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German Pages 202 [203] Year 2019
Moshe Navon
»Dwar Tora« heißt das Wort des Gemeinderabbiners zum wöchentlichen Toraabschnitt. Der liberale Landesrabbiner Dr. Moshe Navon predigte diese Diwrej Tora an jedem Schabbattag in seiner Gemeinde. Am Schabbat schließt sich der Segenskreislauf für jede Woche und für jeden Augenblick unseres Lebens, weil sich für uns im Zentrum dieses Tages die ewige Tora als Tor zum friedlichen Himmel öffnet. Dies ist nicht der Himmel, der über unserem Kopf wirbelt, sondern der Himmel, der sich nur in einem selbstlos liebenden menschlichen Herz bergen kann.
ISBN 978-3-95948-397-1
Moshe Navon • Dwar Tora – Kommentare zum wöchentlichen Toaabschnitt
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Dwar Tora Kommentare zum wöchentlichen Toraabschnitt Mit Gemälden von Lynne Feldman
Verlag Traugott Bautz GmbH
Dwar Tora
Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie
herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann
Band 22
Verlag Traugott Bautz
Moshe Navon
Dwar Tora Kommentare zum wöchentlichen Toraabschnitt Mit Gemälden von Lynne Feldman
Verlag Traugott Bautz
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h Gewidmet an Frau Elisabeth Frank — die unermüdliche Leserin meiner Kommentare zur Tora
© Verlag Traugott Bautz GmbH 98734 Nordhausen 2018 ISBN 978-3-95948-397-1
I N H A LT
Bereschit (1. Buch Mose / Genesis) S. 15 S. 17 S. 19 S. 20 S. 21 S. 26 S. 29 S. 31 S. 34 S. 36 S. 39 S. 41 S. 42 S. 45
Mister »X« Bereschit »Am Anfang« (1,1–6,8) ©¨§ Die Weltraumfahrt Noach »Noach« (Bereschit 6,9–11,32) Lech Lecha »Gehe für dich« (Bereschit 12,1–17,27) Wajera »Und es erschien« (Bereschit 18,1–22,24) § Chaje Sarah »Das Leben Saras« (Bereschit 23,1–25,18) §¨ Toledot »Geschlechter« (Bereschit 25,19–28,9) ©© Wajeze »Und er zog aus« (Bereschit 28,10–32,3) ¥ Wajischlach »Und er schickte« (Bereschit 32,4–36,43) ¨ Wajeschew »Und er wohnte« (Bereschit 37,1–40,23) ¨ Mikez »Am Ende« (Bereschit 41,1–44,17) ¤¦ Wajigasch »Und er trat heran« (Bereschit 44,18–47,27) ¨ Wajechi »Und er lebte« (Bereschit 47,28–50,26) Schemot (2. Buch Mose / Exodus)
S. 49 S. 51 S. 57 S. 60 S. 62 S. 69 S. 72 S. 74 S. 76 S. 79 S. 83 S. 86
Schemot »Namen« (Schemot 1,1–6,1) ©¨ Wa’era »Und ich erschien« (Schemot 6,2–9,35) § Bo »Komm« (Schemot 10,1–13,16) Beschalach »Als er ziehen ließ« (Schemot 13,17–17,16) ¨ Jitro (Schemot 18,1–20,23) §© Mischpatim »Rechte« (Schemot 21,1–24,18) £¨ Teruma »Hebopfer« (Schemot 25,1–27,19) §© Tezawe »Du sollst befehlen« (Schemot 27,20–30,10) ¥© Ki Tissa »Wenn du erhebst« (Schemot 30,11–34,35) ¨© Gab es Leben auf dem Mars? Wajakhel »Und er versammelte« (Schemot 35,1–38,20) ¦ Pekude »Die Zählungen« (Schemot 38,21–40,38) ¦£
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Wajikra (3. Buch Mose / Levitikus) S. 90 S. 93 S. 94 S. 96 S. 99 S. 102 S. 104 S. 108 S. 110 S. 113
Wajikra »Und er rief« (Wajikra 1,1–5,26) §¦ Zaw »Gebiete!« (Wajikra 6,1–8,36) ¥ Schemini »Achter« (Wajikra 9,1–11,47) ¨ Tasria »Sie empfängt« (Wajikra 12,1–13,59) ¡§© Mezora »Aussätziger« (Wajikra 14,1–15,33) ¡§¥ Achare Mot »Nach dem Tode« (Wajikra 16,1–18,30) ©§ Kedoschim »Heilige« (Wajikra 19,1–20,27) ¨¦ Emor »Sage« (Wajikra 21,1–24,23) § Behar »Auf dem Berge« (Wajikra 25,1–26,2) § Bechukotai »In meinen Satzungen« (Wajikra 26,3–27,34) ©¦ Bemidbar (4. Buch Mose / Numeri)
S. 115 Bemidbar »In der Wüste« (Bemidbar 1,1–4,20) § S. 116 Nasso »Erhebe« (Bemidbar 4,21–7,89) ¨ S. 121 Beha’alotcha »Wenn du anzündest« (Bemidbar 8,1–12,16: 8) ©¡ S. 124 Schelach Lecha »Schicke!« (Bemidbar 13,1–15,41) ¨ S. 125 Korach »Korach« (Bemidbar 16,1–18,32) §¦ S. 127 Chukkat »Satzung« (Bemidbar 19,1–22,1) ©¦ S. 130 Balak »Balak« (Bemidbar 22,2–25,9) ¦ S. 134 Pinchas »Pinchas« (Bemidbar 25,10–30,1) £ S. 138 Matot »Stämme« (Bemidbar 30,2–32,42) © S. 139 Massej »Reisen« (Bemidbar 33,1–36,13) ¡ Dewarim (5. Buch Mose / Deuteronomium) S. 142 S. 144 S. 146 S. 150 S. 152
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Dewarim »Reden« (Dewarim 1,1–3,22) § Wa-etchanan »Und ich flehte« (Dewarim 3,23–7,11) © Ekew »Sofern« (Dewarim 7,12–11,25) ¦¡ Re’eh »Siehe!« (Dewarim 11,26–16,17) § Schoftim »Richter« (Dewarim 16,18–21,9) £¨
S. 156 S. 159 S. 161 S. 165 S. 166 S. 167
Ki Teze »Wenn du ziehst« (Dewarim 21,10–25,19) ¥© Ki Tawo »Wenn du kommst« (Dewarim 26–29,8) © Nizawim »Ihr steht« (Dewarim 29,9–30,20) ¥ Wajelech »Und er ging« (Dewarim 31) Ha’asinu »Höret!« (Dewarim 32) Wesot Habracha »Und dies ist der Segen« (Dewarim 33–34) §© Die jüdischen Feste im Jahreskreis
S. 169 S. 171 S. 174 S. 177 S. 178 S. 180 S. 182 S. 186
Rosch ha-Schana — Haupt des Jahres ¨¨§ Jom Kippur — Tag der Sühne/Versöhnungstag §£ Sukkot — Laubhüttenfest © Simchat Tora — Tora-Freude §©©¨ Chanukka — Weihefest Purim — Fest der Lose §£ Pessach — Überschreitung £ Schawuot — Wochenfest ©¡¨
Beit-Midrasch (Lehrhaus) auf der jüdischen Erdumlaufbahn in Deutschland im XXI. Jh. S. 192 S. 192 S. 194 S. 195 S. 195 S. 197
Eine Reise rückwärts in der Zeit Das Krankenhaus Die Probezeit eines Rabbiners aus Israel in Deutschland Wie »teuer« ist der Rabbi?! Glauben Sie an das Gute im Menschen? Das Schicksal des Reformjudentums nach der Schoa in Deutschland
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VO R WO R T
»Dwar Tora« heißt das Wort des Gemeinderabbiners zum wöchentlichen Toraabschnitt. Die Diwrej Tora, die Sie in diesem Buch lesen können, wurden für die Samstagsgottesdienste der Liberalen Jüdischen Gemeinde von Hamburg (LJGH) geschrieben. Pastor Dr. Hans-Christoph Goßmann von der Jerusalem-Akademie äußerte den freundlichen Wunsch, ich möge sie veröffentlichen. Gemeinsam unterrichten wir schon seit zwei Jahren in seiner Akademie über den jüdischen Hintergrund des Neuen Testaments. Dr. Goßmanns Wunsch geht dahin, dass der Jahrestag der evangelischen Reformation und das Jubiläum der Begründung Liberalen Judentums zu einer Art versöhnendem Doppeljubiläum für die Freie und Hansestadt Hamburg werden. Deshalb stelle ich meine Schabbat-Predigten, für Juden geschrieben, nun auch Christen zur Verfügung. Ich danke Pastor Goßmann für seine selbstlose Unterstützung der Veröffentlichung des Buches. Ich danke Frau Elisabeth Weidinger und Pastor Georg Metzger aus Baden, die mein Deutsch in den PredigtTexten korrigiert haben. Ich danke Eyal Navon für die bedeutende grafische Gestaltung meines Buches. Ich danke Lynne Feldman für ihre wunderbaren Bilder für mein Buch. Ihre unverfälschten Eindrücke aus der Kindheit unter amerikanischen Juden sind in einen heilenden Dialog mit meinen bitteren Gedanken über das Schicksal der Juden über dem Abgrund der Schoa in Europa getreten! Ich danke allen aktiven Mitglieder und den Freunden der Liberalen Jüdischen Gemeinde zu Hamburg, die, trotz aller bedauerlichen Bedrohungen, dieser Gemeinde schon seit vielen Jahre Leben geschenkt haben und sie noch viele Jahre beleben werden. So, wie sich die Buchstaben zu Worten formen lassen und schließlich den Text der Tora bilden, so vernetzt sich das Leben dieser Menschen mit der Geschichte dieser jüdischen Gemeinde. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen. Deshalb werde ich nur diejenigen nennen, die mich an euch alle erinnern: Dvoretski Evgeny, Epstein Felix und Kate Goldberg, Jakow
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Feldmann, Ellen und Wolfgang Georgy, Samoil Gleizer, Ilya Itskovich, Galina und Janna Jarkova, Daniel Lachmann und Lija Tsirinskaja, Ronny Rosenbaum, Friederike und Galit (Z"L) Schir, Shulman Michael, Leonid Tsalman, Vera Venediktova, Maina Zelvyanska, Landesrabbiner a. D. Dr. Walter Rotschild, Prof. Dr. Ursula Büttner und Prof. Dr. Thomas Hoppe, meine eigene Familie Navon: meine Frau Miriam, unsere Söhne, Tuvia, Eyal, Daniel, Eliyahu-Roi. Ich hoffe, dass diese Diwrej Tora zu einer weiteren bescheidenen Brücke zwischen den beiden Religionen über dem zwei Jahrtausende alten Abgrund von Entfremdung und Feindseligkeit werden! Am Schabbat schließt sich der Segenskreislauf für jede Woche und für jeden Augenblick unseres Lebens, weil sich für uns im Zentrum dieses Tages die ewige Tora als Tor zum friedlichen Himmel öffnet. Dies ist nicht der Himmel, der über unserem Kopf wirbelt, sondern der Himmel, der sich nur in einem selbstlos liebenden menschlichen Herz bergen kann. Deshalb widme ich dieses Buch von Schabbat-Predigten Frau Elisabeth Frank und ihrer Tochter Sabina Holtzman sowie ihren Familien. Sie unterstützen, von der anderen Seite des Ozeans aus, die Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg schon seit vielen Jahren – so viele Menschen hier, so viele Schicksale in der ungewissen Fremde. Frau Elisabeth Frank und ihre Tochter Sabina Holtzman aus den USA besuchen unsere Gemeinde einmal im Jahr. Im Jahr 2017, am Schabbat »Achare Mot Kedoschim«, entzündeten Frau Sabina Holtzman und meine Frau Miriam Navon für uns die Sabbat-Kerzen gemeinsam. Das war das Jahr des 200-jährigen Jubiläums der Begründung des Liberalen Judentums in Hamburg. Beide Frauen erzählten uns erstaunliche Geschichten darüber, wie Menschen in ihrem Inneren einen guten Raum für ihre Mitmenschen schaffen können, und wie wunderbar es ist, wenn ein guter Wunsch dann auch zum Wohl einer anderen Realität wird. Wie alle jüdischen Mädchen feierte Sabina im Alter von zwölf Jahren ihre Bat Mizwa, und zwar in ihrer Gemeinde in den USA. Der »Eiserne Vorhang« bestand noch. Juden in der Sowjetunion war es verboten, ihre
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Religion öffentlich auszuüben; aber es war auch verboten auszuwandern. Die Juden in den USA hatten damals ein Programm, das zwölfjährige USamerikanische Kinder mit russischen jüdischen Kindern gleichen Alters verband: es war das »B’nai-Mitzwah-Refusenik-Zwillings- Programm«: »Refusenik« war in der Sowjetunion eine inoffizielle Bezeichnung für Personen, deren Auswanderungsanträge abgelehnt wurden. Das waren zum größten Teil Juden. Sabina war daran interessiert, einem Mädchen von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu helfen. Ihr »Zwilling« war die gleichaltrige Bronislava aus Donjezk in der Ukraine. Bronislavas Eltern waren Refuseniks. An Sabinas Bat Mizwa stand vor der Bima ein leerer Stuhl, symbolisch für Bronislava. Einige Jahre später erhielt Bronislavas Familie überraschend dann doch die Erlaubnis auszuwandern. Sechzehn Familienmitglieder kamen nach Miami. »Von da an wurde es meine Mission, für russische Refuseniks, die nach Miami kamen, Hilfsquellen zu finden«, sagte Sabina Holtzman. Die Familie von Elisabeth und Sabina war direkt daran beteiligt, dass durch die Hilfe von »Temple Beth Am« 69 jüdische Familien aus der Sowjetunion, insgesamt 200 Personen, Bürgschaften für ihre Einreise in die USA erhielten und gefördert wurden. So wurde die symbolisch gemeinsame Bat Mizwa von Sabina und Bronislawa Realität. Bronislawa begann ihr neues Leben in einem Land, in dem es die Möglichkeit gibt, frei zu wählen. Elisabeth und Sabina unterstützen nunmehr seit vielen Jahren unsere Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg, wo jetzt viele Erwachsene jüdische Männer und Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion am Schabbat zur Tora Rolle aufgerufen werden und, teils in nunmehr hohem Alter, ihre Bar/Bat Mizwa feiern. Die Stühle in der Synagoge sind nicht mehr leer. Die Sowjetunion, in der die jüdische Religion so verachtet wurde, ist Vergangenheit, und ehemals sowjetische Juden sind endlich zu freien Juden geworden: Jüdinnen und Juden, die am Schabbat ihren Bund mit dem Gott Israels vor der Tora erneuern! Auch Miriam erzählte ihre Geschichte. Im Jahr 1911 zog ihr Großvater mit seiner Familie nach Amerika. Michael, sein Sohn, studierte an der Hochschule für Wirtschaft in Amerika, kehrte dann
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aber 1917 nach Russland zurück, um »die Revolution zu retten«. Seitdem versuchte der in den USA gebliebene Teil seiner Familie, die Nachkommen Michaels (der dann später Miriams Großvater wurde) aus den Folgen der sowjetischen Revolution zu retten. Miriam erinnerte daran, dass ihre Tante und ihr Onkel aus Amerika ihrer Mutter regelmäßig Pakete von jenseits des Eisernen Vorhangs nach Moskau schickten. Das hat ihr Leben sehr erleichtert. Als Miriam dann nach Israel zog, halfen ihre amerikanischen Verwandten ihr auch in den ersten, schwierigen Jahren in der neuen Heimat. Es war das Jahr 2004, als ihre Cousine Lynne mit ihrem Mann Tony zu Miriam auf Besuch nach Israel kam. Sie sind bereits die vierte Generation nach Vorvater Jaakow. Lynne erzählte Miriam, wie sie zusammen mit ihrer Großmutter Lena Pakete für die Moskauer packte: ihre Großmutter hatte Lynne immer wieder erzählt, dass sie eine Cousine in Moskau habe und sie sich einmal treffen würden. Lynne hat Miriam Bilder geschickt, die ihre Familie aus Kindheitstagen auf hohen jüdischen Feiertagen zeigen. Diese Bilder begleiten, mit herzlicher Zustimmung von Lynne, meine Diwrej Tora in diesem Buch. Lynne hat Miriam auch die alten Tefillin und den Siddur, das Gebetbuch, ihres Urgroßvaters Jaakow übergeben. Alle vier Söhne Miriams haben ihre Bar Mizwa mit diesen alten Tefillin gefeiert. Das Gebetbuch stammt aus Österreich, aus dem Jahr 1857. Ist es Zufall, dass alle vier Söhne von Miriam nun in der Lage sind, die Gebete in der Synagoge sowohl auf Hebräisch als auch auf Deutsch zu beten? So schloss sich der Segenskreislauf nach vier Generationen, weil Menschen ihren Mitmenschen über Grenzen, über Krieg und Leid hinweg in ihrer inneren Welt einen Platz gegeben haben. Damals, am Schabbat in Hamburg, trafen sich Miriam aus Israel und Sabina aus den USA in unserer Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hamburg. Beide sind, jede auf ihre eigene Weise, bereit, einer neuen Generation von Kindern Israels zu helfen: deutsch-sprachige, hebräisch-sprachige, englischsprachige und russisch-sprachige Familien feiern mit ihren Kindern »Kinder-Schabbat« in Hamburg.
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Ich danke Gott für die einzigartige Möglichkeit mitzuerleben, dass der gute Wille vieler Generationen eine jüdische Realität schafft, dort, wo das Judentum ausgerottet werden sollte. Unser Schabbat in der ehemaligen Turnhalle der Israelitischen Töchterschule in Hamburg hat viele wunderschöne Geschichten: Die Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg feiert oft ihre Gottesdienste in der ehemaligen Turnhalle der Israelitischen Töchterschule, da sie leider noch keine eigene Synagoge hat. Diese Turnhalle wurde mit Mitteln der Europäischen Union umgebaut, um als Jüdisches Kulturhaus zu dienen. Eigentümer ist die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung. Am Freitag, 6. Juli 2018, hatten wir wieder einmal Besuch von unserem Ehrenmitglied Lilli Greenebaum und ihrem Mann James aus Illinois, USA. Lilli hat noch 1937/38 in der Turnhalle, (Flora-Neumann-Straße 1) Sportunterricht gehabt, bevor sie mit ihrer Familie »in letzter Minute« Deutschland verlassen konnte. Wir haben uns sehr gefreut über den Besuch und hoffen, dass Lilli und James uns noch oft besuchen können. An Pessach besucht uns hier oft auch Mathel Gottlieb-Drucker aus Australien. Mathel wurde 1940 in Hamburg geboren*. Sie stieg die Stufen zur Torarolle in demselben Saal hinauf, in dem sich die ehemalige Turnhalle der Israelitischen Töchterschule befand, wo jüdische Mädchen, u.a. Ihre Mutter und Tante, vor der Schoa Sport trieben. Das ist auch der Saal, von dem aus die Mutter von Mathel, Ruth Drucker, sowie ihre Tanten Jenny und Minna Drucker am 18. November 1941 bei dem zweiten Transport nach Minsk deportiert wurden. Das war der Transport, für den in der Turnhalle das Gepäck gesammelt wurde. Diese Turnhalle wurde dank unserer Gemeinde ein Ort der ständigen Begegnungen zwischen besonderen Menschen, die einander die einst verlorene Menschheit zurückgeben! Sie wurde der Ort, an dem meine Diwrej Tora geboren wurden! In 2018 feierte Mathel Pessach bei uns zusammen mit Peggy Parnass. Heute befindet sich die ehemalige Israelitische Töchterschule in der Flora-Neumann-Straße.
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* Siehe Mathel Gottlieb-Drucker Bananas Are Not Boomerangs: A Child Survivor from Hamburg , Makor ISBN 187673373X, 9781876733735
Flora ist die Tante von Peggy. Peggy Parnass und Mathel Drücker erzählten uns über Ihre Verwandten als Teil unserer Erzählungen über Pessach (Sman Heruteinu – Die Zeit unserer Freiheit). Normalerweise kommt zu uns an Pessach auch Gerhard Schmal. Aber dieses Mal konnte er nicht kommen. Gerd ist sehr krank! Gerhard Schmal wurde 1946 geboren. Er kam unter furchtbaren Bedingungen auf die Welt. Seine Mutter Rachel hatte das KZ Auschwitz überlebt. Sie war noch jung, als sowjetische Soldaten Auschwitz von der Naziherrschaft befreit hatten, aber einige von diesen Soldaten hatten keine Gnade und keinen Respekt vor den überlebenden jungen Frauen! Gerhard war ein unerwünschter, aber geliebter Sohn von Rachel! Sie starb als junge Frau an den Spätfolgen des KZ-Aufenthaltes als auch an den Folgen des Missbrauchs durch die Befreier. Da war Gerd gerade erst elf Jahre alt. Er ist ein sehr beeindruckender Mensch. Seine Geschichte und sein ganzes Leben ist für uns ein Wegweiser. Gott ist sein einziger Vater – Vater der Weisen und Anwalt der Witwen. Er gab ihm all die Kraft und Liebe und die Möglichkeiten, sich für eine menschlichere Welt einzusetzen. Gerd hat sich bis heute sein Leben und seinen festen jüdischen Glauben bewahrt. Durch sein autobiografisches Erzählen, in persönlichen Gesprächen, erfahren wir, wie leidvoll und schwer sein Leben war – und bis heute ist. Nach dem Tod seiner Mutter kam er in ein Kinderheim, das von der katholischen Kirche in Süddeutschland betrieben wurde. Gerd Schmal wurde dort sehr schlecht behandelt. Man wollte ihn zwingen, seinen jüdischen Glauben aufzugeben und zum katholischen Glauben überzutreten. Dazu kam, dass es den Verantwortlichen wiederholt an Gnade und Respekt ihm gegenüber fehlte. Als er endlich alt genug war, um dieses Kinderheim in einem Kloster verlassen zu können, versuchte man, ihn zu entmündigen. Er schaffte es aber, sich dagegen zu wehren, und begann eine Ausbildung als Sozialpädagoge. Diesen Beruf hat er sehr geliebt, und er hat sich dann in seinem Arbeitsleben Haftentlassenen, Jugendlichen und anderen gefährdeten Menschen zugewandt. Er war erfolgreich und anerkannt in seinem Beruf. Seit ungefähr drei Jahren leidet er an einer sehr schwierig
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zu behandelnden Krebserkrankung. Die Krankheit verbrennt seinen Körper langsam von innen her. Gerd ist sehr abgemagert und kann kaum noch essen. Danach wurde ihm sogar seine Mesusa, die seine Mutter Rachel ihm geschenkt hatte, grausam geraubt. Aber Gerd betet immer mit uns und für uns, wie auch wir für ihn beten. Niemand kann und darf diesen Segenskreislauf unterbrechen. Ich wiederhole am Schabbat oft: »Suchen Sie nicht die Gräber der verfolgten wunderschönen Menschen, die eine unmenschliche, gottlose Welt uns damals hier rauben wollte, sondern suchen Sie sie in unserer Tora-Rolle während der Schabbat-Gottesdienste, die noch immer eine Raumzeit der Liebenden in dem Augenblick der Lebenden entfaltet!« Eigentlich ist es so: Ich schreibe gar keine Diwrej Tora, sondern die Menschen erzählen mir selber durch ihr Leben die Tora-Geschichten der Erlösung.
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BERESCHIT (1. BUCH MOSE / GENESIS)
Die Premiere: »Mister X«
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in bekanntes Unternehmen, »Horizontal-International«, das Dokumentarfilme produziert, hatte mit einer armen Familie aus Detroit einen Vertrag unterzeichnet. Die Firma bekam die Rechte, das ganze Leben des neugeborenen Kindes der Familie, von seiner Geburt an, ständig zu filmen. Das Unternehmen verpflichtete sich seinerseits, den Lebensunterhalt des Sohnes lebenslang zu übernehmen. Die armen Eltern, die ihr Kind nicht ernähren konnten, waren so glücklich. Das Kind, nennen wir es Mr. X, war von Geburt an daran gewöhnt, dass es von Kamerateams begleitet wurde. Diese »transparente« Art und Weise des Lebens schadete ihm nicht, und er lebte glücklich, umgeben von Kindern, Enkeln und sogar Urenkeln, bis er 93 Jahre alt war. Ein Jahr später lud die Firma zur Premiere des Films »Das ganze Leben des Mr. X von der Geburt bis zum Tod« ein. Viele prominente Personen aus der ganzen Welt wurden eingeladen. Tausende von Kinobesuchern versammelten sich in einem großen Filmtheater. Die Leute fragten einander, ob sie dort alle 93 Jahre lang sitzen sollten? Wie konnte die Firma ihr Versprechen erfüllen? Alle waren voller Neugier. Der Film begann mit der Geburt des gesunden Kindes und einem schwachen Lächeln der gequälten Mutter. Plötzlich begannen die Bilder mit hoher Geschwindigkeit zu wechseln, bis sie wieder zu einem normalen Rhythmus des menschlichen Lebens zurückkehrten. An diesem Punkt zeigte der stolze junge Mister X seinen Eltern sein Diplom. Wieder eilten die Bilder bis zum nächsten »langsamen« Punkt,
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um die erste Liebeserklärung des Misters X dem Publikum zu zeigen. Der nächste langsame Punkt war bereits die Geburt der Tochter von Mr. X. Als die letzte Szene auf dem Friedhof abgeschlossen war und die letzten Abspanntexte über die Leinwand gingen, fühlten sich viele Zuschauer veralbert. Aber dann kam der Vertreter des Unternehmens auf die Bühne und fragte: »Liebes Publikum, was haben Sie in so kurzer Zeit gesehen?« Mister Y, ein bekannter Filmkritiker, kam zum Mikrophon und erklärte, dass er zum ersten Mal das menschliche Leben als eine rollende Welle erlebt hätte. Während sich die erste Welle hebt, beginnen schon neue kleine Wellen zu entstehen – die Kinder, die Enkel und alle entfernten Nachkommen der menschlichen Welle. Der Vertreter der Firma erklärte mit einem gewinnenden Lächeln, dass es nur um den Anfang eines neuen großen, tausendjährigen Projekts ginge. Mit der neuen Nanotechnologie könne sich jeder ohne Problem filmen lassen. Nach und nach würde die gesamte Menschheit eine riesige Datenbank von dokumentierten Erinnerungen an ihre Vorfahren erstellen. Spezielle leistungsstarke Sender würden all diese persönlichen Lebensfilme ständig ins All senden, so dass das Leben jeder einzelnen Person, wie das Licht der Sterne, auch weit entfernte Galaxien erreichen würde. Das hypnotisierte Publikum konnte nicht fassen, welch grandioses Projekt da begonnen hatte, das so eine kosmische Bedeutung für jeden von uns haben würde. Ein älterer Mann in einem schwarzen Mantel und einem weichen grauen Hut kam auf die Bühne in tiefer Stille. Seine dunklen Augen waren ein wenig traurig, aber zugleich versteckten sie in ihrer Tiefe ein kleines Lächeln. »Mein Name ist Epstein«, stellte er sich vor. – »Sie haben das Rad erfunden«, sagte Epstein den Vertretern der Firma, »obwohl das Patent in der Tat uns gehört! Dieses Projekt läuft schon fast 4000 Jahre. Wir nennen es die Schriftliche und Mündliche Tora. Wir drehen die Torarolle jede Woche, jeden Monat und jedes Jahr in unseren Gemeinden. Wir lesen über das Leben unserer Vorfahren und denken dabei darüber nach, was mit uns geschieht – sowohl in der Antike als auch heute. Aber in unserem Film werden nicht nur die
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Handlungen der Menschen festgehalten, sondern auch ihre inneren Gedanken und Gefühle, ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre Kreativität und ihre Überzeugungen, die sich immer und immer wieder mit den inneren Welten jeder neuen Generation treffen, als ewige Wellen. Eigentlich begann alles mit der Tatsache, dass Gott unserem Vater Awraham gesagt hat: »Schaue dir das Meer und den Himmel an. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Sand am Meer und wie die Sterne des Himmels, deren Licht die Grenzen aller sichtbaren und unsichtbaren Welten erreicht ...«
Bereschit »Am Anfang« (1. Buch Mose / Genesis 1,1–6,8) ©¨§ An diesem Sabbat beginnen wir den neuen Zyklus der Tora. Diesen Wochenabschnitt nennt man »Bereschit« – »am Anfang«: Gemäß »am Anfang« stammen alle Menschen von einem Vater und einer Mutter ab, vom ersten Menschen. »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch« (Bereschit 1,27–28). Das bedeutet: Gottes Bild erfüllt sich in seiner Vollkommenheit in dem lebendigen Treffen zwischen Mann und Frau. Der Segen Gottes lautet: Die Familie muss fruchtbar sein, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Das Bild Gottes, die inneren Werte, sollen sich in jedem neuen Kind durch Bildung spiegeln. Dafür erinnern wir uns im »Kriat Schma« zweimal täglich im Morgen- und Abendgebet: »Höre Israel, Er ist unser Gott, Er einer. Liebe denn Ihn, deinen Gott, mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele mit all deiner Macht. Es seien diese Reden, die ich heutzutage dir gebiete, auf deinem Herzen, einschärfe sie deinen Söhnen« (Dewarim 6,4.) Die Methoden dieser Bildung in der Familie spiegeln sich im Buch der Sprüche (22,6):
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»Übe den Knaben ein gemäß dem Weg für ihn, auch wenn er alt wird, weicht er nicht davon.« Das Wort »Hanoch!« (»übe/erziehe den Knaben«) bedeutet auch »Weihe« oder »Heilige den Knaben«. Das hebräische Wort für Erziehung heißt »Chinuch«. Das bedeutet nicht nur formale Schulbildung. Wörtlich bedeutet es »Weihung« und bezieht sich auf die Vorbereitung des Kindes auf das Leben, nicht nur für seinen Lebensunterhalt (Donin, S. 138). Der Talmud sagt: »Eine Stadt, in der es keine Schulkinder gibt, wird in den Bann gelegt« (Schabbat 119b). Er spricht über dutzende zerstörte Jüdische Gemeinden in Babylonien, die die jüdische Ausbildung verachten. Wer seine Kinder nicht verlässt ohne lebendige jüdische Ausbildung, den werden seine Kinder nie verlassen. Das lernen wir vom Buch des Anfangs, von Bereschit.
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Die Weltraumfahrt1 (Bereschit (1 Mose) 1, 14 – 19) Ein Journalist erzählte mir einmal unter höchster Verschwiegenheit von dem ultraorthodoxen Astronauten Moshe ben Awraham. Als Ultraorthodoxer war Moshe gehalten, nicht zu glauben, dass die Erde die Sonne umkreist, weil in der Tora geschrieben steht, dass die Sonne und die Sterne der Erde als Lichter dienen! Deshalb wollte er eine Weltraumstation besuchen, um selbst alles mit eigenen Augen sehen zu können. Zwei Millionen seiner Glaubensgenossen, die unter demselben Zweifel litten, sammelten zehn Millionen Dollar für ein Ticket ins Weltall. Russland gewährte ihm auf der Grundlage humanitärer Hilfe einen großen Rabatt, um ihn in die Umlaufbahn zu bringen. Als Moshe nach seiner Weltraumfahrt mit fünfhundert Erdumkreisungen pro Tag zurückkehrte, fragte ihn ein russischer Journalist, wie er sich denn fühle. Moishe seufzte von ganzem Herzen: »Ich bin völlig erschöpft! Können Sie sich vorstellen, wie oft ich das Morgengebet Schacharit, das Mittagsgebet Mincha, das Abendgebet Maariw und das Nachtgebet Kriat schma al ha-mitta sprechen musste, wie meine Religion es vorschreibt? Und außerdem sollte ich dazu noch jede halbe Stunde die Tefillin (Gebetsriemen) anlegen und abnehmen! Ich hatte keine Sekunde, um auf die Erde, die Sonne und die Sterne zu schauen!«. Als die amerikanischen Reformjuden von der Idee der Orthodoxen erfuhren, sammelten auch sie Geld für ein Ticket in den Kosmos, um den liberalen Rabbi Michael Weissman ins Weltall zu schicken. Als Michael nach seiner Weltraumfahrt mit fünfhundert Erdumkreisungen pro Tag zurückkehrte, fragte ihn ein amerikanischer Journalist, wie er sich denn fühle. »Oh«, sagte der Rabbi, »ich habe mich noch nie so gut ausgeruht. Tatsache ist, dass dort mich niemand auf meinem Handy anrufen konnte, und niemand eine SMS oder eine E - Mail senden kann. Ich hörte nur auf die Stille der Lichter!«.
1 Eine jüdische Paraphrase einer Erzählung aus Anthony de Mello, vgl.: Die täglichen Gebete des Astronauten. Der Dieb im Wahrheitsladen, Verlag Herder, Freiburg S. 183
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Noach »Noach« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 6,9–11,32) Wir sind alle Kinder Adams, des ersten Menschen, und wir sind alle Kinder Noachs, des einzigen vor der Flut geretteten Gerechten. Der Rabbinischen Tradition zufolge hat Gott mit Noach einen Bund geschlossen, und seinen Nachkommen wurden die sogenannten »noachidischen Gebote« gegeben. Durch ihre Toraauslegung haben die Rabbinen sieben solcher grundlegender Gebote formuliert: Das Verbot des Götzendienstes, das Verbot der Gotteslästerung, das Gebot, ein Gerichtssystem zu errichten, das Verbot zu morden, das Verbot, die Ehe zu brechen, das Verbot des Raubs und das Verbot, Fleisch lebender Tiere zu essen. Das grundlegende Konzept ist ganz einfach: Jeder Mensch ist verpflichtet, ein Minimum an religiösen, ethischen und rechtlichen Regeln zu beachten, um eine todbringende Flut des Hasses in der Welt zu vermeiden. Bis jetzt schien alles klar. Aber heute, nach so vielen Wirbelstürmen und Überschwemmungen in der Welt, gibt es für uns noch immer eine nicht klar genug verstandene Frage zu unserem Toraabschnitt: »Warum gab es in Noachs Arche genug Platz für alle reinen und unreinen Tiere, aber keinen einzigen Platz für Babys, für so viele unschuldige Kinder böswilliger Sünder?« Gott beschütze alle Kinder der Menschen und alle Kinder der Menschen beschützen die Welt Gottes!
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Lech Lecha »Gehe für dich« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 12,1–17,27) Gottes Segen – Awrahams Segen Am Anfang der heutigen Parascha (Wochenabschnitt) lesen wir folgende Worte: Und der Ewige sprach zu Awram: Gehe aus deinem Lande und aus deinem Geburtsort und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Und ich werde segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verwünschen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden (Bereschit 12,1–3). Der Ausdruck »We-heje Bracha« bedeutet, dass Awram selbst, seine eigene Persönlichkeit, dazu berufen ist, zum Segen des Heiligen, gesegnet sei Er, zu werden. Denn Gott kann man nicht beschreiben oder Ihn als etwas uns Bekanntes darstellen. Die Atheisten glauben an keinen einzigen Gott. Jedoch, da wir gemäß der Tora nichts Bestimmtes über Gott sagen können, so erreicht der Unglaube des Atheisten nicht das Unfassbare. Aber der unfassbare Gott erreicht uns auf irgendeine Art und Weise. In unserem Wochenabschnitt erreicht Er uns durch Awraham als seinen persönlichen Segen. Man kann das folgendermaßen darstellen: Gottes Gegenwart, die Schechina, steigt zu uns herab, aus Seiner Unfassbarkeit heraus, durch Tausende Generationen, von Awraham bis zu uns, wie auf den Stufen einer endlosen Leiter, wie in einer Traumvision Jaakows. Er steigt zu uns herunter über Tausende Stufen, aber auf die letzte Stufe kommt Er nicht. Auf diese Stufe müssen wir selbst Ihm entgegengehen, zu Ihm aufsteigen: »Und ich werde segnen, die dich segnen.« Wenn wir Awraham und seine Nachkommen mit Segen empfangen, dann kommt der Segen des Ewigen auf uns und öffnet uns die Quelle unseres Lebens. Wenn wir jedoch zu ängstlich sind, auf die Stufe, die für uns
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persönlich geeignet ist, zu steigen, um Awraham, einen wandernden Menschen, der zu uns kommt, mit dem Segen zu empfangen, bleiben die Quellen unseres Lebens für uns unerschlossen. Heute gibt es viele Streitigkeiten, was das jüdische Volk ist: Eine religiöse Gemeinschaft, eine nationale Gemeinschaft oder beides oder weder das Eine noch das Andere. Der heutige Toraabschnitt antwortet auf diese Fragen sehr einfach und sehr konkret: Wenn du Awraham mit Freude und mit Segen empfängst, wirst du zu seinen gesegneten Nachkommen gehören. Aber was bedeutet es eigentlich, ein Segen zu sein? »Und der Ewige sprach zu Abram: [...] Ich will dich segnen, [...] und du sollst ein Segen sein! Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Familien der Erde!« (Bereschit 12,1–3). Das Wort Segen § – Beracha (Bracha / Brachot) – hat eine zusätzliche Konnotation auf Hebräisch, weil es ähnliche Wurzeln mit dem Verb § – Hiwrich – hat! Dieser Verb bedeutet: pflanzen, indem man durch einen Ableger vermehrt«, d. h. Gottes Gegenwart, die Schechina, vermehrt sich durch Awraham und seine Nachkommen in allen Familien der Erde: von Mensch zu Mensch! »Wer selbst gesegnet wurde, der kann nicht anders, als diesen Segen weitergeben, ja, er muss dort, wo er ist, ein Segen sein. Nur aus dem Unmöglichen kann die Welt erneuert werden. Dieses Unmögliche ist der Segen Gottes« (Dietrich Bonhoeffer). Segen und Fluch, Leben und Tod. Das Unmögliche steigt von Mensch zu Mensch herab! Von Awraham zu dem, der Awraham mit Segen trifft. Aber was passiert, wenn jemand auf Awraham und seine Nachkommen Fluch statt Segen legt? Ist es möglich, ein Segen Gottes für die Menschen zu sein, die uns hassen und verfluchen? In diesem Fall kehrt Gottes Segen zu Gott zurück, und mit diesem Segen kommen auch Awraham
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und seine gesegneten Nachkommen zu Gott zurück. Auf diese Weise verwurzeln sie sich noch tiefer in der Ewigkeit Gottes: Awraham steigt zu Gott auf. Das Wort Segen hat, wie schon erwähnt, eine zusätzliche Konnotation auf Hebräisch: »pflanzen, indem man durch einen Ableger vermehrt.« Wenn ein Mensch nicht bereit ist, einen anderen Menschen als Gottes Segen zu empfangen, kommt der Andere als persönlicher Segen Gottes zu Gottes Ewigkeit zurück! Die Tora gibt uns dafür einen Hinweis: »Und Gott, euer Gott, verwandelte für euch den Fluch in einen Segen« (Dewarim 23,6). Es geht um den fremden Propheten Bileam, den Sohn Beors. Er sollte unsere Vorväter verfluchen, damit das fremde Volk uns vernichten könne, aber Gott hat diesen vergifteten Fluch in Segen für das Volk Israel verwandelt, zum Segen des Volkes, der zu seinem Gott zurückkommt, und das Volk vermehrt! Die Rabbinerin Regina Jonas hat diese Torageschichte im Konzentrationslager Theresienstadt mit der Anspielung auf den Awraham-Segen folgendermaßen kommentiert: Rabbinerin Regina Jonas: (Gott sagt zu Bileam) »Du sollst das Volk nicht verfluchen, denn es ist gesegnet « (Bemidbar 22,12). »Unser jüdisches Volk ist von Gott in die Geschichte gesandt worden als ein gesegnetes. Von Gott gesegnet sein heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage Segen, Güte, Treue spenden. – Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu errichten, war und ist Israels Aufgabe – Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüdischer Treue übernommen. Diesem Ideal dient auch unsere ernste prüfungsreiche theresienstädter Arbeit. Diener Gottes zu sein und als solche rücken wir aus irdischen in ewige Sphären. Möge all unsere Arbeit, die wir uns
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beruhten, als Diener Gottes zu leisten, zum Segen für Israels Zukunft sein, und die der Menschheit.« Gottes Ewigkeit lässt sich vergleichen mit einem Herz, das Blut ausschickt und das wieder zum Herzen zurückkommt. So kommt auch Gottes Mensch, Gottes Segen, zu Gott zurück, um mit vermehrter Kraft erneut zurück zu den Menschen zu kommen. »Diener Gottes zu sein, und als solche rücken wir aus irdischen in ewige Sphären [...] zum Segen für Israels Zukunft sein, und die der Menschheit.« – Was in der Schoa eine unerreichbare, unmögliche Zukunft für Regina Jonas und ihre Mitstreiter war, ist jetzt unsere gesegnete Gegenwart und unsere gesegnete Verantwortung! Aber Regina Jonas und ihre Mitstreiter haben das mit Gottes Segen erreicht. Gott selbst hat ihren Segen an uns, über den Abgrund der Schoa hinweg, weitergereicht. Wenn wir die antijüdischen Parolen, die auf deutschen Straßen in unserer Zeit wieder geschrien werden, hören wir gleichzeitig die ewige Stimme unserer Väter und Mütter, die diesen Hass schon überwunden haben: »Von Gott »gesegnet’ sein heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage Segen, Güte, Treue spenden. « Segen Awrahams und Bund Awrahams Deshalb möchte ich uns noch daran erinnern, was während der deutschen Hitlerzeit Martin Buber den erschreckten Juden geschrieben hat: » [...] ich sage es mit Furcht und Zittern. Zu »Israel« gehört geschichtlich dieses Schicksal, so in das Schicksal der Völker verflochten und so aus ihm entlassen zu sein [...]. Aber zu Israel gehört auch die Gnade, je in solcher Not den Urbund zu erneuern, durch den es entstanden ist« (»Der jüdische Mensch von heute«). Dieser Urbund ist der Bund Awrahams, der durch Jaakow und Mosche und tausend Generation, bis zurzeit Regina Jonas immer verstärkt und auf »vertiefte Art und Weise vermehrt« und erneuert wurde. Leo Baeck beschreibt seine Erfahrung im KZ Theresienstadt folgendermaßen:
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»Das war ein geistiges Ringen, das jeder leisten musste, nämlich in sich selbst und in seinem Nächsten mehr zu sehen als nur eine TransportNummer. Es war der Kampf um den eigenen Namen und um den des anderen, der Kampf um die Individualität, das Geheimnis des Seins.« Das KZ Theresienstadt ist vorbei, heute ist es nur ein Museum der »trockenen Tränen«, aber der Kampf um das Geheimnis des Seins geht weiter, und nicht nur gegenüber Hassparolen auf deutschen Straßen! Der israelische Schriftsteller Aaharon Appelfeld, ein Überlebender der Schoa, hat einmal an der Hebräischen Universität in Jerusalem den Neu-Promovierten erklärt: »Die Nazis haben Menschen zu Nummern gemacht und danach ausgelöscht. [...] Leider sieht unsere Wissenschaft, noch vor der Schoa entwickelt, immer noch Menschen als statistische Einheiten!« Das Gleiche gilt auch in Bezug auf viele Politiker und Beamte, Richter und Ärzte, Schriftsteller und Journalisten, Geistliche und Gläubige, Unternehmen und Kunden, Arbeitsgeber und Arbeitslose, bis hin zu den »einfachsten Menschen«, die etwas auf den Straßen schreien, ohne nur einmal zu überlegen, ehe sie den Mund aufmachen! »Ich bin, der Ich bin«: Ein Segensfluss von Awraham Awinu zu Moshe Rabbenu am Sinai: Es ist der Kampf um den eigenen Namen und um den des anderen, der Kampf um die Persönlichkeit, um das Geheimnis des Segens Gottes, wenn der Mensch durch jeden Herzschlag seines Leben sich ausdrückt: »Ich bin, der Ich bin«, weil Ich der bin, der Ich bin, um einen Segensfluss von Mensch zu Mensch in Gang zu setzen, den kein Mensch unterbrechen darf, weil eine solche Unterbrechung nur Fluch und Verlust der Menschlichkeit bringen würde. Es ist der Kampf um die eigene Würde und um die Würde des Anderen, um in gesegneter Gottesgegenwart fähig zu sein, das Folgende auszudrücken: »Ich bin mit Dir jetzt und hier!« Apropos, als Mosche am Berg Sinai Gott nach seinem Namen gefragt hat, hörte er genau dieselbe Antwort: »Ehjie ascher Ehjie«, »Ehjie
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Immach!« – »Ich bin, der Ich bin«, »Ich bin mit Dir«. Was er von Gott selbst in der Wüste gelernt hat, hat er uns durch seine Tora gelehrt. Nur auf diese Art und Weise kannst du, Israel, deinen Urbund mit Gott erneuern, und Gott, dein Gott, wird für dich den schrecklichen Fluch in ewigen Segen verwandeln. Das Wasser eines ganzen Ozeans kann ein Schiff nicht zum Sinken bringen, solange es nicht in sein Inneres eindringt. Die äußerliche Welle von Hass kann dich nicht umfallen lassen, wenn du Gottes Segen in deinem Inneren für alle Familien der Welt trägst: Gehe — »Lech – Lecha«, und lerne Gottes Segen zu sein.
Wajera »Und es erschien ihm« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 18,1–22,24) § Ein Philosoph sagt: »Das Glück ist ein Schmetterling. Jag« ihm nach, und er entwischt dir. Setzt du dich hin, lässt er sich auf deiner Schulter nieder« (Anthony de Mello, »Eine Minute Unsinn«). Unser Wochenabschnitt der Tora »Wajera«« (»Und erschien ihm«) beginnt mit dem Versprechen des Ewigen an Awraham und Sarah, dass ihnen ein Sohn geboren werde. Sarah, die schon lange nicht mehr fähig war, ein Kind zu gebären, lachte dabei innerlich. Awraham hat auch vorher gelacht (wa- jizchak; Bereschit 17,15–17). Deswegen deutet der Name des versprochenen Kindes – Jizchak (Jitzchak) – darauf hin, dass seine Eltern nicht an das Versprechen des Ewigen glaubten: Da erschien ihm (Awraham) der Ewige bei den Terebinthen Mamres, als er an der Tür seines Zeltes saß zur heißen Tageszeit. Und er erhob seine Augen und schaute, und siehe, da standen drei Männer ihm gegenüber. Und als er sie sah, eilte er ihnen entgegen vom Eingang seines Zeltes, beugte sich zur Erde nieder und sprach: Mein Herr, habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so geh doch nicht vorüber an deinem Knecht! [...] Da
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sprach Er: Gewiss will ich um diese Zeit im künftigen Jahr wieder zu dir kommen, und siehe, deine Frau Sarah soll einen Sohn haben! Sarah aber horchte am Eingang des Zeltes, der hinter ihm war. Und Abraham und Sarah waren alt und recht betagt, sodass es Sarah nicht mehr nach der Weise der Frauen erging. Darum lachte sie in ihrem Herzen und sprach: Nachdem ich verblüht bin, soll mir noch Wonne zuteil werden! Dazu ist mein Herr ein alter Mann! Da sprach der Ewige zu Abraham: Warum lacht Sarah und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, so alt wie ich bin? Sollte denn dem Ewigen etwas zu wunderbar sein? Zur bestimmten Zeit will ich wieder zu dir kommen im nächsten Jahr, und Sarah wird einen Sohn haben! Da leugnete Sarah und sprach: Ich habe nicht gelacht!, denn sie fürchtete sich. Er aber sprach: Doch, du hast gelacht! (Bereschit 18, 1–3, 10–15) Und Abraham gab seinem Sohn, der ihm geboren wurde, den ihm Sarah gebar, den Namen Jitzchak.Und Abraham beschnitt Jitzchak, seinen Sohn, als er acht Tage alt war, wie es ihm Gott geboten hatte. Und Abraham war 100 Jahre alt, als ihm sein Sohn Jitzchak geboren wurde.Und Sarah sprach: Gott hat mir ein Lachen bereitet; wer es hören wird, der wird lachen über mich! (Bereschit 21, 3–6). Jitzchak hat denselben Wortstamm wie das Wort »Zechok«, das Lachen. Am Ende hat Gott selbst über unser ungläubiges Lächeln gelacht! Genauso machen wir es manchmal in unserem Leben. Wir glauben nicht an unseren Erfolg und lachen ironisch über uns selbst. Wir weinen und klagen über unser Schicksal, weil wir das, was wir wollen, nicht erreichen können, und manchmal kommen dann der Erfolg und die ganze Freude in einem Moment zu uns, in dem wir nur noch erschöpft und am Ende unserer Kräfte dasitzen. Der Ewige zeigt uns damit, dass Er an uns und unsere Fähigkeiten mehr glaubt, als wir selbst. Er will, dass wir mit Ihm auch lächeln können, dass wir mit Gott in Frieden und mit Freude leben, dass wir uns bei Ihm glücklich fühlen können. Als wir kleine Kinder waren, verstanden wir es ohne Worte, aber je
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mehr Erfahrungen wir über die Welt sammeln, desto weniger wollen wir uns über unser unglaubliches Glück freuen. In unserer wöchentlichen Geschichte gibt es einen erstaunlichen Augenblick. Awraham hat zuvor nicht von seinem Wunderkind Izchak geträumt und nicht um das Kind gebetet, aber Gott gibt ihm das Beste, als er in Ruhe an der Tür seines Zeltes saß: »Da erschien ihm (Awraham) der Ewige bei den Terebinthen Mamres, als er an der Tür seines Zeltes saß zur heißen Tageszeit. Und er erhob seine Augen und schaute. [...] Da sprach Er (Gott zu Awraham): ›Gewiss will ich um diese Zeit im künftigen Jahr wieder zu dir kommen, und siehe, deine Frau Sarah soll einen Sohn haben!‹« (Bereschit 18,1–2,10). »Das Glück ist ein Schmetterling. Jag ihm nach, und er entwischt dir. Setzt du dich hin, lässt er sich auf deiner Schulter nieder« (Anthony de Mello). Wir sind die Söhne Awrahams, wir sind die Söhne Jitzchaks – des Lachens Gottes: »setz dich hin an die Tür deiner Welt, am Ende deiner Kräfte, setz dich hin in Ruhe, erhebe deine Augen, und höre die Stimme der feinen Stille kol demmamah dakkah!«
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Chaje Sarah »Das Leben Saras« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 23,1–25,18) §¨ Unser heutiger Toraabschnitt heißt »Chaje Sarah«. Er beginnt mit der Tatsache, dass Sarah im Alter von 127 Jahren stirbt. Warum aber heißt dann unser Wochenkapitel »Das Leben Saras« und nicht »Der Tod Saras«? Fast am Ende unsers Wochenabschnitts steht, dass Jitzchak seine Frau Rebekka in das Zelt Saras brachte. »Er gewann sie lieb, und Jitzchak tröstete sich nach seiner Mutter.« Somit geht das Leben Saras weiter, trotz ihres Todes. Jitzchak bringt seine Lieblingsfrau Rebekka in die Welt, in der Sarah immer lebte, in das Zelt Saras. In diesem Zelt werden Jaakow-Israel und Esau, die Enkel Saras, geboren werden. Auf den ersten Blick scheint es gewöhnlich zu sein: Die Kinder sind die natürliche Fortsetzung ihrer Eltern, ihrer Vorfahren. Aber die Tora betont gerade die außergewöhnliche Dimension des Verhältnisses zwischen den Eltern und den Kindern. Die Tora betont, dass Jitzchak Rebekka in das Zelt Saras brachte, das heißt, in die Welt, in der Jitzchak zum ersten Mal die Liebe seiner Mutter erlebte, und die für ihn immer eine lebendige Welt sein wird. Und die Worte »er gewann sie lieb« zeigen, dass die beiden diese Welt der Liebe und somit das Andenken an Sarah bewahren. Es gibt keine bessere Erinnerung an einen Menschen, als seiner Liebe zu ermöglichen, Früchte zu tragen, auch nachdem der Verstorbene äußerlich nicht mehr mit uns ist. Deswegen ist es wichtig für uns, die Nachkommen Saras, die Nachkommen Jitzchaks, die jüdische Tradition zu bewahren, die uns aufruft, niemals die verstorbenen Eltern zu vergessen. Das bedeutet nicht, dass wir uns an sie manchmal mit einem Seufzer erinnern. Das bedeutet, dass wir mit unseren konkreten Taten von ihrem Leben und ihrer Liebe zu uns zeugen können. Unter anderem können wir als Erinnerung an sie »Ner Neschama« (»Die Kerze der Seele«) in der »Jahrzeit«, am Tag der Erinnerung an ihren Tod nach dem jüdischen Kalender, anzünden. Wir können versuchen, unsere Verwandten und Freunde am Schabbat, der diesem Tag folgt, in der Synagoge zu versammeln und Kaddisch, das jüdische Trauergebet, zu sagen. Und
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natürlich sollen wir Werke der Nächstenliebe und Zedaka (»Spende«) als Erinnerung an unsere Eltern machen. Somit ermöglichen wir der Liebe unserer Eltern, Früchte zu tragen, auch wenn sie körperlich nicht mehr mit uns sind. Die Mutter trägt ihre Kinder unter ihrem Herzen die ersten neun Monate ihres Lebens. Nach ihrem Hinscheiden tragen ihre Kinder ihre Liebe in ihrem Herzen das ganze Leben lang. Aber seit Jahrtausenden weiß die jüdische Tradition, dass ohne die drei obengenannten Elemente der Liebe zu unseren Eltern das Licht dieser Liebe erlischt. Wir begraben beinahe von Neuem nicht nur unsere Eltern, sondern auch die Erinnerung an sie. Deswegen entzünden wir jedes Jahr »Ner Neschama« in unserem Haus, damit unsere Kinder sehen, dass wir unsere Eltern nicht vergessen und damit sie uns nicht vergessen. Deswegen laden wir zum Kaddisch in die Synagoge unsere Verwandten und Freunde ein, um unsere Erinnerung vor der ganzen jüdischen Gemeinde und dem ganzen jüdischen Volk zu bezeugen. Deswegen machen wir Werke der Nächstenliebe zum Andenken an sie, damit ihre Liebe weiter Früchte unter den Lebenden trägt. Ganze Familien und ganze jüdische Gemeinden wurden vor 70 Jahre in Europa ausgelöscht. Viele haben keine Nachkommen, die Kaddisch für sie sagen könnten. »Gott voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend, es sollen finden die verdiente Ruhestätte unter den Flügeln Deiner Gegenwart, in den Höhen der Gerechten und Heiligen, strahlend wie der Glanz des Himmels, all die Seelen aller Verstorbenen. Sieh, die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen, so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.
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Gott sei ihr Erbbesitz, und im Garten Eden ihre Ruhestätte, und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden. Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage. (El male rachamim)
Toldot »Geschlechter« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 25,19–28,9) ©© Unser Wochenabschnitt erzählt von der Geburt der Zwillinge Jitzchaks. Nach der Tora waren diese Kinder die Frucht des Gebets Jitzchaks, weil Rebekka unfruchtbar war, und sie waren die Frucht der Gotteswirkung in der Geschichte der Menschlichkeit. Als diese Zwillinge miteinander im Schoß ihrer Mutter kämpften, kam die Zeit für Rebekka, mit dem Ewigen zu sprechen. Und der Ewige teilte ihr mit, dass der Ältere dem Jüngeren dienen wird. Der ältere Bruder hieß Esau und der jüngere Jaakow. Nach dem antiken Gesetz gehörte dem erstgeborenen Esau ein besonderer Segen des Vaters, aber sowohl der Ewige als auch Rebekka wissen, dass Jaakow die gesegnete Fortsetzung seines Vaters sein wird. Sie wissen das, aber Jaakow wird dies noch beweisen müssen. Die Tora beschreibt, dass der hungrige Esau auf sein Erstgeburtsrecht verzichtet hat. Das Brot war für ihn wichtiger als der Segen des Vaters. »Also verachtete Esau die Erstgeburt« (Bereschit 25, 34). Worüber spricht diese Geschichte, die vor mehr als dreitausend Jahren geschah, für Juden in Deutschland vor 200 Jahren? Die Christen waren Edom-Esau für Juden, und umgekehrt! An Edom! Ein Jahrtausend schon und länger, Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, dass ich atme, Dass du rasest, dulde Ich.
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Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Ward dir wunderlich zu Mut, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut! Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du.2 Worüber spricht diese Geschichte, die vor mehr als dreitausend Jahren geschah? Was bedeutet sie für uns in Deutschland heute? Heute gibt es viele Streitigkeiten, wer, in Bezug auf seine Geschlechtsregister, Jude ist. Jaakow und Esau wurden von Jitzchak und Rebekka geboren, die beide Hebräer waren. Heute würde ein jüdischer Funktionär sofort bestätigen, dass die beiden Brüder Juden sind, weil ihre Mutter Jüdin ist. Dennoch wurde Jaakow zum Stammvater des jüdischen Volkes und nicht Esau, obwohl das ganze Recht für Esau spricht. Deswegen, obwohl wir dank unserer Eltern zu diesem Volk gehören, bleibt das letzte Wort bei unserer Wahl: Setzen wir uns ein für den Fortbestand dieses Volkes oder nicht? In unserem konkreten Fall bedeutet dies: Tragen wir bei zum Fortbestand der LJGH als kleine Zelle des jüdischen Volkes in Hamburg oder nicht. Wenn wir zu faul sind, diese Wahl zu treffen, so werden die anderen diese Wahl für uns treffen, wie das mit Esau geschah: Er hat die Verbindung mit dem Volk Jaakows, dem Volk Israels, in einem Augenblick verloren. Danach bleibt nur der Stempel, dass er ein »Jude« ist, aber diese Bestätigung ist jetzt nur ein Feigenblatt, das versteckt, was nicht existiert! Nur seine Hoffnung, zum Mutterschoß des Judentums zurück zu kehren sowie sein Einsatz für die Wiedererstehung der in der deutschen Geschichte verlorenen jüdischen Gemeinschaft kann diesen Fluch in Segen verwandeln. Oberrabbiner Dr. Leo Baeck hat die Juden sogar in einer so enttäuschenden Situation wie im KZ Theresienstadt gelehrt:
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2 Heinrich Heine, 13.12.1797–17.02.1856, aus: https://www.zgedichte.de/gedichte/heinrich- heine/an-edom.html
»Ein Volk ist seiner Geschichte treu, wenn es sein Ideal verwirklicht, und wenn der Geist, ein Teil der Spiritualität der Menschheit, in ihm lebt. So lebt ein Volk gerecht, in derselben Weise wie ein Mensch gerecht lebt. [...] Das Volk kann neu geboren werden und kann sich erneut finden, nachdem es sich verloren hatte. [...] Dies ist die geschichtliche Wirklichkeit.« (Fragment einer akademischen Vorlesung über »Geschichte schreiben (Historiographie)«, die Dr. Leo Baeck am 15. Juni 1944 in Theresienstadt in der »Hamburger Kaserne« gehalten hat. Elena Makarova, University Over The Abyss, 2000, dt. Übersetzung von Prof. Dr. Elmar Lehmann). Theresienstädter Schlummerlied Eiapopeia, ihr Kinder schlaft ein, du Junge aus Böhmen, du Mädel vom Rhein. Einander fremd kamt ihr hierher, habt beide keine Heimat mehr. Nun schlaft ihr friedlich im gleichen Raum und lächelt im wonnigen Kindertraum, fern unserem Leid und fern unser Pein. Eiapopeia, ihr Kinder schlaft ein. Was sinnst du mit wachem Blick vor dich hin, du ernsthafter kleiner Junge aus Wien? Dein Vater ist tot, er starb im KZ. Er saß wohl sehr gerne an deinem Bett. Du musst vergessen, du bist ja noch klein, wir wollen alle recht gut zu dir sein. Wir helfen dir tragen, dann ist’s nicht so schwer, schlaf jetzt, mein Junge, und grüble nicht mehr. Schlaft alle, ihr Kleinen, blond oder braun, aus Böhmen, aus Mähren, aus Deutschlands Gau’n. Wie wir aus der Bahn gerissen, entgleist, verlassen, hungrig, krank und verwaist.
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Ihr teilt unser Leid, ihr teilt unser Los, wenn Gott will, werdet ihr trotzdem groß. Jetzt wanken wir alle, überbürdet von Not, doch jeder Nacht folgt ein Morgenrot.3 Wenn die Menschen sogar im KZ sich nicht der Enttäuschung hingaben, werden wir uns jetzt in einem friedlichen Land enttäuschen lassen und aufgeben?
Wajeze »Und er zog aus« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 32,3–28,10) ¥ Der vorige Wochenabschnitt »Toldot« erzählt, wie Riwka (Rebekka) ihrem jüngeren Sohn Jaakow geholfen hat, seinen Vater Jitzchak zu betrügen. Als Ergebnis segnete Jitzchak seinen jüngeren Sohn Jaakow statt des älteren Sohnes Esau. In diesem Wochenabschnitt, »Wajeze«, ist Jaakow gezwungen, vor der Rache seines älteren Bruders Esau nach Charan, nach Mesopotamien, zu fliehen. Dort wird Jaakow von Lawan, dem Bruder Riwkas, aufgenommen. Sie vereinbaren, dass Jaakow Lawans schöne jüngste Tochter Rachel zur Frau bekommt, wenn er sieben Jahre lang für Lawan arbeitet. Als die sieben Jahre vergangen sind und Jaakow also das Versprechen Lawans einlösen will, betrügt Lawan Jaakow und schickt in der Hochzeitsnacht seine ältere Tochter Lea an Stelle von Rachel in Jaakows Zelt. Wie Riwka ihren jüngeren Sohn statt des älteren zu Jitzchak schickte, so schickt ihr Bruder Lawan seine ältere Tochter Lea anstatt der jüngeren Tochter Rachel zu Jaakow. Jaakow stellt Lawan zur Rede, woraufhin dieser ihm verspricht, ihm auch seine jüngere Tochter Rachel zur Frau zu geben, wenn er weitere sieben Jahre für seinen Onkel arbeiten würde. Was für eine furchtbare Situation für die beiden Schwestern Lea und Rachel! Aber als Ergebnis dieses Handels wurde
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3 Aus: Ilse Weber, Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt, hg. von Ulrike Migdal
Jaakow zum Vater von zwölf Kindern. Später passiert dann ein noch schrecklicherer Betrug! Die Söhne Leas, Bilhas und Silpas (die Mägde von Lea und Rachel) verkaufen Josef, den einzigen Sohn Rachels, an Sklavenhändler, und hernach belügen sie ihren gemeinsamen Vater Jaakow, dass ein böses Tier Josef zerrissen habe. In diesen Erzählungen werden die Gestalten unserer biblischen Vorfahren schonungslos beschrieben! Die Tora erzählt »ganz politisch unkorrekt« von ihrer menschlichen Listigkeit und von ihren unmenschlichen Intrigen, aber nur auf diese Art und Weise kann sie uns zeigen, wie und mit wem unser unsichtbarer Gott sein Königreich (Malchut ha-Schamajim) auf der Erde umsetzten kann. Deswegen können wir in der hoffnungslosen Welt der komplizierten menschlichen Beziehungen schließlich lernen, wie man den Willen Gottes verstehen und erfüllen kann. »Schon damals lernte ich, dass der Mensch sich nicht verändert. Auch schreckliche Kriege verändern ihn nicht. Der Mensch verschanzt sich hinter seinen Glaubensvorstellungen und Gewohnheiten und gibt diese so leicht nicht wieder auf. Mehr noch: Seine Schwächen, auch sein Drang, zu intrigieren und anderen Böses zu tun, verschwinden nach einer Katastrophe nicht, sondern – ich schäme mich, es auszusprechen – werden nur noch größer [...]. Triebe sind stärker als alle Werte, aller religiöser Glaube. Diese einfache Wahrheit ist schwer zu ertragen.«4 Das größte Wunder Gottes ist ein Mensch, der auf Grund seines Leidens Barmherzigkeit lernte! Unser Vater Jaakow hat es durch viele Schwierigkeiten und Enttäuschungen geschafft. Er hat seinen Bruder Esau nach vielen Jahren des Leidens wiedergetroffen, um mit ihm Versöhnung und Frieden herzustellen. Jaakow sagte zu seinem Bruder Esau: »[...] denn deshalb habe ich dein Angesicht gesehen, als sähe ich Gottes Angesicht, und du warst so freundlich gegen mich! Nimm doch den Segen, der dir überbracht worden ist, von mir an« (Bereschit 33,10–11, vgl. den Wochenabschnitt »Wajischlach«).
4 Aus: Aharon [Erwin] Appelfeld, Geschichte eines Lebens, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2011, S. 191
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Jaakow hat Gott endlich verstanden: man kann nicht Gottes Segen für sich kaufen oder stehlen oder rauben, sondern ihn nur dann bekommen, wenn man ihn weitergibt. Nur dann kommt Jaakow in den ständig wachsenden Segenskreislauf der Gottesgegenwart! Josef, der Sohn von Jaakow und Rachel, hat durch großes Leiden und nach vielen Schwierigkeiten und Enttäuschungen verstanden: »Da sprach Joseph zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir! Als sie nun näher kamen, sprach er zu ihnen: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt! Und nun bekümmert euch nicht und macht euch keine Vorwürfe darüber, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Lebensrettung hat mich Gott vor euch her gesandt!« (Bereschit 45, 4–5). Josef hat seinen Brüdern vergeben und seinen Segen großherzig verteilt und geteilt! Er hat Gott verstanden: man kann nicht durch Rache und Strafe Gottes Segen für sich vermehren, sondern ihn nur dann bekommen, wenn man den Segen weitergibt. Nur so kommt Josef in den ständig wachsenden Segenskreislauf der Gottesgegenwart! Jaakow und Josef haben Gott endlich verstanden. Deshalb sind sie unsere Vorfahren geworden. Wenn auch wir Gott endlich verstehen, werden wir zu ihren Nachkommen!
Wajischlach »Und er schickte« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 36,43–32,4) ¨ Unser Toraabschnitt »Wajischlach« beschreibt das Treffen Jaakows nach seiner Rückkehr aus Charan mit seinem Bruder Esau. Jaakow war vor vielen Jahren gezwungen gewesen zu fliehen, weil er Angst hatte, dass Esau ihn töten würde. Jaakow hatte ihm doch den Segen »gestohlen«. Jetzt ging Esau ihm entgegen mit einer Menge bewaffneter Leute, und Jaakow hatte diesmal Angst, nicht nur um sein eigenes Leben, sondern
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auch um das seiner Frauen und Diener. Aber Esau umarmte weinend seinen Bruder und wollte von ihm keine Geschenke annehmen. Daraufhin sagte Jaakow zu ihm: »Weil ich nun einmal geschaut dein Antlitz, wie man schauet das Antlitz Gottes, und du hast mich gnädig angenommen, so nimm doch meinen Segen, der dir überbracht worden [...]« (Bereschit 33,10–11). Aus diesem Abschnitt lernen wir zwei Sachen. Erstens: Die Tora verbietet, Gott uns als Mensch vorzustellen. Andererseits schuf uns Gott nach seinem Ebenbild, in Seiner Ähnlichkeit. Als Jaakow in den Augen seines Bruders Esau Barmherzigkeit und Verzeihung sah, erlebte er das Treffen mit seinem Bruder wie das Treffen mit dem Ebenbild Gottes. Überall dort, wo Menschen eine Atmosphäre der Versöhnung und des gegenseitigen Verzeihens und des Respekts schaffen, dort offenbart sich der unfassbare JHWH, der Gott Jaakows, dem Menschen. Deswegen entwickeln wir unsere Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg zu einer Oase der Menschlichkeit, in der es immer einen Platz für Gottesgegenwart gibt. Das bedeutet, dass in ihr die sittlichen Gesetze der Tora gelten. Dank dieser Gesetze können wir in dieser Gemeinde einen großen Segen und Gottes persönlichen Schutz für jeden von uns und für unsere Kinder bekommen. Aber der Weg zu dieser Quelle des Lebens, zu dieser Lebensenergie, liegt in unserer Fähigkeit, mit anderen Mitgliedern der Gemeinde in Frieden und in gegenseitigem Respekt zu leben: Nimm die Menschen, wie sie sind, weil sie einzigartig sind, weil auch sie in Zufriedenheit leben wollen! Zweitens: Zwischen Jaakow und Esau schloss sich der Segenskreislauf: Jaakow hatte durch List den Segen Esaus bekommen. Und jetzt sagt er zu Esau: »Nimm von meinem Segen, da du mich barmherzig aufgenommen hast.« Jaakow hat verstanden: Man kann Gottes Segen nicht kaufen oder stehlen, sondern ihn nur aus vollem Herzen weitergeben und vermehrt
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zurück bekommen, denn nur auf diese Art und Weise steigt unsere Seele in den ewigen unerschöpflichen Segenskreislauf ein! Stellen Sie sich vor: Eine Person hatte beschlossen, im Fluss zu schwimmen. Er kam zum Fluss und grub neben dem Fluss Tag und Nacht einen riesigen Graben. Danach brachte er einen Eimer und fing an, Wasser aus dem Fluss zu schöpfen und in diesen neuen Graben zu tragen. Zu dieser Zeit sprang sein Nachbar in den gleichen Fluss, um zu schwimmen. Er fragte den Mann mit dem Eimer: »Lieber Freund, was machst du hier?« »Das ist mein eigener Fluss«, antwortete dieser ihm. »Ich habe ihn selbst mit Schweiß und Fleiß gegraben, und du darfst darin nicht schwimmen!« Aber zur gleichen Zeit bemerkte er leider nicht, dass das ganze Wasser, das er in den Graben gegossen hatte, durch die Erde gesickert und verschwunden war! Das ist das eigentliche Geheimnis der jüdischen Religion, das viele religiöse Menschen bis jetzt nicht bemerken. Der Ewige gibt den Segen nicht nur einem Bruder, sondern immer beiden, nicht einem Menschen, sondern dem Menschen und seinem Mitmenschen! Als Jaakow und Esau sich endlich miteinander versöhnten, konnten sie beide diese Quelle der Lebensenergie und des Gottesschutzes in jeder Not bekommen. Wir sind selbst jetzt und hier die Frucht dieser Versöhnung: Heute fließt das Blut Jaakows und Esaus in unseren Adern. Wenn wir in unserer Gemeinde lernen, uns miteinander zu versöhnen und zu erfreuen, wie damals Jaakow und Esau , werden wir den persönlichen Gottessegen und Seinen Schutz bekommen, den wir heute besonders brauchen. Man kann Gottes Segen für sich nicht mit Gewalt ergreifen, sondern nur mit großherziger Liebe weiterverteilen, weil unsere Seele nur auf diese Art und Weise in dem ständig wachsenden Segenskreislauf der Gottesgegenwart schwimmt! Wir haben zwei Hände: eine, um Gottes Segen, Gottes Gaben, entgegenzunehmen, und eine andere, um diese an unsere Mitmenschen weiterzugeben!
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Wajeschew »Und er wohnte« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 40,23–37,1) ¨ Wir lesen in unserem Wochenabschnitt »Wajeschew« über einen Skandal in unserer großen Familie: die zehn Väter des jüdischen Volkes verkauften den elften, Josef, in die ägyptische Sklaverei. Die Frau des Potifar, seines ägyptischen Besitzers, wollte ihn verführen. Er floh vor ihr, und sie verleumdete ihn und sagte, dass er versucht habe, sie zu vergewaltigen. Deswegen kam er ins Gefängnis. Der berühmte Rabbiner RAMBAN meint dazu: »Warum heißt es ausdrücklich, dass Josef »die Frau seines Herrn« ablehnte? Weil er als Sklave verpflichtet war, ihr zu gehorchen. Dennoch zog er es vor, stattdessen dem Gesetz Gottes zu gehorchen.« Im Konflikt zwischen menschlicher Pflicht und dem Gewissen wählte Josef, trotz größerem Risiko für sich selbst, das Gewissen, den Auszug aus Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei. Er hat Gottes Stimme noch vor dem Auszug aus Ägypten gehört, weil man die Ewige Stimme nicht in der geschichtlichen Zeit, sondern in seinem liebevollen Herzen hört. Die Freiheit Gottes ist immer auf ein liebevolles Herz geschrieben. »Rabbi Jehoschua, Levis Sohn, sagte: Tag für Tag ertönt eine schallende Stimme vom Horeb und ruft und spricht: Wehe dem Menschengeschlecht ob der Missachtung des Gesetzes (der Tora)! Wer nicht das Gesetz erforscht, heißt ein Verworfener, denn es steht geschrieben (Spr 11, 22): »Ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Haarband.« Und es steht geschrieben über die Gesetzestafeln (Schemot 32,16): »Gott hatte sie selbst gemacht und selber die Schrift eingegraben.« Du sollst aber nicht lesen »charuth«, das ist: »eingegraben«, sondern [du] sollst lesen »cheruth«, das ist: Freiheit, denn ein Freier ist nur, wer das Gesetz erforscht. Wer das Gesetz erforscht, wird auch erhöht, denn es steht geschrieben (Bemidbar 31,19): »und von Matthana«, das ist: Geschenk, »gen Nahaliel«, das ist: Gotteserbe; »und von Nahaliel gen Bamoth«, das ist: die Höhen« (Mischna Awot – Die Sprüche der Väter, 6, 2).
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Dank der Mündlichen Tora verstehen wir, dass Josef, indem er sich weigerte, der Frau von Potifar zu gehorchen, als freier Mensch gewählt hat: er hat die Stimme seines Gewissens gehört, die zur Tora Gottes hinführt. Er hat die Stimme Gottes vom Berg Sinai gehört (»Ich bin JHWH, Ich habe dich aus dem Haus der Sklaverei befreit«), weil Gottes Ewigkeit sich nicht in menschlichen Zeiträumen hören lässt, sondern im liebevollen Herzen eines freien Menschen! Die Grundlage unseres Dienstes an Gott besteht darin: sich selbst und andere Menschen als Gottes freies Abbild zu ehren, statt sie als Objekt unserer egoistischen Interessen zu missbrauchen oder sich selbst als Objekt für diese egoistischen Interessen freizugeben. Der großer Rabbiner Leo Baeck, der das KZ Theresienstadt überlebte, ließ uns dazu ein ganz klares Testament zurück: »Was wir an unserem Mitmenschen tun, ist Gottesdienst.« Dies ist ein moralischer Kompass zu Freiheit, zu Liebe, weil es keine Freiheit ohne Liebe und keine Liebe ohne Freiheit gibt.
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Mikez »Am Ende« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 41,1–44,17) ¤¦ In unserem Wochenabschnitt »Mikez« trifft Josef seine Brüder in Ägypten wieder. Im Lande Kanaan gab es eine Hungersnot, und die Brüder kamen nach Ägypten, um Brot zu kaufen. Da Josef Gebieter über das ganze Land Ägypten war, mussten sie ihn um die Rettung ihrer Familien bitten. Die Tora sagt, dass Josef seine Brüder sofort wiedererkannte, aber sie erkannten ihn nicht wieder (Bereschit 42,8). Die Brüder hatten ihn nach Ägypten verkauft und den Vater von seinem Tod überzeugt: Josef war für immer aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Jetzt stand ein wichtiger Fürst vor ihnen, von dem, wie sie dachten, ihr ganzes Leben abhing. Im Leben gibt es Situationen, dass derjenige, auf dem alle herumtrampeln und den alle misshandeln, plötzlich über alle erhöht wird. Wir wissen, dass Josef die Situation nicht ausnutzte, um sich an den Brüdern zu rächen, sondern ihnen half. In diesem Sinne erkannten ihn die Brüder nicht wieder, weil sie ihn aus dieser Perspektive nicht kannten. Gerade weil sie nichts von seiner Anständigkeit wussten, wollten sie ihn umbringen, weil sie sich vor seiner Konkurrenz fürchteten. So ist es in unserer menschlichen Welt: Die Menschen unterdrücken oft andere Menschen, weil sie sie nicht kennen. Erst wenn der Unterdrückte über ihnen steht, können sie ihn richtig erkennen. Deswegen, erst als Josef sich den Brüdern zeigte und sagte: »Ich bin Josef, euer Bruder«, erkannten sie ihn wieder. Das Beispiel aus der Moderne steht vor unseren Augen: Das Treffen der alteingesessenen Juden in Deutschland und der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Notgedrungen können die einen die anderen schwer als Brüder erkennen. Die Tora sagt uns durch die Geschichte mit Josef: die Tatsache, dass wir Brüder und Schwestern sind, kann man nicht mit Worten, sondern nur mit Taten beweisen.
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Wajigasch »Und er trat heran« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 44,18–47,27) ¨ In unserem Wochenabschnitt für diesen Schabbat »Wajigasch« offenbart sich Josef seinen Brüdern: ,,Ich bin Joseph, lebt mein Vater wirklich noch?« (Bereschit 45,3). Aus der vorherigen Erzählung wissen wir, dass Josef weiß, dass sein Vater lebt. Aber Jaakow lebt, wie jeder Vater, erst wenn zwischen den Brüdern wahre Versöhnung verwirklicht wird. Als einer seiner Söhne von seinen zehn Brüdern in die Sklaverei verkauft wurde, hörte er in Wirklichkeit auf, für diese zehn Brüder Vater zu sein. Deswegen fragt Josef die zehn Brüder, ob sie bereit sind, wieder die Söhne ihres Vaters zu werden? Ob sie bereit sind, dem verkauften Josef in Wirklichkeit wieder Brüder zu sein? »Aber seine Brüder«, sagt die Tora, »konnten ihm nicht antworten, denn sie schraken zurück vor ihm« (dort). Der noble ägyptische Fürst, von dem ihr Leben, wie sie dachten, abhing, erwies sich als der ihnen ergebene Bruder. In der Wirklichkeit war ein solcher Josef für sie bedeutend schlimmer, als ein fremdländischer, mächtiger Führer. Jetzt endlich hat Josef die volle Möglichkeit, sie zu strafen, sich an ihnen zu rächen. Aber die Brüder wurden nicht nur von dieser verständlichen, menschlichen Angst übermannt, weil sie sich erst jetzt dessen bewusst wurden, was für eine Tragödie ihr Leben vor diesem Treffen war. Da sie, indem sie Josef in die Sklaverei verkauft hatten und seine mit Blut beschmierten Kleider ihrem Vater gebracht hatten, nicht nur aufhörten, Söhne ihres Vaters Jaakow zu sein. Sie hörten in diesem Augenblick auf, Söhne unseres himmlischen Vaters, des Gottes Israels, zu sein. Sie waren seitdem keine Söhne Israels, sondern eine Episode! Das ist die schlimmste Strafe für jeden Juden und jede Jüdin: das eigene Gewissen zu verlieren und es nicht einmal zu bemerken: »Ich hörte auf, ich selbst zu sein. Die anderen haben es bemerkt, aber ich noch nicht!« In dem Augenblick, als die Brüder Josef wieder erkannten, wurde jeder von ihnen sich dessen bewusst, in welchem Abgrund des Nichtseins er bis jetzt gewesen war. Das verblüffendste in dieser Geschichte ist, dass Josef diesen Prozess ihrer Selbsterkenntnis wahrnimmt. Und er streckt
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ihnen seine Hand entgegen, um sie aus diesem Abgrund des NichtSeins herauszuholen: »Da sprach Josef zu seinen Brüdern: Tretet näher zu mir! Und sie näherten sich; und er sprach: Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun kränket euch nicht und es entbrenne nicht in euren Augen, dass ihr mich hierher verkauft; denn zur Lebenserhaltung hat Gott mich vor euch hergesandt.« Josef erinnerte sie daran, dass – auch als die Brüder die Verbindung mit ihrem himmlischen Vater verloren hatten –, der Gott Israels sie nicht ganz verlassen hatte. Vor unseren Augen geschieht das Unmögliche: Die von innen heraus zerstörte Familie Jaakows lebt wieder auf, – durch ihre Wiedervereinigung mit Josef. Ohne ihn wäre es unmöglich gewesen! Man könnte sagen, dass dies eine alte, biblische Legende aus der Vorzeit ist. Aber die Geschichte wiederholt sich in unserem Leben immer wieder: Die Juden erkennen sich gegenseitig nur unter großen Schwierigkeiten wieder als Brüder und Schwestern. Die Juden aus verschiedenen Ländern und Kulturen sind immer erschüttert, was für ein dramatischer Prozess sie zur Versöhnung miteinander (und mit sich selbst!) führte. Wie viel geistige Kraft, Geduld und Aufmerksamkeit das erfordert! Aber mit unserem Vater im Himmel, mit dem Gott Israels, ist es bitter zu streiten. Sein Himmel ist nicht im fernen Weltall, sondern unter uns, zwischen dem Menschen und seinen Mitmenschen! Ich versichere Ihnen: Der Weg von einem jüdischen Bruder zu seinem Bruder ist viel länger, als der Weg von einem Stern zum anderen, denn die Wege des Menschen sind so vielfältig gewunden, aber der Weg des Lebens ist der Weg des einfachen und aufrechten Menschen! Derjenige, der es nicht wagt, diesen Weg zu beginnen, bleibt im Abgrund des Nicht-Seins. Für unser psychisches Wohlbefinden ist es besser, die Unannehmlichkeiten in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen als eine notwendige Stufe zu sehen, zu uns selbst aufzusteigen. Wenn wir fühlen, dass jemand bewusst unserer jüdischen Gemeinde mit unmenschlichen Mitteln Schaden und Leid zuzufügen versucht, wollen wir uns unbewusst sofort versichern, dass Gottes Gericht gegen diese Personen schon begonnen hat, sodass man ihre Strafe in dieser
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Welt bereits sehen kann. Wollen wir alle Gottes Gerechtigkeit erleben, um unsere inneren Wunde zu heilen? Aber das ist in Wirklichkeit nur die nächste Stufe, die der Ewige für uns auf der Leiter Jaakows setzte, um jeden von uns näher zu sich selbst zu bringen. Um Gottes Gerechtigkeit ¥¦© in ihrer unmittelbaren Verbindung mit Gottes Gnade zu erfahren, müssen wir auch reif genug dafür sein. Wir brauchen viel Geduld und Weisheit, wir müssen vielmals sterben und wieder ins Leben zurückkehren, so wie der siebzehnjähriger Josef, der Sohn Jaakows und Rachels in Ägypten, um jetzt das zu lernen, was Josef damals gelernt hat: Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Gnade, es gibt keine Gnade ohne Gerechtigkeit, es gibt keine Freiheit ohne Liebe, es gibt keine Liebe ohne Freiheit, es gibt keinen Vater im Himmel ohne die Juden auf der Erde, und es gibt keine Juden auf der Erde ohne unseren Vater im Himmel: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht. Erweise deine Gnade auch weiterhin denen, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit denen, die aufrichtigen Herzens sind (Ps 36,10–11).
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Wajechi »Und er lebte« (Bereschit / 1. Buch Mose / Genesis 47,28–50,26) Diese Woche lesen wir in »Wajechi« von den letzten Tagen Jaakows vor seinem Tod. Wir wissen nicht, woran er starb, aber wir wissen, wie er sich vor seinem Tod verhielt. Er ruft zu sich seinen Sohn Josef und seine Enkel Efrajim und Menasche, um sie zu segnen. Deshalb nennen wir diesen Toraabschnitt »Wajechi« – »und er (Jaakow) lebte«. Jaakow lebt bis heute, weil der Segenskreislauf im Rhythmus seines Herzen von seinen direkten Nachkommen zu seinen späteren Nachkommen, von Mensch zu Mitmensch, weiter strömt. Wir lernten schon im Toraabschnitt »Wajischlach«: »Er (Gott) sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jaakow. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jaakow heißen, sondern Israel; denn um den Vorrang mit Gott und mit Menschen hast du gekämpft und hast obsiegt. Und Jaakow fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und Er segnete ihn daselbst« (Bereschit 32,28–29). Seitdem sprechen die Söhne und Töchter Israels immer wieder mit dem Gott Israels. Gott Israels: Du sollst nicht mehr Jaakow heißen, sondern Israel; denn um den Vorrang des Segens mit Gott und mit Menschen hast du gekämpft und hast obsiegt! Söhne und Töchter Israels: Sollen wir, die Kinder Israels, für den Segenskreislauf im Rhythmus des Herzens in dem heutigen Ozean des unmenschlichen Hasses und Fluches weiterkämpfen? Gott Israels: Ja, natürlich, weil die Quelle des Segenskreislaufs nicht aus Menschen hervorgeht, sondern bei eurem Vater im Himmel verborgen ist. Söhne und Töchter Israels: »Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Breite deine Gnade über die, die Dich kennen, und deine Gerechtigkeit
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über die Frommen« (Ps .)11–36,10 Im vorherigen Toraabschnitt »Wajigasch« wurden in Bezug auf Jaakow und Joseph ähnliche Verben erwähnt: »Watechi« und »Chaj« Jaakow: »Da sagten sie (die Söhne Jaakows) ihm alle Worte, die Joseph zu ihnen geredet hatte. Und als er die Wagen sah, die Joseph gesandt hatte, um ihn abzuholen, da wurde der Geist ihres Vaters Jaakow lebendig (»Watechi«), und Israel sprach: Für mich ist es genug, dass mein Sohn Joseph noch lebt (»Chai«)! Ich will hingehen und ihn sehen, bevor ich sterbe!« (Bereschit 45,27–28). Das Targum Onkelos (2. Jh. n. u. Z.) erklärt: »der Geist ihres Vaters Jaakow« – und es schwebte der Geist der Gottesheiligkeit (Ruach Kudscha – aram.) über Jaakow, ihrem Vater. ¦¡¡¨¦§©§¨U[¨ ¦`U_U_©¨§\}~ u ¦¡ {{ B§ Der Segenskreislauf im Rhythmus des Herzens Jaakows strömt weiter, als er hört, dass sein verlorener Sohn Josef lebt! Der Segenskreislauf des Geistes der Heiligkeit Gottes! Der Segenskreislauf ist in sich wieder geschlossen. Als der Geist Gottes über Jaakow schwebte, ist er zum lebendigen Israel geworden. Als Joseph seine Brüder fragte: »Lebt mein Vater noch?«, hat er sie nicht nur in Bezug auf dessen physische, sondern auch auf dessen geistliche Lebendigkeit gefragt! Der Geist Gottes schwebte in diesem Moment über Joseph. Er war wirklich der Sohn Israels. Seine Brüder hingegen waren nach wie vor nur Söhne Jaakows. Jaakow wollte damals sofort hingehen und Josef sehen, um ihn zu segnen, bevor er stirbt! Und er ruft in unserem Toraabschnitt seinen Sohn Josef zu sich und dessen Enkel Efrajim und Menasche, um sie vor seinem Tode zu segnen. Der Segenskreislauf ist in sich wieder geschlossen: Jaakow segnete seine Nachkommen vor seinem Tod: »Der Gott, vor dem meine Väter Awraham und Jizchak wandelten, der Gott, der ein Leben lang mein Hirte war, [...] der Engel, der mich vor dem
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Bösen erlöste, möge die Knaben segnen.« Es ist wichtig, dass Jaakow jetzt, vor seinem Tod, nicht in den Abgrund des Nicht- Seins schaut, sondern an alles gesegnete Gute denkt, das er im Leben hatte. Israel schwebt jetzt mit dem Geist Gottes über dem Abgrund des Todes! Er will diese gute, gesegnete Lebensenergie an seine Kinder und Enkel weitergeben. Deshalb hatte er immer den Mut, mit dem Tod und dem Fluch zu kämpfen – u. a. auch mit den falschen Nachrichten über den angeblichen Tod Josephs. Es war so auch damals in dem Ozean des unmenschlichen Hasses und Fluches unter unseren Vorfahren. Deshalb schreibt die jüdische Tradition den Eltern vor, ihre Kinder vor der Sabbat- Mahlzeit zu Hause zu segnen, so wie Jaakow damals Efrajim und Menasche segnete. Daraus lernen wir, dass wir der nächsten Generation nicht davon viel erzählen sollen, wie schwer wir es im Leben hatten, sondern wie wir diese Schwierigkeiten mit Gottes Segen und mit menschlichem Mut immer wieder überwunden haben. Insbesondere werden wir aufgerufen, das in schwierigen Augenblicken des Schicksals und der Prüfungen zu tun, wie eben in den letzten Minuten vor dem Tod. »Die meisten Menschen haben solche Angst zu sterben, dass sie ganz darauf gerichtet sind, den Tod zu vermeiden und dabei nie richtig leben« (Anthony de Mello, Warum der Schäfer jedes Wetter liebt). Derjenige, der gewohnt ist, in den Abgrund des Bösen zu schauen, bekommt ein Schwindelgefühl wegen der bloßen Tatsache des Bösen. Aber derjenige, der bestrebt ist, mit positiven Einstellungen und mit positiven Leuten zu leben, kann diesen Anstoß an die nächsten Generationen weitergeben. Ja, natürlich sollen wir dafür weiter kämpfen, weil die Quelle des Segenskreislaufs nur aus unserem Vater im Himmel hervorgeht: »Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Breite deine Gnade über die, die Dich kennen, und deine Gerechtigkeit über die Frommen« (Ps .)11–36,10
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Jaakow lebte, weil der Segenskreislauf im Rhythmus seines Herzens von Mensch zu Mitmensch strömte. Deshalb trägt Jaakow den Namen ISRAEL. Deshalb tragen wir den Namen »Kinder ISRAELS«. Die Quelle des Segenskreislaufs geht nur aus unserem Vater im Himmel hervor: »[...] und über den Sanftmütigen wird Gottes Geist schweben« (Rollen von Qumran, 4Q 521, 6–7). Wenn jüdische Eltern ihre Kinder vor der Sabbat-Mahlzeit zu Hause segnen, so wie Jaakow damals mit Mut und Demut Efrajim und Menasche segnete, leben sie alle weiter. Aber was tun wir während unserer Gottesdienste in unserer LJGH? Wir segnen immer und immer wieder die jüdischen Kinder, die diesen Segen Israels in ihrer Kindheit wegen des Ozeans des unmenschlichen Hasses und Fluches verloren haben. Wir kämpfen dafür im Rhythmus des Herzens weiter, im Rhythmus des jüdischen Jahreszyklus. Wer das versteht, der komme mit.
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SCHEMOT (2. BUCH MOSE / EXODUS)
Schemot »Namen« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 1,1–6,1) ©¨
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n unserem Wochenabschnitt »Schemot« gibt es eine sehr wichtige Geschichte über die Rolle der Frau (aller Frauen) im Leben des jüdischen Volkes. Der ägyptische König befahl, alle jüdischen Knaben bei ihrer Geburt zu töten, die Hebammen jedoch gehorchten ihm nicht. Da schickte der Pharao seine Soldaten, damit sie die jüdischen Knaben im Nil ertränken. Trotzdem versteckte eine jüdische Mutter mit ihrer Tochter ihren neugeborenen Sohn am Ufer des Flusses. Ihre Tochter bewachte ihn von ferne, um ihn in gute Hände weiterzugeben. Letzten Endes rettete die Tochter des Pharao dieses Kind, Mosche, und erzog es in ihrem Haus. Sie ließ ihm eine gute Erziehung angedeihen, was es ihm später ermöglichte, einer der wichtigsten Anführer des jüdischen Volkes zu werden. Aber das ist noch nicht alles. Die Frau von Mosche, die Midianiterin Zippora, rettete Mosches Leben in der Wüste (Schemot 4,24–26). Das war, als Mosche aus dem Exil nach Ägypten zurückkehrte, um sein Volk herauszuführen. Aber was unsere Mündliche Tora dazu erzählt, wird Sie noch mehr überraschen: »Und es ging ein Mann aus dem Geschlecht von Levi ... (Schemot 2,1).« Wo ging er hin? R. Juda b. Zebina sagte, dass er dem Rat seiner Tochter folgte. Ein Tannait (ein Toralehrer aus dem 1.–2. Jh. n. u. Z.) lehrte:
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Amram war der größte, der einflussreichste Mann seiner Generation; als der böse Pharao ein Dekret erließ: »Alle Söhne, die geboren werden, werden in den Fluss geworfen«, da sagte er: »Es ist vergeblich, es hat keinen Sinn mehr, Kinder in die Welt zu setzen [...]. Die Söhne werden geboren, nur um zu sterben.« Er stand auf und ließ sich von seiner Frau (Yochewed) scheiden. Alle Söhne Israels folgten seinem Beispiel und ließen sich von ihren Frauen scheiden (damit sie gar keine Kinder mehr in die Welt setzten). Seine (kleine) Tochter (Miriam) sagte zu ihm: »Vater, dein Dekret ist strenger als das des Pharao; denn der Pharao verfügte nur, dass die Söhne sterben sollten, während dein Dekret bewirkt, dass gar keine Kinder, weder Mädchen noch Jungen, geboren werden. Das Dekret des Pharao verfügte nur über diese Welt, während dein Dekret diese Welt betrifft und die kommenden Generationen. Im Falle des bösen Pharao gibt es Zweifel, ob sein Dekret erfüllt wird oder nicht, während es in deinem Fall, denn du bist ein Gerechter, ein Zaddik, sicher ist, dass dein Gebot erfüllt werden wird (d. h. das Volk Israel wird auf dich hören), denn es wurde gesagt: Wenn Du etwas bestimmst, dann soll es nach deinem Willen oder Befehl passieren.« Daraufhin stand Amram auf und nahm seine Frau wieder zur Frau. Und alle anderen Männer (Israels) folgten seinem Beispiel und nahmen ihre Frauen wieder zur Frau. Und »nahm seine Frau zur Frau« sollte so gelesen werden: und er »nahm seine Frau wieder zur Frau«, sagt R. Juda b. Zebina : – »Er verhielt sich seiner Frau gegenüber, als wäre es ihre erste Eheschließung; er setzte sie in eine Sänfte, ihre beiden Kinder Aharon und Miriam tanzten vor ihr, und die Engel verkündeten, sie sei eine glückliche Mutter ihrer Kinder. In der Folge wurde dann Mosche geboren« (Schemot Rabba 1,17). Damit hat die kleine Miriam nicht nur ihren Bruder Mosche gerettet, sondern die ganze Generation, die mit Mosche Ägypten verlassen hat! Und noch dazu: Ein kleines Mädchen trifft eine wichtige halachische Entscheidung, und der große Richter des Volkes Israel muss sie anerkennen, weil jedes Kind vor Gott das Recht auf seine eigene Geburt hat.
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Alle die oben genannten Frauen, die Töchter Israels und die Töchter Noachs, retteten Mosche und halfen ihm, ein Held zu werden. Er wurde zu einem mutigen Retter seines ganzen Volkes. Wir können sagen, dass Gott in dieser Geschichte weder das Herz der versklavten Hebräer noch das der sie versklavenden Ägypter erreichen konnte. Aber Sein guter Wille fand die Antwort in den Herzen der Frauen verschiedener Völker. In unserer Gemeinde und unter den Freunden gibt es auch Frauen aus verschiedenen Völkern, die unbemerkt den Willen Gottes für unseren gemeinsamen Erfolg erfüllen. Machen Sie die Augen auf und Sie werden sehen, dass die alte Geschichte der Tora sich in unserer Gemeinde wiederholt!
Wa’era »Und ich erschien« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 6,2–9,35) § Der Toraabschnitt dieser Woche »Wa’era« beschäftigt sich mit den Plagen, die Gott über Ägypten brachte: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Siehe, ich habe dich dem Pharao zum Gott gesetzt, und dein Bruder Aharon soll dein Prophet sein. Du sollst alles reden, was ich dir gebieten werde, und dein Bruder Aharon soll es dem Pharao sagen, dass er die Kinder Israels aus seinem Land ziehen lassen soll. Aber ich werde das Herz des Pharao verhärten, damit ich meine Zeichen und Wunder im Land Ägypten zahlreich werden lasse. Und der Pharao wird nicht auf euch hören, sodass ich meine Hand an Ägypten legen und mein Heer, mein Volk, die Kinder Israels, durch große Gerichte aus dem Land Ägypten führen werde. Und die Ägypter sollen erfahren, dass ich der Ewige bin (JHWH), wenn ich meine Hand über Ägypten ausstrecke und die Kinder Israels herausführe
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aus ihrer Mitte« (Schemot 7,1–5). Besonders interessant erscheint dabei der folgende Vers: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Siehe, ich habe dich dem Pharao zum Gott gesetzt, und dein Bruder Aharon soll dein Prophet sein« (Schemot 7,1). Die Tora verbietet uns streng, einen Menschen zu vergöttlichen, in einem Menschen einen Gott zu sehen. Aber was lesen wir in unserem Wochenabschnitt? Gott selbst hat Mosche, der selbst ein verfolgter und geflohener Sklave des Pharao war, dem Pharao zum Gott gesetzt! Wie oft sind wir gezwungen, mit anzusehen, wie eine Person X, die ein bisschen Macht oder Vermögen hat, ihre Mitmenschen unterdrückt, deren schwächere Position ausnutzt? Wie diese Person X alle ihre Vorteile missbraucht, um anderen zu schaden und sie unglücklich zu machen, weil sie sich fast wie Gott fühlt! Es ist egal, ob diese Person X religiös oder nicht religiös ist, der barmherzige Gott jedenfalls hat keinen Platz in ihrem Herzen! Gott existiert für diese Person X nicht! Und was sagt JHWH, der Gott von Awraham, Izchak und Jaakow, JHWH, der Gott der Fremdlinge, der Anwalt der Witwen und Vater der Waisen? (vgl. Schemot 22,20–23; Dewarim 16,9–14; Ps 68,6). JHWH, unser Gott sagt: »Herr/Frau X, ich mache den Mitmenschen, den du verfolgst und unterdrückst, zum Gott über dich, bis Du lernst, dass ich JHWH bin! Du willst Mich nicht kennenlernen, dann wirst du eben deinen Mitmenschen, für den du die Opferrolle vorgesehen hattest, in der Gottesrolle der Gerechtigkeit treffen.« Ja, wenn wir diese Geschichte hören, trösten wir uns: Die Gerechtigkeit wird am Ende unsere Realität bestimmen! Aber Moment mal, was bleibt Mosches Aufgabe in dieser Gottesrolle? Er wird dem Pharao befehlen, das jüdische Volk gehen zu lassen! Und was macht der authentische Gott dann? Der Ewige sagt zu Mosche, dass Pharao dies nicht tun wird; er wird nicht auf Mosche hören, weil der Ewige das Herz Pharaos verhärten wird. Welche Enttäuschung für Mosche! Gott setzt ihn in die Gottesrolle gegenüber dem vergöttlichten Pharao, aber
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Gott wird ihn, Mosche, nicht in dieser Rolle entsprechend unterstützen, sondern das Herz des Pharaos gegenüber Mosche und seinem Volk verhärten. Das ist echt eine der schwierigsten Stellen der Tora für unser Verständnis: Statt das Herz des Henkers des jüdischen Volkes zu erweichen, statt es barmherzig zu machen, verhärtet Gott es. Statt der Tragödie des jüdischen und des ägyptischen Volkes vorzubeugen, wo die ersten Opfer ihre Kinder sind, verhärtet Gott das Herz des Pharaos in diesem Konflikt. Wie kann man dies mit unserer Wahrnehmung vom barmherzigen Gott verbinden? Die Antwort auf diese unausgesprochene Frage ist sehr überraschend: »Auf diese Art und Weise werde Ich meine Zeichen und Wunder im Lande Ägypten mehren [...] und die Ägypter sollen erfahren, dass ich der Ewige bin – JHWH.« Zu diesem Zweck wird das Herz des Pharaos verhärtet? Müssen die unschuldigen Kinder sterben? Aber der Pharao war schon grausam genug! Er hatte sich durch seine besondere Grausamkeit und Unmenschlichkeit seinen Platz über den verhärteten Menschen, den Sklavenhaltern sowie den Sklaven erobert. Die allgemeine Massengrausamkeit und Verhärtung der Herzen im Land Ägypten, im Hause der Sklaven, fokussiert sich im Herzen des Pharaos – er ist der Hausherr der Unmenschlichkeit in seinem Land! Das wissen wir jetzt, aber damals war es nur Gott und seinem Propheten Mosche bewusst. Deshalb erklärt Gott Mosche, dass Er die Verhärtung des Herzens des Pharaos zu einer solchen Grenze führen wird, dass unter dieser Grausamkeit alle Bewohner und Bewohnerinnen in Ägypten leiden werden, – die Kinder Israels genauso wie die Ägypter, einschließlich des Pharaos selbst. Sie alle werden lernen, wie tief der Abgrund der Unmenschlichkeit in menschlichen Herzen sein kann, und welche Früchte er in der Realität bringen wird! Es scheint, dass man ohne diese bittere Erfahrung nicht der Stimme der feinen Stille in seinem Herzen zuhören kann – kol demmama dakkah – (vgl. 1 Melachim [1 Kön] 19,12), und nie fähig sein wird, die Früchte der Liebe Gottes in die Welt zu bringen! Nur nach der bitteren Ernüchterung aller Menschen wird die Zeit der Barmherzigkeit Gottes zu allen kommen, die Zeit der Befreiung der Kinder Israels und die Zeit der Befreiung der Kinder Ägyptens. Sonst
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wären sie alle nicht fähig, die Barmherzigkeit Gottes zu akzeptieren, sonst wären sie alle nicht fähig, barmherzig und ehrlich zu sein, – nicht die Kinder Israels, nicht die Kinder Ägyptens und nicht die Kinder anderer Völker, die aus dieser unverständlichen Geschichte etwas Positives lernen möchten, etwas über den unfassbaren Namen Gottes und über seine unverfügbare Liebe zu erfahren. Als Mosche selbst die Offenbarung JHWHs am Berg Sinai erfährt, fragt er: »Wie heißt Du?« Welch überraschende Frage von Mosche und welch überraschende Antwort Gottes: – »Ich bin, der Ich bin«, – d. h. »Ich bin und Ich werde mit dir sein immerdar!« In diesen hebräischen Worten »howeh- we- ihejeh« steckt der unfassbare Name JHWH. Die erste Variante dieses Namens »ehejeh« – »Ich werde sein« –, die Mosche als Antwort auf seine Frage gegeben wurde, verstärkt diese Bedeutung. Es geht nicht nur um eine schlichte Bestimmung des monotheistischen Glaubenssatzes, dass Er der eine Gott ist, der immer da war, da ist und da sein wird, sondern es geht auch um die unfassbare, persönliche Liebe Gottes, die das schwache menschliche »Ich« des Mosche mit der unerschöpflichen Energie von Gottes »Ich« auf dem Weg von der Sklaverei zur Freiheit bestärkt. Die unfassbare und unverfügbare Liebe Gottes offenbart und verhüllt sich gleichermaßen in diesem Namen für das Volk Israel: »Das Wesen Gottes aber bleibt auch in der Offenbarung, in der Selbstoffenbarung verhüllt: man denke nur an die Dornbuschszene (Schemot 3,14), in welcher das innerste Wesen der Gottheit in dem letztlich unübersetzbaren »Eheje ascher eheje« mehr signalisiert als definiert wird. Wie immer wir hier übersetzen: »Ich werde sein, der ich sein werde«, oder »Ich bin, der ich bin«, oder mit Martin Buber, »Ich werde dasein, als der ich dasein werde«, wird hier zwar die Realpräsenz Gottes bezeugt, aber nichts über die göttliche Natur ausgesagt« (BenChorin, Jüdische Glaube, J.C.B. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, S. 16). Für Buber war es wichtig, das Persönliche in Gott als unseren unmittelbaren Ansprechpartner zu unterstreichen. Man kann diesen Namen Gottes auch anders verstehen, als einen Ruf, um einander persönlich immer wieder neu kennen zu lernen: »Ich bin, der ich sein
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werde« – deinem »ich« zugewandt – in den verschiedensten Lebenslagen. Je mehr du dein »ich« entdeckst, desto mehr entdeckst du mein »Ich«. Je mehr du dich in dein inneres Abbild Gottes vertiefst, desto mehr erfährst du die Ausstrahlung Gottes (Kawod – Gottes Gegenwart und Gottes Herrlichkeit). - Mit dieser persönlichen Botschaft schickt Gott Mosche zu den versklavten Söhnen Israels, um sie zur Freiheit zu ermutigen: »Also sprich zu den Kindern Israel: »Ehejeh« – »Ich bin« – sendet mich zu euch« (Schemot 3,14). Man kann den folgenden Vers von Rose Ausländer paraphrasieren, um diese biblischen Verse besser zu verstehen: Rosa Ausländer sagt den Mitmenschen: »Ich habe mich in mich verwandelt von Augenblick zu Augenblick« Der bettende Mensch sagt vor Gott: »Dein göttliches »Ich« vom Berg Sinai verwandelt mein inneres ich in mein innerstes »ich« – von Augenblick zu Augenblick, um die wahre Freiheit mit Dir zu teilen.« Die Geschichte des Auszugs aus dem Haus der Sklaven erweitert diesen inneren Dialog zwischen JHWH und Mosche auf der Ebene vom »Ich und ich« zum Dialog zwischen JHWH und dem Volk Israel auf dem Berg Sinai (Schemot 20). Aber JHWH will diesen Dialog durch die Kinder Israels mit allen Menschen führen. Deshalb leiden so oft die Kinder Israels, weil viele Menschen diesen Dialog, wie der Pharao damals, ablehnen. Apropos, die Kinder Israels hatten vorher Mosches Botschaft auch abgelehnt: »Darum sage den Kindern Israel: Ich bin JHWH und will euch aus den Lasten Ägyptens herausführen und will euch von ihrer Knechtschaft erretten und will euch durch einen ausgestreckten Arm und große Gerichte erlösen.
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Und ich will euch mir zum Volk annehmen und will euer Gott sein; dass ihr erfahren sollt, dass ich, JHWH, euer Gott bin, der euch aus den Lasten Ägyptens herausführt. Und ich will euch in das Land bringen, darüber ich meine Hand aufgehoben habe, dass ich es Abraham, Jitzchak und Jaakow gebe. Das will ich euch zu besitzen geben, ich, JHWH. Mosche sagte solches den Kindern Israel. Sie aber hörten nicht auf ihn vor Missmut und harter Arbeit [...]. Mosche aber redete vor dem Ewigen und sprach: Siehe, die Kinder Israel hören mich nicht, wie sollte mich denn der Pharao hören?« (Schemot 6,6–12). Der Abgrund der Unmenschlichkeit in unseren Herzen ist so tief, dass wir keine Ahnung von uns selbst haben. Es ist, als ob ein kleines Kind den blauen Himmel sieht, und keine Ahnung davon hat, wie tief der dunkle Kosmos ist, und welche Gefahren er für unsere so kleine und so unsichere Erde und unseren Himmel verbirgt! Auch heute stellen wir Menschen ähnliche Fragen, wenn wir sehen, welch grausame Diktatoren so viele grausame Kriege gegen Menschen, gegen die Menschlichkeit, führen. Sie beweisen allen zusammen, dass ihre Herzen jeden Tag und jede Nacht ein neues Niveau der Grausamkeit erreichen können. Viele jüdische Frauen und Männer fragen deshalb Gott auch heute: »Unser Vater im Himmel, der Vater der Waisen und der Richter der Witwen, – bis wann [...]?« »Bis all die grausamen Sklavenhalter und ihre treuen Sklaven offensichtlich erfahren werden, dass ich der Ewige, JHWH, bin, der meine Kinder aus ihrer Mitte herausführt.« Die Kinder Israels: »Aber, unser Barmherziger Gott, wie lange können wir noch warten? Wir sind doch keine Supermänner und Superfrauen und unsere Geduld ist begrenzt! Wir leben nur hier und jetzt und wir wollen doch noch von diesem Leben ein bisschen Freude haben. Wir glauben doch, dass Du uns für das Paradies geschaffen hast und nicht für die Hölle!?« Wir hören danach nur die Stimme der feinen Stille: »Siehe, Ich habe dir »den vorübergehenden Machthaber« zum Gott gesetzt. Du sollst alles reden, was Ich dir gebieten werde, dass er
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meine Kinder aus seiner angeblichen Gewalt ziehen lassen soll [...], und alle Menschen auf der Erde sollen erfahren, dass ich der Ewige, JHWH, bin. Alle Menschen brauchen nur die Liebe, nur wenige jedoch verstehen das!«
Bo »Komm« – »Geh hinein« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 10,1–13,16) »Da sprach JHWH, der Ewige, zu Mosche: Geh zum Pharao, denn ich habe sein Herz und das Herz seiner Sklaven verstockt, damit ich diese meine Zeichen unter ihnen tue, und damit du vor den Ohren deiner Kinder und Kindeskinder verkündigst, was ich in Ägypten gewirkt und wie ich meine Zeichen unter ihnen vollführt habe, damit ihr erkennt, dass ich JHWH, der Ewige, bin« (Schemot 10,1–2). Unser Wochenabschnitt »Bo« erzählt, wie das jüdische Volk aus Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei, auszog. Das jüdische Volk litt unter dieser Sklaverei. Aber diejenigen, die das jüdische Volk versklavten, litten auch. Die Tora beschreibt zehn Plagen, – die Gotteszeichen –, die den Peinigern ihre inneren dunklen Schatten in ihrem täglichen Leben widerspiegeln. Eine der Plagen ist die »ägyptische Finsternis«. Der jüdische Kommentator Ketaw Sofer erklärt: »Wenn ein Mensch wählt, andere nicht zu sehen, so ist die Finsternis in der Welt.« Ägypten wurde in der Tora als »Haus der Slaven« beschrieben (Schemot 20,2). Die Menschen wurden dort als eine statistische Einheit behandelt, als Objekte sachlicher Interessen. Die Nazis haben in der Finsternis der Konzentrationslager die Menschen zu Nummern gemacht und danach ausgelöscht (Aharon Appelfeld). Deswegen ist
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das erste Merkmal des Hauses der Freiheit, der freien Gesellschaft, dass wir die Würde eines anderen Menschen sehen, seine Bedürfnisse berücksichtigen, seine Schwäche verzeihen können, so wie wir unsere eigene Würde respektieren, so wie wir unsere eigene Schwäche verstehen und verzeihen. Was bedeutet dann für uns heute die Plage der Finsternis? – In der Gemeinschaft, die aus Versklavenden und Versklavten besteht, kann sich niemand glücklich fühlen. Wenn wir über die Seele einer anderen Person hinweggehen, als ob sie nicht existieren würde, gehen wir über unsere eigene Seele hinweg. Wenn wir den Namen einer anderen Person in eine Zahl unter anderen Zahlen verwandeln, verwandeln wir unseren eigenen Namen in eine Zahl unter anderen Zahlen. Die Tora kannte dieses Gesetz bereits: »Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, dieweil ihr auch seid Fremdlinge in Ägyptenland gewesen« (Schemot 23,9). Wir waren Sklaven in Ägypten und in Auschwitz, um das Leiden unseres versklavten Mitmenschen zu verstehen und ein Haus der Freiheit für ihn hier und jetzt zu schaffen. Deshalb stellen wir unsere jüdischen Gemeinden wieder her, wo sie einst so schnell und so leicht entwurzelt waren. Aber ist es uns gelungen, uns von den Ursachen von Auschwitz zu befreien? »Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Haus der Sklaven, – aus der Finsternis der Sklavenhalter –, geführte habe« (vgl. Schemot 20,2). Wenn wir über JHWH, unseren Gott, sprechen, wissen wir, dass wir kaum etwas über ihn wissen können, aber wir erfahren, dass sich seine Gegenwart unter uns immer offenbart als das Licht, durch das wir uns selbst und einander sehen (Ps 36,10). Unsere inneren Vorurteile sind wie schwarze Brillen, die uns nicht ermöglichen, die Welt im Lichte
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Gottes zu sehen. Wir selbst können uns nicht aus der inneren Finsternis befreien. Aber wir können es uns wünschen, dass das Licht Gottes in unsere Seele eindringt wie ein kaum wahrnehmbarer Sonnenstrahl in ein Verlies! Deshalb kommen wir zurück zu unserer Tradition, treffen wir uns in unseren Synagogen, öffnen wir unser Gebetbuch, lernen wir mit unseren Vorfahren den Weg zur Freiheit! Nein, wir sind nicht weit vom Abgrund von Auschwitz entfernt, weil wir unsere eigene Seele in der Finsternis unserer eigenen Vorurteile, Unsicherheit und Ängste nicht bemerken! Das Geheimnis unseres Bundes mit Gott JHWH ist, dass wir uns ständig von unseren inneren Komplexen mit seiner Hilfe befreien, dass wir niemanden als eine Nummer unter vielen Nummern ausgrenzen oder ablehnen. Das ist nur dann möglich, wenn JHWH unser Gedächtnis von traumatisierten Erinnerungen befreit – von den Schatten anderer Menschen! Dann können wir endlich die Stimme der tiefen Stille hören: »Ich bin der ich bin, der Ewige, dein Gott, der ich dich aus dem Hause der Sklaven befreit habe, und du jetzt endlich der bist, der du bist!« Dann sind wir fähig, andere Menschen nicht in der ägyptischen Finsternis, sondern im Licht Gottes zu sehen: »Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, und in Deinem Licht sehen wir das Licht« (Ps 36,9).
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Beschalach»Als er ziehen ließ« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 13,17–17,16) ¨ »Und es geschah, als der Pharao das Volk ziehen ließ.« In unserem Wochenabschnitt »Beschalach« ziehen die Kinder Israels aus Ägypten weg. Als der Pharao und die ägyptische Armee hinter den Kindern Israel herjagen, sagt das Volk zu Mosche: »Waren nicht genug Gräber in Ägypten, dass du uns musstest wegführen, dass wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das getan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? Ist es nicht das, das wir dir sagten in Ägypten: Höre auf und lass uns den Ägyptern dienen? Denn es wäre uns ja besser, den Ägyptern dienen als in der Wüste sterben« (Schemot 14,10–11). Aber der Ewige hat seinerseits zu Mosche gesagt: »Was schreist du zu mir? Sage den Kindern Israel, dass sie ziehen« (Schemot 14,15). Ja, es war noch ein langer Weg für die Kinder Israels in die Freiheit. Ich habe schon einmal gesagt, dass die alten Israeliten damals mehr Angst vor der Freiheit hatten als vor der Sklaverei: »Denn es ist besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben!« (Schemot 14,12). Aber was für eine Sklaverei war das gewesen? Die Ägypter nutzten die Zwangsarbeit der Kinder Israels, um diese zu zerstören. Sie töteten ihre Kinder und sie verspotteten sie, sie traten ihre Menschenwürde mit Füßen, um ihren Widerstand leicht zerstören zu können. Diese alte Geschichte erinnert uns an die noch schrecklichere jüngste Geschichte unseres Volkes im aufgeklärten Europa. Über dem Tor von Auschwitz stand geschrieben: »Arbeit macht frei«. Die Nazi-Verbrecher hatten in diesem Todeslager vom ersten Moment an versucht, die Gefangenen »zu erziehen«, um sie in
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treue und mit ihnen übereinstimmende Opfer zu verwandeln. Die deutschen Nazis versuchten, die inneren Einstellungen der Opfer mit den Wünschen und Plänen der Tyrannen und Mörder in Einklang zu bringen, ohne dass diese, die Opfer, es merken sollten. Diese Sklaverei wurde in die Haut der Gefangenen eintätowiert: Der Name wurde durch eine Zahl ersetzt. Arbeit wurde in Todesstrafe verwandelt. Der grausame Mord wurde Freiheit genannt. Die wenigen Menschen, die Auschwitz überleben konnten, sollten noch viele Jahre mit ihren Erinnerungen an Auschwitz kämpfen, um sich von dieser inneren Sklaverei zu befreien. Lassen Sie uns in diesem Kontext zu der ewigen Tora zurückzukehren. In einem der vorangegangenen Toraabschnitte versprach Gott, nicht nur die Kinder Israels aus Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei, heraus zu bringen. Er versprach ihnen, dass er sie führen würde, buchstäblich, heraus aus der »Last der großen Leiden von Ägypten«: _©¨z©z ¡ | }© } u©~ ¥{ u ~ _~ §{ ¥ ~ © ~ ©{©{ u ~ }© } ~©|¥v Es ist das innere Stigma der Sklaverei, dass das Opfer das mörderische Wünschen und Streben des Henkers verinnerlicht. Dieses Gift wirkt tief drinnen in der Seele des Opfers weiter, selbst wenn die unmenschlichen Tyrannen schon lange vom Antlitz der Erde verschwunden sind. Die alten Hebräer in der Wüste sind an ihren Henker-Pharao durch innere Fesseln gebunden, und anstatt weiter in ihre Freiheit zu fliehen, bleiben sie stehen und wenden sich gegen Mosche mit schweren Anschuldigungen, in denen wir die ironische Stimme des Pharaos hören können: Und sie sprachen zu Mosche: Gibt es etwa keine Gräber in Ägypten, dass du uns weggeführt hast, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten herausgeführt hast? Haben wir dir nicht schon in Ägypten dieses Wort gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Denn es wäre für uns ja besser, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben! (Schemot 14,11–12). Aber Gott antwortete Mosche: »Warum schreist du zu Mir, gehe weiter!«, weil der Weg zur Freiheit offen ist für diejenigen, die um ihrer
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Freiheit willen zu handeln wagen. Dies ist der erste Schritt zur inneren Freiheit von der Sklaverei und der erste Schritt zur Erkenntnis JHWHs, des Gottes Israels. Viele suchen Freiheit außerhalb der Liebe des Ewigen, nur einige sehen die Welt in Seinem Licht.
»Was schreist du zu Mir? Sage den Kindern Israel, dass sie ziehen!« (Schemot 14,15) – und »der Ewige, dein Gott, verwandelte für dich den Fluch in Segen, denn der Ewige, dein Gott, hat dich lieb« (Dewarim 23,6).
Jitro »Jitro« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 18,1–20,23) §© Wenn ehrlicher Dialog stattfindet, findet unsere Seele zum Leben zurück. Wir öffnen in dieser Woche einen neuen Abschnitt der Tora – »Jitro«. Dies ist einer der einfachsten und zugleich einer der schwierigsten Abschnitte der Tora, weil er die Zehn Gebote oder (in besserer Übersetzung) die Zehn Worte Gottes – den Dekalog – enthält: ©v§u ~ u { ©}§¨ ²} ¡ Der Dekalog auf Hebräisch von vor 2100 Jahren . Alle Menschen auf der Erde, jeder Agnostiker, ja sogar jeder Atheist, auch wenn sie noch nie etwas über die Tora gehört haben, kennen etwas von diesem Dekalog: Entweder: Du sollst nicht morden. Oder: Du sollst nicht die Ehe brechen. Oder: Du sollst nicht stehlen. Oder: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Oder: Du sollst nicht Verlangen haben nach dem, was deinem Nächsten gehört.
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Diejenigen, die die Tora studiert haben, sagen mir sofort, dass der Rabbi die ersten fünf Gebote vergessen habe. – Nein, der Rabbi leidet nicht an Demenz. Für das Jüdische Volk ist es schon seit tausenden von Jahren üblich, täglich diese Gebote im Gebet zu erwähnen, einzelne Gebote sogar nicht nur durch schöne Gesänge, sondern auch durch schönes, gutes Tun. Sie werden mir zustimmen, dass jede Person, die aufrichtig diese moralischen Prinzipien befolgt, ein gern gesehener Gast in vielen Häusern ist, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem sozialem Status. Es geht nicht nur um die treuen Kinder Israels, sondern um viele Menschen auf der Welt, die diese Grundsätze als die moralischen Regeln der Gesellschaft akzeptieren. Ich möchte Sie heute einladen, etwas zu entdecken. Aus der Sicht unserer Tradition ist der Dekalog nicht nur eine Liste von Regeln der Etikette, sondern ein ständiger Dialog, der seinen Sitz in der Mitte unseres Lebens hat. Wenn wir heute den Anfang der Zehn Gebote hören, können wir antworten, und zwar Folgendes: Der Dekalog als Dialog in dem jüdischen Hauptgebet Amida! (Der Dekalog in der Amida am Schabbat – oder, wie das Volk Israel mit dem Gott Israels seit 3300 Jahren spricht).
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1 . S T E I N TA F E L : Z W I S C H E N G O T T U N D M E N S C H ( S C H E M O T 2 0 , 2 – 1 7 ; D E WA R I M 5 , 6 – 2 1 )
Schma Israel
Dekalog Asseret ha-dibbrot
Das Hauptgebet Amida am Schabbat
Mosche Rabbenu (der Prophet Mosche) lehrt sein Volk:
Der Gott Israels sagt:
Das Volk Israel antwortet:
Höre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig (Dewarim 6,4). (Das Volks Israel antwortet: Gesegnet sei der Name seines ruhmreichen Königreiches immer und ewig! (m. Joma 6,2) Du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
„Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“
Gesegnet seist Du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter
„Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“
Wer ist wie Du, Herr der Allmacht, und wer gleicht Dir, König […]
„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen
Vorbeter: Wir wollen Deinen Namen auf Erden heiligen, wie man ihn in den Höhen des Himmels heiligt, wie durch Deinen Propheten geschrieben: Einer ruft dem andern zu und spricht: Die Gemeinde: Heilig! Heilig! Heilig! JHWH Zewaoth! Voll ist die ganze Erde von seiner Ehre.
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„Gedenke des Schabbats: Halte ihn heilig!“ […] am siebten Tag ist der Schabbat des JHWH, deines Gottes!
Gesegnet seist Du, JHWH, der den Schabbat heiligt!
Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt.
Wir danken Dir, denn Du bist der Ewige, unser Gott und der Gott unserer Väter, immer und ewig (vgl. = 1. Gebot)! Unser Gott und Gott unserer Väter, segne uns mit dem dreifachen Segen der Tora, der geschrieben ist durch Deinen Knecht Mosche, ausgesprochen durch den Mund Aharons und seiner Söhne, der Priester Deines heiligen Volkes, wie es heißt (Dewarim 6,24–26).
(vgl.: Vater im Himmel und Vater auf der Erde)
2 . S T E I N TA F E L : Z W I S C H E N M E N S C H U N D M I T M E N S C H
Schma Israel – Höre Israel
Der Dekalog – Asseret ha-dibbrot
Das Hauptgebet Amida am Schabbat
Mosche Rabbenu (der Prophet Mosche) lehrt sein Volk:
Der Gott Israels sagt:
Das Volks Israel antwortet:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin JHWH (Wajikra 19,18).
Du sollst nicht morden; Du sollst nicht die Ehe brechen; Du sollst nicht stehlen; Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen; Du sollst nicht nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört, verlangen.
Der da Frieden stiftet in Seinen Himmelshöhen, er wird auch Frieden bereiten uns und ganz Israel und darauf sprecht: Amen! (6.–10. Gebot)
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Die Mündliche Tora vertieft diesen ewigen Dialog: Rabbi Joshua, Levis Sohn, sprach — Täglich geht eine Echo (Bat Kol) vom Berg Horeb aus, ruft und spricht: »Wehe dem Menschengeschlecht wegen der Verachtung des Gesetzes (Tora)!« Wer sich nicht mit dem Gesetz befasst, wird verworfen. Es heißt ja (Spr 11,22): »Wie ein goldener Ring in der Nase eines Schweins ist ein schönes Weib ohne Sitte.« Ferner heißt es (Schemot 32,16): »Die Tafeln sind ein Werk Gottes und die Schrift ist Gottesschrift, auf die Tafeln eingegraben.« Lies aber nicht Charut (eingegraben), sondern Cherut (Freiheit)! Es heißt ja (Bemidbar 21,19): »Von Mattana bis Nachaliel und von Nachaliel bis Bamot« (d. i. vom Geschenk zum Gotteserbe und von da zu den Höhen).5 Sehen wir die gedruckten Worte oder hören wir die feine Stimme unserer Freiheit! Viele unserer Zeitgenossen leben mit einem ständigen inneren Geräusch, wie ein fehlerhaftes Radiogerät, und gleichzeitig strahlen unsere Nervenantennen die Wellen der Störgeräusche in alle Richtungen aus. Dies ist eigentlich ein Zeichen vom »Haus der Sklaverei«. Aber wenn in unseren Seelen plötzlich Ruhe und tiefe Stille herrschen, dann beginnen wir zu verstehen, was in unserem Toraabschnitt vor 3300 Jahren gesagt wurde: »Ich bin JHWH, dein Gott [...], der dich aus dem Hause der Sklaverei herausgeführt hat [...].« Stimmt das? – Das ist Freiheit! Wenn wir die Freiheit Gottes in unserem Herzen spüren,
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5 Mischna, Sprüche Der Väter, Kapitel 6
hören wir Mosche Rabbenu: »Liebe JHWH, deinen Gott, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Wenn wir die Freiheit Gottes in unserem Herzen spüren, hören wir Mosche Rabbenu: »Liebe JHWH, deinen Gott, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Er ist dein Nächster! Gott spricht über die Freiheit im Dekalog. Mosche Rabbenu erklärt seine Freiheit durch Liebe. Fragen wir uns selbst: Gibt es Freiheit ohne Liebe? Gibt es Liebe ohne Freiheit? Hören wir die Antwort in uns selbst: Dann kann jeder Moment unseres jetzigen Lebens sich in einen Dialog mit dem Ewigen verwandeln – in der Stille zwischen dem einen Herzschlag und dem folgenden. Dann sind wir in der Lage, die bemerkenswerten Geheimnisse der Tora zu entdecken, nicht durch einen inneren Monolog, sondern durch den inneren Dialog: Dekalog als Dialog! Abschließend zitiere ich ein Gedicht von dem berühmten israelischen Dichter Yehuda Amichai (geb. 1924 in Würzburg; gest. 2000 in Jerusalem) als Beispiel für einen Dialogs zwischen den jüdischen Generationen. Er war erst 11 Jahre alt als seine Familie 1935 aus Deutschland in das damalige Palästina auswanderte! »Mein Vater war Gott und er wusste es nicht. Er gab mir die Zehn Gebote nicht mit Donner und Raserei; auch nicht mit Feuer oder Wolken, vielmehr mit Sanftheit und Liebe. Und er fügte Zärtlichkeit und gütige Worte hinzu und »bitte« und er sang das »Zachor veshamor« in einer einzigen Melodie und er flehte und weinte leise zwischen jedem der Gebote: »du sollst den Namen deines Gottes nicht missbrauchen«, tu es nicht, missbrauche nicht, bitte, du sollst kein falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten ablegen«. Und er umarmte mich fest und flüsterte in mein Ohr: »stehle nicht, begehe nicht Ehebruch, töte nicht« und er legte die Innenflächen seiner offenen Hände auf meinen Kopf wie beim Segen am Jom Kippur. »Ehre, liebe, damit du ein langes Erdenleben hast«. Und die Stimme meines Vaters war weiß wie das Haar auf seinem Kopf.
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Dann wandte er mir noch ein letztes Mal sein Gesicht zu wie an dem Tag, als er in meinen Armen starb und sagte: ich möchte noch zwei Gebote zu den zehn vorhandenen Geboten hinzufügen: das elfte gebot – »ändre nichts« und das zwölfte gebot – »ändre, ändre«! So sprach mein Vater zu mir und dann wendete er sich ab und ging und verschwand in seine wundersame Ferne.« Auf Hebräisch: ¡b a¡ ¡©§¡¨_¡¡§©§©§¨¡©© a a¨¦¢ ¢ _©¢ £¢ §¨§§ _§§¦¨© a§¦¨¡¡§¡©__¨_¨©_¨¨¨© ©£©¨a¥§©_¢©_©_¨¦©¦ a§£©§¨§¡©©£ a£¡§¡__ a¨§§¡¨¦ _©¡§©¨§¡££©£§ ©¨©_§¨¡`§m©§©§¨¡¨¢ ¥§m§ ©¨©_©¨_§¨¡`¨§ £§ a§¦§¡ Die Grundlage des Dialogs ist die Fähigkeit zu hören: »Schma – höre, Israel [...]!« (Dewarim 6,5). Die Fähigkeit zu hören erzeugt einen inneren Resonanzraum in der menschlichen Seele mit JHWH, unserem Gott. Dann sind für den Menschen nicht die Worte wichtig, sondern ihre Stille! In unserer äußerlichen Welt erklingen nicht die Worte, sondern die Scherben der Stille. Unsere innere Welt ist tiefer als der Weltraum. Wer das noch nicht erkannt hat, ist noch nicht bereit, über den Abgrund des Todes
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zu springen, um in einen wahren Dialog mit dem ewigen Leben zu kommen. Aber haben Sie keine Angst, wie Rabbi Nachman von Braslaw gelehrt hat: »kol ha-olam kulo – Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, aber das Entscheidende ist, keine Angst zu haben.« – Die schmale Brücke zwischen ich und du, zwischen ich und Ich: »Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Dewarim 6,5).
Mischpatim »Rechte« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 21,1–24,18) £¨ Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. »Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie etwas im Bezug auf Ihre Schafe fragen?« – »Natürlich«, sagte der Schäfer. Der Mann fragte: »Wie weit laufen die Schafe ungefähr am Tag?« – »Welche, die weißen oder die schwarzen?« – »Die weißen.« – »Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.« – »Und die schwarzen?« – »Die schwarzen genauso viel.« – »Und wie viel Gras fressen sie täglich?« – »Welche, die weißen oder die schwarzen?« – »Die weißen.« – »Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.« – »Und die schwarzen?« – »Die schwarzen auch.« – »Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?« – »Welche, die weißen oder die schwarzen?« – »Die weißen.« – »Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.« – »Und die schwarzen?« – »Die schwarzen genauso viel.« Der Spaziergänger war erstaunt. »Darf ich fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?« »Das ist doch ganz natürlich«, erwiderte der Schäfer, »die weißen gehören mir, müssen Sie wissen.« – »Ach so! Und die schwarzen?« – »Die schwarzen auch«, sagte der Schäfer. Der menschliche Verstand schafft törichte Kategorien, wo Liebe nur eine
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sieht« (Anthony de Mello). In unserem Wochenabschnitt »Mischpatim« lesen wir von »schwarzen Schafen«, die vom menschlichen Auge erschaffen werden: »Fremdlinge« (heute würden wir sagen: Ausländer, Zuwanderer oder Flüchtlinge), »Witwen«, »Waisen«, »arme Mitbürger«..., – wir könnten noch endlos weiter verschiedene »Objekte« aufzählen, die uns durch die menschliche Brille als nützlich und gleichzeitig als »schwarze« und als »weiße Schafe« erscheinen. Aber die Augen Gottes sehen uns auf ganz andere Art und Weise. Gott sieht in jedem von uns Sein Abbild, SICH SELBST, Seine zerbrechliche Widerspiegelung in unserem kleinen »ich«. Er sieht jeden von uns in Seinem Licht – durch Seine unfassbare Liebe des geistlichen Mutterleibs– die SCHECHINA. Schechina ist Gottes Gegenwart unter uns, oder, deutlicher gesagt, wir leben nur in dieser Realität, weil es nur in dieser Realität Gottes Liebe gibt. Von unserer Geburt an bis zu unserem Tod lernen wir eigentlich nur eine Lektion, die zum Inhalt hat: die Liebe. Wir wiederholen es an jedem Morgen und an jedem Abend: Liebe JHWH, deinen Gott, von ganzem Herzen [...]. Wir wiederholen es, weil wir diese Prüfung noch nicht bestanden haben. Wenn wir diese Prüfung jedoch endlich bestanden haben werden, werden wir uns selbst und einander nicht unter dem Blickwinkel von schwarzen und weißen Schafen wahrnehmen, sondern in der Realität Gottes: im ewigen, gemeinsamen Segenskreislauf der Liebe Gottes. Lesen Sie bitte die Tora noch einmal und entdecken Sie den außerordentlichen Hintergrund der jüdischen Gesetze, der Halacha. Die Halacha bedeutet »das Gehen«, das bewusste Gehen in Gottes Licht, das bewusste Strömen im Segenskreislauf: »Einen Fremdling sollst du nicht ausnutzen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwen oder Waisen ausnutzen.« Wir nennen den Gott Israels »unseren Vater im geistlichen Himmel«,
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und wir nennen denselben Gott »Vater der Waisen auf Erden« (Schemot 22,21–24). Wenn man die Waisen ausnutzt und sie zwingt, zum Himmel zu schreien, wird ihr Vater auf ihren Klageschrei hören und handeln, weil er mütterliches Mitleid mit seinen Kindern hat wie eine schwangere Frau mit ihrem Embryo in ihrem zarten Mutterleib. Du kannst dann nie zwischen dem leidenden Kind und der leidenden Mutter unterscheiden, weil sie eins sind im Leid und im Mitleid! Die Tora lehrt uns deshalb: Bitte, vergesst es nie, was ihr als »Kinder Israels« in Ägypten erfahren habt! Im Haus der Sklaven! Was haben wir als »Juden«, als »Feinde des dritten Reiches« erfahren? Was haben wir als »Juden«, als »Feinde des sowjetischen Volkes« im kalten stalinistischen Paradies erfahren? Vergiss nie, wie ausgebeutete Menschen in Stille schreien, und wie Gottes Stimme der tiefen Stille mit diesen Mitmenschen ewig weint! Vergiss das besonders nie, wenn du so stark und so frei bist, dass du die Schwäche der anderen ausnutzen kannst und möchtest! Hörst du dann doch die Stimme der feines Stille Gottes: »denn ich habe Mitleid!«? Nur Gott hat Mitleid. Mitleid ist eine Widerspiegelung Gottes in uns, die uns alle vom Anfang der Menschheit und bis zu ihrem Ende in seinem Mutterleib einschließt – wie das Licht alle Farben. Wenn ich in mir die Stille des Mitleids übertöne, dann hört Gott die Klageschreie meines unterdrückten Mitmenschen. Wenn ein Mensch seinen Mitmenschen ausnutzt, zeigt er der Öffentlichkeit damit unübersehbar, dass er in sich selbst vorher Gottes Abbild ausgenutzt und zerbrochen hat. Wenn wir heute mit Entsetzen grausame religiöse Kriege und Terror erleben sowie beginnende Unruhen in noch friedlichen Ländern wegen der »Fremden«, wissen wir, dass das Zerbrechen des Abbildes Gottes auf der Ebene der Völker schon längst geschehen ist! »Ja – sagt ein Mensch, – wir haben schon vor 3300 Jahren gehört: »Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst, weil Ich euch liebe!«, und dennoch gab es seitdem unendlich viele Kriege und Betrügereien.« Aber was sagt Gott in unserem Toraabschnitt über diejenigen, die
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Witwen und Waisen unterdrücken und ausnutzen? »Mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, so dass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne (und Töchter) zu Waisen werden.« Ist das der Weg der Liebe, um die menschliche Welt zu verbessern? Führt Gott auch Kriege mit brennendem Zorn und blutigem Schwert? Nein, Gott hat keine tödlichen Waffen, sondern der menschliche Verstand schafft törichte Kategorien und schreckliche Waffen für sich selbst. Der menschliche Verstand schreibt der Schechina, der Gegenwart Gottes, »Zorn und Schwert« zu. Der menschliche Verstand sät die grausamen Kriege »um Gottes Willen«, die so schreckliche Frucht bringen, und die Witwen und Waisen der grausamen Täter schreien in Stille genauso wie die Witwen und Waisen der ermordeten unschuldigen Menschen. Es passiert noch immer, weil wir das »Schma Israel« zwar seit 3300 Jahren wiederholen, es aber noch nicht gelernt haben, es miteinander zu leben. Deshalb sehen wir bis jetzt die »schwarzen und weißen Waisen«, aber Gottes Gegenwart sieht in seinem Mutterleib nur ihre leidenden Kinder. Gottes Gegenwart gibt ihren Kindern in dieser Lage die einzigartige Möglichkeit, unsere Mitmenschen in seinem Licht zu sehen. Das Licht ist ein vollkommen durchsichtiges Weiß, weil es alle lebendigen Farben und alle spielenden Fassetten in sich selbst einschließt. Wenn wir unseren Mitmenschen in seinem Licht sehen, erfahren wir uns selbst als dieses Licht: »Wenn du dem Hungrigen dein Herz darreichst und die verschmachtende Seele sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag!« (Jes 58,10) ¡¨a~ §z ¥z u {u z© z|£ { z§} v }¨± { u {§z{¡u~ ¨u ² ©{ z ¡ {
}£}z }¨± £{|¡§z z¦|£©z Teruma »Hebopfer« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 25,1–27,19) §© In unserem Wochenabschnitt »Teruma« bittet Gott, ihm ein Heiligtum
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(das Stiftszelt – Mischkan) in der Wüste zu errichten. Erstaunlich ist, dass das Mischkan nur durch Spenden und nicht mit einer besonderen Steuer gebaut wird. Man zahlt Steuern, weil man muss, aber man gibt eine Spende, weil man will. Deshalb ist der Aufbau des Heiligtums, der wichtigsten Einrichtung für das Volk Israel in der Wüste, nicht gesichert. Es hängt vom freien Wille eines jeden Menschen ab. Dies ist ein Hinweis darauf: Der Gott Israels wohnt nicht in einem schönen Gebäude. Er schafft selbst die ganze Raumzeit als eine unfassbare Wohnung für jeden von uns ohne Kredite aus der Bank, Er schafft sie nur aus seiner unergründlichen Liebe. Er will, dass wir ihm einen Wohnsitz bauen – allein aus selbstloser Liebe! Deine Spende für Gottes Heiligtum kommt von deinem Herzen: »den sein Herz dazu treibt« (Schemot 25,2). We-assu li mikdasch, we schachanti be-tocham: zv©u _u©~ { z¨ ±
uz ¦ ~ _~Bz¡ »Wenn die Söhne Israels Mir ein Heiligtum schaffen, werde Ich zwischen ihnen (oder: in ihnen!) anwesend sein” (Schemot 25,8). Denken wir daran: Mischkan (das Stiftszelt, der Wohnsitz) – weschachanti (Ich werde zwischen [ihnen] wohnen/anwesend sein) – und Schechina (Gottesgegenwart) – alle diese Begriffe haben nicht umsonst ähnliche Wurzeln (insbesondere in dem Verb »lischkon«)! Denken wir daran: wir legen nicht umsonst auf uns die Tefillin mit dem wichtigsten Text aus der Tora, dem Schma Israel: »Liebe deinen Gott von ganzem Herzen [...]«! Wenn ein Mensch von ganzem Herzen für Gottes Heiligtum das gibt, was er ganz besonders als sein Eigentum mag, macht er damit sein Herz für Gottes Gegenwart (Schechina) frei. Er schafft damit einen Resonanzraum der Liebe mit der Gottesgegenwart. Damit verwandelt die Schechina seine Seele in ein echtes, inneres Heiligtum, so wie ein Dirigent die Klänge der verschiedenen Instrumente in eine Symphonie vereint. Deshalb kann der ganze Weltraum diese liebevolle Seele nicht umfassen, sondern nur Gottes LIEBE selbst.
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Das ist das Geheimnis des Volkes Israel, das nun schon seit 2000 Jahren mit seinem Gott ohne äußerliches Heiligtum lebt, sondern nur mit einem Heiligtum, das es im Herzen trägt: »Wenn die Söhne Israels Mir ein Heiligtum schaffen, werde Ich in ihnen anwesend sein.”
Tezawe »Du sollst befehlen« — »Du aber gebiete« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 27,20– ) 30,10 ¥© Das ist das Geheimnis des Volkes Israel, das schon seit 2000 Jahren mit seinem Gott ohne sichtbares Heiligtum, sondern nur mit einem, das es im Herzen trägt, lebt! – Aber wie können wir dieses innere, leuchtende Heiligtum in der Finsternis der menschlichen Geschichte bewahren? Dafür gibt uns der heutige Toraabschnitt »Tezawe« einen Hinweis: a~©z u §| ©¡ { §vuz {©~©zu z©~ {} }¨z± }| B¦~|§z ¨~ ² | u ©}u} ¥{ © u u©z {
»Und du gebiete den Kindern Israel, dass sie dir bringen Olivenöl, lauteres, ausgepresstes, zur Beleuchtung, um die Lampe beständig aufzusetzen« (Schemot 27,20). Dieses Gebot in Bezug auf das Ewige Licht (Ner Tamid) hängt mit dem Bau des Heiligtums (des Mischkan) zusammen. Aber wie kann die Lampe so lange vor dem Ewigen vom Abend bis zum Morgen, schon seit 2000 Jahren, brennen? Wie erfüllt das Volk Israel bis heute dieses Gebot ohne Tempel in Jerusalem? Was brennt in uns, und wer strahlt in uns als ewiges Licht inmitten der Finsternis? – »Rabbi Berechia sagte: Der Augapfel gibt durch seinen dunklen Teil (die Pupille) dem Menschen Sicht, und nicht durch das Weiße. Der
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Ewige sagte: Ich schuf das Licht in der Mitte der Finsternis. Brauche ich dein Licht? Rabbi Berechiah gab ein weiteres Beispiel: Und die Erde war wüst und leer. Finsternis lag über dem Abgrund (Bereschit 1,2). – Was folgt? Da sprach Gott: Es werde Licht. Der Ewige sagte: Ich schuf das Licht in der Mitte der Finsternis. Brauche Ich dein Licht?« – Rabbi Abba (andrerseits) sagte: Der Ewige gedachte um seiner Gerechtigkeit willen, das Gesetz (die Tora) groß und herrlich zu machen (Jes 42,21). Ich stifte die Gebote nur für euch (die Gebote in Bezug auf die Leuchter, um dein Licht leuchten zu lassen! (Wajikra Rabbah 31,7). Laut einem anderen Midrasch: »Gott schuf das einzigartige ewige Licht in der Mitte der weltlichen Finsternis, es ist der Geist des Menschen: »Eine Leuchte ist das Wort«! Wer ein Gebot erfüllt, hat vor dem Ewigen eine Lampe angezündet und er belebt seine Seele wieder, wie es heißt (Spr 20,27): »Der Geist der Menschen (Nischmat Adam) ist eine Leuchte (Ner) des Ewigen« (Schemot Rabbah 36,3)6 Rabbi Berechia fragt, ob Gott das Licht von den Menschen braucht. Er hat doch selbst das Licht geschaffen. Rabbi Abba antwortet: »Ja, Er braucht dein Licht! Er hat dir deswegen die Gebote in Bezug auf die Leuchter gegeben, die Hinweise, wie der Mensch seinen Geist als das Ewige Licht inmitten der Finsternis wiederzünden kann.« Die Schechina verwandelt deine Seele in ein echtes, inneres Heiligtum, in dem dein Geist als Ewiges Licht Gottes strahlt, wenn du Taten der Liebe an deinem Mitmenschen tust, die sittliche Gebote, wie Gott dich durch seine Tora lehrt. Das ist das Geheimnis des Volkes Israel, das schon seit 2000 Jahren mit seinem Gott ohne äußerliches Heiligtum lebt, sondern nur mit einem Heiligtum, das es im Herzen trägt! Dieses Geheimnis hat Rabban Jochanan Ben Sakkai vor 2000 Jahren inmitten der Finsternis, inmitten der Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem, entdeckt: »Die Geschichte wird erzählt, dass Rabban Jochanan Ben Sakkai und Rabbi Joshua durch die Ruinen des Tempels gingen. Rabbi Joshua sagte: »Wehe uns, dass der Ort, an dem die Sühne für die Sünden von Israel 6 vgl. http://www.hagalil.com/judentum/torah/leibowitz/tetzawe.htm
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getan wurde, zerstört worden ist!« .Aber Rabban Jochanan Ben Sakkai antwortete: »Sei nicht traurig, mein Sohn! Hast du nicht gewusst, dass wir ein Mittel der Sühne haben, das so gut wie dieser Altar ist? Das ist Gemilut Chassadim! – Die Liebestaten für Mitmenschen von ganzem Herzen, wie es gesagt wird: Denn an Liebe habe ich Wohlgefallen und nicht am Opfer!« (Hos 6,6; Awot d«Rabbi Natan 4,21). Der Segenskreislauf strömt vom Mensch zum Mitmenschen im Rhythmus der Herzen, in dem er Gottes Atem – Ruach Kodscho – bringt. Der Segenskreislauf fließt vom Mensch zum Mitmenschen aufgrund seiner Liebestaten (Gemilut Chassadim). Der Segenskreislauf entzündet noch immer unseren Geist als ewiges Licht Gottes in der Mitte der Finsternis, nach der Zerstörung des Tempels und nach der Schoa, trotz der ständigen Zerstörung der Menschlichkeit in unserer unsicheren Welt. Es ist die Aufgabe des Volkes Israel, das Gebot des »Ner Tamid« (Ewiges Licht) zu erfüllen. Der Gott Israels braucht dich, weil du sein Leuchten in der Mitte der Finsternis bist! Haben wir, Töchter und Söhne Israels, das gewusst? – Wenn wir von den schrecklichen Katastrophen auf der Erde erfahren, fragen die Menschen oft: »Wo war Gott?« Im selben Moment fragt uns das Echo des Allmächtigen: »Und wo warst du? Ich habe dich als Licht mitten in der Finsternis erschaffen.«
Ki Tissa »Wenn du erhebst« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 30,11–34,35) ¨© »Ein gottesfürchtiger Jude hat seinen elfjährigen Sohn zu einem bekannten Rabbiner mitgebracht. Es war ein langer Weg: drei Tage mit dem Bus. »Kwod ha-Raw (Euer Ehren, Herr Rabbiner)«, sagte der Vater, »mein Sohn möchte Rabbiner werden. Deshalb kommen wir zu Ihnen!« Der Rabbi war sehr berührt von der Ernsthaftigkeit der Absichten des
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Jungen. »Lieber David«, sagte er zu dem Jungen, »du kannst mich jetzt alles fragen, was dir besonders wichtig ist.« »Sagen Sie mir, Herr Rabbiner, was machen Sie eigentlich noch, außer in der Synagoge Dwar Tora zu predigen?« »Oh«, sagte der alte Rabbi und lächelte sanft. »Ich sehe, dass Du kein Rabbi, sondern der Präsident der Gemeinde sein wirst!«« In unserem Toraabschnitt erfahren wir, wie Mosche die Bundestafeln zerbricht: »Mosche aber wandte sich um und stieg vom Berg hinab, die zwei Tafeln des Bundes in seiner Hand; diese waren auf beiden Seiten beschrieben, vorn und hinten waren sie beschrieben. Und die Tafeln waren das Werk Gottes, und die Schrift war die Schrift Gottes, eingegraben (charut) in die Tafeln. Es geschah aber, als er nahe zum Lager kam und das (goldene) Kalb und die Reigentänze sah, da entbrannte Mosches Zorn, und er warf die Tafeln weg und zerschmetterte sie unten am Berg [...] (Schemot 32,15–19). Die Mündliche Tora fragt Folgendes: Sollen wir etwas Zerbrochenes wegwerfen? – »Rabbi Jehuda sagt: Ihr sollt einen alten Mann, der in seinem Alter die Tora vergessen hat, ehren, denn es heißt: Die Tafeln und die Stücke der zerbrochenen Tafeln wurden in den Aron (Bundeslade) gelegt« (Talmud Brachot 8b). Ein alter jüdischer Mann und eine alte jüdische Frau, die ihr Torawissen vergessen haben oder, wie allen Menschen aus der ehemaligen UDSSR, sogar die Tora nie hatten lernen können, ähneln den Bruchstücken der Tafeln des Bundes. Aber ihr Wissen, das nur (noch) bruchstückhaft vorhanden ist, darf nicht weggeworfen werden. Im Gegenteil, wir sollen es mit Gottesfurcht annehmen, um von Gott gesegnet zu sein. Wir wollen immer alles richtig machen, um ein Ideal zu erreichen, und so auch alte jüdische Menschen beurteilen, die vorher keinen Zugang zum Judentum hatten. Daher ist die Versuchung groß, »zerbrochene Dinge« in unserem Leben »wegzuwerfen«, sie zu ignorieren, und so zu
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tun, als existierten sie nicht. Wenn wir die Lektion der zerbrochenen Tafeln des Bundes lernen und zerbrochene Dinge in unserem Leben zusammenfügen, können wir die unsichtbaren, zerbrochenen Tafeln als das Werk Gottes verstehen: Rabbi Jehoschua, Levis Sohn, sagte: »Und es steht geschrieben über die Gesetzestafeln (Schemot 32,16): Gott hatte sie selbst gemacht und selber die Schrift eingegraben. Du sollst aber nicht lesen charuth, das ist: »eingegraben«, sondern »cheruth«, das ist: Freiheit, denn ein freier Mensch ist nur, wer das Gesetz (Tora) erforscht.Wer das Gesetz erforscht, wird auch (zu Gott) erhöht [...]« (Mischna, Sprüche Der Väter, Kapitel 6). Können wir auch heute entdecken, dass sich die Hinweise zur unbegrenzten Freiheit der Liebe in jedem Bruchstück der Tafeln des Bundes widerspiegeln, wie sich in jedem Spiegelscherben die riesige Sonne widerspiegelt! – Das Abbild Gottes im Menschen ist schon seit Milliarden Jahren wie eine zerbrochene Vase: Je mehr durch Menschen verursachte Katastrophen im Verlauf der Geschichte geschehen, desto mehr Scherben bleiben in jeder Seele zurück. Es gibt nur eine einzigartige Möglichkeit für die Rettung der Welt vor dieser totalen Zerstörung: Jeden einzelnen Menschen so sorgsam mit Gottesfurcht zu behandeln, als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt. Stellen Sie sich vor, jemand hat einmal seine Lieblingsmarmorvase eines alten genialen Bildhauers fallen gelassen. Ein Archäologe fand die Vase in der Müllkippe der antiken Stadt, klebte die vielen kleinen Scherben zusammen, und jetzt trägt er sie sorgfältig in seinen Händen, um sie an der zentralsten Stelle in seiner weltberühmten Sammlung zu platzieren. Wenn man diese Szene versteht, kann man auch verstehen, was die Gemeinderabbiner seit der Zeit von Mosche Rabbenu in ihren Gemeinden eigentlich tun.
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Gab es Leben auf dem Mars? Der Mars war einmal ein sehr gemütlicher Planet mit einer außergewöhnlichen Atmosphäre. Das Leben auf dem Mars konnte sich in diesem Gewächshaus viel schneller als auf der Erde entwickeln. Wie die Marsianer sagten, lieber weiter weg von der Sonne, als an der heißen Erde leben! Diese hochentwickelte Zivilisation auf dem Mars hatte auf der Basis einer genialen Theorie der Magnetfelder eine sehr effektive Waffe geschaffen, schon lange vor der Steinzeit der Menschen. Die marsianischen Kriege zerstörten aber bald den Magnetfeldschutz des Planeten, und seine angenehme Atmosphäre ging verloren. Der Mars verwandelte sich in die ewige rote Wüste. Die sich sehr langsam entwickelnden Erdlinge schickten schließlich einen neugierigen Roboter auf den verlockenden Planeten Mars. Der Roboter hat alle Ecken dieses riesigen Wüstengrabes untersucht, bis er goldene Platten mit einem hauchdünnen Relief entdeckte – es waren versteckte semantische Zeichen. Einhundert Wissenschaftler untersuchen seitdem Tag und Nacht die Aufnahmen von den goldenen Platten, um die Mars-Chroniken zu entziffern, aber die Regierung hat entschieden, auf eine vorzeitige Veröffentlichung zu verzichten. Der Geheimdienst hat empfohlen, die Entdeckung vorerst geheim zu halten, in der Hoffnung, dass unter den gefundenen Datensätzen eine Formel der alten magnetischen Waffen vom Mars entdeckt wird. Allerdings, ich habe ein kleines Fragment aus der marsianischen Geschichte, ein Fragment ohne großen wissenschaftlichen Wert für die Armee, bekommen – natürlich unter der strengsten Schweigepflicht. Umso interessanter ist es für mich, diese einzigartige Entdeckung mit Ihnen zu teilen, aber natürlich unter strengster Schweigepflicht. »[...] Im 15. Jahr der Regierung von Nil-Ats, dem Vater des marsianischen Volkes, wurden zwei junge Marsianer, Mleh-Liw und Tum-leh, freundlicherweise für die Ausbildung ihrer guten Manieren in eine Spezialschule in der roten Wüste geschickt. Mleh-Liw und
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Tum-leh waren wegen ihrer dummen Unerfahrenheit nicht in der Lage gewesen, zu verstehen, wie barmherzig und edel Nil-Ats, der Vater des marsianischen Volkes, war. Die jungen Marsianer Mleh-Liw und Tumleh hatten eine Untergrundzeitung verbreitet, in der sie betonten, dass Nil-Ats ein wirklich schrecklicher Diktator sei. Er sei gleichzeitig ein Richter, ein Staatsanwalt und ein Henker. Er würde Konzentrationslager in der wasserlosen roten Wüste bauen, in denen bereits ein Viertel des marsianischen Volkes ermordet worden sei, und noch andere schreckliche Verleumdungen gegen den Vater des Vaterlands veröffentlichten sie [...]. Nil-Ats, der Vater des marsianischen Volkes, hat sich besonders darum gekümmert, dass die Würde aller Marsianer unantastbar sei, besonders seine eigene Würde. Deshalb schickten seine Beamten die siebzehnjährigen unerfahrenen Freunde sofort in eine Spezialschule in der roten Wüste! Der Vater des marsianischen Volkes starb nach 43 Jahren Herrschaft im Alter von 120 Jahren. Der neue Führer des marsianischen Volkes, Rel-Tih, begnadigte die ganze Generation von Mleh-Liw und Tum-leh, um Platz zu schaffen für die edle Erziehung der neuen jungen Generation! Mleh-Liw und Tum-leh kehrten in ihre Heimatstadt zurück und bekamen sofort eine Zwei-Zimmer- Wohnung. Es war für sie ein großer Luxus! In der Schule der edlen Erziehung in der roten Wüste hatten sie viele Jahre auf Pritschen in vier Etagen geschlafen. Jede Pritsche war einen Kilometer lang. Mleh-Liw war agiler und fähiger für Handarbeiten. Er baute schnell die Wohnung nach ihrem Geschmack um. Er befestigte Gitter aus Stahl an den Fenstern gegen die vielen Diebe und setzte auch spezielle Schlösser gegen Räuber in jede Zimmertür ein. Jede Tür wurde mit Stahl ausgekleidet und bei Gefahr konnten die Bewohner sie leicht unter Strom setzen. Falls Banditen es schafften, die Außentüren aufzubrechen, bräuchten sie noch viel Zeit, um sich Zugang zu den inneren Räumen zu verschaffen. Mleh-Liw hat außerdem noch ein hochmodernes Alarmsystem installiert! Die Polizei könnte zu jeder Zeit schon beim ersten Signal erscheinen. Ja, Mleh-Liw war ein schlauer Kerl!
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Die neue Wohnung war nach drei Tagen geschützt und fertig. Mleh-Liw saß mit Tum-Leh in seinem Zimmer mit einer Flasche Wodka im Bewusstsein völliger Sicherheit. Die beiden Freunde feierten ein bescheidenes Fest, um den erfolgreichen Abschluss der Arbeiten zu feiern. Tum-Leh wusste nicht, wie er seinem alten Freund danken könne. In eine solchermaßen geschützte Wohnung könnte man ohne Zweifel in der Zukunft eine gute Ehepartnerin einladen! Mleh-Liw aber war bescheiden und wollte die Dankbarkeitsbezeugungen gar nicht hören. Er stand auf, um zur Toilette zu gehen, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür mit einem Schlüssel von außen. »Was für ein Witz!«, rief Tum-Leh, »öffne sofort die Tür und gib mir meinen Schlüssel zurück!« »Alles in Ordnung«, versicherte ihm Mleh-Liw, »unser großer Führer Rel-Tih hat den Befehl gegeben, Privatschulen für die Umerziehung des Volkes in jedem einzelnen Haus, in allen Städten und Dörfern zu schaffen, da die Schulen in der roten Wüste schon lange nicht mehr ausreichen. In dieser Situation ist jeder von uns verpflichtet, sich um seinen geliebten Freund persönlich zu kümmern!« »Warte, warte!«, rief Tum-Leh, »und warum habe ich über diesen Befehl in der Presse oder in öffentlichen Versammlungen nichts gehört?!« »Fürsorgliche Freunde haben sich selbst an die Beamten gewandt, um über die Fehler ihrer Mitbewohner zu berichten. Sie und nur sie haben danach das Zertifikat erhalten, eine Privatschule zu Hause zu eröffnen!« »Also spionierst du mich aus?« Tum-Leh war wütend. »Oh, du ... (hier konnten die Wissenschaftler die marsianische Idiome nicht entziffern)!« »Du bist in guten Händen«, sagte ruhig Mleh-Liw, »Wasser und Brot werden für dich bis zu deinem sorglosen Tod zur Verfügung gestellt!« »Na, ja,« plötzlich schien Tum-Leh nüchtern und ruhiger zu werden, »in einem Land, wo jeder zweite Bürger ein Gefangener ist, soll jeder erste ein Wachmann sein! Zu diesem Zeitpunkt kommst du mir zuvor, aber es ist eindeutig nicht für lange. In der roten Wüste wächst eine neue Generation von Aufsehern heran, alle diejenigen, die noch in der Lage sind, auf Kosten der anderen zu überleben! Aber was ist das für Leben?«
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Fragen Sie mich noch nach dieser decodierten Geschichte: »Gab es Leben auf dem Mars?« Also, ich antworte Ihnen mit der Frage des marsianischen Bürgers: »Aber was ist das für Leben?!« Liebe Freunde und Freundinnen, ich gratuliere Ihnen zur Entdeckung der Mars-Chroniken. In dem folgenden Toraabschnitt »Ki Tissa« lernen wir, welche Verbindungen es gibt zwischen der roten Marswüste und der grauen Wüste Sinai in der menschlichen Geschichte. Im Folgenden zitieren wir nur einige Fragmente aus der Chronik der Wüste Sinai für künftigen Forschungen: »Als aber das Volk sah, dass Mosche lange nicht von dem Berg herabkam, da sammelte sich das Volk um Aharon und sprach zu ihm: Auf, mache uns Götter, die uns vorangehen sollen! Denn wir wissen nicht, was mit diesem Mann Mosche geschehen ist, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat. Da sprach Ahron zu ihnen: Reißt die goldenen Ohrringe ab, die an den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter sind, und bringt sie zu mir! Da riss sich das ganze Volk die goldenen Ohrringe ab, die an ihren Ohren waren, und sie brachten sie zu Ahron. Und er nahm es aus ihrer Hand entgegen und bildete es mit dem Meißel und machte ein gegossenes Kalb. Da sprachen sie: Das sind eure Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben! (Schemot 32,2–4). ]...[ Und er (Mosche) nahm das Kalb, das sie gemacht hatten, und verbrannte es mit Feuer und zermalmte es zu Pulver und streute es auf das Wasser und gab es den Kindern Israels zu trinken« (Schemot 32,20). Schließlich hören wir noch eine andere Stimme, diesmal aus der Eiswüste von Stalin! Was sagte Ostap Bender, als er seine lang erwartete Million vom illegalen Millionär Koreiko erhielt? »Also bin ich ein Millionär!«, sagte Ostap mit einer fröhlichen Überraschung. – »Der Traum eines Idioten wurde erfüllt!« Ostap wurde plötzlich traurig. Er staunte über die Alltäglichkeit der
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Situation, ihm schien es seltsam, dass die Welt sich in diesem Augenblick nicht geändert hat, und dass drumherum nichts, absolut nichts passierte (vgl. »Das Goldene Kalb«, Kapitel 30, ein 1931 veröffentlichter satirischer Roman der sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow). Sie erinnern sich wahrscheinlich, dass Ostap Bender sich von seinem »Goldenen Kalb« an der Grenze zwischen der UdSSR und Rumänien verabschieden musste. Genau so erging es den Kindern Israels, die das Gold ihrer Nachbarn in Ägypten vor ihrem Auszug eingesammelt hatten: »Und die Kinder Israels handelten nach dem Wort Mosches und forderten von den Ägyptern silberne und goldene Geräte und Kleider. Dazu gab der Ewige dem Volk bei den Ägyptern Gunst, dass sie ihr Begehren erfüllten; und so beraubten sie die Ägypten« (Schemot 12,35–36). Auch sie haben diesen Schmuck wegen des Goldenen Kalbes in einem einzigen Augenblick in der Wüste Sinai wieder verloren. Aber lassen Sie uns über diese Ereignisse nächstes Mal sprechen, wenn wir uns endlich wieder in unserem Beit Midrasch treffen.
Wajakhel »Und er versammelte« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 35,1–38,20) ¦ Am Anfang unseres Wochenabschnitts lesen wir: »Und Mosche versammelte die ganze Gemeinde der Kinder Israels und sprach zu ihnen: Das sind die Worte, die der Ewige geboten hat, dass ihr sie tun sollt: Sechs Tage soll gearbeitet werden, aber am siebten Tag sei euch heiliger Schabbat Schabbaton dem Ewigen« (Schemot 35,1–2). Der Schabbat ist ursprünglich der Ruhetag für alle Menschen. Gemäß der
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Tora schuf Gott am sechsten Schöpfungstag den Menschen (Bereschit 1,27). Er schuf danach auch den siebten Tag als lebenspendende Quelle des persönlichen Lebens seines Abbildes (Bereschit 2,2–3). An diesem Tag sieht Gott sein Spiegelbild in den Augen des Menschen und der Mensch sieht sein Spiegelbild in den Augen Gottes. An diesem Tag sieht ein Mensch seinen Mitmenschen nicht als Instrument für seine egoistischen Interessen, sondern so, wie das Licht das Licht sieht: Das Licht der Persönlichkeit ist wie ein Fluss, der aus den Ufern von Zeit und Raum ausbricht. Es ist eine einzigartige Wiederholung des siebten Tages, wie ein einziger Tag der Tage (Schabbat Schabbaton), der Tag der ewigen Liebe und des ewigen Lebens in dem Ozean der schnell entschwindenden Zeit. Wir üben an diesem Tag immer noch den Verzicht auf die Arbeit für unsere zeitlichen Bedürfnisse, um zu lernen, unsere Mitmenschen nicht zu »instrumentalisieren«. Wir versammeln uns in Synagogen, um dort einen inneren, persönlichen Resonanzraum und eine Resonanzzeit mit unseren Mitmenschen zu schaffen, so dass jeder von uns – wie der erste Mensch – das erste Licht des Lebens sieht und hört. So kommen wir wieder und wieder zurück zum Mutterschoß der ursprünglichen Liebe! Wir schaffen Schabbat zusammen mit Gott, wenn wir unsere sterbliche Zeit und unseren sterblichen Raum unseren Mitmenschen widmen. Welch wunderschöner Austausch! Wir geben unsere Sterblichkeit her, um Gottes Ewigkeit zu empfangen; wir verzichten auf den Fluch der Zeitlichkeit, um so zusammen den Segen der liebenden Ewigkeit zu ererben. Während sechs Werktagen suchen wir nach der Nahrung für sieben Tage, aber am siebten Tag suchen wir nach den Menschen, die nicht nach dem Unseren suchen, sondern nach uns! Es ist ein Schabbat-Gottesdienst für das ganze Volk Israel. Es ist die Zeit der Zeiten für unsere Versammlung, wenn wir die lebendige innere Resonanz mit unseren Mitmenschen schaffen, um aus den Ufern von Zeit und Raum auszubrechen. Das ist Schabbat Schabbaton, ein jüdischer Ruhetag in der Liebe der Ewigkeit!
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Ein guter Gedanke für den Tag aus der Haftara: »Darum will ich meinen großen Namen wieder heilig machen, der vor den Heidenvölkern entheiligt worden ist, den ihr unter ihnen entheiligt habt! Und die Heidenvölker sollen erkennen, dass ich der HERR bin, spricht GOTT, der Herr, wenn ich mich vor ihren Augen an euch heilig erweisen werde. Denn ich will euch aus den Heidenvölkern herausholen und aus allen Ländern sammeln und euch wieder in euer Land bringen. Und ich will reines Wasser über euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von aller eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen. Und ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres legen; ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein Herz aus Fleisch geben; ja, ich will meinen Geist in euer Inneres legen und werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechtsbestimmungen befolgt und tut. Und ihr sollt in dem Land wohnen, das ich euren Vätern gegeben habe, und ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein« (Jecheskel 36,23–28).
»The Blessing« — Öl auf Leinwand 127 x 137 cm — Lynne Feldman
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Pekude »Die Zählungen« (Schemot / 2. Buch Mose / Exodus 38,21–40,38) ¦£ Im vorherigen Wochenabschnitt bittet Gott Mosche, sein Heiligtum (das Stiftzelt »Mischkan«) in der Wüste zu errichten. In diesem Wochenabschnitt lesen wir über den Abschluss des Baus des Mischkan. Es war vor 3300 Jahren. Die Alten Hebräer bauen ein Haus für Gott, dass Er unter ihnen wohne. Doch seit zweitausend Jahren lebt das Volk Israel nun wieder ohne Tempel und ohne Opfer. Es hat gelernt, seine Beziehung zu Gott auf einer ganz anderen Basis zu bauen. Aber heute versuchen fundamentalistische Kreise, uns in die Vergangenheit zurück zu bringen, einen Tempel zu bauen, um Opfer zu bringen. Können Sie sich einen großen Schlachthof im Zentrum von Jerusalem, auf dem Tempelberg, vorstellen?! Die Priester schlachten Vieh neben dem Altar, vom Morgen bis zum Abend, die Menschen beten, die Schafe klagen. Deshalb existiert die mündliche Tora (Tora sche-be-al-Päh) neben der schriftlichen Tora (Tora sche-bi- Chtaw), damit wir nicht in der Vergangenheit verhaftet bleiben. Wir leben heute auf dieser Erde, weil rund um sie herum eine Atmosphäre erschaffen wurde, in der wir atmen können. Die mündliche Tora ist mit der schriftlichen Tora verbunden wie die Atmosphäre mit unserer Erde. In unserem Toraabschnitt spricht die schriftliche Tora über den Opferaltar für die Versöhnung mit Gott: »Danach stellte er (Mosche) auch den Brandopferaltar aus Akazienholz her, fünf Ellen lang und fünf Ellen breit, viereckig, und drei Ellen hoch. Und er brachte die zu ihm gehörenden Hörner, die aus einem Stück mit ihm waren, an seinen vier Ecken an, und überzog ihn mit Erz. Und er fertigte alle Geräte zu dem Altar an, die Töpfe und die Schaufeln und die Sprengbecken, die Gabeln und die Kohlenpfannen: Alle seine Geräte machte er aus Erz. Und er stellte für den Altar ein Gitter wie ein Netz her, aus Erz, unter seiner Einfassung, von unten her bis zur halben Höhe des Altars, und goss vier Ringe an die vier Enden des ehernen Gitters zur Aufnahme der
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Tragstangen. Die Tragstangen fertigte er aus Akazienholz an und überzog sie mit Erz und steckte sie in die Ringe an den Seiten des Altars, dass man ihn damit tragen konnte. Und er machte ihn inwendig hohl, aus Brettern. Und er machte das Becken aus Erz und sein Gestell auch aus Erz, aus den Spiegeln der dienenden Frauen, die vor dem Eingang der Stiftshütte Dienst taten« (Schemot 38,1–8). Wie ergänzt diese Weltanschauung die mündliche Tora? – »Wir haben ein Mittel der Sühne, das so gut wie dieser Altar ist! Das ist Gemilut Chassadim! – Die Liebestaten für Mitmenschen von ganzem Herzen – wie es gesagt wird: »Denn an Liebe habe ich Wohlgefallen, und nicht am Opfer!« (Hosea 6,6; Awot d«Rabbi Natan 4,21). In unserem Wochenabschnitt lesen wir über den Abschluss des Baus des Mischkan: »Und Mosche richtete die Wohnung auf; und er stellte die Füße auf und setzte die Bretter darauf und befestigte ihre Riegel und richtete die Säulen auf. Und er breitete das Zelt aus über die Wohnung und legte die Decke des Zeltes obendrauf, so wie der Herr es Mosche geboten hatte. Und er nahm das Zeugnis und legte es in die Lade und steckte die Tragstangen an die Lade, und er legte den Sühnedeckel oben auf die Lade. Und er brachte die Lade in die Wohnung und hängte den verhüllenden Vorhang auf und verhüllte die Lade des Zeugnisses, so wie der Herr es Mosche geboten hatte. Und er setzte den Tisch in die Stiftshütte, an die Nordseite der Wohnung, außerhalb des Vorhangs, und er schichtete die Schaubrote darauf vor dem Ewigen, so wie der Ewige es Mosche geboten hatte [...] So vollendete Mosche das Werk. Da bedeckte die Wolke die Stiftshütte, und die Herrlichkeit des Ewigen erfüllte die Wohnung« (Schemot 40,18–23,33–34). Der Prophet Jeschajahu hat uns Beispiele dafür gegeben, wie Liebestaten für Mitmenschen unsere Seele mit der Herrlichkeit des Ewigen erfüllen: »Brich dem Hungrigen dein Brot, und die, so im Elend sind, führe ins Haus; so du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieht dich nicht von deinem Mitmenschen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Mor-
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genröte, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Ewigen wird dich zu sich nehmen« (Jes 58,7–8). z§ ¨u ² z ~ B_v©u ~ ~§¡z }§ ©~ `u~m©~ z ~©z u ~B§u~~¡ { _z} {|¡§z z §£z v z vu_z¦} ¥~ z} £z {z nz¥ ©~ z§| z© z§ { _z§} v§{¨u { u ± {¡{¦z u ~ zauz¡{ © ©~ az}£ { {
In unserem Wochenabschnitt lesen wir über die Schaubrote (Lechem ha-Panim). Das waren zwölf ungesäuerte Brotkuchen – nach der Zahl der zwölf Stämme Israels – die als ständige »Vertretung« vor Gott im Tempel lagen. Sie wurden für jeden Schabbat – eines auf das andere – auf einem goldenen Tisch vor Gott im Heiligtum des Stiftszeltes (des Mischkan) (und im Tempel in Jerusalem) als Opfergabe aufgestellt. Die Priester haben diese Brote nach dem Ausgang des Schabbats gegessen. Lechem ha-Panim galt für Israel als Zeichen des Ewigen Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel (Wajikra 24,5). Wie ergänzt diese Weltanschauung die Mündliche Tora? »Rabbi Simon sagte: Wenn drei an einem Tisch essen und nicht reden über die Worte des Gesetzes, dann ist es so, als ob sie von Götzenopfern äßen, denn es steht geschrieben (Jes. 28,8): Denn alle Tische sind voll Speiens und Unflats an allen Orten. – Wenn aber drei an einem Tisch essen und reden über die Worte des Gesetzes (der Tora), dann ist es so, als ob sie von Gottes Tisch äßen, denn es steht geschrieben: Und er sprach zu mir: Das ist der Tisch, der vor dem Ewigen stehen soll« (Hesekiel 41,22; Pirkei Awot 3,4). Der große liberale Rabbiner Leo Baeck hat die Erfahrungen der frühen Rabbiner zusammengefasst: »Was wir an unseren Mitmenschen tun ist Gottesdienst!« Es ist ein Markstein in der Geschichte des Judentums in Deutschland und in der Mündlichen Tora. Die Mitglieder und Freunde der Liberalen Jüdischen Gemeinde zu Hamburg verteilen untereinander die Weisheit der Tora und das lebenspendende Brot. Sie entwickeln miteinander die Beziehungen, die
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sie in Einklang mit Gottes Gegenwart – der Schechina – bringen: »Und die Herrlichkeit des Ewigen erfüllt unsere Gemeinde und unser Leben.« Diese unsichtbaren Tempel der Beziehungen zwischen den Menschen sind eine menschliche Oase, unter anderen in Hamburg, die frische Luft in die Welt bringen: »und die Herrlichkeit des Ewigen wird dich zu sich nehmen« (Jes 58,7). »Lä-ässoff« bedeutet auf Hebräisch auch »sammeln«: wie bei der Ährenlese die Ähren zu sammeln, d. h. die Herrlichkeit des Ewigen sammelt uns zusammen, – eins kommt zum andern. Der Segenskreislauf strömt vom Mensch zum Mitmenschen im Rhythmus des Herzen. Der Segenskreislauf soll sich unter allen Menschen der Erde ausbreiten, damit die Herrlichkeit Gottes unsere Umwelt erfüllt. Diese Stimmung verbreitet sich über die Grenze der Gemeinde weiter aus, um unsere menschliche Umwelt menschlicher, harmonischer zu schaffen. Zurzeit haben wir keine Synagoge, keinen israelitischen Tempel in Hamburg. Der letzte Tempel wurde im 1931 gebaut. Die Liberalen Juden haben damals gehofft, hier weiter in Frieden zu leben, aber der Ausbruch der Unmenschlichkeit hat die Welt zerstört. Der israelitische Synagogen-Tempel ist bis heute ohne jüdisches Gemeindeleben. Unsere Gemeinde füllt diese schmerzhafte Lücke in der Geschichte Hamburgs, einen kleinen Schritt nach dem anderen: brich dem Hungrigen dein Brot und dem, der in der unmenschlichen Umgebung keine Luft bekommt, dem gebe deine Luft der Menschlichkeit neue Luft zum Atmen, und die Herrlichkeit des Ewigen wird dich zu sich nehmen.
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WA J I K R A (3. BUCH MOSE / LEVITIKUS)
»Und er rief« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 1,1–5,26) §¦
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as bedeutet das »Opfer« im Judentum? »Die Opfergesetze sind für uns wie ein Buch mit sieben Siegeln. Wir begreifen weder ihre grundlegende Bedeutung noch die Absicht ihrer Vorschriften und Regelungen. In der Tat mag ihr Aufhören seit der Zerstörung des Tempels unsere Gefühle für die Opfer abgestumpft haben. Auch die Zehn Gebote, welche die gesamte Tora repräsentieren, erwähnen die Opfer nicht. Wer nicht sündigt, muss keine Opfer darbringen und wird von Gott denen vorgezogen, die sündigen und dafür mit Opfern büßen. Daher stellt Schemuel fest: »Hat der Ewige etwa ein solches Wohlgefallen an Brandopfern und Schlachtopfern wie am Gehorsam gegen den Befehl des Ewigen? Siehe, Gehorsam ist mehr wert als Opfer, Demut ist besser als das Fett von Widdern« (1 Sam 15,26).7 Wie Sie sehen, entwickelte das Judentum schon seit mehr als zweitausend (?) Jahren eine Theologie der Selbstverwirklichung an Stelle des Opferdienstes! Deshalb beginnt das Grundgebet des Judentums, die Amida, das an der Stelle der Tempelopfer in unserem offenen Gottesdienst steht, mit den folgenden Worten: »Ewiger, tue meine Lippen auf, damit mein Mund dein Lob verkündige!«, – und wir meinen damit:
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7 vgl. Prof. Dr. Nechama Leibowitz, http://www.hagalil.com/judentum/torah/leibowitz/wajikra.htm
Ewiger, tue meine Lippen auf, damit mein Mund dein Lob verkündige! Denn an Schlachtopfern hast du kein Wohlgefallen, sonst wollte ich sie Dir geben; Brandopfer gefallen Dir nicht. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten (Ps 51,17–19). Aber was bedeutet ein »zerbrochener Geist« für moderne Menschen? Was bedeutet heute ein zerbrochenes Herz? Vielleicht: Ein Mensch, der an allem verzweifelt? Ein Mensch, der das Vertrauen in die eigene Kraft verloren hat? Ein Mensch, der die innere Vitalität verloren hat? Ein Mensch, der keine Motivation mehr hat, um zu leben und zu arbeiten und glücklich zu sein mit seinen Freunden? Ist es wirklich so, dass solch eine menschliche, persönliche Tragödie ein gefälliges Opfer für den Gott Israels ist? Ist es wirklich das, was Gott, dem das jüdische Volk Tag und Nacht seit Jahrtausenden dient, von uns erwartet? Sie werden sicher überrascht sein, aber es gibt noch viele religiöse Juden, die genau so denken. Entweder sie verwandeln sich selbst zu Opfern der Willkür fundamentalistischer religiöser Funktionäre oder sie werden bedauernswerte Monster, die im Namen der Religion die Seelen anderer Menschen zu zerstören suchen, so dass es dann später einfacher für sie ist, die erschöpften Menschen als Opfer für ihre machthaberischen, egoistischen Interessen zu opfern. Heute erstickt die Welt an diesen »Heiligen« aus verschiedenen Religionen, und niemand weiß, wie wir mit diesem Phänomen umgehen können. Aber, bitte, haben Sie keine Angst, und leben Sie nicht unter solch einem Diktat! Wie es in einem anderen Psalm gesagt wurde: »Sie kamen aus dem Staub und sie werden zu Asche werden! An diesem Tag zerbrechen alle ihre bösen Pläne und sie verschwinden in einem Augenblick! (Ps 146,3–4): z©©u ¨}± ¡Bz B{vFu{ v©z { ¨z± vB§|¥©| u
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Lassen Sie uns jetzt der alten Sprache der Bibel zuhören: »Opfer«, auf Hebräisch Korban (uz § ¦z ), hat eine ähnliche Wurzel wie der Begriff Kirwa (§¦) »Nähe«. Unsere Tradition sagt, dass wir das, was wir verloren haben, diesen Verlust, Gott darbringen: Du bringst zu Ihm dein Leid, Deine innere Leere, Deine Verzweiflung, Deinen unglaublichen Unglauben, Dein verlorenes Vertrauen, weil Er, JHWH, Dein liebevoller, wahrer und unsichtbarer Arzt ist: »Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden. Er zählt die Sterne und nennt sie alle mit Namen« (Ps 147,3–4). Du bist für Ihn ein strahlender Stern in der kalten Finsternis des Weltalls. Er will dich bei deinem Namen nennen und deine Seele wieder heilen! Dein Ego ist rund um dein »Ich« wie eine harte Schale gewachsen. Das Licht deiner Persönlichkeit ist durch dein Ego versperrt, wie das physisches Licht durch ein kosmisches schwarzes Loch; aber unerwartete Lebensumstände brechen die Schale deines Ego auf und du bleibst zurück als dein einsames, im Stich gelassenes, nacktes »Ich«, – ohne die übliche Komfortzone. Bring deine Einsamkeit und Verlassenheit vor Gott. Dies ist das Opfer, das Gott gefällig ist: »Öffne meine Ohren und öffne meine Lippen« (vgl. Ps 51,17). »Erschaffe mir, o Gott, ein reines Herz, und gib mir von Neuem einen festen Geist in meinem Innern!« (Ps 51,12). Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich vor meinem inneren Augen die Tausende von Juden und Jüdinnen aus Hamburg, die in den Jahren 1941–1945 davon geträumt haben, dieses Pessach mit uns zu feiern, – als das wichtigste Fest unserer Freiheit – Seman Heruteinu! Für die Ehre, die Würde und die Namen dieser liebevollen Menschen werden wir an diesem Tag zusammen Kaddisch sagen.
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Zaw »Gebiete!« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 6,1–8,36) ¥ Opfergesetze: Wajikra 6,1–8,36; Haftara: Malachi 3,4–24. »Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Gebiete Aharon und seinen Söhnen und sprich: Dies ist das Gesetz vom Brandopfer. Das Brandopfer soll auf seiner Feuerstelle auf dem Altar die ganze Nacht bis zum Morgen verbleiben, und das Feuer des Altars soll auf ihm in Brand gehalten werden« (Wajikra 6,1). Die Könige lebten in alten Zeiten in großen Palästen, zusammen mit Verwandten und Ministern. Das Feuer in der Küche erlosch nur für ein paar Stunden in der Nacht. Die antiken Priester opferten Gott wie ihrem König. Aber dieser König schläft niemals. Daher sollte das Feuer auf den Altären niemals erlöschen. Heute, in Europa, bringt man Göttern keine Opfer mehr dar. Die Altäre sind aus unseren Städten verschwunden. Aber wenn wir durch die Stadt laufen, sehen wir, wie viele Restaurants und Cafés Tag und Nacht geöffnet sind und wie viele Menschen in ihnen sitzen, nicht nur, um satt zu werden, sondern um mit ihren Freunden dort in Ruhe und mit Vergnügen zu sprechen. Heute verstehen wir gut, dass unser Gott nicht isst oder trinkt. Aber wir wollen trotzdem, dass Er unter uns immer einen Platz an unserem Tisch hat. Deshalb halten wir nach den Gebeten am Schabbat Kiddusch. Es ist Zeit, sich gemeinsam an einem Tisch zusammenzusetzen, um die Freude des Seins miteinander zu teilen: Unser »ich« ist der Altar, auf dem das Feuer der Existenz niemals erlöscht. Wenn wir uns am Sabbat-Tisch niederlassen, erinnere ich mich immer wieder an die Lehren der alten Rabbiner: »Rabbi Simon sagte: Wenn drei an einem Tisch essen und nicht reden über die Worte des Gesetzes [der Tora], dann ist es so, als ob sie von Götzenopfern äßen, denn es steht geschrieben (Jes 28,8): »Denn
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alle Tische sind voll Speiens und Unflats an allen Orten«. Wenn aber drei an einem Tisch essen und reden über die Worte des Gesetzes, dann ist es so, als ob sie von Gottes Tisch äßen, denn es steht geschrieben: »Und er sprach zu mir: Das ist der Tisch, der vor JHWH [im Tempel] stehen soll« (Ez 41,22)« (Mischna Pirkei Awot 3,4). „§©§¡§_¨¡¨¨¨_§¡¨§ ¦__¥¦_©¨t§¨_© §©§¡§_¨¡¨¨¨a[_¡¨\ £§¨_¨§t§¨_§¦¨¨ _©¨a[_¦\ »Denn ich, der Ewige, verändere mich nicht; deshalb seid ihr, die Kinder Jaakows, nicht zugrunde gegangen. Seit den Tagen eurer Väter seid ihr von meinen Satzungen abgewichen und habt sie nicht befolgt. Kehrt um zu mir, so will ich mich zu euch kehren! – spricht der Herr der Heerscharen [...] und er [der Prophet Elia] wird das Herz der Väter den Kindern und das Herz der Kinder wieder ihren Vätern zuwenden, damit ich bei meinem Kommen das Land nicht mit dem Bann schlagen muss!« (Mal 3,6–7. 24).
Schemini »Achter« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 9,1–11,47) ¨ »Denn ich bin der Ewige, euer Gott: so heiligt euch, dass ihr heilig seid, denn ich bin heilig; und verunreinigt euch nicht durch all das Gewimmel, das auf dem Land kriecht. Denn ich bin der Ewige, der euch heraufgebracht hat aus dem Lande Mizrajim, um euch ein Gott zu sein: so seid heilig, denn ich bin heilig« (Wajikra 11,44–45). Die Mündliche Tora sagt:
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»Wenn er unrein sein will, wird ihm die Gelegenheit dazu gegeben werden. Wenn er rein sein will, erhält er Gottes Unterstützung« (aus: Der Chumasch nach Rabbiner Plaut: die Tora in jüdischer Auslegung, Teil 3, S. 112). Ich habe für Sie dazu eine Geschichte: »Ein Schüler schlief ein und träumte, er sei im Paradies. Zu seinem Erstaunen fand er dort auch seinen Meister und die anderen Schüler, alle in Meditation versunken. »Das ist die Belohnung im Paradies?« rief er. »Genau das Gleiche haben wir doch auf Erden auch gemacht!« Er hörte eine Stimme: »Narr! Du denkst, diese Meditierenden seien im Paradies? Es ist genau umgekehrt – das Paradies ist in ihnen!«« (Anthony de Mello). Normalerweise stellt man sich »heilig sein« so vor, dass man auf den Wolken sitzt und seinen Heiligenschein beobachtet. Aber unser unfassbarer Gott gibt uns einen klaren Hinweis, wie man auf der Erde heilig werden kann, genauso wie Gott im Himmel! Zum Beispiel sagt die Tora: »Respektiere deine Eltern« (Wajikra 19,3), »Tue deinen Mitmenschen nur Gutes und trenne nie deine Liebe von deinem Leben«, »Nimm dir mit großer Würde deine Zeit und Ruhe am Schabbat und vergiss nie den geheimen Sinn deines Lebens«8 Das oben genannte Zitat aus dem Wochenabschnitt stellt uns zwei verschiedene Aufgaben: »Sei heilig und sei rein!« Wenn wir durch unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen nahe bei Gott stehen, dann sind wir heilig, weil Gott uns auf diese Art und Weise heiligt. Dann stellen wir uns die Frage: »Ist das nicht genug? Warum sollen wir zusätzlich unsere Reinheit vom Gewimmel bewahren? Können diese oder andere verbotene Speisen der Heiligkeit Gottes schaden?« Noch sind wir nicht im Paradies, noch sind wir auf dieser Erde, ein Teil dieser Welt. Wir bewegen uns auf diesem Planeten, der uns zu sich selbst zieht, um uns in seine Grundelemente zu verwandeln. Die Tora lehrt uns hingegen, nicht wie das Gewimmel auf der Erde zu 8 vgl. Das Zehnwort, Wajikra .14–20,1
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kriechen. Wir werden belehrt, zwischen den Speisen zu unterscheiden, welche verboten und welche erlaubt sind, und zu üben, unsere Zunge zu beherrschen. Als nächsten Schritt lernen wir, zwischen menschlicher, gutwilliger Sprache und übler Nachrede zu unterscheiden. Als nächsten Schritt lernen wir, zwischen guten Gedanke und bösen Gedanken zu unterscheiden. Aus unseren guten Gedanken folgen die guten Taten, welche uns laut der Tora vor Gott heiligen. Auf den Wolken kann man das nicht lernen, nur auf der Erde: Nach der Geburt haben wir gelernt, wie man aufrecht auf zwei Füßen geht. Wie haben wir das geschafft? Wir sind bei unseren ersten kleinen Schritten immer wieder hingefallen und immer wieder aufgestanden. Jetzt üben wir auf allen unseren menschlichen Ebenen, mit Gott aufrecht nach vorne zu gehen. Wenn wir fallen, dann stehen wir wieder auf und gehen weiter auf Gott zu. Du gehst immer und immer auf deinem Weg vom eigenen »Ich« zum »Du«, deinem Mitmenschen, und danach geht ihr beide zum »Ich bin, der Ich bin« unseres Gottes. Wir bauen zusammen auf diese Art und Weise unsere LJGH, in der wir noch Menschen treffen können, die ein Paradies für ihre Mitmenschen sind, ein Paradies auf der Erde, und das sogar in der Hölle der Menschenfeindlichkeit. Das ist nach der Tora die Bedeutung von »heilig zu sein«.
Tasria »Sie empfängt« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 12,1–13,59) ¡§© Liebe Freunde, wir lesen in unserem Wochenabschnitt etwas Seltsames, für uns schwer Verständliches: »Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Rede zu den Kindern Israels und sprich: Wenn eine Frau schwanger ist und einen Knaben gebiert, so soll
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sie sieben Tage lang unrein sein; sie soll unrein sein wie in den Tagen, an denen sie abgesondert ist wegen ihres Unwohlseins (Wajikra, Tasria 12,1– 2.) Können moderne Menschen die Alten verstehen? Die Geburt eines neuen Menschen ist ein heiliges und gesegnetes Ereignis. Jüdische Frauen beten doch während ihrer Schwangerschaft: »Möge es dein Wille sein, Ewiger, mein Gott und Gott meiner Vorfahren, dass du in deiner großen Barmherzigkeit die Frucht in meinem Leibe zu einem gesunden Kind heranreifen lässt; möge es dein Wille sein, dass er gerecht sei, fromm, heilig und zum Segen diene. Die Augen Israels mögen leuchten durch deine Tora. Amen, so möge es sein« (aus: Der Chumasch nach Rabbiner Plaut: die Tora in jüdischer Auslegung, Teil 3, S. 115). Nach der mündlichen Tora ist Gott selbst an der Geburt eines Kindes beteiligt und nicht nur ein Mann mit seiner Frau: »Weder kein Mann ohne die Frau, noch keine Frau ohne Mann, und doch nicht beide allein, – ohne die Schechinah (Die Gegenwart Gottes unter den Menschen) bringt ein Kind auf die Welt« (Midrasch Rabba, Bereschit 22,2). Warum jedoch soll sich eine Frau nach einem solch glücklichen und heiligen Ereignis unrein fühlen? Mit diesem Gefühl so viele Tage leben? Die Antwort ist wahrscheinlich sehr einfach. Wenn ein Mensch auf seinem Feld den ganzen Tag arbeitet, um die neue Ernte zu sammeln, so kommt er glücklich nach Hause: seine dauerhafte Mühe hat nun endlich großen Erfolg. Allerdings beeilt er sich nicht, sich zu Tisch zu setzen, um seinen Hunger zu stillen. Er nimmt sich vorher eine Weile Zeit für sich selbst, er wäscht, zieht saubere Kleidung an, und er will auch ein bisschen allein sein, um seine neue Stufe des Seins zu erleben. Für eine Frau ist der postpartale Zeitraum noch wichtiger. Wenn sie in der Vergangenheit für unrein erklärt wurde, wurde sie für alle unantastbar. Alle Pflege zu Hause wurde nun auf die Schultern anderer gelegt. Sie konnte in Ruhe Zeit für sich und ihr Baby haben. Sie hat sich eine lange Zeit bemüht, bis sie das Baby auf die Welt gebracht
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hat, und sie musste, wie alle anderen, viel arbeiten, aber jetzt hat sie Zeit und Raum für sich selbst. Die Alten strebten danach zu arbeiten, unabhängig von der Person. Deshalb hat die Tora eine Frau nach der Geburt so stark aus der Gemeinschaft »ausgegrenzt«! Die Tora wollte so eine Warnung zum Ausdruck bringen, dass die Mitmenschen die Frau ja nicht berühren und sie, zum Beispiel, nicht zur Arbeit zwingen. Der moderne Mensch kann den Moment der Geburt anders als seine Vorfahren zum Ausdruck bringen: die Frau, die ein Kind geboren hat, ist deswegen heilig und rein. Wer das versteht, soll ihr helfen, Zeit für sich und für ihr Kind zu finden. Vielleicht verdeutlicht dies das folgende Gleichnis: »Eine Frau träumte, sie beträte einen ganz neuen Laden am Markt, und zu ihrem Erstaunen stand Gott hinter dem Ladentisch. »Was verkaufst du hier?«, fragte sie. »Alles, was dein Herz begehrt sagte Gott. Die Frau wagte kaum zu glauben, was sie hörte, beschloss aber das Beste zu verlangen, was ein Mensch sich nur wünschen konnte. »Ich möchte Frieden für meine Seele und Liebe und Glück, und weise möchte ich sein und nie mehr Angst haben«, sagte sie. Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Nicht nur für mich allein, sondern für alle Menschen auf der Erde«. Gott lächelte. »Ich glaube, du hast mich falsch verstanden, meine Liebe«, sagte er, »wir verkaufen hier keine Früchte, nur Samen«« (Anthony de Mello). Wenn man die Frau mit ihrem Neugeborenen sieht, dann kann man verstehen, was für eine Art Samen die Frau von Gott bekommen hat: Liebe, Mut, Demut und Geduld und das Vertrauen, dass das Kind in einer guten Welt aufwachsen kann. Wenn ein Mitmensch eine Frau mit ihrem Neugeborenen sieht, kann er verstehen, was für eine Art Samen er von Gott bekommen kann: Wir können durch unser bewusstes Handeln gegenüber der Frau und ihrem Neugeborenen »Gottes Samen« legen, wie Liebe, Mut, Demut, Geduld und Vertrauen. So sorgen wir für gute Früchte, nämlich, das
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friedliche und glückliche Miteinander von Mutter und Kind in deren Zukunft. Liebe Freunde und Freundinnen, ich wünsche Ihnen, immer nur gute Früchte auf allen Ihren Wegen zu bringen. Mögen Sie nur vorher einen Weg zu dem besonderen Laden finden, in dem die Samen der Güte bewahrt werden!
Mezora »Aussätziger« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 14,1–15,33) ¡§¥ In unserem Wochenabschnitt »Tazria Mezora« lernen wir etwas über eine Krankheit, die Zara’at (Aussatz) hieß, und mit welchen Konsequenzen man ihr vor 3000 Jahren begegnet ist: Das Gesetz über die Reinigung vom Aussatz lesen wir in Wajikra 14,1–8. Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Dieses Gesetz gilt für den Aussätzigen am Tag seiner Reinigung: Er soll zu dem Priester gebracht werden. Und der Priester soll [dafür] hinaus vor das Lager gehen, und wenn er nachsieht und findet, dass das Mal des Aussatzes an dem Aussätzigen heil geworden ist, so soll der Priester gebieten, dass man für den, der gereinigt werden soll, zwei lebendige Vögel bringt, die rein sind, und Zedernholz, Karmesin und Ysop; und der Priester soll gebieten, dass man den einen Vogel schächtet in ein irdenes Geschirr, über lebendigem Wasser. Den lebendigen Vogel aber soll man nehmen mit dem Zedernholz, dem Karmesin und Ysop und es samt dem lebendigen Vogel in das Blut des Vogels tauchen, der über dem lebendigen Wasser geschächtet worden ist; und er soll denjenigen siebenmal besprengen, der vom Aussatz gereinigt werden soll, und ihn so reinigen; und den lebendigen Vogel soll er in das freie Feld fliegen lassen. Der zu Reinigende aber soll seine Kleider waschen und alle seine
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Haare abschneiden und sich im Wasser baden; so ist er rein. Danach darf er in das Lager gehen; doch soll er sieben Tage lang außerhalb seines Zeltes bleiben (Wajikra 14,1–8). Die alten Rabbiner haben sich vor 1500 Jahren den Kopf zerbrochen über diese ganz und gar nicht logische Handlung, um eine einfache Erklärung in diesem Gesetz zu finden. Sie kamen zur der Schlussfolgerung: »Ein Mensch wird mit »Aussatz« bestraft, wenn er sich übler Nachrede schuldig gemacht hat, und deshalb wird seine Reinigung auch durch kleine Vögel vollzogen, die andauernd zwitschern und schnattern«9 Die alten Rabbiner nennen also »Laschon Hara« (üble Nachrede) als eine der Ursachen für die Krankheit der biblischen Tzara«at auf (Der Talmud, Arachin 15b). Das laute Aussprechen von Laschon Hara wird von der Gegenwart Gottes nicht toleriert (Talmud Sota 42a). Woher wissen die alten Weisen den Grund für den Aussatz? Gemäß der Erzählung in der Tora (Bemidbar 4,12) begeht Miriam gegen ihren Bruder Aharon Laschon Hara, als sie fragt, warum Mosche so viel mehr befähigt sei als jeder andere, das jüdische Volk zu führen. Gott hört es, und bestraft Miriam mit Zaraat, weswegen sie für eine Woche außerhalb des Lagers bleiben muss. Es ist sehr interessant, wie ein jüdischer Witz der modernen Zeit diese althergebrachte Tradition thematisiert. Dieses Mal ist es nicht ein kleiner Vogel, der eine reinigende Rolle spielt, sondern kleine Federn: Ein Nachbar hatte über Künzelmann schlecht geredet und die Gerüchte waren bis zu Künzelmann gekommen. Künzelmann stellte den Nachbarn zur Rede. »Ich werde es bestimmt nicht wieder tun«, versprach der Nachbar. »Ich nehme alles zurück, was ich über Sie erzählt habe.« Künzelmann sah den anderen ernst an. »Ich habe keinen Grund, Ihnen nicht zu verzeihen«, erwiderte er. »Jedoch verlangt jede böse Tat ihre Sühne.« »Ich bin gerne zu allem bereit«, sagte der Nachbar zerknirscht. Künzelmann erhob sich, ging ins sein Schlafzimmer und kam mit einem
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9 Aus der Aggada; Plaut: Die Tora in jüdischer Auslegung, Teil 3, S. 135
großen Kopfkissen zurück. »Tragen Sie dieses Kissen in Ihr Haus, das hundert Schritte von meinem entfernt steht«, sagte er. »Dann schneiden Sie ein Loch in das Kissen und kommen wieder zurück, indem Sie unterwegs immer eine Feder nach rechts, eine Feder nach links werfen. Dies ist der Sühne erster Teil.« Der Nachbar tat, wie ihm geheißen. Als er wieder vor Künzelmann stand und ihm die leere Kissenhülle überreichte, fragte er: »Und der zweite Teil meiner Buße?« »Gehen Sie jetzt wieder den Weg zu Ihrem Haus zurück und sammeln Sie alle Federn wieder ein.« Der Nachbar stammelte verwirrt: »Ich kann doch unmöglich all die Federn wieder einsammeln! Ich streute sie wahllos aus, warf eine hierhin und eine dorthin. Inzwischen hat der Wind sie in alle Himmelsrichtungen getragen. Wie könnte ich sie alle wieder einfangen?« Künzelmann nickte ernst: »Das wollte ich hören! Genauso ist es mit der üblen Nachrede und den Verleumdungen. Einmal ausgestreut, laufen sie durch alle Winde, wir wissen nicht wohin. Wie kann man sie also einfach wieder zurücknehmen?« Liebe Freunde, so eine große Sünde verbreitet sich so leicht wie Federn im Wind. Was können wir tun, um das zu vermeiden?! Übung macht den Meister: Versuchen wir, über andere Menschen nur gute Wahrheiten zu sagen und zu hören. – Aber was machen wir, wenn wir Zeuge sind, dass andere Menschen schlechte Dinge tun? Dann denken wir drei Mal nach, bevor wir unser Zeugnis ablegen: Wann und wo tun wir das? Vor wem tun wir das? Für welchen Zweck tun wir das? Wir begegnen also der Sünde anderer mit umso größerer Achtsamkeit für unser eigenes Handeln.
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Acharej Mot »Nach dem Tode« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 16,1–18,30) ©§ Liebe Freunde und Freundinnen, in unserem Wochenabschnitt lernen wir, wie man die Tora verstehen kann: Die Tora ist ein Buch des Lebens, nicht des Todes. »Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Rede zu den Kindern Israels und sprich zu ihnen: Ich, der Ewige, bin euer Gott! Ihr sollt nicht so handeln, wie man es im Land Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt, und sollt auch nicht so handeln, wie man es im Land Kanaan tut, wohin ich euch führen will, und ihr sollt nicht nach ihren Satzungen wandeln. Nach meinen Rechtsbestimmungen sollt ihr handeln und meine Satzungen halten, dass ihr in ihnen wandelt; denn ich, der Ewige, bin euer Gott. Darum sollt ihr meine Satzungen und meine Rechtsbestimmungen halten, denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben: Ich bin der Ewige!« (Wajikra 18,1–5). Die traditionelle Halacha betont bereits: »Der Mensch soll durch die Tora das Leben erlangen, nicht den Tod« (aus der Halacha, Plaut, Die Tora in jüdischer Auslegung, Teil 3, S. 185), er soll Leben erlangen sowohl für sich selbst als auch für seine Mitmenschen! Die jüdischen religiösen Vorschriften haben einen »sittlichen« Sinn. Wer das vergisst, vergisst den Ewigen: »Darum sollt ihr meine Satzungen und meine Rechtsbestimmungen halten, denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben: Ich bin der Ewige!« Die Menschen bewahren die Gesetze der Tora, um mit ihren Mitmenschen den Resonanzraum für die Gottesgegenwart, die Schechina, mit zu erschaffen. Deswegen konnte Leo Baeck die ganze Tora in einem Satz zusammenfassen: »Was wir an unseren Mitmenschen tun, ist Gottesdienst.« Ein moderner Therapeut hat dazu geschrieben: »Da Zeit und Raum gemäß Einstein einander entsprechen, können wir auch sagen: Wir haben kaum noch Raum für einander. Nicht nur der Lebensraum auf
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diesem Planeten wird immer enger, auch unser seelischer Innenraum wird immer vollgestopfter. Es ist deshalb ein richtiger Segen, einmal einem Menschen begegnen zu können, der Raum für uns hat, dem wir beispielsweise sagen können, was wir auf dem Herzen haben, ohne dass wir innerhalb weniger Minuten unterbrochen oder für das Gesagte verurteilt werden. Untersuchungen weisen darauf hin, dass hinter vielen Einzelpersonen oder Völkergruppen, die gewalttätig wurden, Menschen stehen, die nie richtig gehört, das heißt, angenommen wurden.10 Damit soll nicht der internationale Terrorismus gebilligt, sehr wohl aber ein Lösungsweg angedeutet werden: Wenn wir lernen, einander zuzuhören und Raum zu geben für unsere tiefsten Bedürfnisse, wenn wir den Terror in uns loslassen und unserem Selbst zu lauschen beginnen, bewegen wir uns individuell und kollektiv immer mehr in ein Klima hinein, in dem wir innerem und äußerem Terror in uns immer weniger Resonanzraum bieten«.11 Aber was bedeutet das konkret, mit unseren Mitmenschen den Resonanzraum für die Gottesgegenwart, die Schechina, mit zu erschaffen? Das ist das Gesetz der Tora, von dem ein Mensch lebt. Das Böse und der Zynismus werden nie über unsere guten Wünsche für den Mitmenschen siegen, weil unsere guten Wünsche für andere Menschen von Gott gesegnet werden! Die Stühle für Betende in unserer Synagoge werden nie mehr leer sein! Niemand wird uns je wieder aus Hamburg zu vertreiben wagen, wie es im Jahr 1938 geschehen war! Die ehemals sowjetischen Juden empfangen jetzt die ganze jüdische Welt in Hamburg, weil es vor 200 Jahren hier in Hamburg geschehen ist, dass der erste anerkannte liberale Synagogen-Tempel, die Urmutter aller Synagogen- Tempel weltweit, gebaut und eingeweiht wurde! Liebe Freundinnen, liebe Freunde, ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, die Toragesetze zu bewahren, um mit Ihren Mitmenschen den Resonanzraum für die Schechina mit zu erschaffen. Wer diese Melodie der tiefen Stille (kol demmama daka12) hört, der weitet seinen seelischen Innenraum in die Ewigkeit Gottes aus: 10 http://www.compassionatelistening.org/ 11 Kurt Tepperwein, Leben im Hier und Jetzt, mvg-Verlag, 2007, S. 15 12 vgl. 1 Melachim 19,12
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»Helft uns, Gott zu finden.« »Keiner kann euch dabei helfen.« »Warum nicht?« »Aus dem gleichen Grund, aus dem einem Fisch nicht geholfen werden kann, den Ozean zu finden« (Anthony de Mello, Entdeckung. Eine Minute Weisheit, Herder 2011, S. 59).
Kedoschim »Heilige« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 19,1–20,27) ¨¦ Am Anfang unseres Wochenabschnittes »Kedoschim« lesen wir: Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: »Rede mit der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Ewige, euer Gott! Ihr sollt jeder Ehrfurcht vor seiner Mutter und seinem Vater haben und meine Schabbate halten, denn ich, der Herr, bin euer Gott« (Wajikra 19,1–3). Wenn wir das Wort »heilig« hören, sehen wir Menschen vor uns, die mit einem Heiligenschein über ihren Köpfen auf Wolken sitzen. Aber hier sagt Gott dem ganzen Volk Israel: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« Er erklärt uns allen, was wir tun sollen, um heilig zu sein. Zum Beispiel: Seine Schabbate halten und unsere Eltern ehren. Der Schabbat des Ewigen ist ursprünglich eine Raumzeit für das Treffen zwischen Gott und dem Abbild Gottes. Dieses Treffen bringt
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Harmonie und Ruhe für alle Menschen. Das Gebot in Bezug auf den Schabbat sowie auf das Ehren der Eltern gehört im Dekalog zu den Beziehungen zwischen Gott und Mensch: Wenn eine Mutter und ein Vater Kinder auf die Welt bringen, nimmt Gott an diesem Wunder teil; deshalb gehören Gottesfurcht und Elternfurcht zusammen. Gemäß der Tora schuf Gott am sechsten Schöpfungstag den ersten Menschen: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde« (Bereschit 1,27–28). Danach kommt der Schabbat als Treffen zwischen den ersten Menschen und Gott und dieses Treffen macht den Mensch auch heilig: »Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte« (Bereschit 1,27). Gott hat den Schabbat, seinen Ruhetag, als Quelle des Heiligtums für sein Volk in unserem Toraabschnitt gesegnet. Aber der Weg zum Heiligtum verläuft in unserem Toraabschnitt weiter, – von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern zur Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch: »Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen; sondern du sollst deinen Nächsten ernstlich zurechtweisen, dass du nicht seinetwegen Schuld tragen musst! Du sollst nicht Rache üben, noch Groll behalten gegen die Kinder deines Volkes, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Ich bin der Ewige« (Wajikra 19,17–18). Ich lese in Deutschland oft bei verschiedenen Autoren, dass Jesus gesagt hat: »du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« Jetzt sehen wir, dass Jesus mit diesen Worten die Tora zitiert hat, wie jeder Lehrer damals in Israel. Aber es gibt ein noch wichtigeres Gebot in diesem
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Toraabschnitt: »Du sollst den Fremdling lieben wie dich selbst.« »Der Fremdling, der sich bei euch aufhält, soll euch gelten, als wäre er bei euch geboren, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen im Land Ägypten. Ich, der Ewige, bin euer Gott« (Wajikra 19,34). Ich sage, dass dieses Gebot wichtiger ist, als »Liebe deinen Nächsten«. Die Liebe zu seinen Eltern oder die Liebe zu seinen Brüdern und Schwestern ist für jeden Menschen fast selbstverständlich, aber die Liebe zu Fremdlingen? Sehen Sie, was im postchristlichen Europa passiert, wenn Fremde zu uns kommen, um Rettung bei uns zu finden! Aber Gott sagt zu uns Juden, was er bereits in der Tora schon einmal von uns gefordert hat: »Liebe deinen Fremden wie dich selbst, um heilig zu sein, wie ich heilig bin.« Und was viele Menschen in dieser Aufforderung übersehen, ist die letzte Aussage: »Ich bin der Ewige.« Das heißt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ich bin der Ewige.« und: »Liebe deinen Fremden wie dich selbst [...], ich bin der Ewige.« Was sagt dieses überraschende Satzende aus? Der liebevolle Umgang mit unseren Mitmenschen ist der einzigartige Weg, Gott zu treffen. Heißt das, ich kann mich nicht allein mit Gott treffen wie einst Mosche, als er den Berg Sinai hinaufstieg? Am Anfang unserer Parascha lesen wir nicht: »Du sollst heilig sein, denn ich bin heilig, der Ewige, dein Gott!«, sondern: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Ewige, euer Gott!« Dieses Gebot ergeht nicht an den Einzelnen, sondern an das ganze Volk Israel. Wer diesen liebevollen Umgang mit seinen Mitmenschen nicht eingehen will, der schließt sich selber von der Aussage des Satzendes aus: »Ich bin heilig, der Ewige, euer Gott!« Können wir, ohne ein Risiko einzugehen, in Beziehungen mit Mitmenschen treten, um den heiligen Schabbat mit Gott zu genießen? Es besteht immer die Gefahr, dass andere Menschen unsere religiösen Gefühle missbrauchen, uns zu manipulieren suchen, um ihre egoistischen Zwecke zu erreichen. Deshalb tröstet uns Gott: Ich bin
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der Ewige, Ich bin auch da! Seine Flamme entzündet die Liebe und verbrennt den Hass. Wenn wir unseren Schabbat mit Gott leben, schenken wir unsere Zeit, unseren Lebensraum und unsere Achtung anderen Menschen. Es ist ein Geheimnis für das ganze Volk Israel: die lebendige, innere Balance in sich selbst und in den Mitmenschen zu bewahren. Der Segenskreislauf strömt vom Mensch zum Mitmenschen im Rhythmus des Herzen. Der Segenskreislauf breitet sich unter allen Menschen auf der Erde aus. Das ist der einzige Weg, um heilig zu sein, wie der Ewige heilig ist!
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» Apparition « — Collage — Lynne Feldman
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Emor»Sprich!« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 21,1–24,23) § muz ¡{ u uz { u ~
}£}}| u©z § { z § { | u ~ u { }§ }¨} ± §}u{ »Und der Ewige sprach zu Mosche: »Sprich zu den Priestern (ha-kohanim), den Nachkommen Aharons, und sage ihnen: Keiner der Priester soll einen Toten berühren und sich dadurch in seinem Volk verunreinigen« (Wajikra 21,1). [...] Und der Ewige redete zu Mosche, indem er sprach: Rede zu Aharon und zu seinen Nachkommen, dass sie achtsam seien mit den Heiligtümern der Kinder Israels, welche diese mir heiligen, damit sie nicht entweihen meinen Heiligen Namen: Ich bin JHWH!« (Wajikra 22,1–2). Die Priester (ha-kohanim) haben die Verantwortung übernommen, den Gottesnamen unter den Kindern Israels heilig zu halten! Eine der Voraussetzungen dafür war: keinen Toten zu berühren! Der Tempel in Jerusalem existiert schon seit langer Zeit nicht mehr. Stattdessen hat die Versammlung der Kinder Israels in den Synagogen seine Aufgabe übernommen. Was bedeutet heute für uns alle dieses alte Verbot, sich durch die Berührung der Toten nicht unrein zu machen? Die Rabbiner erklären, dass mit »Berührung der Toten« üble Nachrede (Laschon Hara) gemeint ist. Diese Berührung tötet den Sprecher, den Zuhörer und den, dem sie gilt. Jeder, der mit übler Nachrede in Berührung kommt, wird tot und unrein. Wie können wir dann den Gottesnamen durch unser Tun heiligen? Die meisten modernen Menschen unterscheiden nicht zwischen übler Nachrede, wie das Judentum sie versteht, und der normalen menschlichen Rede. Es ist wie in der Parabel vom kopflosen Huhn: »Hast Du jemals gesehen, wie ein Huhn ohne Kopf umherlief und erfolglos mit seinen Flügeln flatterte? Menschen, deren Kopf vollgestopft ist mit übler Nachrede und davon verstopft, haben schon lange aufgehört zu denken, zu verstehen und die Realität zu sehen! Gedankenmüll verdunkelt ihren Verstand, bis ihre Augen kein Licht mehr sehen, sondern nur die Schatten.
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Panisch laufen sie nur im Kreise, ohne zu merken, dass sie den Kopf verloren haben. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Leben und die Vision vom Sinn ihres Lebens. Ihr Leben geht an ihnen vorbei, so dass bei ihnen letztlich nur ein leerer Schädel übrig bleiben wird, wenn sie nicht ihren inneren Verstand vom Gedankenmüll befreien lassen! Nur wenn wir dann mit dem Kopf gegen die Wand rennen, haben wir die Chance, uns daran zu erinnern, dass wir noch einen Kopf haben.« Das passiert mit uns, wenn wir vergessen, dass Gott uns auf Adlers Flügeln trägt: »Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch auf Adlers Flügeln (Al kanfei nescharim) getragen und euch zu mir gebracht habe« (Schemot 19,4). az| }© } ~z z ~§ z¨± |£{u {¡}© } ²¨} z u z~ §z ¥ ~ ~©²¨z ~ ¡§ }¨± }©~§ u©} { Aber wenn wir erwachsen genug sind, dann stößt Gott uns in die Tiefe, so wie Adlereltern ihre Kinder, damit sie lernen, selbst hoch zu fliegen und aus der Höhe wie ein Adler die Schönheit der Welt zu genießen. Der Mensch denkt oft in dieser Situation: »Oh weh, wie kann ich mit diesen großen Problemen, die ich habe, weiterleben? Ich stürze ab!« Aber in der Realität ist es eine einzigartige Möglichkeit, die Gott uns schenkt, damit wir selbst etwas über unsere eigenen Adlerflügel erfahren: Al kanfei nescharim, – auf den Flügeln der Seele: Al kanfei ha-neschama [...] Die tötende üble Nachrede kann uns nicht erreichen, wenn wir unsere Flügel ausbreiten. Sie bleibt unter der Erde, – wie ein mit Staub vollgestopfter Schädel! Wenn wir andere durch üble Nachrede dämonisieren, unterstützen wir ihre negativen Einstellungen. Wenn wir andere Menschen für ihre echten Vorteile auszeichnen, geben wir ihnen eine Chance, zur Vernunft zu kommen. Wir schaffen damit einen Resonanzraum für die Stimme der sanften Stille unter uns, für die Stimme der feinen Stille Gottes: »Der Ewige sprach zu Mosche: Emor – § – Sprich!« (Wajikra 21,).
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Behar »Auf dem Berge« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitikus 25,1–26,2) § Das Schabbatjahr: Und der Ewige redete zu Mosche auf dem Berg Sinai und sprach: Rede mit den Kindern Israels und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, so soll das Land dem Ewigen einen Sabbat feiern. Sechs Jahre lang sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre lang deinen Weinberg beschneiden und den Ertrag [des Landes] einsammeln. Aber im siebten Jahr soll das Land seinen Sabbat der Ruhe haben, einen Sabbat für den Ewigen, an dem du dein Feld nicht besäen noch deinen Weinberg beschneiden sollst (Wajikra 25,1–4). Das Halljahr (Jubeljahr): Und du sollst dir sieben Sabbatjahre abzählen, nämlich siebenmal sieben Jahre, sodass dir die Zeit der sieben Sabbatjahre 49 Jahre beträgt. Da sollst du Hörnerschall ertönen lassen im siebten Monat, am zehnten [Tag] des siebten Monats; am Tag der Versöhnung sollt ihr ein Schofarhorn durch euer ganzes Land erschallen lassen. Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt im Land eine Freilassung ausrufen für alle, die darin wohnen. Es ist das Halljahr, in dem jeder bei euch wieder zu seinem Eigentum kommen und zu seiner Familie zurückkehren soll (Wajikra 25,8–10) . Das Lösungsrecht für Landbesitz und für Knechte und Mägde: Ihr sollt das Land nicht für immer verkaufen; denn das Land gehört mir, und ihr seid Fremdlinge und Gäste[d] bei mir. Und ihr sollt in dem ganzen Land, das euch gehört, die Wiedereinlösung des Landes zulassen. Wenn dein Bruder verarmt und dir etwas von seinem Eigentum verkauft, so soll derjenige als Löser[e] für ihn eintreten, der sein nächster Verwandter ist; er soll auslösen, was sein Bruder verkauft hat. Und wenn jemand keinen Löser hat, aber mit seiner Hand so viel erwerben kann, wie zur Wiedereinlösung nötig ist, so soll er die Jahre, die seit dem Verkauf verflossen sind, abrechnen und für den Rest den Käufer
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entschädigen, damit er selbst wieder zu seinem Eigentum kommt. Wenn er ihn aber nicht entschädigen kann, so soll das, was er verkauft hat, in der Hand des Käufers bleiben bis zum Halljahr; dann soll es frei ausgehen, und er soll wieder zu seinem Eigentum kommen (Wajikra 25,23–28). Der Ewige redete zu Mosche auf dem Berg Sinai. – Wer versucht, sich Gott vorzustellen, hat bereits das Zweite Gebot gebrochen: Man darf sich Gott nicht als einen Menschen, der spricht, vorstellen. Als der Prophet Elia 400 Jahre nach Mosche auf demselben Berg stand, erfuhr er, dass ein Mensch Gott nur in der Stimme der sanften Stille hören kann. Er steigt auf die Berge, weil er will, dass kein Lärm ihn von dieser inneren Stille ablenkt. Der jüdische Kalender ist so geschaffen worden, dass die betenden Menschen von Schabbat zu Schabbat Schritt für Schritt auf den geistlichen Berg steigen, auf dem man die Stimme der sanften Stille, die Stimme des Vaters, hört. Aber nicht nur äußerer Lärm lenkt uns vom Sinn unseres Lebens ab. Unsere Seele ist mit Müll vollgestopft: negative Emotionen, Gedanken und Vorstellungen stellen uns unter permanenten Druck. Wir versuchen, diese Störungen loszulassen, aber wir können nicht. Warum? Weil wir uns an das Leben in der Welt der Sklaverei angepasst haben. Die Gesetze der Tora helfen uns, diese Situation zu verstehen, und sie geben uns Hinweise, wie man auf den Berg der Freiheit, der Ruhe, der Schönheit und der Liebe steigen kann, – auf den Berg, wo der Ewige mit seinem Freund, mit seiner Freundin, spricht, mit Dir. Lassen Sie uns hören, wie dieser Weg für unsere Vorfahren begann: Gemäß der Tora schuf Gott den Menschen nach Seinem Bild am sechsten Tag der Schöpfung und Er segnete den siebten Tag der Schöpfung, weil Er die Ruhe mit dem ersten Menschen an diesem Tag genoss. Der erste Schabbat war ein Zeichen der Freiheit und des Friedens zwischen Gott und Mensch, zwischen Mann und Frau. Daher hat das Schabbatgebot in den Zehn Geboten, dem Zehnwort, die das jüdische Volk am Berg Sinai erhielt, einen besonderen Ort: Es gibt mindestens einmal pro Woche weder Sklave noch Sklavenhalter, – alle Menschen genießen gleichermaßen an diesem Tag die Freiheit und den
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Frieden miteinander und mit Gott. Aber das war nur die erste Stufe der göttlichen Pädagogik. Nach dem heutigen Toraabschnitt sollen wir im siebten Schabbatjahr und insbesondere im fünfzigsten Jowel(Jubel) jahr unsere Sklaven für immer freilassen. An jedem siebten Tag der Woche passiert eine Wiederholung der göttlichen Lehre: Wir lernen, nur für einen Tag unseren Sklaven die Freiheit zu geben. Im siebten Jahr aber kommt die Prüfung: jetzt sollen wir wirklich unsere Sklaven freilassen, und dann kommt das Gebot des fünfzigsten Jahres, – es ist die Abschlussprüfung, die uns zeigt, ob wir eines Bundes mit dem Gott Israels würdig sind oder nicht. Die Tora lehrt uns: Jeder, der bereit ist, Sklavenhalter oder Sklave zu sein, kann weder in Ruhe und Frieden mit Gott noch mit sich selbst leben. Nur der Mensch, der keine andere Person für seine eigenen Interessen ausnutzt, kann den Schabbat des Friedens bewahren – den Schabbat des Ewigen. Ich freue mich immer, nicht nur in der Wüste, sondern auch in der Stadt die innere Stille zu hören. Deshalb treffen die Menschen ihre Mitmenschen, um einen Resonanzraum für unseren gemeinsamen MitGott zu schaffen: Wir treffen uns, um gemeinsam die Stille zu erleben! Der Schabbat ist eine Insel der Ewigkeit im Ozean der Zeitlichkeit! Kol demmamah dakkah jischammah be-chol ha-neschammah Der Stimme der feinen Stille wird nie aufhören — in allen Seelen!
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Bechukotai »In meinen Satzungen« (Wajikra / 3. Buch Mose / Levitkus 26,3–27,34) ©¦ »Wenn ihr nun in meinen Satzungen wandelt und meine Gebote befolgt und sie tut, so will ich euch Regen geben zu seiner Zeit, und das Land soll seinen Ertrag geben, und die Bäume auf dem Feld sollen ihre Früchte bringen. Und die Dreschzeit wird bei euch reichen bis zur Weinlese, und die Weinlese bis zur Saatzeit, und ihr werdet euch von eurem Brot satt essen und sollt sicher wohnen in eurem Land. Denn ich will Frieden geben im Land, dass ihr ruhig schlaft und euch niemand erschreckt. Ich will meine Wohnung in eure Mitte setzen, und meine Seele soll euch nicht verabscheuen; und ich will in eurer Mitte wandeln und euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein. Ich, der Ewige, bin euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, damit ihr nicht mehr ihre Knechte sein solltet; und ich habe die Stangen eures Joches zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen« (Wajikra 26,3–6.11–13). © §u ¨}± z ~z ¡ }z © ~ ~ §{ ¥ ~ ¤}§} | }© } ~©|¥v§ }¨± }| z ~ a©BF~ v¦}© } |vz }u ¡ Die Gesetze der Menschen helfen, den Frieden und die Ordnung in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, aber die Gesetze der Tora helfen, das Joch der inneren Sklaverei zu zerschlagen. Wir beachten sie, um zu lernen, in Würde zu leben. Wie weit entfernt vom Gott Israels sind die Menschen, die die Religion Israels in das Joch der Sklaverei zu verwandeln suchen, und wie nah am Gott Israels sind die Menschen, die kontinuierlich den Fluch der inneren Sklaverei in einen Segen der inneren Freiheit verwandeln! Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld, der die Schoa überlebt hat, sagte, dass die Nazis die Menschen in die Nummer auf dem Arm verwandeln wollten, um sie von der Erde auszulöschen. Aber Juden wie Rabbiner Leo Baeck führten ihren geistlichen bewussten Kampf sogar in den Konzentrationslagern: »Das war ein geistiges Ringen, das jeder leisten musste, nämlich in sich selbst und in seinem
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Nächsten mehr zu sehen als nur eine Transportnummer. Es war der Kampf um den eigenen Namen und um den des Anderen, der Kampf um die Individualität, das Geheimnis des Seins «.]...[ Diesen Kampf um die Ehre und die Würde und die Einzigartigkeit jeder menschlichen Persönlichkeit gaben sie an uns weiter, weil wir die Chance haben, in Frieden und Demokratie zu leben, im Gegensatz zu dem Grauen, dem Unrechtsstaat, in dem unsere Vorfahren gelitten haben sollten. »Ich habe die Stangen eures Joches zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen(Wajikra 26,13).
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BEMIDBAR (4. BUCH MOSE / NUMERI)
Bemidbar »In der Wüste« (4. Buch Mose / Numeri 1,1–4,20) § z©|¥ ©~ ¨{ | u ± z ¨u z u ± { ~ ¨{ | u ±
}{ z} u |¡v} u { ~ §u{ ~ u }¨± ¼} §u| { { §|~ §{ ¥ ~ ¤}§} | »Und der Ewige redete mit Mosche in der Wüste Sinai, im Stiftszelt, am Ersten des zweiten Monats, im zweiten Jahr nach dem Auszug aus dem Lande Ägypten, und sprach« (Bemidbar 1,1). Tora und Wüste. »Warum wurde die Tora in der Wüste gegeben? Weil die Wüste offen ist und allen Menschen zugänglich, wie gesagt ist (Jes 55,1): »Lasst alle, die durstig sind, zum Wasser kommen«13 (d. h. zur Tora) Die Rabbiner vergleichen die Tora mit dem Wasser in der Wüste. Wir verlangen nach dem Wasser immer, aber nur in der Wüste erfahren wir, wie sehr wir nach dem Waser verlangen. Die Tora in der Wüste ist kein Buch, sondern es sind Weisungen aus den lebenspendenden Wasserquellen in der Wüste. Wir lernen diese Weisungen zu sehen. Ich freue mich immer, nicht nur in der Wüste, sondern auch in der Stadt die innere Stille zu hören, in der durch äußerlichen und innerlichen Lärm verwüsteten Stadt. Deshalb treffen die Menschen ihre Mitmenschen hier und jetzt, um einen Resonanzraum für unseren gemeinsamen Gott, der mit uns ist, zu schaffen: Wir treffen uns, um gemeinsam die Stille zu erleben! Der Schabbat ist eine Insel der Ewigkeit in dem Ozean der Zeitlichkeit, eine 13 Midrasch, W. G. Plaut, Die Tora in jüdischer Auslegung, Teil 4, S. 39
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Oase der Stille inmitten des uns umrauschenden Ozeans. Ein Lied für den Sabbat ist das Lied der feinen Stille. Die Stimme der feinen Stille wird nie aufhören in allen Seelen!14
Nasso »Erhebe« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 4,21–7,89) ¨ Der Priestersegen. »Und der Ewige redete zu Mosche also: Rede zu Aharon und seinen Söhnen und sprich: Also sollt ihr segnen die Kinder Israels, sprich zu ihnen: Es segne dich der Ewige und behüte dich; der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig; der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden! Und sie sollen meinen Namen legen auf die Kinder Israel, und ich werde sie segnen« (Bemidbar 6,22–27). Nechama Leibowitz schrieb: »Jedem Juden, der die Synagoge besucht, ist der Priestersegen vertraut, so vertraut, dass wir vielleicht dazu neigen, seinen wahren Inhalt zu vergessen und so seine profunde Bedeutung zu gering zu schätzen. Die einfache Formulierung dieser Benediktionen hat viele unserer klassischen Kommentatoren in Erstaunen versetzt. Hier ist eine der Schwierigkeiten, von der Jitzchak Arama, der Autor von »Akedat Jitzchak«, schreibt: »Welchem Zweck dient die Vorschrift, dass diese Benediktionen vom Priester an das Volk ergehen? ER im Himmel oben ist es, der segnet. Was wird erreicht oder hinzugefügt, wenn der Priester segnet oder nicht? Müssen sie IHM assistieren?« Tatsächlich wirft die Formulierung des Textes diese Frage auf. Der Segen wird durch eine Vorschrift eingeleitet, die sich an die Priester richtet: »also sollt ihr segnen die Kinder Israel«. Er wird durch das göttliche Statement »und ich werde sie segnen« abgeschlossen. Eine einfache Lösung für das erwähnte Dilemma wäre es, das Objekt des
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14 vgl. 1 Melachim 19,1–16
letzten Satzes »und ich werde sie segnen« zu verstehen, als bezöge es sich nicht auf ganz Israel, sondern auf die Priester, die Israel segnen. Dies bemerkt Rabbi Ischmael im Talmud (Chullin 49a): Bezüglich der Segnung Israels haben wir gelernt; aber bezüglich eines Segens für die Priester selbst haben wir nichts erfahren. Der Zusatz »und ich werde sie segnen« (behebt diesen Mangel und) bedeutet, dass die Priester Israel segnen und der Ewige, gepriesen sei Er, segnet die Priester«15 In der Tora wurde gesagt: »Und der Ewige sprach zu Awram: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden« (Bereschit 12,1–3). Der Ewige segnet die jüdischen Priester (kohanim) erst dann, wenn diese das Volk Israel segnen! Es ist genau das Gegenteil der priesterlichen Hierarchie einer religiösen Gemeinschaft. Heute wiederholen die Priester aus dem Stamme Aharon diesen priesterlichen Segen Wort für Wort nachdem der Vorbeter aus dem Stamme Israel im synagogalen Gottesdienst ihnen die Segensworte erst vorgesprochen hat, so als ob sie selbst diesen Segen für das Volk Israels nicht sagen können! Das verstärkt die Bedeutung des gegenseitigen Segens in allen inneren jüdischen Kreisen. Wie die Priester und das Volk, so auch die Väter und die Söhne. Was macht uns alle zu Juden? – Nicht nur der Wille unseres Vaters und unserer Mutter, sondern viel mehr noch das gesegnete, gegenseitige Tun der Eltern und der Kinder, der vorherigen und der nächsten Genrationen: »[...] er wird das Herz der Väter den Kindern und das Herz der Kinder wieder ihren Vätern zuwenden« (Mal 3,24)
15 kommentiert von Nechama Leibowitz, vgl. http://www.hagalil.com/judentum/torah/leibowitz/naso.htm
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a[\z©v{¡~ z u |~ z u {¡©vz| ~¨|± Das Wesensmerkmal Abrahams und seiner Nachkommen ist es, ein Segen für ihre Mitmenschen zu sein. Wenn wir Kinder Abrahams und Sarahs sind, und wenn wir Gottes Segen in unserem Leben bewahren wollen, dann können wir in unserem Leben einen Platz für den Segen für unsere Mitmenschen finden. Wenn zwei Menschen sich begegnen, jeder in seiner Freiheit, die sie beide respektieren, dann zeigt Gottes Gegenwart zwischen ihnen sein friedliches Antlitz. – Das ist der ewige Segenskreislauf, in den wir noch immer einsteigen können: »Ich will segnen, die dich segnen [...].« Wir feierten an Schawuot 5778 das 200-jährige Jubiläum der ersten Liberalen Jüdischen Tempel-Synagoge. Wir wollten den Segen für alle Generationen jener Juden erneuern, die in Hamburg gebetet haben. Für alle Juden, sowohl liberale als auch orthodoxe, sowohl religiöse als auch weltliche, sowohl für Juden als auch für alle ihre Verwandten in unserer großen Familie. Wir beten hier und jetzt besonders für die Generation der Juden während der Schoa, die hier in Hamburg durch das Regime der Nazis und seiner Mithelfer verflucht wurden, aber beim Gott Israels immer gesegnet bleiben! Wir werden nie das Testament unserer jüdischen Brüder und Schwestern aus Hamburg aus dem schrecklichen Jahr 1937 vergessen, als der Vorstand des letzten israelitischen Tempels beschloss: »Der Verwaltungsausschuss des Israelitischen Tempel-Verbandes hat in seiner Sitzung vom 21. März 1937 einstimmig beschlossen, dem Rabbinat des Israeltischen Tempels die Bezeichnung eines »Oberrabbinates« zu verleihen und zwar u. a. mit folgender Begründung: Obwohl die drei in Hamburg bestehenden Kultusverbände auf Grund des im Jahre 1867 geschaffenen Gemeindestatus mit ihren Rabbinaten völlig gleichberechtig sind und es demgemäß ein religiöses Oberhaupt in Hamburg nicht gibt, herrschen sowohl innerhalb wie außerhalb der Gemeinde irrige Vorstellungen über die verfassungsrechtlichen und religiösen Kompetenzen der drei Verbände bzw. ihrer Rabbinate. So verlangen z. B. Behörden in Hamburg in Unkenntnis der
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tatsächlichen Gleichstellung der Kultusverbände und ihrer Rabbiner eine Bescheinigung des »Oberrabbinats«. Mit der ab 1 April d. J. einsetzenden politischen Veränderung, der Schaffung eines Groß- Hamburg würde sich die Tatsache ergeben, dass zwei Rabbinate mit dem Titel »Oberrabbinat« in Groß-Hamburg existieren, die beide orthodox sein würden [...]. Das ist im Hinblick auf die historische Bedeutung des Tempels als Muttergemeinde zahlreicher jüdischer Gemeinden der Welt und im Hinblick auf die gegenwärtige Bedeutung des Tempels für das religiöse Leben Hamburgs untragbar. Rabbiner Dr. Italiener hat den Beschluss des Verwaltungsausschusses zur Kenntnis genommen, der aus lokalen und zeitlichen Gründen unvermeidbar sei. Er hat der Umbenennung des Rabbinats des Israelitischen Tempel-Verbandes in ein Oberrabbinat zugestimmt, hält es jedoch für erforderlich um der Würde des Standes willen, den er vertritt, Folgendes zu erklären: »Der Titel «Rabbiner» ist eine Ehre; er besitzt die ihm eigene historisch gewordene jüdische Prägung. Dieser Titel kann durch kein aus der Umwelt entlehntes Standesprädikat irgendeine Erhöhung erfahren« (Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform: Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, S. 266). Der Verwaltungsausschuss des Israelitischen Tempel-Verbandes wollte die völlige Gleichberechtigung zwischen orthodoxen und liberalen Kultusverbänden damit feststellen. Der orthodox geprägte Deutsch-Israeltische Synagogen-Verband hat dazu mit folgenden Begründung zugestimmt: »Dieses unser Verlangen entspricht dem Wunsche unserer Herzen nach einem für immer gewährleisteten Frieden innerhalb unserer uns alle ohne Unterschied von Partei und Richtung umfassenden Gemeinde, dem Frieden, den wir alle brauchen, heute mehr denn je« [...]« (ebd., S. 267 – 268). Andreas Brämer schrieb dazu: »Ob Joseph Carlebach die Entwicklung des Tempels mit Genugtuung betrachtete, lässt sich nicht feststellen. Immerhin zeigte er sich den Argumenten aufgeschlossen und entschied im Oktober 1938, er werde sich nicht länger Oberabbiner zu Hamburg,
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sondern nunmehr Oberrabbiner des (orthodoxen) Synagogenverbandes nennen« (ebd., S. 89). 1937 erkannten liberale Juden, dass NS-Beamte totalitäre Stereotypen in ihren Köpfen hatten! Sie versuchten, eine vielfältige jüdische Gesellschaft in dieses Prokrustesbett zu zwängen. Das NSRegime unterdrückte damals alle Juden schrittweise und systematisch. Es entschied, alle jüdischen Frauen und Männer, gegen ihren Wunsch, wie eine monolithische Masse unter einem Dach zusammenzuschließen, um sie danach zusammen auszurotten. Der Vorstand des israelischen Tempels hat Widerstand geleistet, und auch die orthodoxe Gemeinde hat die liberalen Hamburger Juden richtig verstanden! Leider konnten unsere Vorfahren damals in Hamburg ihren jüdischen inneren Pluralismus nicht verteidigen. Sie haben diese Aufgabe uns hinterlassen. Diese Aufgabe heute zu erfüllen ist ein Einstieg in den Segenskreislauf zwischen der vorherigen und der gegenwärtigen jüdischen Generation in Hamburg. Die bescheidene, nach der Schoa wiederbelebte Liberale Jüdische Gemeinde zu Hamburg (LJGH) erhält damit diesen Segen und diese Unterstützung für Freiheit und Gleichberechtigung unter allen Hamburger Juden, einschließlich der Juden aus verschiedenen religiösen Strömungen, sogar aus den Flammen der Schoa. Wir, liberale Juden aus LJGH, streben danach, dieses Testament heute im demokratischen Hamburg zu verwirklichen, und zwar so bald wie möglich, damit die Tragödie der Ungerechtigkeit für dieses Land nie wiederkehrt! Das bedeutet für uns in den Segenskreislauf der Generationen einzusteigen: »Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden!«
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Beha’alotcha »Wenn du anzündest« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 12,16–8,1) ©¡ Unser Wochenabschnitt »Beha’alotcha« spricht über die Wanderung der Söhne Israels in der Wüste: »Auf Befehl des Ewigen lagerten sie und auf Befehl des Ewigen brachen sie auf. Auf das Merkzeichen vom Ewigen warteten sie auf seinen Befehl hin, verkündet durch Mosche« Bemidbar 9,23). »Warum soll der Ewige mit den Menschen durch Mosche sprechen?« – Sein Bruder Aharon und seine Schwester Miriam haben genauso gefragt: »Redet denn Gott allein durch Mosche? Redet er nicht auch durch uns?« (Bemidbar 12,2) – Die Tora antwortet: »Mosche war sehr sanftmütig, mehr als irgendein Menschen auf dem Erdboden!« (Bemidbar 12,3). »Und Rabbi Ehoschya Ben Levi hat gesagt: Selbstdemütigung ist größer als alles, wie es gesagt wurde: Der Geist des Ewigen Gottes ist über mir, darum dass mich der Ewige gesalbt hat. Er hat mich gesandt, um den Sanftmütigen zu predigen. »Den Gott spricht mit jedem Menschen, aber nur Sanftmütige können die lebensspendende Kraft des Wortes Gottes anderen Menschen weitergeben: Frommen« – wurde es nicht gesagt, sondern – »den Sanftmütigen«. Aus diesen Dinge lernen sie, dass Selbstdemütigung größer ist als alles« (Talmud, Awoda Sarah 20b). Das Fragment 4Q521 der Rollen von Qumran am Toten Meer zeigt für diese Auslegungen Anklänge von der qumranischen Seite: »Und über den Sanftmütigen wird sein Geist schweben (vgl. Bereschit 1,2; Jes 61,1) . Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird Er lebendig machen, den Sanftmütigen wird Er die frohe Botschaft verkünden (4Q521 12).« Deshalb sprechen wir vor unserem Amida-Gebet:
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»Gott, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde« (Ps51,17). Das ist nur dann möglich, wenn die Sanftmütigen beten: »Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten« (Ps 51,19). »Musik bedarf des Hohlkörpers der Flöte, Buchstaben brauchen das leere Blatt, Licht die Leere eines Fensters, Heiligkeit die Abwesenheit des eigenen Ichs«16 Meiner Meinung nach, sollte man sagen: »Heiligkeit die Abwesenheit des eigenen Egos«. »Es spricht eine Stimme: Predige! Und er sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn der Geist des Ewigen bläst darein. Ja, das Volk ist das Gras. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; aber das Wort unsres Gottes bleibt ewiglich« (Jes 40,6–8). Ja, Gott spricht zu jedem Menschen, aber Gottes Wort können nur Sanftmütige hören. Es gibt in der Welt viele Führer, die mit Gewalt und Stolz regieren, aber sie sind keine Vorbilder für das jüdische Volk gemäß der Tora: Die Mündliche Tora erklärt in Bezug auf die Führungskräfte, die die Würde des Menschen mit Füßen treten, um Ihre politischen Zwecke zu erreichen: »Rabbi Eleasar aus Modiin sagte: Wer [...] seinen Nächsten öffentlich beschämt [...], der hat keinen Anteil an der künftigen Welt (findet keine Ruhe in der kommenden Welt), selbst wenn er auch gute Werke getan hat!« (Awot 3,16). muz { zv¡z¦}| v|_¨¡¨¨£¡¢u~ §{ z u v§| | £u u~ { u {
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16 Anthony de Mello, Warum der Schäfer jedes Wetter liebt, Herder 2013, S. 122
_©© _¦§ Man kann sicher annehmen, dass dieser Machthaber keine Ruhe in dieser Welt findet, und keinen Mitmensch in Ruhe lassen kann! Andererseits tröstet uns Rabbi Chanina ben Dosa: »Wer den Geist der Mitmenschen erfreut, an dem hat auch der Geist Gottes seine Freude; wer aber den Geist der Mitmenschen nicht erfreut, an dem hat auch Gottes Geist keine Freude« (Awot 3,14,)17 Deshalb sagte das jüdische Volk: »Auf das Merkzeichen vom Ewigen warteten wir auf seinen Befehl hin, verkündet durch den sanftmütigen Mosche.« Aharon und Miriam konnten das nur durch das schreckliche Leiden verstehen: »Und Aharon sprach zu Mosche: Ach, mein Herr, lege die Sünde nicht auf uns, denn wir haben töricht gehandelt und uns versündigt. Lass diese doch nicht sein wie ein totes Kind, das aus dem Leib seiner Mutter kommt, und dessen Fleisch schon halb verwest ist!« (Bemidbar 12,11–12). Gott spricht mit jedem Menschen, aber nur Sanftmütige können die lebensspendende Kraft des Wortes Gottes andere Menschen weitergeben. Die Tora lehrt uns: nur demütige, ehrliche Menschen können Führungspositionen einnehmen, aber wie viele Juden können in unserer noch jungen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland diese alte Weisheit akzeptieren? Deshalb beten wir mit Aharon vor Gott für unsere jüdische Gemeinschaft in Deutschland: »Lass diese doch nicht sein wie ein totes Kind, das aus dem Leib seiner Mutter kommt, und dessen Fleisch schon halb verwest ist!«
17 vgl. https://de.wikisource.org/wiki/Sprüche_der_Väter
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Schelach Lecha »Schicke!« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 13,1–15,41) ¨ »Schlach-lecha anaschim wejaturu et Erez Kna«an ascher ani noten liWnej Jisra«el [...]« Im Toraabschnitt »Schelach lecha« sendet Mosche zwölf Kundschafter – Meraglim – in das Land Kanaan. Nach der vierzigtägigen Mission sprechen aber nur Jehoschua und Kalew positiv über das Land. Nun will das Volk nach Ägypten zurückkehren. Dafür bestraft Gott das Volk mit vierzigjährigem Dasein in der Wüste! Die Kundschafter bringen zwei Nachrichten: »Wir sind in das Land gekommen, wohin Du uns geschickt, und wahrlich, es fließt von Milch und Hönig, und das ist seine Frucht« (Bemidbar 13,27). »Das Land, das wir durchzogen haben, es auszukundschaften, ist ein Land, das seine Bewohner verzehrt, und alle Leute, die wir gesehen, sind von großer Länge« (Bemidbar 13,32). Da hatte das Volk ein Ziel vor Augen: Das Land, das fließt von Milch und Honig! Doch es gab auch ein Hindernis: das Land, das seine Bewohner verzehrt! Das Volk hat sich auf das Hindernis konzertiert, weshalb es vierzig Jahre in der Wüste bleiben musste, in der Wüste, die es wahrlich aufgezehrt hat, weil die Wüste eben nicht von Milch und Honig fließt. Die nächste Generation hat sich auf den Zweck konzentriert, und nun konnte sie das Land, das von Milch und Hönig fließt, erreichen! Wir lernen von dieser Geschichte: Man erreicht immer das, worauf man sich konzentriert. Wenn wir erfolgreich sein wollen, werden wir nie den Zweck aus den Augen verlieren und uns nie auf die Hindernisse konzentrieren.
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Korach »Korach« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 16,1–18,32) §¦ Dieser Wochenabschnitt erzählt von dem Aufstand Korachs gegen Mosche. Korach und Mosche gehörten dem Stamme Levi an: sie waren nahe Verwandte. Alle Leviten hatten ihre besondere Berufung vom Gott Israels durch Mosche bekommen, aber für Korach war dieses Privileg nicht genug. Zweihundertfünfzig namhafte Männer, Vorsteher des Volkes Israel, hatten mit Korach, Datan, Awiram und On die besondere Nähe von Mosche und Aharon zum Ewigen, dem Gott Israels, in Frage gestellt: »Und sie versammelten sich wider Mosche und Aharon und sprachen zu ihnen: Ihr beansprucht zu viel; denn die ganze Gemeinde ist überall heilig, und der Ewige ist in ihrer Mitte! Warum erhebet ihr euch über die Gemeinde des Ewigen?« (Bemidbar 16,3). In dieser Frage klingt die Frage von Mosches Bruder Aharon und seiner Schwester Miriam an, die wir im Thoraabschnitt »Beha‘alotcha« schon behandelt haben: »Redet denn der Gott allein durch Mosche? Redet er nicht auch durch uns?« (Bemidbar 12,1). Diesen Machtkampf finden wir bis heute leider oft auch in der jüdischen religiösen Gemeinschaft. Einige von uns vergessen noch immer das, was die Thora damals besonders hervorhob: »Mosche war sehr sanftmütig, mehr als irgendein Menschen auf der Erde!« (Bemidbar 12,3). Dies ist ein einzigartiges Zeichen für jüdische Führungskräfte. Können die Führungskräfte, die mit Gewalt und Stolz über andere Menschen herrschen und durch üble Nachrede ihre politischen Zwecke zu
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erreichen versuchen, als Vorbilder für die jüdische Gemeinde gelten? Können sie auch in der Öffentlichkeit das Judentum wirklich vertreten? Besonders nach der Schoa, die durch den grausamsten Führer unter den Menschen verursacht war? – Der erste Anführer des jüdischen Volkes in der Wüste der Unmenschlichkeit nicht herrschsüchtig, er war »sehr sanftmütig, mehr als irgend ein Menschen auf der Erde«! Ist es möglich, zwischen bescheidenen Menschen zu konkurrieren? Können sich sanftmütige Menschen bekämpfen, um Überlegenheit übereinander zu erreichen? Die Mündliche Thora erzählt: Rabban Gamliel, der Vorstehe der jüdischen Gemeinschaft am Ende des ersten Jahrhunderts, erfährt durch seinen Freund Rabbi Yehoshua von zwei jüdischen Rabbinern, Rabbi Elazar Chasma und Rabbi Jochanan ben Godgada, die beide wegen ihrer großen Weisheit bekannt waren, aber sie waren so arm, dass es ihnen sogar an Nahrung und Kleidung fehlte. Rabban Gamliel beschloss, die zwei Weisen zu Anführern der jüdischen Gemeinschaft zu ernennen, und er bittet sie deshalb, vor ihm zu erscheinen. Aber diese bescheidenen Rabbiner weigern sich immer wieder, zu ihm zu kommen. Dann sendet Rabban Gamliel ihnen eine Botschaft: Er sagte zu ihnen: »Sie meinen, dass ich Ihnen Gewalt (über andere Menschen) übergeben würde? Nein! Ich gebe Ihnen Sklaverei! Denn so steht es geschrieben: »Und sie sagten zu ihm (zu König Rehabeam, dem Sohn Salomos): Wenn du dich heute zum Sklave dieses Volkes machst«!« (1 Melachim 12,7) (Babylonischer Talmud, Traktat Horajot 10a): ©©¡©§§¨¨© Rabban Gamliel macht diesen Weisen klar: Glaubt nicht, dass der Anführer Macht und Gewalt an sich reißt, weil er in Wirklichkeit ein Sklave der Menschen wird, die er führt.
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Chukkat »Satzung« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 19,1–22,1) ©¦ Im Sefer Bemidbar, Kapitel 20, wurde erzählt: »Und die ganze Gemeinde der Kinder Israels kam in die Wüste Zin, im ersten Monat, und das Volk blieb in Kadesch. Und Mirjam starb dort und wurde dort begraben« (Bemidbar 20,1). Miriam hat das gelobte Land Kanaan nicht erreicht. Jetzt ist es Zeit für ihre Brüder Mosche und Aharon, ebenfalls ihr Schicksal zu erfahren: Auch sie werden das Land Kanaan nicht erreichen. Und alles begann damit, dass es in der Wüste kein Wasser gab, und die Leute wieder einmal gegen Mosche rebellierten: »Und die Gemeinde hatte kein Wasser; darum versammelten sie sich gegen Mosche und gegen Aharon. Und das Volk haderte mit Mosche und sprach: Ach, wenn wir doch auch umgekommen wären, als unsere Brüder vor dem Herrn umkamen!« (Bemidbar 20,2–3) Im vorherigen Abschnitt der Tora lasen wir, wie Korach und seine Anhänger umkamen. Jetzt bringt wieder jemand das Volk gegen Mosche auf: »Und warum habt ihr die Gemeinde des Ewigen in diese Wüste gebracht, damit wir hier sterben, wir und unser Vieh?« (Bemidbar 20,4). Wir hören die Stimme dieser Ankläger: Du hast uns hierher gebracht, damit wir hier an Hunger und Durst sterben: »Warum habt ihr uns doch aus Ägypten heraufgeführt, um uns an diesen bösen Ort zu bringen, wo man nicht säen kann, wo weder Feigenbäume noch Weinstöcke noch Granatäpfel zu finden sind, ja, nicht einmal Trinkwasser?« (Bemidbar 20,5). Dann der Hauptvorwurf: »Warum hast du uns aus Ägypten hierher
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gebracht?« Juden feiern Pessach als Festtag der Freiheit, als Befreiung vom Haus der Sklaverei schon seit Tausenden von Jahren. Aber unsere Vorfahren, die aus Ägypten kamen, befürchteten, dass Mosche sie in der Wüste sterben lassen würde. Sklaven suchen in einer Notsituation den Sündenbock, freie Leute jedoch suchen nach einer Lösung für das Problem: »Und Mosche und Aharon gingen von der Gemeinde weg zum Eingang der Stiftshütte und fielen auf ihr Angesicht. Und die Herrlichkeit des Ewigen erschien ihnen« (Bemidbar 20,6). Mosche antwortet seinen Anklägern nicht so, wie er auch Korach nicht geantwortet hat. Mosche wendet sich im stillen Gebet an Gott. »Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Nimm den Stab und versammle die Gemeinde, du und dein Bruder Aharon, und redet zu dem Felsen vor ihren Augen, so wird er sein Wasser geben. So sollst du ihnen Wasser aus dem Felsen verschaffen und der Gemeinde und ihrem Vieh zu trinken geben!« (Bemidbar 20,8). Gott gebietet Mosche, mit einem heißen Felsen in der Wüste zu reden, damit der Felsen den Menschen Wasser gibt. Mosche wagt es nicht, mit dem Felsen zu sprechen, sondern wendet sich den Leuten zu, die gegen ihn rebellierten: »Da holte Mosche den Stab vor dem Herrn, wie er ihm geboten hatte« (Bemidbar 20,9). »Und Mosche und Aharon versammelten die Gemeinde vor dem Felsen; und er sprach zu ihnen: Hört doch, ihr Widerspenstigen: Werden wir euch wohl aus diesem Felsen Wasser verschaffen?« (Bemidbar 20,10). Mosche scheint an dieser Aufgabe sehr zu zweifeln. Ob dies wohl möglich ist?! Tatsächlich stellt Mosche innerlich Gott selbst die Frage:
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»Ist es möglich?« »Und Mosche hob seine Hand auf und schlug den Felsen zweimal mit seinem Stab. Da floss viel Wasser heraus; und die Gemeinde trank und auch ihr Vieh« (Bemidbar 20,11). Mosche hatte seinen eigenen Charakter und sein eigenes Temperament. Als er die Menschen sah, die das Goldene Kalb in der Wüste gemacht und dem Volk zur Anbetung gegeben hatten, zerbrach er die Steintafeln des Bundes, die er von Gott bekommen hatte. – Als Mosche zwischen den Leuten, die ihn beschuldigten, sie ohne Wasser in der Wüste sterben zu lassen, und dem Ewigen, der ihm gebot, Wasser aus einem Felsen hervorzubringen, stand, schlug er, wie befohlen, mit seinem Stab an diesen Felsen. War das ein Akt des Glaubens oder ein Akt der Verzweiflung? »Der Ewige aber sprach zu Mosche und Aharon: Weil ihr mir nicht geglaubt habt, um mich vor den Kindern Israels zu heiligen, sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land bringen, das ich ihnen gegeben habe!« (Bemidbar 20,12). Jetzt hören Mosche und Aharon Gottes Urteil: Du hast mir nicht geglaubt, du hast Angst gehabt, ein Wunder zu schaffen, und deshalb wirst du das Gelobte Land nicht betreten. In der Tat, ob Aharon Gott glaubte oder nicht, dazu sagt die Tora nichts. Aber dieses Urteil weist darauf hin, dass auch Aharon innere Zweifel hatte: kann man einen Stein um Wasser bitten?! Solche Zweifel entstehen in der Seele jeder Person, wenn sie diese Geschichte hört: »War es wirklich so?« »Das ist das Hader-Wasser [von Meriba], wo die Kinder Israels mit dem Herrn haderten und er sich an ihnen heilig erwies« (Bemidbar 20,13). Jetzt erfahren wir, dass die Kinder Israels tatsächlich in nicht nur mit Mosche, sondern auch mit Gott selbst in Konflikt geraten sind, aus Angst vor dem Tod. Der Weg zum Verheißenen Land verläuft, wie sich
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herausstellt, nicht nur auf irdischen Wegen, sondern auch auf dem Weg eines inneren und unerschütterlichen Glaubens an den Gott Israels, der uns dort – im Land der Verheißung – erwartet. Wer zweifelt, bleibt in der wasserlosen Wüste zurück. Es gibt harte Zeiten im Leben eines Menschen, wenn er durch seine eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht in Verzweiflung gerät. Es bleibt ihm dann nichts anderes zu tun, als sich mit seinem ganzen Herzen Gott zuzuwenden. Aber Gott antwortet nur dem, der mit dem Glauben eines Kindes, das auf ein Wunder hofft, zu ihm kommt. Wenn wir hier und jetzt friedlich leben, ist das nicht ein Wunder? Je mehr wir über den riesigen Weltraum erfahren, in dem Galaxien zusammenstoßen wie Sandkörner auf dem Ozean, wenn eine Welle die Küste trifft, desto mehr sind wir überrascht, dass unser Planet das zerbrechliche Leben der Natur seit Milliarden von Jahren bewahrt hat. Je mehr wir über die destruktiven Kräfte im Menschen erfahren, die heute nicht nur uns, sondern den gesamten Planeten Erde bedrohen, umso mehr sind wir überrascht, dass es uns gegeben ist, die Welt mit unseren Freunden und Verwandten zu genießen. Ist das nicht ein größeres Wunder, als von Gott Wasser aus einem heißen Stein in der Wüste zu erbitten?
Balak »Balak« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 22,2–25,9) ¦ Balaks Auftrag an Bileam (Bemidbar 22,1–24,25) In unserem Wochenabschnitt »Balak« steht geschrieben, dass Balak, der König der Moabiter, Bileam bittet, den bedrohlichen Vormarsch Israels aus Ägypten durch einen Fluch zu stoppen. Es war eine heidnische Sitte, ein fremdes Volk mit Hass zu verfluchen, zu erniedrigen und zu vernichten. Der fremde Prophet Bileam hat diesen »gut bezahlten Job« von König Balak bekommen, aber in der Stille seiner Seele, in seinem
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Gewissen, hört er eine zarte Stimme: »Du sollst das Volk nicht verfluchen, denn es ist gesegnet« (Bemidbar 22,12). Balak und Bileam opfern und beten vor Gott zusammen, aber sie verfolgen ganz verschiedene Zwecke: der eine sucht Gottes Fluch, um das Leben anderer zu vernichten, der Andere bekommt den Segen von Gott, um das Leben der Anderen zu unterstützen: »Und Bileam sprach zu Balak: Baue mir hier sieben Altäre, und stelle mir hier sieben Stiere und sieben Widder bereit!« Und Balak machte es so, wie es Bileam ihm sagte. Und Balak und Bileam opferten auf jedem Altar einen Stier und einen Widder. Und Bileam sprach zu Balak: »Tritt zu deinem Brandopfer! Ich will dorthin gehen. Vielleicht begegnet mir der Ewige, und was er mich sehen lassen wird, das werde ich dir verkünden! Und er ging hin auf eine kahle Höhe.« Und Gott begegnete dem Bileam. Er aber sprach zu ihm: »Die sieben Altäre habe ich errichtet und auf jedem einen Stier und einen Widder geopfert.« Der Ewige aber legte Bileam ein Wort in den Mund und sprach: »Kehre um zu Balak, und so sollst du reden!« Und er kehrte zu ihm zurück, und siehe, da stand er bei seinem Brandopfer, er und alle Fürsten der Moabiter. Da begann er [Bileam] seinen Spruch und sprach: »Aus Aram hat mich Balak herbeigeführt, der König der Moabiter, von den Bergen des Ostens: Komm, verfluche mir Jaakow, komm und verwünsche Israel! Wie sollte ich den verfluchen, den Gott nicht verflucht? Wie sollte ich den verwünschen, den der Ewige nicht verwünscht? Denn von den Felsengipfeln sehe ich ihn, und von den Hügeln schaue ich ihn. Siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und nicht unter die Heiden gerechnet wird.Wer kann den Staub Jaakows zählen und die Zahl des vierten Teiles von Israel? Meine Seele sterbe den Tod der Gerechten, und mein Ende soll dem ihren gleichen!
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Da sprach Balak zu Bileam: »Was hast du mir angetan? Ich habe dich holen lassen, dass du meine Feinde verfluchst, und siehe, du hast sie sogar gesegnet!« Er antwortete und sprach: »Muss ich nicht darauf achten, nur das zu reden, was mir der Ewige in den Mund gelegt hat?«« (Bemidbar 23,1–12). Bileam sieht die Zelte Israels vom hohen Berg, wie ein Adler, und segnet dieses Volk von ganzem Herzen: »Wie schön sind deine Zelte, Jaakow, deine Wohnungen, Israel!« (Bemidbar 24,5) Für diese schönen Worte über Israel könnte Bileam gegenüber dem wütenden König mit seinem Leben bezahlen. Mit diesen Worten kommen die gläubigen Juden bis heute zur Synagoge, um Gottes Segen anstelle eines Fluches, und Liebe statt Hass aus der Synagoge in die Welt zu bringen. Es ist eine schöne und dramatische Erzählung in der Tora, aber sie wiederholt sich in unserem Leben noch immer – bis heute. 3000 Jahre nach dieser Begebenheit, wie sie in unserer Torageschichte beschrieben wurde, kam ein anderer »böser König«, ein wütender Führer der Nazis. Er wollte das jüdische Volk verfluchen und in den Ruin treiben. In dieser Zeit schrieb Rabbinerin Regina Jonas im Konzentrationslager Theresienstadt einen Brief, einen Kommentar, in Bezug auf unseren Wochenabschnitt: »Du sollst das Volk nicht verfluchen, denn es ist gesegnet « (Bemidbar 22,12). Unser jüdisches Volk ist von Gott in die Geschichte gesandt worden als ein gesegnetes. Von Gott »gesegnet« sein heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage Segen, Güte, Treue spenden. – Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu errichten, war und ist Israels
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Aufgabe – Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüdischer Treue übernommen. Diesem Ideal dient auch unsere ernste, prüfungsreiche theresienstädter Arbeit, Diener Gottes zu sein, und als solcher rücken wir aus irdischen in ewige Sphären. – Möge all unsere Arbeit, die wir uns bemühen als Diener Gottes zu leisten, zum Segen für Israels Zukunft sein, und die der Menschheit. [...]« Diesen Willen der ermordeten Juden versuchen wir heute in Deutschland und in Israel zu erfüllen, um Segen statt Fluch für alle Menschen zu ernten! Die Nazis haben Menschen zu Nummern gemacht und danach ausgelöscht. Wir aber können Menschen, die uns begegnen, als Gottes Segen in unserem Leben begreifen. Wir können uns bewusst machen, dass es Menschen sind: die Zahl ist nicht des Menschen Wesen. Ist es möglich, Beziehungen zu unseren Mitmenschen mit »selbstloser, hingebungsvoller Liebe« einzugehen, um »ein Segen für die Menschheit zu sein«? – Es besteht immer die Gefahr, dass die geistlichen Nachkommen von Balak, die gegen uns »mitbeten«, unsere religiösen Gefühle missbrauchen. Leider wirken die schrecklichen Konsequenzen der Schoa in manchen menschlichen Seelen noch nach, sogar unter einigen Juden. Sie sind darin geübt, die Namen der Mitmenschen durch Rufmord in eine Nummer zu verwandeln, um den Weg zu ihren egoistischen Zielen »frei zu räumen«. Wegen dieser Einstellungen leidet die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sogar noch viele Jahre nach der Schoa. Wegen dieses Trends kann auch unsere Gemeinde in eine Situation der Existenznot geraten. Deshalb tröstet uns alle der Gott Israels: »Ich bin der Ewige, ich bin auch mit dir, in dieser enttäuschenden Notsituation!« Seine zarte Flamme entzündet die Liebe in unserem Herzen und verbrennt den Hass, seine zarte Stimme der feinen Stille verwandelt den Fluch in Segen, und den Rufmord in ewige Ehre. Jeder, der diese gesegnete Atmosphäre in unserer Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hamburg treu unterstützt, kann ehrlich in unserem gemeinsamen Gottesdienst Gott segnen: »Gesegnet seiest Du, Ewiger, unser Gott, der uns aus Ägypten und
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aus den Gruben der Schoa herausgeführt hat. Gesegnet seiest Du, Ewiger, der uns noch immer aus den Gruben des Hasses, der Rache und des Mordes in die Liebe, in die Versöhnung und in das gesegnete Leben herausführt.«
Pinchas »Pinchas« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 25,10–30,1) £ Der Toraabschnitt »Pinchas« ist einer der problematischsten Texte für die moderne Menschheit. Während der Wüstenwanderung versuchten die Kinder Israel, sich mit den schönen, fremdländischen moabitischen Frauen zu entspannen. Die Orgie begann mit sexuellen Beziehungen und reichen Opfergaben für die kunstvoll gestalteten Idole und endete mit einer Epidemie, mit Feindschaft unter den Juden und sogar mit einem grausamen Mord aus religiösen Gründen: »Und Israel ließ sich in Sittim nieder; und das Volk fing an, Unzucht zu treiben mit den Töchtern der Moabiter, und diese luden das Volk zu den Opfern ihrer Götter ein. Und das Volk aß [mit ihnen] und betete ihre Götter an. Und Israel begab sich unter das Joch[a] des Baal-Peor. Da entbrannte der Zorn des Herrn über Israel. Und der Herr sprach zu Mosche: Nimm alle Obersten des Volkes und hänge sie auf für den Herrn angesichts der Sonne, damit der brennende Zorn des Herrn von Israel abgewandt wird! Und Mosche sprach zu den Richtern Israels: Jedermann töte seine Leute, die sich unter das Joch des Baal-Peor begeben haben!«(Bemidbar 25,1–5). Während viele Israeliten genossen, haben andere wegen der moralischen Degradierung des Volkes unter Tränen gebetet, weil sie sich vor der endgültigen Vernichtung des Volkes in der Wüste fürchteten. Dann geschah etwas Schreckliches, das das Schicksal aller abrahamitischen
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Religionen seit Jahrhunderten beeinflusst, und unserem Volk viel Leid gebracht hat: »Und siehe, ein Mann aus den Kindern Israels kam und brachte eine Midianiterin zu seinen Brüdern, vor den Augen Mosches und vor den Augen der ganzen Gemeinde der Kinder Israels, während sie weinten vor dem Eingang der Stiftshütte. Als Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aharons, des Priesters, dies sah, stand er aus der Mitte der Gemeinde auf und nahm einen Speer in seine Hand; und er ging dem israelitischen Mann nach, hinein in das Innere des Zeltes, und durchbohrte sie beide durch den Unterleib, den israelitischen Mann und die Frau. Da wurde die Plage von den Kindern Israels abgewehrt. Die [Zahl derer] aber, die an dieser Plage starben, war vierundzwanzigtausend« (Bemidbar 25,6–9). Pinhas nahm in seinem Eifer das Gesetz in die eigene Hand. Er schuf einen Präzedenzfall für unsere religiösen Gesetze. Aber wo ist hier das Gesetz? Die Tora? Wo ist die Mahnung gegenüber den Verbrechen? Wo ist die unabhängige Untersuchung mit objektiven Zeugen? Wo ist ein neutrales Gericht mit erfahrenen Richtern? Wo ist das Gerichtsurteil, einschließlich der Möglichkeit, Widerspruch zu erheben? Wo ist die sorgfältige Balance zwischen der Strafe und dem Verbrechen? Eine Person, die aufgrund religiösen Eifers spontan Mord vor allen Leuten begeht, beeinflusst die Gedanken von Hunderten von Generationen, die Tora lernen. Natürlich haben die Menschen, die gewohnt sind, unter dem Gesetz zu leben, schon damals all diese Fragen gestellt. Aber dann, was passierte dann? Gott schützt und lobt Pinhas. Er genehmigt sein Attentat aus religiösen Gründen, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, und gibt ihm und seinen Nachkommen das Band des Friedens. Pinchas und seine Söhne werden seitdem und für immer das jüdische Volk als Priester vor Gott vertreten: Und der Herr redete zu Mosche und sprach:
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Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aharons, des Priesters, hat dadurch, dass er mit meinem Eifer unter ihnen eiferte, meinen Grimm von den Kindern Israels abgewandt, sodass ich die Kinder Israels nicht vertilgt habe in meinem Eifer. Darum sprich zu ihm: Siehe, ich gewähre ihm meinen Bund des Friedens, und es soll ihm und seinem Samen nach ihm der Bund eines ewigen Priestertums zufallen dafür, dass er für seinen Gott geeifert hat und so Sühnung erwirkt hat für die Kinder Israel!« (Bemidbar 25,10– 13). Die Geschichte kennt viele Beispiele von Fällen, in denen religiöse Fanatiker unschuldige Menschen ermorden. Sie rechtfertigen ihre Handlungen durch die Tatsache, dass diese Menschen nicht nach den religiösen Gesetzen der Fanatiker leben wollen. Sie betonen, dass sie ihrem Gott mit religiösem Eifer dienen! Wir lesen über diese Taten heutzutage nicht in Büchern über alte Geschichte, sondern in den Tageszeitungen. Natürlich haben einige große, den Pilpul (analytisch-thematische Diskussionsform) praktizierende jüdische Gelehrte, viele Male versucht, die Auswirkungen der Geschichte von Pinhas auf das Leben ihrer religiösen Gemeinschaften zu verharmlosen, – aber mit unterschiedlichem Erfolg! Deshalb werde ich heute nicht etwa im Text der Tora nach einem Antidot gegen die »religiösen« Morde suchen, sondern in unserer Erinnerungskultur. Lassen Sie uns dazu gerade unsere eigene Geschichte erinnern: »Wo ist unser jüdischer Tempel in Jerusalem? Wo sind unsere jüdischen Priester, die Nachkommen von Pinhas, die uns Tag und Nacht in diesem Tempel in jüdischem Gesetz, der Tora, unterrichten? Wo bringen sie in unserem Namen Gott die täglichen Opfer dar? Wie findet ein Ewiger Bund zwischen Gott und Pinhas statt? Die Antwort ist einfach: Seit zweitausend Jahren leben jüdische Menschen ohne Tempel, ohne Priester, die Nachkommen Pinhas, und ohne Blutopfer, seit zweitausend Jahren wurde kein Mensch im jüdischen Volk wegen religiöser Verbrechen zum Tod verurteilt, – aber wenn ein religiöser Fanatiker ein jüdisches Mädchen tötet, und sich
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durch die Gesetze der Tora rechtfertigt, verurteilt ihn jedes israelische Gericht als Verbrecher, und ganz Israel – vom säkularen Juden und Atheisten bis zum ultraorthodoxen Rabbiner – fordert, dass der Täter zu einer schweren Strafe nach dem Gesetz verurteilt wird! Wenn wir, die Kinder Israel, den Gott Israels vor dreitausend Jahren nicht verstehen konnten, können wir ihn jetzt vielleicht verstehen? Jüdische Menschen wiederholen oft, dass unser Tempel wegen grundlosen Hasses (sinat chinam) unter den Juden zerstört wurde), und dass unser religiöses jüdisches Leben seitdem nur auf Grund der grundlosen Liebe (ahavat chinam) wiederhergestellt werden konnte! Wer diese Lektion nicht gelernt hat, kann sich mit religiösen Fundamentalisten und Fanatikern im selben Lager wiederfinden. Liebe Freunde, ich wünsche Ihnen allen Frieden und Ruhe am Schabbat »Pinhas« – weit weg von religiösen Fanatikern und politischen Konformisten! Heute arbeiten wir alle zusammen für die Entwicklung unserer Jüdischen Liberalen Gemeinde in Hamburg! Ihr Weg wurde vor zweihundert Jahren begonnen: als eine neue Möglichkeit für jüdische Menschen in Hamburg, die moralischen Werte als die höchsten religiösen Werte anzusehen: »Was wir an unseren Mitmenschen tun, ist unser Gottesdienst. Das ist das Wesen unserer Tora. Gehen Sie und lernen Sie mit allen Mitmenschen!«
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Matot »Stämme« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 30,2–32,42) © »Du bist dort, wo deine Gedanken sind. Sieh zu, dass deine Gedanken da sind, wo du sein möchtest« (Rabbi Nachman von Brazlaw). Ich lese einen neuen wöchentliche Toraabschnitt, aber er beginnt mit Worten der Rache: »Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: Nimm für die Kinder Israels Rache an den Midianitern; danach sollst du zu deinem Volk versammelt werden!« (Bemidbar 31,1–2). Aber ich will nicht mit Gedanken der Rache (Nekama), sondern mit Gedanken des Trostes (Nechama) leben. Deshalb öffne ich ein früheres Kapitel in der Tora, das über Liebe statt Rache spricht: »Du sollst nicht Rache üben, noch Groll behalten gegen die Kinder deines Volkes, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Ich bin der Ewige« (Wajikra 19,18). Meine Widersacher aus Kreisen religiöser Fundamentalisten hätten mir sofort widersprochen: »Die Tora befiehlt in dem Buch Wajikra die Liebe zu den Kindern deines Volkes, aber in dem Buch Bemidbar [befiehlt die Tora] die Rache gegen andere Völker wegen der Kinder deines Volkes!« Meine Antwort: Mein Volk lebt seit Tausenden von Jahren unter anderen Völkern. Es hatte ihre Sprachen, ihre Kulturen und Bräuche gelernt. Wenn ich an Rache denke, werde ich von Rächern umgeben, da böse Gedanken wieder böse Gedanken anziehen. Wenn ich mit dem gleichen Respekt über die Menschen aus anderen Völkern denke, wie ich an meine Stammesangehörigen denke, wird meine friedliche Stimmung die Menschen zu mir ziehen, die ebenfalls nach Frieden und Trost verlangen statt Krieg und Rache: »Du bist dort, wo deine Gedanken sind. Sieh zu, dass deine Gedanken da sind, wo du sein möchtest.«
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Masse »Reisen« (Bemidbar / 4. Buch Mose / Numeri 33,1–36,13) ¡ In der alten Gesellschaft existierten die Gesetze der Blutrache. Die Familie war verantwortlich für den Schutz ihrer Mitglieder. Angehörige mussten die Ermordung ihrer Verwandten rächen. Die Gesetze der Tora versuchten, diese Rache zu beschränken, zumindest für den Fall, dass der Mord absichtslos geschah. Die Gesellschaft musste den unbeabsichtigt zum Mörder Gewordenen vor den Rächern schützen: (Die sechs Zufluchtsstädte) »Und der Herr redete zu Mosche und sprach: Rede zu den Kindern Israels und sage zu ihnen: Wenn ihr über den Jordan in das Land Kanaan kommt, sollt ihr euch Städte wählen, die euch als Zufluchtsstädte dienen, damit ein Totschläger, der einen Menschen aus Versehen erschlägt, dorthin fliehen kann. Und diese Städte sollen euch als Zuflucht dienen vor dem Bluträcher, damit der Totschläger nicht sterben muss, ehe er vor der Gemeinde vor Gericht gestanden hat. Und unter den Städten, die ihr [den Leviten] abgeben werdet, sollen euch sechs als Zufluchtsstädte dienen. Drei Städte sollt ihr diesseits des Jordans abgeben und drei sollt ihr im Land Kanaan abgeben; das sollen Zufluchtsstädte sein. Diese sechs Städte sollen sowohl den Kindern Israels als auch den Fremdlingen und Bewohnern ohne Bürgerrecht unter euch als Zuflucht dienen, damit dahin fliehen kann, wer einen Menschen aus Versehen erschlagen hat. [...] Wenn er ihn aber aus Versehen, nicht aus Feindschaft, stößt oder irgendein Gerät unabsichtlich auf ihn wirft, oder wenn er irgendeinen Stein, von dem man sterben kann, auf ihn wirft, sodass er stirbt, und hat es nicht gesehen und ist nicht sein Feind, und wollte ihm auch keinen Schaden zufügen, dann soll die Gemeinde zwischen dem, der geschlagen hat, und dem Bluträcher nach diesen Rechtsbestimmungen entscheiden. Und die Gemeinde soll den Totschläger aus der Hand des Bluträchers erretten und ihn wieder zu seiner Zufluchtsstadt führen, in die er geflohen war; und er soll dort bleiben, bis zum Tod des Hohepriesters, den man mit dem heiligen Öl gesalbt hat« (Bemidbar 35,9–15.22–25).
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Der ungewollte Mörder musste bis zum Tod des Hohepriesters in der Schutzstadt leben. Der Hohepriester reinigte alle Sünden der jüdischen Gemeinschafft einmal im Jahr am Tag der Versöhnung (Jom Kippur). Wahrscheinlich glaubten die alten Hebräer, dass mit dem Tod des Hohepriesters auch das Blut der versehentlichen Toten gesühnt würde. Viele tausend Jahre sind seitdem vergangen. In unserer Gesellschaft ist es gesetzlich verboten, Rache zu üben. Alles soll vor einem neutralen Gericht überprüft werden. Aber das wurde bereits damals in der Tora aufgeschrieben: »An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin JHWH« (Wajikra 19,18). Es dauerte 3300 Jahre, bis dieses Gesetz der Tora sich in modernen Staatsgesetzen teilweise widergespiegelte. Wir lernen die Gesetze der Tora seit Jahrtausenden, um sie zu verstehen und zu erfüllen, und die ganze Welt lernt mit uns. Aber wie viele moderne Menschen verstehen, dass es um einen Unterricht für Tausende von Generationen geht? Verstehen wir alle, dass wir den zweiten Teil dieses Unterrichts, unter dem Titel »du sollst dich nicht rächen« (Teil 1) »und ihnen nichts nachtragen« (Teil 2), ebenfalls noch mit Tausenden von Generationen lernen müssen? Und der 3. Teil dieses Unterrichts – »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – soll noch weitere 50 000 Jahre warten? »Verfolgen, um zu retten« Eines Tages zog ein Reisender die Straße entlang, als ein Reiter vorbeigaloppierte. Seine Augen blickten böse und an seinen Händen klebte Blut. Einige Minuten später hielt eine Schar von Reitern neben ihm [dem Reisenden] und wollte wissen, ob er jemanden mit Blut an den Händen habe vorbeireiten sehen. Sie wären ihm hart auf den Fersen. »Wer ist er?«, fragte der Reisende. „Ein Übeltäter“, erwiderte der Anführer. »Und ihr verfolgt ihn, um ihn der Gerechtigkeit zu überantworten?« »Nein«, sagte der Anführer, »wir verfolgen ihn, um ihm den Weg zu
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zeigen.« Nur Versöhnung wird die Welt retten, nicht Gerechtigkeit, die im Allgemeinen nur ein anderes Wort für Rache ist.18
18 Anthony De Mello, Warum der Schäfer jedes Wetter liebt, Verlag Herder, 2013, S. 72
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D E WA R I M (5. BUCH MOSE / DEUTERONOMIUM)
Dewarim »Reden« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 1,1–3,22) §
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enn man selbst seine Fehler sieht, sieht man auch den Weg, diese Fehler zu korrigieren, um seine Vision umzusetzen! Am Anfang unseres Toraabschnitts »Dewarim« lesen wir: »Dies sind die Worte, die Mosche zu den Kindern Israel in der Wüste auf der Ebene gegenüber Suf zwischen Paran und Tofel, Lawan, Chazeirot und Di-Sahaw über den Jordan sprach [...]. Der Ewige, unser Gott, redete zu uns am Chorew, indem er sprach: Lange genug habt ihr an diesem Berge geweilt. Wendet euch um und brechet nun auf und ziehet weiter [...] in das Land der Kanaaniter« (Dewarim 1,1.6–7). Die Israeliten hatten früher viele Fehler gemacht, deshalb sollten sie vierzig Jahre in der Wüste leiden, statt in dem ihnen zugesprochenen fruchtbaren Land zu leben. Jetzt bekommen sie eine neue Chance, aber um diese Chance zu erhalten, sollen sie verstehen, warum ihre Eltern diese Chance vor vierzig Jahren verpasst haben. Raschi hat diese Verse aus Dewarim folgendermaßen kommentiert: »Alle diese Orte sind Anspielungen auf die Sünden, die das jüdische Volk in den vierzig Jahren der Wanderung durch die Wüste Sinai begangen hat. Mosche wies sie nur durch Andeutungen zurecht, um sie nicht zu demütigen.« Mosche Rabbenu hat auf diese Weise gesprochen, damit die Söhne Israels selbst ihre Sünden erkennen. Wenn man selbst seine Fehler sieht, sieht man auch den Weg, diese Fehler zu korrigieren.
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»Und gedenke des ganzen Weges, durch den dich der Ewige, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütige und versuche, dass kund werde, was in deinem Herzen sei, ob du seine Gebote halten werdest oder nicht« (Dewarim 8,2–3). Über diese prophetische Weisheit gibt es auch eine moderne Erzählung: »Ein Rabbi kritisierte einmal scharf in seiner Predigt in der Synagoge eine bestimmte Einstellung und Verhaltensweise. Später beklagte sich einer der Anwesenden bei ihm: Rabbi, warum habt Ihr mich öffentlich gescholten? Hättet Ihr mich nicht unter vier Augen auf meine negativen Züge aufmerksam machen können, ohne mich vor allen Leuten zu blamieren? – Der Rabbi erwiderte: Habe ich dich gemeint? Offenbar ja. Weißt du, ich bin Hutmacher. Ein Hutmacher macht Hüte und stellt sie ins Schaufenster. Leute kommen herein und probieren sie an, bis jemand einen Hut findet, der ihm gut passt. An wen hat der Hutmacher gedacht, als er diesen Hut machte? Nun, er machte ihn genau für den Kunden, der glaubt, er passe ihm!« Der Rabbi wollte keinen Menschen wegen seiner ungehörigen Taten in der Öffentlichkeit beschämen. Er wollte, dass jeder Mensch seine Fehler selbst sieht. Man kann dann den Weg zu seinem Erfolg finden, wenn man seine früheren Fehler erkennt, die diesen Erfolg verhindert haben. Wenn wir die Richtung zu unserem Erfolg verlieren, können sogar von uns begangene Fehler uns hinweisen, wie wir zu unserer erfolgreichen Richtung zurückkehren können! Der Mensch entdeckt sein Wachstumspotential erst in den Herausforderungen für seine Zukunft. Er sieht dann, wie er seinen eigenen Jordan überqueren kann: »Lange genug habt ihr an diesem Berge geweilt. Wendet euch um [...] und ziehet weiter [...] in das Land der Kanaaniter[...]« (Dewarim 1,6). Unsere Delegation fährt jetzt zur Unionstagung in Bonn. Wir beten alle, dass der Gott Israels uns sehen hilft, wie wir zusammen die LJGH weiter entwickeln können, damit wir uns als freie Menschen und freie Juden in Hamburg wieder zu Hause fühlen können.
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9CGVEJCPCP{7PFKEJǤGJVGl (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 3,23–7,11) © Wir lernen diese Woche einen sehr wichtigen Toraabschnitt: »Waetchanan« – »(er hat) gefleht«. Mosche (Rabbenu, Gedol-ha-Newiim) hat vor seinem Tod zu Gott gefleht, in das Land Israel eintreten zu dürfen. Mosche hat sein Volk durch die Wüste, durch die vierzig schwierigsten Jahre des gemeinsames Leidens und der gemeinsamen Hoffnung endlich zu diesem Land geführt. Aber welche Belohnung bekommt Mosche Rabbenu dafür von Gott? »Steige auf den Gipfel des Pisga und hebe deine Augen auf gegen Westen und gegen Norden und gegen Süden und gegen Osten, und schaue mit deinen Augen; denn du wirst diesen Jordan nicht überqueren« (Dewarim 3,27). Mosche konnte vor 3300 Jahren nur einen letzten Blick von einem Berg im Land Moab auf das ganze Land Israel werfen. Das war alles, was er erreichen konnte, nach vierzig Jahren endloser Bemühungen, nach Jahren voller Leiden und Todesrisiko! Ich habe, wie viele Israelis, auf der anderen Seite des Jordan gelebt. Ich habe oft, vor Sonnenuntergang, von den Bergen in der judäischen Wüste zu den Bergen Moab in Jordanien hinübergeblickt. Ich habe die Berge im Land Moab wie einen schönen, unglaublich friedlichen, blauen Traum im Himmel gesehen. Ich habe auch, wie viele Israelis, die Schönheit des Landes Israel und des Volkes Israel gesehen, aber ich habe auch die Leiden und den endlosen Krieg und grundlosen Hass zwischen den Menschen erlebt, und ich habe gedacht: »Mosche Rabbenu hat vor 3300 Jahren das Land Israel gesehen, genau wie wir jetzt die Berge Moab, – genau wie in einem friedlichen, himmlischen Traum trotz Leid und Ungewissheit, die es auch heute dort gibt. Allerdings, Mosche Rabbenu, Du siehst diesen Traum noch heute, weil der letzte Augenblick vor dem Tod der einzigartige Augenblick der Ewigkeit ist.
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Wenn ein Stern stirbt, dringt sein letzter Lichtstrahl noch nach Millionen von Jahren durch das ganze Universum. Wenn ein Mensch stirbt, sieht er sein Licht im Licht der Liebe Gottes, weil die Ewigkeit sich nicht in Zeit und Raum versteckt, sondern in der Liebe JHWHs. ©_§v}§ ~ z§ vu u~{ §v¦z u ¡~ u~ Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht (Ps 36,10). Deshalb kann jede Person nur durch selbstlose Liebe zu Gott und zu seinen Geschöpfen für sich selbst den Weg in die Ewigkeit finden! Daher ruft Mosche seinem Volk vor seinem Tod zu: »Schma Israel« – und jeder jüdische Mann und jede jüdische Frau wiederholt seit 3300 Jahren diesen Ruf als Echo vor seinem und vor ihrem Tod: »Höre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig« (Dewarim 6,4). »Gesegnet sei der Name der Herrlichkeit seines Königreichs immer und ewig!« (mJoma 6,2). »Darum sollst du den Ewigen, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen in deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern erzählen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um dein Handgelenk binden. Sie sollen als Merkzeichen auf deiner Stirn sein. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Tore schreiben« (Dewarim 6,5–9). Wir wiederholen diesen Ruf jeden Tag zwei Mal, aber viele von uns hören in diesem Ruf auch, dass Israel einzig ist, wenn alle Kinder Israels einander von ganzem Herzen lieben, denn nur dann hören sie das, was ihnen das »Schma Israel« als einzigem Volk, dem Israel, über Gottes Ewigkeit offenbart.
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Ekew »Sofern« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 7,12–11,25) ¦¡ Viele von uns wurden in der Sowjetunion geboren. Viele von uns haben damals auf den Straßen die Plakate mit dem Bild eines Feldes mit reifem Weizen gesehen. Auf dem Plakat stand geschrieben: »Не хлебом единым« – »der Mensch lebt nicht vom Brot allein«. Sowjetische Propaganda erklärte diese Aussage in dem Sinne, dass das sowjetische Volk jetzt nicht mehr von Brot allein leben wird, sondern auch von Fleisch. Das Fleisch war ein Symbol für Reichtum und Frieden nach den Jahren des Zweiten Weltkriegs, nach vielen Jahren von Leid und Hunger! Aber wer von uns wusste damals, dass diese Worte nur ein gekürztes Zitat aus einem bestimmten Buch sind? Es war doch unmöglich, dieses Buch in einer Buchhandlung oder Bibliothek zu finden. Aber dieses Buch war direkt mit uns verbunden, mit unserer Geschichte und mit unserem Schicksal. Dieses Buch ist »die Tora«. Ja, das ist unsere Tora, ein Beweis unserer Väter und Mütter seit 3000 Jahren. Die Tora erzählt uns über uns selbst schon von Generation zu Generation, und sie lehrt uns, hier und jetzt nicht nur für uns allein zu leben, sondern immer wieder auch zusammen, in Gemeinsamkeit. Also, was bedeutet dieses Zitat, »der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allem, was der Ewige gesagt hat«, in seinem natürlichen Kontext? Der Prophet Mosche tröstete seine von der langen Reise durch die Wüste verzweifelten Leute, die aus Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei, endlich bis an die Grenze des verheißenen Landes Israel gekommen waren. Noch eine weitere, neue Angst hatten sie: diese Grenze überhaupt zu überqueren! Deshalb sagte Mosche, dass Gott in Voraussicht das Volk Israel dieser vierzigjährigen Prüfung ausgesetzt hatte, um ihm zu ermöglichen, Erfahrungen zu sammeln, um sich danach – auch im fruchtbaren Land Israel – nur auf Gott zu verlassen: »Und gedenke des ganzen Weges, den dich der Ewige, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütige und versuche,
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dass kund werde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten werdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Man, das du und deine Väter nie gekannt hatten; auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von allem, was Ewige gesagt hat« (Dewarim 8,2–3). mzz z } ~ ¼~£z¥v¼uz¼{¡u~zz z } ~ v@{}}u { ¼{¡u~ Nein, es war uns damals, in Russland, nicht möglich, unsere eigene Kultur und Geschichte deutlich zu erkennen und unsere alte Muttersprache, in der die Tora geschrieben ist, zu lernen, und unsere genialen Lehrer und Wissenschaftler in der Schule oder an der Universität zu studieren. Der sowjetische Staat hat, wie kein anderer Staat in der Welt, die unterschiedlichsten nationalen Kulturen unterstützt, – alle, aber mit einer Ausnahme: Ja, unser Name war damals Ausnahme! Wir wurden in sowjetischen Pässen als »Juden« gekennzeichnet, aber es war ausdrücklich unerwünscht, dass wir wie Juden lebten, die jüdische Sprache sprachen, und mit anderen Juden in der ganzen Welt kommunizierten! Die Juden in der westlichen Welt nannten uns »The Jews of Silence« – »Die Juden der Stille«. Aber wir sind nicht »still« geblieben. Wir haben geschrien in der inneren Stille unserer Seele. Unsere Seele weinte leise wegen des Erstickens in der »heimischen Gefangenschaft«. Es war eine schreckliche Tortur für jeden jüdischen Mann und für jede jüdische Frau, weil er und sie selbst nicht wussten, wer er oder sie wirklich war, wie ein Kind, das in einer Herde von Wölfen aufgewachsen ist: Es passte sich instinktiv an, ein Wolf unter den Wölfen zu sein, aber es war doch kein Wolf. Nein, wir konnten nicht still sein, wir haben jeder für sich selbst unser „ich bin, der ich bin“ gesucht und erschaffen, aber jeder allein, auf seine eigene Art und Weise. Jeder führte diesen Kampf für das Recht allein, um ein freier, würdiger, selbstbewusster Mensch zu sein! Rabbi Israel ben Elieser (§¡§¨), der Baal Schem Tow (ein Besitzer der guten Namen), wie einst der Prophet Mosche, erzählte schon 250 Jahre zuvor ein Gleichnis, das zur sowjet-jüdischen Tragödie passt: »Ein König hatte nur einen Sohn, der sein Augapfel war. Er wollte,
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dass sein Sohn viel lernte und viele Kulturen kennenlernte; darum schickte er ihn mit reichlich Silber und Gold in ein fernes Land. Aber der Sohn vergeudete das ganze Geld, bis er völlig bankrott war. In seiner Verzweiflung beschloss er, zu seinem Vater zurückzukehren. Nach großen Schwierigkeiten stand er endlich am Tor des Schlossgartens. Doch im Laufe der Zeit hatte er seine Muttersprache vergessen, und die Wachen erkannten ihn nicht. Schließlich begann er verzweifelt zu schreien, und der König erkannte die Stimme seines Sohnes, eilte hinaus, herzte und küsste ihn und brachte ihn in den Palast. Liebe Freudinnen, liebe Freunde, etwas will ich Ihnen aufgrund meiner bescheidenen Erfahrung sagen. Es ist einerseits einzigartig, aber andererseits auch höchst individuell: Jede tapfere jüdische Frau und jeder tapfere jüdische Man hat auf ihre oder auf seine eigene Art und Weise die Sowjetunion erlebt und überlebt. Ich bin in Stalins Exil in Sibirien, nach dem Krieg, nach der Schoa, geboren. Mein Vater Tobias (Tovia) wollte mir den Namen »Michael« geben, aber ein sowjetischer Beamte sagte ihm sarkastisch: »Warum wollen Sie, die Juden, sich hinter den russischen Namen verstecken?« Dieser sowjetische Beamte, ein Ignorant, wusste nicht, dass »Michael« auch ein jüdischer Name ist. Er bedeutet auf Hebräisch: »Wer ist wie Gott (der Gott Israels)?!« Dann antwortete mein Vater Tovia Ben Pessach zornig: »Schreiben Sie den Namen meines Sohnes. Sein Name ist Mojessei.« Mojessei – Moses – Mosche – ist der Name des größten Propheten Israels, der seine Brüder und Schwestern aus dem Hause der Sklaverei, aus dem Land der Diktatoren und der Israelitenhasser herausgeführt hat. Mein Name, den ich von meinem Vater (er war damals nur 24 Jahre alt!) bekommen habe, ist zu einem Kompass auf den gewundenen Pfaden meines Lebens geworden. Jetzt bin ich ein israelischer Rabbiner. Hebräisch ist meine zweite Muttersprache. Die Tora ist für mich das Brot vom Himmel. JHWH, der Gott Israels, der Vater im Himmel, ist von meiner Kindheit bis jetzt mein Hauptansprechpartner. Ich wäre nie mit meiner israelisch-jüdischen Familie, mit meinen Söhnen, die in Jerusalem geboren wurden, nach Deutschland
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gekommen, wenn nicht zweihunderttausend meiner jüdischen Brüder und Schwestern hier Zuflucht vor der antisemitischen Vergangenheit in der ehemaligen Sowjetunion gefunden hätten. Ich weiß, dass es an Ihrem Tisch Brot zu essen gibt – Gott sei Dank! Aber wir wissen doch auch, dass unsere Seele nicht nur Brot braucht, sondern unsere uns bewusste Identität, unser »ich bin, der ich bin«, wie die Kinder Israels, die Kinder des Vaters im Himmel. Wir sind, wer wir sind, wie der Prinz der Geschichte vom Baal Schem Tow, auch wenn wir eine sowjetische, atheistische Erziehung erhielten, und wenn wir nicht einmal in der Lage waren, Hebräisch zu lernen. Ich habe die letzten zehn Jahre in verschiedenen jüdischen Gemeinden in Deutschland gedient. Ich sammelte Erfahrungen in Ultra-Orthodoxen Einheitsgemeinden sowie in Liberalen Jüdischen Gemeinden. Ich habe jetzt endlich etwas verstanden: Es gibt keine Zukunft für die Söhne und Töchter Israels an einem Ort, an dem es keine Freiheit der selbstbewussten Identität für jede Person gibt. Wir haben doch die Chance für diese Freiheit der Identität in unserer Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hamburg, weil Menschen noch immer in die Gemeinde eintreten, die zwar verschiedene Sprachen sprechen und von unterschiedlichen Mentalitäten geprägt sind, die aber ihre eigene Würde und Freiheit und auch die ihrer Mitmenschen wertzuschätzen wissen. Wir alle haben schon gut verstanden: Es gibt keine Freiheit ohne Risiko, nicht einmal in unserem Land hier, wo die Tora für alle Juden frei zugänglich ist. Lassen Sie uns nicht auch noch unter den europäischen Juden »Juden der Stille« sein, und vor allem nicht unter denjenigen, die plötzlich beschlossen haben, dass sie jetzt für uns »die tauben Wachen am Tor des Schlossgartens, am Tor der Tora«, sein wollen. Lassen Sie uns mit der lauten Stimme unserer Seele schreien, bis unser Vater im Himmel, die Stärke Israels und Israels ewiger Helfer, uns hören wird! Selbst wenn kein Mensch uns hören will, wird Er uns hören, wie er die Stimme meines Vaters Tobias in der Eiswüste der Unmenschlichkeit gehört hat!
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Re’eh »Siehe!« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 11,26–16,17) § Mosche konnte vor 3300 Jahren alle Kinder Israels versammeln, um seine letzte Frage zu stellen, denn damals waren wir nur wenige Tausende: »Siehe, ich lege euch heute den Segen und den Fluch vor: den Segen, wenn ihr den Geboten des Ewigen, eures Gottes, gehorsam seid, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr den Geboten des Ewigen, eures Gottes, nicht gehorsam sein werdet und von dem Weg, den ich euch heute gebiete, abweicht, sodass ihr anderen Göttern nachfolgt, die ihr nicht kennt« (Dewarim 11,26–28). Für Mosche war das ein sehr wichtiges Thema. Deshalb wiederholt er: »Ich nehme heute Himmel und Erde gegen euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt; so erwähle nun das Leben, damit du lebst, du und dein Same, indem du den Ewigen, deinen Gott, liebst, seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst; denn das ist dein Leben und bedeutet Verlängerung deiner Tage, die du zubringen darfst in dem Land, das der Ewige deinen Vätern, Abraham, Jitzchak und Jaakow, zu geben geschworen hat« (Dewarim 30,19–20). Heute leben insgesamt sechzehn Millionen Juden in der Welt, fast so viele, wie es vor der Schoa waren Ich denke, dass es für Mosche schwierig wäre, uns alle an einem Ort, in den Bergen am Jordan, zu versammeln, um seine Frage zu wiederholen. Aber Millionen von Juden werden sich am kommenden Samstag in ihren Synagogen versammeln, um diese Frage wieder in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Ländern zu hören. Welche Antwort werden wir dann dem altehrwürdigen Mosche geben? Typischerweise antworten einige Juden in einem solch komplizierten Fall mit einer Frage: »Du fragst uns: Fluch oder Segen? Leben oder Tod? – Ja, wo ist hier die Wahl? Fragtest Du uns: die
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Geldbörse oder das Leben?, – ja, dann hätten wir etwas zu wählen.« Andere Juden antworten auf Mosches Worte: »Wer möchte für sich selbst den Fluch des Todes? – Wir würden uns natürlich nur für den Segen und nur für das Leben entscheiden. Aber haben wir immer ein solches Glück?« – Wenn wir sehen, wie die Menschen freiwillig ihr eigenes Leben beschwerlich machen, wird Mosches Frage für uns verständlicher. Wir sehen ständig die Regale mit Zigarettenpackungen in den Geschäften, auf denen die Warnung steht: »Rauchen ist tödlich«, und trotzdem werden jedes Jahr mehr und mehr Zigaretten gekauft. Es wird angenommen, dass in diesem Jahr über eine Milliarde Menschen nur wegen ihres Zigarettenkonsums sterben werden. Wenn wir nun eine Liste mit allen anderen Fällen erstellen würden, wie Menschen freiwillig ihr eigenes Leben zerstören und sich selbst unglücklich machen, einschließlich des religiös- fundamentalistischen Terrors, wird die Frage Mosches noch verständlicher für uns: »Triff du deine Wahl selbst. Lass niemanden für dich deine Wahl treffen, sagt die Tora dem jüdischen Volk in allen Generationen. – So erwähle nun das Leben, damit du lebst, du und dein Same, indem du den Ewigen, deinen Gott, liebst, seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst; denn das ist dein Leben und bedeutet Verlängerung deiner Tage.« Die Mündliche Tora erklärt uns, was diese Wahl eigentlich bedeutet: »Der Engel Leila, der über die Schwangerschaft eingesetzt ist, [...] fragt den Ewigen vor der Geburt: Schöpfer der Welt, was soll aus diesem Tropfen werden, ein Held oder ein Schwächling, ein Weiser oder ein Tor, ein Reicher oder ein Armer? Er sagt aber nicht: ein Frevler oder ein Gerechter. Dies, nach Rabbi Chanina, denn Rabbi Chanina sagte: Alles ist in den Händen des Himmels, ausgenommen die Gottesfurcht« (Traktat Nida 16b). – Das ist die Wahl, die in die Hände »von diesem Stäubchen« gelegt ist: ein ehrlicher Mensch oder ein Schuft zu sein. Deine Liebe zu leben oder im Hass steckenzubleiben. Hier ist die Wahl, unser eigenes Leben, und das der ganzen Nation zu bestimmen. Nun treffen wir uns hier in unserer Synagoge an diesem Schabbat, um Mosche Rabbenu zu antworten? – Ja oder Hallelu-Ja? Alles ist in den Händen des Himmels, ausgenommen die Gottesliebe!
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Schoftim »Richter« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 16,18–21,9) £¨ Der Monat Elul hat begonnen, die Zeit der Umkehr für das jüdische Volk, die Zeit, zu ihrem Vater und König zurückzukehren. Wir lesen wieder die Worte des Trostes, die Worte unseres Propheten Jeschajahu: »Hört auf mich, ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, ihr, die ihr den Ewigen sucht! Seht auf den Felsen, aus dem ihr gehauen, und auf den Graben, aus dem ihr gegraben seid!« (Jes 51,1) – Seht auf den Felsen der Wüste Sinai, aus dem ihr vor 3300 Jahren gehauen, und auf den Graben der Schoa, aus dem ihr vor 72 Jahren gegraben seid! »Ich, ich bin es, der euch tröstet. Wer bist aber du, dass du dich vor dem sterblichen Menschen fürchtest, vor dem Menschenkind, das wie Gras dahingegeben wird, und dass du den Ewigen vergisst, der dich gemacht hat, der den Himmel ausgespannt und die Erde gegründet hat? Und allezeit, den ganzen Tag, fürchtest du dich vor dem Grimm des Bedrückers, wenn er sich rüstet, um zu verderben. Wo ist denn nun der Grimm des Bedrückers?« (Jes 51,12–13). Nun, wo war der Grimm der Unterdrücker, als sowjetische Juden vor 26 Jahren in Moskau in Flugzeuge stiegen, um nach Israel oder nach Amerika oder nach Deutschland auszureisen? Allerdings, viele blieben auch dort, wo sie zuvor schon gelebt hatten, denn auch dort war es inzwischen möglich, Hebräisch zu lernen, ohne befürchten zu müssen, dass dein Lehrer dafür ins Gefängnis gesteckt würde. Nein, nicht alle russischen Juden waren damals eifrig interessiert, Hebräisch zu lernen oder die Tora in ihrer eigenen Sprache zu lesen, aber wir verstehen alle bis heute nicht, warum ein jüdischer Student aus der Universität geworfen werden sollte wegen des Tanzes mit der Torarolle in der Synagoge an Simchat Tora, oder warum ein Lehrer für die hebräische Sprache zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt werden sollte. Efraim Kholmyansky erinnert sich in seinem Buch »Die Tonalität
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der Stille« (Jerusalem 2007), wie er 1985 in der Sowjetunion verurteilt wurde. Efraim wollte damals nach Israel auswandern, deshalb lehrte er privat die hebräische Sprache und jüdische Kultur. Es war mittlerweile unmöglich, sogar unter sowjetischen Gesetzen, ihn nur aus diesen Gründen zu verurteilen, also wurde er zuerst ohne Grund verhaftet, um danach Gründe für die Verhaftung zu finden. So wurde zum Beispiel, als Efraim bereits in Haft war, während einer Wohnungsdurchsuchung eine Pistole gefunden, die nie dort gewesen war! Efraim Kholmyansky schrieb: »Erinnern Sie sich, dass Pistolen vom Typ »Walter« in der Zeit von 1931 bis 1941 an die Kriminalpolizei Nazi-Deutschlands ausgegeben wurde? Es ist durchaus möglich, dass mit dieser Pistole, deren Bewahrung mir zugeschrieben wird, viele unschuldige Juden getötet worden sind. Die Tatsache, dass diese Waffe auf mich geworfen wurde, denke ich, ist ein Spott gegenüber deren Andenken!« Sowjetische Richter wussten, dass der Fall frei erfunden war, also verurteilten sie Efraim »nur!« zu einem Jahr und sechs Monaten. – Ja, die hebräische Sprache in der Sowjetunion zu lernen war Anlass genug, um Angst zu haben, und es war ebenso gefährlich, die Sprache zu lehren. Aber wo, wo ist der Zorn dieser Unterdrücker jetzt? Wo ist die Wut der Ägypter, der Sklaven des Pharaos? Wo ist der »gesetzliche« Hass der NaziVerbrecher? Wo ist die heimtückische List der KGB-Ermittler? Und wo sind diese Richter, die nicht nur Richter waren, sondern Ankläger und Henker in einer Person? Sie hatten bereits einen unschuldigen Mann verurteilt, bevor der Prozess begann, und sie verwandelten den Platz des Gerichtshofes in einen Ort der Lynchjustiz! Doch, was heuchlerische Richter angeht, kann man auch in der Gegenwart fragen: Gibt es nicht auch heute ein solches Land, wo all diese Verbrechen Tag und Nacht wieder begangen werden? Und kann so etwas selbst im jüdischen Volk geschehen? Wenn der Richter, selbst ein Jude, ein ungerechtes Urteil über einen aus seinem eigenen Volk spricht? Dann wäre dieser Richter ein Spötter des Andenkens all jener Juden, die unter den ungerechten Gerichten anderer Völker gelitten haben. –Die Antwort auf diese Frage finden wir in unserem wöchentlichen Toraabschnitt:
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»Du sollst dir Richter und Vorsteher einsetzen in den Toren aller deiner Städte, die der Ewige, dein Gott, dir gibt, in allen deinen Stämmen, damit sie das Volk richten mit gerechtem Gericht. Du sollst das Recht nicht beugen. Du sollst auch die Person nicht ansehen und kein Bestechungsgeschenk nehmen, denn das Bestechungsgeschenk verblendet die Augen der Weisen und verdreht die Worte der Gerechten. Der Gerechtigkeit, ja der Gerechtigkeit jage nach, damit du lebst und das Land besitzen wirst, das der Ewige, dein Gott, dir geben will« (Dewarim16,18–20). Diese Tora-Gesetze sind heute für uns relevanter denn je zuvor, insbesondere da der jüdische Staat Israel vor siebzig Jahren wiederhergestellt wurde, in dem Juden als Befehlshaber, Richter und Polizisten fungieren. Die Juden konnten ihr Land wieder aufbauen, aber, um dort dauerhaft in Frieden zu leben, sollten unsere Richter auch gerecht handeln. – »Der Gerechtigkeit, ja der Gerechtigkeit jage nach, damit du lebst und das Land besitzen wirst.« Das ist die Antwort der Tora an alle, die ängstlich fragen, wie die Zukunft Israels aussieht? – Und zwar sowohl die Zukunft Israels als auch die Zukunft der Juden in der Diaspora, weil der Staat Israel von den Juden der Diaspora geschaffen wurde, die sich gegen die Ungerechtigkeit gegenüber den Juden unter anderen Nationen erhoben haben. Die sieben Gebote Noachs (Talmud Traktat Sanhedrin 13) enthalten auch eine Aufforderung an die gesamte Menschheit: die Einführung eines Gerichtssystems in weiteren Ländern, um die Gerechtigkeit zu wahren. Juden sind sich bewusst, dass in einem Land, in dem es kein solches Gerichtssystem gibt, sie früher oder später verfolgt werden. Demzufolge sind die Tora-Gesetze in Bezug auf ehrliche Richter sehr relevant, sowohl für die heute lebenden Juden in der Diaspora als auch für die Völker, unter denen sie leben. Auch wenn die jüdischen Gemeinden in der Diaspora klein sind, haben sie doch einen großen Einfluss auf die sie umgebende Gesellschaft, denn ihre Tradition bewahrt die geschichtlichen Quellen der religiösen und ethischen Rechtmäßigkeit für die moderne Zivilisation. Wenn dies für alle Länder wichtig ist, so ist es besonders wichtig für Deutschland wegen seiner jüngsten Vergangenheit. Wir streben an, dass der Einfluss unserer jüdischen Gemeinden hier nur positiv wirkt (Tikun Olam –
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ein hochwichtiges jüdisches Gebot für die Verbesserung [Reparatur / Wiederherstellung] der ganzen Welt!). Aber wie erfüllen wir dieses Gebot? – Es kommt jetzt nur auf uns an! Die Rabbiner in jüdischen Gemeinden sind nicht nur Lehrer, sondern auch religiöse Richter. Wenn Mitglieder jüdischer Gemeinschaften ihren Rabbinern Respekt und Unterstützung in dieser Notsituation zeigen, dann beginnen ihre Gemeinschaften ein jüdisches Leben zu leben. Wenn die Rabbiner in ihren Gemeinden gemäß den religiösen und ethischen jüdischen Gesetzen richten, ohne Ansehen der Person, wenn sie immer nach Gerechtigkeit und Nächstenliebe streben, dann werden ihre Gemeinden wie Oasen der Gerechtigkeit in der Wüste der Unmenschlichkeit, die Sauerstoff echten Friedens für die gesamte Gesellschaft produzieren, weil alle Gesellschaftsschichten seit langem unter den Provokationen eines religiös motivierten Extremismus leiden. Wir wissen doch, dass sich ungerechte »religiöse Lehrer-Ankläger« und »selbsternannte Richter-Henker« aus totalitären religiösen Gruppen hinter diesem Phänomen verstecken. Wir sollten dieses Problem nicht einfach auf die Schultern der Kriminalpolizei übertragen, sondern einen Resonanzraum der Gerechtigkeit unter allen Menschen schaffen. Deshalb empfiehlt unsere Tora den Juden, nicht selbst Machtliebhaber und heuchlerischen Richter zu wählen, weil sie uns alle sehr schnell zurück in das »Ägypten des Pharao« bringen können, in das Haus der Sklaverei und der Ungerechtigkeit [...] (vgl. Dewarim 18,16). Erinnern wir uns, was wir in der Inschrift über den Türen unserer Gemeinde lesen! »Hört auf mich, ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, ihr, die ihr den Ewigen sucht! Seht auf den Felsen, aus dem ihr gehauen, und auf den Graben, aus dem ihr gegraben seid!« – Gehen Sie nicht von sich aus dorthin zurück, unabhängig davon, wozu andere Menschen oder Umstände Sie zwingen möchten. Die Welt leidet wieder unter dem religiös motivierten Terror der Unmenschlichkeit, der danach strebt, die Mitmenschen zu erniedrigen oder sogar zu vernichten. In dieser Zeit sollten wir unsere Mitmenschen in unserer Liberalen Jüdischen Gemeinde mit noch
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größerer Aufmerksamkeit und Würde behandeln, um gegen die Welle der Unmenschlichkeit ständigen Widerstand zu leisten – zusammen mit allen jüdischen Gemeinden in der Welt!
Ki Teze »Wenn du ziehst« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 21,10–25,19) ¥© In unserem Toraabschnitt »Ki Teze« lesen wir: »Und Gott, euer Gott, verwandelte für euch den Fluch in einen Segen« (Dewarim 23,6). Der fremde Prophet Bileam, der Sohn Beors, sollte einmal unsere Vorväter verfluchen, damit das fremde Volk uns vernichten könne, aber Gott hat diesen vergifteten Fluch in einen Segen für das Volk Israel verwandelt. Die Rabbinerin Regina Jonas hat diese Torageschichte im KonzentrationsLager Theresienstadt folgendermaßen kommentiert: »(Gott sagt zu Bileam): Du sollst das Volk nicht verfluchen, denn es ist gesegnet « (Bemidbar 22,12). »Unser jüdisches Volk ist von Gott in die Geschichte gesandt worden als ein »gesegnetes«. Von Gott »gesegnet« sein heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage Segen, Güte, Treue zu spenden – Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu errichten, war und ist Israels Aufgabe. – Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüdischer Treue übernommen. Diesem Ideal dient auch unsere
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ernste, prüfungsreiche theresienstädter Arbeit. Diener Gottes zu sein und als solche rücken wir aus irdischer in ewige Sphären. – Möge all unsere Arbeit, die wir uns bemühten als Diener Gottes zu leisten, zum Segen für Israels Zukunft sein, und die der Menschheit.« (Regina Bat Sarah Jonas, seligen Angedenkens, wurde 1944 mit ihrer Mutter in Auschwitz ermordet, aber ihr geistliches Erbe gibt unserem jüdischen Leben hier in Deutschland sogar nach der Schoa Sinn und Segen.) Dieser besondere Segen Gottes für das Volk Israel stammt aus der Berufung Abrahams und seiner Nachkommen: »Und der Ewige sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde! Und ich will dich zu einer großen Nation machen und will dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein! Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Familien der Erde!« (Bereschit 12,1–3). Das Wort Segen, § – beracha, hat eine zusätzliche Konnotation auf Hebräisch, weil sie ähnliche Wurzeln wie das Verb § – hiwrich hat! Dieses Verb bedeutet: »vermehren, indem man einen Ableger pflanzt«, d. h. Gottes Gegenwart, die Schechina, vermehrt sich durch Awraham und seine Nachkommen in allen Familien der Erde: von Mensch zu Mitmensch! Von Awraham zu dem, der Awraham schenkt. Aber was passiert, wenn jemand Awraham und seine Nachkommen mit Fluch belegt? Ist es möglich, wirklich ein Segen Gottes für diejenigen Menschen zu sein, die uns hassen und verfluchen? – Diese Frage richtet sich eigentlich nicht an uns, sondern an diese hasserfüllten Personen. Aber was wird aus dem Segen Gottes, der in der Gestalt Awrahams zu den Menschen kommt, wenn die Menschen ihm mit Hass begegnen? Er geht zu Gott zurück. Bei Gott verwurzeln sich Awraham und seine Nachkommen tiefer und tiefer in Gottes Gegenwart (Schechina), wie geschrieben steht:
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»Und Gott, euer Gott, verwandelte für euch den Fluch in einen Segen« (Dewarim 23,6). Wenn wir die antijüdischen, antimenschlichen Stimmen in unserer Umgebung hören, hören wir in diesen – gleichsam gegenüber –, die ewige Stimme unserer Väter und Mütter, die diesen Hass schon überwunden haben, um sich in Gottes Gegenwart ewig zu verwurzeln: »Von Gott »gesegnet« zu sein heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage Segen, Güte, Treue, zu spenden. Diesem Ideal dient auch unsere ernste, prüfungsreiche theresienstädter Arbeit, Diener Gottes zu sein, und als solche rücken wir aus irdischen in ewige Sphären. – Möge all unsere Arbeit, die wir uns bemühten als Diener Gottes zu leisten, zum Segen für Israels Zukunft sein, und für die der Menschheit. [...] Aufrechte jüdische Männer und tapfere, edle Frauen waren stets die Erhalter unseres Volkes. Mögen wir vor Gott würdig befunden werden, in den Kreis dieser Frauen und Männer eingereiht zu werden. [...] Der Lohn, der Dank einer Mizwa, einer Großtat, ist die sittliche Großtat vor Gott« (Rabbinerin Regina Jonas). Der Lohn einer Großtat ist ihre Sittlichkeit vor Gott! Das Wasser eines ganzen Ozeans kann ein Schiff nicht zum Sinken bringen, solange es nicht in sein Inneres eindringt. – Die äußerliche Welle von Hass kann dich nicht umfallen lassen, wenn du Gottes Segen von Awraham, und durch alle Generationen bis zu dir, und durch alle Generationen nach dir, in deinem Inneren trägst.
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Ki Tawo »Wenn du kommst« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 26,1–29,8) © Wir sollen nicht auf Morgen warten, um heute glücklich zu sein! In vorherigen Toraabschnit »Ki Teze« haben wir gelernt: »Und JHWH, euer Gott, verwandelte für dich den Fluch in einen Segen, weil JHWH, dein Gott, dich liebhatte« (Dewarim 23,6). Jetzt lesen wir im neuen Toraabschnitt »Ki Tawo« eine noch überraschendere Stellungname: »Alle diese Segnungen werden über dich kommen und dich erreichen, weil du auf die Stimme JHWHs, deines Gottes, hörst« (Dewarim 28,2). Der Segen ist in den europäischen Sprachen oft mit einem Glückwunsch verbunden, aber in der hebräischen Sprache kommt der Segen nicht direkt zu dir, sondern Segen und Friede und die Stille steigen vom Himmel auf dich herab, – buchstäblich »alecha« –, wie das Licht der Sonne, des Mondes und der Sterne von der Höhe auf uns herabkommt, wie der Regen vom Himmel, wie das Wasser aus den Bergen. Aber wie oft heben wir unsere Augen auf zum Himmel? Heutzutage schauen immer mehr Menschen stets hinunter, nicht einmal hinunter auf die Erde, sondern nur hinunter zu ihren Füßen. Dies geschieht vor allem in Großstädten, wo der Horizont schon seit langem nicht mehr sichtbar ist. Wie oft sehen wir den Himmel in der U-Bahn oder am Arbeitsplatz? Wie oft schauen wir in die Augen unserer Mitmenschen, in diese Sterne aus den Tiefen der menschlichen Galaxien im geistlichen Weltall Gottes? Wenn wir denn Zeit hätten, den Himmel zu betrachten, zum Beispiel, wenn wir auf den Bus warten und uns langweilen, auch dann schauen wir nicht hinauf zum Himmel, sonder starren auf unser Telefon. Wir würden sehr überrascht sein, wenn ein Passant plötzlich auf der Straße steht und seinen Kopf hebt, um zu beobachten, welch schöne
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neue Welten die Wolken am Himmel jeweils bilden. Aber wir sind nicht überrascht, wenn wir Kinder, Jugendliche und sogar alte Leute sehen, die unterwegs nur den kleinen schwarzen Bildschirm ihres Smartphones stundenlang überwachen! Sehen Sie, wie treu ergeben sie sich vor ihrem Smartphone verneigen, wie betende Juden vor der Torarolle im Gebet am Tag der Versöhnung. Unsere Vorväter und Vormütter sind immer vor Sonnenaufgang aufgestanden, um sich für den Sonnenaufgang vorzubereiten. Für sie war das ein wichtiges, einzigartiges Ereignis, wichtiger als das, was der Radiosprecher uns jeden Tag mit seiner angespannten Stimme im Nachrichtensender berichten mag. Für sie waren das Licht und die Wärme der Sonne ein wunderbarer Segen von oben. Sie dankten Gott dafür – zusammen mit Bäumen, Feldern und Wäldern – aus ganzem Herzen. Uns scheinen unsere Vorfahren primitiv und ignorant gewesen zu sein! Waren sie es wirklich? Hat Gott die Sonne in den Himmel gehängt, wie wir eine Glühbirne unter die Decke hängen, dass wir nicht über die Steine auf der Straße stolpern? Sollte Gott lieber jeden Abend die Sterne als Laternen anzünden, um uns den Weg zu unserem Haus auf der Erde zu zeigen? Nein, das Smartphone hat uns seit langem »wissenschaftliches Denken« gelehrt. Nur wenn einmal der Akku leer ist, bekommen wir eine Chance, die Sonne am Himmel zu bemerken, – und welche Gedanken uns dann erst in den Kopf kommen: »Diese brennende Sonne wird nach fünf Milliarden Jahren explodieren und unsere Erde verbrennen«, denkt eine verärgerte Person, die plötzlich den Kontakt zu ihrem Smartphone verloren hat. »Dieser schreckliche Moment nähert sich uns allen mit jedem nächsten Sonnenschein!« »Nein, nein, sei mir nicht so böse«, antwortet das Echo von Gottes Stimme vom Himmel her. »Ich wollte dir nur zeigen, wie schön diese Welt ist. Und wenn der Akku dieser zeitlichen Sonne jemals ausgeht, habe ich schon bald Milliarden von neuen Sonnen vorbereitet. Wähle für dich die schönsten und friedlichsten von ihnen. Ich will, dass mein Segen und Frieden und meine Leben spendende Stille, dich immer erreichen werden, auch wenn du dich vor meinem Licht in deinen
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primitiven, dunklen Gedanken versteckst. » »Ai, ai, ai, etwas mit mir stimmt nicht«, fängt ein Mensch an, sich neue Sorgen zu machen, »wenn ich schon die Stimme Gottes aus dem Himmel höre. Alles klar. Ich habe den Termin mit meinem Psychotherapeuten wieder verpasst. Es ist Zeit, seine Sekretärin anzurufen und einen neuen Termin abzusprechen!« Also, was bedeutet folgende Aussage für uns heute: »Alle diese Segnungen werden über dich« nicht nur »kommen«, sondern sie werden »dich erreichen«! – Das heißt, auch wenn du auf deine Füße schaust, ohne die Erde unter dir zu fühlen, und dein Herz kälter und kälter wird wegen der Ungewissheit, dann umarmt dich trotzdem Gottes Sonne mit ihrer Wärme aus der Höhe. Also, was bedeutet der folgende Ausdruck für uns heute: »Weil du auf die Stimme JHWHs, deines Gottes, hörst« (Dewarim 28,2) Das bedeutet, dass, wenn du von einer ständigen Besorgnis angegriffen würdest, und du nicht mehr in der Lage wärst, die friedliche Stille Gottes in deinem Innersten zu hören, würde doch Gott sie in dir bewahren, – wie seinen Augapfel. Wir sollen nicht auf Morgen warten, um heute glücklich zu sein!
Nizawim »Ihr steht« (Dewarim /5. Buch Mose / Deuteronomium 29,9–30,20) ¥ Wochenabschnitt »Nizzawim« – »Wir stehen vor Gott!« »Amchu«: Ohne Liebe gibt es keine Freiheit, und ohne Freiheit gibt es keine Liebe. In unserem Torawochenabschnitt »Nizzawim« lesen wir, wie das ganze Volk einen Bund mit Gott schließt. Mosche versammelte das ganze Volk Israel in den Bergen von Moab. Er erneuert die Vereinigung des Volkes mit Gott, bevor das Volk in das Land Israel
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kommt. Die Tora zählt alle auf, die in diese Vereinigung eintreten, – nicht nur Mosche im Namen des ganzen Volkes, und nicht nur die Regierenden des Volkes, sondern auch Frauen, Kinder und sogar Fremdlinge (gerim): »Ihr alle steht heute vor dem Ewigen, eurem Gott, — eure Häupter, eure Stämme, eure Ältesten und eure Vorsteher, alle Männer Israels; eure Kinder, eure Frauen und dein Fremdling, der inmitten deines Lagers ist, von deinem Holzhauer bis zu deinem Wasserschöpfer, um einzutreten in den Bund des Ewigen, deines Gottes, und in seine Eidverpflichtung, die der Ewige, dein Gott, heute mit dir abschließt, damit er dich heute bestätige als sein Volk, und dass er dein Gott sei, wie er zu dir geredet hat, und wie er es deinen Vätern Abraham, Jitzchak und Jaakow geschworen hat. Denn ich schließe diesen Bund und diese Eidverpflichtung nicht mit euch allein, sondern sowohl mit dem, der heute hier mit uns steht vor dem Ewigen, unserem Gott, als auch mit dem, der heute nicht hier bei uns ist« (Dewarim 29,9–14). »Fremdling«, auf Hebräisch »ger« aus dem Verb »lagur«, bedeutet wohnen, mit wohnen. Zum Beispiel, »ani gar be-hamburg« bedeutet: »Ich wohne in Hamburg«; aber »ani ger be-Hamburg« bedeutet: »Ich bin ein Ausländer, ein Fremder, in Hamburg.« Immigranten können z. B. nicht an Parlamentswahlen teilnehmen, solange sie keinen deutschen Pass haben. Aber wenn sie einen deutschen Pass bekommen, sind sie nicht mehr Immigranten. Die Tora erwähnt anderseits, dass in der Antike die israelitischen Fremdlinge mit allen Kindern Israels auf derselben Stufe ein Bündnis mit Gott geschlossen haben. Wenn sie unter dem Volk Israel leben, hören sie gemeinsam mit ihm die Voraussetzungen für den Bundesschluss mit Gott: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei, herausgeführt habe« (Schemot 20,1). Wenn sie diese Bedingung erfüllen, nicht in die Heimat der Sklaverei
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zurückzukehren, treten sie in diesen Bund ein. Aber diejenigen, die weiter gemäß der Gesetze der Sklaverei agieren, verletzen diesen Bund mit dem Gott Israels. Sie unterscheiden Juden von anderen Völkern nur gemäß der äußerer Kriterien, aber Freiheit ist viel mehr die innere Einstellung als nur eine äußere Lebensweise. Dr. Bruno Italiener, Oberrabbiner des Tempels, der ehemaligen Liberalen Synagoge in Hamburg, hat am Zweiten Tag des Neujahresfestes 1936 geprädigt: »Judesein – noch niemals hat es bedeutet, von Menschengnaden erhoben oder verworfen zu sein. Wir sind anders, weil unser Gott es will, weil wir anders sein sollen, Ihm zugehören, Ihm anhangen, dem Einen Gott, – das eine, das ewige Volk«19 Jude zu sein, das bedeutet u. a., sich nicht auf die Barmherzigkeit der Menschen zu verlassen, sondern ein volles Leben in der Umlaufbahn der Liebe und des Vertrauens auf Gott zu leben. Der bekannte deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki floh mit seiner Frau Tosia aus dem Warschauer Getto. Eine polnisches Ehepaar, Gawin und Genia Bolek, versteckte sie. Die ersten Stunden der Befreiung waren für Marcel Reich, wie ein Treffen mit dem Volk Israel in den »Bergen Moab«: »Anfang September 1944 gab es keinen Zweifel mehr, dass die deutsche Besatzung nur noch wenige Tage dauern würde. Am 7. September war morgens gegen neun Uhr ein ungeheuerlicher Kriegslärm zu hören, alles bebte – und unsere Laune wurde immer besser: Nie habe ich Krach mehr genossen, nie hat mir Lärm mehr gefallen. Denn das war die Rote Armee, das war ihre von uns erwartete, erhoffte, ersehnte Offensive. Schon nach einer Viertelstunde war unser Haus zwischen den Fronten: Aus dem Fenster der westlichen Seite sah man, erschreckend nahe, deutsche Artilleristen, auf der östlichen in einiger Entfernung – wir trauten unseren Augen nicht – tatsächlich russische Infanteristen. Diese höhst bedrohliche Lage dauerte nicht lange, etwa eine halbe Stunde. Dann pochte jemand kräftig, offenbar mit einem Gewehrkolben, an die Haustür. Zitternd und mit erhobenem Haupt öffnete Bolek die Tür. Vor ihm stand ein müder russische Soldat und fragte laut: »Nemzew njet?« – »Keine Deutschen hier?« Wo wir fünfzehn Monaten unentwegt 19 Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform: Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, S. 265
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fürchten mussten, jemand würde an die Tür klopfen und fragen: »Keine Juden hier?« Wo diese Frage noch vor einer Stunde für uns den Tod bedeutet hätte, da wurden jetzt Deutsche gesucht. Bolek verneinte und rief mich. Er nahm an, mir würde es eher gelingen, mich mit dem russischen Soldaten zu verständigen. Dieser schaute mich scharf an und fragte: »Amchu?« Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um ein in Rußland gebräuchliches Wort handelt (es bedeutet etwa: »Gehörst du auch dem Volk an«), mit dem sich Juden vergewissern, dass ihr Gesprächspartner ebenfalls Jude sei. Da er meine Ratlosigkeit sah, formulierte er die Frage direkt: Ob ich ein »Jewrej« sei? Dies ist die russische Vokabel für »Hebräer«. Ich antwortete rasch: »Ja, ich, Hebräer.« Lachend sagte er: »Ich auch Hebräer. Mein Name Fischmann.« Er drückte mir fest die Hand und versicherte, er werde bald wiederkommen, jetzt aber habe er es eilig: Er müsse dringend nach Berlin. Waren wir also frei? Bolek meinte, wir müssten noch über Nacht bleiben, denn die Russen könnten ihre Front zurückziehen, und die Deutschen, der Teufel soll sie holen, könnten vorübergehend wiederkommen. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns: Zwei geschwächte, ausgehungerte, jämmerliche Menschen machten sich auf den Weg. Bolek murmelte: »Wir werden euch niemals wiedersehen.« Doch schien mir, da er bei diesen Worten freundlich lächelte. Genia fuhr ihn an: »Red keinen Scheißdreck!« Wir wollten schon aufbrechen, da sagte Bolek: »Ich hab hier etwas Wodka, lasst uns ein Gläschen trinken.« Ich spürte, dass er uns noch etwas mitzuteilen hatte. Er sprach ernst und langsam: »Ich bitte euch, sagt niemandem, dass ihr bei uns gewesen seid. Ich kenne dieses Volk. Es würde uns nie verzeihen, daß wir zwei Juden gerettet haben.« Genia schwieg. Ich habe lange gezögert, ob ich diesen erschreckenden Ausspruch hier anführen soll. Wir, Tosia und ich, haben ihn nie vergessen. Aber wir haben auch nie vergessen, dass es zwei Polen waren, denen wir unser Leben verdanken, Bolek und Genia [...]. Nein, es war nicht die Aussicht auf Geld, die Bolek und Genia veranlasste, so zu handeln, wie sie gehandelt haben. Es war etwas ganz anderes – und ich
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kann es nur mit großen längst abgegriffenen Worten sagen: Mitleid, Güte, Menschlichkeit«20 »Amchu« auf Jiddisch, oder »Amcha« auf Hebräisch bedeutet: »Dein Volk Israel, – das Volk des Gottes Israels«. Wir waren oft »Fremdlinge« unter anderen Völkern, aber Bolek und Genia haben nicht einmal daran gedacht, »Gerechte unter den Völkern« für das Volk Israel zu werden, als sie das jüdische Ehepaar retteten. »Amchu«: Ohne Liebe gibt es keine Freiheit, und ohne Freiheit gibt es keine Liebe.
Wajelech »Und er ging« (Dewarim / 5. Mose / Deuteronomium 31,1–30) »Und Mosche ging hin und redete diese Worte zu ganz Israel, und er sprach zu ihnen: Ich bin heute hundertzwanzig Jahre alt; ich kann nicht mehr aus- und einziehen; auch hat der Ewige zu mir gesagt: Du sollst diesen Jordan nicht überschreiten!« (Dewarim .)2–31,1 Mosche führte das Volk Israel aus Ägypten, weil Gott ihm das Land mit Milch und Honig versprochen hatte, aber weder er selbst noch die, die ihm folgten, erreichten dieses Land, sondern erst ihre Kinder, die in der Wüste geboren worden waren! »Nun, siehst du?«, – sagt mir ein fleißiger Zuhörer, – »wir haben geduldig ein Jahr lang die ganze Tora mit dir studiert, um endlich herauszufinden, dass all dies für diejenigen, die sich entschieden haben, Mosche zu folgen, vergeblich war?!« Aber wir werden nicht alle selbstsüchtig! Die Eltern haben viele Schwierigkeiten überwunden und eine neue Generation unter extremen Bedingungen in der Wüste erzogen, die gut darauf vorbereitet wurde, um ihr eigenes Land zu bauen! Aber mein erfahrener Leser hatte bereits die Fortsetzung von Kapitel 20 Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001, S. 292
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31 gelesen: »Es tut mir leid, Rabbi, aber die Kinder dieser Verlierer waren noch mehr enttäuscht.« Lesen Sie weiter: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Siehe, du wirst dich zu deinen Vätern legen, und dieses Volk wird aufstehen und den fremden Göttern des Landes nachhuren, in dessen Mitte es hineinkommt; und es wird mich verlassen und meinen Bund brechen, den ich mit ihm gemacht habe. So wird zu jener Zeit mein Zorn über es entbrennen, und ich werde es verlassen und mein Angesicht vor ihm verbergen, dass sie verzehrt werden; und viele Übel und Drangsale werden es treffen, und es wird an jenem Tag sagen: Haben mich nicht alle diese Übel getroffen, weil mein Gott nicht in meiner Mitte ist?« (Dewarim 31,16–17). Ich habe wirklich keine Antwort auf diese Argumente, aber ich habe dich! Du, das Volk Israel, liest die gleiche Geschichte seit Tausenden von Jahren, und während du es liest, klingt sein Ende immer optimistisch: Ich bin, der ich bin! (vgl. Schemot 3,14) §¨
Haasinu »Höret!« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium 32,1–52) Im vorigen Kapitel, im Wochenabschnitt »Wajelech«, hörten wir trotz aller tragischen Enttäuschungen das Versprechen eines glücklichen Endes der Geschichte Israels. Deshalb singt Mosche vor seinem Tod und weint nicht! Sein Lied für alle Menschen und für alle Sterne heißt:
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»Ich bin, der ich bin!« Sein Lied heißt: »Der Name Gottes«: »Horcht auf, ihr Himmel, denn ich will reden, und du, Erde, höre die Rede meines Mundes! Meine Lehre triefe wie der Regen, meine Rede fließe wie der Tau, wie die Regenschauer auf das Gras, und wie die Tropfen auf das Grün. Denn ich will den Namen des Ewigen verkünden: Gebt unserem Gott die Ehre!« (Dewarim 32,1–3). Wesot Habracha »Und dies ist der Segen« (Dewarim / 5. Buch Mose / Deuteronomium )34,12–33,1 © § »Und Mosche, der Knecht des Herrn, starb im Land Moab, nach dem Wort des Ewigen: und Er begrub ihn im Tal, im Land Moab, Beth-Peor gegenüber; aber niemand kennt sein Grab bis zum heutigen Tag« (Dewarim 34, 5–6). Nach der jüdischen Tradition ist das Grab ein unreiner Ort. Wenn ein Kohen einen toten Körper berührte, wurde er unrein, und durfte dann nicht mehr Gott im Tempel dienen! Bis heute dürfen die Nachkommen von Kohanim keinen Friedhof betreten! Wie aber konnte Gott selbst Mosche begraben? Und was ist das für ein seltsame Begräbnis, über das niemand etwas weiß. Normalerweise begraben Menschen ihre Lieben so, dass man das Grab immer besuchen kann! aZu~£{¡zv¤}§} u Z}¡} }¨± z¨©z ± z u{ au}{ vF{ {¡ v©z§ ¦ ©}
~ ¡{z §v¡u£ ©u| B zv ¤}§} u { u{ v© §u¦ ~ u{ a[`§\ Es gibt viele Legenden darüber, wo sich Mosches Grab befindet: entweder auf dem Berg Nebo oder in der Höhle Mearat ha-Machpelah in Hebron, zusammen mit den Patriarchen; aber wenn die Tora sagt, dass niemand weiß, wo sein Grab ist (Dewarim 34,6), bedeutet dies, dass Mosche nicht in einem Grab gesucht werden soll, sondern in der
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Tora!
» She Blew the Shofar « — Textilcollage — Lynne Feldman
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D I E J Ü D I S C H E N F E ST E I M JA H R E S K R E I S
R O S C H H A - S C H A N A » A N FA N G D E S JA H R E S « – N E U JA H R S F E S T 1 . – 2 . T I S C H R I ¨ ¨ §
Wir feiern an Rosch ha-Schana die Erschaffung des ersten Menschen, Adam. Wenn wir uns in den Sinn der folgenden Mischna vertiefen, so können wir verstehen, dass wir wirklich auch die Erschaffung eines jeden von uns feiern: »Um zu bezeugen die Größe des Heiligen, gelobt sei Er, geschieht es, dass ein Mensch so viele Münzen mit einem Stempel prägt, und alle gleichen sie einander, aber der König aller Könige, der Heilige, gelobt sei Er, prägt jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen, und nicht einer gleicht dem anderen. Deshalb ist jeder einzelne Mensch verpflichtet zu sagen: Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden« (Traktat Sanhedrin, Kapitel IV, Mischna V): Diese Mischna betont die absolute Einzigartigkeit eines jeden von uns: Jeder von uns ist wie der erste Adam in der ganzen Welt: »Diese unfassbare Welt ist für mich erschaffen worden, und ich kann das deutlich durch mein Leben ausdrücken. Andererseits habe ich die Einzigartigkeit eines anderen Menschen anzunehmen!« Er kann dasselbe sagen: »Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden.« Wir vertiefen diese Gedanken weiter mit Leo Baeck: »Warme Herzen sind immer zu finden, die zeitlebens in heißer Regung eine ganze Welt beglücken möchten, aber noch nie den prosaischen Versuch unternommen haben, auch nur einem Menschen wahrhaft Segen zu bereiten. Es ist leicht, sich an Menschenliebe zu begeistern, sich tränenfeucht in ihr zu ergehen. Irgendeinem, der nichts weiter als
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eben ein Mensch ist, Gutes zu tun, sein Menschenrecht durch die Tat anzuerkennen, ist schwerer. Wer im Namen seines Menschenrechts vor uns hintritt, fordert damit die bestimmte sittliche Handlung, die nicht ersetzt sein kann durch das bloße allgemeine Wohlwollen [...]. Womit hat sich nicht die bloße Nächstenliebe schon abgefunden!« Anderseits lehrt uns die Mündliche Tora, sich nur auf unseren Vater im Himmel zu verlassen und seinen Heiligen Namen, JHWH, unseren Gedanken, Gefühlen und Taten wie ein Siegel einzuprägen, um seinen Willen zu erfüllen und das Joch seines Königreichs zu tragen. Die Rabbiner der Antike sahen bereits unsere Zeiten vorher: »Und die Gelehrsamkeit der Weisen wird verderben, und die die Sünde Fürchtenden werden verworfen werden, und die Wahrheit wird wegbleiben. Der Sohn verachtet den Vater, die Tochter steht auf gegen ihre Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, die Feinde des Mannes sind die Leute seines Hauses (Micha 7,6). Das Gesicht des Geschlechts gleicht dem Gesicht eines Hundes, und der Sohn schämt sich nicht vor seinem Vater. Und auf wen sollen wir uns verlassen? Auf unseren Vater im Himmel« (al Awinu sche-ba-Schamajim, Mischna Sota 9,15). Und noch weiter vertiefen wir diese Gedanken mit Bruno Italiener: »Judesein – noch niemals hat es bedeutet, von Menschengnaden erhoben oder verworfen zu sein. Wir sind anders, weil unser Gott es will, weil wir anders sein sollen, Ihm zugehören, Ihm anhangen, dem einen Gott, – das eine, das ewige Volk.«21 Jude zu sein, das bedeutet u. a. auch, sich nicht auf die Barmherzigkeit der Menschen zu verlassen, sondern ein volles Leben in der Umlaufbahn der Liebe und des Vertrauens auf Gott zu leben. Wir wissen aus unserer Erfahrung, dass viele Menschen oft schöne Worte verwenden, um ihre unschönen Taten zu vertuschen. Sie missbrauchen andere Menschen, so als seien sie seelenlose Nutzbringer für deren Interessen. Aber ihre Taten schreien lauter, als ihre verleumderischen Münder. Sie unterscheiden Juden von anderen Völkern nur gemäß äußerer Kriterien, aber Freiheit ist viel mehr die
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21 Aus seiner Rede am Zweiten Tag des Neujahrsfestes 1936, zitiert nach: Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform: Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, S. 265
innere Lebensweise, und nicht nur eine äußere Lebensweise. Daher schreibt die jüdische Tradition zehn Tage der Buße vor – von Rosch Ha-Schana bis Jom Kippur. Üble Nachrede ist ansteckend wie eine lebensgefährliche Krankheit. Nur eine Person, die sich von allem Bösen und aller Infamie losgesagt hat, ist fähig, persönliche Beziehungen zu Gott und zu den Mitmenschen aufzubauen. Dann kann der Mensch erfahren, was es heißt: »Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden!« Das bedeutet: Du kannst deinem Mitmenschen wahrhaft Segen bereiten! Sei gesegnet und sei Gottes Segen: Durch dein Wesen kannst du deinen Mitmenschen erfreuen, so dass auch er sagen kann: »Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden!«
Jom Kippur §£ Tag der Sühne – Versöhnungstag Heute feiern wir Jom Kippur mit Fasten, Umkehr und Gebet. Im Altertum, als der Tempel noch existierte, brachte man an diesem Tag besondere Opfer dar. Der Hohepriester legte dem Sündenbock die Sünden des Volkes auf und schickte ihn damit in die Judäische Wüste. Seit zweitausend Jahren haben wir keinen Sündenbock mehr für unseren Jom Kippur. Trotzdem feiern wir Jom Kippur auf unsere eigene, ganz menschliche, ganz jüdische Weise: Jochanan Ben Sakkai, ein berühmter Rabbiner der talmudischen Zeit, betonte, dass wir statt des Opferaltars »Gemilut Chassadim« haben, das heißt: Werke der Nächstenliebe. Diese tragen wir selbst bis sie uns zu Gott hintragen! Wir können uns das Judentum nicht ohne dieses grundlegende Konzept vorstellen. Andererseits haben wir bis jetzt noch nicht annähernd die Lehre aus diesem Konzept von Jochanan Ben Sakkai gezogen. Wir haben nicht wirklich verstanden, worauf es ankommt. Bis heute suchen wir unbewusst immer noch den Sündenbock, dem man die Schuld für unsere Handlungen geben oder aufbürden kann. Und wenn wir keinen Sündenbock zur Hand haben oder finden, dann versuchen wir die
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Schuld auf unseren Nächsten abzuwälzen: eine Instrumentalisierung des Nächsten statt der Nächstenliebe. Seitdem vergessen wir oft, dass wir schon lange kein »priesterliches Judentum« mehr erleben, sondern ein rabbinisches. Warum passiert das mit uns? Warum wälzen wir die Schuld von uns ab, anstatt für sie einzustehen und Verantwortung zu übernehmen? Weil wir oft den Hochmut anstelle der Demut vor Gott wählen. Der Talmud lehrt deswegen (in einer Auslegung zu Ps 37,11): »Rav sagte: Vierer Dinge wegen geht den Haushalten der Besitz verloren: wegen derer, die den Lohn des Tagelöhners zurückhalten; wegen derer, die den Tagelöhner um seinen Lohn berauben; wegen derer, die ein Joch von ihrem Hals abwerfen und es ihren Mitmenschen auflegen; und wegen des dreisten Hochmuts. Und der dreiste Hochmut schließt alles andere ein. Aber über die Demütigen (anavim) steht geschrieben: »Und die Demütigen werden das Land erben und großen Frieden genießen’« (Talmud bSuk 29b). Wir verlieren wegen des dreisten Hochmuts nicht nur unseren Haushalt, sondern uns selbst. Deswegen schreibt uns das Judentum an diesem Tag der Versöhnung die erschöpfende Fastenzeit und die tiefen Gebete vor, um unseren starken Wunsch, einen »Sündenbock« zu finden, in den starken Wunsch zu verwandeln, unseren Mitmenschen wahrzunehmen und sogar zu unterstützen. Nur ein ehrlicher, demütiger Mensch ist fähig, im Gotteslicht sich selbst sowie andere wahrzunehmen. Neben all dem Dunklen, der Schuld und dem Leid, mit dem wir uns in uns selbst auseinandersetzen sollen, kann immer auch das Licht der Weisheit, ein Aufatmen des Geistes Gottes, zu sehen und zu spüren sein. Es ist ein ständiger Weg der Besserung unseres Lebens im nächsten Jahr! Darum lernen wir mit dem Talmud weiter: »Rav sagte: Vierer Dinge wegen geht den Haushalten der Besitz verloren: [...] Und der dreiste Hochmut (gassut-ha-ruach ) schließt alles andere ein. Aber über die Demütigen (anavim) steht geschrieben: »Und die Demütigen werden das Land erben und großen Frieden genießen’« (Ps 37,11), (Talmud bSuk 29b).
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Nur der Demütige kann wissen, wie man das Joch der Werke der Nächstenliebe tragen kann, weil es das Joch des Königreiches Gottes (Kabbalat Joch Malchut ha-Schamajim) ist, wie Leo Baeck gesagt hat: »Was wir an unseren Mitmenschen tun, ist Gottesdienst.« Wenn wir morgens und abends »Schma Israel« wiederholen, nehmen wir das Joch des Königreiches Gottes auf uns, um es durch das Leben und das Sterben zu Gott zu tragen. Aber sind wir uns auch bewusst, dass eigentlich Gott selbst uns auf diesem Weg auf den Flügeln seiner Gegenwart – al kanfei ha-Schechina – zu sich selbst trägst? Nur die demütigen Mitmenschen, die im Einklang mit dem demütigen Gott des Universums leben, erben sein geistliches Universum – sogar wenn sie sterben, und auch dann, wenn sie zurück zum Leben kommen. Vor Beginn des Abendgebets sagt der Vorbeter: »In der Versammlung des oberen Gerichts, und in der Versammlung des unteren Gerichts, mit der Zustimmung des Allmächtigen und mit der Zustimmung dieser heiligen Gemeinde, erlauben wir gemeinsam mit den Missetätern zu beten.« §£ § m§¦©
vu¦z { z¦z u { ©{¡{ u {¡aBB§uz v¦uz { ©{¡{ u {¡auz { }¨z ± ~¨~± Baz¡ { }¨z ± ~¨u± ~ m~ z§ { ¡ z ©}u|£{ u © ~ ~§u©~ { B{ au}{ Das reichste Mitglied einer jüdischen Gemeinde, ein Mann, der seiner Gemeinde nie etwas gespendet hat, ist gestorben. Der Rabbi sagte dem Gabbai: »Ich möchte unbedingt einen Minjan (zehn Männer) zum nächsten Schabbat zusammenzurufen, um für den Verstorbenen, trotz seines Geizes, den Kaddisch zu sagen.« Als die Zehn Männer sich versammelt hatten, flüsterte der Gabbai dem Rabbi ins Ohr: »Rabbi, sie sind alle berüchtigte Diebe!« »Umso besser«, sagte der Rabbi. »Wenn die Tore der Gnade
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verschlossen sind, dann sind sie die Fachleute, die sie öffnen können« (nach einer Geschichte von Anthony De Mello in jüdischer Paraphrase für Neila).
Sukkot © Laubhüttenfest Ein Stromkreis fließt immer zwischen zwei Polen. So ist das auch im Leben des Volkes Israel. Schon zur Zeit des Jerusalemer Tempels gab es diese zwei Pole. Jedes Jahr im Frühling und im Herbst besuchte jeder Jude und jede Jüdin zu den wichtigsten jüdischen Feiertagen den Tempel in Jerusalem: zu Pessach, Schawuot und Sukkot. Zu Pessach, dem Fest des Auszugs des jüdischen Volkes aus Ägypten und aus dem Haus der Sklaverei, und zu Sukkot, wenn an die Wanderung des jüdischen Volkes durch die Wüste erinnert wurde, in der das Volk Israel all seine Hoffnung nur auf Gott setzten. Auch damals ging Pessach dem Schawuot-Fest voraus. Pessach ist die Erinnerung an die menschliche und physische Befreiung. Schawuot ist das Fest der geistlichen Befreiung, das Fest der Freiheit des Volkes Israel; zu Schawuot feiern wir, dass die Zeit gekommen war, den Bund mit Gott zu schließen. Aber Rosch Ha-Schana und Jom-Kippur gehen dem Sukkot-Fest voraus. Sie werden gefeiert, um Frieden mit Gott zu stiften. Das Feiern dieser Feste ermöglicht die Erneuerung des Bundes nach einer Zeit der Umkehr. Danach feiern wir Sukkot, das Laubhüttenfest. Wir feiern das Fest in einer temporären, vergänglichen Laubhütte und nicht in einem festen Gebäude. In diesem Sinn will das jüdische Volk die Anwesenheit Gottes in seiner Mitte für das ganze nächste Jahr für sich gewinnen. Wenn wir kein festes Gebäude haben, setzen wir umso mehr unsere feste Hoffnung auf den Gott Israels, auf unseren Vater im Himmel der Liebe.
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Damit hängt auch das Gebot des »Nehmens des Lulaw« (Netilat Lulaw) zusammen. Zu Sukkot nehmen wir vier Pflanzenarten in die Hand und schütteln sie sanft in die vier Himmelsrichtungen. Zusammen mit den Pflanzen und der ganzen Natur dürstet unser Körper nach Wasser und Leben. Das ganze unendliche Weltall zittert mit uns vor Gott in der Hoffnung, dass wir alle – die Menschen und die Sterne – bei Ihm eine sichere Unterkunft bekommen! Unsere Seele dürstet nach der lebendigen Energie, die vom Schöpfer ausgeht. Die Wüste des Hasses trocknete unsere Seele aus, aber die festlichen Gottesdienste in der Synagoge in dieser Festzeit stärken uns. Sie bringen uns dazu, diese verschütteten Quellen wieder auszugraben. Das ist ein gesegneter Weg: Wir können in der Wüste der Menschheit graben, um das lebendige Wasser der Menschlichkeit bei unsrem Vater und König zu finden. Es passiert nicht im Himmel der Sterne, sondern im Himmel, der sich in uns verbirgt. Die Frucht dieser inneren Arbeit ist die Rückkehr zu uns selbst. Wir werden dabei wieder zu Gottes Abbild, das in jedem Menschen verborgen ist. Wir finden damit den Weg zurück zum verlorenen Frieden. Deshalb gibt es auch heute bei uns zwei Pole in unseren festlichen Gottesdiensten: den synagogalen Gottesdienst und unserer tägliche Begegnung mit den Mitmenschen. Der Segenskreislauf strömt vom Menschen zum Mitmenschen im Rhythmus seines Herzens, um sich allmählich unter allen Menschen auf der Erde auszubreiten.
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» The Time of our Joy - Sukkot « — Acrylfarben und Gewebe auf Leinwand. 135 x 168 cm — Lynne Feldman
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Simchat Tora §©©¨Torafreude Nach dem Sukkot-Fest, das die »Zeit unserer Freude« (»Sman Simchatejnu«) heißt, kommt das Fest Simchat Tora–, das Fest der Freude der Tora. An diesem Fest endet der einjährige Zyklus der ToraLesung. Sofort nach dem Abschluss des letzten Buches der Tora, Sefer Dewarim, beginnen wir mit der Lesung des ersten Buches der Tora, dem Sefer Bereschit. Im ersten Kapitel der Tora steht: Gott sagte: »wajehi or« (»Es werde Licht und es ward Licht«. Für das jüdische Volk ist es auch das Licht der Tora, der mystischen Weisheit des Lebens. Wenn wir die Torarollen aus dem Aron ha-Kodesch (»dem heiligen Schrein«) ausheben, stellen wir deswegen anstelle der Torarollen eine brennende Kerze in den Aron ha-Kodesch. Das Licht der Tora im Menschen, der die Tora ständig liest, bedeutet das Können, die seelische Ruhe in allen Umständen des Lebens zu bewahren. Das Licht der Tora im Menschen bedeutet die Fähigkeit, Gottes Wort in der Stimme der tiefen Stille zu hören. Das Licht der Tora im Menschen bedeutet die Fähigkeit, Gottes Licht in den Augen unseres Mitmenschen zu sehen. Aber wie können wir diese Fähigkeit erreichen? Eine solche Frage stellte ein Grieche an Rabbi Hillel: »Wenn du mir die Lehre des Judentums vermitteln kannst, solange ich auf einem Bein stehe, werde ich konvertieren.« Rabbi Hillel antwortete: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung; geh und lerne sie.« Hillel hätte in diesem Fremden einen frivolen Spötter sehen können, sogar einen Antisemiten, aber er sah in den Augen des Fremden das Licht der Menschlichkeit. Hillel konnte das schaffen, weil er die Tora verinnerlicht hat, weil er schon ihre brennende Kerze der Liebe war! Mit seinem Kompass können auch wir das innere Licht Gottes erreichen: »Ein Licht« Schüler: Was ist der Unterschied zwischen Wissen und Erleuchtung? Meister: Wenn du Wissen besitzt, hast du ein Licht, um den Weg zu erkennen. Wenn du erleuchtet bist, wirst du selbst zum Licht (Anthony de Mello, Warum der Schäfer jedes Wetter liebt).
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Chanukka Weihefest Die Chanukkija enthält acht Kerzen. Jede von ihnen symbolisiert einen Tag des Wunders. Vor fast 2200 Jahren erhoben sich die Juden gegen die heidnischen Tyrannen, reinigten den Tempel vom Götzendienst, und weihten ihn acht Tage lang ein. Während wir hier am Platz vor dem Israelitischen Tempel stehen, erinnere ich mich an die lange Geschichte der Juden von Emmendingen und ihrer Synagoge: Hat diese Geschichte in Auschwitz ein Ende gefunden? Eine Begebenheit an Chanukka in Auschwitz mag uns in dieser Frage aus dem Dunkel führen. Ein alter Jude möchte in Auschwitz Chanukka feiern. Er hat seine kleine Brotration und die seines Sohnes mit anderen Gefangenen gegen Margarine getauscht. Aus der Margarine und aus einem kleinen Faden möchte er eine Kerze formen. Als er die Kerze anfertigt, kommen viele Mitgefangene, um zu sehen, was er mit der Margarine machen will. Aber er kann die Kerze nicht anzünden, weil die Margarine verdorben ist. Sein Sohn fragt ihn: »Vater, was hast du gemacht? Jetzt haben wir kein Brot mehr zu essen. Und Chanukka können wir auch nicht mehr feiern.« Sein Vater antwortet: »Mein Sohn, wir haben an diesem Ort viel gelernt. Wir haben gelernt, viele Tage ohne Brot zu überleben und sogar einen Tag ohne Wasser zu überleben – aber ohne Hoffnung können wir nicht eine Minute weiterleben.« Wenn wir heute hier die Chanukka-Kerze anzünden, sehe ich das Licht der Hoffnung des alten Juden in Auschwitz. Will es uns sagen, dass die menschliche Finsternis vorbei ist? Könnten wir ohne diese Hoffnung weiterleben? Das Licht des Chanukka-Festes vertreibt die Finsternis der Unmenschlichkeit, die wieder so grausam in die Welt eindringt durch abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Das Licht dieser Hoffnung leuchtet für uns hier in Hamburg durch die Geschichte des Liberalen Israelitischen Tempels. Wir können uns heute noch einmal daran erinnern, dass vierhundert jüdische Kinder diesen Tempel in der Nazi-Zeit besucht haben. Die Zeitzeugin Eva Stiel spricht für diese Generation: »Wir haben, wie die ersten liberalen Juden,
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unsere Glaubenshaltung aus der Welt des Zweifels gewonnen [...].« Wir können das Licht der inneren Lebendigkeit und Ehrlichkeit jetzt in dieser Zeit wieder anzünden. Wir können nun verstehen, dass dies – genau jetzt – von uns selbst t abhängt. Heute hat jeder von uns auch viele Ängste, die Zeit und Kraft und Mut erfordern. Der radikale fundamentalistische Islamismus führt weiter einen gnadenlosen Krieg gegen alle Menschen, gegen jeden von uns, ohne Grenzen. Der Fundamentalismus in anderen Religionen erwacht ebenfalls. Der religiöse Hass vergiftet die Welt, jedoch die Erfahrungen unserer Vorfahren sagen uns, dass wir immer Mut und Liebe finden können, um die festlichen Kerzen in unseren Häusern und in unseren Herzen anzuzünden – als ein bescheidenen Zeichen unserer Hoffnung: »Wir geben nie auf, um in jeder Lage zu bleiben mitmenschliche Mensch mit!« Der große liberale Rabbiner Leo Baeck hinterließ uns dazu ein ganz klares Testament: »Was wir an unserem Mitmenschen tun ist Gottesdienst.« Dies ist ein moralischer Kompass für ein liberales Judentum im heutigen Deutschland, für den Aufbau unserer Gemeinde und für alle besonnenen Menschen! Das ist das einzige Bindeglied, das uns mit jenen Juden verbindet, die hier einst lebten, schon vor 200 Jahren, um eine liberale, freie, menschliche, jüdische Gemeinde zu gründen. Und jetzt, angesichts der neuen und neuesten Anschläge gegen die Menschlichkeit kann jeder überlegen, was er für die wiederhergestellte Liberale Jüdische Gemeinde tun kann, damit das Licht der Hoffnung für uns alle nicht erlischt. Heute, wie zu allen Zeiten, brauchen uns alle Menschen, die hier leben, brauchen sie unser Licht der Chanukkija. Vergessen Sie nicht: Chanukka bedeutet WiederErneuung. Wir können, wie unsere Vorfahren, unsere Glaubenshaltung aus der Welt des Zweifels und der Finsternis gewinnen. Das Licht der Wieder-Erneuung vertreibt die Finsternis der Unmenschlichkeit.
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Purim Fest der Lose Chag Purim sameach §£ Was ist an der Purim-Geschichte Besonderes? Die Existenz des jüdischen Volkes im Exil war durch die Perser bedroht, und Königin Esther riskierte ihr Leben, um ihre Schwestern und Brüder zu retten. Es wiederholte sich zu oft in der Geschichte, wenn die Juden verfolgt wurden: Jemand muss die Verantwortung für das Überleben der Jüdinnen und Juden übernehmen – entweder Königin Esther in der persischen Diaspora oder der Prophet Mosche beim Auszug aus Ägypten! Aber wenn niemand die Juden verfolgt? Wenn sie, wenn wir, endlich in Freiheit leben können? Kann es sein, dass dann auch unter uns interne Machthaber entstehen? – Das kann passieren, wenn viele von uns die Verantwortung für sich nicht selbst übernehmen wollen. Wenn du dich nicht selbst für Gottes Willen entscheiden willst, dann wird ein Anderer an deiner statt diese Entscheidung für dich nach seinem Willen treffen. Die Verantwortung und die Freiheit sind wie zwei Flügel für unsere Seele. Wenn ein Flügel fehlt, kann die Seele weder in den Himmel der Glücklichen fliegen noch ihren eigenen Weg auf Erden erkennen! Das lernen wir aus einem jüdischen Witz: - Herr Rabinovich, wo arbeiten Sie? - Nirgendwo. - Was machen Sie da? - Nichts. - Sehen Sie, das ist ein ausgezeichneter Job! - Ja, aber welchen Konkurrenz! Wo diese heftige Konkurrenz stattfindet, dort gibt es immer gnadenlosen
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Streit zwischen »nichts« und »nichts«! Sagen wir doch ehrlich: Es ist gesegnet und gut, dass Gott unter Mitwirkung seiner Gerechten das jüdische Volk immer wieder erretten kann, aber ein eigenes jüdisches Leben führen wir nur, wenn wir selbst unsere Verantwortung ernst nehmen. Und wenn nicht jetzt, dann wann? Erlauben wir uns nur an diesem Fest die Karnevalsmasken zu tragen, aber bewahren wir unsere einzigartige Persönlichkeit mit entsprechender Würde im realen Leben!
» Purium Dance « — Acrylfarben und Gewebe auf Leinwand. 135 x 168 cm — Lynne Feldman
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Pessach £Überschreitung Pessach ist »Sman Cheruteinu« – das Fest unserer Freiheit! Freiheit ist ein allgemeiner Begriff. Aber was bedeutet er für unser Volk? »Rabbi Jehoschua, Sohn des Levi, sagte: Und es steht geschrieben über die Gesetzestafeln [Schemot 32,16]: Gott hatte sie selbst gemacht und selber die Schrift eingegraben. – Du sollst aber nicht Charuth lesen, was »eingegraben« bedeutet, sondern du sollst Cheruth lesen, was »Freiheit« bedeutet, denn ein Freier ist nur, wer das Gesetz (die Tora) erforscht. Wer die Tora erforscht, wird auch (zu Gott) erhöht« (Mischna, Sprüche der Väter, Kapitel 6). Pessach fordert uns immer wieder dazu auf, zu unserer persönlichen und zu unserer kollektiven Freiheit als Jüdische Gemeinde zurückzukehren! Zu unserer Nacherzählung des Auszugs aus Ägypten an Pessach gehört auch die Erinnerung an den Auszug aus den Gruben der Schoa. Die Gemeinde des Israelitischen Tempels in Hamburg hat statt der Opfertheologie, die sich im Zentrum des alten Tempels in Jerusalem vor 2000 Jahren verbirgt, — die Theologie der inneren Erneuerung und Selbstverwirklichung weiter entwickelt, die Theologie der Menschlichkeit und der Mitmenschlichkeit. Vierhundert jüdische Kinder haben diesen israelitischen Tempel in der Oberstrasse 120 sogar in der schrecklichen Nazi-Zeit besucht. Eine von ihnen, die Zeitzeugin Eva Stiel, erzählt darüber: »Wir haben, wie die ersten liberalen Juden, unsere Glaubenshaltung aus der Welt des Zweifels gewonnen. In der Auseinandersetzung mit dem Alten haben wir sehen und urteilen gelernt. Jeder neue Schritt verlangt von uns Selbständigkeit im Denken und Entscheiden. Würden wir diese Selbständigkeit aufgeben und stattdessen uns blind und kritiklos der Tradition überliefern, so würden wir das Beste in unserem Tun aufgeben, nämlich die innere Lebendigkeit und Ehrlichkeit. Wir wollen nur das von der Tradition übernehmen, was wir als ganze Menschen mit Verstand und Herz verwirklichen können. Wie groß die Auswahl des Übernommenen sein wird, können wir heute noch
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nicht übersehen. Fest aber steht, dass wir nicht ohne eigene innere Anteilnahme nachahmen wollen, was nur die alte Erstarrung, die die ersten Begründer bekämpften, mit sich bringen würde. Hier ist endlich der Platz, zu sagen, was uns von den Tempelgründern trennt und was uns mit ihnen verbindet. Das Neue und Trennende ist der wiedererwachte Glaube an den lebendigen Gott der Bibel und die höhere Wertschätzung der jüdischen Tradition. Was uns mit ihnen verbindet, ist unsere innere Selbständigkeit der Tradition gegenüber, und das wollen wir als ein Vermächtnis aufnehmen und weiterpflanzen«22 Einige liberale Juden versuchten nach der Schoa nach Hamburg zurückzukehren, um diesen Weg als ganze Menschen mit Verstand und Herz fortzusetzen. Wer die Tora mit offenen Augen erforscht, der weiß, dass der Weg zur persönlichen Freiheit durch die Beziehung zwischen den Menschen verläuft. Dafür brauchen wir unsere lebendige Liberale Jüdische Gemeinde zu Hamburg! Wer lernt, jeden Tag seine Mitmenschen mit Liebe und Würde zu behandeln, der wird von Gott befreit und erhöht: »Was wir an unseren Mitmenschen tun, ist Gottesdienst« (Leo Baeck). Das ist das Grundprinzip für die liberale jüdische Gemeinde zu Hamburg. Aber dieser Weg ist heute nicht einfach: die antidemokratischen Kräfte, sowohl in der äußeren Gesellschaft als auch unter Juden, versuchen, die liberale jüdische Gemeinde zu versklaven oder sogar zu eliminieren. Das ist keine Überraschung für uns, wenn wir nüchtern die allgemeine Situation beobachten: Die ganze Welt leidet wieder unter dem Terror der Unmenschlichkeit, der versucht, andere Menschen zu erniedrigen und zu vernichten. Jeder selbstgebastelte Machthaber der verschiedenen religiösen Gemeinschaften kann diese Welle nutzen, um die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen für seine politischen Zwecke zu missbrauchen. Aber die Geschichte von Pessach, und besonders diese Geschichte, die uns die Kinder des Hamburger Israelitischen Tempels erzählen, fordert von uns, keine Angst vor den kleinen und großen selbsternannten »Pharaonen« zu haben, sondern »unsere innere Selbständigkeit gegenüber der Tradition weiter zu pflanzen« und so zusammen unsere Würde und Freiheit zu schützen! 22 Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform: Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, S. 86–8
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In dieser schwierigen Zeit sollten wir unsere Mitmenschen in der LJGH mit noch größerer Aufmerksamkeit und Würde behandeln, um damit als freie Menschen einen ständigen erfolgreichen Widerstand gegen die Welle der Unmenschlichkeit zu leisten. Ich möchte Ihnen etwas mitteilen von unserem Mitglied Gerhard Schmal. Seine geliebte Mutter Rachel hat Auschwitz überlebt. Sie war 37 Jahre alt als sie befreit wurde. Sie hat ihrem Sohn einen Ring geschenkt mit der Inschrift: §¦£ »In deine Hand befehle ich meinen Geist« (Ps 31,6). Das kostbare Testament Rachels bezeugt für uns alle jetzt ihr Sohn Gerd: »Haltet zusammen! Gebt euren Glauben niemals auf!« – weil es um unsere Freiheit geht! Wir sind liberale, moderne Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Sprachen und Erfahrungen, aber wir alle haben etwas gemeinsam: Wir sind alle aus den Gruben der Schoa herausgekommen, aus den Gruben der Unmenschlichkeit, und wir werden nie wieder in diese Gruben zurückgehen! Deshalb sollen wir jetzt zusammenhalten, um unseren jüdischen Glauben und unsere Freiheit nicht aufzugeben! Liebe Freunde und Freundinnen, ich wünsche Ihnen ein fröhliches und freies Pessach, und ich freue mich Sie am Pessach-Schacharit zur Tora aufzurufen: »Wer die Tora erforscht, wird auch (zu Gott) erhöht [...]« (Mischna, Sprüche der Väter, Kapitel 6).
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» The Seder Table « — Acrylfarben und Gewebe auf Leinwand. 135 x 168 cm — Lynne Feldman
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Schawuot ©¡¨Wochenfest Am 6. Siwan feiern wir das Wochenfest »Schawuot«. Das Fest erinnert an den zweiten Empfang der Zehn Gebote (ZEHNWORT) auf dem Berg Sinai. Die ersten Steintafeln mit dem ZEHNWORT hat Mosche zerschmettert, als er sah, dass das jüdische Volk ein Goldenes Kalb anbetete. Daraufhin ging Mosche wieder auf die Spitze des Berges Sinai, um erneut um das ZEHNWORT zu bitten. Das ZEHNWORT steht auch heute im Mittelpunkt des Gottesdienstes an Schawuot. Wir erneuern auf diese Art und Weise unseren Bund mit dem Gott Israels: • »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus geführt hat, Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen, Ehre deinen Vater und deine Mutter, Gedenke des Schabbats: Halte ihn heilig! Du sollst nicht morden. Du sollst nicht die Ehe brechen, Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Du sollst nicht nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört, verlangen!« (Schemot 20,2–17).
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Das erste Gebot drückt eine Sehnsucht nach dem Ewigen aus. Es ist die Grundlage der Grundlagen für die Erfüllung aller anderen Gebote. Das erste Gebot ähnelt den Wurzeln eines Baumes, die seine Zweige ernähren. Viele Menschen entscheiden für sich, nur jene Gebote einzuhalten, die sie auch verstehen, wie zum Beispiel »du sollst nicht morden« oder »du sollst nicht ehebrechen«, als ob sie nur einige Bruchstücke von den ersten zerschmetterten Tafeln bekommen hätten! Diese Menschen sagen üblicherweise: »Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich lebe ehrlich: ich morde nicht und ich stehle nicht.« Sagt dir die Tora: »Du sollst an Gott glauben!«? Nein, sie sagt dir in Gottes Namen: »Du kannst mich kennen lernen! Wissen ist besser als nur glauben!« Und die Tora gibt auch Hinweise für den Weg, wie man ihn kennen lernen kann. Betrachten wir noch einmal jenes ZEHNWORT als Wegweiser mit dem einzigartigen Zweck, JHWH kennen zu lernen: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus geführt hat. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben: Ich bin der Ewige, dein Gott! Du sollst den Namen des Ewigen, deines Gottes, nicht missbrauchen: Ich bin der Ewige, dein Gott! Ehre deinen Vater und deine Mutter: Ich bin der Ewige, dein Gott! Gedenke des Schabbats: Halte ihn heilig: Ich bin der Ewige, dein Gott. Du sollst nicht morden: Ich bin der Ewige, dein Gott! Du sollst nicht die Ehe brechen: Ich bin der Ewige, dein Gott! Du sollst nicht stehlen: Ich bin der Ewige, dein Gott! Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen: Ich bin der Ewige, dein Gott! Du sollst nicht nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört, verlangen: Ich bin der Ewige, dein Gott!« Je mehr wir diese Gebote erfüllen, desto mehr lernen wir den Ewigen in unserem Leben kennen. Danach entsteht für uns die Möglichkeit, mit Mosche JHWH am Berg Sinai direkt zu fragen: »Wie ist Deine Name?«, um seine überraschende Antwort zu hören: »Ich bin, der Ich bin, Ich werde immer mit dir sein in deinem ganzem Jetzt und Hier«! Die Zeit und die Erfahrung helfen uns: Viele Juden in Deutschland kommen wieder in ihre Synagoge zurück, trotz innerer Schwierigkeiten, und nur dann werden wir der alten Weisheit gewahr: Das ZEHNWORT, – das sind nicht nur moralische Prinzipien, sondern es sind die Wurzeln
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eines Baumes, – des Baums unseres Lebens. Sein Samen ist in unserem »Ich« bereits bei der Zeugung eingesät worden. Wer fleißig den Boden des Herzens durch das ZEHNWORT bearbeitet, der bringt immer – hier und jetzt – die Leben spendenden Früchten des Lebens hervor! Wer sich fleißig an das ZEHNWORT hält, genießt die Früchte der Freiheit für immer! Wer die Freiheit liebt, der kann Gott kennen lernen. Diesen Prozess erklärt die Mündliche Tora folgenderweise: Rabbi Jehoschua, Levis Sohn, sagte: [...] Und es steht geschrieben über die Gesetzestafeln [Schemot 32,16]: Gott hatte sie selbst gemacht und selber die Schrift eingegraben. – Du sollst aber nicht lesen »Charuth«, das ist: »eingegraben«, sondern du sollst lesen »Cheruth«, das ist: »Freiheit«, denn ein Freier ist nur, wer das Gesetz (Tora) erforscht. Wer das Gesetz erforscht, wird auch erhöht [...] (Mischna, Sprüche Der Väter, Kapitel 6), das heißt: Gott kennen lernen gemäß dem ersten Gebot: »Ich bin (Anochi) der Ewige, dein Gott. Du sollst nicht Gelüste tragen.« Wenn wir »charuth« lesen, sehen und reihen wir lediglich Buchstaben zu Worten aneinander und begreifen ihren Sinn nicht. Wenn wir »cheruth« lesen, begreifen wir den Sinn der Worte, weil wir mit dem Herzen, der Seele und dem Verstand lernen und das Gelernte umsetzen. Um begreifen zu können, müssen wir das Gesetz erforschen, immer und immer wieder. Wir entwickeln uns auf diese Weise als Menschen weiter und begreifen von Jahr zu Jahr das Gesetz Gottes ein Stück mehr. Damit gewinnen wir Freiheit. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem das Gesetz in unseren Herzen »eingegraben« ist. Wir verstehen, dass die Worte, »Ich bin der Ewige, dein Gott«, die Essenz des Gesetzes sind. Sage nicht, wenn ich frei sein werde, werde ich lernen; vielleicht wirst du nicht frei werden (Hillel, 2,15). Können wir auch heute damit rechnen, dass sich die Wege in der Tora verstecken, um den Menschen in Freiheit zu erhöhen? Lassen wir diese Wege für sich selbst sprechen? Kommen Sie zu den Gottesdiensten an Schawuot, wenn wir aus der Torarolle lesen, um den Baum Ihres Lebens wachsen zu lassen.
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Jubiläumsrede des Landesrabbiners der LJGH für Hamburg Siwan 5778 – Mai 2018 Wir feierten an Schawuot 5778 (2018) das 200-jährige Jubiläum der ersten jüdischen liberalen Tempel-Synagoge. Wir wollten den Segen für alle Generationen jener Juden erneuern, die in Hamburg gebetet haben. Für alle Juden, sowohl liberale als auch orthodoxe, sowohl religiöse als auch weltliche, sowohl für Juden als auch für alle ihre Verwandten in unserer großen Familie. Wir beten hier und jetzt besonders für die Generation der Juden während der Shoah, die hier in Hamburg durch das Regime der Nazis und seine Mithelfer verflucht wurden, aber beim Gott Israels immer gesegnet bleiben! Wir werden nie das Testament unserer jüdischen Brüder und Schwestern aus Hamburg aus dem schrecklichen Jahr 1937 vergessen. Der Vorstand des letzten israelitischen Tempels beschloss: »Der Verwaltungsausschuss des Israelitischen Tempel-Verbandes hat in seiner Sitzung vom 21. März 1937 einstimmig beschlossen, dem Rabbinat des Israeltischen Tempels die Bezeichnung eines »Oberrabbinates« zu verleihen und zwar u.a. mit folgender Begründung: Obwohl die drei in Hamburg bestehenden Kultusverbände auf Grund des im Jahre 1867 geschaffenen Gemeindestatus mit ihren Rabbinaten völlig gleichberechtig sind und es demgemäß ein religiöses Oberhaupt in Hamburg nicht gibt, herrschen sowohl innerhalb wie außerhalb der Gemeinde irrige Vorstellungen über die verfassungsrechtlichen und religiösen Kompetenzen der drei Verbände bzw. ihrer Rabbinate. So verlangen z.B. Behörden in Hamburg in Unkenntnis der tatsächlichen Gleichstellung der Kultusverbände und ihrer Rabbiner eine Bescheinigung des »Oberrabbinats«. Mit der ab 1 April d. J. einsetzenden politischen Veränderung, der Schaffung eines Groß- Hamburg würde sich die Tatsache ergeben, dass zwei Rabbinate mit dem Titel »Oberrabbinat« in Groß-Hamburg existieren, die beide orthodox sein würden... Das ist im Hinblick auf die historische Bedeutung des Tempels als Muttergemeinde zahlreicher jüdischer Gemeinden der Welt und im
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Hinblick auf die gegenwärtige Bedeutung des Tempels für das religiöse Leben Hamburgs untragbar. Rabbiner Dr. Italiener hat den Beschluss des Verwaltungsausschusses zur Kenntnis genommen, der aus lokalen und zeitlichen Gründen unvermeidbar sei. Er hat der Umbenennung des Rabbinats des Israelitischen Tempel-Verbandes in ein Oberrabbinat zugestimmt, hält es jedoch für erforderlich um der Würde des Standes willen, den er vertritt, Folgendes zu erklären: »Der Titel »Rabbiner« ist eine Ehre; er besitzt die ihm eigene historisch gewordene jüdische Prägung. Dieser Titel kann durch kein aus der Umwelt entlehntes Standesprädikat irgendeine Erhöhung erfahren«.23 Der Verwaltungsausschuss des Israelitischen Tempel-Verbandes wollte die völlige Gleichberechtigung zwischen orthodoxen und liberalen Kultusverbänden damit feststellen. Der orthodox geprägte Deutsch-Israeltischen Synagogen-Verband hat dazu mit folgenden Begründung zugestimmt: »Dieses unser Verlangen entspricht dem Wunsche unserer Herzen nach einem für immer gewährleisteten Frieden innerhalb unserer uns alle ohne Unterschied von Partei und Richtung umfassenden Gemeinde, dem Frieden, den wir alle brauchen, heute mehr denn je....24 «. Andreas Brämer schrieb dazu: »Ob Joseph Carlebach die Entwicklung des Tempels mit Genugtuung betrachtete, lässt sich nicht feststellen. Immerhin zeigte er sich den Argumenten aufgeschlossen und entschied im Oktober 1938, er werde sich nicht länger Oberabbiner zu Hamburg, sondern nurmehr Oberrabbiner des (orthodoxen) Synagogenverbandes nennen«.25 1937 erkannten liberale Juden, dass NS-Beamte totalitäre Stereotypen in ihren Köpfen hielten! Sie versuchten eine vielfältige jüdische Gesellschaft in dieses Prokrustesbett zu zwängen. Das NSRegime unterdrückte damals alle Juden schrittweise und systematisch. Es entschied alle jüdischen Frauen und Männer gegen ihren Wunsch, wie eine monolithische Masse unter einem Dach einzuschließen, um danach sie zusammen auszurotten.
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23 Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform: Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, S. 266 24 Ebd. 267 – 268 25 Ebd. 267 – 89
Der Vorstand des israelischen Tempels hat Widerstand geleistet und die orthodoxe Gemeinde hat die liberalen Hamburger Juden richtig verstanden! Leider konnten unsere Vorfahren damals in Hamburg ihren jüdischen inneren Pluralismus nicht verteidigen. Sie haben diese Aufgabe uns heute hinterlassen. Diese Aufgabe zu erfüllen ist ein Einstieg in den Segenskreislauf zwischen der vorherigen und der gegenwärtigen Generation in Hamburg. Die bescheidene nach der Schoah wiederbelebte Liberale Jüdische Gemeinde zu Hamburg bekommt damit diesen Segen und diese Unterstützung für Freiheit und Gleichberechtigung unter allen Hamburger Juden, einschließlich der Juden aus verschiedene religiöse Strömungen, sogar aus den Flammen der Shoah. Wir, liberale Juden aus LJGH, streben danach, dieses Testament heute im demokratischen Hamburg zu verwirklichen, und das so bald wie möglich, damit die Tragödie der Ungerechtigkeit für dieses Land nie wiederkehrt! Das bedeutet für uns in den Segenskreislauf der Generationen einzusteigen: »Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden!«
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AU F D E R J Ü D I S C H E N E R D U M L AU F B A H N I N DEUTSCHLAND IM XXI. JH.
Eine Reise rückwärts in der Zeit!
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in israelischer Rabbiner wurde einmal zu einer Jüdischen Gemeinde im Deutschland des XXI. Jh. eingeladen. Nach einem Jahr hat die Ausländerbehörde der Stadt, in der er wohnte, entschieden, ihn mit seiner Familie zurück nach Israel abzuschieben. In dem darauf folgenden Zeitraum hat der Rabbi der zuständigen Beamtin der Ausländerbehörde die folgenden Parabeln erzählt. Nach sechs Monaten des Lächelns und der Tränen wurde ihm erlaubt, in Deutschland zu bleiben, um seine zu Tränen rührenden Parabeln auf Deutsch weiter zu schreiben!
Das Krankenhaus So etwas konnte nur unter einer totalitären Regierung passieren. Laut einem neuen Regierungserlass soll in einer kleinen Stadt mit 3000 Einwohnern eine psychiatrische Klinik errichtet werden. Der entsprechende Befehl wurde vom Diktator selbst unterschrieben. Die Beamten haben alle Unterlagen vorbereitet, das Gebäude wurde gebaut, das Pflegepersonal eingestellt, die Patienten wurden eingewiesen und das Krankenhaus somit eröffnet.
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Von Anfang an aber fehlte etwas: es gab keinen Arzt in der Klinik! Wahrscheinlich hatte ein Beamter einen Fehler gemacht und diese Stelle nicht ausgeschrieben; der Präsident hatte die Unterlagen unterschrieben ohne sie zu überprüfen, – er hatte an diesem Tag ja so viele Papiere gleichzeitig zu unterschreiben. Das Pflegepersonal hat das sofort bemerkt, aber niemand hatte den Mut, deswegen in der Hauptstadt zu klagen: Befehl ist Befehl! Wenn es einen Befehl gibt, befolgt ihn jeder ohne Verzögerung und ohne Widerspruch. Das Pflegepersonal musste im Internet recherchieren, um die Patienten richtig zu behandeln. Sie hatten die große Hoffnung, dass bald ein Arzt kommt. Morgen oder übermorgen. Vielleicht würde ja ein neuer Befehl kommen. Es vergingen viele Jahre und noch immer war kein Arzt gekommen. Das Pflegepersonal hatte inzwischen durch das Internet viel über Psychiatrie gelernt und große Erfahrungen gesammelt. Sie haben jetzt erkannt: der Präsident ist klug und weiß alles. Sie brauchten von Anfang an gar keinen Arzt, weil sie selbst die ausgezeichnetsten Ärzte sind. Auch die Patienten wurden von diesem kollektiven Enthusiasmus sehr schnell angesteckt. Alle ihre Krankheiten haben sich in die Überzeugung verwandelt: »Ich bin selbst der Arzt!« »Wir sind selbst die Ärzte!« Das Pflegepersonal hatte nichts dagegen. Alle Patienten waren jetzt ruhig und zufrieden . Sie haben zusammen mit dem Pflegepersonal viele Stunden recherchiert, um sich über die verschiedenen psychischen Krankheiten und die entsprechenden Heilmethoden zu erkundigen. Sie haben oft bei gemeinsamen Versammlungen über das Gelernte diskutiert. Alles war jetzt in Ordnung! Nach zehn Jahren aber wurde der Beamte, der den schrecklichen Fehler gemacht hatte, pensioniert. Der neue Beamte hat den Fehler in den alten Unterlagen zufällig entdeckt. Der Diktator hat einen neuen Befehl unterschrieben und ein Arzt wurde sofort eingestellt. Pflegepersonal und Patienten versammelten sich befehlsgemäß auf dem Platz vor dem Krankenhaus, um den Arzt feierlich zu empfangen. Als der erfahrene Arzt vor dem Krankenhaus aus dem Auto ausstieg,
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war er sehr aufgeregt: 240 Augen haben auf ihn mit großer Hoffnung geblickt, 120 Menschen haben ihn in großem Stil und mit Begeisterung empfangen! Nach einigen Minuten stand einer der Wartenden auf und verkündete mit triumphierender Stimme: »Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße sie alle in diesem historischen Moment: nach zehn Jahren hoffnungsvoller Erwartungen und intensiver Vorbereitungen – hier kommt zu uns der erste Patient!«
Die Probezeit eines Rabbiners aus Israel in Deutschland In einem Hafen liegt ein Schiff, dessen Eigentümer einen neuen Kapitän sucht. Es kommen einige Bewerber. Der Schiffseigentümer sucht einen aus, und sie machen einen Arbeitsvertrag. Der Eigentümer und der neue Kapitän sehen sich das Schiff von der Kommandobrücke aus an und der Eigentümer erklärt dem neuen Kapitän die guten Qualitäten des Schiffes. Von der Brücke aus lässt sich alles bequem arrangieren, wie sie hoch oben zentral über dem Schiff liegt. Der Kandidat unterzeichnet froh den Vertrag. Nach drei Tagen kommt der neue Kapitän auf das Schiff, steigt zu seiner Kommandobrücke hoch und sieht verwundert nach unten: in der Tiefe unter ihm – Wasser! Die Kommandobrücke war in der Zwischenzeit so errichtet worden, dass der Platz des Kapitäns sich nicht mehr über Deck befand, sondern bereits auf das Meer hinaus ragte! Der Kapitän fragt: Was hat diese Veränderung zu bedeuten? Die Seeleute sagen ihm: »Der Eigentümer ist sehr ängstlich. Falls ein Sturm kommt und das Schiff schaukelt, ist der Kapitän natürlich schuld daran, und man kann ihn auf diese Art und Weise schneller von der Brücke aus ins Meer entsorgen. Wenn wir dann im nächsten Hafen anlegen, suchen wir uns einen neuen Kapitän.«
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Wie »teuer« ist der Rabbi?! Ein Motivationstrainer für ein russischsprachiges Unternehmen in Deutschland hatte einen Traum. Er träumte, er liege nackt auf einer Eisscholle, um sie zum Schmelzen zu bringen und in warmes Meerwasser zu verwandeln. Dieses Bild passt perfekt zu den Vorstellungen, wie in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland die Aufgabe des Rabbiners wahrgenommen wird. Der Rabbi versucht, die Mitglieder zu motivieren, in ihrer Gemeinde etwas für sich selbst und für ihre Gemeinde zu unternehmen, um ihr Leben in Unabhängigkeit im Rahmen der jüdischen Tradition gemeinsam zu entwickeln. Aber die meisten Mitglieder, die in ihren Leben weder einen Cent und noch wenigstens ein gutes Wort für ihre Gemeinde gespendet haben, sind nur damit beschäftigt, zu errechnen, wie »teuer« der Rabbi ist, wie viel er die Gemeinde kostet. Dank dieser Personen lernte der Rabbi ein sehr teures Wissen: Die Hölle ist eine eisige Menschenseele, die nicht einmal durch die Flamme der Liebe Gottes erwärmt werden kann.
Glauben Sie an das Gute im Menschen? (Aus einem Interview des Rabbiners kurz vor der Abschiebung in den Kosmos.) »Nein, ich kann nur an den Gott Israels und sein Bild im Menschen glauben. Aber sein Bild im Menschen ist zerstört worden durch die Schoa in Europa.« Das Bild Gottes im Menschen wurde von zwei totalitären Regimen
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zerstört: von dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen. Leider gibt es inzwischen neue totalitäre Regime, die diese Zerstörung des Bildes Gottes im Menschen weiter vorantreiben. Gottes Bild im Menschen ist seither wie eine zerbrochene Vase: Je mehr – durch Menschen verursachte – Katastrophen im Verlauf der Geschichte geschehen, desto mehr Scherben finden sich in der Seele des Menschen. Je mehr Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Welt begangen werden, desto größer ist das schwarze Loch, das sich zwischen einem allgemein gültigen Ethos und seiner Umsetzung im Leben des Einzelnen aufgetan hat. Dieses schwarze Loch kann – schneller als alle astronomischen schwarzen Löcher – unsere Welt zerstören. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit für die Errettung der Welt vor dieser Zerstörung: Jeden einzelnen Mensch so zu behandeln, als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt. Die jüdische Tradition sagt: »Deshalb wurde [nur] ein einziger Mensch geschaffen, um dich zu lehren, dass jedem, der eine Seele vernichtet, die Schrift anrechnet, als ob er eine ganze Welt vernichtet hätte, aber jedem, der eine Seele rettet, rechnet die Schrift an, als ob er eine ganze Welt gerettet hätte. [...] Und zu bezeugen die Größe des Heiligen, gelobt sei er, dass ein Mensch so viele Münzen mit einem Stempel prägt, und alle gleichen sie einander, aber der König aller Könige, der Heilige, gelobt sei er, prägt jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen, und nicht einer gleicht dem anderen. Deshalb ist jeder einzelne Mensch verpflichtet zu sagen: Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden« (Mischna Traktat Sanhedrin Kapitel IV Mischna V). Heute ist jeder einzelne Mensch verpflichtet, jeden einzelnen Menschen so zu behandeln, als wäre er eine zerbrechliche Vase, um die Anziehungskraft des »schwarzen Lochs« zu neutralisieren.
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Das Schicksal des Reformjudentums nach der Schoa in Deutschland Es gab einmal zwei Freunde, gute Freunde. Als der eine von ihnen zu einer Reise aufbrechen musste, übergab er dem anderen die Schlüssel seines Hauses und bat ihn, in der Zeit seiner Abwesenheit für sein Haus zu sorgen, die Blumen zu gießen und generell auf das Haus zu achten. Als er nach längerer Zeit zurückkam, entdeckte er zu seiner großen Überraschung, dass sein Haus in eine große Unordnung geraten war: manche Bücher hatten einen neuen Standort gefunden, die Bilder waren umgehängt, sogar die Tische und Stühle, die Sessel und das Bett waren in eine andere Ordnung gerückt worden. Da fragte er seinen Freund: »Was hast du getan? Was hast du mit meinem Haus gemacht?« Und der antwortete: »Siehst du es nicht? Dein Haus ist sinnvoller geordnet, die Dinge passen so alle besser zu einander. Dein Haus ist schöner geworden.«
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DIE MALERIN Lynne Feldman wuchs in New York auf. Mit 12 Jahren begann sie ihre künstlerische Ausbildung bei der Art Students League of New York. Dann folgten 15 Jahre Fortbildung in Zeichnen und Malen. Sie besuchte die New York University und erhielt den Master-Abschluss der Columbia University. Die Gemälde und Siebdrucke von Lynn Feldman werden in Galerien und Museen in allen Teilen der Vereinigten Staaten ausgestellt. Zurzeit lebt die Künstlerin in Rochester, New York.
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D E R AU T O R Moshe Navon wurde im Jahre 1954 in Sibirien geboren. 1977 schloss er in Leningrad ein Studium der Industrieelektronik ab. Nach dem Umzug nach Israel (Alija) heiratete er 1994 Miriam. Er hat vier Söhne. Navon promovierte im Jahre 2004 an der Hebräischen Universität in Jerusalem in Bibelwissenschaft. Gleichzeitig studierte er an angesehenen religiösen Lehranstalten, darunter dem neo-orthodoxen Institut Machon Schalom Hartman und am Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion (HUC), dem ältesten Reform-Rabbinerseminar. 2007 erhielt er am Hebrew Union College in Jerusalem die Smicha (Rabbinische Ordination). Moshe Navon engagierte sich intensiv für die Wiedereinrichtung des Lehrstuhls der Judaistik an der Moskauer Staatsuniversität sowie für die Schaffung und Entwicklung jüdischer Gemeinden in Israel, in den GUS-Staaten und in Deutschland. Er wirkte an internationalen jüdischen Bildungsprojekten mit und unterrichtete an Universitäten in Israel, den GUS-Staaten (Russland, Weißrussland und Ukraine) und in Deutschland. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung beim Wiederaufbau des jüdischen Gemeindelebens ist er seit 2015 Landesrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg (LJGH).
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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:
Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.
Band 2:
Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.
Band 3:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.
Band 4:
Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.
Band 5:
Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.
Band 6:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.
Band 7:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.
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Band 8:
Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.
Band 9:
Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.
Band 10:
Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.
Band 11:
Bernd Gaertner; Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Der Glaube an den Gott Israels. Festschrift für Joachim LißWalther, 2012, 254 S.
Band 12:
Wilhelm .DOWHQVWDGOHU 0DTƗOD IƯ DO-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, 171 S.
Band 13:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2015, 434 S.
Band 14:
Wilhelm Kaltenstadler, Ernährung im medizinischen Werk des Moses Maimonides, 2015, 132 S.
Band 15:
Yee Wan SO, „And Jesus Replied...” – But what issues did Jesus address in his replies?! The Reception of the Conflict Narratives in the Gospel of Matthew, 2015, 377 S.
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Band 16:
Salomon Almekias-Siegl; Sabine Münch, Gehen wohl zwei miteinander. Jüdisch – christliche Lernwege durch die Bibel, 2016, 288 S.
Band 17:
Michaela Will, Rabbinat bei Franz Rosenzweig, 2017, 102 S.
Band 18:
Hans-Christoph Goßmann; Michaela Will (Hrsg.), „Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“. Festschrift für Wolfgang Seibert, 2017, 202 S.
Band 19:
Joanne Schmahl, Von der „Vergegnung“ zur Begegnung. Die besondere Beziehung zwischen Christentum und Judentum und die Bedeutung des christlich-jüdischen Dialogs für den Frieden, 2018, 139 S.
Band 20:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 2018, 243 S.
Band 21:
Wilhelm Kaltenstadler, Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum. Aufsätze zur jüdisch-christlichislamischen Kultur Europas, 2018, 243 S.
Band 22:
Moshe Navon, Dwar Tora. Kommentare zum wöchentlichen Toraabschnitt. Mit Gemälden von Lynne Feldman, 2018, 20 S.
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