Werke hinein. Der neunte Bericht gab eine einführende Uebersicht über die Grundlagen der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft, welche die Kompanie in Bengalen ausübte. Dabei wurden die Mängel des Reguliergesetzes von 1773 beleuchtet. Hastings erhielt Verweise, daß er bei Ämterbesetzungen Ungehorsam gegen die Befehle der Direktoren gezeigt habe. Der weit kürzere elfte Bericht zog seine Integrität in Zweifel. Das Gesetz von 1773 verbot den Beamten der Kompanie die Annahme von Geschenken. Doch war aus dem Wortlaut keine Klarheit zu gewinnen, ob auch die Ceremonialabgaben an die Kompanie selbst, die Landesherrin, mitgemeint waren. Hastings verneinte es. Er nahm die einlaufenden Summen dieser Art auch weiterhin an und ließ sie auf das Konto der Kompanie schreiben. In der Zeit, in welcher er im Rat einer feindlichen Mehrheit gegenüberstand, ') Gleig II, S. 5 3 1 : Hastings' Anweisung an seinen Unterhändler, 15. Marz 1782: " . . . I t is not peace with conditions of advantage that we want, but a speedy peace; and we would rather purchase it with the sacrifice of every foot of ground that we have acquired from the Mahrattas, excepting Salsette and the little islands adjacent to Bombay, than hazard the loss of the present opportunity by contending for more...." L e n n o x , Edmund Burkr.
18
274 geschah dies oft in einer Weise, durch die dem Generalgouverneur die Verfügungsgewalt über diese Gelder vorbehalten blieb. Es war ihm lieb, in ihnen einen Fonds für außergewöhnliche diplomatische oder militärische Ausgaben zur Hand zu haben. Nun kam jedoch hinzu, daß Hastings über solche Eingänge in seinen Briefen an die Direktoren häufig ungenau berichtete, sich z. B. in Daten oder Betragen der empfangenen Summen irrte, weil er dergleichen Angelegenheiten, die ihm unwichtig erschienen, nebenbei erledigte — z. B. auf Reisen — , ohne nochmals die Originalquittungen nachzusehen. Als nun die Parlamentarier in London die Akten der Kompanie durchstöberten, Zahlen und Angaben aufschrieben, verglichen und nachrechneten, blieb vieles dunkel. Da war dann Francis zur Hand, um als Sachverständiger die Zweifel zu klären. In welcher Weise dies geschah, ist leicht zu ermessen. Francis-Junius wühlte gegen seinen gehaßten Nebenbuhler nach besten Kräften. Da Hastings sich dies ausrechnen konnte, schickte er bald nach Francis' Heimreise seinerseits einen seiner Adjutanten, Major Scott, nach England, um seine Interessen zu vertreten und gegen Angriffe zu verfechten. Scott — „der kleine Major", wie er in den Parlamentskreisen hieß — stürzte sich mit der Munterkeit und dem lauten Eifer eines Spitzes auf die ihm übertragene diplomatisch-journalistische Aufgabe. Doch der Staub, welchen er in der Presse und später im Parlament aufwirbelte, verdarb oft mehr als seine Geschäftigkeit nützen konnte. Eine stärkere Initiative als der Ausschuß, welchem Burke angehörte, zeigte der zweite. Ihm oblag es, die in Indien geführte Politik i\i prüfen. Sein Leiter Dundas, ein höchst gewandter opportunistischer Advokat (später die rechte Hand Pitts), legte dem Unterhaus über hundert Thesen vor, welche zum Mahrattenkrieg und den Kämpfen in Südindien Stellung nahmen. Der Rohillakrieg, die Einstellung des Tributs an den Moghul, Beginn und Wiederaufnahme des Mahrattenkrieges wurden darin verurteilt. Hastings (dessen entschlossene Hilfsaktion für Madras anerkannt wurde) sollte abberufen werden. Das Unterhaus erließ eine dementsprechende Resolution.1) Die Direktoren beschlossen diesem Winke des Parlal)
Pari. Hist. X X I I I , S. 75!. (27. Mai 1782): "That Warren Hastings esq. governor-general of Bengal, and William Hornby esq. president of the council at Bombay, having, in sundry instances acted in a manner repugnant
275 ments gemäß. Hastings abzuberufen, jedoch die Generalversammlung der Aktionäre hielt an dem Generalgouverneur fest. Die Weisung der Direktoren wurde von ihr umgestoßen. Hastings blieb im Amt. Der rasche Wechsel der Ministerien in den Jahren 1782/83 verhinderte den Austrag der Angelegenheit. Hastings konnte sein Werk zu Ende führen, obgleich das Tadelsvotum des Unterhauses ihm weder im Rat von Calcutta noch bei den Friedensverhandlungen mit den einheimischen Mächten Indiens die Wege glättete. Als die Direktoren, die damals eifrig bedacht waren, vor den prüfenden Augen des Parlaments in den weißen Kleidern der Unschuld und Rechtlichkeit aufzutreten, das Vorgehen gegen Cheyt Singh mißbilligten, widersprach der Gouverneur ihrer Argumentation in einem langen Schreiben, welches an Schärfe1) nichts zu wünschen übrig ließ. Es schloß mit der Bitte, ihm einen Nachfolger zu bestellen.') Im Londoner Parlament fielen erst im Winter 1783/84 wieder Entscheidungen von größerer Tragweite: das Koalitionsministerium Fox-North legte sein indisches Reformprogramm vor (an dessen Abfassung Burke mitgearbeitet hatte). Es war ein Plan, welcher der Kompanie nahe ans Leben ging. Den Direktoren und Aktionären wurde die Verwaltung des indischen Besitzes und auch des Handels der Gesellschaft entzogen. Eine vom Parlament bestellte Kommission von sieben Männern sollte die Leitung übernehmen, neun Großaktionäre als deren Assistenten für die Handelsfragen to the honour and policy of this nation, and thereby brought great calamities on India and enormous expences on the East India Company, it is the duty of the directors of the said Company to pursue all legal and effectual means for the removal of the said governor-general and president from their respective o f f i c e s . . . . " ') Gleig III, S. 86 (März 1783): E r erklärte den Direktoren, keine ihrer Instruktionen "has never yet been applied to the establishment of any original plan or system of measures and seldom felt but in instances of personal favour or personal displeasure." *) " . . . I am become a burthen to the service, and would instantly relieve it from the incumbrance, were I not apprehensive of creating worse consequences by my abrupt removal from it (in Hinblick auf die Friedensverhandlungen, welche in Gang waren). Fflr den Fall, daß die Direktoren die Wiedereinsetzung Cheyt Singhs in Benares verfflgen sollten, kündigte er seinen sofortigen Rocktritt an.
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276 tatig sein. Den neuen Kommissaren stand das Recht zu, alle Beamten der Kompanie zu ernennen und abzusetzen. Ein besonderes zweites Gesetz hatte die Verwaltung des indischen Territorialbesitzes zum Gegenstand. Es ergänzte die Geschäftsordnung der Zentralbehörde von Bengalen (der Gouverneur blieb weiterhin den Beschlüssen der Ratsmehrheit unterworfen), verbot, daß Truppen der Kompanie im Gebiet irgend eines unabhängigen Fürsten unterhalten wurden, untersagte die Annahme von Geschenken, alles Molestieren abhängiger Fürsten durch Angestellte der Kompanie und ähnliches mehr. Die jährlichen Abgaben der indischen Grundbesitzer an die Kompanie sollten künftig in einer bestimmten Hohe unabänderlich festgelegt werden, um klare Verhältnisse im Lande zu schaffen. Kurz, Fox' East India Bill 1 ) proklamierte für Indien ein Regierungssystem der Rechtlichkeit, Humanität und Friedfertigkeit, welches dadurch gewährleistet werden sollte, daß Vertrauensmänner des Staates als Leiter der Kompanie eingesetzt wurden. In Charles Fox war ein kühner Idealismus, der ihn große politische Würfe wagen hieß,') auf das sonderbarste mit Parteischlauheit vermischt. Kaum hatte er seinen Reformplan vorgelegt, sah die Gegenpartei den Pferdefuß. Das Parlament (d. h. dessen Mehrheit), bei welchem die Wahl der leitenden Kommission liegen sollte, würde natürlich lauter Gefolgsleute der Regierung Fox' in diese Behörde entsenden, d. h. Fox' Partei konnte sich dann in den Besitz all der Machtmittel setzen, welche das Bestimmungsrecht über die Kompanie und die Patronage der indischen Beamtenstellen bei den parlamentarisch-politischen Kämpfen in sich schloß. Nach fünf Jahren sollte zwar die Ernennung der Kommissare an die Krone, d. h. die dann amtierende Regierung fallen, aber die Partei hatte gute Aussicht, sich bis dahin auch im Parlament eine sturmfreie Position zu erringen, wenn sie sich erst einmal der Herrschaft Uber Indien versichert hatte. ») Text: Pari. Hist. X X I V , S. 62 bis 89. *) Vgl. Fox, Correspondence (ed. Lord Russell, 1853, II, S. 219) über die India Bill: " I f I had considered nothing but keeping my power, it was the safest way to leave things as they are, or to propose some trifling alteration, and I am not at all ignorant of the political danger which I run by this bold measure; but whether I succeed or no, I shall always be glad that I attempted because I have done no more than I was bound to do, in risking my power and that of my friends when the happiness of so many millions is at stake."
277 Der Burke von 1772/73 und 1780/81 (s. o. S. 251) hätte bei einem solchen Plan über unverschämte Raubgelüste des Ministeriums gewettert. Da es diesmal seine Gesinnungsgenossen waren, welche die Hände nach der Kompanie ausstreckten, lag der Fall für ihn völlig anders: die kritischen Bemerkungen der Oppositionsredner verrieten nach seiner Behauptung nur deren eigenes niedriges Denken.1) Ließ demagogische Gerissenheit oder temperamentvolle Parteinaivität ihn so sprechen? Das zweite ist bei seiner Natur wahrscheinlicher (vgl. S. 148). An einem späteren Verhandlungstag ergriff er das Wort, um in ausführlicher Rede die Notwendigkeit der von Fox beantragten Gesetze darzutun. Die Ansicht, daß das Privileg der Kompanie die Staatsautorität in ihrem Handeln, einschränke, verwarf er jetzt. Wenn der Freibrief nachweislich mißbraucht wurde, ist er hinfällig. Das Parlament tritt dann den indischen Fragen gegenüber in alle seine Rechte und Pflichten wieder ein. Burkes Rede will den geforderten Nachweis in allen Einzelheiten erbringen. Sie entwirft ein Nocturno der englischen Herrschaft in Indien. Vom Gebirge bis zur Südspitze Indiens seien alle Fürsten, die mit der Kompanie in Berührung kamen, von dieser verkauft worden, alle, die ihr Vertrauen schenkten, ruiniert. Es gebe keinen Vertrag der Kompanie, der gehalten worden sei. Und die beherrschten Provinzen ? „Der Tatareneinfall war verderblich, aber unser „Schutz" bedeutet Indiens Ruin . . . Die Eingeborenen kennen kaum bei einem Engländer graues Haar. Junge Leute, beinahe noch Knaben, regieren dort, ohne Umgang und ohne Mitgefühl mit den Einheimischen. Von der ganzen Habgier des Alters, dem ganzen Ungestüm der Jugend angestachelt, kommen sie an, einer nach dem anderen, Welle auf Welle. Die Eingeborenen haben nichts zu erwarten als eine hoffnungslose, endlose Folge neuer Schwärme solcher Raubund Zugvögel, immer erneute Gier nach einer Nahrung, welche ständig mangelt. Jede Rupie Gewinn, die einem Engländer zuteil wird, ist Indien für immer verloren. England hat keine Kirchen, !) Pari. Hist. X X V I I I , S. 1246: "Mr. Burke . . . with much warmth . . . ridiculed and reprobated the conduct of opposition, as the most unjust and unprecedented (!) ever known or practised.... They knew their own base minds, and therefore imputed base motives to others, when they could not arraign the system itself."
278 keine Spitaler, keine Palaste, keine Schulen errichtet. England hat keine Brücken, keine Straßen gebaut, keine Kanäle gezogen, keine Zisternen gegraben. Falls wir heute aus Indien vertrieben werden sollten, wird nichts verkünden, daß das Land wahrend der ruhmlosen Zeit unserer Herrschaft von irgend etwas Besserem als OrangUtangs oder Tigern besessen wurde." Die Herrschaft der Kompanie ist eine der verderbtesten Tyranneien, die es jemals auf Erden gab. Ihre Reform Irann man nicht den Direktoren Uberlassen, da sie nach der Pfeife ihrer Angestellten tanzen. Oberst Monson, einer der besten Manner, schied in Enttäuschung frühzeitig dahin, Claverings ehrliches Herz brach, Francis1) kehrte in bitterer Verzweiflung aus Indien zurück, aber ein Hastings dominiert dort durch Jahre in seinem Amt, trotz der Flüche der Inder, trotz der Parlamentsentschließungen! Bei der Schilderung greuelvoller Taten ziemen sich — so urteilt Burke charakteristischer Weise — nicht die kalten gelassenen Worte eines Macchiavelli oder Tacitus. Um in Indien ein besseres Regiment aufzurichten, bedarf es leidenschaftlicher Herzen und starker Mittel. Gottes Wille hat die Engländer zu Herren in Indien gemacht Daraus erwächst ihnen eine ethische Verpflichtung gegen dreißig Millionen Mitmenschen, der sie sich nicht entziehen dürfen.1) Es gelang Charles Fox, sein Reformgesetz durch das Unterhaus zu bringen, aber bei den Lords scheiterte es. Darauf entließ Georg III. das Koalitionsministeritun und berief den jungen Pitt. Ein Vierteljahr hielt dieser im Kampf gegen die Unterhausmehrheit aus.®) In den Neuwahlen des Frühjahrs 1784 errang er dann einen überwältigenden Sieg. ') "Mr. Francis . . . in utter despair returned to Europe. This man whose deep reach of thought, whose large legislative conceptions, and whose grand plans of policy make the most shining parts of our reports,.. this man driven from his employment, discountenanced by the directors, has had no other reward . . . but that inward 'sunshine of the soul' which good conscience can always bestow upon itself." *) Vgl. auch die Stelle: " I f I kept a . . . fides latronum with what is called the Company, I must break the faith, the covenant, the original, indispensable oath in which I am bound by the eternal frame and constitution of things, to the whole human race." s ) Gang und Bedeutung des Kampfes schildert Salomon, Pitt I, 2, S. 130 bis 158.
279 Dem neuen Parlament legte Pitt s e i n e n Plan1) für die Reform der indischen Verwaltung vor: Dem Ministerium wurde eine Sonderkommission für Indien angegliedert (Board of Control), zu deren Mitgliedern u. a. auch der Premierminister und ein Staatssekretär gehörten. Diese Behörde übte die Aufsicht Uber alle Maßnahmen der Direktoren, welche die Verwaltungs-, Steuer- und Heeresangelegenheiten Indiens berührten. Die eingehenden Meldungen und die ausgehenden Befehle mußten dem Kontrollamt zur Begutachtung vorgelegt werden. Das Recht, die Beamten der Kompanie zu ernennen, stand den Direktoren zu, doch war die Zustimmung des Königs erforderlich. Der König — unter ministerieller Gegenzeichnung — konnte die Beamten jederzeit abberufen. Dies System der verteilten Rechte verschleierte die Tatsache, daß auch durch Pitts Reformgesetz die eigentliche Macht der Direktoren auf eine neue Behörde übertragen wurde. Aber die von Fox geplante Siebenerkommission stellte gleichsam eine autonome, von den Verschiebungen im Parlament unabhängige Sonderregierung für Indien dar; sie konnte unter Umständen eine Politik treiben, die derjenigen des Gesamtstaates zuwiderlief. Pitts „Kontrollamt" war dagegen eine bloße Filiale der Staatsregierung. Ein Wechsel der Landespolitik wirkte daher automatisch auch auf die Behandlung der indischen Angelegenheiten ein, so daß die Einhelligkeit der Geschäftsführung gewahrt blieb. Durch Pitts Gesetz wurde ferner die Autorität des Generalgouverneurs Uber Madras und Bombay verstärkt; spätere ergänzende Bestimmungen (1786) gaben ihm die Freiheit, auf seine Verantwortung hin auch gegen die Ansicht der Ratsmehrheit zu handeln (was Hastings seit Jahren geraten') und sich gewünscht hatte). Der Generalgouverneur in Indien und der dem „Board of Control" Vorsitzende Staatsminister wurden dadurch de facto die beiden maßgebenden Leiter der indischen Politik. Ein Einvernehmen und ') Text (nach der Fassung vom Januar 1784) Pari. Hist. X X I V , S. 4 i 3 f f . ; vgl. Salomon S. 254ff.; Pitts Begründungsrede: Pari. Hist. X X I V , S. io85ff. *) Gleig I, S. 371 ff. (1773), 386ff. (1774). — Burke bekämpfte 1786 den Regierungsantrag, die Befugnisse des Generalgouverneurs (damals Lord Cornwallis) zu erweitern, auf das heftigste, in Ausdrücken aus dem Sprachschatz eines Sanitätsgehilfen. Er eiferte dagegen, daß die Willkür und der Despotismus in Indien vermehrt werde.
280 Vertrauensverhältnis zwischen diesen beiden verantwortlich handelnden Personen war unvergleichlich viel leichter zu erzielen als ein Ausgleich zwischen in sich zwiespältigen, von persönlichen Intrigen durchsetzten Amtskollegien, wie dem der Direktoren in London und dem Rat von Calcutta in seiner bisherigen Struktur. In der Begründungsrede zu seinem Gesetz äußerte Pitt einige Sätze über Räuberei und Erpressung der Kompaniebeamten, ungehörigen Erobererehrgeiz und Verbrechen, die das menschliche Gefühl empören. Als Hastings diese Wendungen ein halbes Jahr später in Calcutta las, ließ er seine Koffer packen. Monatelang hatte er in einer ungeheueren Spannung gelebt, wie sich das neue Ministerium gegen ihn verhalten werde. , Er wußte nicht, ob ein Nachfolger unterwegs war, bereitete seine Heimreise vor, brachte seine Regierung zu einem gewissen Abschluß, 1 ) träumte dann aber doch manchmal wieder davon, daß aus England die Bitte eintreffen werde, er möge sein Amt — mit gesteigerter Autorität — noch weiter führen. In Pitts Rede stellte er nun voll Verdruß die Wiederkehr der „gleichen abgedroschenen Phrasen",2) der nämlichen allgemein gehaltenen Beschimpfungen der Kompaniebeamten fest, welche Burke und Fox vorgebracht hatten. Daraus wie auch aus dem Charakter des Pittschen Gesetzes selbst folgerte er, daß sein Rücktritt gewünscht werde. Bei seiner Amtsführung in Indien hatte ihn das Gefühl für die Größe und Ehre des englischen Namens») und das der Treuepflicht ') Er ging im Sommer 1783 nochmals nach Oudhe hinauf, um die dortigen Verhältnisse zu ordnen. Eine Weile hing er dem Gedanken nach, in Delhi zu intervenieren; der Sohn und Erbe des Moghuls hatte sich als Schutzflehender bei ihm eingefunden. Hastings verzichtete jedoch schließlich auf den Plan, da seine Kollegen im Rat absolut nichts davon wissen wollten (siehe Hastings, Letters to his Wife ed. Grier). *) Hastings an Scott, 26. Dezember 1784, Gleig III, S. 224: "Mr. Pitt's speech is a very unpleasant indication of his disposition towards me, and is in effect more inimical to me, as, under the cover of moderation and candour, it admits all the slanders which Mr. Fox and Mr. Burke rendered ineffectual by the personal rancour which they manifested on their first promulgation of them. It contains the same indiscriminate abuse of the Company's servants, and this is expressed in the same trite epithets, on which he dwells with a most disgusting emphasis and reiteration...." *) Beachte z. B. das Aufflammen dieses nationalen Gefflhls, als die Nachricht eintraf, eine britische Armee habe vor den Amerikanern kapitulieren
281 gegen seine Auftraggeber geleitet. Als solche betrachtete er die Aktionäre der Kompanie, die ihm in Zeiten der Anfeindung und Bedrängnis mehrmals nachdrücklich ihr Vertrauen kundgetan hatten. Den Direktoren, die allezeit das Mäntelchen nach dem Parlamentswind gehängt hatten, stand er kühl gegenüber, ebenso den verschiedenen Ministerien, die seiner Tätigkeit bestenfalls in einer unbestimmten lauen Neutralität zugesehen hatten. Pitts Gesetz hatte jetzt die Aktionäre als mitbestimmendes Element vernichtet. Hastings1) wollte mit der neuen Aera nichts mehr zu tun haben. Auch war er zu stolz, als bloßer Platzhalter in seinem Amt zu verharren, bis sich das neue Ministerium einen anderen Generalgouverneur ausgesucht hatte.') Als er im folgenden Sommer (1785) in der Heimat ankam, erklärte Burke im Unterhaus seine Absicht, einen Antrag einzubringen, der das „Verhalten eines soeben von Indien zurückgekehrten Herrn" betreffe.
„Wohlan, wir wollen ihn niederschlagen mit der Zunge Und merken auf alle seine Reden." (Jeremias.)
Burkes Energie hielt seine Partei, die sich bei ihrem Vorstoß gegen die Ostindische Kompanie eine schwere Niederlage geholt hatte und nun instinktgemäß von diesen gefährlichen Fragen wegstrebte, bei der Angelegenheit der indischen Reform fest. Immer stärker entwickelte sich in ihm der Glaube, es sei eine kategorische Forderung der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, den indischen „Mitbürgern" (wie er sie ausdrücklich bezeichnete) gegen ihre mflssen (bei Saratoga, 1777). Hastings im Rat, Juni 1778: "If it really be true, that the British arms and influence have suffered so severe a check in the Western world, it is the more incumbent on those who are charged with the interest of Great Britain in the East to exert themselves for the retrieval of the national loss" (Forrest, Selections). *) Hastings' Urteil über das Gesetz: „an Act most injurious... to my character and authority, to the Company, to the proprietors especially who alone have a right to my services on the principle of gratitude, and to the national honour, could not have been devised, though fifty Burkes, Foxes and Francises had clubbed to invent one" (Letters to his Wife S. 410). ') Rflcktrittserklärung: Gleig III, S. 231 f.
282 Bedränger zu helfen. Konnte er dabei gleichzeitig einen Sack voll unangenehmer Feststellungen vor der TUr der Regierung Pitt niedersetzen, so war dies ein Nebengewinn, den er als Parteitaktiker willkommen hieß. Im Februar 1785 griff er in einer seiner besten, schneidigsten Reden1) das Ministerium an, weil es ohne langes Nachprüfen die Ansprüche der Finanzgeier von Madras sanktioniert hatte. Er leuchtete in das Gewirr zweideutiger Geschäfte hinein, welche in Madras zwischen dem Nabob von Arcot (dem nominellen Fürsten des Gebiets, der sich ganz in den Händen der Engländer befand) und privaten englischen Geldmännern, die mit Zinssätzen bis zu 48 Prozent operierten, unter dem Einverständnis der offiziellen Vertreter der Kompanie vor sich gegangen waren. Madras war damals die Hochburg der indischen Korruption. Zustände, wie sie in Bengalen in den ersten Jahren nach der englischen Eroberung geherrscht hatten, hatten sich hier teils erhalten, teils neugebildet. Ein Trupp von Kaufleuten beherrschte durch seine Mittelsmänner das Land, sah es aber lediglich als eine gottgewollte Einnahmequelle an. Als die Einkünfte infolge der ungeheuren Kriegsschäden zurückgingen, wurde das Minus als „Rückstand" höchst korrekt in die Bücher eingetragen und zu den übrigen Schulden des Landes an die Kompanie hinzugezählt. Burke höhnte über solche Verwaltungsweisheit. Er war empört, daß nicht alle Forderungen des Schwanns englischer Gläubiger zurückgestellt wurden, bis das verheerte Gebiet wieder instandgesetzt war. „In jedem Land ist der Pflug der erste Gläubigerl" rief er aus. Die Regierung Pitt nahm im Parlament eine so starke Stellung ein, daß sie es nicht nötig fand, Burkes Vorwürfen zu entgegnen. Die Abstimmung entschied gegen die Opposition. Das Thema „Madras" war damit aus den Unterhausverhandlungen ausgeschaltet. Fortan konzentrierte Burke seine Angriffe auf Hastings. Dem neuen Parlament gehörten sowohl Major Scott wie Philip Francis an. Kein Wunder darum, daß die Reden und Gegenreden über die Taten und Person des indischen Generalgouverneurs immer heftiger wurden. Scott sprach verächtlich von den verleumderischen Ausschußberichten Burkes. Burke forderte Gelegenheit, ihre strikte Wahrheit zu erweisen. Speech on the Nabob of Arcot's Debts.
283 Im „India House" lagen die Abschriften aller Sitzungsprotokolle und aller Korrespondenz der indischen Verwaltungsbehörden — mehr als hundert gewichtige Foliobande fUr jedes einzelne Jahr. Mit einer ungeheuren Zähigkeit und Sorgfalt hatte Burke in diesem Papierwust geforscht. Auch an keinem anderen Hilfsmittel ging er vorüber, das dazu beitragen konnte, helleres Licht auf die indischen Zustände und Vorgänge fallen zu lassen. Er suchte die Sitten und sozialen Verhältnisse der Inder zu verstehen, er schlug ihre alten Gesetzbücher nach, er saß über Spezialkarten, um sich die Natur des Landes, die Art seiner Nutzimg klar zu machen. Seine Gabe, aus den hunderterlei kleinen Einzeltatsachen zu einer großen Gesamtanschauung zu gelangen, verließ ihn auch hier nicht, aber mehr wie irgendwo sonst verzerrte seine Phantasie die wahren Verhältnisse. Alles nüchterne, alltägliche Leben, das in Indien wie in jedem Lande herrscht, verschwand vor seinem Blick; übrig blieben Bilder von fürchterlich schreienden Farben, oft nur mehr geeignet, Moritaten zu illustrieren: entvölkerte Königreiche, öde, menschenleere Wüsten, die kurz vorher noch lachende Paradiese gewesen waren, unschuldige indische Landleute, die unter grausamen Peinigern stöhnten, von Haus und Hof gejagte Adlige, Prinzessinnen, deren Juwelenkästen und Toilettenschränke von brutalen, gierigen Polizisten durchwühlt wurden, verhungernde Gefangene und blutige Metzeleien ganzer Völkerschaften.1) Fragte er dann ') Vgl. Burkes Äußerungen im Unterhaus. Juli 1784 (Pari. Hist. X X I V , S. i209ff., 1252ff. t 1264ff.: "The extermination of the Rohillas, where that humane governor (Hastings) spared neither man, woman nor child; where the heads of the unfortunate men were torn from their bodies, while the famished women were crawling through the British camp, to implore the comfort of a little rice." — Hastings "was ravaging countries, depopulating kingdoms, reducing the gardens of the universe to a desert, plundering opulent towns and consigning to atrocious cruelty and destruction the innocent and industrious inhabitants of whole empires." — "Foul enormities had deluged the Indies in poverty and blood." — "The barbarous usage which two unfortunate princesses had experienced, enough to make children yet unborn blush for the brutality of their fathers." — Vor dem Eingreifen der Engländer war Indien das Eden des Ostens; Hastings "had reduced the whole to a waste howling desert where no human creature could exist." — "Cities and nations all overwhelmed in one destruction." — " T h e policy of India aimed only at rapacity." Zum Schluß betont Burke: "Everything, he had said concerning the outrages in India was true. He denied having exaggerated a single circumstance."
284 noch den sachkundigen Freund Francis um eine Bestätigung, erhielt er zur Antwort ein zustimmendes Kopfnicken. Ein paar Tage später kam dann vielleicht aus Indien ein Brief von Lord Macartney, dem Gouverneur von Madras, des Inhalts, die Organisation der Kompanie müsse schleunigst geändert werden, die leitenden Posten seien mit Ehrenmännern zu besetzen, falls das englische Reich in Indien nicht in Bälde dem Untergang anheimfallen solle.1) Die Gedanken an die Greuel und das Elend in Indien ließen Burke nicht mehr los; auch nachts hielten sie ihn so manchesmal wach und stachelten ihn, den Verbrecher Warren Hastings zur verdienten Rechenschaft zu ziehen. Das Unternehmen bot wenig Aussichten auf Gelingen. Der mächtige Kolonialregent wurde bei seiner Ankunft in London von der Staatsregierung, dem Hof und den Direktoren der Kompanie in Ehren empfangen. Er begann darauf, sich in der Heimat einzurichten. Der Ruhestand erschien ihm sonderbar. Er ergriff mit Freuden jede Gelegenheit, seine indischen Erfahrungen fruchtbar zu machen. Er faßte die Hoffnung, eine Verbesserung von Pitts indischem Reformgesetz herbeiführen zu können.*) Seine Freunde verhandelten mit dem Ministerium, insbesondere mit Hastings' ausgesprochenem Gönner, dem alten toryistischen Lordkanzler Thurlow, damit die Verdienste des Generalgouverneurs durch einen Lordtitel oder dergleichen belohnt wurden. Pitt verhielt sich in der Sache zurückhaltend, im Hinblick auf das Tadelsvotum des Unterhauses aus dem Jahr 1782 und Burkes Erklärung, die Angelegenheit Hastings im Parlament nochmals zur Sprache zu bringen. Hastings selbst war der Frage einer Standeserhöhung, die schon in früheren Jahren manchmal eine Rolle gespielt hatte, immer mit
') Burke, Corr. III, S. 23 ff.: Macartney an Burke, 31. Januar 1784. — Macartney (seit 1781 Gouverneur von Madras, frflher Gesandter in Petersburg und „Sekretär" in Dublin) arbeitete gegen Hastings, mit dem er infolge von Reibungen bei der Fahrung des Kriegs und der Friedensverhandlungen in SQdindien schlecht stand. Hastings verachtete ihn, seitdem er private Briefe zu Denunziationen des Generalgouverneurs bei den Direktoren verwendet hatte (vgl. Hastings bei Gleig III, S. 61 ff. und 56ff.). *) Siehe Hastings bei Gleig III, S. 241 f.
285 Gleichmut gegenübergestanden. Um Burkes Plane kümmerte er sich nicht.1) Zu Beginn der Parlamentssession von 1786 forderte Major Scott Burke auf, seine Ankündigung vom Juni des Vorjahres recht bald zu erfüllen. Burke und seine Parteigenossen hoben, wie es selbstverständlich war, den hingeworfenen Handschuh auf. Burke war bereits damit beschäftigt, die Anklagen gegen Hastings zu formulieren. Praktischen Erfolg versprach er sich angesichts der Stimmung des Parlaments von seinem Vorgehen nicht. „Wir wissen, daß wir eine im voraus entschiedene Sache vor ein bestochenes Tribunal bringen," schrieb er an Francis. „Mein Geschäft ist nicht, zu bedenken, was Herrn Hastings überführen wird (eine unmögliche Sache), sondern was mich vor den wenigen Personen und fernen Zeiten rechtfertigt, die vielleicht Anteil an diesen Vorgängen und den dabei handelnden Personen nehmen."*) Burke überlegte sich, ob etwa im Parlament durch eine passende Auswahl und Beschränkung der Anklagepunkte eine größere Gefolgschaft gewonnen werden könne. Er kam zu einer verneinenden Antwort. Daher entschloß er sich, auf die taktischen Künste des Stimmenfangs von vornherein zu verzichten und nur der moralischen Wucht der Anklagen zu vertrauen. Er wollte deswegen in den Klageartikeln nicht bloße trockene Behauptungen Uber strafbare Tatsachen aufstellen, sondern eine Art geschichtlicher Darstellung geben, die Beweggründe der handelnden Personen beschreiben, sittliche Urteile über die einzelnen Vorgänge fällen, dem Wider sprach des Angeklagten im voraus entgegenarbeiten, Beweismaterial einstreuen, kurz bereits in den Artikeln selbst einen guten Teil der Advokateninterpretation vorwegnehmen, um auf diese Weise das moralische Gefühl der Leser aufzustacheln.1) Vor allen Dingen war es ihm wichtig, die Menge und Kontinuität der Hastings'schen *) Hastings bei Gleig III, S. 270: "Whether this man (Burke) really means what he has threatened, I know not, having heard nothing abont him for many months, nor have I ever made him the subject of my inquiries" (10. Dezember 1785). •) Burke, Corr. I l l , S. 38ft. (10. Dezember 1785). •) Vgl. Burke, Corr. I l l , S.
(23. Dezember 1785).
286 Verbrechen deutlich werden zu lassen, zu zeigen, daß es sich nicht etwa nur um vereinzelte Fehlgriffe handelte. Diese Art der Anlage hatte nicht nur zur Folge, daß die Artikel 1 ) zum Umfang eines Buchs anschwollen, sie ergab auch nur ein unübersichtliches, ermüdendes Gemisch wichtiger und unwichtiger Feststellungen und Vorwürfe. Bald waren sie im Ton des historischen Erzählers, bald in dem eines gerichtlichen Protokollführers, bald dem eines agierenden Anwalts geschrieben. Die Motive der geschilderten Handlungen und der angeführten Schriftstücke wurden nicht aus diesen selbst oder ihren Zusammenhängen durch Interpretation gewonnen, sondern gleichsam roh von außen aufgestempelt. „Die Artikel sind zusammengearbeitet aus verstümmelten Citaten, aus Tatsachenangaben, die unter sich keine Beziehung haben, sondern durch eine falsche Anordnung zusammengezwängt wurden, aus Leitsätzen einer verderblichen Politik und falschen Ethik, aus Behauptungen einer Schuld ohne Beweise oder Versuche von solchen Beweisen, endlich aus Deutungen geheimer Beweggründe und Pläne, die niemand bekannt sein können außer mir selbst," urteilte Hastings über die Anklageschrift in seiner Entgegnung.') Drei Wochen, nachdem Scotts Herausforderung ergangen war, beantragte Burke im Unterhaus die Vorlage bestimmter Aktenstücke aus Hastings' Amtszeit, um aus deren Untersuchung ein „Impeachment" — d. h. die Anklage vor dem höchsten Gerichtshof des Landes, dem Haus der Lords, durch das Haus der Gemeinen — herauswachsen zu lassen. Pitt erklärte in der Angelegenheit eine vollkommene Neutralität. Major Scott versicherte im Namen von Hastings, dieser hege den angelegentlichen Wunsch, daß eine klärende Untersuchung stattfinde. Da Burkes Verlangen nach politischen und diplomatischen Schriftstücken der letzten Jahre dem Ministerium bald zu weit ging, sperrte es sich. Burke sah sich gezwungen, die Taktik zu wechseln. Er legte jetzt seine Klageartikel vor. Hastings übermittelte darauf Die 22 Artikel rührten nur teilweise unmittelbar von Burke her; einige waren von Francis, weitere von andern, jüngeren Helfern Burkes verfaßt, siehe Francis Memoirs II, S. 287. *) Vgl. auch Hastings' Brief bei Gleig III, S. 299f. über den Artikel „Benares".
287 die Bitte, dem Unterhaus eine Entgegnung vortragen zu dürfen, was gewährt wurde.1) Weil Hastings jedoch nicht die Fähigkeit besaß, vor einer so großen und durch rednerische Leistungen derartig verwöhnten Versammlung frei zu sprechen, las er seine Antwort an zwei Tagen vor, zum Teil ließ er sie auch durch Freunde vorlesen. Sein Auftreten blieb daher ohne psychologische Wirkung auf das Parlament. Immerhin wurde in der Oeffentlichkeit durch seinen Schritt ein Gegengewicht gegen den Eindruck der Klageartikel geschaffen. Einzelne einflußreiche Parlamentsmitglieder privatim zu bearbeiten, wie ihm von befreundeter Seite nahegelegt wurde, verschmähte Hastings in einem stolzen Vertrauen auf die Unanfechtbarkeit seiner Sache. Das Unterhaus hatte nunmehr zu entscheiden, ob die einzelnen von Burke vorgelegten Artikel ein „Impeachment" gegen Hastings genügend begründeten. Artikel I (Ausrottung des unschuldigen Rohillavolks um einer schnöden Geldsumme willen) wurde verworfen. Das Wort für die Regierung führte Dundas, der jetzt Leiter des indischen „Kontrollamts" war. Er fand es keine ganz leichte Aufgabe, seine nunmehrige Auffassimg, Hastings habe langjährige unbestreitbare Verdienste aufzuweisen, mit der Rolle in Einklang zu bringen, die er 1782 als Urheber der Tadelsresolutionen gegen denselben Hastings gespielt hatte. An bissigen Hinweisen ließ es die Opposition nicht fehlen. Dundas stellte sich auf den Standpunkt, der Rohillakrieg sei zwar verwerflich, aber da das Parlament den Generalgouverneur später (1778) in seinem Amt erneut bestätigt habe, könne es jetzt die Angelegenheit der Rohillas nicht als Gegenstand einer Kriminalklage hervorholen. Neue Umstände des Rohillakriegs, welche die Sachlage veränderten, seien nicht dargetan worden. Als nächsten Punkt brachten darauf Hastings' Ankläger den Fall des Rajas von Benares vor. Sie führten aus, der Generalgouverneur habe den friedlichen, souveränen, mit der Kompanie durch feste Verträge verbundenen Fürsten einer heiligen indischen Hastings bei Gleig I I I , S. 287: " I n an happy hour and by a blessed inspiration I resolved to try the effect of a petition to be heard in person. Against my expectation it was granted; and everybody came to ask me why I had done so imprudent a thing. Some called it rash, others mad, and all men condemned it — all but my great friend the Chancellor."
288 Stadt in planmäßiger Tücke erst durch erpresserische Forderungen provoziert und schließlich mit tyrannischer Hoffart und Willkür von seinem Thron gestoßen. In der Debatte ergriff Pitt das Wort.',) In seiner methodischen, lichtvollen Weise kritisierte er die Grundlagen der Klage: Cheyt Singh sei kein souveräner Fürst, sondern Vasall der Kompanie gewesen, als solcher im Kriegsfall zu außergewöhnlichen Beihilfen verpflichtet. Der Gouverneur habe das Recht besessen, ihm für die gezeigte Säumigkeit ein Strafgeld aufzuerlegen, auch die Befugnis, ihn abzusetzen, als er nach seiner Verhaftung einen Aufstand erregte. Pitt vergaß auch nicht, der Opposition zu Gemüte zu führen, in welch weitgehender Weise ihr Parteigenosse Francis, der sich jetzt unter den Anklägern hervortat, an der gegen Benares geführten Politik beteiligt war. Als den einzigen bedenklichen Punkt der ganzen Materie bezeichnete Pitt die Höhe des Strafgelds, welches Hastings geplant hatte. Hier bestehe ein exorbitantes Mißverhältnis zwischen Strafe und Vergehen. Das englische Regiment in Indien sei zwar den despotischen Verhältnissen des Landes angepaßt, aber ein englischer Gouverneur habe sich gleichwohl an die Prinzipien der Gerechtigkeit und Freiheit zu halten. Was in Gesetzen eines Tamerlan über Straftaxen geschrieben stehe, sei gleichgültig. Wenn es zu einem Impeachment gegen Hastings komme, dann solle dieser Akt tyrannischer Bedrückung jedenfalls einen der Klagepunkte bilden. Aus diesem Grund erklärte Pitt seine Absicht, f ü r den Antrag des Tages zu stimmen. Die Stellungnahme zu der Frage, ob überhaupt ein Impeachment gegen Hastings stattfinden solle, behielt er sich dabei noch vor. Das Erstaunen war gewaltig. Jedermann hatte erwartet, daß der Premierminister gegen den Antrag stimmen werde — seine Gefolgsleute waren vor der Sitzung entsprechend instruiert worden —, nun hatte er die Opposition plötzlich eingeladen, ihre Aktion gegen Hastings fortzusetzen 1 Macaulay, der den Vorfall ausführlich bespricht, fällt das Urteil: „Gerade den Kurs wählte Pitt, den man nicht einmal bei einem Mann, der nur ein Zehntel seiner Fähigkeiten besaß, erwarten würde. Er sprach Hastings von der Rohilla-Klage frei; er milderte ») Pari. Hist. XXVI, S. ioiff.
289 die Benares-Klage, bis sie überhaupt keine mehr war, und dann verkündete er, sie enthalte Stoff für ein Impeachment." Das Rätsel ist auch heute noch nicht gelöst. Felix Salomon, Pitts Biograph, hat wahrscheinlich gemacht,1) daß sich der Minister erst n a c h den Debatten über den Rohillakrieg in den Stoff einarbeitete, also erst bei der nächsten Verhandlung, eben jener über den Artikel „Benares", ein eigenes Urteil aussprechen konnte. Dadurch wird verständlich, daß sich Pitts Schwenkimg nicht schon früher vollzog, aber ihr eigentliches Motiv bleibt nach wie vor im Dunkel. Der alte Lordkanzler Thurlow erklärte damals bissig: „Wenn ein junges Mädchen in solcher Weise von einer Rechtsfrage sprechen würde, wäre es unverzeihlich." Einen fadenscheinigeren Anlaß für ein Impeachment, d. h. die feierlichste Prozeßform des Landes, zu stimmen, als Pitt ihn wählte, gab es in der Tat nicht leicht. Die von Hastin gs in Aussicht genommene Strafsumme wurde von dem Raja Cheyt Singh nie wirklich verlangt, sie kam überhaupt gar nicht zu dessen Kenntnis (wie Pitt selbst einräumte). Es lag also gar keine despotisch-willkürliche Tat vor, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens werden konnte, sondern höchstens eine Absicht, die nicht zur Ausführung kam. Hatte etwa Pitt damals aus dem Studium anderer Taten des Generalgouverneurs die Ueberzeugung gewonnen, es sei unrecht und unehrenhaft, wenn das Ministerium einen gerichtlichen Austrag der Angelegenheit Hastings verhinderte? Aber warum ist dann seine Schwenkimg nicht bei einer besseren Gelegenheit erfolgt als just die war, welche er sich aussuchte? Es ging zwar damals das Gerücht, die Opposition wolle die Aktion gegen Hastings aufgeben, wenn die ersten von ihr vorgelegten Klageartikel im Parlament niedergestimmt wurden. Aber wie leicht war es für den Minister, um ein halbes Dutzend Ecken herum eine unverbindliche Botschaft an die Gegenpartei gelangen zu lassen, seine Stimme könne vielleicht bei anderen Punkten der Anklage noch gewonnen werden, und auf diese Weise die Unternehmungslust der Ankläger von neuem wachzurufen. Die Debatte über Benares war also nicht der letzte Zeitpunkt, an dem er Stellung nehmen konnte. Salomon I, 2, S. 426ff. L e n n o x , Edmund Borke.
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290 Es bleibt die Wahl zwischen den beiden Annahmen: 1) Pitt erbückte in der Festsetzung einer Strafsumme von 500000 Pfund gegen den Fürsten von Benares tatsächlich eine Willkürhandlung des Gouverneurs, die vor das höchste Tribunal des Landes gebracht zu werden verdiente; er handelte also aus gutem Glauben heraus in der von seinem juristischen Kollegen geschmähten Weise. Oder 2) Pitt vollzog seine Schwenkimg in erster Linie aus taktischen Gründen, d. h. er erkannte es als unzweckmäßig, zwischen der Oppositionspartei und ihrem Jagdobjekt stehen zu bleiben. Verpflichtungen gegen Hastings besaß er keine. Sollte er sich unnötig dem Geschrei aussetzen, er habe einen Verbrecher dem strafenden Arm der Gerechtigkeit entzogen und dadurch bewiesen, daß er keine Spur eines Empfindens für die Ehre und beleidigte sittliche Würde der englischen Nation besitze ? Es stand außer Zweifel, daß Fox' Partei künftig im Lande Register dieser Art ziehen würde, wenn sie bei ihrem Kampf gegen Hastings schon im ersten Treffen geschlagen wurde. Burke hatte in diesen Tönen bereits ein wenig präludiert. Die Parlamentsferien standen nahe bevor. War es da nicht für Pitt ratsamer, noch vor ihrem Beginn deutlich zu machen, daß sich die Regierung dem Gang der Justiz nicht in den Weg stellen wolle, und sich gleichzeitig für künftig doch noch freie Hand zu bewahren — wie dies in der Erklärung des Ministers zum Artikel „Benares" tatsächlich erreicht wurde ? Bei einem Staatsmann, dessen Haltung in einer Reihe von Fällen zweifellos durch rein opportunistische Rücksichten bestimmt wurde, scheint eine solche Rechnung1) durchaus glaublich. Persönliche Motive — Eifersucht des Premierministers auf seinen Amtsgenossen Thurlow, der Hastings in einer ungebärdig-selbständigen Weise protegierte — mögen mitgewirkt haben, aber doch nur in untergeordneter Weise. l ) Vgl. auch Dundas' Schreiben an CornWallis, 21. März 1787 (privat und vertraulich): „The only unpleasant circumstance is the impeachment of Mr. Hastings. Mr. Pitt and I have got great credit from the undeviating fairness and candour with which we have proceeded in it, but the proceeding is not pleasant to many of our friends; and of course from that and many other circumstances not pleasing to us; bat the truth is, when we examined the various articles of charges against him with his defences, they were so strong and the defences so perfectly unsupported, it was impossible not to concour; and some of the charges will unquestionably go to the House of L o r d s . . . . " (Corr. of Charles first Marquis Cornwallis ed. Ross, 1859, I, S. 281).
291 Gleichviel wie Pitts Positionswechsel zu deuten ist, die Partei der Anklager bekam dadurch jedenfalls Wind in die Segel. Ehe Mehrzahl der Regierungsgefolgschaft stimmte nach der überraschenden Weisung ihres Chefs. Damit wurde die Angelegenheit des Rajas von Benares für ein Impeachment auf das Programm gesetzt. In der folgenden Session (1787) nahmen die Dinge ihren Fortgang. Die Oppositionspartei schickte der Reihe nach ihre besten Leute vor, um die einzelnen Klageartikel rhetorisch zu verfechten. Den Preis errang dabei Sheridan, der in einer mehr als fünfeinhalbsttlndigen Rede das Thema des Beghums von Oudhe vorbrachte. Gewaltsame unersättliche Raubgier, kalter planmäßiger Verrat, sinnlose Bedrückung, gemeiner Wortbruch und unbarmherzige Grausamkeit, dies waren die Züge, welche er in der Handlungsweise des Generalgouverneurs zu demonstrieren trachtete. Noch nach Jahren galt seine Rede (von der nur Auszüge begeisterter Berichterstatter erhalten sind) als das rhetorische Glanzstück1) dieser Parlamentariergeneration. Der Premierminister setzte sein Verfahren fort, die Angaben der Burkeschen Artikel kritisch durchzusieben und ihnen nur unter starken Vorbehalten zuzustimmen. Versuchen, die ganze AnklageAktion im Sand verlaufen zu lassen,*) trat er jedoch sehr entschieden *) Effektvoll schloß es mit folgendem Akkord aus Sentimentalität und Nationalstolz: „They (die Unterhausmitglieder) could not behold the workings of the hearts, the quivering lips, the trickling tears, the loud and yet tremulous joy of the millions whom their vote of this night would for ever save from the cruelty of corrupted power.... Would not the omnipotence of Britain be demonstrated to the wonder of nations, by stretching its mighty arm across the deep, and saving by its ,fiat' distant millions from destruction ? And would the blessings of the people thus saved dissipate in the empty air ? No ! If I may dare to use the figure — we shall constitute heaven itself our proxy (Stellvertreter), to receive for us the blessings of their pious .gratitude, and thé prayers of the thanksgiving. It is with confidence therefore. Sir, that I move you on this charge, .That Warren Hastings esq. be impeached'." *) Ein solcher Versuch ging u. a. noch einmal von Dundas aus (Mai 1787, Pari. Hist. X X V I , S. iioôff.). Dundas bekannte seine Sympathie fflr Hastings' Sache, wies auf den Umstand hin, daß Hastings fflr die Handlungen der indischen Regierung ja gar nicht allein verantwortlich sei, sondern andere Ratsmitglieder mit ihm, und schloß mit einem Vergleich zwischen Hastings und Epaminondas, der sein Kommando widerrechtlich behalten habe, uni für sein Vaterland den Sieg zu erfechten. — Pitts Gegenerklärung: S. 1 1 3 5 f f .
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292 entgegen. Der allen Vermittlernaturen naheliegende Gedanke, Hastings' Verdienste und Vergehen gegeneinander abzuwägen und auf diese Weise den ganzen Streit in einem Kompromiß zu begraben, wurde von beiden Seiten gleich scharf zurückgewiesen: durch die Klager, weil diese von keinem Rabatt auf die Strafe von Kriminalverbrechen hören wollten; und durch Hastings, da dieser auf seinem Recht bestand,') vor einem unparteiischen Gerichtshof seine Ehre zu verteidigen, die Monate und Jahre hindurch von Unterhausrednern in den Schmutz gezerrt worden war. Im Februar 1788 nahm endlich der Prozeß selbst mit allem Gepränge eines großen nationalen Schauspiels seinen Anfang. Das Unterhaus hatte eine Kommission gewählt, welche die Anklage vertreten sollte. Als ihr Obmann wurde, wie es sich gebührte, Burke bestellt. Bei früheren Impeachments — das letzte lag schon viele Jahrzehnte zurück — hatten immer Kronjuristen die Rolle der Ankläger übernommen. Diesmal hielt sich die Regierung und ihre gesamte Gefolgschaft fern. Im Anklage-Ausschuß saßen nur Mitglieder der Oppositionspartei. Francis' Wahl wurde zur Bestürzung und zum Kummer Burkes abgelehnt, da seine personliche Feindseligkeit gegen den Angeklagten notorisch war. Drei Berufsadvokaten Ubernahmen es, Hastings gegen die großen Parlamentarier zu verteidigen. Burke fühlte sich ohne Zweifel auf einem Höhepunkt seines an Verdruß und Enttäuschungen sonst so reichen Lebens, als er im Dienst der Gerechtigkeit und im Auftrag des Hauses der Gemeinen in der uralten, hochberühmten Westminsterhalle die Stimme zur Anklage gegen Warren Hastings erhob. Vier Sitzungstage dauerte seine einführende Rede. Er sprach gewissermaßen als Lehrer der Nation. Zuerst malte er den Hintergrund: Indiens Schicksale unter der Reihe seiner Eroberer und den Werdegang der Kompanieherrschaft. Dana ließ er vor der Hörerschaft das Charakterbild des Generalgouverneurs erscheinen: eine Schreckgestalt, die in einem der Werke Victor Hugos am Platz wäre, weit eher einem grausigen Kraken ähnlich, der mit tückischen, gummiartigen Fangarmen rings um sich greift, Beute erklammert und in seinen Schlund zieht, als einem Gentleman der englischen Kolonialverwaltung. „Wir klagen l
) Vgl. Hastings' Brief, Pari. Hist. XXVI, S. 889f.
29a diesen Uebeltäter keiner Verbrechen an, die nicht ihre Wurzel in Habsucht, Raubgier, Hochmut, Unverschämtheit, Wildheit, Verraterei, Grausamkeit, Tücke haben . . die nicht ein vollkommen schwarzes, in der Faser mit Bosheit gefärbtes, verderbtes, bis ins Innerste brandiges Herz kundtun." Hastings sei der Generalkapitän der ganzen indischen Korruption. Er habe sie während seiner Regierungsjahre in ein kunstvolles System gebracht. Habgier sei der Urgrund aller seiner Handlungen, auf ihm erwuchsen Tyrannei, Bedrückung und Unterschleif. Kaum war Hastings in Bengalen angelangt, verauktionierte er den Grundbesitz des ganzen Landes an die schwarzen Agenten in Calcutta. Als seinen Vertrauten in der Finanzverwaltung verwendete er einen eingeborenen Schurken, bei dessen Namen „ganz Indien erbleicht". In den Provinzbezirken ließ er andere Verbrecher gleichen Gepräges schalten. Unerschwingliche Steuern wurden in raffinierter Grausamkeit aus den Bauern herausgefoltert. So groß war deren Elend, daß sie ihre eigenen Frauen und Kinder verkauften. All dies brachte Burke ausführlich mit Namen und Einzelheiten vor. Der Gedanke an die Greuel, welche er schilderte, setzte ihm selbst körperlich derartig zu, daß er für den betreffenden Tag abbrechen mußte. Als seine Rede dem Ende nahte, wandelte sich der Ton der Erzählung in das Maestoso einer Beschworung des Gerichtshofs. Eine gewaltige Klimax schloß das Ganze: „Mylords, wir legen getrost die Sache Indiens und der Menschlichkeit in eure Hand . . . Ich klage Warren Hastings schwerer Untaten und Vergehen an. Ich klage ihn an im Namen des Hauses der Gemeinen, dessen Vertrauen er getrogen hat. Ich klage ihn an im Namen aller Bürger Großbritanniens, deren nationalen Ruf er entehrt hat. Ich klage ihn an im Namen des indischen Volks, dessen Rechte und Freiheiten er vernichtet, dessen Land er wüst gelegt hat. Ich klage ihn an im Namen der Gesetze der Gerechtigkeit, die er gebrochen hat. Ich klage ihn an im Namen der menschlichen Natur selbst, die er grausam vergewaltigt und bedrückt hat, in beiden Geschlechtern, in jeder Alters-, Rang- und Lebensstufe." Zuerst war in dem Prozeß1) die technische Frage zu entscheiden : Sollten die einzelnen Artikel der Reihe nach von beiden *) Quellen: The History of the Trial of Warren Hastings, London, Debrett, 1796, 8 Bände; Minutes of the Evidence taken at the Trial of Warren Hastings,
394 Parteien durchbehandelt werden und dann sogleich Uber den betreffenden Punkt das Urteil erfolgen, oder sollten die UnterhausVertreter zuerst ihre ganze Anklage samt dem Beweismaterial vortragen, darauf die Verteidiger zu Wort kommen und schließlich das Urteil über sämtliche Artikel folgen ? Hastings* Anwälte wünschten das Zweite, um das gesamte Kampffeld Ubersehen zu können, ehe sie zur Widerlegung der Anklagen schritten. Burkes Partei wollte das Erste. Die Lords entschieden sich für den zweiten Weg. Die Folge war, daß jetzt zuerst einmal die ganze Flut der Beschuldigungen Uber Hastings herniederging. Der Prozeß war eine gewaltige Rhetorenparade. Ein jeder der Parlamentsredner spannte die Kräfte an, um vor einem solchen Forum sein Allerbestes zu leisten. Der Angeklagte mußte währenddessen schweigend auf seinem Platz sitzen, gleichgültig, ob etwa in seiner Nähe vorwitzige Leute vom Anklage-Ausschuß auf Stühle kletterten, um in seinen Mienen Schuldbewußtsein zu erspähen, oder ob bei den Kraftstellen der Redner von allen Zuschauergalerien her die Operngucker auf ihn niederstarrten. Nun dehnte sich aber dies erste Stadium des Prozesses über eine vorher ungeahnte Zeitspanne aus, weil das Haus der Lords seiner ganzen Struktur nach nicht imstande war, einen so unerhört umfangreichen und verwickelten Rechtshandel in regelmäßiger zusammenhängender Arbeit zu meistern. In der ersten Session wandte es 35 Sitzungstage an ihn, im nächsten Jahr kamen nur neunzehn Verhandlungstage zustande, 1790 nur dreizehn. Damals hatten die Ankläger erst wenig mehr als vier ihrer Artikel bewältigt. Hastings geriet in die berechtigte Sorge, was bei einem derart schleppenden Tempo herauskommen werde. Die Prozeßkosten nagten an seinem in Indien ersparten Vermögen, wichtige Zeugen mußten wieder in den Dienst der Kompanie zurückkehren oder starben hinweg; seine eigene Gesundheit ließ nach; würde er das Ende des Prozesses noch erleben? Und wenn nicht, sollte dann sein Name für immer London 1788 bis 1794 (beides mir nicht zugänglich); Speeches of,the Managers and Counsel in the Trial of Warren Hastings ed. by E. A. Bond, 4 Bände, London 1861; Außeres und Personalien schildert Sir C. Lawson, The private Life of Warren Hastings, London 1895. Psychologisch sehr wertvolle Momentbilder finden sich in den Erinnerungen Fanny Burney's (Diary and Letters of Madame d'Arblay, 1841, Bd. IV, S. s 8 f f „ i 4 4 f f . ) .
295 den Makel tragen, welchen die Anklager ihm aufgestempelt hatten? In wiederholten erfolglosen Petitionen ging er die Lords an, das Verfahren zu beschleunigen. Eine Weile dachte er sogar daran, auf eine Verteidigung Uberhaupt zu verzichten und es auf das Urteil des Gerichtshofs ankommen zu lassen.1) Auch Burke konnte sich endlich der Erkenntnis nicht verschließen, daß es notwendig war, den Rahmen des Prozesses zu verengern. 1791 beschloß das Unterhaus,*) die noch nicht behandelten Artikel mit geringen Ausnahmen fallen zu lassen. Am 71. Verhandlungstag kamen die Ankläger mit ihren Reden und Zeugenverhören zu Ende. Hastings verlas eine kurze Verteidigung. Die Lords waren aber nicht zu bewegen, noch vor dem Beginn der Sommerferien 1791 das Urteil zu fällen. In der folgenden Session setzten darauf die ausführlichen Verteidigungsreden von Hastings' Anwalten ein, dazu die Verhöre von Zeugen zugunsten des Angeklagten; auch noch die Sitzungen des Jahres 1793 wurden dadurch ausgefüllt. 1794 kamen nochmals die Ankläger zu Wort. Erst 1795, dem achten Jahre des Prozesses, schritten die Lords endlich zum Urteil. Aehnlich wie schon 1786/87 bei den Vorverhandlungen im Unterhaus wurden im Prozeß die einzelnen Klageartikel den verschiedenen Parlamentariern anvertraut. Fox verfocht das Thema, des Rajas von Benares, Sheridan aufs neue das der Beghums von Oudhe. Burke leitete außerdem als Generalstabschef der anklagenden Partei die gesamte Arbeit. Er ordnete die Reihenfolge der Zeugenverhöre an, die Auswahl des schriftlichen Beweismaterials usw. Mehr wie einmal geriet er dabei in gereizte Dispute mit Hastings' Anwalten, die unversehens mit irgend einem Rechtsx
) Vgl. seine Ansprache an den Gerichtshof am Ende der Session von 1789: if I had seen the consequences to which I should have been exposed by such an impeachment.. I would have pleaded guilty. I would not have sustained the trial. I would rather have rested my cause and my character, dearer to me than life, upon that truth which sooner or later will show itself for the clearing my integrity.. Had I pleaded guilty, you could not have inflicted a punishment upon me more severe than that I experience by a life of impeachment...." (Bond II, S. X X V I I I f . ) . *) Im Herbst zuvor (1790) war ein neues Parlament zusammengetreten. Es erhob sich die Rechtsfrage, ob das Impeachment gegen Hastings dadurch hinfällig geworden sei oder in statu quo bleibe. Nach ausführlichen Debatten wurde in letzterem Sinn entschieden.
296 oder Geschäftsordnungsknifif zugunsten ihrer Sache zur Hand waren. Nicht selten verließ ihn auch die Selbstbeherrschung, wenn ein Zeuge nicht die Dinge aussagte, welche er zu hören verlangte. Seine Genossen trugen die grellen Farben oft nur aus Rhetorenmanier auf, er dagegen meinte die wilden Vorwürfe, die er gegen Hastings schleuderte, bitter ernst. So fest hatte sich die Ueberzeugung von dessen Bosheit und Schuld bei ihm eingewurzelt, daß er außerstande war, ein Schriftstück, das mit dem Namen „Warren Hastings" unterzeichnet war, unbefangen zu lesen. Sofort entdeckte er Züge der Hinterhältigkeit, Verlogenheit oder des bösen Gewissens in den betreffenden Sätzen. Er verfiel dabei in die ärgsten Sophistereien.1) Im Jahr 1794 kam Lord Cornwallis aus Indien heim. Sein Zeugnis warf ein schweres Gewicht zugunsten des Angeklagten in die Wagschale. Er sagte aus, daß während seiner ganzen Amtszeit als Generalgouverneur kein Vorwurf gegen seinen Vorgänger Hastings erhoben worden war. An Burke glitt alles ab, was im Lauf der Jahre für Hastings' Seite geltend gemacht wurde. Am Ende des Prozesses war er um nichts milder und versöhnlicher gestimmt als zu Beginn, im Gegenteil, nunmehr klang noch ein Ton persönlicher Gereiztheit durch. Ehe die Richter das Urteil berieten, ging er noch einmal in einer neuntägigen Rede die lange, jetzt so abgetretene Straße der Prozeßthemen herunter (1794). Leidenschaftlich stellte er in Abrede, daß das Unterhaus sich mit einer Kompromißlösung zufrieden geben !) Siehe die Beweisführung in Burkes Rede zum Artikel „Bestechlichkeit", 1789 (Band II, S. 1 bis 209), z. B. S. 6gf.: Hastings' Beschwerden über die Ungnade der Direktoren: „ Y e t for years he lay down upon that sty of disgrace, fattening in it, lying feeding upon that offal of disgrace and excrement, and everything that could be opprobrious (Variante: disgustful) to the human mind, rather than . . . put himself upon a civil justification. Infamy was never incurred for nothing.. „Populus me sibilat; at mihi plaudo Ipse domi, simul ac nummos contemplor in area." . . Never did a man submit to infamy for anything but its true reward — money. Money he received — the infamy he received along with i t . . . . Your Lordships cannot resist the opinion that he would not have suffered himself to be disgraced with the Court of Directors — disgraced with his colleagues — disgraced upon an eternal record — unless he was absolutely guilty of the fact that was charged upon him."
297 werde. Im Jahre 1784 hatte er noch inmitten wilder Invektiven ausdrücklich zugestanden, daß der Generalgouverneur viele bewundernswerte Fähigkeiten besitze. 1788 lenkte er in seiner Eröffnungsrede zum Prozeß an der Frage, ob Hastings Verdienste aufzuweisen habe, mit ein paar kurzen geringschätzigen Phrasen vorbei. Jetzt zeichnete er den Angeklagten nur mehr als einen krämerhaften Bureauschreiber und gemeinen Parvenü, in dem eine Amtsgewalt und Rangstellung, für die er nicht geschaffen war, alle Laster der Arroganz und Unverschämtheit zur Blüte gebracht hatten. „Wir sagten nie, er war ein Tiger oder Löwe; nein, er war ein Wiesel und eine Ratte I" Burke sprach nicht die Unwahrheit, wenn er beteuerte, nur aus sachlichen Motiven zum Verfolger des Generalgouverneurs geworden zu sein. Aber die Dauer und Scharfe des Kampfes führte, wie es nicht anders sein konnte, mehr und mehr auch zu persönlicher Bitterkeit. Burke fühlte es wohl, daß eine Freisprechung des Angeklagten einen Schatten auf den Charakter der Parlamentarier werfen würde, die Hastings so unmäßig angegriffen hatten. So wurde der Ausgang des Prozesses für Burke zugleich eine Angelegenheit seiner persönlichen Ehre. Er wehrte sich verzweifelt dagegen, vor der Welt zum Volkstribunen gestempelt zu werden, der einen Scipio angefallen hatte. Mit Burkes Schlußappell endete die Tätigkeit der Anklägerkommission. Einige Tage später votierte das Unterhaus auf Pitts Antrag Burke und den übrigen Beauftragten den Dank für ihre Leistungen und Mühen. Unmittelbar darauf schied Burke aus dem Parlament aus. Neunundzwanzig Jahre hatte er ihm angehört. Hastings wurde im folgenden Frühjahr von den Lords in allen Punkten der Anklage freigesprochen. Die Kosten des Prozesses hatten sein Vermögen aufgezehrt. Die Regierung lehnte es ab, sie auf die Staatskasse zu übernehmen, doch wurde nach einigem Hin und Her auf andere Weise für Hastings gesorgt. Als Landedelmann überlebte er noch die ganze Aera der napoleonischen Kriege. Erst 1818, in seinem sechsundachtzigsten Jahr, starb er. Burkes Haß gegen Hastings dauerte auch nach dem Prozeß ungeschwächt fort. Der große Agitator war nicht gesonnen, es bei dem Urteil der Lords, das ihm als ein Beweis unglaublicher Kor-
298 ruptheit erschien, bewenden zu lassen. Er verfiel auf den Gedanken, in einer Geschichte des Hastingsprozesses den Kampf in einer neuen Form fortzusetzen und die Richter an den Pranger zu stellen. Zur Ausführung kam der Plan nicht mehr. Statt der Prozeßgeschichte schrieb Burke in seinen letzten Lebensjahren seine „Letters on a regicide Peace". Die Aufgabe, die er selbst nicht mehr lösen konnte, Ubertrug er daher feierlich einem jungen Freund und Gesinnungsgenossen, der als juristischer Berater in dem Prozeß mitgearbeitet hatte: „Laß nicht die Kunde von diesem grausamen, beispiellosen Akt öffentlicher Korruption, Schuld und Gemeinheit ohne die verdiente Censur zur Nachwelt hinabgelangen, die vielleicht ebenso gleichgültig gesinnt ist wie die Menschen von heute. Mein Bemühen, die Nation von dieser Schande und Schuld zu retten, sei mein Denkmal; kein anderes will ich haben. Alles, was ich getan, gesprochen und geschrieben habe, mag vergessen werden, nur dieses nicht."1) Burke verkannte die Lage. Obgleich er den Teufel der indischen Korruption bei dem falschen Namen „Warren Hastings" angerufen hatte, blieb sein gewaltiger Exorzismus letzten Endes doch nicht wirkungslos. John Morley drückt dies mit den kurzen Worten aus: „Der Hastingsprozeß lehrte, daß Asiaten Rechte und Europäer Pflichten haben". Wenigstens brachte er allen Administratoren der britischen Kolonialwelt zum Bewußtsein, daß daheim in England Männer lebten, welche so empfanden und demgemäß auch handelten. So wenig Sympathie die Anmaßimg und inquisitorenhafte Selbstgewißheit verdient, mit welcher Burke seine Sache vertrat, so widrig nicht selten der theatralische Schwall einer unbeherrschten Parlamentsrethorik anmutet, so töricht wäre es andererseits, wegen dergleichen äußeren Erscheinungsformen das Gewicht der eigentlichen historischen Leistung zu verkennen. Die Tatsache, daß der fanatische Wille eines Manns, im Bannkreis des englischen Imperiums dem Recht und der Menschlichkeit zum Sieg zu verhelfen, all die Widerstände cynisch-opportunistischer Leichtfertigkeit und trägen Philisterbehagens in dem großen Staat überwunden und das 1
) Der ganze Brief (geschrieben Juli 1796) ist bei Bond IV, S. L X V I I I
Anm. abgedruckt (aus „Correspondence with Dr. Lawrence", London 1827,
S. 53).
299 ungefüge Raderwerk der nationalen Justiz in Bewegung versetzt hatte, wirkte gleichwie ein Fanal für alle Folgezeit — den Conquistadoren eine Warnung, den Philanthropen ein Trost und Ansporn. Der Hastingsprozeß offenbarte nicht nur, welche Stärke im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts das Geftlhl weltbürgerlicher Humanität erlangt hatte, er gehört zu jenen geschichtlichen Begebenheiten, die zu dem Gesamtcharakter eines Staatswesens bleibende neue Ztlge fügen.
Als die Prozeßverhandlungen vor den Lords begannen, herrschte in Europa noch die , Stille des Ancien Régime ; als Warren Hastings von seinen Richtern freigesprochen wurde, war in Frankreich die Revolutionswelle bereits wieder rückläufig geworden. Die Schreckensmänner des Konvents waren tot. Die ausschlaggebende Gewalt begann von den Leitern der politischen Faktionen und dem Straßenpöbel von Paris zu den Armeeführern hinüberzugleiten. Seit 1793 war der alte Machtkampf zwischen England und Frankreich wieder im Gang. Die Franzosen hatten sich die Rheingrenze erobert und standen an der holländischen Küste. Die Engländer stutzten ihren Bundesgenossen Oesterreich und legten die Hand auf die holländischen Kolonien an der Wasserstraße nach Indien (Kapland und Ceylon). In Indien bahnte sich eine neue Periode militärischer Expansion an. Auch in England selbst hatten die franzosischen Verfassungsideen und die Propagandakraft, welche das Jakobinertum entfaltete, eine neue Lage hervorgebracht und zu ganz anderen Fragestellungen und Gruppenbildungen geführt. Die Partei, welche die parlamentarisch-forensische Treibjagd gegen den indischen Generalgouverneur unternommen hatte, war auseinandergebrochen. Angesichts solcher Veränderungen und drängender Gegenwartssorgen mutete der Hastingsprozeß in seiner Zählebigkeit zuletzt nur mehr als ein Ueberbleibsel einer dahingeschwundenen Epoche an. Der Burke der neunziger Jahre lebt denn auch nicht als der Anwalt Indiens, sondern als der Antipode und erbitterte Kritiker der
300 Pariser Verfassungsarchitekten in der Geschichte fort. Seine Fehde gegen die Revolutionäre führte ihn von seinem bisherigen innerenglischen Tätigkeitsfeld hinaus in die europäische Arena. Auch da blieb er den Ideen getreu, die seine Politik von jeher bestimmt hatten. Mit welcher Wucht sein Angriff auf die Gefolgsmänner Rousseaus vor sich ging, mag mit den Worten der Ilias bezeichnet sein: „o ü ytQfiiSiov hißt /fipi TvSilSrjt;, fUyu tQyov, o ov Svo y'avSqi (figottv, olot vvv ßgozoi tla'. o Si fxiv qia näXkl xai olog."