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German Pages 234 Year 1989
HANS PFEFFER
Durchführung von "IV·Tests ohne den Willen des Betroffenen
Schriften zum Strafrecht Heft 82
Durchführung von HIV -Tests ohne den Willen des Betroffenen Pflicht und Befugnis zur Befundmitteilung aus der Sicht des Strafrechts
Von
Hans Pfeffer
DUßcker & Humblot . Berliß
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Pfeffer, Hans:
Durchführung von HIV -Tests ohne den Willen des Betroffenen: Pflicht und Befugnis zur Befundmitteilung aus der Sicht des Strafrechts / von Hans Pfeffer. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Strafrecht; H. 82) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06676-6 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-06676-6
Für Karin, Andreas und Claudia
Vorwort Diese Arbeit wurde vom Verf. im Jahre 1988 der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades vorgelegt. Die nach Redaktionsschlußder Untersuchung (1. 10.1987) veröffentlichten Stellungnahmen aus Schrifttum und Judikatur betreffen zwar partiell die hier behandelte Problematik, zwangen aber - soweit ersichtlich - zu keiner Ergänzung oder Korrektur der vom Verf. vertretenen Thesen. Ich möchte es nicht versäumen, hier all denen Dank zu sagen, die mir die Erstellung dieser Arbeit erst ermöglichten. Vorrangig möchte ich meinen Doktorvater, Herrn Prof. Dr. jur. Dipl. psych. Klaus Rolinski nennen, an dessen Lehrstuhl ich im Verlaufe langjähriger Mitarbeit die Gelegenheit hatte, wertvolle Erfahrungen auch auf außerhalb der klassischen Juristenausbildung liegenden Gebieten zu sammeln. Insbesondere die Notwendigkeit methodologisch exakter Erhebung empirischer Sachverhalte wurde mir hier stets aufs neue vor Augen geführt. Daß hiervon gerade auch bei der Lösung juristischer Probleme die zutreffende Weichenstellung abhängt, bestätigte sich für mich im Rahmen der vorliegenden Thematik in besonders eindringlicher Weise. Darüber hinaus verdanke ich Herrn Prof. Dr. Rolinski entscheidende Impulse bei derEntwicklung der letztlich vertretenen Thesen, da er mich durch häufig auch kontrovers geführte Diskussionen und kritische Einwände immer wieder dazu zwang, die eigene Position zu hinterfragen. Außerordentlich zu Dank verpflichtet weiß ich mich daneben Herrn Prof. Dr. Jürgen Wolter für die im Interesse einer möglichst baldigen Veröffentlichung der Arbeit unter äußerstem Zeitdruck erfolgte Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Dekan Prof. Dr. Peter Gottwald für die kurzfristige Anberaumung des Termins zur mündlichen Prüfung. Danken möchte ich weiterhin Herrn Dr. med. Boris Rolinski für die Durchsicht der Ausführungen zu rechts tatsächlichen Fragen im ersten Teil. Besonderer Dank gebührt aber vor allem Frau Gabi Thomann, die einen Teil ihrer Freizeit für die Eingabe des Manuskriptes opferte, sowie Herrn Friedbert Seidel, der bei diesbezüglichen technischen Problemen mit Rat und Tat zur Seite stand. Nicht zuletzt möchte ich meiner Frau Karin danken, die mich bei allen auftretenden Schwierigkeiten zum Durchhalten ermunterte, obwohl damit für sie erhebliche Mehrbelastungen verbunden und Einschränkungen des Familienlebens unvermeidbar waren. Wenzenbach, im April 1989
Hans Pfeffer
Inhaltsverzeichnis 19
Einleitung
Erster Teil
Rechtstatsachen 1.
Begriffliche Klärung
22
2.
Molekularbiologische Grundlagen ...............................
22
2.1
Funktionsweise der intakten menschlichen Immunabwehr
..........
22
2.1.1
Zelluläre Abwehr
.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2.1.2
Humorale Abwehr
24
2.2
Veränderungen im Immunsystem infolge der HIV-Infektion .........
24
3.
Verlauf der HIV-Infektion .. . ...................................
26
3.1
Akute Infektion mit HIV .......................................
26
3.2
AIDS Related Complex (ARC) ..................................
27
3.3
AIDS-Vollbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
3.4
Perspektiven von HIV-InfIzierten ................................
29
3.4.1
Zusammenhang der einzelnen Stadien der Erkrankung
.............
29
3.4.2
Therapiemöglichkeiten .........................................
29
3.4.3
Mortalitätsrate ................................................
30
4.
Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
4.1
Direkter Virus-Nachweis
.......................................
31
4.1.1
Isolierung des Virus ...........................................
31
4.1.2
Nachweis von Virusantigenen oder viraler Nukleinsäure
............
31
4.2
Nachweis von virusspezifIschen Antikörpern
......................
31
Inhaltsverzeichnis
10 4.2.1
Methode
31
4.2.2
Zuverlässigkeit dieser Testverfahren
32
5.
Epidemiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
5.1
Statistische Daten
33
5.2
Übertragungswege
34
5.2.1
Voraussetzungen fiir die RN-Übertragung ....................... .
34
5.2.2
Übertragungsgeeignete Verhaltensweisen
........................ .
36
5.2.3
EinzelHille und nicht eindeutig aufklärbare Fälle von HIV-Übertragungen
36
5.2.4
Ungefährliche Verhaltensweisen ................................ .
37
5.2.5
Röhe des Übertragungsrisikos und Möglichkeiten der Prophylaxe ... .
37
5.2.5.1
Geschlechtsverkehr mit RN-Positiven
37
5.2.5.2
"Needle-sharing" und andere Blut-zu-Blut-Kontakte ............... .
38
5.2.5.3
Kinder RN-positiver Frauen
.................................. .
39
5.2.5.4
Prophylaxe .................................................. .
39
6.
Psychosoziale Aspekte von RN-Tests ........................... .
40
6.1
Auswirkungen eines positiven Testergebnisses
40
6.2
Die Ambivalenz von HIV-Tests
41
.................................
Zweiter Teil
Durchführung von HIV-Tests ohne den Willen des Betroffenen Erster Abschnitt RIV-Test und Einwilligung 1.
Überblick über den Meinungsstand in der Spezialliteratur
44
1.1
Medizinische Indikation als Äquivalent fiir Information
44
1.2
Medizinische Indikation als Ausgangspunkt fiir eine stillschweigende Einwilligung des Patienten ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
1.3
Nach dem Behandlungsauftrag differenzierende Lösungen
46
1.4
Relevanz der Einwilligung auch fiir den Umfang der Blutdiagnostik
48
1.5
Absehen von Aufklärung aufgrund des ärztlichen Fürsorgeprinzips
49
... . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis
11
2.
Tatbestandliche Einordnung der Venenpunktion zum Zwecke der HIVDiagnostik ...................................................
49
2.1
Tatbestandsproblematik ........................................
49
2.1.1
Standpunkt der Rechtsprechung .................................
49
2.1.2
Standpunkt des Schrifttums
50
2.1.3
Relevanz des Streits im vorliegenden Zusammenhang ..............
50
2.1.4
Ärztlicher Eingriff als gefährliche Körperverletzung?
51
2.1.5
Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
2.2
Rechtmäßigkeit der Venenpunktion nach Einwilligungsgrundsätzen
53
2.2.1
Differenzierung zwischen Einwilligung und Einverständnis ..........
53
2.2.2
Voraussetzungen fiir die Wirksamkeit der Einwilligung
54
3.
Aufklärung als Voraussetzung fiir eine wirksame Einwilligung
.......
55
3.1
Funktionen der Aufklärung .....................................
55
3.2
Umfang der gebotenen Aufklärung
56
3.2.1
Justiziabilität der Frage des Aufklärungsumfangs
56
3.2.2
Herkömmliche Grundsätze zum Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht .......................................................
57
3.2.3
Anwendung der herkömmlichen Grundsätze zur ärztlichen Aufklärungspflicht auf die Problematik der HIV-Tests .........................
58
3.2.3.1
Aufklärung über das Vorliegen der HIV-Symptomatik ..............
59
3.2.3.2
Aufklärung über die spätere HIV-Diagnostik ......................
62
3.2.3.3
Ergebnis .....................................................
67
3.3
Wegfall der Aufklärungspflicht ..................................
67
3.3.1
Aufklärungsverzicht
...........................................
67
3.3.2
"Therapeutisches Privileg" ......................................
68
3.3.3
Planwidrige Erweiterung des Eingriffs ............................
71
3.3.4
Zusammenfassung
73
3.4
Rechtsfolgen der unzureichenden Aufklärung
3.4.1
Problemstellung
73
3.4.2
Undifferenzierte Anerkennung der Relevanz jedes Irrtums
73
3.4.3
Differenzierungsversuche in der Rechtsprechung und in der älteren Literatur .....................................................
74
.............
..............................
........ .
73
12
Inhaltsverzeichnis
3.4.3.1
Umfassende Einwilligungsrelevanz täuschungsbedingter Fehlvorstellungen
3.4.3.2
"Täuschung" nur bei vorsätzlicher Rerbeiflihrung des Irrtums?
76 77
3.4.4
Grenzziehung zwischen (vom Einwilligungsadressaten nicht zurechenbar veranlaßten) beachtlichen und unbeachtlichen Fehlvorstellungen
81
3.4.4.1
Abschichtung mit Rilfe der allgemeinen Abgrenzungsformeln der Kommentarliteratur ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.4.2 3.4.4.3
Abgrenzung nach Arzt ......................................... .......................
81 83 84
3.4.4.4
Abgrenzung nach Roxin
.......................................
88
3.4.4.5
Der Aspekt der mangelnden zeitlichen Flexibilität des Strafrechts (Kühne) als Einwand gegen die bisher gefundene Lösung? ..................
89
3.4.5
Kausalität der Fehlvorstellung als zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzung? .....................................................
92
3.4.6
Wechsel des Anknüpfungspunktes rur die strafrechtliche Zurechnung ..
93
3.4.6.1
Vorsätzliche Aufklärungsverkürzung
3.4.6.2
Fahrlässige Aufklärungsverkürzung
93 94
3.4.7
Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
Weiterentwicklung des Arzt'schen Ansatzes
Zweiter Abschnitt
Rechtfertigung des HIV-Tests durch sonstige Befugnisnormen 1.
Mutmaßliche Einwilligung
98
2.
Notwehr bzw. Nothilfe (§ 32 StGB) ...............................
99
2.1
Nothilfe zugunsten des "RN-Verdächtigen"
99
2.2
Notwehr bzw. Nothilfe zugunsten des Pflegepersonals ..............
99
3.
Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes
3.1
Anwendbare Befugnisnorm ..................................... 100
3.2
Durch beliebige Ärzte vorgenommene RN-Tests
3.2.1
Problematik hinsichtlich der Eingriffskompetenz ................... 101
3.2.2
Ausweichkonstruktionen
3.2.3
Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102
3.3
Durch das zuständige Gesundheitsamt vorgenommene RN-Tests .... 103
3.3.1
Praktische Relevanz der Problematik ............................. 103
100
.................. 101
....................................... 101
13
Inhaltsverzeichnis 3.3.2
Kenntnis des Patienten als Eingriffsvoraussetzung?
3.3.2.1
Grammatikalische Auslegung
. . . . . . . . . . . . . . .. 103
3.3.2.2
Auslegung im Hinblick aufverfassungsrechtliche Vorgaben
3.3.2.3
Auslegung unter Heranziehung des §28 VwVfG
3.3.2.4
Ergebnis der Auslegung ........................................ 106
3.3.2.5
Umfang der gebotenen Information
3.3.3
Ergebnis ..................................................... 107
4.
Rechtfertigung aufgrund Notstands (§ 34 StGB)
4.1
Anwendbarkeit der allgemeinen Notstandsregelung
4.1.1
Problemstellung
4.1.2
Exklusivität der Vorschrift über die Notwehr (§32StGB) ............ 109
.... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 ......... 104
................... 105 106
....... . . . . . . . . . . . .. 108 .......... . . . . .. 108 108
4.1.3
Sperrwirkung des Rechtsinstituts der Einwilligung
4.1.3.1
Die These von der Spezialität der Einwilligung .................... 109
.... . . . . . . . . . . . .. 109
4.1.3.2
Präzisierung der Spezialitäts-These
4.1.3.3
Folgerungen für das Verhältnis zwischen Einwilligung und §34 StGB .. 111
4.1.4
Ergebnis zur Frage der Anwendbarkeit des §34 StGB
112
4.2
Voraussetzungen für die Rechtfertigung nach §34 StGB
113
4.2.1
Notstandsfähiges Schutzgut ..................................... 113
4.2.2 4.2.2.1
"Gefahr" L S. d. §34 StGB ...................................... 114 Die Auffassung von Eberbach ................................... 114
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110
4.2.2.2
Kritik an der Auffassung Eberbachs .............................. 115
4.2.2.3
Eigenes Konzept aufgrund differenzierender Betrachtung
115
4.2.2.4
Einschränkung im Hinblick auf die Art der Behandlung
116
4.2.2.5
Erreichen des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades ............. 117
4.2.3
"Gegenwärtigkeit" der Gefahr ................................... 118
4.2.4
Zwischenergebnis
4.2.5
Verhältnismäßigkeit (Lw.S.) der Notstandshandlung ................ 119
4.2.5.1 4.2.5.2
Geeignetheit des RIV-Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120 Erforderlichkeit des HIV-Tests . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121
4.2.5.3
Zusammenhang zwischen Erforderlichkeit des HIV-Tests und ärztlicher Behandlungspflicht ............................................ 123
4.2.5.4
Voraussetzungen für die Behandlungspflicht des Arztes
4.2.5.5 4.2.5.6
Interessenabwägung (§ 34 S.I, 2. Satzt. StGB) ............. . . . . . . .. 128 HIV-Test als "angemessenes Mittel" (§ 34 S.2 StGB) 131
4.2.6
Zusammenfassung
............................................. 119
. . . . . . . . . . .. 124
133
14
Inhaltsverzeichnis Dritter Abschnitt
Die besondere Problematik der HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
1.
Problemstellung
135
1.1
Rechtstatsächliche Lage ........................................ 135
1.2
Intention der Untersuchung
2.
Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten ......... 136
2.1
Prämisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136
2.2
Das Problem der "Freiwilligkeit"
2.2.1
Stellungnahmen in Schrifttum und Rechtsprechung ................ 136
2.2.2
Die Konzeption von Amelung ................................... 137
...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136
... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136
2.2.2.1 Freiwilligkeitsprobleme i. e. S. ................................... 2.2.2.1.1 Unfreiwilligkeit und Rechtswidrigkeit des Zwanges bei EinwiIIigungserteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2.2.2.1.2 Legitimität des bei Erteilung der Einwilligung zum MN-Test ausgeübten Zwanges ..................................................... 2.2.2.1.3 Spezielle Wirksamkeitsgrenzen beim legitimen Zwang .............. 2.2.2.1.4 Ergebnis zum Fragenkreis "Freiwilligkeitsprobleme i. e. S." ..........
138
2.2.2.2 2.2.2.2.1 2.2.2.2.2 2.2.2.2.3
FreiwiIligkeitsprobleme i. w. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Rationalitätskontrolle und Wirksamkeit der Einwilligung ............ Kontrollpflicht des Staates und strafrechtliche Relevanz . . . . . . . . . . .. Ergebnis zum Fragenkreis "Freiwilligkeitsprobleme i. w. S. " . . . . . . . ..
143 143 144 145
3.
Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen
145
3.1
Vorbehalt des Gesetzes im Strafgefangenenverhältnis
145
3.2
Eingriffsbefugnis aus § 101 StVollzG .............................. 146
3.2.1
Auslegung des Begriffs "Gefahr" i. S. d. § 101 Abs.l S.I, 1. Hs. StVollzG
3.2.2
Anwendung des Gefahrenbegriffs auf die bei HIV-Test gegebene Sachlage ..................................................... 147
3.2.2.1
Die Auffassung von Schlund .................................... 147
3.2.2.2
Früheres Risikoverhalten als Gefahren-Indikator ................... 147
3.2.2.3
Prognose künftigen Risikoverhaltens als zusätzliche Voraussetzung für die Annahme einer Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148
3.2.2.4
Nicht-HIV-spezifischer Ansteckungsverdacht als Rechtfertigungsgrund für die HIV-Diagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 150
138 139 142 143
146
Inhaltsverzeichnis
15
3.2.3
Sonstige Eingriffsvoraussetzungen ............................... 151
3.2.3.1
Zumutbarkeit und Vngefährlichkeit .............................. 151
3.2.3.2
Erforderlichkeit des mV-Tests
3.3
HIV-Tests an V-Häftlingen
3.3.1
Eingriffsvoraussetzungen ....................................... 152
3.3.2
Anordnungskompetenz
3.4
Eingriffsbefugnis nach den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) ................................................... 153
3.4.1
Konkurrenzverhältnis zu § 101 StVollzG
3.4.2
Eingriffsvoraussetzungen der seuchenrechtlichen Befugnisnormen .... 153
3.4.3
Anordnungskompetenz
3.5
Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154
.................................. 152
..................................... 152
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152
153
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154
Dritter Teil
Befunderöffnung Erster Abschnitt
Befugnis zur Befunderöffnung
1.
Problemstellung
155
2.
Überblick über den Meinungsstand .............................. 155
3.
Tatbestandsmerkmale des §203 StGB
3.1
"Fremdes Geheimnis" ......................................... 156
3.2
Innerer Zusammenhang zwischen Berufsausübung und Bekanntwerden 157
3.3
Offenbaren des Geheimnisses
157
4.
Rechtfertigung der Befundweitergabe
158
4.1
Einwilligung des Betroffenen
159
4.1.1
Konkludente Einwilligung in die Weitergabe an eigene Hilfskräfte des Arztes ....................................................... 160
4.1.2
Befundmitteilung an andere Ärzte ............................... 160
4.1.3
Befundmitteilung an Angehörige des Patienten .................... 161
............................ 156
16
Inhaltsverzeichnis
4.1.4
Befundmitteilung an den (potentiellen) Arbeitgeber des Patienten
162
4.1.5
Die Sonderproblematik beim beamteten Arzt und beim Werksarzt
163
4.2
Offenbarungsbefugnis aufgrund gesetzlicher Spezialbestimmungen
166
4.3
Offenbarungsbefugnis unter dem Aspekt der Sozialadäquanz ........ 167
4.4
Offenbarungsbefugnis aufgrund schlichter Interessenabwägung
4.5
Offenbarungsbefugnis aufgrund § 34 StGB
4.6
Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 172
168
...... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169
Zweiter Abschnitt
Pflicht zur Befunderöffnung 1.
Verpflichtung des Infizierten zur Befundmitteilung
173
1.1
Problemstellung
173
1.1.1
Zusammenhang zwischen Pflicht zur Befundmitteilung und Strafbarkeit der HIV-Übertragung .......................................... 173
1.1.2
Überblick über die Strafbarkeit bei HIV-Übertragung ............... 173
1.1.3
Folgerungen für die Pflicht zur Befundmitteilung .................. 175
1.2
Meinungsstand zur Inforrnationspflicht des HIV-Trägers ............ 175
1.2.1
Lösung über die Rechtsfigur des "erlaubten Risikos" (Herzberg) ...... 175
1.2.2
Lösung nach den Grundsätzen über die Straflosigkeit eigenverantwortlicher Selbstgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178
1.2.2.1
Differenzierung nach Bruns ..................................... 178
1.2.2.2
Differenzierung nach HerzoglNestler-Tremel
180
1.3
Kritik an den vorgestellten Ansätzen und eigene Lösung
182
1.3.1
Kritik an der Lösung über die Rechtsfigur des "erlaubten Risikos" (Herzberg) .................................................... 182
1.3.1.1
Abgrenzung zwischen sozialer Adäquanz und erlaubtem Risiko ...... 182
1.3.1.2
Grundlagen der Rechtsfigur des erlaubten Risikos
1.3.1.3
Der Aspekt der (fehlenden) Konkretisierbarkeit des Opfers .......... 184
... . . . . . . . . . . . . .. 183
1.3.1.4
Der Aspekt des Gefahrbewußtseins auf Seiten des Opfers ........... 185
1.3.1.5
Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 188
1.3.2
Teilnahme an einer Selbstgefährdung oder einverständliche Fremdgefährdung? .................................................... 188
17
Inhaltsverzeichnis 1.3.3
Stellungnahme zur These von der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung ........................................................ 190
1.3.3.1
Die Position der Rechtsprechung ................................ 190
1.3.3.2
Dogmatische Einordnung der These von der Straflosigkeit der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung ........................ 191
1.3.3.3
Rechtliche Relevanz der Unkenntnis über den HIV-Status des Sexualpartners nach Einwilligungs-Grundsätzen ......................... 193
1.3.3.4
Die Interpretation der Einwilligungs-Grundsätze durch Herzog/NestlerTremel ....................................................... 195
1.3.3.5
Anwendung der Tatherrschaftskriterien
1.3.3.6
Die Interpretation der Tatherrschaftskriterien durch Herzog/NestlerTremel ....................................................... 201
1.3.3.7
Stellungnahme zu den Brunsschen Thesen ........................ 203
1.3.4
Eigenes Differenzierungsmodell ................................. 204
1.3.4.1
Resümee aus den bisher gefundenen Ergebnissen zur Differenzierung 204
1.3.4.2
"Erlaubtes Risiko" als Ausgangspunkt der eigenen Differenzierung ... 204
1.3.4.3
Befundmitteilungspflicht bei übertragungsgeeigneten Kontakten
1.3.4.4
Befundmitteilungspflicht bei anderen Kontakten ................... 206
1.3.4.5
Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208
2.
Verpflichtung des Arztes zur Befundrnitteilung .................... 208
2.1
pflicht zur Unterrichtung des HIV-Trägers selbst
2.1.1
Überblick über den Meinungsstand .............................. 208
2.1.2
Strafrechtliche Relevanz der pflicht zur Befundmitteilung ........... 209
2.1.2.1
Relevanz im Hinblick auf die therapeutische Funktion der Aufklärung
2.1.2.2
Relevanz im Hinblick auf den Schutz Dritter ...................... 209
2.1.3
"Therapeutisches Privileg" als Ausnahme von der Mitteilungspflicht? .. 210
2.2
pflicht zur Unterrichtung Dritter
2.2.1
Meinungsstand
2.2.2
Befundmitteilungspflicht aufgrund der Körperverletzungs- und Tötungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 212
2.2.2.1
Zusammenhang zwischen Verletzungsverbot und Benachrichtigungsgebot ........................................................ 212
2.2.2.2
Voraussetzungen der Erfolgsabwendungspflicht im allgemeinen ...... 213
2.2.2.3
GarantensteIlung des Arztes aufgrund Verantwortlichkeit fiir eine Gefahrenquelle .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 213
2.2.2.4
GarantensteIlung des Arztes aufgrund Behandlungsübemahme
197
205
208
209
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 212
............................................... 212
...... 214
18
Inhaltsverzeichnis
2.2.2.5
Einschränkung der Garantenpflicht unter dem Aspekt des berechtigten Vertrauens ................................................... 215
2.2.3
Befundmitteilungspflicht gegenüber Dritten aus § 138 Abs.l Zif[ 6 StGB
2.2.4
Befundmitteilungspflicht gegenüber Dritten aus §323 c StGB
2.2.4.1
Anwendbarkeit des §323 c StGB
2.2.4.2
Voraussetzungen des §323 c StGB ............................... 219
2.2.5
Ergebnis
217
..... . .. 218
................................ 218
221
Zusammenfassung ...................................................... 222 Literaturverzeichnis ..................................................... 224
Einleitung HIV-Tests waren in jüngster Zeit häufig Gegenstand der Berichterstattung in der Tagespresse. Vor allem Meldungen über Einzelfalle von heimlichen "AIDS"Tests l erregten die Gemüter. Bald war auch über die Absicht einzelner Kliniken zu lesen, alle Patienten zu testen, etwa mit dem Ziel, den "Durchseuchungsgrad" festzustellen 2 • Für weitere Aufregung sorgte schließlich die von Seiten des Landesverbandes Bayern des Hartmann-Bundes öffentlich erhobene Forderung, es müßte den Ärzten erlaubt sein, bei ihren Patienten im Verdachtsfalle ohne deren besondere Zustimmung eine HIV-Diagnostik durchzuführen 3 • Diese Äußerung einer ärztlichen Standesvertretung deutet bereits die erhebliche Unsicherheit an, die mittlerweile hinsichtlich der Frage der rechtlichen Zulässigkeit nichtkonsentierter HIV-Tests entstanden ist, nachdem sie zunächst kaum in Frage gestellt worden war. Aufhorchen ließ dann eine weitere Meldung in der Tagespresse, wonach es der Bremer Generalstaatsanwalt Hans Jamknecht auf der Jahrestagung der Generalstaatsanwälte in Bremen als die "einhellige Meinung" seiner Kollegen bezeichnet habe, daß Ärzte, die nach einer Blutentnahme ohne Einwilligung des Patienten einen AIDS-Test durchführen, sich einer Körperverletzung strafbar machten 4 • Diese These blieb allerdings nicht lange unwidersprochen und erfuhr jedenfalls in der Literatur erhebliche Modifikationen, so daß eine allseits akzeptierte Antwort auf diese Frage gegenwärtig nicht in Sicht ist. Als weiterer Problembereich erwies sich die Zulässigkeit nicht konsentierter HIV-Tests im Strafvollzug. Hier lösten vor allem die im Rahmen des vielzitierten sogenannten "Maßnahmenkatalogs" der Bayerischen Staatsregierung vorgesehenen routinemäßigen Untersuchungen aller Straf- und Untersuchungsgefangenen vor Antritt des Anstaltsaufenthalts sowie vor der Entlassung aus der Hafts kontroverse Diskussionen aus. Nicht minder umstritten ist die sich an die Testdurchführung unmittelbar anschließende Frage der strafbewehrten Pflicht zur Wahrung des ärztlichen 1 Die Tageszeitung, Berlin, v. 21.3.1987 (Universitätsklinik Mainz); Sollinger Allgemeine v. 31. 3. 1987 (Universitätsklinik Göttingen). 2 So nach Aussagen der Stadträtin Csampai-Boettge die erklärte Absicht am Krankenhaus Perlach (zit. nach Münster, S. 17). 3 zit. nach Rehm, SZ v. 30.4./1. 5. 1987. 4 AP/dpa-Meldung, Süddeutsche Zeitung v. 30./31. 5. 1987. 5 Mitteilg. der Bayer. Staatskanzlei aus der Ministerratssitzung vom 25. 2. 1987 (abgedr. Heft 3/AIFO 1987, 3. Umschlagsseite).
2*
20
Einleitung
Berufsgeheimnisses, falls sich bei einem Patienten ein positiver HIV-Befund ergibt. Ob und - wennja - unter welchen Voraussetzungen der Arzt berechtigt oder sogar verpflichtet ist, sein Wissen anderen mitzuteilen, muß derzeit noch als weitgehend ungeklärt gelten. Schließlich stellt sich das Problem, ob es dem Infizierten selbst strafrechtlich geboten ist, andere über seinen HIV-Status zu informieren. Diese Frage hängtwie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen wird - eng zusammen mit der Problematik der Strafbarkeit der HIV-Übertragung, auf die sich in jüngster Zeit die Diskussion konzentrierte. All diese Fragen haben zuletzt in zunehmenden Maße die Strafrechtswissenschaft beschäftigt, ohne daß indes bisher auch nur partiell ein allgemein akzeptierter Konsens erzielt worden wäre. Als hinderlich hierfür erwies sich m.E., daß angesichts der gesellschaftspolitischen Brisanz der AIDS-Problematik die Versuchung, vom rechtspolitisch gewünschten Ergebnis her zu argumentieren, äußerst groß ist. Vielfach wird auch der Ruf nach dem Gesetzgeber laut, der allein Klarheit schaffen und rationale Lösungen ermöglichen könne. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist dagegen die Annahme, daß sich die aufgetretenen Fragen - trotz der unbestreitbaren Einzigartigkeit und Beispiellosigkeit des Phänomens AIDS - schon dann einer befriedigenden Lösung zuführen lassen, wenn man sich auf die Anwendung des geltenden Rechts in seiner durch Dogmatik und Judikatur geschaffenen Ausformung beschränkt. Damit ist der Gang der Untersuchung bereits vorgezeichnet: Sowohl bei der Frage der Testdurchführung wie auch der Befundmitteilung wird durch sukzessive Subsumtion der in Betracht kommenden Tatbestände die besondere Problemlage herauszuarbeiten sein. Eine wesentliche Rolle werden dabei Dogmatik und Judikatur zum Rechtsinstitut der Einwilligung und - damit zusammenhängend - zur ärztlichen Aufklärungspflicht bei Heileingriffen spielen. Andererseits wird sich zeigen, daß es mit der Subsumtion etwa unter die tradierte Kasuistik zu diesem Rechtsinstitut nicht sein Bewenden haben kann. Hier zwingt vielmehr die aktuelle, bei Herausbildung dieser Kasuistik nicht bekannte Problematik zu einem Rekurs auf die positiv-rechtliche Fundierung des Einwilligungserfordernisses. Einen weiteren Problemschwerpunkt werden die gesetzlichen Rechtfertigungsgründe, insbesondere die Notstandsrechtfertigung, daneben aber auch spezialgesetzliche Bestimmungen bilden. Darüber hinaus werden sich zusätzliche Fragen stellen, deren Relevanz im Kontext der scheinbar recht eng begrenzten Thematik der HIV-Tests prima facie nicht vermutet werden mag. So bedarf es etwa - wie sich erweisen wird - auch des Eingehens auf die ärztliche Behandlungspflicht gegenüber HIV-Infizierten sowie auf die Strafbarkeit eines Verhaltens, das zur HIV-Übertragung führt. Entscheidende Bedeutung für die Ergebnisfindung wird in allen Fällen den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zukommen. Insbesondere bei der
Einleitung
21
Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts werden die verfassungsrechtlichen Vorgaben die Leitlinie für die Beurteilung abgeben. Die Beantwortung der angesprochenen Rechtsfragen wird im Hinblick auf die Neuartigkeit und Vielschichtigkeit des Phänomens "Aids" daneben häufig maßgeblich von medizinischen oder auch psychosozialen Fakten abhängen, die zum Teil noch wenig geklärt, überwiegend aber jedenfalls nicht zum allgemein vorauszusetzenden Wissensstand zu rechnen sind. Als Ausgangspunkt der Untersuchung sollen daher im Ersten Teil die Rechtstatsachen insoweit aufbereitet werden, als sie für die nachfolgende rechtliche Beurteilung von Relevanz sind.
Erster Teil
Rechtstatsachen 1. Begriffliche Klärung
Die Bezeichnung AIDS resultiert aus der englischsprachigen Bezeichnung Acquired Immune Deficiency Syndrom, zu deutsch erworbenes Immunmangelsyndrom im Gegensatz zu angeborenen Immunmangelkrankheiten. 1 Das die Krankheit auslösende Virus wurde ursprünglich bezeichnet als HTLV-III, die Abkürzung für Human T-Lymphotropic Virus Typ III (zu deutsch: beim Menschen vorkommendes Virus, das bevorzugt T-Zellen, bzw. TLymphozyten infiziert)2 bzw. als LAV -die Abkürzung für Lymphadenopathy Associated Virus (zu deutsch: mit Lymphknotenschwellung assoziiertes ViruS).3 Nach nunmehriger Internationaler Übereinkunft, basierend auf einem Vorschlag des "International Committee on the Taxonomy of Virusses", ist nunmehr die Bezeichnung HIV als Abkürzung für Human Immunodeficiency Virus 4 - zu deutsch: menschliches Immundefekt-Virus - gebräuchlich.
2. Molekularbiologische Grundlagen 2.1 Funktionsweise der intakten menschlichen Immunabwehr Aufgabe der menschlichen Immunabwehr ist die Erkennung und Abwehr parasitärer und potentiell gefährlicher Fremdorganismen sowie die Überwachung der Differenzierungsvorgänge der körpereigenen Zellen, um fehldifferenzierte, transformierte, geschädigte und gealterte Zellen zu beseitigen. Zur Erfüllung dieser beiden Aufgaben bedient sich der menschliche Organismus zweier unterschiedlicher Abwehrsysteme, und zwar einerseits der - zellulären Abwehr (spezialisierte Abwehrzellen) und zum anderen der - humoralen Abwehr (frei diffundierende Moleküle). Jedes dieser beiden Systeme verfügt zur Abwehr von Fremdorganismen über zwei unterschiedliche Typen von Abwehrrnitteln: Abb/Deinhardt, S.4. Vgl. Gallo-Kathke, S. 39,46. 3 Zu dieser unterschiedlichen Terminologie vgl. Koch, AIDS, S. 65 sowie Feil, Das AIDS-Virus, S. 99f. 4 Koch, AIDS, S. 67. 1
2
2. Molekularbiologische Grundlagen
23
-
Zum einen sind dies Abwehrstoffe, die auf bestimmte besonders häufig auf fremden Organismen vorkommende Merkmale ("common detenninants") reagieren. Man spricht hier vom unspezifischen Immunsystem.
-
Zum anderen handelt es sich um Abwehrstoffe, die spezifische Bindungsstellen gegen beliebige Fremdmerkmale aufweisen. Es werden hierbei Abwehrzellen bzw. Abwehrrnoleküle hergestellt, die speziell und ausschließlich für die Neutralisierung eines bestimmten fremdartig wirkenden Makromoleküls (eines sogenannten "Antigens") vorgesehen und tauglich sind. Diese Komponenten der Immunabwehr sind dem sogenannten spezifischen Immunsystem zuzuordnen. 1
Dieses differenzierte System der körpereigenen Immunabwehr verdeutlicht folgendes Schema 2 Abwehr
unspezifisch
spezifisch
zellulär (Abwehrzellen)
Makrophagen Granulozyten Mastzellen Lysozym Interferone Serumeiweiße
B- Lymphozyten T-Lymphozyten
humoral (freie Moleküle)
Immunglobuline
Im Hinblick auf die Abläufe bei einer HIV-Infektion ist vor allem das spezifische Immunsystem von besonderem Interesse. Daher soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung hierauf näher eingegangen werden: Sowohl bei der zellulären als auch bei der humoralen Abwehrreaktion treten Lymphozyten, eine Fraktion der Leukozyten (weiße Blutzellen), in Aktion. Diese Lymphozyten sind in zwei große Gruppen einzuteilen: Einmal die BLymphozyten (B-Zellen), zum anderen die T-Lymphozyten (T-Zellen). Voraussetzung für die Einleitung einer Abwehrreaktion ist zunächst das Erkennen des jeweiligen Fremdkörpers (Antigen). Hierfür sind die sogenannten T-Helferzellen, eine Subpopulation der T-Lymphozyten, erforderlich, die wegen ihres charakteristischen Oberflächenmerkmals - einem sogenannten T4Molekül - auch als T4-Helferzellen bezeichnet werden. 3 Nach Erkennen des Antigens wird die eigentliche Abwehr eingeleitet. 2.1.1 Zelluläre Abwehr
Mit Hilfe der T-Lymphozyten werden sogenannte induzierende Faktoren (Interleukine, Interferone) freigesetzt und die Differenzierung in sogenannte "Killerzellen" angeregt. Diese "Killerzellen", zytotoxische T-Lymphozyten 1
2 3
Vgl. Lehmann, S. 71. Nach Lehmann, S. 72. Lehmann, S. 78.
1. Teil: Rechtstatsachen
24
(CTL), die im Hinblick auf das für sie charakteristische Oberflächenmerkmaldas T8-Molekül- auch als T8-Zellen bezeichnet werden, töten die antigentragenden Zellen ab. N otwendige Voraussetzung für den Ablauf dieses Prozesses ist aber, daß in unmittelbarer Nähe auch T-Helferzellen das Antigen erkennen4 . Nur in diesem Falle ist die Freisetzung von aktivierenden und induzierenden Faktoren möglich, die T-Lymphozyten zur Ausbildung antigenspezifischer Klone und zur Differenzierung in zytotoxische T8-Zellen anregen. 5 2.1.2 Humorale Abwehr
Diese wird mit Hilfe der B-Lymphozyten in Gang gesetzt,6 die sich durch entsprechende Aktivierung zu Plasmazellen differenzieren. Diese Plasmazellen bilden wiederum spezifische Antikörper (Immunglobuline), die zur Neutralisation der eingedrungenen Viren in der Lage sind. Die hierfür erforderliche Bindung kommt nur zustande, wenn auf das Antigen ein genau passender Antikörper trifft (Schloß-Schlüssel-Prinzip). In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist für eine derartige Aktivierung der B-Lymphozyten ebenfalls die Mitwirkung der T4-Helferzellen erforderlich (sogenannte T-zell-abhängige B-zell-Aktivierung als Regelfall). Eine Aktivierung allein schon aufgrund der Bindung des Antigens an eine B-Zelle (T-zellunabhängige B-Zell-Aktivierung) tritt nur in geringer Zahl auf. 7 2.2 Veränderungen im Immunsystem infolge der HIV-Infektion Bei der HIV-Infektion kommt es zu einer selektiven Infektion der THelferzellen. 8 Dies deshalb, weil die Oberflächenstruktur der T-Helferzelle, genaugenommen dessen Antigenrezeptor, d. h. die "Andockstelle" für erkannte Fremdkörper, einen genauen Negativabdruck eines Teils der Virushülle darstellt.9 Die Folge ist, daß nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip das HI-Virus beim Zusammentreffen mit einer T-Helferzelle mit dieser eine Bindung eingeht. Nachdem diese Bindung zustandegekommen ist, dringt das HI-Virus in den Zell-Leib der infizierten T-Helferzelle ein. Mit Hilfe eines bestimmten Enzyms, der sogenannten reversen Transkriptase, wird die ursprünglich aus Ribonukleinsäure (RNA) bestehende genetische Information des Virus (Virusgenom) in Desoxiribonukleinsäure (DNA) übersetzt. Die Virus-DNA wandert nunmehr in den Zellkern und wird dann in die DNA der infizierten T-Helferzelle eingefügt. Damit wird die Virus-DNA Bestandteil der Erbinformation der T-Helferzelle. 1o 4 S
6
7
8 9
Eingeh. Lehmann. S. 89. Abb/Deinhardt. S. 22f. Lehmann. S. 72. Lehmann. S. 82f. Lehmann. S. 90. Klingholz; S. 55.
2. Molekularbiologische Grundlagen
25
Nach erfolgter Integration des Virusgenoms in das Genom der T-Helferzelle kommt es zunächst nicht zur Vermehrung des Virus. Diese tritt erst dann ein, wenn infizierte Helferzellen zur Immunantwort und somit zur Vermehrung durch Bildung genetisch identischer Zellen, sogenannter Klone, angeregt werden. tl Die Infektion mit dem HI-Virus beschränkt sich dann nicht mehr auf die ursprünglich betroffenen T4-Helferzellen, sondern wird an deren sämtliche Nachkommen weitergegeben. Damit dürfte auch die betreffende Person für ihr ganzes Leben infiziert sein. 12 Nach ihrer Aktivierung besteht zudem eine besondere Neigung infizierter Helferzellen zur Verschmelzung mit anderen Zellinien des Körpers, wobei Gebilde mit gestörter biologischer Funktion entstehenP Weitere Folge dieser unkontrollierten Fusionen ist die Ausbreitung des Virus auch auf andere Zellen ohne T4-Molekül, so insbesondere auch auf das Hirngewebe. Letzteres kann bereits in frühem Stadium zu Psychosen, Verhaltensänderungen und Krampfanfallen führen. 14 Nach Aktivierung der infizierten Helferzellen, deren Lebensdauer im Ruhezustand nicht vermindert ist, tritt mit der Virusreplikation auch die zytolytische Wirkung der HI-Viren ein und die Lymphoplasten sterben ab. 15 Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Aktivierung des HI-Virus besteht insbesondere dann, wenn die T-Zelle in Kontakt mit Bakterien oder Pilzen oder anderen Infektionen kommt. Die Konsequenz der dargestellten Vorgänge ist eine zunehmende Verarmung des Patienten an Helferzellen mit jeder Immunantwort des Körpers. 16 Bei noch vitalen Helferzellen ist die Fähigkeit, nach Antigenerkennung die für die antigenabhängige Differenzierung von zytotoxischen T-Zellen sowie von BLymphozyten erforderlichen Steuerungsfunktionen 17 wahrzunehmen, vermindert, so daß es schließlich zur Lahmlegung des spezifischen Immunsystems kommt. 1s Gleichzeitig tritt infolge der verminderten Funktionsfahigkeit eine Schwächung des unspezifischen Immunsystems ein, das ebenfalls von bestimmten Regulierungsmechanismen der T-Helferzellen abhängig ist. 19 Gallo-Kathke. S. 45f. Lehmann. S.90. 12 Gallo-Kathke. S. 46. 13 Lehmann. S. 90. 14 Lehmann. a.a.O.; ebenso Biniek u.a., S. 1167fT. 15 Lehmann. a.a.O. 16 Während im peripheren Blut von Gesunden 60 bis 80 % aller T-Lymphozyten das T4-Molekül aufweisen, sinkt bei an AIDS Erkrankten deren Anteil auf unter 50 %, oft sogar unter die Nachweisgrenze (Lehmann. a. a. 0.). 17 Vgl. oben 2.1. 18 Lehmann. S.91. 10
11
26
1. Teil: Rechtstatsachen
Folge dieser tiefgreifenden Veränderungen im Immunsystem ist eine besondere Anfälligkeit des HIV-Infizierten für jegliche Art von Infektionen. Bakterien, Pilze oder andere Infektionen, die bei intaktem Immunsystem ohne weiteres abgewehrt werden und damit keine Krankheit bei dem Betreffenden hervorrufen könnten, verursachen bei ihm schwere Erkrankungen. 2o Derartige Erkrankungen werden im Hinblick auf das Ausnutzen der Schwächung der Immunabwehr als opportunistische Infektionen bezeichnet. 21 Daneben treten bei HIV-Infizierten bestimmte Arten von Tumoren 22 mit erhöhter Häufigkeit auf. 23 Bei HIV-Infizierten wirken neben opportunistischen Infektionen vor allem derartige bösartige Geschwulste, sogenannte Malignome 24 ,lebensbedrohend. 2S
3. Verlauf der HIV-Infektion Zu unterscheiden ist zunächst zwischen der HIV-Infektion, also der Aufnahme des HI-Virus, und der dadurch bedingten Erkrankung an AIDS, wobei auch hier wiederum zu differenzieren ist zwischen verschiedenen Stadien der Krankheit. Im Anschluß an die - symptomlose - Infektion können unterschiedliche Krankheitsbilder hervorgerufen werden. Gebräuchlich ist die Unterscheidung zwischen drei Hauptstadien des Krankheitsverlaufs. 1 3.1 Akute Infektion mit HIV2 Es handelt sich hierbei um eine unspezifische Erkrankungssymptomatik, d. h. ähnliche Symptome treten auch bei anderen Virusinfektionen auf. Diese reichen von allgemeinem Unwohlsein, Kopf- und Gliederschmerzen, Fieber, Reizung der Rachenschleimhäute, Hautausschlägen, Durchfall, bis zur Lymphknotenschwellung. Näheres hierzu vgl. Lehmann, a.a.O. Vg!. Gallo-Kathke, S.47. 21 Lehmann, a.a.O.; Abb/Deinhardt, S. 47. 22 Aus genetisch veränderten Körperzellen hervorgehende Geschwulste von Körpergeweben mit unterschiedlichen Merkmalen, die gut- oder bösartig sein können, vgl. Abb/Deinhardt, S. 52. 23 Gallo-Kathke, (S.47), der diese Beobachtung im übrigen als Bestätigung für die These ansieht, daß das normale Immunsystem, insbesondere die T-Zellen, bei der Verhinderung von Krebs eine bedeutende Rolle spielen. 24 Abb/Deinhardt, S.48. 25 Lehmann, S. 91. 1 Zu der differenzierten sog. "Walter-Reed-Klassifikation" vgl. Redfield u.a.: The Walter Reed staging c1assification for HTLV-IlI/LAV infection, in: New Engl. I. Med. 1986, 131f. 2 Ausf. beruhen im wesent!. soweit keine gegenteilige Anm. - auf der Darst. von Abb/Deinhardt, S.25f. 19
20
3. Verlauf der RIV-Infektion
27
Nach etwa zwei Wochen tritt bei nahezu allen Infizierten eine vollständige Erholung ein. Ein Hinweis auf die vorangegangene Infektion findet sich aber meist im Blutbild: Das Zahlenverhältnis der T4- zu den T8-Lymphozyten hat sich durch Vermehrung der letzteren nunmehr umgekehrt. Neuerdings wird auch von neurologischen Krankheitsanzeichen berichtet. So etwa von Verhaltensänderungen und epileptiformen Anfällen. Diese bilden sich zunächst zwar vollständig zurück, bei voll entwickelter AIDS-Symptomatik können aber schwere Gehirnschäden auftreten. Relativ sicheres Anzeichen für eine HIV-Infektion ist das Vorhandensein spezifischer Antikörper gegen die Virusproteine, die in der Regel innerhalb einiger Wochen nach der Infektion erscheinen.3 An eine akute HIV-Infektion kann sich ein jahrelanger symptomfreier Zustand (sogenannte Latenzphase) anschließen. Nach Mitteilungen des Epidemiologen Michael G. Koch (Karlsberg, Schweden) ergibt sich aus einer Analyse von 40 Langzeitstudien eine durchschnittliche Inkubationszeit4 von 10 bis 12 Jahren. In Einzelfällen habe sie sogar 16 Jahre betragen, bei 0,5 % der Infizierten sei allerdings die Krankheit bereits im ersten Jahr nach der Infektion aufgetreten. S 3.2 AIDS Related Complex (ARC)6 Ohne daß dies zwangsläufig der Fall sein müßte, kann danach ein sehr heterogenes Krankheitsbild auftreten (zusammengefaßt unter der Bezeichnung AIDS Related Complex - abgekürzt ARC), das charakterisiert wird durch bestimmte klinische Symptome, sowie bestimmte immunologische Laborbefunde. Von ARC spricht man, sofern jeweils mindestens 2 Laborbefunde und Symptome eines nach internationaler Übereinkunft zusammengestellten Kataloges vorliegen. -
Klinische Symptome sind dabei: persistierendes Fieber über 38 % C über 3 Monate hinweg starker Gewichtsverlust über 10 % generalisierte Lymphknotenschwellung (über 3 Monate) starker Durchfall Leistungsabfall, Nachtschweiß, Hautausschlag
KochJL'Age-Stehr, S.2560; eingehender hierzu unt. 4. Diesem Begriff gibt Koch (AIDS, S. 5 (r. Sp.) den Vorzug vor dem häufig synonym verwendeten, seiner Meinung nach aber "eher irrefUhrenden" Begriff "Latenzzeit" "irrefUhrend" im Hinblick auf die vermutlich auch während der symptomfreien Phase ablaufenden langsamen aber kontinuierlichen physischen Veränderungen (Koch, AIDS, S. 5 (I. Sp.». 5 Zit. nach Urban; S. 12. 6 Ausf. beruhen im wesentl. soweit nicht anderweit. belegt - auf der Darstellung von AbbJDeinhardt, S. 26f. 3
4
28
1. Teil: Rechtstatsachen
Die immunologischen Befunde, auf deren detaillierte Wiedergabe hier verzichtet wird7, sind Ausdruck der eingeschränkten Funktion der T4Lymphozyten. Diese ARC-Symptomatik ist möglicherweise über Jahre hinweg stationär. 3.3 AIDS-Vollbild Zuverlässige Angaben darüber, wie groß der Anteil der Fälle ist, in denen sich nach einer HIV-Infektion - über das ARC-Vorstadium oder auch unmittelbar - das Vollbild AIDS entwickelt, sind gegenwärtig noch nicht verfügbar. Im Jahre 1985 bewegten sich die Prognosen von Experten zwischen 5 und 19 %.8 Nach aktuellen Schätzungen dürfte der Anteil aber wesentlich höher liegen. Dies legt insbesondere eine Langzeitstudie in New York nahe, bei der nach nunmehr 6,5-jähriger Beobachtungszeit mittlerweile 49 % der Patienten AIDS entwickelt haben 9 • Das AIDS Vollbild wird nach einer Definition der World Health Organization (WHO) folgendermaßen beschrieben: "Ein erworbenes Immundefektsyndrom liegt bei nachgewiesener LAV/HTL VIII -Infektion 10 bei Patienten vor, bei denen Krankheiten auftreten, die auf Defekte im zellulären Immunsystem hinweisen und bei denen für diese Immundefekte keine bereits bekannten Ursachen vorliegen." 11 Typische Erkrankungen mit entsprechendem Hinweischarakter sind vor allem rezidivierende (d.h. wiederholende) oder persistierende (d.h. fortbestehende) Infekte mit opportunistischen Erregern. 12 Als klinische Symptomatik wird vor allem das Auftreten ungewöhnlicher Tumorerkrankungen (KaposiSarkom, Malignome) sowie Entzündungen der Lunge, der Hirn- und Rückenmarkshäute, der Speiseröhre und verschiedener Formen von Herpes genannt. 13 Nach neueren Erkenntnissen löst die Vermehrung des HIV-Virus in den Zellen des zentralen Nervensystems auch eine diffuse Enzephalopathie (krankhafte Hirnveränderung) aus, die sich vor allem in Wesensveränderungen und in Verwirrtheitszuständen manifestiert. 14 Charakteristisch für den immunologischen Laborbefund ist meist das nahezu vollständige Fehlen von T4-Lymphozyten. Vgl. hierzu im einzelnen AbbJDeinhardt, S. 26. Koch/L'Age-Stehr, Deutsches Ärzteblatt C 1985, 2560 9 Koch, AIDS, S. 15. 10 Nach neuerer Terminologie: HIV-Infektion. 11 KochJL'Age-Stehr, S. 2563. 12 KochJL'Age-Stehr a.a.O. 13 Im einzelnen hierzu Abb/Deinhardt S. 28. 14 AbbJDeinhardt a. a. O. 7
8
3. Verlauf der HIV-Infektion
29
3.4 Perspektiven von HIV-Infizierten 3.4.1 Zusammenhang der einzelnen Stadien der Erkrankung
Die genannten Stadien werden nicht notwendigerweise alle durchlaufen. So kann insbesondere die manifeste Erkrankung ohne vorheriges ARC oder LAS auftreten. Die beschriebenen Symptome der akuten HIV-Infektion, sowie des ARC werden ebenfalls nur zum Teil entwickelt. Manche Infizierte bleiben obgleich Virusträger und damit infektiös - schließlich gänzlich symptomlos. 15 3.4.2 Therapiemöglichkeiten
Zur Entwicklung geeigneter therapeutischer Interventionsmöglichkeiten werden derzeit zwei unterschiedliche Strategien verfolgt: - Zum einen ist dies die Behandlung mit antiviral wirksamen Chemotherapeutika - zum anderen diejenige mit immunstimulierenden Substanzen.16 Die erstgenannte therapeutische Intervention zielt auf die Hemmung der HIV-Replikation ab. Untersuchungen mit Suramin, einem Wirkstoff gegen Parasiten, ergaben zwar deutlich feststellbare antivirale Wirkungen, gleichzeitig aber toxische Nebenwirkungen. I? Zudem tritt die während der Anwendung der Chemotherapeutika gestoppte Virusvermehrung nach Absetzung des Medikaments wieder ein. 1B Problematisch ist ebenfalls die Behandlung mit einem weiteren Präparat, dem sogenannten Azidothymedin (AZT). Nach Aussagen des Frankfurter Internisten Helm komme es wegen seiner hochgradigen Toxizität weder für leicht noch für schwerst AIDS-Kranke in Frage. In anderen Fälle wirke es trotz der Nebenwirkungen, die aber ebenfalls der Behandlung bedürften, lebensverlängernd und verbessere die Lebensqualität der AIDS-Kranken. 19 Die zweitgenannte Behandlungsstrategie geht davon aus, durch Verabreichung immunstimulierender Substanzen (Interferone, T-Zell-Produkte und Thymushormone) könne das Immunsystem des AIDS-Patienten wieder aufgebaut werden. 20 Auch hier steckt die Entwicklung entsprechender Behandlungsverfahren noch in den Anfangen, ein entscheidender therapeutischer Durchbruch ist bisher noch nicht gelungen. 21 15 16
17
IB 19 20 21
Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, AIDS-Information Nr. 3 Ziff. 1. Abb/Deinhardt, S. 38. Abb/Deinhardt a. a. O. Cherman-Kathke, S. 52. Zit. nach Urban, S. 12. Abb/Deinhardt, S. 39. Abb/Deinhardt a. a. O.
30
1. Teil: Rechtstatsachen
Neueren Meldungen zufolge soll allerdings nunmehr ein chemisches Präparat - "Peptide T" - gefunden worden sein, das das HI-Virus am Befall von weiteren noch gesunden Zellen hindere. In Einzelfällen seien bereits positive Ergebnisse erzielt worden. Mit ersten klinischen Versuchen an mindestens 12 Patienten werde im Juli 1987 begonnen. 22 Zum Teil wird dem genannten Präparat sogar noch weitergehende Wirkung zugeschrieben. So soll damit bei Behandlung von AIDS-Kranken in Laboruntersuchungen sogar die vollständige Behebung von Schädigungen an Gehirnzellen gelungen sein. Daneben sei das Präparat auch bei der Forschung nach einem geeigneten Impfstoff von Bedeutung. 23 3.4.3 Mortalitätsrate
Im Gegensatz zu den vorstehend 24 erörterten Werten über die Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung des AIDS-Vollbildes gibt die Mortalitätsrate Aufschluß darüber, in wievielen Fällen die manifeste AIDS-Erkrankung einen tödlichen Ausgang nimmt. Die Todesfälle werden also bezogen auf die Anzahl der Patienten mit AIDS-Vollbild. Nach Untersuchungen in den USA sind etwa 50% der Patienten mit AIDS-Vollbild innerhalb von 18 Monaten nach Diagnosestellung verstorben. Innerhalb von 36 Monaten waren es bereits 80%.25 Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Studie des kalifornischen Gesundheitsamtes. Danach überlebten nur 2 % der Patienten mit AIDS-Vollbild den Zeitpunkt der Diagnosestellung um 5 Jahre. 26 Andere Autoren gehen von noch ungünstigeren Daten aus. Danach soll innerhalb von 36 Monaten nach Diagnosestellung die Krankheit bei über 80 % einen tödlichen Ausgang nehmen. 27
4. Diagnostik Der Nachweis einer HIV-Infektion kann auf zwei verschiedene Arten geführt werden: - direkt: durch Isolierung und Charakterisierung des Virus oder durch Nachweis von Virusantigenen und viraler Nukleinsäure - indirekt: durch Nachweis von virusspezifischen Antikörpern.! 22 So die Aussage der amerikanischen Neurologin Candace Pert auf dem AIDSKongreß in Washington vom Juni 1987, mitget. von Reuter, SZ vom 03. 06.1987, S. 48. 23 So F. Goodwin, Forschungsleiter des US-Instituts für Geisteskrankheiten, mitget. von Reuter a. a. O. 24 Vgl. 3.3. 2S Abb/Deinhardt, S. 30. 26 Bericht in The Advocate, 22.06. 1986, S. 23, zit. nach Schultz, S.48 (Fn. 22). 27 Koch/L'Age-Stehr, S. 2560. 1 Abb/Deinhardt, S. 14.
4. Diagnostik
31
4.1 Direkter Virus-Nachweis 4.1.1 Isolierung des Virus
Im Wege der Co-Kultivation von Patienten-Lymphozyten mit HIV-empfänglichen Indikatorzellen wird versucht, das Virus selbst nachzuweisen. Voraussetzung hierfür ist aber, daß in den Indikatorzellen in ausreichendem Maße die Virusvermehrung erfolgt ist. Diese Virusreplikation kann jedoch mehrere Wochen in Anspruch nehmen. 2 4.1.2 Nachweis von Virusantigenen oder viraler Nukleinsäure
Durch bestimmte Techniken (Immunfluoreszenz, radio- oder enzymimmunologische Testverfahren) werden Bestandteile der Virushülle bzw. die - in den DNA-Strang der befallenen Zelle integrierte - virale Nukleinsäure (provirale DNA) sichtbar gemacht. 3 Beide Formen des direkten Nachweises bieten den Vorteil hoher Spezifität, d. h. die Wahrscheinlichkeit falsch-positiver Ergebnisse ist gering. 4 Beide sind allerdings mit Schwierigkeiten verbunden: Während bei der Technik der Virusisolierung die mögliche Zeitverzögerung bei der Virusreplikation die Gefahr falsch-negativer Befunde in sich birgt, wirft bei den beiden vorstehenden Nachweismethoden der hohe technische Aufwand und die bisher mangelnde kommerzielle Verfügbarkeit der erforderlichen Reagenzien Probleme auf. Letztgenanntes Verfahren kann daher bisher nur in wenigen hochspezialisierten Laboratorien durchgeführt werden, nicht aber routinemäßig. 5 4.2 Nachweis von virusspezifischen Antikörpern 4.2.1 Methode
Diese Art der Diagnostik hat nicht den Nachweis des Virus selbst oder viraler Proteine zum Ziel, sondern der dagegen vom Organismus gebildeten Abwehrstoffe, der sogenannten Antikörper. Die indirekten Nachweismethoden machen sich also die Antigen-Antikörper-Reaktion 6 zunutze. Am gebräuchlichsten ist der sogenannte ELISA (Enzyme Linked Immunosorbent Assay). Dabei wird das Probanden-Serum auf speziell präpariertes HIV-Antigen aufgebracht. Enthält das Probanden-Serum HIV-Antikörper, so 2 3 4 5 6
Abb/Deinhard a.a.O. Abb/Deinhardt. S. 14f. Abb/Deinhardt. S. 15f. Abb/Deinhardt. S. 16. Vgl. oben 2.1.
32
1. Teil: Rechtstatsachen
entsteht ein Antigen-Antikörper-Komplex, der durch bestimmte Verfahren sichtbar gemacht werden kann. 7 4.2.2 Zuverlässigkeit dieser Testverfahren
Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der hohen Sensitivität des Tests, d. h. die Zahl falsch-negativer Ergebnisse ist gering. Ihr Nachteil gegenüber direkten Nachweismethoden besteht in der wesentlich geringeren Spezijität, d. h. einem höheren Risiko von falsch-positiven Reaktionsausfallen. Es ist also möglich, daß trotz Fehlens spezifischer Antikörper gegen HIV der Test positiv reagiert. 8 Daher müssen alle positiven oder fraglich positiven Befunde von Enzymimmunotests durch unabhängige, auf einem anderen Testprinzip beruhende Untersuchungen bestätigt werden. 9 In der Bundesrepublik erfolgt eine zweifache Kontrolle anhand von Testsystemen verschiedener Hersteller. Trotz der bereits erwähnten hohen Sensitivität der Antikörpertests sind falsch-negative Ergebnisse nicht zu verhindern, d. h. eine hundertprozentige "Treffsicherheit" des Tests kann nicht angenommen werden. Angaben zur Sensitivität des ELISA schwanken - ausgehend von der Prämisse, daß bei allen AIDS-Patienten Antikörper gegen HIV vorkommen - zwischen 99,2 % 10 und 99,33 % 11. Durch Kombination mit 1FT wurde, gemessen am Bestätigungstest Immunoblot, eine Sensitivität von 99,99 % erreicht. 12 Eine weitere Unsicherheit resultiert daraus, daß die genannte Prämisse sich als unzutreffend erwies: Bei manchen HIV-Infizierten (sogenannten Nonrespondern) traten überhaupt keine Antikörper auf bzw. blieb die Produktion von Antikörpern unter der Nachweisgrenze. 13 Ein zusätzlicher wesentlicher Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der Verläßlichkeit von negativen Befunden bei Antikörpertests resultiert daraus, daß zwischen der Infektion und dem ersten Auftreten von Antikörpern ein längerer Zeitraum liegen kann, wobei zum Teil sogar neun Monate für möglich gehalten werden. 14 Der negative Testbefund besagt also genaugenommen nur, daß der Organismus des betreffenden Patienten noch keine die Nachweisgrenze überschreitende Anzahl von Antikörpern gegen HIV gebildet hat. Ob daraus der weitere Schluß auf die HIV-Freiheit gezogen werden kann, hängt zum wesentlichen Teil davon Näher hierzu Abb/Deinhardt. S. 16f. sowie Feil. Methoden, S. 92ff. Nach Feil (a. a. O. S. 96) liegt - unter der Prämisse, daß im Serum oder im Plasma Gesunder keine HIV-Antikörper vorkommen - die Spezifität des ELISA bei 99,2 %. 9 Näher hierzu Abb/Deinhardt, S. 18f. 10 Feil, Methoden, S. 96. 11 Laufs, Sibrowski u. Kareh, S. 3596. 12 Laufs, Sibrowski u. Karch a. a. O. 13 Laufs, Sibrowski u. Kareh, S. 3593. 14 Brede, S. 20. 7
8
5. Epidemiologie
33
ab, welcher Zeitraum zwischen dem letzten ansteckungsgeeigneten Kontakt mit HIV-Positiven und dem Zeitpunkt der Blutentnahme verstrichen ist. Zusätzliche Probleme ergeben sich aus der hohen biologischen und genetischen Variabilität des HI-Virus. So wurde in Westafrika eine neue AIDS-VirusVariante gefunden, die HIV-II oder LAV-II bezeichnet wird. lS Dieses mittlerweile auch bei Patienten in der Bundesrepublik in Frankreich und in Großbritannien festgestellte 16 Virus, das vermutlich ebenfalls das AIDS-Vollbild auslösen kann 17 , weist von seiner Struktur her nur sehr entfernte Verwandtschaft zu dem zuerst entdeckten AIDS-Virus-Prototyp auf und wird durch kommerzielle ELlSA-Tests nicht immer erfaßt. So ergab sich bei 2 von 146 ELlSA-negativen Seren bei Untersuchung mit einem HIV-2-spezifischen Immunfluoreszenztest (kurz: 1FT) ein positiver Befund. 18 Jüngste Berichte von Gallo auf einem Expertenkongreß in Washington über das Auftauchen eines weiteren, des nunmehr dritten Typs von AIDS-Viren, 19 bestätigen die Annahme, daß sich die Viren der HIV-Gruppe durch hohe Mutationsfahigkeit auszeichnen. Die Schwierigkeit, zuverlässige Tests zu entwickeln, liegt damit auf der Hand.
5. Epidemiologie 5.1 Statistische Daten Bei der Auswertung der vielfach auch in der Tagespresse wiedergegebenen Daten ist streng zu unterscheiden zwischen Zahlenangaben über die HIVinfizierten Personen einerseits und über die bereits manifest an AIDS Erkrankten andererseits. Bei den vom Bundesgesundheitsamt (BGA) veröffentlichten Daten handelt es sich lediglich um die Anzahl der gemeldeten Infizierten. Zu rechnen ist aber mit einer sehr hohen, starken regionalen Schwankungen unterworfenen Dunkelziffer. Die Schätzungen hierüber reichen von 20 bis 80 % 1. Nach Auswertung aller Untersuchungen kommt der Epidemiologe Michael G. KOCH weltweit zu dem Ergebnis, daß das Verhältnis von offensichtlich bereits AIDS-Kranken zu den symptomfreien AIDS-Infizierten bei 1 zu 80 bis 1 zu 100 liegt. Demnach seien allein in der Bundesrepublik bereits 100000 Menschen infiziert. 2 Die vorliegenKoch, AIDS, S. 176. Montagnier, auf der 3. Internationalen AIDS-Konferenz in Washington, mitgeteilt von AP, in der SZ v. 06.(07.(08.06.1987 (S.ll); ebenso Koch a.a.O. 17 Biesert u. a., S. 353; ebenso Brede und Rübsamen, S. 347. 18 Biesert u. a., S. 354. 19 Mitgeteilt von Reuter in der SZ vom 03. 06. 1987 (S. 48). 1 L'Age-Stehr u. Koch, S. 89. 2 Zit. nach Urban, S. 12. 15
16
3 Pfeffer
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1. Teil: Rechtstatsachen
den Daten lassen auf eine mehr oder weniger starke Konzentration der Seuche auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, sogenannte Risikogruppen, schließen. Heftig umstritten ist derzeit die Frage, ob auf lange Sicht mit einer Verbreitung des Virus über alle Bevölkerungsgruppen hinweg oder mit einer Beschränkung auf die sogenannten Risikogruppen zu rechnen ist. 3 Mitte des Jahres 1986 vorliegende vorläufige Untersuchungsergebnisse zur Prävalenz des HI-Virus in den Risikogruppen, zum sog. "Durchseuchungsgrad", zeigten folgendes Bild: 4 Homosexuelle Männer Hämophiliepatienten (Bluter) Parenteral Drogenabhängige (Fixer) Weibliche Prostituierte Blutspender
15-40% 40-60% 10-35% 0,7-1,0% unter 0,01 %
Neuere Untersuchungen nennen für die Teilpopulation der Drogenabhängigen bereits Werte von 52 % bzw. 67 %. S 5.2 Übertragungswege Im Hinblick auf das frühe Stadium, in dem sich die Verbreitung der HIVInfektion befindet, muß davon ausgegangen werden, daß noch nicht alle möglichen Ansteckungsmodi bekannt sind. Die selteneren Übertragungswege, insbesondere jene, die sehr spezifische Bedingungen voraussetzen, scheinen erst auf, wenn die totale Zahl der Infizierten absolut gesehen sehr groß ist. 6 Mittlerweile liegen allerdings eine Reihe von Forschungsberichten vor. Bei deren Lektüre ist zu unterscheiden zwischen Feststellungen, die allein das Vorkommen des HI-Virus in bestimmten Körpersekreten betreffen - was aber noch nicht den Schluß auf einen bestimmten Übertragungsmodus zuläßt - und empirischen Studien zur Häufigkeit einer wirksamen HIV-Übertragung unter (begrenzt) kontrollierten Bedingungen 7 • 5.2.1 Voraussetzungen für die mV-Übertragung
Das HI-Virus findet sich vor allem im Blut und in Samenflüssigkeit, konnte aber auch schon in anderen Körperflüssigkeiten, wie Speichel und Tränenflüssigkeit 8 , ebenso im Schweiß und im Urin 9 nachgewiesen werden. J 4 S
6
7
8 9
Schuh, S. 58. Abb/Deinhardt, S. 33. Vgl. die Zusammenstellung bei Koch, AIDS, S.44. Koch, AIDS, S. 159 (1. Sp.). Vgl. Rosenbrock, S. 33. Abb/Deinhardt, S. 34 (sub 6.6). Kurth, zit. nach Urban, S. 12.
5. Epidemiologie
35
HIV-Infizierte sind vermutlich lebenslang Virusträger und damit auch potentielle Überträger. 10 Die Infektiosität von HIV-Positiven setzt bereits unmittelbar nach Aufnahme des HI-Virus ein, so daß insbesondere auch Personen ohne jegliche Krankheitserscheinungen das Virus übertragen können. l l Zur HIV-Übertragung kann es damit grundsätzlich auch schon während der Latenzphase 12 , sogar schon vor nachweisbarer Bildung von Antikörpern gegen die Virusproteine kommen. 13 Im Rahmen von Sexualkontakten besteht bei HIV-positiven Frauen nicht nur zum Zeitpunkt der Periodenblutung Ansteckungsgefahr, sondern während sämtlicher Phasen des Menstruationszyklus. 14 Voraussetzung für die Virusübertragung ist nach derzeitigen Erkenntnissen, daß der Rezipient in der Weise mit virushaltigem Körpersekret in Berührung kommt, daß das Virus in dessen Blutbahn gelangt 1s . Wahrscheinlich wird es hierfür einer nicht geringen Menge als minimaler infektiöser Dosis bedürfen 16, ohne daß diesbezüglich aber schon nähere Angaben gemacht werden könnten 17. Was die potentiell virushaltigen Körpersekrete anbelangt, ist jedoch festzuhalten, daß "weltweit .. bisher kein einziger Fall wirksamer Virusübertragung durch Speichel, Tränen, Schweiß, Talg, Nasensekret, Ohrenschmalz, Schuppen, Urin oder Kot gesichert (ist)."18 Übereinstimmend als unwahrscheinlich wird insbesondere auch eine Übertragung durch die Luft, etwa durch Anhusten oder Anniesen, - sogenannte "Tröpfcheninfektion"19 - bezeichnet. Ebensowenig dürften Schmierinfektionen bei der Übertragung von HIV eine wesentliche Rolle spielen. Dies wird zum Teil auf die hohe Labilität des HIVVirus gegenüber chemischen und physikalischen Einflüssen zurückgeführt, aufgrund der es extrakorporal wahrscheinlich nur kurzfristig und unter besonders günstigen Bedingungen infektiös bleiben soll. 20 So nimmt etwa Deinhardt 21 außerhalb des menschlichen Körpers eine Lebensfähigkeit des Biesert u. a., S. 354. Cherman-Kathke, S. 50. 12 Zu diesem Begriff: vgl. Ausf. zu 3.1. 13 Vgl. oben 3.1. 14 Vogt u.a., mitget. in Münchner Medizinische Wochenschrift 1987, Heft 20, S. 32. 15 Cherman-Kathke, S. 51. 16 Hehlmann u.a. (S. 386) zufolge sollen "wahrscheinlich entweder größere Mengen von infektiösem Virus oder Virus-infizierte Zellen für eine erfolgreiche Infektion erforderlich (sein)." 17 Koch, AIDS, S. 163 (r. Sp.). 18 Rosenbrock, S. 34 Hervorh. d. Verf.; ebenso Koch, AIDS, S. 160 (I. Sp.). 19 Koch, AIDS, S. 163 (I. Sp.). 20 Hehlmann u.a., S. 386. 21 Zit. nach Urban, S. 12. 10
11
3"
1. Teil: Rechtstatsachen
36
Virus nur für die Dauer von Minuten bis maximal zwei Stunden an. Lediglich unter sterilen Laborbedingungen sowie im gefrorenen Zustand könne es längere Zeit überleben. Blut könne nur frisch, nicht aber als eingetrockneter Blutfleck lebende HI-Viren enthalten. 22•23 5.2.2 Übertragungsgeeignete Verhaltensweisen
Als hauptsächliche Ursache für die HIV-Übertragung können daher nach gegenwärtigem Erkenntnisstand gelten: - homo- oder heterosexueller Geschlechtsverkehr, vor allem bei Schleimhautverletzungen - gemeinsame Benutzung von mit Blut verunreinigten Injektionsbestecken (sogenanntes "needle-sharing") von Drogenabhängigen - therapeutische Verabreichung von mit HIV kontaminiertem Blut und Blutprodukten - prä- oder perinatale Infektion Neugeborener, d. h. Transmission des Virus über die Plazenta oder während des Geburtsvorganges bei HIV-infizierten Müttern. 24 Abgesehen von diesen bisher praktisch relevanten Ansteckungswegen kann es aber auch in jedem anderen Fall eines Blut-zu-Blut-Kontaktes mit einem HIVTräger zur Infektion kommen. 25 In wieweit darüber hinaus Gefährdungspotentiale bestehen, etwa für Berufsgruppen - wie Zahnärzte, Gynäkologen, Chirurgen usw. -, die den Körpersekreten ihrer Patienten besonders ausgesetzt sind, ist weitgehend ungeklärt. Angesichts der geringen Anzahl bekanntgewordener entsprechender Fälle dürfte das Risiko aber sehr gering sein. 26 5.2.3 Einzelfälle und nicht eindeutig aufklärbare Fälle von "IV-Übertragungen
Neben diesen nach bisheriger Erfahrung wesentlichen Übertragungswegen werden weitere Einzelfälle berichtet, die aber in aller Regel ebenfalls durch Blutzu-Blut-Kontakt bzw. sonstigen intensiven Gewebskontakt gekennzeichnet sind.
Deinhardt, zit. nach Urban. S. 12. Zwar wurden unter Laborbedingungen Überlebenszeiten von ein bis zwei Wochen ermittelt, sofern HIV in (zell freier) Flüssigkeit aufbewahrt wurde, und sogar im trockenen Zustande fanden sich selbst in wärmebehandelten Blutprodukten noch nach 24 Stunden Anzeichen für lebende Viren (Koch. AIDS, S. 50). Die Aussagekraft dieser Befunde ist aber äußerst umstritten (krit. insbes. zum Versuchsaufbau z.B. Deinhardt u. a., Deutsches Ärzteblatt 1986, 1045). 24 Abb/Deinhardt. S. 34. 25 Abb/Deinhardt. S. 33. 26 Koch, AIDS, S. 48; ebenso Goebel. S. 764. 22
23
5. Epidemiologie
37
Erhebliche Unsicherheit herrscht in der Frage, ob eine Übertragung auch bei bloßem Blut-Haut-Kontakt erfolgen kann. Das Center for Disease Control (CDq berichtet von drei Fällen, in denen ärztliches Personal durch Exposition von Haut und Schleimhautmembranen mit kontaminiertem Blut mutmaßlich das HI-Virus rezipiert habe. Es dürfte sich hierbei aber um extreme Ausnahmeralle handeln. Diesen Schluß läßt jedenfalls eine Untersuchung zu, bei der 298 Mitarbeiter des Gesundheitsdienstes nach unfallmäßiger Exposition mit HIVkontaminiertem Blut, in 98 % der Fälle als Folge von Nadelverletzungen und leichten Schnittverletzungen, untersucht wurden. Obwohl es bei dieser Stichprobe in allen Fällen zu Blut-zu-Blut-Kontakten gekommen war, wies nur einer der Probanden einen positiven HIV-Befund auf. 27 5.2.4 Ungefahrliche Verhaltensweisen
Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen besteht im Rahmen von üblichen Alltagskontakten kein nennenswertes Ansteckungsrisiko. So wurde bei einer Reihe von Untersuchungen an Familienmitgliedern von Erkrankten kein einziger Fall einer interfamiliären Virusübertragung festgestellt, obwohl zum Teil sehr intensive tägliche Kontakte stattgefunden hatten, wie etwa die gemeinsame Benutzung von Rasierapparaten und Zahnbürsten. 28 Unbedenklich sind insbesondere auch übliche Kontakte im Rahmen gemeinschaftlicher Unterrichtsteilnahme infizierter und nicht infizierter Kinder. 29 5.2.5 Höhe des Übertragungsrisikos bei RisikoverhaIten und Prophylaxe
5.2.5.1 Geschlechtsverkehr mit HIV-Positiven
Für ungeschützten Analverkehr wird ein Übertragungsrisiko von 1 zu 100, für ungeschützten Vaginalverkehr von 1 zu 1000 pro Kontakt angegeben. 30 Bei Verwendung von Kondomen (sogenannter "safer sex") besteht ebenfalls nur relative Sicherheit, d. h. aufgrund bestimmter Faktoren (falsche Anwendung, Materialfehler usw.) kann es trotzdem zum Viruskontakt kommen. Für eine abschließende Aussage über das Risiko eines derartigen Viruskontaktes fehlt es derzeit allerdings an verläßlichen empirischen Daten.
Schettler a. a. O. Koch, AIDS, S. 162. 29 AIFO 1987, S. 79. 30 So das Ergebnis einer Untersuchung von Wissenschaftlern an der University of California in Berkley, zit. nach Reitz und Schuh; Frösner (Erwiderung, S. 543) leitet aus den Ergebnissen einer prospektiven Studie von Fischl und Mitarb. - ohne Differenzierung zwischen verschiedenen Formen des Sexualverkehrs - ab, die Infektionsübertragung erfolge wahrscheinlich im Mittel nach etwa 100 ungeschützten Intimkontakten. 27
28
38
I. Teil: Rechtstatsachen
Freilich werden vereinzelt entsprechende Prognosen auf der Grundlage des sogenannten Pearl-Index aufgestellt. Dieser Index solp1 anhand von Erfahrungswerten Aussagen über die Zuverlässigkeit von Antikonzeptiva im Hinblick auf die Schwangerschaftsverhütung treffen. 32 Ausgehend von einem (Schwangerschafts-)Pearl-Index für Kondome von drei bis 10 33 wird - da die HIV-Transmission, anders als die nur an drei bis vier Tagen mögliche Empfängnis, während des gesamten Menstruationszyklus der Frau, also siebenmai häufiger, stattfinden könne - etwa ein "HIV-bezogener" Pearl-Index von 21 bis 70~ angegeben.35 Der Aussagewert dieses Rechenexempels ist aber aus zwei Gründen begrenzt: Zum einen impliziert dieser Index allenfalls Angaben über die Wahrscheinlichkeit eines VirusKontaktes. Dieser führt aber nicht zwangsläufig auch zu einer HIV-Infektion. 36 Zum anderen kann diese Modellrechnung nicht einmal eine zuverlässige Angabe für die Wahrscheinlichkeit eines Virus-Kontaktes liefern. Der Pearl-Index selbst trifft nämlich keine Aussage darüber, in wievielen Fällen es trotz Kondomverwendung zum Eindringen von Samenflüssigkeit in die Vagina kam, sondern nur, wie oft aus derartigen "Pannen" Schwangerschaften resultieren. Aus dem Pearl-Index kann daher nicht die Häufigkeit der HIV-Infektion bei Kondomanwendern errechnet werden, sondern nur der Schluß gezogen werden, daß Kondome relativ häufig versagen.37 Ausgehend von den vorläufigen Ergebnissen einer von Fischi und Mitarb. durchgeführten Studie bei 32 (zu Beginn der Untersuchung) noch nicht infizierten Intimpartnern von AIDS-Patienten zieht Frösner 38 zwar den Schluß, selbst bei Kondomverwendung erfolge im Mittel nach weniger als 900 Intimkontakten mit einem HIV-Positiven die Ansteckung des zuvor Gesunden. Inwieweit sich dieses alarmierende Ergebnis durch zuverlässige empirische Daten belegen läßt, bleibt allerdings abzuwarten.
5.2.5.2 "Needle-sharing" und andere Blut-zu-Blut-Kontakte
Nach einer Untersuchung an 31 Probanden, die needle-sharing mindestens einmal praktiziert hatten, waren 32 % HIV-positiv. In der Vergleichsgruppe, deren Mitglieder nur eigenes Injektionsbesteck benutzt oder Drogen nicht intravenös appliziert hatten, war keiner HIV-positiv. 39 31 Sogar insoweit ist aber der Aussagewert begrenzt, da jeder "Versager" in diesen Faktor eingeht, unabhängig davon, ob dieser auf dem Versagen der Methode (z.B. Materialfehler) oder auf falscher bzw. unterlassener Anwendung basiert. 32 Definiert ist dieser Wert als die Zahl der zu erwartenden Schwangerschaften pro 100 Anwendungsjahre (mk, in: AIFO 1987, 194). 33 D.h.: Verwenden 100 Paare für ein Jahr ausschließlich Kondome, dann werden trotzdem drei bis zehn Frauen schwanger. ~ D.h.: Verwenden 100 Paare, von denen jeweils einer der Partner HIV-positiv ist, für ein Jahr stets Kondome, dann erfolgt bei 21 bis 70 von ihnen wahrscheinlich dennoch ein HIV-Kontakt. 35 mk in AIFO 1987, 194. J6 Reitz und Schuh a. a. 0.; anders offenbar mk (S. 194), der von einer wahrscheinlichen "Ansteckung" in 21 bis 70 Fällen ausgeht. 37 Frösner, Erwiderung, S. 543. 38 Erwiderung, S. 543. 39 Dulz B. und R. Schmidt, S. 143.
5. Epidemiologie
39
Ebenso besteht bei der Verabreichung HIV-kontaminierten Blutes oder verunreinigter Blutprodukte ein sehr hohes Risiko für das Auftreten einer HIVInfektion beim Empfänger. In der Bundesrepublik dürfte dieser Übertragungsweg aber mittlerweile weitgehend ausgeschlossen sein, da ab Mai 1985 zunächst auf freiwilliger Basis eine Untersuchung aller Blutspender sowie die Hitzebehandlung der Gerinnungsfaktorpräparate, die zur Inaktivierung des HI-Virus führt, vorgenommen wurde. Seit Oktober 1985 ist die Untersuchung aller Blutspender obligatorisch. 40 Ein gewisses Risiko verbleibt allerdings - wegen nicht auszuschließender falschnegativer Teste 41 - auch weiterhin. Insbesondere im Hinblick auf das Auftreten weiterer Varianten des HI-Virus wird daher gefordert, künftig nur Tests zu verwenden, die etwa auch HIV-2-positive Seren erkennen. 42
5.2.5.3 Kinder HIV-positiver Frauen Die Zahl HIV-infizierter Kinder, die sich bereits vor oder während der Geburt durch ihre HIV-positiven Mütter infizierten, ist im Steigen begriffen. Entsprechende Befunde erbrachten Untersuchungen zur prä- sowie perinatalen Infektion Neugeborener. Das Risiko einer HIV-positiven Mutter, ein infiziertes Kind zur Welt zu bringen, wird dabei auf 25-65 % geschätzt 43 • 5.2.5.4 Prophylaxe Bei den Bemühungen um die Entwicklung eines Impfstoffes erweist sich bisher vor allem die hohe Variabilität der Viren der HIV-Gruppe als Problem. Diese gleichsam chamäleonartige Fähigkeit zur Veränderung der Virus-Hülle 44 hat zur Folge, daß die aufgrund einer Impfung erzeugten Antikörper möglicherweise gegen später vom Organismus aufgenommenen Virus-Varianten keine Wirkung entfalten können, da sie diese nicht erkennen. 4s Ob die gegenwärtig in der Erprobung befindlichen Impfstoffe den erhofften Effekt erzielen, wird sich erst in einigen Jahren erweisen. 46 Vordringlich ist daher, die Übertragungsrisiken realistisch abzuschätzen und durch geeignetes Verhalten zumindest zu minimieren. Da der Infektionsmodus bei HIV am ehesten vergleichbar ist mit dem des Hepatitis-B-Virus (HBV) sind bei der Pflege von AIDS-Patienten und beim Umgang mit Material solcher Patienten zur Diagnostik mindestens dieselben 40
41
42
43 44 45 46
Feil, Methoden, S. 97. Vgl. oben 4.2.2. Brede und Rübsamen, S. 347. Koch, AIDS, S. 47 (I. Sp.). Die Zahnarzt Woche 1987, Heft 26, S. 7. Cherman-Kathke, S. 51. Cherman-Kathke a.a.O.
1. Teil: Rechtstatsachen
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Schutzmaßnahmen einzuhalten wie bei HBV-Infektionen 47 • Geboten sind beispielsweise folgende Vorsichtsmaßnahmen: - Verhinderung von Hautkontakt mit Blut, bluthaltigen Exkreten und Gewebsproben 48 ; daher sind bei allen Eingriffen, die zum Verspritzen oder Versprühen von Blut oder Körpersekreten führen können, Schutzkleidung (gegebenenfalls Plastikschürze), Handschuhe, Mundschutz und Schutzbrille zu tragen;49 - sichere Entsorgung von gebrauchten Kanülen (kein Zurückstecken in die Schutzhülle nach Gebrauch) und anderen kontaminierten scharfen Gegenständen; 50 - streng patientenbezogener Einsatz aller medizinischen Gerätschaften, die mit Schleimhäuten, Blut oder Sekreten in Berührung kommen; bei Mehrfachverwendung Sterilisation oder ausreichende Desinfektion; 51 - besondere Vorsicht bei serologischen und klinisch-chemischen Laboruntersuchungen (kein Mundpipettieren). 52 Mit HIV-haltigen Körperflüssigkeiten verunreinigte Instrumente sind einer 30minütigen Hitzebehandlung bei 60 Grad C zu unterziehen oder mit viruswirksamen Desinfektionsmitteln (z. B. Chlorbleiche oder 70 %-iger Alkohol) zu reinigen. Dadurch ist eine sichere Inaktivierung des HI-Virus zu erreichen. 53
6. Psychosoziale Aspekte von HIV-Tests 6.1 Auswirkungen eines positiven Testergebnisses Anders als bei vielen sonstigen schweren Krankheiten, wie z. B. Krebs, bei denen die Familie durch ihren seelischen Beistand zur psychischen Stabilisierung des Patienten beiträgt, bleibt im Falle der AIDS-Infektion häufiger diese Solidarität aus.! Aus - sachlich unbegründeter - Angst vor einer Infektion oder Furcht vor Diskriminierung durch die Umgebung distanziert sich die Familie, gehen Partnerschaften in die Brüche. 2 Häufig hat bereits die Mitteilung eines positiven Antikörpertests derartige Konsequenzen. 3 Abgesehen vom mangelnden Verständnis des gesellschaftlichen Umfeldes leidet der Betroffene KochJL'Age-Stehr, S. 2567. KochJL'Age-Stehr, S. 2567. 49 Mertens u. a., S. 373. 50 Mertens u. a. a. a. O. 51 Mertens u. a. a.a.O., mit weiteren Empfehlungen zur Verhinderung der HIVÜbertragung. 52 KochJL'Age-Stehr, S. 2567. 53 Abb/Deinhardt, S. 37. 1 FröschIJBraun-Falco, S. 287. 2 Fröschl/Braun-Falco a.a.O. 3 FröschlJBraun-Falco a.a.O. 47 48
6. Psychosoziale Aspekte von HIV -Tests
41
unter der ständigen Angst vor dem Ausbruch der Krankheit, die ihn unausgesetzt den eigenen Zustand kritisch auf entsprechende Anzeichen hin beobachten läßt. Nicht zuletzt dies dürfte eine der Ursachen dafür sein, daß die Mitteilung des positiven HIV-Befundes mit erhöhter Suizidgefahr des Betroffenen einhergehen kann. 4 Gravierende Belastungen im Arbeits- und Sozialbereich kommen hinzu. So berichtet etwa SchultzS , in den Vereinigten Staaten hätten AIDSKranke und AIDS-Verdächtige ihre Arbeitsplätze verloren, seien aus ihren Wohnungen entfernt worden, von Ärzten, Zahnärzten und Krankenschwestern mit ihrem Behandlungswunsch abgewiesen worden. Der Abschluß von Lebensund Krankenversicherungen sei ihnen verweigert, bestehende Versicherungsverträge vom Versicherungsträger gekündigt worden 6 • Auch in der Bundesrepublik mehren sich inzwischen entsprechende Mitteilungen in der Tagespresse 7 • 6.2 Die Ambivalenz von HIV-Tests Frösner 8 plädiert aus gesundheitspolitischen Gründen für regelmäßige serolo-
gische Reihenuntersuchungen der gesamten erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren. Diese stellten in Kombination mit gesetzlichen Auflagen für Infizierte (z. B. Informationspflicht gegenüber dem Intimpartner, Kondompflicht) die derzeit wirksamste Maßnahme zur Verlangsamung der weiteren Infektionsübertragung dar. Zum einen lieferten sie die für Auswahl und Effizienzkontrolle des gesundheitspolitischen Instrumentariums unabdingbaren verläßlichen Daten über Infektionshäufigkeit und bereits erfolgte Ausbreitung von AIDS. Zum anderen ermöglichten sie eine gezielte persönliche Information der infizierten Personen über Vorsorgemaßnahmen und gesetzliche Auflagen. 9 Schließlich könnten Personen, die sich nicht an die Auflagen hielten und weitere Personen infizierten, in der Regel beim nächsten Untersuchungsdurchgang durch Befragen der frisch infizierten Personen erkannt und gegen sie gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden 10.
Von denjenigen, die sich jedenfalls gegen HIV-Tests an symptomlosen Patienten wenden, werden demgegenüber deren mögliche Auswirkungen für den jeweiligen Betroffenen in den Vordergrund gerückt. Die Mitteilung des positiven Testbefundes und der sich hieraus ergebenden Zukunftsperspektiven stelle in erster Linie ein Life-event im Sinne der sozialmedizinischen Forschung 4 5
Jäger, 657. S.47.
Schult= a. a. o. Vgl. etwa Kölner Stadtanzeiger vom 4.6.87: "Die Angst vor Aids am Arbeitsp'latz"; Süddeutsche Zeitung v. 6. 8. 1987 (S. 9): "Ausschluß aus dem Kindergarten. Aids-Angste treffen Bluter"; Süddeutsche Zeitung v. 29.7.87 (S. 1) "Keine Lebensversicherungen für Aids-Kranke oder HIV-Infizierte". 8 S.64. 9 Frösner, S. 64f. 10 Frösner, S. 65. 6
7
1. Teil: Rechtstatsachen
42
dar, also ein plötzlich und von außen kommendes lebensverändemdes Ereignis l l Dadurch werde der gesundheitliche Status so stark beeinflußt, daß das Erkrankungsrisiko der Betroffenen spezifisch und unspezifisch, physiologisch und psychologisch beträchtlich steige. 12 Die gesundheitlichen Testfolgen ließen sich dahingehend zusammenfassen, "daß hier eine große und wachsende Zahl von Kranken durch das Medizinsystem selbst produziert wird".IJ Zudem verstoße die Durchführung von HIV-Tests - angesichts des Fehlens erfolgsversprechender Therapiemöglichkeiten - gegen den ärztlichen Grundsatz. Früherkennungsuntersuchungen seien nur zulässig, wenn es eine anerkannte Behandlung für Patienten gebe, die an der diagnostizierten Krankheit leiden. 14 Die Untersuchung auf HIV-Antikörper liege damit auf der gleichen Problemebene wie etwa Tests, die u.a. durch Gen-Untersuchungen die individuelle Disposition für bestimmte Krankheiten bzw. die Belastbarkeit des Organismus für bestimmte (Arbeits-)Situationen zu prognostizieren versuchten und die nach allgemeinem Verständnis als massive Menschenrechtsverletzungen gälten. 1S Einwände werden darüber hinaus gegen die pauschale These der Testbefürworter erhoben, die Befundmitteilung zeige erwünschte Wirkungen im Hinblick auf das Verhalten des Getesteten: Ein negatives Testergebnis bei vorangegangenen gefährlichen Sex-Praktiken könne zu verhängnisvollen Fehleinschätzungen der individuellen Widerstandskraft und damit zu Leichtsinn führen. Ein positives Testergebnis müsse nicht notwendigerweise das Unterlassen riskanter Sexualpraktiken zur Folge haben. Vielmehr könne es auch gänzlich anders geartete Reaktionstypen hervorrufen: Anomie, Panik, Depression, Hysterie, Verlust rationaler Handlungskontrolle oder Rückzug einerseits; Ignorieren oder Verdrängen andererseits. 16 Als Resüme all dieser Einwände fordert Rosenbrock1 7 anstelle der Förderung der Testbereitschaft sogar die Regulierung des Zugangsweges zum Test, wodurch "die indizierten Fälle möglichst trennscharf von den nicht-indizierten Fällen abgesondert werden." In Anlehnung an die Regulierung beim Schwangerschaftsabbruch solle deshalb die Durchführung des HIV-Test von der vorherigen Teilnahme an mindestens zwei ausführlichen medizinischen und psychosozialen Beratungen bei verschiedenen Institutionen über die Aussagen und die möglichen Folgen des Tests abhängig gemacht werden. 18
11 12
13 14
15 16
17 18
Rosenbrock. Rosenbrock. Rosenbrock. Rosenbrock. Rosenbrock. Rosenbrock. S. 127. Rosenbrock.
S. 116.
a.a.O. m.w.N.
S. 117. S. 106. S. 107. S. 121.
S. 128.
6. Psychosoziale Aspekte von HIV -Tests
43
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mag es dahinstehen, ob derart weitreichende Forderungen von der Sache her gerechtfertigt sind. Als wesentlich ist aber festzuhalten, daß jedenfalls ein allgemeiner, von jedem mitzutragender Konsens über die Nützlichkeit des HIV-Tests weder gegenwärtig besteht noch in naher Zukunft zu erwarten ist. Die Stellungnahme für oder gegen die Testdurchführung ist so - im Idealfall- das Ergebnis einer von der jeweiligen Gewichtung der genannten Faktoren abhängigen individuellen Entscheidung.
Zweiter Teil
Durchführung von HIV-Tests ohne den Willen des Betroffenen Erster Abschnitt
HIV-Test und Einwilligung 1. Überblick über den Meinungsstand in der Spezialliteratur Bei Durchsicht der Literatur ergibt sich ein sehr breites Spektrum an divergierenden Auffassungen, wobei derzeit noch keine als vorherrschend bezeichnet werden kann. Im folgenden soll zunächst ein zusammenfassender Überblick über die derzeit vorliegenden Stellungnahmen gegeben werden. 1.1 Medizinische Indikation als Äquivalent für Information Für weitestgehende Zulässigkeit der Tests sprechen sich Solbach und Solbach l aus. Erforderlich sei allein die Einwilligung in die Venenpunktion, nicht aber in die Untersuchung des entnommenen Blutes "auf AIDS". Das Einverständnis des Patienten mit einer vom Arzt für medizinisch erforderlich gehaltenen Blutuntersuchung könne man "von einem verständigen Patienten erwarten". Wann der HIV-Test erforderlich sei - aus differential-diagnostischen Gründen oder auch im Hinblick auf mögliche Ansteckungsgefahren für Ärzte und Personal - habe der Arzt zu entscheiden. Nähere Auskünfte über die beabsichtigte Diagnostik müßten nur auf entsprechende Fragen des Patienten erteilt werden. Ansonsten bedürfe es außer des Hinweises, es werde Blut entnommen, einer weiteren ärztlichen Aufklärung nicht. Insbesondere sei die Information über Art und Umfang der vorgesehenen Labordiagnostik nicht erforderlich, da diese weder zur Verlaufsaufklärung im eigentlichen Sinne noch zur Risikoaufklärung gehöre, vielmehr " ... in den alleinigen ärztlichen Verantwortungsbereich " reiche 2 . Anders sei die Rechtslage nur dann, wenn die HIV-Testung nur um der Gewinnung wissenschaftlich-statistischer Erkenntnisse oder nur zur Erlangung gesundheitspolitischen Wissens erfolge. In diesem Fall sei vor Durchführung der 1
2
S.298ff. Solbach/Solbach. S. 299f.
1. Überblick über den Meinungsstand in der Spezialliteratur
45
Venenpunktion eine entsprechende eingehende Information und die darauf basierende ausdrückliche Einwilligung des Patienten erforderlich 3 . Entscheidend ist nach dieser Auffassung also allein die medizinische Indikation des HIV-Tests. Der Umfang der Einwilligung wird folgerichtig dahingehend bestimmt, daß alle nach Krankheitsbild und Umständen angezeigten (= indizierten) Untersuchungen von ihr gedeckt seien, ohne daß der Patient hierüber vorher eingehend informiert werden müßte 4 • Nach Spann und Penning, die im übrigen die Auffassung von Solbach und Solbach teilen, soll allerdings hinsichtlich der medizinischen Indikation darauf abzustellen sein, "ob der Arzt seinen Verdacht lediglich aufgrund der sozialen Bezüge des Patienten schöpft oder dieser Verdacht auch medizinisch naheliegt" 5 • 1.2 Medizinische Indikation als Ausgangspunkt für eine stiIlschweigende Einwilligung des Patienten Differenzierter ist dagegen die Lösung von Rieger 6 , der vier Fallgruppen unterscheidet: - Tests, bei denen dem Patienten Blut ausschließlich zum Zwecke der HIVDiagnostik entnommen wurde, wobei der Patient bei Abgabe seiner Einwilligunserklärung diese Zwecksetzung des Eingriffs nicht kannte - routinemäßige HIV-Serologie aus Blutproben, die mit Einwilligung des Patienten zu anderen Zwecken abgenommen wurden - Durchführung an Patienten mit HIV-Symptomatik - Routinetests bei Angehörigen von Risikogruppen Zur Strafbarkeit gelangt Rieger stets bei der ersten Fallgruppe 7 und meist auch - aufgrund einer in der Regel zugunsten der Intimsphäre des Patienten ausfallenden Güter- und Interessenabwägung zwischen diesem und dem Schutzinteresse des Krankenhauspersonals - in der vierten Fallgruppe 8 . Dagegen sei in der zweiten und dritten Fallgruppe 9 die Venenpunktion jeweils durch eine stillschweigende Einwilligung des Patienten gerechtfertigt, da die Einwilligung sämtliche medizinisch indizierten serologischen Untersuchungen umfasse. Denn es sei - wie auch der Patient wisse - "absolut unüblich"lO, daß Solbach/Solbach, S. 300 ebenso Zuck, S.461; ähnlich Künnert (S.73), der allerdings im Falle eines ausdrücklichen Widerspruchs des Patienten gegen den HIV-Test eine entsprechende Einschränkung des Einwilligungsumfanges annimmt. 5 Spann/Penning, S. 639. 6 Rechtsfragen, S. 736ff. 7 Rechtsfragen, S. 736. 8 Rieger, Rechtsfragen, S. 737. 9 Rieger, Rechtsfragen, S. 736f. 10 Rieger, Rechtsfragen, S. 737 (I. Sp.). 3
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
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der Arzt den Patienten jeweils darüber unterrichtet, welche Untersuchungen er mit dem entnommenen Blut im einzelnen durchzuführen beabsichtigt. Nur im Falle gezielter Fragestellung durch den Patienten würde die Überschreitung des ausdrücklich begrenzten Untersuchungsauftrags das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten verletzen. Welche strafrechtlichen Konsequenzen eine derartige Persönlichkeitsrechtsverletzung haben könnte, läßt Rieger allerdings offen. Aus der Betonung der derzeitigen Aufklärungspraxis läßt sich nur entnehmen, daß Rieger offenbar der normativen Kraft des Faktischen eine maßgebliche Bedeutung beimißt, die anscheinend auch die Geltungskraft grundrechtlicher Vorgaben zu überspielen vermag. Besondere Hervorhebung verdient daneben, daß im Falle einer aus anderen Gründen indizierten Blutentnahme der selbst nicht indizierte, nur routinemäßige HIV-Test des Probandenserums - von Rieger als "reine Ausforschungsdiagnose" bezeichnet l l - nicht zur Strafbarkeit nach § 223 führen, sondern nur im Hinblick auf zivilrechtliche Schadensersatzansprüche eine Sanktionierung erfahren soll. In diesem letztgenannten Punkt - Straflosigkeit der "Ausforschungsdiagnose" - unterscheidet sich die Auffassung von Teichner. der als stillschweigende Bedingung der Einwilligung in die Venenpunktion einen Vorbehalt des Inhalts annimmt, daß das entnommene Blut nur indizierten serologischen Untersuchungen unterzogen wird 12. Der Arzt mache sich auch dann wegen Körperverletzung strafbar, wenn das - aufgrund anderweitiger Indikation dem Patienten entnommene - Blut rein routinemäßig, das heißt ohne HIV-Indikation, ohne Wissen des Patienten vom Arzt entsprechend seiner von Anfang an bestehenden Absicht zusätzlich auf HIV getestet wird 13. Teichner zufolge umfaßt die Einwilligung also grundsätzlich - ohne diesbezüglichen vorherigen Hinweis jede indizierte HIV-Testung. Eine Information über die im einzelnen vorzunehmenden Untersuchungen sowie über deren Sinn und Zweck soll nicht erforderlich sein, es sei denn, die Venenpunktion erfolgte ausschließlich zum Zweck dieses Tests. Nur in diesem Falle führe die Blutentnahme, die ohne vorherige Aufklärung des Patienten über die Zielsetzung des diagnostischen Eingriffs durchgeführt wurde, zur Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung. 1.3 Nach dem Behandlungsauftrag differenzierende Lösungen Nach Eberbach 14 ist je nach dem Behandlungsauftrag des Patienten zu differenzieren. Wünsche dieser einen umfassenden gesundheitlichen "check up" (Beispiel: Allgemeine Vorsorgeuntersuchung) oder die Ätiologie von Krank11
12 13 14
Rieger. Rechtsfragen, S. 736. Teichner. S. 114 (I. Sp.). Ebenso offenbar von Münch. S. 73. Heimliche Aids-Tests, S. 1470ff; Arztrechtliche Aspekte, S. 282ff.
1. Überblick über den Meinungsstand in der Spezialliteratur
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heitssymptomen, die schwer zuzuordnen sind, so sei von einer umfassenden Einwilligung auszugehen, die auch die HIV-Testung erlaube. Davon zu unterscheiden seien Behandlungen, denen eine wenigstens in etwa feststehende anderweitige Krankheit zugrundeliegt. Werde hier dennoch auch ein HIV-Test durchgeführt, so handle es sich eventuell überhaupt nicht mehr um einen "Heileingriff' , so etwa dann, wenn der Test primär zum Schutze des Arztes und seines Personals erfolge. Bei dieser Ausgangslage differenziert Eberbach 1S zwischen drei Fallgruppen: Wird die Blutentnahme eigens zum Zwecke der Durchführung eines HIVTests vorgenommen, so soll sich der Arzt nach § 223 StGB strafbar machen. - Wird Blut für anderweitige diagnostische Maßnahmen entnommen und entschließt sich der Arzt erst nach Vornahme der Venenpunktion dazu, das Serum auch einer HIV-Testung zu unterziehen (worin quasi eine spätere "Zweckentfremdung" des Serums zu sehen ist), so komme eine strafrechtliche Haftung des Arztes nicht in Betracht. - Wird eine ohnehin erforderliche Blutentnahme zugleich zur Abnahme von etwas mehr Blut für den HIV-Test genutzt, ohne den Patienten vorher über diese zusätzliche Verwendung aufgeklärt zu haben, so handle es sich um eine unzulässige Teilaufklärung, die die Einwilligung insgesamt ungültig mache und für den Arzt das Verdikt des § 223 StGB nach sich ziehe. 16 Dieser Folgerung liegt aber offenbar die - wenn auch nicht ausdrücklich ausgesprochene - Prämisse zugrunde, daß der Arzt die HIV-Diagnostik von vorneherein beabsichtigt hatte. -
Zum selben Ergebnis gelangt Bruns l7 , der - wenn auch ohne eingehendere Begründung und Differenzierung - die umfassende Aufklärung des Patienten über alle mit dem Blut beabsichtigten Untersuchungen vor Durchführung der Blutentnahme als Voraussetzung für deren Zulässigkeit bezeichnet. Eine stillschweigende Einwilligung des Patienten könne nur hinsichtlich solcher Untersuchungen unterstellt werden, die in der alltäglichen Praxis so selbstverständlich seien, daß jeder damit rechnen müsse. Mit einem HIV-Test müsse aber nur derjenige rechnen, der den Arzt aufsuche, um unspezifische AReSymptome abzklären zu lassen, nicht aber ein symptomloser Patient 18. Die letztgenannte These hat auch die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht 19 beschäftigt, ohne daß indes eine eindeutige Aussage hierzu getroffen worden wäre. Es wird lediglich festgestellt, es habe "als noch ungeklärt zu gelten", ob die Vornahme eines zusätzlichen oder ausschließlichen AIDS-Tests noch zum Gebiet der - im konkreten Fall vom Einverständnis des Patienten umfaßtendifferential-diagnostischen Blutuntersuchungen zu rechnen wäre. 20 15 16
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Heimliche Aids-Tests, S. 1471 f.
Eberbach, a.a.O.
AIDS, Alltag, S. 335 fT. Bruns, AIDS, Alltag, S. 355. S.337fT.
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
1.4 Relevanz der Einwilligung auch für den Umfang der Blutdiagnostik Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch Pereis und Teyssen. 21 Diesen Autoren zufolge ist die vorherige Einwilligung des über die Bedeutung des Eingriffs aufgeklärten Patienten nicht nur für die Blutentnahme erforderlich, sondern grundsätzlich auch für eine jede nachfolgende Blutuntersuchung. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, die Patienten begäben sich durch ihre Zustimmung in die Blutentnahme nicht etwa ihres Bestimmungsrecht über ihr Blut, d. h. ihres Rechts zu bestimmen, welche Blutuntersuchungen durchgeführt werden dürfen. 22 Die Nichtaufklärung über den beabsichtigten HIV-Test sei als Erklärung des Arztes dahingehend zu werten, ein derartiger Test werde nicht vorgenommen. Die Nichtaufklärung stelle daher eine positive Täuschung über den Zweck der Blutentnahme dar. Die Folge sei die Unwirksamkeit der irrtumsbedingten Einwilligung, da es sich um einen rechtsgutsbezogenen Irrtum handle, nicht nur um einen Motivirrtum 23 • Die generelle Zustimmung zur Durchführung einer Blutdiagnostik erlaube nicht - nicht einmal bei Vorliegen der HIV-Symptomatik - die Auslegung, es bestehe auch Konsens mit einer eventuellen HIV-Diagnostik 24 • Selbst wenn man aber dieser Auslegung der Reichweite der generellen Zustimmung nicht folgen wolle, so sei jedenfalls eine stillschweigende Begrenzung der Reichweite der Einwilligung anzunehmen. Dies ergebe sich im Hinblick auf die mit dem Bekanntwerden der Infektion verbundenen gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Wegen der verbreiteten Stigmatisierungstendenz eines positiven Testergebnisses und der damit verbundenen Gefahr einer Diskriminierung für das weitere Leben bedürfe der Arzt vielmehr selbst bei Vorliegen klinischer Anzeichen, die die Durchführung des Tests angezeigt machten, der ausdrücklichen vorherigen Einwilligung des Patienten gerade in den HIV-Test. Daraus folgt, daß der Patient nach Auffassung dieser Autoren die Ablehnung des HIV-Tests nicht von sich aus zu äußern braucht und stattdessen die Initiative vom Arzt ausgehen muß, der sich hinsichtlich des Einverständnisses des konkreten Patienten stets zu vergewissern hat.
20 21
22 23 24
Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, S.338. S.376fT. Perels/Teyssen, S. 376 (r.Sp.). Perels/Teyssen, S. 378f. Perels/Teyssen, S. 377.
2. Tatbestandliche Einordnung der Venenpunktion
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1.5 Absehen von Aufklärung aufgrund des ärztlichen Fürsorgeprinzips Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin 2s hatte sich im Rahmen einer Entscheidung über eine Dienstaufsichtsbeschwerde mit der Frage der Strafbarkeit einer - ohne vorherige Aufklärung des Patienten - zum Zwecke der differential-diagnostischen Abklärung des HIV-Verdachts durchgeführten Blutentnahme zu beschäftigen. Vorausgegangen war die Einstellung des Verfahrens gegen den verantwortlichen Arzt, gegen die sich der Patient mit seinem Rechtsbehelf wandte. Die Dienstaufsichtsbeschwerde wurde vom zuständigen Oberstaatsanwalt zurückgewiesen. In der Begründung für die Bestätigung der Einstellungsverfügung als sachlich korrekt wird - neben dem Aspekt des zur Zeit des Vorfalltages noch als unvermeidbar bewerteten Verbotsirrtums 26 - maßgeblich auf das ärztliche "Fürsorgeprinzip" abgestellt, das zum Teil auch als "Schonungsgrundsatz" oder "therapeutisches Privileg" bezeichnet wird. 27 Unter Hinweis auf die in der Literatur beschriebenen psychosozialen Folgen spezifischer "AIDS-Test"Aufklärung führt die Behörde aus, der beschuldigte Arzt sei wegen dieser für den Patienten drohenden gesundheitlichen Nachteile und " .. .im Hinblick darauf, daß bei ... (ihm) ein AIDS-Verdacht bereits manifest gewesen ist, .. .in Anwendung des ärztlichen Fürsorgeprinzips berechtigt (gewesen), ... (dem Patienten) ... vor der Blutentnahme nur eine Teilaufklärung zu geben."28 Soweit die - dieser nur partiellen Aufklärung entsprechende - Teileinwilligung den "AIDS-Test" nicht mitabdeckte, greife wegen des nicht aufgeklärten Teilbereichs der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung ein.
2. Tatbestandliche Einordnung der Venenpunktion zum Zwecke der HIV-Diagnostik 2.1 Tatbestandsproblematik 2.1.1 Standpunkt der Rechtsprechung
Nach der Rechtsprechung erfüllt jeder ärztliche Heileingriff den Tatbestand der Körperverletzung. Dies ist die Folge einer isolierten Betrachtung der im Zuge des ärztlichen Eingriffs vorkommenden Einzelakte. So gesehen stellt die zum Zwecke der späteren Blutdiagnostik vorgenommene Venenpunktion, die obendrein einen leichten Schmerz verursacht, zweifellos eine "üble unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt 25
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S.337ff. Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, S.339. Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, S. 338 f. Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht a.a.O.
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
wird"l, dar. Da der Ausgang der Behandlung nach dieser Betrachtungsweise ausgeblendet bleibt 2 , muß die Rechtsprechung die Venenpunktion als Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB bewerten. 2.1.2 Standpunkt des Schrifttums
Nach der überwiegend im Schrifttum vertretenen Auffassung verwirklicht der Arzt jedenfalls bei Gelingen des Heileingriffs nicht den Tatbestand der Körperverletzung. Abzustellen sei nämlich auf den Gesamtakt, einschließlich des sich am Ende ergebenden Resultats 3 • Die eigenmächtige Heilbehandlung sei damit lediglich als Nötigung zu erfassen, solange der Gesetzgeber der Forderung nach Schaffung eines Sondertatbestandes der eigenmächtigen Heilbehandlung nicht nachgekommen ist. Nach anderer Ansicht entfällt der Tatbestand der Körperverletzung unabhängig vom Erfolg des Eingriffs - bereits dann, wenn der Eingriff von Heilungstendenz getragen und kunstgerecht - lege artes - durchgeführt ist 4 • Tatbestandsmäßig im Sinne der §§ 222 bzw. 230 StG B ist nach dieser Auffassung erst die nicht kunstgerecht vorgenommene mißglückte Heilbehandlung. 2.1.3 Relevanz des Streits im vorliegenden Zusammenhang
Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob der Streit zwischen Rechtsprechung und Literatur zur Tatbestandsmäßigkeit des ärztlichen Heileingriffs im Falle der heimlichen HIV-Tests überhaupt zum Tragen kommt. Denn zum einen werden bereits berechtigte Zweifel angemeldet, ob diagnostische Eingriffe nicht schlechthin aus dem Begriff der "Heilbehandlung" im Sinne der Literatur auszuscheiden sind 5. Dies wird insbesondere für rein prophylaktische Eingriffe angenommen, da die Verweigerung kunstgerechter Prophylaxen durch den gesunden Patienten vielfach verständlich, gelegentlich sogar vernünftig sei 6 • Die Gegenauffassung charakterisiert dagegen prophylaktische Eingriffe als "vorweggenommene Heilbehandlungen"7 mit der Folge, daß die These von der Tatbestandslosigkeit auch auf sie erstreckt wird. Nach der BGH-Rechtsprechung - für die die Qualifizierung als Heileingriff freilich nach dem oben gesagten nicht von so entscheidender Bedeutung ist 1 st. Rspr. seit RG 25, 375; aus der Rspr. des BGH vgl. etwa BGH St 11, 111ff(112); 12, 379ff; 16, 309ff; 25, 277. 2 Bockelmann, S. 51. 3 Bockelmann, S. 66f.; M.-Schroeder BT-1 § 8 II 2 b m.w.N. 4 Engisch, S. 20; Welzel § 39 I 3 a m.w.N. 5 So etwa Arzt, Die Aufklärungspflicht, S. 56. 6 Arzt a.a.O., Anmerkung 16. 7 Noll BT § 8/2. (S. 55).
2. Tatbestandliehe Einordnung der Venenpunktion
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soll es jedenfalls dann an einem Heileingriff fehlen, wenn eine Operation nichtauch nicht aus Gründen der Vorsorge - ärztlich indiziert ist und der Arzt dies weißs. Die undifferenzierte Charakterisierung diagnostischer Maßnahmen als "vorweggenommene Heilbehandlungen" erscheint allerdings wenig überzeugend. Dies zeigt sich insbesondere im vorliegenden Zusammenhang, da sich mangels Verfügbarkeit wirksamer therapeutischer Möglichkeiten jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt an die Feststellung des positiven Testergebnisses noch keine erfolgversprechende Behandlung anschließen kann. Die Bekanntgabe des positiven Testergebnisses kann im Gegenteil sogar kontraproduktiv wirken, indem die extreme psychische Belastung zu einer Beschleunigung des Ausbruchs der manifesten Aids-Erkrankung führt 9 . Letzlich kann die Frage aber offen bleiben, da nach der Zielsetzung dieser Arbeit, die - de lege lata bestehende - Strafbarkeit oder Nichtstrafbarkeit bei Durchführung von HIV-Tests zu klären, von der ständigen Rechtsprechung zum ärztlichen Heileingriff auszugehen ist, zumal deren Änderung angesichts des Fehlens eines Sondertatbestandes derzeit nicht absehbar ist. 2.1.4 Ärztlicher Eingriff als geflihrliche Körperverletzung?
Umstritten ist weiterhin, ob bei Durchführung des ärztlichen Heileingriffs wie hier mit einer Injektionsnadel - sogar der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 223a StGB) verwirklicht sein kann. Eine in der Literatur vertretene Auffassung nimmt dies in der Tat an, da der Operateur ein "Messer" oder ein anderes "gefährliches Werkzeug" gebrauche 10 • Dies sei die Konsequenz der Bewertung des Heileingriffs als Körperverletzung. Es sei nicht einzusehen, warum - ausgehend von der Prämisse der Rechtsprechung - die Operation kein "Angriff' sein solle. "Angriff' sei jedes aktive menschliche Verhalten, das fremde Rechtsgüter verletzt oder unmittelbar zu verletzen droht. Sei der Heileingriff Körperverletzung, also Rechtsgutsverletzung, so sei er "Angriff' in diesem Sinne und das Operationsbesteck ein "bei einem Angriff zu Angriffszwecken benutzter Gegenstand", nach den von derdamaligen - Rechtsprechung zu § 223 a StGB entwickelten Kriterien also auch "gefährliches Werkzeug"u. Ausgangspunkt der Gegenauffassung ist die teleologische Auslegung des Tatbestandes der gefährlichen Körperverletzung. Die erhöhte Strafbarkeit sei nämlich an den Gebrauch einer Waffe oder eines einer Waffe vergleichbaren BGH NJW 1978,1206. Vgl. hierzu Erster Teil 6. 10 Bockelmann, S. 52. 11 Bockelmann, 4. Kapitel, Anmerkung 10; ders., Ponsold, S. 1 ff (20). 8
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Gegenstandes gebunden, "gefährliches Werkzeug" sei in § 223a StGB nur als Beispiel für eine Waffe genannt. Voraussetzung sei daher, daß der Täter den betreffenden Gegenstand "bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken benutzt"12. Die Annahme eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 223a StGB wurde daher von der Rechtsprechung etwa bei Verwendung einer zahnärztlichen Zange 13 oder eines Skalpells durch einen Chirurgen 14 abgelehnt, obwohl die Zahnarztzange im konkreten Fall vom Arzt - infolge des ihm bekannten Fehlens einer medizinischen Indikation für den Eingriff - nicht zu einem "Heileingriff' im Sinne der Rechtsprechung benutzt wurde. Selbst dann könne nämlich noch nicht von ihrer Verwendung zu Angriffs- oder Kampfzwecken gesprochen werden. Will man den Tatbestand des § 223 a StGB nicht ausufern lassen, so muß man der zuletzt genannten Auffassung folgen. Denn löst man die Definition des Begriffs "gefährliches Werkzeug" im Sinne der erstgenannten Auffassung vom Kontext der Anwendung des betreffenden Gegenstandes, so ist kaum noch ein Gegenstand denkbar, der nicht als gefährliches Werkzeug zu qualifizieren wäre. Gerade im Vergleich zu den sonst in § 223 a StGB genannten Modalitäten - vgl. insbesondere die 4. Alternative "mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung" - würde eine derartige Verwässerung der 1. Alternative dem Sinn und Zweck der Qualifizierung nicht mehr gerecht. Ein Sonderproblem stellt sich bei Vornahme der Venenpunktion zum Zwecke des HIV-Tests durch einen in einer öffentlichen Krankenanstalt tätigen Arzt. In diesem Falle wurde erwogen, die Sondervorschrift des § 340 StGB zur Anwendung zu bringen. Aus teleologischen Erwägungen heraus ist aber auch das abzulehnen, da die konkrete Heilbehandlung des einzelnen Patienten nicht als dienstliche Tätigkeit im Sinne des § 340 StGB angesehen werden kann. Das Wesen der Amtsdelikte und der innere Grund für die erhöhte Strafdrohung besteht nämlich in dem Mißbrauch einer Amtsgewalt. Mit der Heilbehandlung übt der Arzt aber keinen Dienst als Ausfluß einer Amtsgewalt aus, er tritt dem Patienten sonach nicht als Amtsträger gegenüber, der in Ausübung eines Amtes handelt. Insbesondere ist der Arzt auch in seinen Entscheidungen völlig unabhängig von Krankenhausträger und -leitung und - in demselben Umfange wie jeder frei praktizierende Arzt - nur zur Beachtung der Regeln der ärztlichen Kunst verpflichtet, was bereits aus seiner Bestallung folgt. 15 2.1.5 Ergebnis
Somit bleibt zur Frage der Tatbestandsproblematik festzuhalten: Durch Vornahme der Venenpunktion verwirklicht der jeweilige Arzt den Tatbestand 12 13 14 15
BGH NJW 1978, 1206 BGH a.a.O. BGH-Urteil vom 24.05.1960, zit. nach BGH a.a.O. OLG Karlsruhe, NJW 1983,352 (353).
2. Tatbestandliehe Einordnung der Venenpunktion
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der einfachen Körperverletzung. Eine etwaige therapeutische Zwecksetzung ändert hieran nichts. 2.2 Rechtmäßigkeit der Venenpunktion nach Einwilligungsgrundsätzen
Das bisher gefundene Ergebnis - Tatbestandsmäßigkeit der Venenpunktion - führt zu der Frage, ob nicht der Umstand, daß der Patient ja in jedem Falle aus eigenem Antrieb den Arzt konsultierte, zu einer Korrektur des Ergebnisses nötigt bzw. zumindest auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen ist. 2.2.1 Differenzierung zwischen Einwilligung und Einverständnis
Bei dem damit angesprochenen Aspekt des Rechtsgutsverzichts bedarf es nach herrschender Meinung der Differenzierung zwischen der (rechtfertigenden) Einwilligung und dem sogenannten Einverständnis l6 . Während im Falle einer Einwilligung der objektive und subjektive Tatbestand der betreffenden Strafnorm erfüllt ist und nur die Rechtswidrigkeit entfällt, soll durch das Einverständnis bereits der Tatbestand ausgeschlossen sein. Von der Möglichkeit eines Einverständnisses wird bei denjenigen Normen ausgegangen, bei denen der Wille des Betroffenen bereits zum Tatbestand gehört 17 bzw. dann, wenn die betreffende Handlung ihren deliktischen Charakter gerade dadurch erhält, daß sie gegen den Willen des Betroffenen erfolgt l8 . Nach einer Mindermeinung, die eine derartige Differenzierung ablehnt, soll dagegen jede wirksame Einwilligung bereits den Tatbestand der jeweiligen Strafnorm entfallen lassen 19. Nun handelt es sich bei der von der herrschenden Meinung vorgenommene Differenzierung zwar keineswegs um eine reine Frage der Begriffsjurisprudenz, sondern um eine auch für die Rechtsanwendung im konkreten Fall bedeutsame Weichenstellung. Dies deshalb, weil für beide Rechtsinstitute unterschiedliche Wirksamkeitsvoraussetzungen entwickelt wurden 20 • So wird in der Literatur ausdrücklich hervorgehoben, daß die Voraussetzungen des Einverständnisses nicht in jeder Beziehung den Regeln der Einwilligung folgten, jene sich vielmehr aus der Funktion des jeweiligen Tatbestandes und dem Wesen des dort geschützten Rechtsguts ergäben 21 • Vgl. Geerds, S. 265. Hirsch LK Rdnr. 96 vor § 32 m. w. N. 18 Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 30 vor § 32ff. 19 Kientzy, S.65ff., 82f.; Kühne, S.242; Zipf, S.28ff., 59; Roxin, Noll-Ged.schr., S.275f. 20 Hirsch LK Rdnr. 100ff. vor § 32. 21 Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 32 vor § 32ff.; Hirsch a.a.O. 16 17
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2. Teil, 1. Abschn.: HlV-Test und Einwilligung
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden aber - im Hinblick auf die ihr zugrundeliegende Fragestellung - wie schon bei der Tatbestandsproblematik 22 zwangsläufig auch hier die Prämissen durch die Position der Judikatur gesetzt: Danach ist sogar der lege artis vorgenommene und im Ergebnis erfolgreiche ärztliche Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung zu bewerten. Davon ausgehend ist die Zustimmung des Patienten nach der oben dargestellten Terminologie als (rechtfertigende) Einwilligung zu qualifizieren. Diese Vorgabe bestimmt den weiteren Gang der Untersuchung zur Frage der Wirksamkeit eines etwaigen Rechtsgutsverzichts des dem HIV-Test unterzogenen Patienten. 2.2.2 Voraussetzungen rur die Wirksamkeit der Einwilligung
Nach überwiegender Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung müssen für eine wirksame Einwilligung folgende Voraussetzungen vorliegen: - Der Einwilligende muß Inhaber des verletzten Rechtsguts sein. - Das betreffende Rechtsgut muß der Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers unterliegen. Bezüglich der Körperintegrität ergibt sich diese Grenze ausdrücklich aus § 226a StGB. - Die Einwilligungsfähigkeit des Einwilligenden muß vorliegen. Jedenfalls bei Eingriffen in höchstpersönliche Rechtsgüter wie dem der Körperintegrität wird dabei nicht auf die Geschäftsfähigkeit abgestellt, sondern vielmehr auf die ("natürliche") Einsichts- und Urteilsfähigkeit desjenigen, der über das Rechtsgut verfügt. - Die Einwilligung muß nach außen kundbar geworden sein. - Sie muß vor der Tat erklärt worden sein und im Zeitpunkt der Rechtsgutsverletzung noch bestehen; eine nachträgliche Genehmigung ist unbeachtlich. 23 - Es muß sich bei der Einwilligung um eine bewußte und freiwillige Gestattung der Verletzung handeln, d. h. sie muß grundsätzlich dem wahren Willen des Einwilligenden entsprechen 24 - Als subjektives Rechtfertigungselement wird jedenfalls Handeln in Kenntnis der Einwilligung verlangt 2S , zum Teil aber auch weitergehend noch eine entsprechende Motivation vorausgesetzt26 . Im vorliegenden Zusammenhang ist in erster Linie die Frage der Kongruenz zwischen einer etwaigen Einwilligung des Patienten und seinem "wahren Willen" von Interesse. Bedeutung erlangt daneben - im Hinblick auLden Ausnahmefall der mutmaßlichen Einwilligung - das Erfordernis der KundgaVgl. oben (in diesem Abschn) 2.1.3 (a.E.). Zu den bisher genannten Einwilligungsvoraussetzungen vgl. Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 35 bis 44 vor § 32 fT. 24 Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 45 vor § 32fT. 25 Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 51 vor § 32fT. 26 Hirsch LK Rdnr. 125 vor § 32; Jescheck § 34 V m. w. N. 22
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3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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be der Einwilligung. Was den erstgenannten Aspekt anbelangt, so rückt im Falle der Einwiligung in einen ärztlichen Eingriffdie Aufklärungspflicht des Arztes in den Mittelpunkt des Interesses, da deren Erfüllung in der Regel Voraussetzung für ein zutreffendes Vorstellungsbild des Patienten von dem jeweiligen Eingriff sein wird. Dieser Bereich des "Arztrechts" hat in der Vergangenheit starke Resonanz in Rechtsprechung und Literatur gefunden. Es wird im folgenden zu untersuchen sein, ob die bisher entwickelte Aufklärungsdogmatik auch für das heute virulente Problem der ("heimlichen") HIV-Tests sachgerechte Lösungen ermöglicht. Dabei stellen sich im einzelnen folgende Fragen: -Gehört der Hinweis auf die beabsichtigte HIV-Diagnostik zum grundsätzlich unabdingbaren Kernbestand der Aufklärung 27 ? -Gibt es Gesichtspunkte, die es dem Arzt erlauben, von der an sich gebotenen Aufklärung im Einzelfall abzusehen 28 ? -Welche (strafrechtlichen) Konsequenzen hat das Unterlassen der gebotenen Aufklärung 29 ?
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung 3.1 Funktionen der Aufklärung Wenn von ärztlicher Aufklärung die Rede ist, so sind in funktioneller Hinsicht zwei verschiedene Arten von Aufklärung zu unterscheiden: Zum einen ist dies die Aufklärung aufgrund therapeutischer Notwendigkeit - die sogenannte therapeutische Aufklärung! -, bei der die ärztliche Information der Vorbereitung oder Unterstützung des ärztlich Notwendigen dient (Beispiel: Erläuterung von Krankheiten oder Anfälligkeit im Hinblick auf schonende Lebensweise, Diät, Enthaltsamkeit). Davon zu unterscheiden ist die sogenannte Selbstbestimmungsaufklärung 2 , d. h. diejenige ärztliche Aufklärung, die dem Umstand Rechnung trägt, daß der ärztliche Heileingriff mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten grundsätzlich von einer durch Aufklärung motivierten Einwilligung des Patienten gedeckt sein muß3. In der Sache zutreffender als der allgemein gebräuchliche Terminus "Aufklärungspflicht des Arztes" erscheint daher der Begriff "Aufklärungslast"4. Denn die Bemühungen des Arztes, dem Einwilligenden durch entsprechende Information eine Entscheidung "aufgrund richtiger Einsicht in all die Umstände ... , auf die es für die Motivation eines Hierzu sogl. 3.2. Hierzu 3.3. 29 Hierzu 3.4. 1 Laufs. Grundlagen, S. 72. 2 Laufs a. a. o. S. 73. 3 Laufs. Arztrecht, Rz. 111. 4 vgl. Bocke/mann. 4. Kapitel, Anmerkung 39 (S. 76).
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Entschlusses zur Duldung oder zur Verweigerung eines Eingriffs von der Art des Indizierten ankommt"S zu ermöglichen, erfolgen schließlich nicht zuletzt auch im eigenen Interesse des Arztes, die nachteiligen Folgen einer unwirksamen Einwilligung zu vermeiden. 3.2 Umfang der gebotenen Aufklärung 3.2.1 Justiziabilität der Frage des Aufklärungsumfangs
Das Hauptproblem besteht nun in der Bestimmung des Kreises aufklärungsbedürftiger Umstände, derjenigen Fakten also, deren Kenntnis Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung ist. Die praktische Relevanz dieser Fragestellung hängt freilich maßgeblich von den rechtlichen Konsequenzen ab, die das Verschweigen bestimmter Tatsachen nach sich zieht. Erkennt man - entsprechend einer gerade aus den Reihen der Ärzteschaft erhobenen Forderung - in gewissem Umfange eine sogenannte "Entscheidungsprärogative des Arztes"6 an, so wäre die Aufklärungspflicht ein relativ stumpfes Schwert. Der Arzt könnte dann nämlich - innerhalb gewisser Grenzen - selbst bestimmen, welche Informationen für eine wirksame Entscheidung des Patienten erforderlich sind. Die Gerichte hätten diese Einschätzung in einem etwaigen Prozeß zu respektieren. Als Gründe für einen derartigen Beurteilungsspielraum des Arztes wird in der Literatur auf das Dilemma des Arztes hingewiesen, daß sowohl mangelnde Aufklärung als auch zu umfassende Aufklärung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen könnte. Ein Zuviel an Information - sogenannte Übermaßaufklärung- könne nämlich den Patienten psychisch überlasten und damit den Zustand der Entscheidungsunfähigkeit zur Folge haben 7 • Eine Abmilderung dieses Dilemmas wird durch eine Differenzierung der Anforderungen an die gebotene Aufklärung angestrebt: Zwingend geboten sei - abgesehen vom Fall der therapeutischen Kontraindikation - eine Grundaufklärung als Mindestinformation; hinsichtlich darüberhinausgehender Informationen sei dagegen eine Entscheidungsprärogative des Arztes dergestalt anzuerkennen, daß dieser aufgrund seiner - ex post oft kaum nachvollziehbaren - Gesamteinschätzung der Patientenkonstitution ex ante auf die Mitteilung bestimmter Fakten verzichten könne. Ein derartiger Verzicht komme sowohl im Hinblick auf die Gefahr einer Übermaßautklärung als auch insoweit in Betracht, als es sich um nur mittelbar mit dem ärztlichen Eingriff zusammenhängende Dinge handle. 8
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Bockelmann, S. 57. So ausdrücklich Bodenburg, S. 603 f. Ebenso Deutsch, Arztrecht, S. 53 f. Bodenburg, S. 603 f.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Jedoch betrifft die Frage des Umfangs der gebotenen AufKlärung eine reine Rechtsfrage, die daher auch der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Einen Beurteilungsspielraum, der dieser Kontrolle entzogen wäre, erkennen Rechtsprechung und herrschende Lehre zu Recht nicht an 9 • Würde man eine "Entscheidungsprärogative" des Arztes anerkennen, so führte dies zu einer unerträglichen Relativierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, für die es keinerlei gesetzliche Grundlage gäbe. 3.2.2 Herkömmliche Grundsätze zum Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht
Die gebräuchlichen Abgrenzungsformeln lauten im wesentlichen dahin, der Patient müsse - wenn auch nur im großen und ganzen - wissen, worin er einwillige lO • Leitlinie für Inhalt und Umfang der AufKlärung habe es demnach zu sein, dem Patienten Art, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs jedenfalls in seinen Grundzügen erkennbar zu machen, um ihm die Abwägung des Für und Wider des Eingriffs zu ermöglichen 11 • Erforderlich ist demnach nicht eine so umfassende AufKlärung, wie sie Voraussetzung für die medizinisch richtige Beurteilung wäre. Im Normalfall ist vielmehr soviel an Information ausreichend - aber auch erforderlich -, wie ein "verständiger Mensch" benötigt, um eine vernünftige Entscheidung über das Ob des Eingriffs fällen zu können 12. Dabei müssen Inhalt und Umfang der AufKlärung auf die Besonderheiten des geplanten Eingriffs zugeschnitten sein ("Eingriffsbezogenheit" der AufKlärung) 13 . Ausgehend vom Gegenstand der AufKlärungspflicht haben Rechtsprechung und Literatur eine kaum mehr überschaubare Kasuistik 14 entwickelt. Aufzuklären ist danach im einzelnen etwa über ~ie Vornahme eines Eingriffs überhaupt lS -Art, Ziel und Alternativen der Behandlung, dabei insbesondere auch, ob der Eingriff lediglich diagnostischen, wissenschaftlich-statistischen, experimentellen oder aber therapeutischen Charakter hat 16 ~ie sicher eintretenden unerwünschten Auswirkungen des Eingriffs (Beispiel: Schmerzen, postoperativer Zustand)17 Vgl. BGHZ 29, 46 (56); 29, 176 (184). St. Rspr., vgl. etwa BGH JR 1985, 65 (66) m. w. N. 11 Grünwald, Heilbehandlung, S. 141; Tempel, S. 611; Giesen, Patientenwohl, S.284; Hirsch, LK § 226a Rdnr. 29; BGH St 12, 379 (383). 12 Bockelmann, S. 57f. 13 Ankermann, S. 19. 14 Am prägnantesten erscheint noch die Zusammenstellung bei Dreher/Tröndle (§ 223 Rdnr. 9 k). 15 Allgern. M. (vgl. z. B. Sch.Sch.-Eser § 223 Rdnr.41). 16 Eser a.a.O.; Hirsch LK § 226a Rdnr. 26. 17 Vgl. etwa BGH NJW 1976, 363; OLG Hamburg MDR 1982, 580; BGH NJW 1981, 633. 9
10
58
2. Teil, 1. Abschn.: HlV-Test und Einwilligung
-mögliche Risiken oder sonst möglicherweise eintretende unerwünschte Nebenfolgen (sogenannte Risikoaufklärung)18 -nach herrschender Meinung auch über den Befund (sogenannte Diagnoseaufklärung)19; lediglich in Ausnahmefällen soll die Befundaufklärung entbehrlich sein. Nach anderer Ansicht soll gerade umgekehrt die Diagnoseaufklärung nur in Ausnahmefällen erforderlich sein. Geboten sei sie nur dann und lediglich insoweit, als der Befund für die Abwägung des Für und Wider eines Eingriffs für den Patienten aufgrund ausdrücklicher Nachfrage oder sonstwie erkennbar von entscheidungserheblicher Bedeutung ist 20 oder wenn der Patient aufgrund zu pessimistischer Einschätzung der Lage das "Für" der Behandlung überbewertet oder wenn die Mitteilung erforderlich ist, um dem Patienten gegebenenfalls den Wechsel zu einem Spezialisten zu ermöglichen, sowie als Korrelat zur Folgenaufklärung, um die Bereitschaft zur Einwilligung in eine indizierte Behandlung zu motivieren, die der Patient andernfalls - mangels Erkennens des Ernstes der Lage - verweigern würde 21 • Es wird im folgenden zu untersuchen sein, ob sich aus den divergierenden Auffassungen für die vorliegende Fragestellung Konsequenzen ergeben und wenn ja - für welche die besseren Gründe sprechen. 3.2.3 Anwendung der herkömmlichen Grundsätze zur ärztlichen Aufldärungspßicht auf die Problematik der "IV-Tests
Im vorliegenden Zusammenhang bedarf es für die Frage des Umfangs der gebotenen ärztlichen Aufklärung der Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Fakten, die Gegenstand der Information sein können: -
das Vorliegen bestimmter Symptome bei dem jeweiligen Patienten, die für den Arzt den Verdacht auf das Vorliegen einer HIV-Infektion begründen
oder -
die Durchführung einer HIV-Diagnostik mit dem per Venenpunktion entnommenen Blut.
18 Auf diesen besonders umstrittenen Teilbereich der Aufklärung (vgl. hierzu Hirsch LK § 226a Rdnr.27 m. w. N. sowie die dezidierte Auffassung der dissentierenden Verfassungsrichter in BVerfGE 52, 131, 171 ff (177» soll hier nicht näher eingegangen werden, da mit der dem HIV-Test vorausgehenden Venenpunktion keine Gefahren im Sinne medizinischer Komplikationen verbunden zu sein pflegen. 19 Vgl. Bockelmann, S. 60; Horn SK § 226a Rdnr. 14; Dreher/Tröndle § 223 Rdnr. 9k; Hirsch LK § 226a Rdnr. 24 m. w.N. 20 Sch.Sch.-Eser § 223 Rdnr. 41 a.E. m. w. N. 21 Grünwald, Die Aufklärungspflicht, s. 19 ff; den letztgenannten Aspekt - Befundaufklärung zum Zwecke der Motivation der Einwilligungserteilung - betont auch Schroeder (M.-Schroeder BT-1 § 8 II 2c).
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
59
Ob einer dieser beiden Umstände oder sogar beide in die tradierte Kasuistik zur ärztlichen Aufklärungspflicht einzuordnen oder diesen Fallgruppen zumindest gleichzustellen ist, ist im folgenden gesondert zu untersuchen. 3.2.3.1 Aufklärung über das Vorliegen der HIV-Symptomatik
Stößt der Arzt im Verlauf der der Venenpunktion vorausgehenden Untersuchung auf bestimmte Anzeichen, die seinen Verdacht auf das Vorliegen einer HIV-Infektion erregen 11 , so liegt es nahe, die Information des Patienten hierüber unter dem Aspekt der Diagnoseaufklärung zu fordern. Zwar ist zu bedenken, daß erst die Durchführung des HIV-Tests - relativ - sicheren Aufschluß darüber geben kann, ob dieser Verdacht zutrifft. Ob man bei Feststellung lediglich unspezifischer Symptome schon von einer "Diagnose" sprechen kann, erscheint daher zweifelhaft. Andererseits ist allein die Unsicherheit eines Befundes nicht ausschlaggebend dafür, daß dessen Mitteilung unterbleiben dürfte. 23 Hirsch 24 hält sogar die Unterrichtung gerade über die Unsicherheit des Befundes für geboten, da dieser Umstand von besonderem Gewicht für den Entschluß des Patienten zur Behandlungseinwilligung oder -verweigerung sein könne. Demnach wäre der Arzt auch verpflichtet, seinen aus der Feststellung bestimmter Symptome resultierenden Verdacht auf das Vorliegen einer HIV-Infektion dem Patienten zu eröffnen. Zu einem anderen Ergebnis dürften diejenigen Autoren gelangen, die die Diagnoseaufklärung nur in Ausnahmefällen fordern 1s , sofern nicht der Patient von sich aus entsprechende Fragen stellt. Dem liegt eine von der h. M. abweichende Verteilung der Last der Aufklärungsinitiative 16 zugrunde. Die Frage lautet hier: Inwieweit ist es dem Arzt zuzumuten, für den Patienten potentiell bedeutsame Umstände - etwa die sozialen Auswirkungen eines positiven HIV-Befundes - zu erkennen bzw. die Entscheidungserheblichkeit bestimmter Fakten vorherzusehen, um diese dann in das Behandlungsgespräch einzubeziehen. Es liegt hier offensichtlich eine Kollision divergierender Interessen vor, zwischen denen im Wege der Abwägung ein angemessener Ausgleich herbeigeführt werden muß. Auf Seiten des Patienten verlangt das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht möglichst umfassende Information über alle motivatorisch bedeutsamen Umstände, um eine wirklich freie und selbstverantwortliche Entscheidung zu gewährleisten. Dem steht das Interesse des Arztes gegenüber, die Aufklärung auf ein für ihn noch realisierbares Maß zu 22 23 24
2S 26
Zur Symptomatik vgl. Erster Teil, 3.1. Hirsch LK § 226 a Rdnr. 24; Sch.Sch.-Eser § 223 Rdnr.41. A.a.O. Vgl. ob. 3.2.2. Vgl. hierzu Geilen, S. 116.
60
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
beschränken. Dies muß es jedenfalls verbieten, die Aufklärungslast auch auf solche Umstände zuerstrecken, deren motivatorische Bedeutung im Falle des konkreten Patienten für den Arzt nur durch die Persönlichkeitssphäre des Patienten tangierende Fragen oder Nachforschungen zu ermitteln wäre. Zumutbar erscheint es dagegen, eine Aufklärungsobliegenheit des Arztes insoweit anzunehmen, als sich die Entscheidungsrelevanz der betreffenden Information dem Arzt im Rahmen eines individuell geführten, um den Abbau von Distanz bemühten Arzt-Patienten-Gespräches bei entsprechendem Eingehen auf den konkreten Patienten und hinreichender Aufmerksamkeit erschließen kann. Nicht ausreichend ist es demnach, dem Patienten lediglich ein Informationsblatt mit den medizinischen Implikationen des Eingriffs in die Hand zu drücken, und hinsichtlich sonstiger Faktoren eine entsprechende ausdrückliche Frage des Patienten abzuwarten. Was nun speziell die Frage der Aufklärung über den (vorläufigen) HIVBefund anbelangt, so liegt dessen Relevanz für die Entscheidung über die Einwilligung in die Venenpunktion auf der Hand. Denn angesichts des schon unter Experten umstrittenen Nutzens des HIV-Tests 27 läßt sich eine Regelvermutung des Inhalts, ein Patient werde normalerweise ohne weiteres dem Vorschlag des Arztes zustimmen, nicht begründen. Dies folgt insbesondere auch aus dem fehlenden therapeutischen Eigenwert des HIV-Tests. Zum einen kann sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand an die Feststellung eines positiven HIV-Befundes (noch) keine erfolgversprechende Therapie anschließen. Zum anderen bedarf es des Tests auch nicht im Hinblick auf eine entsprechende Umstellung der Lebensweise, soweit darin überhaupt ein geeignetes Mittel zur Verzögerung des Ausbruchs der manifesten AIDS-Erkrankung gesehen wird. Zu einer derartigen Verhaltensänderung mag bereits die Kenntnis von der bloßen Möglichkeit einer HIV-Infektion genügen. Ob der Patient die Ungewißheit und damit unter Umständen unnötige Einschränkungen der Gewißheit des Tests vorzieht, ist durchaus offen. Für die Entscheidung im Einzelfall ist darüber hinaus auch von Belang, wodurch die Testung gerade bei diesem konkreten Patienten veranlaßt ist. Ob der Test im Rahmen eines allgemeinen Screenings oder zur Abklärung eines vorläufigen HIV-Verdachts vorgenommen wird, dürfte für die Mehrzahl der Patienten sehr wohl zu divergierenden - für einen Dritten ex ante nicht prognostizier baren - Bewertungen im Rahmen des Entscheidungsprozesses führen. Angesichts der öffentlich geführten Diskussion über Für und Wider der "AID.s-Tests" ist deren Ambivalenz jedem Arzt hinlänglich bekannt, so daß er von der Entscheidungsrelevanz des Faktums "HIV-Verdacht" in keinem Falle überrascht sein kann. Es bedarf dazu nicht einmal eines eingehenderen Behandlungsgesprächs, sondern muß in der gegenwärtigen gesellschaftlichen 27
V gl. oben Erster Teil, 6.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
61
Situation apriori bei jedem Patienten im Zweifel in Rechnung gestellt werden. Daher stellt es keine Überforderung des Arztes dar, die Aufklärungsinitiative hinsichtlich des Vorliegens von Symptomen einer HIV-Infektion bei ihm zu belassen. Dem könnte nun entgegengehalten werden, im Falle des Vorliegens von Anhaltspunkten für eine HIV-Infektion sei für einen "verständigen Menschen" die Information hierüber entbehrlich, da die einzig vernünftige Entscheidung ohnehin durch die medizinische Indikation vorgezeichnet sei. Fraglich erscheint allerdings bereits, ob für eine diagnostische Maßnahme ohne nennenswerten therapeutischen Nutzen - effektive Strategien zur Behandlung der HIV-Infektion sind zumindest mittelfristig nicht verfügbar überhaupt eine "medizinische Indikation" konstatiert werden kann. Vor allem aber ist eine "vernünftige Entscheidung" nicht gleichzusetzen mit der nach Auffassung des Arztes richtigen, d. h. der die medizinisch indizierte Behandlung bejahenden. Insbesondere rechtfertigt nicht etwa die Verwendung der Figur des "verständigen Menschen" als Maßstab für den Zuschnitt der Aufklärung den bloßen Rückgriff auf das medizinisch Vernünftige. Im Hinblick auf Art. 2 Absatz 2 Satz 1 GG muß vielmehr auch die Behandlungsablehnung aus irrationalen Gründen respektiert und durch eine entsprechende Vorabinformation des Patienten ermöglicht werden. Der Umfang der Aufklärung ist daher vom Arzt so zu bemessen, daß dem Patienten dieser persönliche Entscheidungsspielraum bleibt. Der Arzt muß insbesondere auch dann aufklären, wenn eine vitale oder absolute Indikation aus medizinischer Sicht keine Alternative zu dem vorgesehenen Eingriff läßt 28 • Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, braucht man nicht einmal den provozierenden und häufig gerade deswegen angefeindeten Satz "voluntas non salus aegroti suprema lex" 29 zu bemühen. Denn in Wahrheit kann die angebliche Antinomie zwischen Patientenwohl und Patientenwille überhaupt nicht auftreten, sofern man nur akzeptiert, daß das Patientenwohl eben nicht mit der ärztlich indizierten Behandlung gleichzusetzen ist 30 . Unzulässig ist daher insbesondere eine fragmentarische - selektive Aufklärung, die das ausspart, was den Patienten vor einer - vermeintlich sachlich richtigen Entscheidung zurückschrecken lassen könnte 31 • Aus der vorgeblichen medizinischen Indikation des HIV-Tests läßt sich demnach kein Einwand gegen die Obliegenheit des Arztes zur Aufklärung des Patienten über den (vorläufigen) HIV-Befund herleiten.
28 29 30 31
Steffen, S. 42. Bockelmann, NJW 1961, 945ff (946). Vgl. hierzu näher Giesen, Patientenwohl, S. 289. Bockelmann, S. 57 f.
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Gänzlich außer Betracht bleiben muß in diesem Zusammenhang der Aspekt des Schutzes Dritter. Denn für den Umfang der gebotenen Aufklärung muß allgemein gelten, was speziell im Bereich der Risikoaufklärung gesicherte Rechtserkenntnis ist. Jedes dem Patienten zugemutete Eingriffsrisiko bedarf dort seiner Rechtfertigung durch die von dem Eingriff für diesen Patienten erhofften Vorteile 32 • Die Interessen Dritter können nur unter dem Aspekt eines Rechtfertigungsgrundes ausnahmsweise den Eingriff in Rechtsgüter des Patienten erlauben, nicht aber bereits eine Verkürzung der Aufklärung legitimieren, mit deren Hilfe die -letztlich manipulierte - Einwilligung des Patienten in die im Interesse Dritter erwünschte diagnostische Maßnahme erreicht würde. 3.2.3.2 Aufklärung über die spätere HIV-Diagnostik
Es bleibt somit die Frage, ob der Patient auch über die sich an die Venenpunktion anschließende Austestung des entnommenen Blutes auf die Existenz von HIV-Antikörpern bzw. - sobald direkte Nachweisverfahren für den allgemeinen Einsatz zur Verfügung stehen - von HI-Viren vor Durchführung der Venenpunktion aufgeklärt werden muß. Diese Frage dürfte - akzeptiert man das vorstehend entwickelte Ergebnis bei Patienten mit HIV-Symptomatik praktisch von geringer Relevanz sein. Muß der Arzt den Patienten schon über den HIV-Verdacht in Kenntnis setzen, so wird dies in aller Regel mit dem Hinweis auf die zur Abklärung durchzuführende HIV-Diagnostik verbunden sein. Es verbleiben somit die Fälle, in denen die HIV-Diagnostik nicht durch die Feststellung von Symptomen einer HIV-Erkrankung veranlaßt ist, sondern etwa Screening-Zwecken dient oder im Interesse potentiell ansteckungsgefährdeter Dritter - etwa des ärztlichen Personals - durchgeführt wird. In die hergebrachte Kasuistik zur ärztlichen Aufklärungspflicht läßt sich der Aspekt der späteren Verwendung des qua ärztlichen Eingriffs entnommenen Serums ganz offensichtlich nicht einordnen. Würde man daraus aber - wie dies einige der eingangs 33 zitierten Autoren der Sache nach tun - bereits das Fehlen einer diesbezüglichen Aufklärungspflicht des Arztes ableiten, so würde man diese Kasuistik einer abschließenden (!) gesetzlichen Regelung gleichstellen. Eine derartige Funktion kann ihr aber mangels gesetzgeberischer Legitimation ihrer Schöpfer - Rechtsprechung und Literatur - nicht zukommen. Sie entspräche auch nicht dem Sinn einer Fallgruppenbildung. Tatsächlich sind die Fallgruppen zur ärztlichen Aufklärungspflicht nichts anderes als die an Hand der bisher in der Praxis relevant gewordenen Sachfragen gewonnene Interpretation der zugrunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen. Dies bedeutet zum einen, daß die Kasuistik nie als endgültige Erkenntnis für die zutreffende Rechtsanwen32 33
BGR VersR 71, 929 (930). Vgl. oben 1.1.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
63
dung gelten kann, sich vielmehr bei Auftreten neuartiger Problemlagenjederzeit ein Korrekturbedarf ergeben kann. Zum anderen folgt daraus, daß für die Rechtsanwendung im konkreten Fall nicht die Subsumierbarkeit unter eine der herkömmlichen Fallgruppen der entscheidende Aspekt sein kann, sondern die gesetzgeberische Wertung, die diese ausfüllen (sollen). Grundgedanke der Kasuistik zur ärztlichen Aufklärungspflicht ist es, diejenigen Fakten zusammenzufassen, derer der Patient bedarf, um eine wirksame Einwilligung in den vom Arzt vorgeschlagenen Eingriff erteilen zu können. Was im einzelnen als Wirksamkeitsvoraussetzung zu gelten hat, ist wiederum verknüpft mit der Frage der positiv-rechtlichen Fundierung des EinwilligungsErfordernisses. Dieses findet sowohl bei Heileingriffen wie bei diagnostischen Eingriffen seine "normative Wurzel"34 in Art. 1 Abs. 1 sowie in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG. Diese grundlegenden Verfassungsprinzipien wirken deshalb in das Verhältnis Arzt-Patient hinein, weil die Einwilligungstatbestände Ausdruck grundlegender Rechtsvorstellungen sind, die die geltende Rechtsordnung prägen und durchziehen. Bei Feststellung, Auslegung und Anwendung derartiger GeneralklauseIn sind die Wertentscheidungen des Grundgesetzes - insbesondere die in den Grundrechten getroffenen - zu beachten 3s • Dies ist die Folge der sogenannten "Ausstrahlungswirkung der Grundrechte" auf das einfache Recht 36 • Zwar werden gegen eine derartige verfassungsrechtliche Fundierung des Einwilligungserfordernisses bei ärztlichen Heileingriffen vereinzelt Einwände erhoben. So meint etwa Eberhard Schmidt, der Verfassungsgesetzgeber habe bei Schaffung des Art. 2 Abs. 2 GG "mit keiner Silbe" an das Arzt-PatientVerhältnis gedacht, vielmehr damit ganz andere Zwecke verfolgt und ganz andere Adressaten im Auge gehabt. 37 Bezweckt worden sei vielmehr eine "Abschirmung" gegen die von den nationalsozialistischen Gewalthabern verübten Verbrechen an der menschlichen Persönlichkeit 38 • Von derselben Intention seien die späteren Entscheidungen des Reichsgerichts getragen, die den Schutz des Selbstbestimmungsrechts propagierten und deren Grundsätze man nunmehr zu Unrecht übernommen habe, "als ob sie als geläuterte Rechtserkenntnisse für alle, auch ganz normale rechtsstaatliche Zeiten gedacht gewesen wären" 39 • Dieser Argumentation ist aber mit Recht entgegengehalten worden, der historische Anlaß, aus dem eine Verfassungsnorm entstanden sei, begrenze nicht auch schon deren normativen Gehalt 40 •41 • Weder der Wortlaut noch die dem 34 35 36 37
38 39
BVerfGE 52, 131fT, 171fT (Sondervotum)(173). BVerfGE a.a.O., S.l72f. BVerfGE 7, 198fT (203fT.). Schmidt, Eberhard, S. 119. Schmidt, Eberhard a. a. 0., S. 45. Schmidt, Eberharda.a.O., S.118.
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Vorbehalt des Gesetzes in Art. 2 Abs.2 Satz 3 GG Rechnung tragende Gesetzgebungspraxis auf dem gesundheitsrechtlichen Sektor belegten eine derartige Restriktion gegenüber ärztlichen Eingriffen. M. E. erscheint im Gegenteil eine weite Fassung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geradezu geboten, was auch der allgemein gewachsenen Sensibilität gegenüber jeglicher Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts, von welcher Seite sie auch immer drohen mag, entspricht. Eine als dynamisch verstandene Grundrechtsordnung muß für derartige Wandlungen der allgemeinen Rechtsüberzeugung offen sein, was entsprechende Folgerungen für die Ausgestaltung des einfachen Rechts nach sich zieht. Ausgangspunkt von Umfang und Wirksamkeit jeder Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen hat daher der vom Bundesverfassungsgericht wiederholt bestätigte Satz zu sein, daß die Bestimmung über die leiblich-seelische Integrität zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen gehöre. Diese durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Freiheit zur Selbstbestimmung - eine Freiheit, nach selbstgesetzten Maßstäben zu leben und zu entscheiden - würde auch durch eigenmächtige ärztliche Eingriffe beeinträchtigt. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG sind diese vielmehr nur aufgrund eines seinerseits der Verfassung entsprechenden Gesetzes zulässig. Ein derartiges - an Art. 19 Abs. 2 GG wie an den Verfassungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots zu messendes - Gesetz wäre, wenn es generell vom Einwilligungserfordernis bei Heileingriffen dispensierte, verfassungswidrig und würde "den Menschen allenfalls zum bloßen Gegenstand von Gesundheitspolitik und ihrer Vollzüge machen "42. Es versteht sich von selbst, daß Krankheit oder Gebrechen nicht etwa ein gemindertes Maß an Selbstbestimmungsrecht - und damit die Dispensierung oder Einschränkung des Einwilligungserfordernisses oder die Reduzierung der Aufklärungspflicht - zur Folge haben kann. Denn Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgt primär "Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen" und beschränkt sich nicht etwa auf "speziellen GesundheitsBVerfGE 52, 131, 171 (Sondervotum) (175). Diese Aussage wie auch die nachfolgend wiedergegebenen Grundsätze zur Einwirkung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz finden sich zwar im Sondervotum der dissentierenden Verfassungsrichter. Dies ist aber m.E. keineswegs mit einer Einbuße an Autorität der Belegstelle für den vorliegenden Zusammenhang verbunden, da insoweit aus der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb des Senats kein wesentlicher Meinungsunterschied erkennbar wird. Die Divergenzen beruhten hier in erster Linie auf einer unterschiedlichen Interpretation der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung sowie - wenn überhaupt - auf unterschiedlichen Wertungen hinsichtlich der Spezialfrage im Bereich der Risikoaufklärung, ob die Stringenz an die Aufklärungsintensität mit zunehmender medizinischer Notwendigkeit des Eingriffs abnimmt. Einigkeit bestand dagegen ganz offensichtlich in der Beurteilung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als Maßstab für die an das Rechtsinstitut der Einwilligung zu stellenden Anforderungen. 42 BVerfGE (Sondervotum) a.a.O. 40
41
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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schutz", so daß gerade auch der Kranke oder Versehrte das volle Selbstbestimmungsrecht über seine leiblich-seelische Integrität haben muß43. Die verfassungsrechtliche Prägung des Arzt-Patienten-Verhältnisses betont auch der Bundesgerichtshof (BGH), der - im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht und die personale Würde des Patienten - konstatiert, dem Kranken dürfe im Rahmen der Behandlung nicht die Rolle eines bloßen Objekts zugewiesen werden 44 • Selbst bei vital indizierter Behandlung sei daher die Entscheidung des Patienten, den notwendigen Eingriff abzulehnen, zu respektieren. Niemand dürfe sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit - für die Vornahme eines Eingriffs - zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Auch der ärztliche Heilauftrag finde im freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze 45 . Es kann demnach als unabdingbarer Grundsatz der Rechtsprechung gelten, daß die ärztliche Bestallung als solche keine erweiterte Verfügungsbefugnis gegenüber der Persönlichkeitsspähre des Patienten verleiht, der Arzt vielmehr für jeden Eingriff der gültigen Einwilligung des Patienten bedarf46 • Für die vorliegende Fragestellung bleibt demnach festzuhalten: Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz fixiert einen normativen Kernbereich der Einwilligung und - in ihrem Rahmen - auch der ärztlichen Aufklärungspflicht. Als Ausfluß dieser Verfassungsnorm ist, um mit den Worten der bereits mehrfach zitierten dissentierenden Bundesverfassungsrichter zu sprechen, das Institut der Einwilligung so zu bestimmen, daß das Recht des Patienten gewahrt bleibt, "entsprechend seinen ureigensten Maßstäben, seine Einwilligung zu erteilen oder zu verweigern".47 Der Patient muß also, um überhaupt eine freie Entscheidung treffen zu können, die für diese bedeutsamen Umstände kennen. Allein diese verfassungsrechtliche Vorgabe kann Maßstab sein für die Abschichtung zwischen aufklärungsbedürftigen Umständen und solchen Fakten, die der Arzt vor Erteilung der Einwilligung dem Patienten nicht notwendig mitteilen muß. Die von Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitete Kasuistik zum Umfang der gebotenen Aufklärung stellt lediglich ein Bemühen dar, die Wertentscheidungen des Grundgesetzes in das einfache Recht zu transformieren. Dabei kann eine derartige Kasuistik stets nur das vorläufige Produkt der gegenwärtigen Erkenntnisse bilden, die anhand der bis dato aufgetretenen Probleme gewonnen wurden. Bei Auftreten neuartiger Phänomene ist sie somit zwangsläufig auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Modifikation hin zu überprüfen.
43 44 45 46
47
BVerfGE a.a.O (Sondervotum) (174). BGHZ 85, 327 (332). BGHSt 11, 111 (113f.) - sog. " Myom-Urteil". BGHZ VersR 1973, 244 (246 r. Sp.). BVerfGE 131 ff., 171ff. (Sondervotum) (178).
5 Pfeffer
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Was nun die Venenpunktion zum Zwecke einer späteren Blutdiagnostik anbelangt, so ist sogar ein besonders strenger Maßstab für den Umfang der gebotenen Aufklärung anzulegen. Dies folgt aus ihrem diagnostischen Charakter. Was nämlich für den Bereich der Risikoaufklärung allgemein anerkannt ist, daß bei diagnostischen Eingriffen ohne therapeutischen Eigenwert allgemein strengere Maßstäbe anzulegen sind, muß ohne Unterschied auch für andere einwilligungsrelevante Umstände gelten, so daß der Satz, "diagnostischem Perfektionismus oder gar wissenschaftlicher Neugier ... (ist) vorzubeugen"48 allgemeine Geltung beanspruchen muß. Welche Folgerungen ergeben sich nun hieraus für die eingangs aufgeworfenen Frage nach der Aufklärungsbedürftigkeit des Umstandes, daß das entnommene Blut (auch) einer HIV-Diagnostik unterzogen werden soll? Maßgeblich ist nach dem Gesagten, ob dem Patienten auch ohne diese Information die Möglichkeit bleibt, seine Einwilligung in die Venenpunktion "entsprechend seinen ureigensten Maßstäben"49 zu erteilen oder zu verweigern. Dazu hat man sich die vom Patienten perzipierte Entscheidungsssituation einerseits und die reale andererseits zu vergegenwärtigen: Folgt auf die Venenpunktion lediglich eine Blutdiagnostik der Art, wie sie vor Auftreten der AIDS-Problematik gebräuchlich war, so hat der Patient - angesichts der Geringfügigkeit der Venenpunktion als solche und der Unverfänglichkeit des möglichen Befundes - kaum Anlaß, sich über seine Einwilligung besondere Gedanken zu machen, und wird sie ohne viel Aufhebens erteilen. Soll sich hingegen (auch) eine HIV-Diagnostik anschließen, so ist die Lage gänzlich anders: Nicht die Gefahr medizinischer Komplikationen der Venenpunktion, sondern die psychosozialen und gesellschaftlichen Risiken eines positiven HIVBefundes so machen die Frage der Einwilligung in die Blutentnahme im wahrsten Sinne des Wortes be-denklich. Zwar muß nicht jeder Patient diese Bedenken teilen. Doch kann jedenfalls eine Regelvermutung des Inhalts, diese besondere Verwendung des zu entnehmenden Serums sei kein für die Entscheidung bedeutsamer Umstand, nicht aufgestellt werden. Vielmehr ist im Gegenteil davon auszugehen, daß nur bei Kenntnis der Gesamtumstände der vorgesehenen ärztlichen Maßnahme für den Patienten eine echte Gelegenheit besteht, die nach seinen Maßstäben vernünftige Entscheidung zu treffen. Nur wenn er weiß, daß er als Folge seiner Einwilligung in die Venenpunktion mit einem positven HIV-Befund konfrontiert werden könnte, ist er in der Lage, die wahre Dimension der vorgeschlagenen Venenpunktion und damit auch seiner Einwilligungsentscheidung zu erkennen. Nur in Kenntnis dieses Bezugsrahmens wird er sich zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung aufgerufen fühlen, ohne sie würde sich eine eingehendere Willensbildung erübrigen. Die so zustandegekomBGH(Z) NJW 79, 1933 (1934). BVerfGE 52, 131 (178) (Sondervotum). so Vgl. oben Erster Teil, 6.2.
48
49
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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mene Entscheidung könnte nicht als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten anerkannt werden. 51 3.2.3.3 Ergebnis
Vor Durchführung der Venenpunktion hat der Arzt den betreffenden Patienten sowohl über die sich an die Blutentnahme anschließende HIVDiagnostik des Serums als auch über etwa von ihm festgestellte Anhaltspunkte für das Vorliegen einer HIV-Infektion, die ihn zur HIV-Diagnostik veranlassen, aufzuklären. Dies ergibt sich aus der bei der Auslegung des Rechtsinstituts der Einwilligung zu berücksichtigenden verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. 3.3 Wegfall der Autklärungspflicht Ein Wegfall der grundsätzlich gebotenen Aufklärungspflicht kommt unter drei verschiedenen Aspekten in Betracht: Zum einen, falls ein Aufklärungsverzicht des Patienten vorliegt, weiterhin im Falle des sogenannten "therapeutischen Privilegs" und zum dritten bei planwidriger Erweiterung des Eingriffs. 3.3.1 Aufklärungsverzicbt
Ein Verzicht ist nur anzunehmen, wenn der Patient deutlich zu erkennen gegeben hat, daß er alles vertrauensvoll seinem Arzt überläßt 52 • Mit zunehmendem Umfang des Aufklärungsverzichts sind dabei auch strengere Anforderungen an sein Vorliegen zu stellen 53 • Im Zusammenhang mit den heimlichen HIV-Tests erscheint aber die Annahme eines Aufklärungsverzichts von vornherein als ausgeschlossen. Denn da eine derartige Verfügung die Kenntnis ihrer Bedeutung voraussetzt, muß für einen wirksamen Informationsverzicht verlangt werden, daß der Patient seine Situation zwar nicht in Einzelheiten, wohl aber in ihren Umrissen korrekt sehen kann S4 • Ein Verzicht auf Information über die vorgesehene HIV-Diagnostik kann daher nur in dem Ausnahmefall erwogen werden, daß der betreffende Patient die typische HIV-Symptomatik aufweist und vom Arzt deren genaue Ätiologie wünscht, wobei er sich des möglichen Vorliegens einer HIV-Infektion bewußt ist, sei es aufgrund eigenen Wissens oder aufgrund entsprechender 51 In diesem Sinne auch Eberbach (Die ärztliche Aufklärung, S. 182), der bei tödlichen Erkrankungen eine unzweideutige Information des Patienten über den Befund jedenfalls dann für erforderlich hält, wenn sich an die Diagnose therapeutische Maßnahmen anschließen sollen. 52 BGHZ 29, 46 (54). 53 BGH VersR 1973, 244ff. (246 r. Sp.). 54 Arzt, Die Aufklärungspflicht, S.49 (63).
5*
2. Teil, 1. Abschn.: RIV-Test und Einwilligung
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Aufklärung durch den Arzt über den prima facie gehegten Krankheitsverdacht. In allen anderen Fällen kennt der Patient das Problem nicht einmal andeutungsweise, kann somit auch keine sinnvolle Entscheidung darüber treffen, ob er über die vorgesehene HIV-Diagnostik und deren Konsequenzen informiert werden will oder nicht. 3.3.2 "Therapeutisches Privileg"
Die Pflicht zur Aufklärung kann auch unter dem Aspekt des sogenannten "therapeutischen Privilegs" entfallen. Im Zusammenhang mit dem Problem bereich "AIDS und Blutspende" ist
Deutsch 55 der Frage nachgegangen, ob die Blutspendezentrale den von ihr
festgestellten HIV-Verdacht dem jeweiligen Spender mitteilen muß. Dabei vertrat er die Auffassung, die grundsätzliche Mitteilungspflicht könne ausnahmsweise "aus höherem Patienteninteresse zurücktreten"56. Sei der Patient im Übermaß psychisch labil, so daß die Mitteilung auch nur eines Verdachts auf AIDS ihn in schwere seelische Störungen stürzen könnte, so dürfe diese unterbleiben. Es handle sich dabei um einen weiteren Anwendungsfall des "so viel gescholtenen ,therapeutischen Privilegs'" 57. Trifft diese These 58 zu, so müßte der Arzt unter den genannten Ausnahmevoraussetzungen bereits von seiner Pflicht zur Aufklärung über die Durchführung einer HIV-Diagnostik dispensiert sein, da bereits diese Mitteilung entsprechende Ängste bei dem betreffenden Patienten auslösen kann. Das von Deutsch bemühte Rechtsinstitut bedarf daher näherer Durchleuchtung. Festzuhalten ist dabei zunächst die unglückliche - weil mißverständliche - Wahl des Begriffs "therapeutisches Privileg". Gemeint ist damit nämlich nicht etwa, ein dem Arzt in dessen eigenen Interesse eingeräumtes Vorrecht, sondern vielmehr seine mit Rücksicht auf therapeutische Belange postulierte Befugnis 59 , unter bestimmten Voraussetzungen die an sich gebotene Aufklärung einzuschränken oder sogar ganz zu unterlassen 60 • Die Meinungen darüber, ob unter dem Aspekt der Fürsorgepflicht des Arztes eine derartige Befugnis überhaupt anzuerkennen und - wenn ja - unter welchen Voraussetzungen eine hinreichende Kontraindikation anzunehmen ist, sind geteilt. AIDS, S. 2746. Deutsch a. a. O. 57 Deutsch a.a.O. 58 AbI. Teichner. S. 761. 59 Nach Eberbach (Die ärztliche Auklärung, S. 181) stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob nicht die Auklärung aus therapeutischen Gründen sogar unterbleiben muß. Jedenfalls handle es sich nicht um ein Privileg im Sinne einer Ermessensfreiheit, sondern um die Frage, was medizinisch indiziert sei. 60 Schreiber. S. 74. 55
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3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Die Rechtsprechung hält nur im Ausnahmefall die Aufklärung für entbehrlich. Geboten bleibe sie insbesondere in dem Falle, daß keine Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes oder des Heilerfolges zu befürchten ist, oder soweit durch die Aufklärung lediglich die Stimmung oder das Allgemeinbefinden des Patienten herabgedrückt wird 61 . Gleichzeitig wurde in den zitierten Entscheidungen zwar stets ausgeführt, das Festhalten am Gebot der Aufklärung im konkreten Fall besage nicht, daß restlose Aufklärung auch dann zu verlangen sei, wenn durch sie das Leben oder die Gesundheit des Patienten ernstlich gefährdet würden 62 oder wenn nicht behebbare Gesundheitsschäden zu befürchten wären 63 . Der Arzt solle nicht gezwungen sein, durch eine zu weitgehende Aufklärung den Heilerfolg selbst zu beeinträchtigen 64 • Auch in einer späteren Entscheidung hat der BGH hervorgehoben, daß ein Absehen von Aufklärung ausnahmsweise möglich sei, wenn zwingende therapeutische Erwägungen entgegenstünden 6s . Keinesfalls rechtfertigt aber die ernsthafte Möglichkeit einer Einwilligungsverweigerung in die indizierte Behandlung das Absehen von Aufklärung, da es gerade deren Zweck ist, den Patienten zur Selbstbestimmung aufzurufen 66 • Selbst bei vital indizierter Behandlung - einer Behandlung also, deren Unterlassen den Tod des Patienten zur Folge haben wird - ist nach der Rechtsprechung die als Ausdruck des ernsthaften Willens erklärte Behandlungsverweigerung zu respektieren. Es dürfe sich "niemand .. zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche U nversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden"67. Die Gefahr der Verweigerung der Einwilligung in eine lebensnotwendige Behandlung kann daher nicht als Kontraindikation für die Aufklärung angesehen werden, da man andernfalls dem Patienten die Möglichkeit nähme, einen eigenständigen Willen überhaupt zu bilden. Selbstbestimmungsrecht und personale Würde des Patienten verbieten es aber, ihn zum bloßen Objekt der Entscheidung anderer herabzuwürdigen 68 • In der Literatur wird zum Teil heftige Kritik an der Rechtsprechung zum therapeutischen Privileg geübt. Die vom BGH vorgenommene Differenzierung sei zum einen praktisch nicht durchführbar, zum anderen aber auch in sich BGH, VersR 1954, 496; BGHZ 29, 46 (55f.). BGHZ 29, 46 (56f.). 63 BGHZ 29, 176 (185). 64 BGH VersR 1956, 406. 6S BGH NJW 1972, 335 (337). Hervorzuheben ist aber, daß die zitierten Judikatemangels Entscheidungserheblichkeit im jeweiligen konkreten Fall - hinsichtlich der Frage, wann die Aufklärung tatsächlich unterbleiben kann, keine abschließende Aussage treffen. 66 BGHZ 29, 46 (55f.). 67 BGHSt 11, 111ff. (114). 68 BGHZ 85, 327 (332). 61
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2. Teil, 1. Abschn.: mV-Test und Einwilligung
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widersprüchlich, indem sie zwar in einem - im übrigen als zu eng angesehenen Bereich - die Möglichkeit einer Rücksichtnahme auf den Heilerfolg erlaube, andererseits aber konstatiere, eine bloße Verschlechterung der Stimmung oder sogar des Allgemeinbefindens müsse in Kauf genommen werden, denn dabei würden medizinische Erfahrungstatsachen beseitegeschoben, daß nämlich Stimmung und Allgemeinbefinden auf den Heilerfolg Einfluß haben 69 • Die Ausnahmen vom Erfordernis der Aufklärung werden daher erheblich ausgeweitet. Nach Deutsch soll ein Absehen von der Diagnose- und Verlaufsaufklärung bereits dann möglich sein, wenn diese übermäßige - nicht notwendig irreversible 70 - psychische Belastungen für den Patienten oder die Gefährdung Dritter zur Folge hätten. Die Risikoaufklärung soll dagegen entbehrlich sein, wenn diese - gleichsam als self-fulfilling prophecy - zu einer Risikoerhöhung führt. Daneben sei "als ganz seltene Ausnahme .. auch die Gefahr psychotisch unverständiger Ablehnung der Behandlung anzuerkennen" 71 , wenn die Behandlung unmittelbar und dringend erforderlich sei, nur die entfernte Gefahr von Komplikationen oder Nebenwirkungen bestünde und der Patient krankhaft ängstlich und damit nicht zur ruhigen Abwägung des Für und Wider in der Lage sei 72 • Die mit dem Absehen von der grundsätzlich gebotenen Aufklärung verbundene Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten wird als gerechtfertigt angesehen, "wenn eine so weitgehende Aufklärung dem Patienten einen Schaden zufügen würde, der gravierender wäre als die Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts" 73 • Jedoch erscheint die so kritisierte restriktive Haltung des BGH "geradezu zwingend notwendig, um zu verhindern, daß sich Ärzte aus ihren Aufklärungsverpflichtungen hinauszuargumentieren versuchen und das Recht des Patienten auf Aufklärung unterlaufen. "74 Angesichts der Bedeutung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts des Patienten 7S kommt aufgrund therapeutischer Rücksichten allenfalls eine Einschränkung oder Modifizierung der geschuldeten Aufklärung in Betracht, nie aber deren völlige Unterlassung. Insbesondere rechtfertigt die Gefahr einer Behandlungsverweigerung in keinem Falle das Absehen von vollständiger Aufklärung 76 • Geilen, S. 183f. In diesem Sinne schon Eberhard Schmidt (S. 112, 138 f.), der bereits bei einer zu erwartenden Beeinträchtigung des Behandlungsverlaufs oder -erfolgs ein Absehen von vollständiger Diagnoseaufklärung befürwortet und dabei einen der gerichtlichen Nachprüfung entzogenen Beurteilungsspielraum fordert. 71 Deutsch, Nichtaufklärung, S. 1307 (r. Sp.). 72 In der Tendenz ebenso Schreiber (S.76ff.), der jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Fallgruppe der Gefahr der Behandlungsverweigerung anmeldet. 73 Grünwald, Heilbehandlung, S. 142. 74 Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 399; ders. Patientenwohl, S. 287; ebenso Ankermann (S. 25), der nur in "eindeutigen" Notstandssituationen das Absehen von Aufklärung für zulässig hält. 75 Vgl. hierzu oben (in dies.Abschn.) 3.2.3.2. 159 70
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Im vorliegenden Zusammenhang verdient zudem ein Aspekt besondere Beachtung: Ergibt die HIV-Diagnostik einen positiven Befund, so kommt der Arzt ohnhin nicht umhin, den Patienten hierüber ins Bild zu setzen. Dies gebieten zum einen schon die Gesundheitsinteressen des Inftzierten selbst, der bei Kenntnis seiner Krankheit durch besonders vorsichtige und gesunde Lebensweise die Phase bis zum Ausbruch der manifesten AIDS-Erkrankung zumindest verlängern kann. Vor allem aber gebietet es der Schutz Dritter, die durch den unwissenden HIV-Träger ihrerseits inftziert werden könnten, diesen über seinen Zustand aufzuklären. 77 Anders als in den bisherigen Fällen, die die Diskussion um das "therapeutische Privileg" initiierten, kollidieren also hinsichtlich der Frage der Befundmitteilung nicht ausschließlich Rechtsgüter des Patienten (Gesundheit contra Selbstbestimmungsrecht). Vielmehr tritt das Schutzinteresse Dritter hinzu 78, in deren Rechtsgüter nur aufgrund eines gesetzlichen Rechtfertigungsgrundes, nicht aber unter Berufung auf ein angebliches "therapeutisches Privileg" eingegriffen werden dürfte. 79 Somit würde mit dem Absehen von Aufklärung über die Durchfohrung einer HIV-Diagnostik lediglich ein Aufschub erreicht, bis der Patient doch mit der Wahrheit konfrontiert werden müßte. Dieser Vorteil kann aber keinesfalls die Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts aufwiegen, die eine Venenpunktion ohne Aufklärung über den damit verfolgten diagnostischen Zweck impliziert. 80 Der Rekurs auf das "therapeutische Privileg" vermag daher den Arzt nicht von seiner Pflicht zur vorherigen Aufklärung über die geplante HIV-Diagnostik zu dispensieren. 3.3.3 Planwidrige Erweiterung des Eingriffs
Ein Absehen von Aufklärung kommt daneben in den Fällen planwidriger Erweiterung des Eingriffs in Betracht. Hierbei ist zunächst zu differenzieren zwischen vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren Erweiterungen der Operation. Vorhersehbare hat der Arzt vorweg in das Aufklärungsgespräch einzubeziehen und vorsorglich die entsprechende Einwilligung des Patienten einzuholen 81 • Bei nicht vorhersehbaren Erweiterungen (nicht schuldhafter präoperatiGiesen, Patientenwohl, S.286; insoweit ebenso Tempel, S. 614. Näher hierzu 3. Teil, 2. Abschn., 2.1.3. 78 Diesen Aspekt betont auch Teichner, S.761. 79 Inwieweit der hier angesprochene Drittschutz als Legitimationsbasis für nicht konsentierte HIV-Tests in Betracht kommt, bedarf gesonderter Prüfung (vgl. hierzu die Ausf. im Zweiten Abschnitt). 80 Im Erg. ebenso Teichner (a.a.O.), der allerdings nicht zwischen der Frage der Aufklärung über die Durchführung des HIV·Tests einerseits und über den Befund andererseits differenziert. 81 BGH 11, 111 (115). 76 77
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
ver Diagnoseirrtum) wird zum Teil unter folgenden Voraussetzungen die Nachholung der Aufklärung für entbehrlich erachtet: - Der neue Befund müßte ohne die beabsichtigte Ausweitung des Operationsplanes zum Tode des Patienten in absehbarer Zeit führen. - Bei Abbruch des Eingriffs drohen ernsthaft zusätzliche, gefährliche Komplikationen, die eine ausgedehnt fortgesetzte chirurgische Maßnahme vermiede (medizinische Kontraindikation des Operationsabbruchs). - Ein der Operationserweiterung entgegenstehender Wille des Patienten ist nicht zu erwarten 82 • Strengere Voraussetzungen hat hier bisher der BGH angelegt. So wurde der Abbruch der Operation schon dann für erforderlich gehalten, wenn die Erweiterung nur mit erhöhten Gefahren verbunden und nicht vital indiziert war. Maßgeblich soll danach sein, ob wegen der Ungefährlichkeit der Erweiterung mit der Einwilligung des Patienten im Falle seines Befragens ohnehin zu rechnen wäre 83 • Dieser engen Auffassung begegnet die Literatur zum Teil mit Kritik. Danach soll nicht nur bei vitaler, sondern auch bei absoluter Indikation der Arzt nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes zur Fortsetzung der Operation berechtigt sein. Lediglich bei bloß angezeigter Indikation müsse die Operation abgebrochen werden, um dem Patienten die Gelegenheit zur Entscheidung über echte Alternativen zu geben 84. Nach wohl noch weitergehender Auffassung soll der Arzt schon bei "überlegter und abgewogener Indikation" stets berechtigt sein, den gebotenen Eingriff zu Ende zu führen. Jedenfalls sei für strafrechtliche Sanktionen kein Raum, wenn ein Arzt lege artis in beruflicher Erfahrung und Verantwortung handle 85 • Auch in der Literatur wird jedoch betont, daß die Grundsätze über die mutmaßliche Einwilligung nicht anzuwenden seien, wenn der Arzt es vorher fahrlässig verabsäumt habe, sich rechtzeitig die Einwilligung des Patienten hinsichtlich möglicherweise notwendig werdender wesentlich weitergehender Eingriffe zu erholen 86 • Schon aufgrund der zuletzt genannten Einschränkung wird in der hier interessierenden Frage nicht angekündigter HIV-Diagnostik ein Dispens von der Aufklärungspflicht entfallen. Vor allem aber kann die Einwilligung in die HIV-Diagnostik stets gefahrlos nachgeholt werden, da sie auch in den besonderen Fällen, in denen das Probandenblut während eines unter Narkose durchgeVgl. OLG Frankfurt NJW 1981, 1322; Laufs, Arztrecht, Rz. 141. BGH NJW 1977, 337; ähnl. Giesen (Arzthaftungsrecht, S. 393), der die Erweiterung nur dann für gerechtfertigt hält, "wenn es völlig widersinnig wäre (und nicht bloß ungelegen käme)", den Eingriff zur Einholung der Einwilligung zu verschieben. 84 Tempel, NJW 1980, 609ff. (613). 8S Tröndle, S. 884. 86 Schlund, VersR 1977,496,498. 82 83
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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führten Eingriffs entnommen wird, aus praktischen Gründen nicht sogleich, sondern erst nachträglich erfolgen kann. Die oben genannten engen Voraussetzungen für einen Aufklärungsverzicht unter dem Aspekt der planwidrigen Erweiterung des Eingriffs dürften daher praktisch nie vorliegen. 3.3.4 Zusammenfassung
Ein Wegfall der Aufklärungspflicht unter den von Rechtsprechung und Lehre anerkannten Ausnahmevoraussetzungen dürfte vorliegend praktisch nicht relevant werden. 3.4 Rechtsfolgen der unzureichenden Aufklärung 3.4.1 Problemstellung
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich lediglich, daß der Arzt verpflichtet ist, den Patienten vor Durchführung eines HIV-Tests ausdrücklich auf die geplante diagnostische Maßnahme hinzuweisen und eine Weigerung des Patienten zu akzeptieren hat. Offen ist dagegen noch, welche strafrechtlichen Konsequenzen für den Arzt die Verletzung der Aufklärungsobliegenheit hat. Die Beantwortung dieser Frage erschließt sich nur durch eine nähere Betrachtung desjenigen Teilbereichs der Einwilligungsdogmatik, der nach wie vor der am heftigsten umstrittene sein dürfte: des Problems der strafrechtlichen Relevanz eines auf Fehlvorstellungen gegründeten Rechtsgutsverzichts 87 . Eine "Fehlvorstellung" in diesem Sinne liegt dabei nicht etwa nur dann vor, wenn der Einwilligende einen entsprechenden Gedankeninhalt aktualisiert - im speziellen Fall: an die Unterlassung der HIV-Diagnostik positiv denkt -, sondern schon dann, wenn Realität und Bewußtsein (auch als Bewußtsein am Rande) auseinanderfallen, so daß der Bewußtseinsinhalt fehlerhaft ist 88 • 3.4.2 Undifferenzierte Anerkennung der Relevanz jedes Irrtums
Zum Teil finden sich in der Literatur Plädoyees für die generelle Unwirksamkeit irrtumsbedingter Einwilligungen, ohne daß nach dem Gegenstand der jeweiligen Fehlvorstellung oder auch nur nach der Art ihres Zustandekommens differenziert würde. So fordert Bockelmann 89 für die Wirksamkeit der Einwilligung - soweit hier von Interesse - "daß Einwilligungswille und -erklärung sich decken" und "daß So auch der Titel der Abhandlung von Kühne (JZ 1979, 241 ff). So auch M.-K. Meyer (S. 6) zur insoweit gleichgelagerten Problematik bei mittelbarer Täterschaft aufgrund Irrtums. 89 Strafrecht des Arztes, 54. 87 88
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
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der Wille nicht durch Mangel an Einsicht und nicht durch Irrtum, Zwang oder Täuschung gebeugt ist. "90 Nur eine frei von Irrtümern zustandegekommene Einwilligung erscheine als Akt freier Selbstbestimmung und nur als solche entfalte sie rechtfertigende Wirkung. 91 Habe der Patient nicht verstanden, daß und wozu er seine Zustimmung erteilt, so habe er nicht eingewilligt. 92 Weiterhin setze die Wirksamkeit der Einwilligung voraus, daß der Einwilligende sie "aufgrund richtiger Einsicht in alle Umstände erteilt hat, auf die es für die Motivation eines Entschlusses zur Duldung oder zur Verweigerung eines Eingriffs von der Art des indizierten ankommt" 93 • Auch ein Irrtum im Beweggrund führe zur Unwirksamkeit der Einwilligung und zwar unabhängig davon, ob der Einwilligende sich getäuscht habe oder ob er getäuscht worden sei. Nur beiläufig - in den Anmerkungen - findet sich der Hinweis, daß Irrtümer, "welche nicht die medizinische Bedeutung des Eingriffs betreffen, z. B. ein Irrtum über die Kosten der Operation" unbeachtlich seien. 94 3.4.3 DifTerenzierungsversuche in der Rechtsprechung und in der älteren Literatur
Schon das Reichsgericht schränkte dagegen die Beachtlichkeit von Willensmängeln im Hinblick auf deren Gegenstand und deren Intensität ein. Entscheidend sollte demnach sein, daß der zum Ausdruck gekommene Wille " ... nach Lage der Verhältnisse in der Art und in dem Maße beeinträchtigt war, daß die Willensentschließung nach den Vorstellungen des täglichen Lebens nicht mehr als Ausdruck der wahren inneren Willensmeinung des von der Tat Betroffenen gelten kann. Bloße außerhalb des Gegenstandes der Einwilligung liegende irrige Beweggründe oder unrichtige Vorstellungen von Verhältnissen, die nur entfernt mit diesem Gegenstand zusammenhängen, würden dabei nicht in Betracht zu kommen haben; ... "95. Dieser Leitlinie folgt auch der Bundesgerichtshof. Willensmängel sollen der Einwilligung zwar regelmäßig die rechtfertigende Kraft nehmen, andererseits nicht aber schon jede die Einwilligungserklärung begleitende oder motivierende irrige Vorstellung die Rechtfertigung ausschließen. Ein Irrtum könne vielmehr "in Ausnahmefallen bedeutungslos sein"96, so daß der Einwilligung dann umfassendere Wirksamkeit beizumessen sei, als es der Vorstellung des Einwilligenden entspreche.
90 91
92 93 94
95 96
Bockelmann, Strafrecht, S. 54. Bockelmann a.a.O. S.57. Bockelmann a.a.O. S. 55; Ponsold-Bockelmann, S. 23 r. Sp. Bockelmann, Strafrecht, S. 57. Bockelmann a.a.O. Anm. 38 zum 4. Kap. (S. 75). RG 41, 392fT (396). BGHSt 16, 309fT (311).
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Im entschiedenen Fall- dem sogenannten "Famulus-Urteil" - war die Einwilligungserteilung in der Vorstellung erfolgt, der Eingriff werde von einem approbierten Arzt vorgenommen, während tatsächlich ein Famulus tätig wurde. Ein diesbezüglicher Irrtum soll aber nach Auffassung des Senats die Rechtfertigung nicht ausschließen, wenn wegen der medizinischen Einfachheit des Falles, der vom Hilfspersonal genauso gut und sicher versorgt werden kann wie vom Arzt - "nach allgemeiner, in der Sache begründeter Auffassung die Frage der ärztlichen Approbation des Behandelnden ganz in den Hintergrund tritt und unwesentlich bleibt" 97 •
Der Patient müsse in solchen Fällen die vorbehaltlose Einwilligung als rechtfertigend gegen sich gelten lassen, die Berufung auf seinen hypothetischen Willen sei ausgeschlossen. Jedoch seien "irgendwie zweifelhafte Fälle" durch die Einwilligung keinesfalls gedeckt. Schon jeder objektive Zweifel an der Geringfügigkeit der Krankheit oder an der Beurteilungsfahigkeit oder Sachkunde des Nicht-Arztes schließe die Wirksamkeit der Einwilligung aus. 98 Auch in der Literatur wandte sich schon früh eine Reihe von Autoren gegen die nahezu generelle Geltung des Dogmas von der Unwirksamkeit der Einwilligung als Folge jeglichen Willensmangels. So konstatierte etwa Nollwenn auch noch ohne Angabe trennscharfer Kriterien - , Willensmängel bei der Einwilligung des Verletzten seien nur insoweit wesentlich "als sie maßgebliche Motive zur Preisgabe des verletzten Rechtsguts überhaupt betreffen"99. Entsprechende Aussagen beinhalten schließlich Schwalms sechzehn Thesen zur Einwilligung in die ärztliche Heilbehandlung und zur ärztlichen Aufklärungspflicht, ein "mit geradezu lückenloser Akribie entwickelter Katalog der h.M."I°O. In unserem Zusammenhang von Interesse sind die Thesen 4 bund 5101 • Voraussetzung für die Rechtswirksamkeit der Einwilligung ist demzufolge zunächst, daß "die Einwilligungserklärung nicht durch Nötigung oder Täuschung und auch nicht durch einen Irrtum über Grund, Art oder Tragweite der Heilbehandlung verursacht worden ist. "102 Nach These Sliegt ein die Wirksamkeit der Einwilligung ausschließender Irrtum vor, "wenn die Einwilligung darauf beruht, daß der Arzt trotz bestehender Aufklärungspflicht den Einwilligungsberechtigten über die Heilbehandlung nicht angemessen aufgeklärt hat"I03. Für die Frage der Einwilligungsrelevanz 104 ergibt sich aus den Thesen Schwalms daher folgende Zweiteilung: BGHSt 16, 309 (311). BGHSt 16, 309 (312f). 99 Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 131. 100 So die zutreffende Charakterisierung durch Geilen, Einwilligung, S. 21. 101 Abgedruckt bei Niese, S. 364fT (373f). 102 Schwalm, abgedr. bei Niese a.a.O. 103 Schwalm a. a. 0.; Hervorh. vom Verf. 104 Dieser Begriff wird im folgenden zur Umschreibung der Beachtlichkeit VOll Fehlvorstellungen verwendet. Dabei ist jedoch im Auge zu behalten, daß mit der Feststellung der "Einwilligungsrelevanz" noch kein abschließendes Urteil über die 97
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Irrtümer über Grund, Art oder Tragweite der Heilbehandlung haben stets Einwilligungsrelevanz. Dies ist die Konsequenz aus These 4 b. Sonstigen Irrtümern (abgesehen vom Fall des durch eine Täuschung hervorgerufenen Irrtums) kommt Einwilligungsrelevanz nur in dem Falle zu, daß hinsichtlich des Umstandes, über den die Fehlvorstellung besteht, die Aufklärungspflicht verletzt wurde. Dies ist die Konsequenz aus These 5. Ob dieser These überhaupt noch - neben These 4 b - praktische Bedeutung zukommen kann, hängt freilich von der Umgrenzung der Aufklärungspflicht ab: Beschränkt sich diese auf Grund, Art und Tragweite der Heilbehandlung, so liegt bereits im Hinblick auf den Gegenstand der Fehlvorstellung ein nach These 4b erheblicher Irrtum vor, ohne daß es daneben noch auf die Verletzung der Aufklärungspflicht ankäme.
Ausgehend von der hier vertretenen Auffassung, die den Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben erheblich über diesen Kreis hinaus ausdehnt, insbesondere auch die geplante HIV-Diagnostik einbezieht, erlangt aber deren Verletzung im Hinblick auf die Wirksamkeit der Einwilligung durchaus Bedeutung. Denn im Regelfall wird die Unkenntnis über die spätere HIV-Diagnostik nicht als Irrtum über "Grund, Art oder Tragweite der Heilbehandlung" angesehen werden können. Gegenstand der Einwilligung ist nämlich allein der im Sinne des § 223 StGB tatbestandsmäßige ärztliche Eingriff, also die Venenpunktion zur Blutentnahme. Die spätere Diagnostik des so entnommenen Blutes selbst ist - gemessen an § 223 StGB - tatbestandsmäßig irrelevant und somit auch nicht Gegenstand der Einwilligung. Stellt die Auswertung des entnommenen Körpersubstrats aber keine Heilbehandlung dar, so kann auch die diesbezügliche Unkenntnis nicht als Irrtum über die Reichweite der Einwilligung angesehen werden. 3.4.3.1 Umfassende Einwilligungsrelevanz täuschungsbedingter Fehlvorstellungen
Der in Schwalms These 5 zum Ausdruck kommende Gedanke läßt sich zwanglos in die in der Einwilligungsdogmatik heute h.M. einordnen. Diese h. M. geht nämlich von der unterschiedlichen strafrechtlichen Relevanz von Fehlvorstellungen je nach der Art ihres Zusammenkommens aus. Danach soll die (arglistige) Täuschung in jedem Falle "einwilligungsbeseitigend "105 wirken. Der Gegenstand der Fehlvorstellung ist hierbei irrelevant. Insbesondere soll einem bloßen Motivirrtum jedenfalls dann strafrechtliche Relevanz zukommen, wenn eine diesbezügliche Aufklärungslast des Täters bestand; es gehe dabei in Bezug auf die Einwilligungserlangung um Täuschung durch Unterlassen. 106 Bei einem Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Einwilligung getroffen wird, da diese noch von anderen Faktoren (siehe hierzu insbesondere die Ausführungen zur Kausalität) von Bedeutung sein können. lOS Sch.Sch.-Eser § 223 Rdn. 39; ähnlich Hirsch LK Rdn. 119, 121 vor § 32. 106 Hirsch. a. a. O. Rdn. 121.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Irrtum, d. h. einer nicht vom Einwilligenden zurechenbar veranlaßten Fehlvorstellung, soll es dagegen auf deren Gegenstand ankommen. Einwilligungsrelevant sei nur der rechtsgutsbezogene Irrtum, nicht aber ein bloßer Motivirrtum l07 • Die Gegenauffassung hält die Art und Weise, wie der Irrtum entstanden ist, für unerheblich. Auch durch Täuschung veranlaßte Fehlvorstellungen sollen danach nicht schlechthin, sondern nur unter den auch sonst geltenden Einschränkungen - etwa der Rechtsgutsbezogenheit des Irrtums - für die Wirksamkeit der Einwilligung von Bedeutung sein 108. Entfalle die Rechtswidrigkeit wegen der autonomen Freigabe des fraglichen Guts, so könne - so die Argumentation der Mindermeinung - nur auf den Inhalt der Fehlvorstellung, nicht aber auf die Art ihres Zustandekommens abgestellt werden 109. Einer Klärung bedarf vorab, inwieweit die beiden divergierenden Meinungen im Falle der "heimlichen HIV-Tests" zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Von Interesse ist dabei zunächst, wann die Vertreter der h. M. eine "Täuschung" annehmen, die zur umfassenden Beachtlichkeit von Fehlvorstellungen bei der Einwilligungserteilung führen soll. 3.4.3.2 "Täuschung" nur bei vorsätzlicher Herbeifohrung des Irrtums?
Unklar ist, ob die Vertreter der h. M. als "Täuschung" nur die vorsätzlich unrichtige bzw. unvollständige Aufklärung ansehen. Ausdrücklich angesprochen wird diese Problematik nur von Schmid, der zwar keine Schädigungsabsicht seitens des Arztes voraussetzt, wohl aber "daß eine Beratung in dem aktuellen Bewußtsein unterbleibt, hierdurch eine sonst möglicherweise nicht zustandekommende Einwilligung zu erhalten"llo. Eine Täuschung liege dagegen nicht vor, wenn der Arzt infolge Fahrlässigkeit einen Sachverhalt nicht kenne, bzw. dessen Entscheidungserheblichkeit für den Patienten nicht erkenne ill . Täuschung durch Unterlassen komme in Betracht, wenn etwa im Aufklärungsgespräch ausdrücklich zugesagte Einzelheiten der Behandlung sich nachträglich als nicht realisierbar erwiesen, der Arzt davon Kenntnis erlange, den Patienten aber nicht informiere und die Behandlung dann von ihm oder jedenfalls mit seinem Wissen abredewidrig durchgeführt werde. ll2 Eser a. a. O. Sch.-Sch.-Lenckner Rdn. 47 vor § 32ff; Arzt, Willensmängel, S. 20; Jescheck § 34 IV 4.; Schmidhäuser Strafrecht AT 8. Kapitel Rdn. 137; Bich/meier, S. 55; Rudo/phi ZStW 86 (1974),82 (83ft); Samson SK Rdn. 43 vor § 32. 109 Lenckner a.a.O. 110 NJW 1984, 2601 ff (2603 r. Sp.). 111 Schmid a. a. O. 112 Schmid, S. 2604 mit Hinw. auf OLG München NJW 84, 1412. 107 108
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
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Eine ausdrückliche nähere Begründung für die Beschränkung der Täuschung auf vorsätzliches Handeln findet sich bei Schmidzwar nicht, doch ergibt sich aus dem Zusammenhang, daß hier offenbar die im Zivilrecht geltenden Anforderungen für die Feststellung von "Arglist" im Zusammenhang mit §§ 123,463 Satz 2 BGB angewendet wurden. So befürwortet der Autor bereits eingangs seiner Abhandlung ausdrücklich die entsprechende Heranziehung der bürgerlich rechtlichen Vorschriften bei der Differenzierung zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Fehlvorstellungen. Im Zusammenhang mit seiner Auslegung des Begriffs der" Täuschung" verweist der Autor i. Ü. auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs 113, die die zivilrechtlichen Vorschriften der §§ 123, 463 BG B betraf. Diese ParelIeIe erscheint aber alles andere als zwingend. Die herrschende Lehre im Strafrecht unterscheidet zwar in der Frage der Beachtlichkeit eines Irrtums in Entsprechung zu § 119 BGB nach den dort genannten Gegenständen der Fehlvorstellung. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß auch sonstige Begriffe der zivilrechtlichen Regelungen zur Wirksamkeit von Willenserklärungen unbesehen für das Strafrecht übernommen werden sollten 114. Richtig erscheint es vielmehr, die Frage der Parallelisierung von Zivilrecht und Strafrecht hinsichtlich der erweiterten Beachtlichkeit von Willensmängeln - der Frage also, ob im Strafrecht eine einwilligungsrelevante Täuschung nur unter denselben engen Voraussetzungen anzunehmen ist, die im Zivilrecht für die Arglistanfechtung bzw. den Schadensersatzanspruch aus § 463 Satz 2 BGB gelten - davon abhängig zu machen, ob sich in den beiden Fällen die zugrundeliegenden gesetzgeberischen bzw. quasi-gesetzgeberischen llS Wertungen entsprechen. Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Fundierung 116 besteht der Schutzzweck des Einwilligungs-Erfordernisses insbesondere in der Garantie der Selbstbestimmungsfreiheit als Freiheit, nach selbstgesetzten Maßstäben zu leben und zu entscheiden 117, sowie in der Sicherung der personalen Würde des Patienten, aufgrund der sich eine Degradierung des Patienten zum bloßen Objekt ärztlicher Behandlung von selbst verbietet. 118 Grundbedingung für eine freie Entscheidung ist aber die Kenntnis der für sie bedeutsamen Umstände, so daß dem Patienten eine Abwägung darüber möglich ist, ob er sich dem Eingriff unterziehen will oder nicht. Die Voraussetzungen der Abwägungsmöglichkeit zu BGH NJW 1971, 1795 (1800). So auch OLG Stuttgart NJW 1962,62 (63). 115 Da die Einwilligung ein von der Praxis entwickeltes Rechtsinstitut darstellt, das die vom Gesetzgeber bisher nicht geschlossene Strafbarkeitslücke bei eigenmächtiger Heilbehandlung ausfüllt, muß hier von einer quasi-gesetzgeberischen Wertung gesprochen werden. 116 Vgl. oben 3.2.3.2. 117 BVerfGE 52,131,171 (Sondervotum) (175). 118 Vgl. BGHZ 85, 327 (332). 113
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3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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vermitteln, damit eine wirksame Einwilligung erklärt werden kann, ist typischerweise Sinn der ärztlichen Aufklärungspflicht. 119 Würde man nun dieses grundrechtlich geschützte Interesse des Patienten zum alleinigen, uneingeschränkten Maßstab für die Rechtswirksamkeit einer Einwilligung in ärztliche Eingriffe erheben, so müßte schlechthin jede Fehlvorstellung beachtlich sein, mit der Folge, daß die betreffende ärztliche Maßnahme rechtswidrig wäre. Die Kehrseite eines derart umfassenden Schutzes der Patientenautonomie wäre allerdings die Überbürdung unkalkulierbarer Risiken auf die Ärzteschaft, die letztlich zur Lahmlegung des Gesundheitswesens führen müßte. Würde vom Gesetzgeber eine derartige Regelung erlassen, so käme diese Berufsausübungsregelung in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung einer Zulassungsbeschränkung nahe und wäre im Hinblick auf die strengen Anforderungen, die an Beschränkungen der Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 S.1 GG) gestellt werden 120, verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Daraus wird deutlich, daß bei der Frage der Einwilligungsrelevanz von Fehlvorstellungen eine Kollision zwischen den Grundrechten des Patienten einerseits und denjenigen des Arztes andererseits auftritt. So stellt die Abgrenzung zwischen aufklärungsbedürftigen und nicht aufklärungsbedürftigen Umständen letztlich nichts anderes als einen Komprorniß dar, als das Ergebnis einer Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten unterschiedlicher Grundrechtsträger, wie sie bei Auftreten derartiger Spannungslagen von Verfassungs wegen geboten ist l21 • Nun wird aber bei dieser vorgelagerten Frage - zum Schutze des Arztes vor unkontrollierbarer Ausweitung seines Risikos - die Aufklärungsinitiative 122 ohnehin insoweit auf den Patienten verlagert, als hinsichtlich nur individuelld. h. nur für den konkreten Patienten - bedeutsamer Umständen, die der Arzt nicht ex ante als relevant voraussehen kann oder gar muß und die vom Patienten während des Beratungsgesprächs nicht erwähnt werden, eine Aufklärungsobliegenheit des Arztes verneint wird. Damit ist aber m.E. bereits eine angemessene Risikoverteilung gewährleistet, so daß es weiterer Restriktionen zum Schutze des Arztes nicht mehr bedarf. Hat nämlich der Patient im Verlaufe des Behandlungs(vor-)gesprächs durch entsprechende Fragen die Entscheidungserheblichkeit bestimmter Umstände geoffenbart - also die Initiative ergriffen-, so ist dem Arzt hinreichend Möglichkeit gegeben, dem Patienten dieses Abwägungsmaterial zu verschaffen und damit eigener Haftung zu entgehen. Nicht anders liegt es, wenn der Patient zwar keine entsprechenden Fragen gestellt hat, die Bedeutsamkeit bestimmer Fakten aber aus anderen Gründen 119 120 121 122
BVerfGE 52, 131, 171 (Sondervotum) (176). Vgl. BVerfGE 7, 377ff (405). Vgl. hierzu BVerfGE 35, 202 (2230. Vgl. hierzu oben 3.2.3.1.
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2. Teil, 1. Abschn.: mV-Test und Einwilligung
auf der Hand liegt und damit für den Arzt ex ante erkennbar ist. Letzteres ist hinsichtlich der Absicht zur Durchführung einer HIV-Diagnostik der Fall, da jedem Arzt die Ambivalenz derartiger Tests 123 bekannt ist. Die vom bürgerlichen Gesetzgeber in § 123 BGB getroffene Regelung ist demgegenüber gänzlich anders strukturiert. Hier löst jede Täuschung, unabhängig davon, in welcher Beziehung die vorgespiegelten Umstände zum Inhalt der Willenerklärung stehen,l24 das Anfechtungsrecht aus. Während im Falle der Einwilligungsrelevanz die Beschränkung der Aufklärungspflicht auf bestimmte Umstände als Korrektiv fungiert, nimmt diese Aufgabe im Rahmen des § 123 BGB ein subjektives Moment wahr. Ausgehend vom Wortlaut der Vorschrift wird nämlich eine besonders geartete innere Einstellung vorausgesetzt, die das Verhalten des Täuschenden als "arglistig" kennzeichnet 125. Die Auffassung Schmids, nur vorsätzliches Handeln des Arztes führe zu einer Erweiterung des Kreises beachtlicher Fehlvorstellungen, kann sich daher mangels vergleichbarer Interessenlage - weder auf die sinngemäße Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften über die Arglistanfechtung stützten, noch auf ein überwiegendes Schutzinteresse des Arztes. Zwischenergebnis:
Folgt man der h. M. und teilt die hier vertretene Auffassung in der Frage der Täuschung, so ist in all den Fällen, in denen der die Venenpunktion vornehmende Arzt vorsätzlich oder aufgrund Fahrlässigkeit die Unterrichtung des Patienten über die beabsichtigte HIV-Diagnostik des zu entnehmenden Blutes unterließ, die Einwilligung mit einem rechtserheblichen Mangel behaftet. 126 Das führt im einzelnen zu folgender - nach Fallgruppen zu differenzierenden - Lösung: - beabsichtigt der Arzt schon zur Zeit des Aufklärungsgesprächs die HIVDiagnostik und unterläßt gleichwohl dem Patienten gegenüber einen entsprechenden Hinweis, so ist die Einwilligung mit einem rechtserheblichen Mangel behaftet; - dasselbe gilt, wenn der Entschluß zur HIV-Diagnostik zwar nach Durchführung des Aufklärungsgesprächs, aber noch vor der Blutentnahme gefaßt wird; hier hätte es einer entsprechenden nachträglichen Erweiterung der Aufklärung bedurft; - wird der Entschluß zur HIV-Diagnostik erst nach Vornahme der Venenpunktion gefaßt, so ist weiter zu differenzieren: Vgl. Erster Teil, 6. Vgl. Soergel-Hefermehl§ 123 Rz. 4. 125 Soergel-Hefermehl a.a.O. Rz. 1. 126 Ob daraus die Unwirksamkeit der Einwilligung folgt, ist freilich noch nicht ausgemacht, sondern - je nach Standpunkt - u. U. noch von der weiteren Voraussetzung der Kausalität des Aufklärungsmangels für die Einwilligungserteilung abhängig (näheres hierzu vgl. unten 3.4.5). 123
124
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
81
war diese spätere Entscheidung zur HIV-Testung für den Arzt zur Zeit der Durchführung der Blutentnahme bei Beachtung der gebotenene Sorgfalt vorhersehbar, etwa weil der betreffende Patient erkennbar HIVspezifische Risikofaktoren aufwies, so ist die Einwilligung ebenfalls mit einem rechtserheblichen Mangel behaftet; war sie dagegen nicht vorhersehbar, so liegt eine Verletzung der Aufklärungspflicht und somit auch eine Täuschung nicht vor. 12? Damit müßten - abgesehen von der zuletzt genannten Fallgruppe, in der die unvollständige Aufklärung dem Arzt nicht als Pflichtverletzung angelastet werden kann - die Vertreter der h.M. durchweg zur Unwirksamkeit der Einwilligung in die Venenpunktion gelangen, wenn der Patient bei deren Erteilung nicht über die spätere HIV-Diagnostik informiert war. Im folgenden ist daher zu untersuchen, ob die auch bei täuschungs bedingter Fehlvorstellung nach deren Gegenstand differenzierenden Autoren zu anderen Ergebnissen gelangen würden. 3.4.4 Grenzziehung zwischen (vom Einwilligungsadressaten nicht zurechenbar veranlaßten) beachtlichen und unbeachtlichen FehlvorsteUungen
3.4.4.1 Abschichtung mit Hilfe der allgemeinen AbgrenzungsJormeln der Kommentarliteratur
Entsprechend den bereits eingangs zitierten Thesen von Schwalm unterscheidet auch die aktuelle Lehrbuch- und Kommentarliteratur - in Anlehnung an die zivilrechtlichen Regelungen des § 119 BGB128 - zwischen Erklärungs-, Inhalts- und Motivirrtum. Während letzterer überwiegend als unbeachtlich, d. h. die Wirksamkeit der Einwilligung nicht berührend,129 angesehen wird, soll ein Inhaltsirrtum zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen 130. Einwilligungsrelevanz wird überwiegend auch dem Erklärungsirrtum zugesprochen 131. Allerdings ist dies nicht unumstritten, wobei von den Gegnern dieser Auffassung mit dem Schutzbedürfnis des auf die irrig erklärte Einwilligung vertrauenden Täters argumentiert wird 132. 127 Damit ist allerdings noch kein abschließendes Urteil über die Wirksamkeit der Einwilligung gefallen, da auch ohne jegliche Täuschung von Seiten Dritter entstandene Fehlvorstellungen des Patienten zur Unwirksamkeit seiner Einwilligung führen können (hierzu sogl. 3.4.4). 128 Ausdrücklich für die Heranziehung der BGB-Vorschriften insoweit, als diese zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Fehlvorstellungen differenzieren, Schmid. S. 2602 (I. Sp.). 129 Anders Baumann § 21 Ir 4 b, der im Falle, daß der Motivirrtum "wie etwa in § 119 (2) BGB schon fast die Qualität eines Inhaltsirrtums erlangt", diesen als erheblich behandelt. 130 Sch.Sch.-Lenckner Rdn.46 vor § 32ff m. w. N.; Hirsch LK Rdn. 121 vor § 32; Jescheck LB § 34 IV.4. 131 Hirsch a.a.O., Lenckner a.a.O. m.w.N.
6 Pfeffer
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Trotz dieser scheinbar eindeutigen Grenzziehung bereitet die Einordnung des konkreten Falles Schwierigkeiten, die in eine zum Teil unübersichtliche Kasuistik einmünden. So wählt etwa Lenckner als übergeordnetes Differenzierungskriterium den Begriff der "rechtsgutsbezogenen Fehlvorstellung" für den Fall, daß der Einwilligende "Art, Umfang und Folge der fraglichen Rechtsgutsverletzung verkennt und sich deshalb über die Bedeutung und Tragweite der Einwilligung nicht im klaren ist" 133. Als zu dieser Gruppe gehörig betrachtet er "Fälle, die dem zivilrechtlichen Inhalts- und Erklärungsirrtum entsprechen", sowie unter anderem Fehlvorstellungen über den Wert der preisgegebenen Sache oder über Art und Zweck eines ärztlichen Eingriffs. 134 Nimmt man die sich aus § 119 Abs.1 BGB ergebenden zivilrechtlichen Anfechtungsvoraussetzungen als Maßstab für die Einwilligungsrelevanz von Fehlvorstellungen, so ergibt sich folgendes: In Betracht käme allenfalls ein Irrtum über den Erklärungsinhalt (§ 119 Abs. 1, 1. Alt. BGB). Dieser setzt voraus, daß die Erklärung inhaltlich eine andere Bedeutung hat, als ihr der Erklärende geben wollte. 135 Die Inkongruenz zwischen Erklärungsinhalt und Erklärungswillen entsteht dabei dadurch, daß die Willenserklärung im Rechtsverkehr einen anderen Sinn hat, als dies dem tatsächlichen Willen des Erklärenden entsprach. 136 Da nun aber Gegenstand der erforderlichen Einwilligung im Falle der HIV-Tests nicht dieser selbst, sondern die zum Zwecke der Durchführung der Blutentnahme erfolgende Venenpunktion ist, kann sich auch die Erklärung des Patienten nur aufletztere beziehen. Der objektive Sinngehalt seiner Erklärung besteht damit lediglich darin, mit der in der Venenpunktion liegenden Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einverstanden zu sein. Einen darüber hinausgehenden Erklärungsinhalt, etwa hinsichtlich der konsentierten nachfolgenden Blutdiagnostik, weist die Äußerung des Patienten nicht auf. Damit besteht Kongruenz zwischen Erklärungsinhalt und Erklärungswillen. Die mangelnde Kenntnis von der späteren HIV-Diagnostik läßt sich jedoch in den Fällen, in denen die Blutentnahme ausschließlich oder zumindest maßgeblich der Erhebung des HIV-Befunds dient, ohne weiteres als Fehlvorstellung über Art und Zweck des ärztlichen Eingriffs qualifizieren. Aber selbst wenn der Entschluß, das erlangte Serum auf HIV-Antikörper zu testen, erst nachträglich fällt, liegt ein Irrtum über den Zweck der Venenpunktion vor, da es nicht auf die Willensrichtung der den Eingriff vornehmenden Person ankommen kann als vielmehr auf den Sinn des Eingriffs selbst. Dieser ist jedoch untrennbar mit den - medizinischen wie auch sozialen - Implikationen des Eingriffs verknüpft. Auch die Unkenntnis möglicher gesellschaftlicher Konsequenzen des Eingriffs 132 133 134 135
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Arzt, Willensmänge\ S. 48 ff; Jescheck a. a. O. Sch.Sch.-Lenckner Rdnr. 46 vor § 32ff. Lenckner a.a.O. Soegel-Hefermehl § 119 Rz. 17. Soergel-Hefermehl a. a. O.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
83
führt dazu, daß der Betroffene sich über Bedeutung und Tragweite des Eingriffs nicht hinreichend im klaren ist. Dieses mit Hilfe der allgemeinen - und daher nicht sehr trennscharfen Abgrenzungsformeln der Kommentarliteratur gewonnene vorläufige Ergebnis bedarf der Kontrolle an Hand der von einzelnen Autoren entwickelten spezielleren Kriterien zur Abschichtung zwischen für den Bestand der Einwilligung beachtlichen und unbeachtlichen Fehlvorstellungen. 3.4.4.2 Abgrenzung nach Arzt
Entscheidende Bedeutung kommt im Arzt'schen Konzept dem Schutzzweck derjenigen Norm zu, deren Verletzung durch die Einwilligung legitimiert werden soll. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei, daß das Strafrecht "grundsätzlich bestimmte, als statisch gedachte Rechtsgüter schützt." 137 Im Gegensatz zum Bestand werde die Tauschfreiheit - die Dispositionsmöglichkeit - nur partiell, d. h. beschränkt auf bestimmte Rechtgüter und nur gegenüber bestimmten Angriffsweisen geschützt. Diese Vorschriften seien abschließend (im Sexualbereich: §§ 174ff StGB; im Vermögensbereich: § 223 StGB; hinsichtlich der Betätigungsfreiheit als solcher: § 240 StGB, wobei als Angriffsmittel nur Gewalt oder Drohung, nicht dagegen List zur Bestrafung führt). Die dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Beschränkung des Schutzes der Willensbetätigungsfreiheit würde unterlaufen, nähme man bei jedem Irrtum - auch bei demjenigen über die vom Täter für den Rechtsgutsverzicht zu erbringende Gegenleistung - die Unwirksamkeit der Einwilligung an. l38 Beachtlich seien daher allenfalls 139 rechtsgutsbezogene Irrtümer l4ü • Beziehe sich die Täuschung bzw. Fehlvorstellung nicht auf das Rechtsgut des Einwilligenden, sondern auf einen vom Rechtsgutsträger mit der Preisgabe des Rechtsguts verfolgten rechtsgutsJremden Zweck, etwa auf die vom Täter zu erbringende Gegenleistung, so sei die Einwilligung wirksam 141. Schwierigkeiten bereitet freilich die Anwendung des Kriteriums "rechtsgutbezogen". Wenig hilfreich ist hier auch die von Arzt gebrauchte Umschreibung, ein rechtsgutsbezogener Irrtum liege nur dann vor, wenn der Einwilligende sich nicht darüber im Klaren sei, was er aufwende (preisgebe). 142 Diese Schwierigkeit räumt auch Arzt ein, wenn er selbst daran zweifelt, inwieweit sich seine Arzt, Willensmängel, S. 17. Arzt a. a. O. S. 17 f. 139 Weitere Einschränkungen können sich nach Arzt im Hinblick auf den gebotenen Vertrauensschutz auf Seiten des Einwilligungsadressaten ergeben (a.a.O. S. 48ft), was aber für den vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben kann. 140 Arzt a. a. O. S. 29 f. 141 Arzt a.a.O. S. 18, 22f. 142 Arzt a.a.O. S.22f; kritisch zu dieser Abgrenzung auch Roxin, Noll-Ged.schr. 137
138
S.79fT. 6*
84
2. Teil, 1. Abschn.: HlV-Test und Einwilligung
Auffassung mit derjenigen deckt, die lediglich den Motivirrtum des Einwilligenden als unerheblich betrachtet. 143 Speziell zum Problem der Einwilligung in die Heilbehandlung meint Arzt, es könne von seinem Standpunkt aus "befriedigend gelöst werden"I44. Die Verletzung der Aufklärungspflicht korrespondiere mit einem rechtsgutsbezogenen Irrtum, weil die Risikoerwartung des Opfers auf fehlerhafter oder lückenhafter Information aufbaue. Damit wird klar, daß Arzt bei der letztgenannten Aussage allein den Spezialfall der fehlerhaften Risikoaufklärung im Auge hatte. Es ist zwar kein Grund ersichtlich, wieso der versäumte Hinweis auf geplante diagnostische Maßnahmen, deren Ergebnis soziale Risiken in sich birgt, anders zu behandeln sein sollte, als die unzureichende Aufklärung über die mit der Behandlung verbundenen medizinischen Gefahren. Da die These Arzts selber aber einer überzeugenden Begründung entbehrt, kommt man nicht umhin, das bisher unscharf gebliebene Differenzierungskriterium "Rechtsgutsbezogenheit" einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. 3.4.4.3 Weiterentwicklung des Arzt'schen Ansatzes Den Versuch einer Spezifizierung der Arzt'schen Formel unternimmt M.-K. Meyer 145 durch Bildung von Fallgruppen. Indes läßt sich die Unkenntnis der geplanten HIV-Diagnostik in die von Meyer entwickelte Kasuistik rechtsgutsbezogener Fehlvorstellungen nicht einordnen. Insbesondere scheitert auch eine Qualifizierung als "Irrtum über den sachlich-gegenständlichen Umfang der Rechtsgutsverletzung"l46 daran, daß die - strafrechtlich relevante - Verletzungshandlung allein in der Vornahme der Venenpunktion, nicht aber etwa in der nachfolgenden Austestung des Probandenserums zu sehen ist. Nach der Terminologie von M eyer kann es sich demnach nur um einen "Irrtum über 'Motiv' der Freigabe ... "147 handeln, der zwar nicht schlechthin, aber doch unter bestimmten Umständen - unabhängig von der Art seines Zustandekommens, also entgegen der h.M. auch ohne Täuschung durch den Täter l48 - beachtlich sein soll. Ausgangspunkt der Beschränkung auf bestimmt geartete Motivirrtümer ist die Überlegung, die autonome Entscheidung des Rechtsgutsinhabers beziehe sich nur "auf die der Sache selbst von Hause aus innewohnenden Verwendungsmöglichkeiten bzw. auf das vom Rechtsgutsinhaber konkretisierte Nutzungsverhältnis"149. Keine Verletzung der Autonomie des Rechtsgutsinha143 Vgl. Roxin a.a.O. S.29. 144 A.a.O. S.47 Anm. 75. 145 S. 167ff, 204ff. 146
Meyer, S. 170, 204.
147 Meyer a.a.O. S. 174ff, 205ff. 148 149
Meyer a.a.O. S.175. Meyer, S. 175.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
85
bers liege daher vor, wenn als Folge des konsentierten Eingriffs die dem Rechtsgutsträger selbst eröffnete Verwendungsmöglichkeit seinem Willen entsprechend realisiert werde. Die Einwilligung sei daher "immer schon dann, aber auch nur dann beachtlich, wenn der Einwilligende jedenfalls erkennt, daß der ,Täter' von einer bestimmten, der Sache innewohnenden Verwendungsmöglichkeit Gebrauch machen wird."lso Beurteilt der Einwilligende die Situation insoweit zutreffend und liegt nur eine Fehlvorstellung im Bereich der Motivation für die Rechtsgutspreisgabe vor, so soll dieser Motivirrtum grundsätzlich unbeachtlich sein, es sei denn, daß "der Beweggrund von der verletzten Norm selbst erfaßt ist"lsl. Speziell im Falle der Einwilligung in eine mit einer Körperverletzung verbundene ärztliche Behandlung vertritt Meyer die Auffassung, ein Irrtum des Einwilligenden über das Motiv des Täters sei etwa dann beachtlich, wenn jener glaube mit einem bewährten Arzneimittel behandelt zu werden, während er tatsächlich nur zu einem Versuch über die Wirkungen eines neuartigen Präparats benutzt werde 152 . Das Opfer befinde sich hier nicht nur in einem Motivirrtum, sondern in einem rechtsgutsbezogenen Irrtum, weil nur die Kenntnis des sich aus dem Zweck der Maßnahme ergebenden Risikos eine sachgerechte Entscheidung ermögliche. An einer autonomen rechtsgutsbezogenen Entscheidung fehle es i.ü. stets dann, wenn - wie in den Fällen heimlicher Versuche am Menschen - ein Verstoß gegen Art. 1 GG anzunehmen ist. ls3 Im Anschluß an Meyer betont auch Küper l54 , daß zwar bei jeder irrtums bedingten Einwilligung die Autonomie als solche beeinträchtigt sei; dieser Autonomiemangel sei als Grund für die Unwirksamkeit der Einwilligung nur insoweit relevant, als seine Anerkennung die spezifische Güterschutzintention des jeweiligen Tatbestandes nicht verfälsche. Delikte mit beschränktem Normzweck dürften nicht entgegen ihrer besonderen Schutzrichtung zu unspezifisch allgemeinen Delikten gegen die Autonomie umfunktioniert werden. Im Falle der heimlichen Experimente sieht Küper den entscheidenden Aspekt für die Rechtsgutsbezogenheit des Irrtums darin, daß hierbei "mit den Funktionen des eigenen Körpers dessen Integrität so zentral betroffen (ist), daß auch der Körper selbst gegenüber derartigen Manipulationen Schutz verdient" lSS • Ähnlich äußert sich Kientzy lS6, der die Einwilligungsmotivation nur insoweit geschützt wissen will, als sie sich auf die Nachteile bezieht, die gerade durch den Rechtsgutsverzicht auftreten können. Dagegen seien Motive "da unbeachtlich, wo sie Erwägungen betreffen, die schon gar nicht zu denjenigen gehören können, die nach dem Gesamtbild des Tatbestandes beachtenswert erscheinen. 150 151 152 153 154
155 156
Meyer, S. 177. Meyer, S. 178 im Ansehl. an Kientzy, S. 107. Meyer, S. 205. Meyer, S.206. S. 219 ff, 226. Küper, S. 227. S.106f.
86
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
Maßgeblich ist demnach der im Tatbestand zum Ausdruck kommende Schutzzweck, wobei es der Differenzierung bedarf zwischen den für den Bestand des Rechtsguts selbst wesentlichen Motivationen und den sonstigen die Einwilligung tragenden, vom Gesetz aber nicht geschützten und daher unbeachtlichen Motivationen. 157 Die Thesen der zuletzt genannten Autoren weisen auch den Weg zur Beantwortung der in unserem Zusammenhang interessierenden Frage: Ob die Fehlvorstellung bzw. mangelnde Vorstellung des Patienten, dessen Blut heimlich auf HIV getestet wurde, im Hinblick auf seine Einwilligung in die Venenpunktion relevant ist oder nicht, hängt vom Schutzzweck - von der "Güterschutzintention" - des § 223 StGB ab. Die Antwort fällt leicht, wenn man als Rechtsgut der Körperverletzungstatbestände neben der körperlichen Unversehrtheit auch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Rechtsgut der Körperverletzungstatbestände begreift. 158 Denn nicht nur die eigenmächtige Entnahme des Blutes impliziert eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts, sondern auch die Verwendung des entnommenen Körpersubstrats zu nicht konsentierten Zwecken. Die h. M. lehnt aber diese zweispurige Lösung 159 ausdrücklich ab und faßt als Rechtsgut der §§ 223 ff StGB allein den menschlichen Körper auf. 160 Von diesem Rechtsgutsverständnis her erscheint es fraglich, ob die mangelnde Kenntnis von der HIV-Diagnostik einwilligungsrelevant ist. Eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts ist nicht notwendig verbunden mit einem - dem Einwilligenden verborgenen - Eingriff in dessen Verfügungsbefugnis über seinen Körper. Bleibt dem Patienten aber verborgen, daß der i.S.d. § 223 StGB tatbestandsmäßige Eingriff - die Venenpunktion - zumindest auch der Ermöglichung einer HIV-Diagnostik dient, so irrt er jedenfalls in zwei Fallkonstellationen über die soziale Bedeutung des von ihm konsentierten Geschehens: - der spätere HIV-Test ist durch das Bestreben, statistisch verwertbare Daten zu gewinnen (allgemeines Screening) motiviert - der HIV-Befund soll Klarheit über das für den Arzt und sein Personal vom konkreten Patienten ausgehende Ansteckungsrisiko bringen. Im ersten Fall wird der Patient quasi in den Dienst der Wissensgemeinschaft gestellt, im zweiten Fall auf das von ihm ausgehende Gefahrenpotential hin einer Überprüfung im Schutzinteresse Dritter unterstellt, während er selber bei . Erteilung der Einwilligung lediglich eine seinem eigenen Gesundheitsinteresse entsprechende Maßnahme vor Augen hatte. Weniger eindeutig tritt die Divergenz zwischen tatsächlicher und perzipierter Bedeutung des Eingriffs zutage, wenn die - nicht angekündigte - HIVKientzy, S. 109. So ausdr. Horn in SK § 223 Rz. 35. 159 Vgl. Horn a.a.O. 160 Vgl. Hirsch LK Rdn. 1 vor § 223; zum Streit um den somatologischen Krankheitsbegriff vgl. Sch.Sch.-Eser § 223 Rdn. 1. 157
158
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
87
Diagnostik (zumindest auch) im vermeintlichen Interesse des Patienten selbst erfolgte. Hier ist aber der ambivalente Charakter und die fehlende therapeutische Notwendigkeit dieser Diagnostik zu berücksichtigen, die den Patienten zur Einbeziehung der verschiedensten, individuell zu gewichtenden Faktoren bei der Entscheidung über die Testteilnahme veranlassen würde, wäre er diesbezüglich befragt worden. Die möglichen Konsequenzen einer HIV-Diagnostik und die hieraus resultierende besondere Struktur der Entscheidungssituation des über den HIV-Test informierten Patienten heben sich so deutlich von der vom - nicht aufgeklärten - Patienten tatsächlich erlebten und jedenfalls nicht in dieser Weise als problematisch empfundenen Situation ab, daß auch hier von einer Divergenz zwischen tatsächlicher und perzipierter Bedeutung auszugehen ist. Eine derartige Fehlvorstellung über die Bedeutung des Eingriffs kann aber nicht anders behandelt werden als die mangelnde Einsicht in die Bedeutung des Rechtsguts, der ausdrücklich Einwilligungs-Relevanz beigemessen wird 161. Bleibt dem Opfer der Lebenszusammenhang verborgen, durch den die Funktion der tatbestandsmäßigen Handlung - hier also des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit durch die Venenpunktion - im Gesamtgeschehen bestimmt wird, so impliziert dies auch einen Eingriff in die durch § 223 StGB geschützte Dispositionsfreiheit hinsichtlich der körperlichen Integrität. Dies deshalb, weil der soziale Kontext von der Verfügungsfreiheit über die Rechtsgüter nicht abtrennbar ist 162. Enthalten die strafrechtlichen Tatbestände die Gewährleistung gerade sozial sinnvollen Handeins, nicht lediglich isolierte und naturalistisch aus dem Handlungszusammenhang herauspräparierte Bewegungsabläufe l63 , so ist es nur folgerichtig, eine im Hinblick auf die Wirksamkeit der Einwilligung beachtliche Fehlvorstellung dann anzunehmen, wenn dem Einwilligenden zwar nicht die natürliche, wohl aber die soziale Bedeutung des Geschehens, dem er zustimmt, verborgen bleibt. 164 Enger verstehen Brandts/Schlehofer 165 das Kriterium der "Rechtsgutsbezogenheit". Zwar plädieren auch sie dafür, den Rechtsgutsbegriff über das jeweilige von den einzelnen Tatbeständen umschriebene Angriffsobjekt hinaus auszudehnen und insbesondere die Dispositionsfreiheit "in gewissem Umfang in die Rechtsgutsdefinition ein(zu)beziehen .. "166. In dem Bestreben, einen totalen Schutz des Rechts zur Verfügung über das Angriffsobjekt zu vermeiden, hält Vgl. Arzt, Willensmängel, S. 19f. Bloy, S. 718. 163 Bloy a. a. O. 164 Ebenso Bloy (a. a. 0.) für den Fall einer auf Täuschung beruhenden Verkennung des sozialen Kontexts; soweit ersichtlich lehnt Bloy aber eine differenzierte Behandlung von Fehlvorstellungen je nach Entstehungsgrund gerade ab, so daß die Beschränkung der Aussage auf den Fall der Täuschung wohl nur Folge der thematischen Begrenzung der Abhandlung ist. 16S S.446f. 166 Brandts/Schlehofer, S.446. 161
162
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2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
sich diese Erweiterung jedoch in engen Grenzen: Die Verfügungsfreiheit sei nur insoweit zum Tatbestand zu ziehen, als es um die Disposition über die Integrität des Angriffsobjektes geht. Rechtsgut sei damit das Interesse an dessen - des Angriffsobjekts - unversehrter Erhaltung, das nur dann nicht autonom preisgegeben werde, wenn Nötigungsdruck oder ihm vergleichbarer Zwang die Einwilligung hervorbringe. 167 Rechtsgutsbezogene Willensmängel lägen entsprechend nur dann vor, wenn sie das Opfer die konkrete Integritätsbeeinträchtigung verkennen ließen oder unter sozialinadäquaten Entscheidungsdruck setzten 168. Angewendet auf den vorliegenden Zusammenhang müßte diese Grenzziehung an sich zur Verneinung der Rechtsgutsbezogenheit des über die HIVDiagnostik nicht unterrichteten Patienten führen, da er ja das Maß der Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit - des Angriffsobjektes kennt. Andererseits sprechen die Autoren beiläufig auch den Fall der Bedeutungsunkenntnis an und stellen ihn auf eine Stufe mit dem rechtsgutsbezogenen Irrtum: "Wer die Bedeutung des Rechtsguts oder seiner Beeinträchtigung nicht kennt, weiß ebensowenig wie der rechtsgutsbezogen Irrende, was er aufgibt."169 Es bleibt unklar, ob sich die Autoren damit in Widerspruch zu ihren eigenen zuvor entwickelten, allzu eng erscheinenden Kriterien setzen, oder ob sie - wenig überzeugend - die unzureichende Bedeutungskenntnis als Unterfall der fehlenden Einsichts- und Urteilsfähigkeit behandelt wissen wollen. Letztlich kann dies aber in unserem Zusammenhang dahinstehen, da sich im Ergebnis kein Unterschied zu der hier entwickelten Lösung ergibt: Ist der Patient im Zeitpunkt der Einwilligungserteilung über die spätere HIV-Diagnostik des ihm zu entnehmenden Blutes nicht informiert, so müßten auch Brandts/Schlehofer im Hinblick auf den - wie auch immer einzuordnendenFall der "Bedeutungsunkenntnis" zur Unwirksamkeit der Einwilligung gelangen. 3.4.4.4 Abgrenzung nach Roxin Kritik an der Arzt'schen Differenzierung, der jedenfalls nicht die ihr von Arzt beigemessene prinzipielle Bedeutung für die Wirksamkeit der Einwilligung zukomme, übt Roxin 170 • Roxin wendet sich insbesondere gegen die These von der grundsätzlichen Unbeachtlichkeit nicht rechtsgutsbezogener Täuschungen. Stattdessen bedürfe es der Bildung charakteristischer Fallgruppen als Ausgangspunkt einer "am Autonomiegedanken orientierten, normativen Differenzierung" zwischen Täuschungen, die "eine selbstbestimmte Entscheidung des 167
168 169 170
Brandts/Schlehofer, S. 447. Brandts/ Schlehofer a. a. o. Brandts/Schlehofer, S.447 (1. Sp. a. E.). Noll-Ged.schr., S. 281 ff.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
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Rechtsgutsträgers ausschließen" und solchen "die nach rechtlichen Maßstäben eine freie Verfügung des Einwilligenden bestehen lassen"17l. Von den fünf von Roxin vorgeschlagenen Fallgruppen interessiert im vorliegenden Zusammenhang ledigich die fünfte. Hier erfaßt Roxin die Täuschung hinsichtlich sonstiger - d. h. weder das Rechtsgut selbst noch den Zweck des Eingriffs betreffender - motivationsrelevanter Begleitumstände des Geschehens 172 • Die strafrechtliche Relevanz des Irrtums soll in diesen Fällen von einem normativen Maßstab, nicht vom willkürlichen Belieben - d. h. vom hypothetischen Willen - des Getäuschten abhängen. Führe die Fehlvorstellung dazu, daß die Einwilligung nicht mehr Ausdruck der Handlungsfreiheit des Einwilligenden ist, so sei sie unwirksam. Dagegen seien diejenigen Irrtümer im Hinblick auf die Wirksamkeit der Einwilligung unbeachtlich, "die für die Entschlußfassung irgendeines vernünftigen Patienten ohne Bedeutung sind "173. Legt man diesen normativen Maßstab zugrunde, so kann man unschwer die strafrechtliche Relevanz der Fehlvorstellung über das Ausbleiben einer HIVDiagnostik bejahen. Denn im Hinblick auf die möglichen nachteiligen Auswirkungen der Feststellung eines positiven HIV-Befundes erscheint es im wahrsten Sinne des Wortes be-denklich, ob man sich dem Test unterzieht oder nicht. Auch und gerade für einen "vernünftigen Patienten" ist es daher bei der Entscheidung über die Einwilligung in die Venenpunktion von Bedeutung zu wissen, ob mit dem entnommenen Blut die HIV-Diagnostik durchgeführt wird oder nicht. 3.4.4.5 Der Aspekt der mangelnden zeitlichen Flexibilität des Strafrechts (Kühne) als Einwand gegen die bisher gefundene Lösung? Kühne geht in seiner Untersuchung über die Auswirkungen von Fehlvorstellungen bei Einwilligungserteilung zunächst der Frage nach, inwieweit die zivilrechtlichen Regelungen für Willensmängel ins Strafrecht zu übertragen und die §§ 119 ff BG B bei der Einwilligung entsprechend anzuwenden sind 174. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, daß im Hinblick auf grundlegende Zwecksetzungen im Strafrecht die §§ 119ff BGB "zumindest prinzipiell inkompatibel sind"175. Als entscheidenden Aspekt arbeitet er dabei den unterschiedlichen zeitlichen Bezugspunkt von Strafrecht und zivilrechtlichen Anfechtungsregeln heraus. So könne im Zivilrecht eine mit Willensmängeln behaftete Willenserklärung mit Wirkung ex tune noch Jahre nach ihrer Abgabe aufgrund Anfechtung unwirksam werden. Der Tatbestand der Abgabe einer Willenserklärung sei daher nicht endgültiger Gegenstand einer rechtlichen Beurteilung, sondern Ausgangspunkt für eine in die Zukunft gerichtete rechtliche Entwicklung. 171 172 173
174 175
Roxin a.a.O. S. 28t. Roxin a.a.O. S. 282f. Roxin a. a. O. S. 289. S.242. Kühne, S. 243.
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
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Demgegenüber sei das Strafrecht ohne zeitliche Flexibilität. Gegenstand eines Schuldvorwurfs könne nur ein Verhalten sein, das subjektiv und objektiv zum Zeitpunkt seiner Vornahme dem Tatbestand eines Strafgesetzes entsprach, so daß insbesondere der Beschuldigte zur Tatzeit erkennen konnte, ein Unrecht zu begehen. Wegen der verfassungsrechtlichen Vorgabe in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz - die Strafbarkeit muß gesetzlich vor Begehung der Tat bestimmt sein könne die Bewertung des Handeins als strafbar oder nicht strafbar nicht von einer nach der Tat zu treffenden Entscheidung eines Dritten abhängen 176. Dieser Gesichtspunkt könnte der hier vorgeschlagenen Lösung insbesondere für die Fallgruppe "Entschluß zur HIV-Diagnostik erst nach Vornahme der Venenpunktion" entgegenstehen. Die Umstände, die zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen, treten hier nämlich - so könnte man argumentierenerst nach Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung i. S.d. § 223 StGB ein. Nach dem Konzept von Kühne, das auf der Differenzierung zwischen Inhaltsund Erklärungsirrtum 177 einerseits und Motivirrtum 178 andererseits beruht, wäre ebenfalls von letztgenanntem Typ von Fehlvorstellung auszugehen. Einen Inhalts- oder Erklärungsirrtum nimmt auch Kühne nur entsprechend den im Zivilrecht zu § 119 BGB entwickelten Voraussetzungen an, die vorliegend nicht erfüllt sind 179. Von einem Motivirrtum geht Kühne dann aus, wenn der Einwilligende den Rechtsgutsverzicht aus inneren Gründen heraus erteilt, die auf einer Fehleinschätzung der Situation beruhen. Erfaßt werden also Fehler bei der Willensbildung, auf der dem aktuellen Willen vorgelagerten Bewußtseinsebene also, die aus der fehlerhaften bzw. unvollständigen Wahrnehmung der Realität resultieren l80 . Bei einer derartigen Divergenz zwischen aktuell gebildetem und hypothetischen Willen des Einwilligenden unterscheidet Kühne weiter danach, ob die den Gegenstand der Fehlvorstellung bildenden motivierenden Aspekte in der Gegenwart liegen (gegenwartsbezogene Einwilligungsmotivation) oder ob sie erst in der Zukunft eintreten sollen (zukunftsbezogene Einwilligungsmotivation). 181 Im vorliegenden Zusammenhang wäre der Irrtum dem Bereich der zukunftsbezogenen Einwilligungsmotivation zuzuordnen. Die Fehlvorstellung hinsichtlich des Unterbleibens einer HIV-Diagnostik gründet sich nämlich aufUmstände, die der Tat, auf die sich die Einwilligung bezieht - die Venenpunktion - , zeitlich nachfolgen. 176
177 178
179 180
181
Kühne a. a. 0.; so auch schon Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 130. Kühne, S. 243. Kühne, S. 245f. Vgl. oben 3.4.4.1. Kühne, S. 245. Kühne a. a. O.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
91
Kühne gelangt hier zur Wirksamkeit der Einwilligung, und zwar auch dann, wenn der aktuelle Wille durch Täuschung hervorgerufen wurde. Dies deshalb, weil die zeitliche Fixierung des Strafrechts es verbiete, in die Tathandlung eine neue Zeiteinheit miteinzubeziehen. Der an späteren, zur Zeit der aktuellen Einwilligung noch nicht realen Fakten orientierte hypothetische Wille sei irrelevant. 182
Ausdrücklich gegen die von Kühne vorgeschlagene Beschränkung der strafrechtlichen Relevanz auf gegenwartsbezogene Irrtümer wendet sich Roxin 183, da dadurch Täuschungen über das künftige Verhalten des Täters in "sachwidriger Weise" 184 von der Strafbarkeit wieder ausgenommen würden. Abgesehen von diesem reinen Strafwürdigkeitsargument erscheint aber die postulierte Begrenzung auch aus anderen Gründen als wenig überzeugend: Im Hinblick auf die an Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz orientierten Ausgangsüberlegungen Kühnes ist die Fallgruppenbildung zuwenig differenziert. Denn soll lediglich verhindert werden, daß die Bewertung des HandeIns als strafbar oder nicht strafbar von einer nach der Tat zu treffenden Entscheidung eines Dritten abhängt, so hätte die "zukunftsbezogene Einwilligungsmotivation" entsprechend spezifiziert werden müssen: Nimmt der die Venenpunktion durchführende Arzt die - zunächst nicht beabsichtigte - Venenpunktion später selbst vor oder veranlaßt er sie zumindest, so hat es er selbst und nicht etwa ein Dritter in der Hand, ob über sein früheres Verhalten das Verdikt der Strafbarkeit zu fallen ist. In den Fällen einer Fehlvorstellung über zukünftiges eigenes Tun, das erst nachträglich die Strafbarkeit einer früher begangenen Rechtsgutsverletzung begründet, entfällt somit ohne weiteres der Einwand aus Art. 103 Abs.2 Grundgesetz. Aber auch in den anderen Fällen - Venenpunktion und Blutdiagnostik werden von unabhängig voneinander agierenden verschiedenen Personen vorgenommen - käme es nicht zu einer Kollision mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Ein Schuldvorwurf kann nämlich dem Arzt nur gemacht werden, wenn er zum Zeitpunkt der Venenpunktion bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorhersehen konnte, daß später die HIV-Diagnostik durchgeführt werden würde. War dies dagegen für ihn nicht absehbar, so befand er sich zur Zeit der Tat in einem nicht vermeidbaren Irrtum über die tatbestandlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes, nämlich über diejenigen Fakten, von denen die Wirksamkeit der Einwilligung in die Venenpunktion abhängt. Damit ist aber sowohl eine Bestrafung wegen vorsätzlicher wie auch wegen fahrlässiger Körperverletzung ausgeschlossen 185. Durch das Korrektiv der Fahrlässigkeit ist insbesondere dem aus Art. 1 Abs. 1 182
183 184 18S
Kühne a.a.O. Noll-Ged.schr., S. 292. Roxin a.a.O. Vgl. hierzu oben 3.4.3.2.
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
92
GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Schuldgrundsatz 186 Genüge getan. Von der strafrechtlichen Bedeutsamkeit von Umständen, die einer tatbestandsmäßigen Handlung zeitlich nachfolgen, geht im übrigen auch der einfache Gesetzgeber aus, wie die Existenz der sogenannten erfolgsqualifizierten Delikte 187 dokumeniert. Deren Verfassungsmäßigkeit in ihrer jetzigen 188 durch § 18 StGB an das Kriterium der Vorhersehbarkeit gekoppelten Ausgestaltung wird aber kaum mehr grundsätzlich 189 in Frage gestellt. 3.4.5 Kausalität der FehlvorsteUung als zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzung?
Steht die strafrechtliche Relevanz eines Willensmangels bei Erteilung Einwilligung fest, so ist damit noch nicht notwendig das Verdikt über Strafbarkeit des diagnostischen Eingriffs gefallen. Es stellt sich vielmehr weitere Frage, ob zwischen dieser Fehlvorstellung und der Erteilung Einwilligung eine bestimmte Kausalbeziehung bestehen muß.
der die die der
Hirsch und Weissauer l90 vertreten die Auffassung, dem gegenüber der zivilrechtlichen Haftung zulässigen Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens komme auch bei der strafrechtlichen Beurteilung eines Eingriffs ohne wirksame Einwilligung Bedeutung zu. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung setze den Rechtswidrigkeitszusammenhang voraus, der entfalle, wenn die Verletzung auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Im Strafverfahren müsse also die Kausalität des Aufklärungsmangels für die Einwilligung zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Ernsthafte Zweifel, ob der Patient nicht auch bei ausreichender Aufklärung die gleiche Entscheidung getroffen hätte, müßten nach dem Grundsatz in dubio pro reo zum Freispruch des Arztes führen. 191
Umstritten ist allerdings, ob neben der Feststellung der Kausalität zusätzlich ein normatives Moment für die strafrechtliche Zurechnung zu fordern ist. So verlangt Geilen 192 - entsprechend der zivilrechtlichen Regelung des § 119 BG B - ausdrücklich die kausale Relevanz des Irrtums. Diese sei nur dann zu bejahen, wenn sich der" vernünftige" Patient auch im Ergebnis abweichend von der medizinischen Indikation entschieden hätte, daß also die objektive Sachlage einen gewissen Spielraum auch innerhalb "verständiger" Willensbildung offenVgl. BVerfGE 20, 323ff (331). Vgl. hierzu Sch.Sch.-Cramer § 18 Rdn. 2. 188 Zur Rechtslage vor der Novelle vom 04.08.1953 vgl. M./Zipf AT-1 § 35 Rdn. 18. 189 Zu Einwänden im Hinblick auf den Strafrahmen der erfolgsqualifizierten Delikte vgl. Zipfa.a.O. 190 S.44. 191 Hirsch/ Weissauer a. a. O. 192 Einwilligung, S. 112. 186 187
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
93
ließ. Da die medizinische Indikation als solche schon den Eingriff als" vernünftig" ausweise, müsse sich die Relevanz der Aufklärungspflichtverletzung einengen, d. h. beschränken auf Fälle eines medizinisch inkommensurablen 193 verständiger Willensbildung auch außerhalb der medizinischen Indikation noch Raum lassenden Risikos. Diese Auffassung verkennt aber eindeutig den Stellenwert des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Demgegenüber hat die Judikatur zu Recht betont, die objektive Gebotenheit des Eingriffs erlaube nicht etwa schon den Schluß auf das Fehlen der Kausalität, da damit die Entscheidungsfreiheit des Patienten unterlaufen würde l94 . Insbesondere sei es unzulässig, den "verständigen Patienten" zum Maßstab zu nehmen und dessen hypothetische Entscheidung als diejenige des konkreten Patienten zu unterstellen. Denn dadurch würde dessen Freiheit, "sich eben anders, vielleicht nach Meinung anderer gar unvernünftig zu entscheiden, rechtswidrig unterlaufen" 195. Damit bleibt festzuhalten: Die ohne wirksame Einwilligung des Patienten vorgenommene Venenpunktion führt nur dann zur Bestrafung des Arztes wegen (fahrlässiger) Körperverletzung, wenn der Patient bei Ol"dnungsgemäßer Aufklärung die Einwilligung verweigert hätte. 3.4.6 Wechsel des Anknüpfungspunktes für die strafrechtliche Zurechnung
Sofern man die hier vertretene Auffassung, die Einwilligung des nicht über die HIV-Diagnostik informierten Patienten sei stets unwirksam, nicht teilt, so folgt daraus noch nicht notwendig die Straflosigkeit der Venenpunktion. 3.4.6.1 Vorsätzliche Aujklärungsverkürzung
Nach Jakobs 196 kann sich in den Fällen, in denen mangels Rechtsgutsbezogenheit des Irrtums dieser die Wirksamkeit der Einwilligung unberührt läßt, die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach den Regeln der mittelbaren Täterschaft ergeben. Die Zurechnung knüpft hier an die Erzeugung oder Ausnutzung der wirksamen Einwilligung an, wobei der Einwilligende als Werkzeug anzusehen ist, der den Einwilligungsdefekt beherrschende als mittelbarer Täter. Dieser kann mit dem per Einwilligung tatbestandslos Eingreifenden identisch sein, muß dies aber nicht. Im Falle der Identität kann ihm zwar die Körperverletzung nicht 193 Gemeint sind Fälle eines rational nicht aufzulösenden Entscheidungsspielraums (etwa bei zwar medizinisch indizierten, aber nicht absolut notwendigen Eingriffen, die mit im höchstpersönlichen Sinne stark belastenden Risiken behaftet sind). 194 BGH NJW 80, 2751 (2753). 195 BGH NJW 80, 1333 (1334) m. w. N. 196 AT 7/123, 14/8, 21/88 ff.
94
2. Teil, 1. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
als unmittelbarem Täter zugerechnet werden, da er ja durch die wirksame Einwilligung gerechtfertigt ist, wohl aber als mittelbarem Täter. 197 Jedoch führt nach Jakobs nicht jede nicht rechtsgutsbezogene Täuschung in dieser Weise zur mittelbaren Täterschaft. Voraussetzung sei vielmehr, daß eine Situation vorgespiegelt wird, in der ein Handlungsanlaß besteht. Dies sei nur dann anzunehmen, wenn sich die Disposition über das Rechtsgut als Umschichtung von Gütern "im Rahmen des Vernünftigen"198 darstelle, wenn die dem Rechtsgutsverzicht zugrundeliegende Werthierarchie des Einwilligenden "überhaupt plausibel"l99 sei. Zu denken sei hier insbesondere an die Vorspiegelung von Notsituationen, in denen sich der Einwilligende durch notstandsähnliches Handeln im Wege der Preisgabe des Guts zu befreien suche 200 • Der Täuschende haftet also nach dem Konzept von Jakobs nicht wegen Unwirksamkeit des Rechtsgutsverzichts, sondern nur deswegen und insoweit als er die Situation, in der die Preisgabe des Rechtsguts vernünftig ist, zurechenbar erzeugt hat. Es handle sich hier um einen Fall der mittelbaren Täterschaft durch ein quasi-gerechtfertigt handelndes Werkzeug 20l • Ausgehend vom Vernünftigkeitskriterium wird sich die strafrechtliche Haftung des Arztes, der bewußt den Hinweis auf die HIV-Diagnostik unterläßt, als mittelbarer Täter einer Körperverletzung in aller Regel bejahen lassen. Denn wenn der Arzt eine Venenpunktion zum Zwecke der Blutdiagnostik vorschlägt, so hat dies - bleibt die hinsichtlich ihrer Konsequenzen ambivalente HIVDiagnostik ausgeblendet - wohl stets die Vermutung der (medizinischen) Vernünftigkeit dieses Eingriffs für sich. 3.4.6.2 Fahrlässige Aujklärungsverkürzung
Ebenso wie im vorstehend erörterten Fall der vorsätzlichen Aufklärungsverkürzung ist auch hier daran zu denken, die strafrechtliche Haftung an ein dem im Sinne des § 223 StGB tatbestandsmäßigen Handeln vorgelagertes schuldhaftes Verhalten des Arztes anzuknüpfen. Eine derartige Verlagerung des Anknüpfungspunktes der strafrechtlichen Zurechnung wird im allgemeinen für unbedenklich angesehen. So weist Cramer 202 , ausdrücklich darauf hin, daß das die Fahrlässigkeit begründende Verhalten häufig nicht dasjenige sei, das den schädigenden Erfolg unmittelbar ausgelöst habe. Vielmehr sei häufig ein früheres Fehlverhalten für den Erfolg relevant. Als instruktives Beispiel aus der Rechtsprechung nennt er die 197 198 199
200 201 202
Jakobs AT, 7/118, 14/8. Jakobs AT 7/121, 14/8. Jakobs AT 21/89. Jakobs AT 7/121,14/8. Jakobs AT 7/123, 14/8,21/88. In: Sch.Sch. § 15 Rdn. 169, Fallbeispiel nach BGH VRS 32, 309.
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
95
Verursachung eines Verkehrsunfalles durch schadhafte Bremsen. Der Pflichtverstoß des Kraftfahrers liege - auch bei Unvermeidbarkeit des Unfalles im Unfallzeitpunkt selbst - jedenfalls darin, daß er vor Übernahme des KFZ den Zustand der Bremsen nicht hinreichend geprüft habe. Entsprechend dieser sogenannten Vorverlagerungsthese wird auch in der . Rechtsprechung verfahren. So wird im Zusammenhang mit Fällen, in denen der Nothelfer die Notstandslage verschuldet hat, zwar für die im Notstand vorgenommene Handlung der Rückgriff auf den entsprechenden Rechtfertigungsgrund zugelassen. Gleichzeitig wird aber betont, eine strafrechtliche Haftung könne "nach allgemeinen Grundsätzen ... schon an die schuldhafte Herbeiführung der Notstandslage und damit an ein Täterverhalten anknüpfen, das der gerechtfertigten Handlung zeitlich vorausgeht"203. Dies habe die Bestrafung wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tat zur Folge, je nachdem, ob der Täter im Hinblick auf die spätere Tatbestandsverwirklichung vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt habe. Habe der Täter fahrlässig die Notstandssituation heraufbeschworen, die ihn zur vorsätzlichen Verletzung eines anderen Rechtsguts zwinge, so könne er - sofern ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert - jedenfalls wegen fahrlässiger Tat bestraft werden 204 . Als dogmatische Begründung für diesen Wechsel des Anknüpfungspunktes der strafrechtlichen Zurechnung wird die Figur der actio illicita in causa, "eine Parallelkonstruktion zu der actio libera in causa im Bereich der Rechtswidrigkeit"205, angesehen. 206 Die Tragfähigkeit dieser Konstruktion ist zwar in Literatur und Rechtsprechung vor allem im Anwendungsbereich des § 32 StGB noch umstritten 207 . Im Bereich der reinen Erfolgsdelikte, zu denen die hier allein interessierenden Körperverletzungstatbestände gehören, dürfte die Figur der actio illicita in causa jedoch überwiegend anerkannt werden. 208 Nun steht zwar bei den traditionellen Beispielen für die Rechtsfigur der actio illicita in causa jeweils bereits im Zeitpunkt der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung deren Strafbarkeit qua Vorverlagerung auf das die Rechtfertigungssituation herbeiführende Verhalten fest, während im vorliegenden Zusammenhang das Verdikt der Strafbarkeit erst nachträglich gefällt werden kann, wenn nämlich das entnommene Blut der HIV-Diagnostik unterzogen wird. Dieser strukturelle Unterschied - das Hinzutreten einer weiteren an sich tatbestandsneutralen Handlung des Täters zur Begründung der Strafbarkeit führt jedoch m.E. lediglich zu der Frage, ob nicht das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot eine Bestrafung des Arztes verbietet, die aber aus den 203 204 20S 206
207 208
BayObLG JR 79, 124f. BayObLG a.a.O., S. 125. Lenckner. Der rechtfertigende Notstand, S. 105. Dencker. S. 782 m. w. N. Krit. v.a. Hruschka. Anmerkung, S. 127. Vgl. Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 23 vor § 32ff.
96
2. Teil, l. Abschn.: HIV-Test und Einwilligung
bereits genannten 209 Gründen zu verneinen ist. Gegen die prinzipielle Anwendbarkeit der Rechtsfigur der actio illicita in causa sind dagegen keine zwingenden Einwände ersichtlich, da auch hier der Täter eine Rechtfertigungslage zurechenbar herbeigeführt hat. Die hier zu beachtende Einschränkung, daß der durch die "actio praecedens" verursachte Erfolg dem Täter nach allgemeinen Regeln zurechenbar sein müsse, scheint im vorliegenden Zusammenhang unproblematisch. Denn ein die Zurechnung ausschließendes freiverantwortliches Handeln des dem HIV-Test unterzogenen Patienten stellt die Erteilung der Einwilligung gerade nicht dar. Voraussetzung hierfür wäre die volle Kenntnis über die Tragweite der Einwilligung zum Zeitpunkt der Erteilung, woran es aber wegen der unvollständigen AufKlärung durch den Täter gerade fehlt. Auch der Bundesgerichtshof2lO geht davon aus, Täter einer unerlaubten Handlung sei nicht nur der, der den Geschädigten unmittelbar verletze, sondern auch der, der die Verletzung mittelbar verursacht habe. Entsprechendes muß gelten, wenn der Arzt durch psychische Einwirkung den Patienten zur Erteilung einer Einwilligung veranlaßt hat, die wiederum Ursache für die Durchführung der Venenpunktion, eine tatbestandsmäßige Körperverletzung am Einwilligenden ist. Im Hinblick auf das mangels hinreichender AufKlärung nicht im gebotenen Maße respektierte Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist diese - wenn auch konsentierte - Körperverletzung als gesetzlich mißbilligter Erfolg anzusehen. Dessen mittelbare Verursachung durch den die AufKlärung vornehmenden Arzt begründet unter dem Aspekt der Sorgfaltspflichtverletzung in gleicher Weise die strafrechtliche Zurechnung wie im Falle vorsätzlichen Verhaltens des Arztes. Dieser haftet zwar nicht wegen des Eingriffs selbst, wohl aber deswegen und insoweit, als er die Situation, in der die Preisgabe des Rechtsguts durch den Patienten vernünftig ist, zurechenbar erzeugt hat. Damit erweist sich der Gesichtspunkt der mittelbaren Verursachung des strafrechtlich mißbilligten Erfolges als geeignet, zur Strafbarkeit des Arztes aus § 223 bzw. § 230 StGB zu gelangen, selbst wenn man - entgegen der hier vertretenen Auffassung - eine wirksame Einwilligung trotz fehlender AufKlärung über die spätere HIV-Diagnostik annimmt. 3.4.7 Ergebnis
Wurde der Patient über die sich an die Venenpunktion anschließende HIVDiagnostik vor Vornahme des Eingriffs nicht informiert, so ist die Einwilligung in jedem Falle unwirksam. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn - mangels Vorhersehbarkeit der Umstände, die die spätere HIV-Diagnostik veranlaßtenkeine AufKlärungspflichtverletzung des Arztes vorliegt. 209 210
Vgl. oben 3.4.4.5. BGH NJW 80, 1905 (1907).
3. Aufklärung als Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung
97
Für die Frage der Strafbarkeit des Arztes, der die Venenpunktion durchführt, folgt daraus: Hatte er den Entschluß zur HIV-Diagnostik bereits vor Durchführung der Venenpunktion gefaßt, so liegt eine vorsätzliche Körperverletzung vor. Hielt er die diesbezügliche Aufklärung für entbehrlich, glaubte er also aufgrund wirksamer Einwilligung zu handeln, so befand er sich im Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Angesichts der in jüngster Zeit in der Diskussion überwiegenden Stimmen, die ausdrücklich auf die Erforderlichkeit einer entsprechenden Aufklärung hinweisen, ist ein derartiger Verbotsirrtum nunmehr aber als vermeidbar anzusehen. 2l1 Wurde der Entschluß zur HIV-Diagnostik erst nach Durchführung der Venenpunktion gefaßt, so kommt nur eine Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht. Dies deshalb, weil zum Zeitpunkt der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung - der Venenpunktion - der Arzt vom Vorliegen der Voraussetzungen des anerkannten Rechtfertigungsgrundes "Einwilligung" ausging, somit nach h.M. einem sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtum unterlag. Die Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung setzt allerdings voraus, daß die spätere Durchführung einer HIVDiagnostik jedenfalls zum Zeitpunkt der Venenpunktion vorhersehbar war.
211 Anders noch Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht (S. 339 f) hinsichtlich einer im Oktober 1986 begangenen Tat.
7 Pfeffer
Zweiter Abschitt
Rechtfertigung des HIV-Tests durch sonstige Befugnisnormen 1. Mutmaßliche Einwilligung Ein Rückgriff auf das Rechtsinstitut der mutmaßlichen Einwilligung ist - im Verhältnis zur (ausdrücklich oder konkludent) erklärten Einwilligung - nur subsidiär möglich, d. h. der zumindest erkennbare - bestehende oder herbeiführbare - wirkliche Wille rangiert vor dem mutmaßlichen 1. Daraus folgt zunächst, daß eine Rechtfertigung unter dem Aspekt der mutmaßlichen Einwilligung stets dann ausscheidet, wenn der bekannte oder aus den Umständen erkennbare Wille des Betroffenen - mag er auch noch so unvernünftig sein - dem Eingriff entgegensteht. Der Grund hierfür ist, daß dieses Rechtsinstitut nicht etwa einen Fall erlaubter Bevormundung statuiert, sondern vielmehr auf dem Gedanken der Vertretung eines anderen in seiner Entscheidungsfreiheit beruht. 2 In vielen Fällen "heimlicher AIDS-Tests" dürfte sich bereits aus diesem Grunde eine Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung verbieten, ist doch auch in Ärztekreisen die verbreitete Skepsis gegenüber der HIV-Diagnostik bekannt. Daß durch Unterlassen der Aufklärung über die beabsichtigte Maßnahme nicht selten der befürchtete Widerspruch des Patienten gerade vermieden werden soll, erscheint daher naheliegend. Davon abgesehen wird der Rückgriff auf die mutmaßliche Einwilligung aber in aller Regel an einer weiteren Restriktion ihrer Anwendbarkeit scheitern: In Betracht kommt sie nur, wenn eine Entscheidung des Einwilligungsberechtigten nicht eingeholt oder abgewartet werden konnte 3 , so daß sie letzlich nur bei bewußtlosen oder sonst willensunfähigen und nicht durch gesetzliche Vertreter repräsentierten Patienten eine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet; hinzukommen muß aber selbst hier noch die Unaufschiebbarkeit des ärztlichen Eingriffs. 4 Zwischenergebnis: Abgesehen von seltenen Ausnahmefällen scheidet eine Rechtfertigung von "AIDS-Tests" unter dem Aspekt der mutmaßlichen Einwilligung aus.
Jakobs AT 15/16. Jescheck§ 34 VII. 2.; Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 57 vor§ 32ff.; Hirsch LK Rdn. 137 vor § 32 m. w. N. 3 Hirsch a.a.O. Rdn.129 m.w.N. 4 Deutsch, Arztrecht, A V 5. Rz. 57f. 1
2
2. Notwehr bzw. Nothilfe
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2. Notwehr bzw. Nothilfe (§ 32 StGB) Voraussetzung wäre eine Notwehrlage, insbesondere also das Vorliegen eines Angriffs, d. h. einer unmittelbaren Bedrohung rechtlich geschützter Güter durch menschliches Verhalten 1. 2.1 Notbilfe zugunsten des "HIV-Verdächtigen"
Soweit der HIV-Test ausschließlich im Interesse des HIV-Verdächtigen selbst durchgeführt werden soll, etwa um ihn bei Feststellung eines positiven Befundes zu einer - im Hinblick auf die mögliche Verlängerung der Zeitspanne bis zum Ausbruch des Vollbildes AIDS angezeigten - schonenden Lebensweise motivieren zu können, scheidet damit der Rückgriff auf § 32 aus. Denn "Angriff kann nur ein Eingriff in eine fremde Rechtsspähre sein 2 , nicht aber eine etwaige Beeinträchtigung der eigenen Rechtsgüter des zu Schützenden durch seine vermeintlich unvernünftige - Verweigerungshaltung gegenüber dem vorgeschlagenen ärztlichen Eingriff. 2.2 Notwehr bzw. Notbilfe zugunsten des Pflegepersonals
Anders gelagert ist die Problematik dagegen in den Fällen, in denen der HIVTest dem Schutze des Arztes und des Behandlungspersonals zu dienen bestimmt ist - etwa unter dem Aspekt der größeren Ansteckungsgefahr im Zuge von Behandlungsmaßnahmen, falls der HIV-Status des Patienten unbekannt ist. Auch hier bestehen indes unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Subsumtion des § 32 StG B. Zwar ist der Begriff "Angriff' mit der h. M. rein objektiv zu bestimmen, setzt also weder "Angriffswille" noch ,,-bewußtsein" voraus 3 . Jedoch scheidet § 32 in den Fällen aus, in denen von einem Menschen eine Gefahr nicht als handelndem Subjekt, sondern als "leidendem Objekt" ausgeht 4 . Macht man sich diese Diktion zu eigen, so wird man bei einem nicht durch einen Willensentschluß vermittelten Verhalten nicht von einer Handlung im Rechtssinne sprechen können, womit - mangels objektiver Pflichtwidrigkeit des Verhaltens - jedenfalls kein "rechtswidriger" Angriff vorliegt. 5 Wenn nun die Virusübertragung im Zuge der ärztlichen Behandlung - etwa bei einer Operation oder Venenpunktion - erfolgt, so kann insoweit von einem willensgesteuerten Verhalten des Patienten nicht die Rede sein, er bleibt vielmehr in einer rein passiven Rolle. Somit liegt nach dem o.g. kein Angriff vor. 1 Sch.Sch.-Lenckner § 32 Rdn. 3; krit. zu dieser Definition Jakobs (AT 12/16ff.), der weitergehend verlangt, daß der Angreifer "den Konflikt schuldhaft verursacht hat". 2 Spendet LK § 32 Rdn. 23. 3 Spendet a. a. O. Rdn. 24; Sch.Sch.-Lenckner § 32 Rdn. 3 ffi. w. N. 4 Spendet a.a.O. Rdn.28. S Sch.Sch.-Lenckner § 32 Rdn. 3, 21.
7*
100
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
Jedenfalls aber wäre die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Patienten zu verneinen, ganz zu schweigen davon, daß objektiv pflichtwidrig auch Arzt bzw. Personal handeln, wenn sie die allgemein anerkannten Hygienegrundsätze nicht beachten.
3. Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes 3.1 Anwendbare Befugnisnorm AIDS ist - da durch den HI-Virus verursacht und auf Menschen übertragbar - eine übertragbare Krankheit i. S. d. Bundes-Seuchengesetzes l , so daß die meisten Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere auch die hier allein interessierenden Befugnisnormen, anwendbar sind. 2 In Betracht käme zum einen§ 10 Abs. 1 i. V.m Abs. 3 BSeuchG, zum anderen § 32 Abs.2 i. V.m. § 31 Abs.1 BSeuchG. Im Rahmen der Diskussion über behördliche Maßnahmen zur Bekämpfung der mit AIDS zusammenhängenden Gefahren wird bisweilen - wenn auch unreflektiert - auf die erstgenannte Vorschrift als Rechtsgrundlage zurückgegriffen. 3 Dem sind aber gesetzessystematische Einwände entgegengehalten. Während nämlich der vierte Abschnitt (§§ 10-29) des BSeuchG ausweislich seines amtlichen Titels "Vorschriften zur Verhütung übertragbarer Krankheiten"4 enthält, betrifft der fünfte Abschnitt (§§ 30- 38 a) die "Bekämpfung" derartiger Krankheiten. Der erstgenannte Regelungskomplex bezweckt, das "Auftreten einer übertragbaren Krankheit"5, d. h. das Übergreifen einer andernorts bereits virulenten Krankheit auf den Geltungsbereich des BSeuchG, zu verhindern. Da aber AIDS in der Bundesrepublik schon nachweisbar aufgetreten ist, ist deren "Verhütung" per definitionem nicht mehr möglich. Anwendbar sind daherunter den dort normierten Voraussetzungen - die Vorschriften des fünften Abschnitts zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. 6
Schlund, Juristische Aspekte, S. 568; Gallwas, S. 38; Seewald, S. 2266. Nicht anwendbar sind etwa die - nur für jeweils ausdrücklich genannte Krankheiten geltenden - Vorschriften über die Meldepflicht (§§ 3 - 7 BSeuchG); näher zum Anwendungsbereich Bachmann (S. 100ft). 3 So etwa von Bachmann (S. 102) und Loschelder (S. 1468); ebenso Seewald (S. 2269), der die Notwendigkeit einer strengen Trennung zwischen "Verhütung" und "Bekämpfung" bezweifelt. 4 Hervorh. durch den Verf. s § 10 Abs. 1 BSeuchG. 6 Etmer-Lundt, BSeuchG § 10 Abs. 1; Schlund, Juristische Aspekte, S. 568; Gallwas, S.33. 1
2
3. Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes
101
3.2 Durch beliebige Ärzte vorgenommene mV-Tests 3.2.1 Problematik hinsichtlich der Eingriffskompetenz
§ 32 Abs. 2 BSeuchG statuiert für Personen, die die Voraussetzungen des § 31 Abs.1 BSeuchG erfüllen, eine Pflicht zur Duldung von Untersuchungen, die Klarheit über die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen nach §§ 34ffBSeuchG verschaffen sollen. Zulässig ist insbesondere auch die Vornahme einer Venenpunktion zum Zwecke einer Blutdiagnostik, ohne daß es hierfür der Zustimmung des Betroffenen bedürfte. Letzteres ergibt sich im Umkehrschluß aus § 32 Abs.2 S.2 BSeuchG, wo für bestimmte, abschließend genannte invasive diagnostische Maßnahmen ausdrücklich die Einwilligung des Betroffenen verlangt wird. Jedoch ordnet § 32 Abs. 2 S. 1 BSeuchG die Duldungspflicht nur hinsichtlich von Untersuchungen "durch die Beauftragten des Gesundheitsamtes" an. Adressat der Befugnisnorm ist demnach ausschließlich das Gesundheitsamt, dem lediglich die Möglichkeit einer Subdelegation offensteht. Bei den im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffenen Fällen liegt dagegen den HIV-Tests jeweils ein eigenmächtiger Entschluß des behandelnden Arztes bzw. der Klinikleitung zugrunde, nicht etwa eine entsprechende Entschließung des zuständigen Gesundheitsamtes. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 2 S. 1 BSeuchG hatten die Betroffenen - ob sie nun zu den in § 31 Abs.1 BSeuchG beschriebenen Duldungspflichtigen gehörten oder nicht _7 Eingriffe dieser Ärzte bzw. Pflegepersonen, die weder selbst Adressat der Befugnisnorm noch durch das zuständige Gesundheitsamt beauftragt waren, nicht zu dulden. 8 3.2.2 Ausweichkonstruktionen
Zu denken wäre allerdings an eine Art "Geschäftsführung (für das Gesundheitsamt) ohne Auftrag" oder eine Legitimierung durch nachträgliche Billigung des Gesundheitsamtes, etwa wenn die sonstigen Voraussetzungen der §§ 32 Abs. 2 i. V. m. 31 Abs. 1 BSeuchG vorliegen, so daß das Gesundheitsamt - hätte es Kenntnis von der betreffenden Sachlage gehabt - den Test selbst angeordnet hätte. Die entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677ff BGB) im Strafrecht wird überwiegend abgelehnt 9 , da diese nur den internen Schadens- und Aufwendungsersatzausgleich, nicht aber die für das Strafrecht wesentlichen Voraussetzungen für den Eingriff in fremde Rechtsgüter regelten 10. Stattdessen käme allenfalls eine Ausführ!. zur Begriffsauslegung Rübsaamen (S. 165fT., 207ff.,276ff). So auch - ohne nähere Begründung - v. Münch (S. 73). 9 Jescheck § 34 VII 2; Hirsch LK Rdn. 130 vor § 32; a.A. Welzel § 14 V. 10 Jescheck a. a. O. 7
8
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
mutmaßliche Einwilligung (des Gesundheitsamtes) in Betracht. Diese setzt aber voraus, daß eine Entscheidung des Einwilligungsberechtigten nicht eingeholt oder abgewartet werden kann. l l In den hier in Frage stehenden Fällen wurde dagegen die Einholung der behördlichen Zustimmung nicht einmal erwogen.
Was schließlich die eventuelle Genehmigung - also die nachträgliche Zustimmung - durch das Gesundheitsamt anlangt, so liegt hier die auch anderweitig bekannte Konstellation vor, daß ein an sich strafrechtlich untersagtes Verhalten nur kraft behördlicher Erlaubnis nicht strafbar ist (B: §§ 284ff, 324ff StGB, 64 Abs. 2 Nr. 1 BSeuchenG usw.). Die Straflosigkeit tritt aber in diesen Fällen nicht etwa schon aufgrund der bloßen Genehmigungsfähigkeit, d. h. aufgrund des Vorliegens eines Sachverhalts, bei dem die Erlaubnis erteilt werden könnte oder müßte 12 , ein, sondern nur, wenn die öffentlich-rechtliche Gestattung tatsächlich vorliegt. ' Dasselbe muß im Falle des § 32 Abs. 2 BSeuchG für das Erfordernis der Beauftragung durch das Gesundheitsamt gelten, sollen Eingriffe durch Personen, denen nicht schon das Gesetz selbst die Befugnis zur Vornahme von Untersuchungen verleiht, nach dieser Norm gerechtfertigt sein. Würde man die (nachträgliche) Genehmigung ausreichen lassen 13, so würde man die gesetzliche Zuständigkeitsregelung überspielen und die vom Gesetzgeber einer staatlichen Behörde übertragene Entscheidungskompetenz Privatpersonen überantworten. Diesen würde zugestanden, den Entschluß zu der fraglichen Untersuchungsmaßnahme eigenmächtig und nach selbstgesetzten Maßstäben zu treffen, während sich die Behörde auf eine reine Sanktionierung der fremden Entscheidung beschränkte. Dem stünde darüber hinaus die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 IV GG entgegen, da bei einer erst nachträglichen behördlichen Entscheidung und heimlicher Durchführung der HIV-Diagnostik dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen wäre, die Zwangsuntersuchung durch Einlegung von Rechtsmitteln abzuwenden. 3.2.3 Zwischenergebnis
Eine nachträgliche Rechtfertigung "heimlicher AIDS-Tests" durch Rückgriff auf §§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs.1 BSeuchG ist nicht möglich. Voraussetzung hierfür wäre vielmehr ein Untersuchungsauftrag des zuständigen Gesundheitsamtes vor Durchführung der Diagnostik.
Hirsch LK Rdn.129 vor § 32 m.w.N. Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 61 vor § 32tT.; ebenso Horn SK Rdn. 7 vor § 324. 13 Zipf stellt allgemein hierzu fest, es " ... sollte selbstverständlich sein", daß eine nachträgliche Einwilligung unerheblich ist (MI Zipf AT -1 § 17 Rdn. 57, ebenso Wetzel § 14 VII 2af. sowie Samson SK Rdn.44 vor § 32). 11
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3. Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes
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3.3 Durch das zuständige Gesundheitsamt vorgenommene mV-Tests Maßgeblicher Grund für die Versagung der Rechtfertigung nach §§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs.1 BSeuchG war in den bisher erörterten Fällen, daß der die Venenpunktion vornehmende Arzt weder Adressat der gesetzlichen Eingriffsermächtigung noch einer wirksamen Subdelegation dieser Befugnis war. Somit bleibt die Frage, ob die Rechtfertigung "heimlicher AIDS-Tests" nach seuchenrechtlichen Bestimmungen nur an diesem Defizit scheitert, die Diagnostik also durch das zuständige Gesundheitsamt resp. dessen Mitarbeiter auch ohne Wissen des Betroffenen legal durchgeführt werden kann. 3.3.1 Praktische Relevanz der Problematik
Diese Fragestellung hat durch Meldungen in der Tagespresse besondere Aktualität erlangt. Danach war der HIV-Test Bestandteil der Ende 1986/Anfang 1987 durchgeführten Gesundheitsuntersuchungen des Gesundheitsamtes des Landkreises Fulda. Dies geschah nach Angaben des Sprechers des Amtes aus "vorsorglich epidemiologischen Gründen". Die Betroffenen - Beamtenanwärter und Asylsuchende - seien nicht darüber informiert gewesen, daß der Test zu den Untersuchungen gehört habe. 14 Zwar waren die Probanden hier zweifellos freiwillig beim Gesundheitsamt zur Durchführung von Untersuchungen erschienen. Die hierin zu erblickende konkludente Einwilligung in die Vornahme diagnostischer Maßnahmen kann aber nicht etwa dahingehend ausgelegt werden, sie implizierte auch eine Zustimmung zur HIV-Diagnostik des entnommenen Blutes. Vielmehr ist nach der auch dem Gesundheitsamt erkennbaren Interessenlage diese Einwilligung durch den Zweck des Erscheinens bei der Gesundheitsbehörde ihrem Umfange nach begrenzt. Dieser bestand in den genannten Fällen ausschließlich darin, die zur Vorlage bei Verwaltungsbehörden benötigten Gesundheitszeugnisse zu erlangen. Nur in die Erhebung derjenigen Gesundheitsdaten, die im Hinblick auf diesen bekannten Verwendungszweck unabdingbarer Bestandteil des gewünschten Attests waren, willigten die Betroffenen kraft schlüssigen Verhaltens ein. Da aber zum Zeitpunkt der berichteten Vorfälle weder bei Beamtenanwärtern noch bei Asylsuchenden für die Anstellung bzw. die Erteilung einer Aufenthalteserlaubnis der Nachweis des (negativen) HIV-Status gefordert wurde, hätte es hier der ausdrücklichen Einwilligung der Betroffenen nach entsprechender Aufklärung bedurft. 3.3.2 Kenntnis des Patienten als Eingriffsvoraussetzung?
Indem § 32 Abs. 2 BSeuchG Personen, bei denen aufgrund tatsächlicher Umstände ein Gefahrenverdacht i. S.d. § 31 Abs.1 BSeuchG bestehtlS, die 14
AP-Meldung, Süddeutsche Zeitung v. 9.9.87 (S. 5).
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
Pflicht zur Duldung der erforderlichen Untersuchungen auferlegt, erklärt das Gesetz gleichzeitig einen etwa entgegenstehenden Willen der Betroffenen für unbeachtlich. Eine andere Frage ist allerdings, ob es damit auch schon nicht mehr auf das Wissen der Betroffenen um die behördliche Maßnahme ankommt. Wenn ein Protest ohnehin nicht rechtserheblich ist, so könnte man argumentieren, dann bedarf es auch keiner Information über den zu duldenden Eingriff.
3.3.2.1 Grammatikalische Auslegung Eine derartige Argumentation begegnet schon im Hinblick auf den Wortlaut des § 32 Abs. 2 BSeuchG Bedenken. "Dulden" setzt seinem Wortsinn nach das bewußte Miterleben der Einwirkung, der der Betroffene ausgesetzt ist, durch diesen voraus. Wäre auch die Information des nach § 32 Abs. 2 BseuchG Verpflichteten entbehrlich, so hätte der Gesetzgeber - um Eindeutigkeit zu gewährleisten - etwa die Formulierung "Bei den in § 31 Abs.1 genannten Personen sind Untersuchungen ... auch ohne deren Einwilligung zulässig" gebrauchen müssen.
3.3.2.2 Auslegung im Hinblick auf verfassungsrechtliche Vorgaben Die entgegengesetzte Interpretation sieht sich zudem verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt. Würde nämlich § 32 Abs. 2 BSeuchG Eingriffe in die körperliche Integrität erlauben, ohne daß der Betroffene hiervon vorher in Kenntnis gesetzt werden müßte, so verstieße dies gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Dieser Grundsatz folgt zwar nicht schon aus der - auf das Verfahren vor den Gerichten beschränkten 16 - verfassungsrechtlichen Verbürgung in Art. 103 Abs.1 GG. Jedoch ist das diesem justiziellen Grundrecht immanente Anliegen, den einzelnen "nicht zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidung werden zu lassen"l? ebenso ein aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs.3 GG) herzuleitender allgemeiner Rechtssatz des VerwaItungsverfahrens. 18 Soweit - wie hier - ein belastender Eingriff in Betracht kommt, folgt der Anspruch auf rechtliches Gehör i. ü. schon aus dem verfassungsrechtlichen Gebot des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)19. IS Dies allerdings ist unabdingbare Voraussetzung, so daß die generelle Aufnahme des HIV-Tests in das Untersuchungsprogramm der Gesundheitsämter - wie im oben geschilderten Falle geschehen - keinesfalls durch das BSeuchG legitimiert wäre - es sei denn, man wollte behaupten, bei Beamtenanwärtern und Asylsuchenden sei stets die Annahme eines Ansteckungsverdachts gerechtfertigt. Gewisse Tendenzen, dies bei der zweitgenannten Gruppe - zumindest bei bestimmten Herkunftsländern - zu unterstellen, sind aber durch empirische Daten nicht belegbar. 16 Seijert/Hömig Art. 103 Rdn.4. 17 BVerfGE 9, 89 (95). 18 Eichler VwVfG § 28 Anm. II 1. 19 M./M./M./O. (Obermayer), S. 277.
3. Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes
105
Im Hinblick auf den Zweck des Anhörungsrechts, dem Betroffenen die Verwirklichung und Wahrung seiner Rechte zu ermöglichen 20 - etwa auch durch Gebrauch der einschlägigen Rechtsbehelfe - ist in der Regel nur die vorherige Anhörung sinnvoll. Eine Ausnahme vom Grundsatz vorheriger Anhörung ist nach einer zu Art. 103 Abs. 1 GG ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur anzuerkennen, wenn dies unabweisbar ist, um nicht den Zweck der Maßnahme zu gefährden.21 Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, da eine etwaige zeitliche Verzögerung der Testdurchführung infolge vorheriger Anhörung des Betroffenen das damit verfolgte Ziel der Feststellung des HIV-Status des Betroffenen in keiner Weise beeinträchtigen würde. 3.3.2.3 Auslegung unter Heranziehung des § 28 VwVfG In diesem Sinne sieht etwa § 28 Abs. 2 VwVfG - der im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls nicht unmittelbar zur Anwendung kommen kann 22 eine Ausnahme vom Gebot vorheriger Anhörung dann vor, wenn dies "wegen Gefahr im Verzuge oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint." "Gefahr im Verzuge" ist nur bei Unaufschiebbarkeit der betreffenden Amtshandlung anzunehmen,23 so wenn etwa die vorherige Anhörung die Effektivität dieses Handeins gefährden würde 24 • Ebenso kann ein "öffentliches Interesse" nur im Hinblick auf die sofortige Erledigung anerkannt werden, während andere Gründe als derjenige der Eilbedürftigkeit ein Absehen von vorheriger Anhörung nicht zu rechtfertigen vermögen.25 Es ist davon auszugehen, daß diese vom Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes normierten Einschränkungen des einfachgesetzlichen Anhörungsrechts den Grenzen entsprechen, denen auch das verfassungsrechtlich begründete Anhörungsrecht unterliegt. Insbesondere im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip (Art.20 III GG) sowie den Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG) erscheint ein Absehen von der Anhörung der Betroffenen vor Durchführung eines hoheitlichen Eingriffs nur im Falle seiner Unaufschiebbarkeit zulässig. Eine einfachgesetzliche Eingriffsbefugnis, die es dagegen einer Behörde schlechthin erlaubte, rechtsbeeinträchtigende Maßnahmen ohne vorherige Information des Betroffenen vorzunehmen, wäre demnach verfassungswidrig. Dies ist bei der Auslegung der Befugnisnormen des einfachen Kopp VwVfG § 28 Rdn. 2. BVerfGE 9, 89 (96ft). 22 § 28 VwVfG setzt ebenso wie Art. 28 BayVwVfG ein auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes abzielendes Verfahren voraus, während der "heimliche AIDS-Test" durch ein Gesundheitsamt als schlicht hoheitliches Handeln einer Behörde zu qualifizieren ist und als solches nicht von den Verwaltungsverfahrensgesetzen erfaßt wird (vgl. Kopp VwVfG Rdn.5 vor § 1). 23 St./B.jL. (Leonhardt) VwVfG § 3 Rdn. 31. 24 Leonhardt a.a.O. § 28 Rdn. 23. 25 Leonhardt a.a.O. 20
21
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
Rechts zu berücksichtigen, da bei mehreren möglichen Auslegungen derjenigen der Vorzug zu geben ist, bei der die Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar ist 26 • 3.3.2.4 Ergebnis der Auslegung Bei verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 2 BSeuchG sind Untersuchungen, die ohne Wissen des Betroffenen vorgenommen würden, nicht durch diese Vorschrift gerechtfertigt. 3.3.2.5 Umfang der gebotenen Information Fraglich ist allerdings der Umfang der gebotenen Information. Wäre es etwa ausreichend, auf die Blutentnahme allgemein hinzuweisen, ohne daß die beabsichtigte HIV-Diagnostik erwähnt würde? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer Rückbesinnung auf den Zweck des verfassungsrechtlichen Gebots der vorherigen Anhörung: Dem Betroffenen soll die Verwirklichung und Wahrung seiner Rechte ermöglicht werden. Eine eigenverantwortliche Entscheidung etwa über die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die geplante behördliche Maßnahme ist aber nur möglich, wenn der Betroffene alle hierfür relevanten Umstände kennt. Kommt der Verwendung des entnommenen Blutes (auch) zur HIV-Diagnostik im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht schon bei der Entscheidung über die Erteilung der Einwilligung maßgebliche Bedeutung ZU27, so gilt dies erst recht dann, wenn der Betroffene beim Gesundheitsamt eine anderweitig benötigte Untersuchung durchführen läßt, deren Bestandteil nicht notwendig der HIV-Test ist. 28 Denn ohne diese Kenntnis bliebe es dem Betroffenen verborgen, daß überhaupt Anlaß zur (juristischen) Gegenwehr besteht. Er hätte weder eine Möglichkeit zur Überprüfung der juristischen Korrektheit der beabsichtigten behördlichen Maßnahme noch zur Widerlegung der für 32 Abs. 2 i. V.. 31 Abs. 1 BSeuchG erforderlichen Verdachtsmomente. Gleichzeitig würde ein weiterer Zweck des Anhörungsgebots - die Förderung der Sachverhaltsaufklärung 29 - konterkariert. Damit verbunden wäre wiederum ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG) darstellt. 30 BVerfGE 2, 266 (282). Vgl. oben Zweiter Teil, Erster Abschn. 3.2.3.2. 28 Anders ist die Situation freilich, wenn sich - wie nunmehr in Bayern im Hinblick auf die Einstellung von Beamtenanwärtern (lt. Mitteilung der Bayerischen Staatskanzlei aus der Ministerratssitzung vom 28.2.1987) sowie die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen (MABL Nr. 10/1987 B.) - das gewünschte Gesundheitszeugnis auf den Befund eines HIV-Tests zu erstrecken hat. Ist die Kenntnis dieses Umstands - wie zumindest regelmäßig bei Beamtenanwärtern - vorauszusetzen, so. bedarf es einer ausdrücklichen Aufldärung durch das Gesundheitsamt nicht. 29 Vgl. Kopp VwVfG § 28 Rdn. 2. 30 M./M./M./O (Obermayer) S. 277. 26
27
3. Rechtfertigung nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes
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Dementsprechend wird gerade auch für den Bereich der Gesundheitsverwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG die Konsequenz gezogen, Akte der Verwaltung müßten stets erkennen lassen, daß sie sich auf gesetzliche Normen stützen und daß sie durch unabhängige richterliche Instanzen überprüft werden können. 31 Mit dem zuletzt genannten Aspekt rückt die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in den Blickpunkt: Verheimlicht man dem Betroffenen die vorgesehene HIV-Diagnostik, so wird ihm faktisch die Chance effektiven Rechtsschutzes genommen. Eine nachträgliche Information erscheint hier wenig hilfreich, da der Eingriff damit nicht mehr rückgängig zu machen ist. 32 3.3.3 Ergebnis
Für den Umfang der gebotenen Information vor Durchführung einer auf§§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs. 1 BSeuchG gestützten Untersuchung ist daher festzuhalten: Der Betroffene ist vor Durchführung der Venenpunktion darauf hinzuweisen, daß die sich anschließende Blutdiagnostik aufgrund im Einzelnen zu erörternder Verdachtsmomente auch auf die HIV-Diagnostik erstreckt werden soll. Unterbleibt diese Aufklärung, so scheidet ein Rückgriff auf die genannten seuchenrechtlichen Befugnisnormen aus. Die Rechtslage unterscheidet sich hier i. Ü. von derjenigen bei Fällen, in denen einer Zwangsmaßnahme ein entsprechendes behördliches Gebot vorausging. Würde die erforderliche Anhörung vor Erlaß dieses Gebotes versäumt, so kann dies im Hinblick auf §§ 45, 46 VwVfG unbeachtlich sein, jedenfalls aber würde die Maßnahme durch den zwar rechtswidrigen aber doch wirksamen Verwaitungsakt gerechtfertigt sein - zumindest solange, als dieser nicht mit Wirkung ex tunc (§ 49 Abs. 2 Ziff. 2 VwVfG) zurückgenommen ist. 33 Bei den "heimlichen AIDS-Tests" fehlt es aber an einer behördlichen Entscheidung, als Rechtsgrundlage kommt allein das Gesetz selbst in Betracht.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muß demnach lauten: Auch wenn die HIV-Diagnostik durch die zuständige Gesundheitsbehörde bzw. deren Beauftragte durchgeführt würde, sind heimliche "AIDS-Tests" nicht durch §§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs. 1 BSeuchenG gerechtfertigt.
Bopfner. S. 66ff. (72). Im Hinblick auf die Erledigung des Eingriffsaktes dürfte i.ü. bereits die Zulässigkeit (verwaltungsgerichtlicher) Rechtsbehelfe problematisch sein, so daß Ld.R. wohl eine Sachentscheidung nicht mehr zu erreichen wäre. 33 Zur Verwaltungsrechts-Akzessorietät des Strafrechts vgl. Born (SK Rdn. 7 vor § 324) sowie Sch.Sch.-Lenckner (Rdn. 61 vor § 32ff.) 31
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands (§ 34 StGB) 4.1 Anwendbarkeit der allgemeinen Notstandsregelung 4.1.1 Problemstellung
Die vorliegende Spezialliteratur zu "heimlichen AIDS-Tests" beschäftigt sich nur am Rande - wenn überhaupt - mit der Frage der Rechtfertigung nach Notstandsregeln. Dies gilt selbst für diejenigen Autoren, die das Vorliegen einer wirksamen Einwilligung verneinen, obwohl doch hier aller Anlaß bestünde, sich mit den sonst in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründen auseinanderzusetzen. Die wenigen Beiträge, die sich überhaupt mit § 34 StGB beschäftigen, lassen - soweit ersichtlich - durchweg die primär zu untersuchende Frage nach der Anwendbarkeit dieses allgemeinen Erlaubnissatzes außer acht, obwohl unter dem Aspekt "Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen" gerade bei der nicht konsentierten ärztlichen Behandlung die These der "Spezialität der Einwilligung" gegenüber § 34 StGB verfochten wird 1. Diesem im Grundsätzlichen liegenden Problem kann man auch nicht etwa dann ausweichen, wenn man - auf der Tatbestandsebene - das Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen des § 34 StGB bei heimlichen HIV-Tests verneinen will. Denn soweit man zur Interessenabwägung nach § 34 S. 1, 2. Halbs. StGB gelangt, hat man die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zugrundezulegen, was eine generalisierende Verneinung der Rechtfertigung nach h.M. von vornherein verbietet. Begründet man die Ablehnung dagegen bereits mit dem Fehlen einer "nicht anders abwendbaren Gefahr", so erscheint dies ebenfalls als eine vorschnelle und in dieser Absolutheit unzutreffende Generalisierung. Angesichts der rasanten Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung auf allen mit der HIV-Infektion zusammenhängenden Gebieten ist der Jurist auch nicht davor gefeit, daß sich die bisher zutreffenden Prämissen, die aus dem aktuellen Stand der Wissenschaft abgeleitet wurden, grundlegend ändern und ihm dadurch insgesamt die Argumentationsgrundlage entzogen wird. Ein derartiger Wandel im Bereich der maßgeblichen Rechtstatsachen ist etwa naheliegend im Hinblick auf die Frage der Geeignetheit (Stichwort: Entwicklung auch im alltäglichen Klinikbetrieb anwendbarer Tests zum direkten Virusnachweis, die die Feststellung der HIV-Infektion schon unmittelbar nach dem Erfolgen der Virusübertragung ermöglichen) oder der Erforderlichkeit des "Verteidigungsmittels" HIV-Test (Stichwort: empirische Ergebnisse zur praktischen Realisierbarkeit der Forderung nach Einhaltung des optimalen Sicherheitsstandards bei jedem Patienten einerseits und zu den damit für das ärztliche Personal verbundenen Beeinträchtigungen - etwa durch ständiges Tragen von Gummihandschuhen verursachte Schädigung des natürlichen Schutzes der intakten Haut bei Arzt- oder Zahnarzthelferinnen - andererseits). Ob neuere Erkenntnisse in dieser Weise zur Revision bisheriger juristischer 1
Vgl. Zilkens, S. 119ff. sowie nachfolg. Ausf.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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Positionen hinsichtlich des Problems der Notstandsrechtfertigung zwingen werden, ist ungewiß. Nur - ob der Weg hierzu überhaupt gangbar ist, bedarf jedenfalls der Klärung. Die Frage der Anwendbarkeit des § 34 StGB soll daher im folgenden einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. 4.1.2 Exklusivität der Vorschrift über die Notwehr (§ 32 StGB)
Zweifel an der Anwendbarkeit der Regeln über die Notstandsrechtfertigung ergeben sich nicht etwa daraus, daß die Gefahr von einem Menschen ausgeht. § 34 StGB legitimiert nicht nur die Abwehr von Schäden, die von Sachen oder Naturgewalten ausgehen. 2 Aufgrund der Vorschrift über die Notwehr können sich vielmehr nur insoweit Einschränkungen ergeben, als sich ein menschliches Verhalten als gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff darstellt 3 , was aber nach dem oben Gesagten hier gerade nicht der Fall ist. 4.1.3 Sperrwirkung des Rechtsinstituts der Einwilligung
Als problematischer könnte sich dagegen erweisen, daß der ärztliche Eingriff grundsätzlich der Einwilligung des Rechtsgutsinhabers bedarf. Liegt nun im Einzelfall eine Einwilligung nicht vor, so erlaubt dies nicht ohne weiteres den Rückgriff auf andere Rechtfertigungsgründe, da nach überwiegender Auffassung ein den Voraussetzungen nach nicht gegebener Rechtfertigungsgrund gegenüber anderen Rechtfertigungsgründen unter bestimmten Umständen Sperrrwirkung entfalten kann 4 . 4.1.3.1 Die These von der Spezialität der Einwilligung
Für den Bereich der ärztlichen Heileingriffe vertrat jüngst Zilkens s die Auffassung, im Falle einer rechtlich beachtlichen Einwilligungsverweigerung verbiete der entgegenstehende Wille mit endgültiger Wirkung den Eingriff in die körperliche Integrität. Die Einwilligungsverweigerung besitze gegenüber § 34 StGB Sperrwirkung, so daß für eine inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen des § 34 StGB apriori kein Raum mehr bliebe. Die den "heimlichen AIDSTests" zugrundeliegende Situation, das Fehlen eines - mangels ausreichender Aufklärung - (wirksamen) positiven oder auch negativen Votums des Rechtsgutsinhabers spricht Zilkens zwar nicht an. Vielmehr nennt er zum einen die Fälle, in denen die Einwilligung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen wegen Bewußtlosigkeit oder Urteilsunfähigkeit - nicht zu erlangen ist; hier soll der Rückgriff auf die allgemeine Norm des § 34 StGB offen stehen 6 . Dem stellt 2 3
4 5 6
Schroeder, Notstandslage, S. 338. Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 16. Vgl. Schroeder, Notstandslage, S. 338 sowie die im folg. zit. Lit. S. 121. Zilkens, S. 120f.
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
er zum anderen das Vorliegen einer wirksamen Verfügung des Rechtsgutsinhabers gegenüber, die in jedem Falle - ob nun die Einwilligung erteilt oder verweigert wurde - zu beachten sei und - als der "jedenfalls in diesem engen Bereich gegenüber § 34 StGB speziellere Erlaubnissatz" - allein die Frage des Unrechtsausschlusses beantworte. 7 Sollte sich diese These von der "Spezialität der Einwilligung"8 als richtig erweisen, so spräche jedenfalls manches dafür, sie auch in der von Zilkens nicht erörterten Konstellation, dem Fehlen einer Disposition des Rechtsgutsinhabers, jedenfalls dann anzuwenden, wenn dieser von dem bevostehenden Eingriff nichts wußte. Denn es wäre wohl kaum mit den der "Spezialitäts-These" zugrundeliegenden teleologischen Erwägungen zu vereinbaren, könnte sich der Täter den Weg zum allgemeinen Rechtfertigungsgrund dadurch eröffnen, daß er dem Rechtsgutsinhaber durch unzureichende Aufklärung oder gar gänzliche Verheimlichung des geplanten Eingriffs die Möglichkeit nähme, eine verbindliche Verfügung zu treffen. 4.1.3.2 Präzisierung der Spezialitäts-These
Die primäre Frage ist allerdings die Plausibilität der These von der Spezialität der Einwilligung selbst. Zutreffend erscheint es jedenfalls, die Anwendbarkeit des § 34 StGB zu verneinen, wenn durch sie die speziellen Regeln überspielt würden. Diese Gefahr besteht auch und gerade dann, wenn die Rechtfertigungsvoraussetzungen der betreffenden Spezialnorm nicht erfüllt sind 9 • Von einem "Überspielen" kann allerdings nur dann die Rede sein, wenn der spezielleren Vorschrift nach ihrem Wortlaut und Zweck gegenüber der generelleren Ausschlußwirkung zukommt. 10 Die Spezialität im logischen Sinne ist daher weder notwendige noch hinreichende Voraussetzung für die Verdrängung einer Rechtfertigungsnorm, maßgeblich ist vielmehr allein die Spezialität im funktionalen Sinne ll • Als Grundsatz gilt dabei, "daß ein genereller Rechtfertigungsgrund für eine bestimmte Rechtfertigungssituation oder eine bestimmte zu rechtfertigende Person ausscheidet, wenn ein speziell für die Rechtfertigungssituation oder die zu rechtfertigende Person formulierter Rechtfertigungsgrund das gerechtfertigte Verhalten zumindest partiell enger regelt als der generelle Rechtfertigungsgrund .. ".12
Zilkens, S. 121. Zilkens, S. 120. 9 Vgl. Stratenwerth AT § 9 V. Rdn.450. 10 Hirsch LK Rdn. 46 vor § 32. 11 Warda, S.165f. 12 Jakobs AT 11/17. 7
8
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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4.1.3.3 Folgerungen für das Verhältnis zwischen Einwilligung und § 34 StGB
Welche Folgerungen aus dieser allgemeinen Regel für das Verhältnis der Rechtfertigungsgründe zueinander im einzelnen zu ziehen sind, ist äußerst umstritten. Für die hier kritisch zu betrachtende These von der Spezialität der Einwilligung in ärztliche Heileingriffe gegenüber § 34 StGB fällt allerdings prima vista bei Konfrontation mit der o. g. Abgrenzungsformel ein Aspekt auf: Die Ausschlußwirkung setzt die Identität der Rechtfertigungssituation voraus. Diese kann aber sinnvollerweise nicht allein durch das äußere Geschehen Venenpunktion durch den Arzt -, sondern nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen sozialen Kontext beschrieben werden, wobei insbesondere auch der Zweck der Eingriffshandlung, deren Legitimität in Frage steht, heranzuziehen ist. Denn handelt es sich bei der Vorschrift des § 34 StGB ihrem Grundgedanken nach um eine Regelung für Konfliktsfälle, 13 so wird die Rechtfertigungssituation gerade durch die kollidierenden Rechtsgüter charakterisiert. Dann läßt sich aber die These von der Identität der Rechtfertigungssituation jedenfalls für die Fälle "fremdnütziger Eingriffe"l4, d.h. die "heimlichen AIDS-Tests" zum Zwecke des Schutzes des Arztes und seines Personals, nicht mehr aufrechterhalten. Denn während § 34 StGB den Konflikt zwischen den Rechtsgütern verschiedener Rechtsgutsträger regelt und dabei ausnahmsweise die Inanspruchnahme fremder Rechtsgüter zuläßt,IS ist das Rechtsinstitut der Einwilligung in ärztliche Eingriffe schlicht Ausfluß des Selbstbestimmungsrechts gemäß Art. 2 Abs.2 S. 1 GG, das der - wenn auch begrenzten - Dispositionsfreiheit des einzelnen über sein eigenes Rechtsgut der körperlichen U nversehrtheit Rechnung trägt. Unter welchen Voraussetzungen Dritte in dieses Rechtsgut eingreifen dürfen, gehört nicht zum Regelungsbereich der Einwilligung. Daraus läßt sich aber auch nicht etwa - e contrario - schließen, daß die körperliche Unversehrtheit jeglicher fremd bestimmten Inanspruchnahme entzogen wäre. Zum einen ergäbe sich daraus die abstruse Konsequenz, daß disponible Rechtsgüter im weiteren Umfange geschützt wären als die - dem Rechtsinstitut der Einwilligung entzogenen - nicht disponiblen. Zum anderen wäre eine derartige Limitierung durch Herausnahme bestimmter Rechtsgüter aus der in § 34 StGB vorgesehenen umfassenden Abwägung in Kollisionsfällen weder mit dem Wortlaut noch der Struktur dieser Vorschrift zu vereinbaren, die doch durch die Klausel des S. 1 gerade den Grundsatz der Interessenabwägung zum maßgeblichen Entscheidungsprinzip erhebt l6 . Damit erweist sich Zilkens These von der Spezialität der
13 14 15
16
Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 1. Zum Begriff vgl. Sch.Sch.-Eser § 223 Rdn. 50 a.E. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 1. Vgl. Lenckner a.a.O. Rdn. 22.
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
Einwilligung gegenüber § 34 StGB jedenfalls in der Fallgruppe "fremdnützige Eingriffe" als nicht haltbar. In der anderen Fallgruppe - "heimliche AIDS-Tests" zum Wohle des Patienten - liegen die Dinge zwar anders, da hier nicht schon aufgrund der eindeutigen Antinomie der Schutzzwecke die Identität der Rechtfertigungssituation verneint werden kann. Jedoch handelt es sich beim Rechtsinstitut der Einwilligung genau besehen überhaupt nicht um eine die Konfliktlage gegenläufiger Interessen betreffende Regelung. Die Einwilligung dient gerade nicht dazu, aufgrund normativer Wertung die Verletzung des einen Rechtsguts zum Schutze eines anderen zu legitimieren. Eine "Abwägung" findet nur im Kopf des Rechtsgutsträgers nach dessen eigenen, subjektiven Maßstäben statt, ohne daß von der Rechtsordnung verbindliche Abwägungsfaktoren vorgegeben würden. Ist aber die Verweigerung der Einwilligung nicht das Ergebnis einer gesetzgeber ischen Entscheidung, so impliziert der Rückgriff auf die allgemeine N otstandsrechtfertigung gern. § 34 StGB hier gerade nicht die Gefahr, daß Wertungen des Gesetzgebers, wie sie in den speziellen Erlaubnistatbeständen zum Ausdruck kommen, unterlaufen werden. Gegen die Anwendung dieser allgemeinen Rechtfertigungsnorm, die nur den Wertungsrahmen für eine erst noch letztlich vom Richter - zu vollziehende Abwägung abgibt 1?, bestehen daher keine durchgreifenden Bedenken. 4.1.4 Ergebnis zur Frage der Anwendbarkeit des § 34 StGB
Richtigerweise muß die Verletzung der Autonomie des Rechtsgutsinhabers auf der Ebene der Konkurrenz der Rechtfertigungsgründe unbeachtlich bleiben, da § 34 StG B gerade auf dem Prinzip beruht, daß unter den dort genannten Voraussetzungen ein Eingriff in Rechtsgüter gegen den Willen des Rechtsgutsinhabers gerechtfertigt ist. Die verletzte Autonomie ist dann freilich in die Interessenabwägung nach § 34 S. 1 StGB einzustellen 18 • Als Fazit ist festzuhalten: Die Einwilligung geht § 34 StGB nicht vor, sondern erweitert lediglich den Bereich des gerechtfertigten bzw. nicht tatbestandsmäßigen Handeins. Selbst bei Verweigerung der Einwilligung kann sich aus der Interessenabwägung nach § 34 StGB die Rechtfertigung des nicht konsentierten Eingriffs ergeben. 19 Soweit vereinzelt die Anwendung des § 34 StGB davon abhängig gemacht wird, daß zuvor erfolglos die Einholung der Einwilligung versucht wurde 20 , so ist schon zweifelhaft, ob diese Auffassung nicht auf die spezifische Interessenlage bei Entnahme von Organtransplantaten im Hinblick auf § 168 StGB zugeschnitten ist 21, so daß sich eine Übertragung auf den 17
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Seelmann, S. 69ff. Seelmann, S. 71; ebenso Hirsch LK § 34 Rdn. 52 a.E. Geilen, Probleme, S. 46 (r. Sp.); Seelmann, S. 71. LG Bonn JZ 1971, 56ff (59). Vgl. Geilen, Probleme, S. 46 (1. Sp.)
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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vorliegenden Zusammenhang verbietet. Jedenfalls aber erschiene es wenig überzeugend, die verweigerte oder sonst nicht einzuholende Einwilligung als "Vorschaltvoraussetzung" für die Notstandsrechtfertigung zu statuieren, da die Voraussetzungen des § 34 StGB - insbesondere das Erfordernis einer "gegenwärtigen" Gefahr - ohnehin hinreichenden Schutz vor ärztlicher Eigenmacht gewährleisten. 22 4.2 Voraussetzungen für die Rechtfertigung nach § 34 StGB § 34 StGB setzt zunächst das Bestehen einer Notstandslage, d.h. einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut voraus, die nur durch eine tatbestandsmäßige Handlung abgewendet werden kann. 23 4.2.1 Notstandsiäbiges Schutzgut
Als notstandsfähige Rechtsgüter kommen alle rechtlich geschützten Interessen in Betracht. Die Notstandsrechtfertigung ist insbesondere nicht beschränkt auf Rechtsgüter, deren Verletzung unter Strafdrohung steht 24 • Im vorliegenden Zusammenhang ist als zu schützendes Interesse - sogenanntes "Erhaltungsgut"25 - vorstellbar: -
Leben und Gesundheit von Ärzten und sonstigen bei der Versorgung der Patienten eingesetzten Dienstkräften sowie von Mitpatienten -
-
Personenschutz -
der funktionierende Betriebsablauf der Versorgungseinrichtung (Krankenhaus oder Arztpraxis) -
-
Organisationsablauf -
die Gesundheitsinteressen der HIV-infizierten Patienten selbst.
Dabei ist es unerheblich, daß die genannten Interessen zum Teil anderen Personen - d. h. nicht dem zur Rettung Eingreifenden selbst - zustehen, da § 34 StGB auch Notstandshilfe erlaubt 26 . Allerdings darf Nothilfe nicht gegen den erkennbaren Willen dessen, für den die Notlage entstanden ist, ausgeübt werden, sofern es sich um ein disponibles Rechtsgut handelt. Begründet wird dies zum Teil damit, daß die Hilfe nicht erforderlich sei oder daß es - wenn von vornherein eine bewußte Preisgabe des Erhaltungsgutes vorliegt - als Folge des vom Verfügungsberechtigten erklärten Verzichts auf Unterstützung 27 , 22 23 24 2S 26 27
Geilen a. a. O. S. 48. Sch.Sch-Lenckner § 34 Rdn. 8. Samson SK § 34 Rdn. 5. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 26. Hirsch LK § 34 Rdn. 25. Hirsch a. a. O.
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
an einer Notwehrlage fehle. Andere Autoren gelangen unter Rückgriff auf die nach § 34 S. 2 StGB vorzunehmende sozialethische Gesamtwertung zum selben Resultat. 28 Diese unterschiedlichen Positionen sind aber nur von theoretischer Bedeutung und können in unserem Zusammenhang dahinstehen. Einigkeit herrscht jedenfalls im Ergebnis, dem Ausschluß der Rechtfertigung nach § 34 StGB bei rechtlich zulässiger Preisgabe des Erhaltungsguts durch dessen Inhaber. 29 Damit kommt der Aspekt des Eigeninteresses des HIV-Infizierten für die Rechtfertigung einer eigenmächtigen HIV-Diagnostik schon nicht mehr in Betracht. Denn durch die Ablehnung des HIV-Tests verzichtet der HIVVerdächtige - so man überhaupt den gesundheitlichen Nutzen dieser Diagnostik anerkennt - auf das jedenfalls partiell seiner Disposition unterliegende Rechtsgut der eigenen Gesundheit. Dies wäre allenfalls dann anders zu beurteilen, wenn als zwingende Folge der Testverweigerung eine Lebensverkürzung zu erwarten wäre - so wie etwa bei absoluter Indikation eines lebenserhaltenden Eingriffs. Lebenserhaltende Funktion kann aber der HIV-Diagnostik nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Erkenntnisse - mangels entsprechender Therapieverfahren - nicht einmal mittelbar zukommen, so daß der "Testverweigerer" - wenn überhaupt - nur auf ein ihm zur Disposition stehendes Rechtsgut verzichtete. Für den Fortgang der Untersuchung spielen daher lediglich noch die beiden übrigen Interessen - "Personenschutz" und "Organisationsablauf' - als Erhaltungsgut eine Rolle. 4.2.2 "Gefahr" i.S.d. § 34 StGB
Eine Gefahr liegt für ein Schutzgut vor, wenn nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern die auf festgestellte tatsächliche Umstände gegründete Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht 30 • 4.2.2.1 Die Auffassung von Eberbach Eberbach 31 - abstellend allein auf den Gesichtspunkt "Personenschutz" verneint bereits diese Prüfungsvoraussetzung. Dabei bezieht er sich auf Angaben im medizinischen Schrifttum, denen zufolge eine Ansteckungsgefahr für den Arzt und das Pflegepersonal bei sachgerechtem Verhalten so gut wie ausgeschlossen sei, sowie auf Erhebungen über die Häufigkeit einer Ansteckung bei Eingriffen an AIDS-Patienten. 28 29 30 31
M./Zipf AT-1 § 27 III 6 b. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 9. Lenckner a.a.O Rdn. 12 m. w. N. Heimliche Aids-Tests, S. 1472.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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4.2.2.2 Kritik an der Auffassung Eberbachs
Unabhängig davon, ob und inwieweit die zitierten Daten schon zuverlässige Aussagen zur Risikohöhe bei Behandlungskontakten erlauben, ist es jedenfalls notwendig, zwei unterschiedliche Aspekte auseinanderzuhalten: -
zum einen die Frage der potentiellen Übertragungswege des HI-Virus bei Behandlungskontakten (Prämisse: HIV-Infektion unbekannt, Durchführung der Behandlung entsprechend dem bisher praktizierten (l) Sicherheitsstandard),
-
zum anderen die Frage nach möglichen - bisher noch nicht so stringent gehandhabten oder zusätzlichen - Sicherheitsvorkehrungen und ihrer Zuverlässigkeit.
Letzteres ist aber keine Frage des "Bestehens einer Gefahr", sondern der Alternativen zur Abwendung einer als existent erkannten Gefahr, in der Terminologie des § 34 StGB also die Frage, ob die Gefahr "nicht anders abwendbar" ist als durch die Notstandhandlung. 4.2.2.3 Eigenes Konzept aufgrund differenzierender Betrachtung
Das Vorliegen einer "Gefahr" LS.d. § 34 S.1 StGB beurteilt sich demnach ausschließlich nach der Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung unter Zugrundelegung der derzeitigen Faktizitäten bei ärztlicher Behandlung. Daraus ergibt sich folgendes: Bei einem HIV-inJizierten Patienten besteht nicht nur die gedankliche Möglichkeit einer HIV-Infektion, sondern - angesichts der nachgewiesenen Einzelfälle 32 - eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Virusübertragung auf Arzt bzw. Pflegepersonal. Ob der hier anzusetzende Wahrscheinlichkeitsgrad hinreichend hoch ist, ist allerdings eine andere, erst noch zu behandelnde Frage. Bei einem nachweislich nicht HIV-inJizierten Patienten besteht diese Gefahr - eine banale Feststellung - nicht. Bei einem Patienten, dessen HIV-Status bzw. HIV-Freiheit ungeklärt ist, ist zu differenzieren: -
bei Patienten ohne jegliche sogenannte Risikofaktoren, d. h. Lebensumstände, die nach derzeitigen Erkenntnissen die erhöhte Gefahr einer HIV-Infektion bedingen, besteht zwar die Möglichkeit, daß er gleichwohl HIV-Träger ist, angesichts der niedrigen Prävalenz der HIV-Infektion in der "Normalbevölkerung" handelt es sich dabei aber um eine bloße gedankliche Möglichkeit. Für die in der Behandlungssituation zu fällende ex-ante-Prognose liegen bei dieser Fallgruppe keine tatsächlichen Umstände vor, die es erlauben würden, 32
8·
Vgl. Erster Teil 5.2.3.
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
116
-
von der "Wahrscheinlichkeit" einer Ansteckung der Behandlungspersonen zu sprechen. bei Patienten mit Risikofaktoren 33 lassen dagegen tatsächliche Umstände den Schluß zu, daß diese mit gewisser Wahrscheinlichkeit HIV-Träger sind. Wann die Grenze zwischen "bloßer gedanklicher Möglichkeit" und "Wahrscheinlichkeit" in diesem Sinne erreicht ist, muß aufgrund empirischer Befunde über spezifische Risikofaktoren entschieden werden. Mangels hinreichend zuverlässiger Untersuchungen können derzeit nur im Sinne eines vorläufigen Resümees grobe Anhaltspunkte angegeben werden. Als Risikofaktoren könnten demnach angesehen werden 34 : -
intravenöse Applizierung von Drogen homosexuelle Kontakte Hämophilie sowie sexuelle Kontakte zu Personen mit den zuvorgenannten Risikofaktoren bzw. Kinder dieser Personen.
Diese Risikofaktoren lassen aber zunächst nur den Schluß zu, daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den HIV-Status des betreffenden Patienten besteht. 4.2.2.4 Einschränkung im Hinblick auf die Art der Behandlung Angesichts der gesicherten Erkenntnis, daß im Regelfall nur solche Verhaltensweisen zur HIV-Übertragung führen können, bei denen eine ausreichende Menge virushaitiger Körperflüssigkeit in die Blutbahn des anderen gelangt, nicht aber sogenannte "Alltagskontakte" 35 , muß daher - bevor der Schluß auf eine von den genannten Personen ausgehende relevante Ansteckungsgefahr gezogen werden kann - eine weitere Einschränkung gemacht werden: Nur in besonders sensiblen Bereichen der Krankenversorgung, in denen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Austritt virushaltiger Körperflüssigkeit während des Behandlungskontakts besteht (Operationsbereich, Dialyse, Kreißsaal, zahnärztlicher Bereich, Infektionsstation)36, wird die Gefahrenschwelle des § 34 StGB erreicht 37 • Entscheidend ist dabei, ob die im Rahmen der Behandlung durchzuführenden Eingriffe zum Verspritzen oder Versprühen von Blut führen können (Operation, Endoskopie, Geburtshilfe, Zahnheilkunde, Angiographie)38, so daß die Möglichkeit eines Blut-zu-Blut-Kontaktes zwiVgl. Erster Teil 5.2.2 sowie 5.2.5. Näher hierzu Erster Teil 5.2.2. 3S Vgl. Erster Teil 5.2.4. 36 Mertens. S. 372ff. 37 Eine andere, davon zu trennende Frage ist freilich, ob diese Gefahr bereits die in § 34 StGB vorausgesetzte Intensität erreicht (hierzu sogl. 4.2.2.5). 38 Mertens. S. 373. 33
34
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
117
schen Patient und Behandlungsperson - wenn auch nur theoretisch - eröffnet ist. Dagegen kann eine "Gefahr" i. S. d. § 34 StGB nicht angenommen werden, wenn sich die Behandlung - abgesehen von der Eingangsuntersuchung 39 - auf nicht invasive Strategien (orale Medikamentengabe etc.) beschränkt. Dagegen muß die Möglichkeit zufalliger, zwar im räumlichen Bereich der Behandlung auftretender, aber nicht spezifisch mit dieser zusammenhängender Blutkontakte, die den Risiken des täglichen Lebens zuzuordnen sind (B: Schnittverletzungen beim Rasieren, bei Maniküre oder Pediküre usw.) außer Betracht bleiben. Denn die schon bei normalen Alltagskontakten gegebene ohnehin minimale - Ansteckungsgefahr muß von jedem hingenommen werden. Diese kann nicht über die Notstandsregeln auf andere abgewälzt werden. Für § 34 StGB ist vielmehr eine das allgemeine Bestandsrisiko übersteigende Gefahr zu verlangen. 40 4.2.2.5 Erreichen des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades
Selbst nach Berücksichtigung der vorstehend genannten Einschränkungen Vorliegen mindestens eines Risikofaktors bei dem betreffenden Patienten und übertragungsgeeignete Behandlungsmaßnahme - stellt sich die Frage, ob damit schon eine für § 34 StGB hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Schadenseintritt - die Ansteckung des Behandlungspersonals - erreicht ist. Denn immerhin führt erst die Verkettung mehrerer, in ihrem Vorliegen letztlich ungewisser Umstände, zum Eintritt dieses Erfolges, so daß aufgrund einer Kumulation von Wahrscheinlichkeiten eine Art "Verdünnung" der Gesamtwahrscheinlichkeit für den Schadenseintritt selbst festzustellen ist. Die Frage, wann der für § 34 StGB zu fordernde Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts erreicht ist, läßt sich zwar i. d. R. nur an Hand der Umstände des konkreten Falles beurteilen, da exakte begriffiiche Fixierungen ebensowenig möglich sind wie die Angabe bestimmter Prozentzahlen. 41 Im Sinne einer allgemeinen Formel wird es aber für ausreichend gehalten, daß die Möglichkeit eines Schadenseintritts einen Grad erreicht hat, "von dem an man sich vernünftigerweise auf die Möglichkeit des schädigenden Ereignisses einzustellen pflegt"42. Dann reicht es aber bereits aus, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadens nicht völlig fern liegt. 43 Diese Schwelle derart niedrig anzusetzen, 39 Dieser eine übertragungsgeeignete Kontakt muß in jedem Falle ohne sichere Kenntnis über den HIV-Status des Patienten durchgeführt werden, da eine Punktion zur Gewinnung des Testats unumgänglich ist. 40 Jakobs AT 13/12. 41 Hirsch LK § 34 Rdn. 32. 42 Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 15. 43 Lenckner a.a.O.; enger Hirsch a.a.O.; noch weitergehend Jabkobs {AT 13/12), demzufolge eine Rechtsgutsverletzung nach dem zu erwartenden Verlauf nur "nicht unwahrscheinlich" sein dürfe.
118
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
erscheint durchaus sachgerecht, zumal die Niedrigkeit des Wahrscheinlichkeitsgrades im Rahmen der Interessenabwägung Berücksichtigung findet.44 Eine derartige Auslegung des § 34 StGB ermöglicht eine flexible, dem Einzelfall gerecht werdende Lösung, ohne daß damit eine zu extensive Handhabung des Notstandsrechts zu befürchten wäre. Sind nun an einem definitiv HIV-positiven Patienten übertragungsgeeignete Behandlungsmaßnahmen der oben 45 beschriebenen Art vorzunehmen, so ist hier angesichts der Größe des zu befürchtenden Schadens, der Ansteckung mit einer in der Regel tödlich endenden Krankheit, der Wahrscheinlichkeitsgrad für eine HIV-Transmission - wenn auch zahlenmäßig niedrig - doch so hoch, daß man sich "vernünftigerweise auf die Möglichkeit des schädigenden Ereignisses einzustellen pflegt". Aber auch bei Patienten, deren HIV-Status lediglich - gestützt auf einen oder mehrere der genannten Risikofaktoren - vermutet wird, besteht mehr als die "bloße gedankliche Möglichkeit" für eine HIV-Übertragung auf das Behandlungspersonal. Im Hinblick auf die hohen HIV-Prävalenzraten in Personengruppen, die diese Risikofaktoren aufweisen, kann nicht mehr von einer nur "völlig fernliegenden" Ansteckungswahrscheinlichkeit ausgegangen werden. Zu betonen ist aber, daß die genannten Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Behandlung objektiv vorliegen müssen. Ein bloßer Verdacht aufgrund einer exante-Beurteilung der Lebensumstände des Patienten reicht dagegen nicht aus. Vielmehr müssen die der Prognose als gegenwärtig zugrundegelegten Umstände tatsächlich gegeben sein,46 da § 34 StGB eben eine "Gefahr" als objektives (!) Merkmal voraussetzt und sich nicht etwa mit einem bloßen Gefahrenverdacht begnügt. Fehlt es - entgegen der Annahme des Arztes - am Vorliegen eines Risikofaktors, kann nur unter dem Aspekt eines unverschuldeten Erlaubnistatbestandsirrtums die Strafbarkeit entfallen. 4.2.3 "Gegenwärtigkeit" der Gefahr
Zu prüfen bleibt, ob es sich hierbei um eine gegenwärtige Gefahr handelt. Dies setzt voraus, daß die Gefahr nach einem sachverständigen ex-ante-Urteil alsbald oder in allernächster Zeit in einen Schaden umschlagen kann. 47 Als entscheidendes Kriterium wird hierbei zu Recht die Notwendigkeit zu sofortigem Handeln angesehen 48 • Daraus folgt für die vorliegende Thematik, daß die Durchführung übertragungsgeeigneter Behandlungsmethoden z.Z. der Vornahme des Test bereits definitiv und für einen nahen Zeitpunkt feststehen muß und nicht etwa 44 45 46
47 4lI
Lenckner a.a.O.; Jakobs AT 13/12. Vorstehend 4.2.2.4. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 13; a.A. Schaffstein, S. 101 ff. Lenckner a.a.O. Rdn. 17. Lenckner a.a.O. m.w.N.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
119
erst für einen noch nicht genau fixierten Termin ins Auge gefaßt sein darf. Im letzteren Falle müßte zunächst mit dem Test noch gewartet werden. Dies entspricht dem Interesse des Patienten, den Eingriff erst und nur dann dulden zu müssen, wenn das Schutzinteresse des Behandlungspersonals dies erfordert, zumal sich bei Veränderung der Behandlungsstrategie der ursprünglich für notwendig erachtete diagnostische Eingriff nachträglich als obsolet erweisen könnte. 4.2.4 Zwischenergebnis
Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten: Eine "gegenwärtige Gefahr" für die körperliche Integrität des Behandlungspersonals liegt dann - aber auch nur danJ;l- vor, wenn -
der Patient einen der empirisch als Risikofaktor belegten Umstände aufweist
und
-
eine die Möglichkeit eines Viruskontaktes eröffnende Behandlungsmaßnahme unmittelbar bevorsteht.
Die These Eberbachs, es fehle bereits "an der wichtigsten Voraussetzung des § 34 StG B, der ,gegenwärtigen Gefahr' "49, erscheint demnach - nach der hier vertretenen Auffassung - als zu undifferenziert und für einen - wenn auch zahlenmäßig geringen - Teil der Fälle sogar als sachlich unzutreffend. 4.2.5. Verhältnismäßigkeit (i. w.S.) der Notstandshandlung
Als weitere Voraussetzung für die Rechtfertigung verlangt § 34 StGB, daß es sich um eine "nicht anders abwendbare" Gefahr handelt. Die Notstandshandlung muß demnach - so die gängige Interpretation - in der konkreten Situation, "das erforderliche, d. h. ein geeignetes und zugleich das relativ mildeste Mittel zur Beseitigung der Gefahr"so sein. Neben dem sich schon unmittelbar aus dem Wortlaut des § 34 S. 1 StGB erschließenden Merkmal der Erforderlichkeit bedarf es also auch der Feststellungen der Geeignetheit des Mittels. Dies ist ohne weiteres einsichtig, da die Formulierung "nicht anders (!) abwendbar" die Tauglichkeit der Notstandshandlung zur Gefahrenbeseitigung impliziert. Nur wenn letzteres zu bejahen ist, läßt sich die Frage nach Alternativen zur Gefahrenverminderung überhaupt sinnvoll stellen.
Heimliche Aids-Tests, S. 1472. so Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn.18; ebenso Hirsch LK § 34 Rdn. 50; Samson SK § 34 Rdn. 9; Jakobs AT 13/17. 49
120
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
4.2.5.1 Geeignetheit des HIV-Tests
Die im Hinblick auf Auswahl und konkrete Anwendung zu beurteilende Geeignetheit des Mittels setzt zwar einerseits nicht etwa die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die Effizienz der konkreten Notstandshandlung voraus. Andererseits genügt es jedoch nicht, wenn durch sie die Rettungschancen nur ganz unwesentlich erhöht werden. Inwieweit das Risiko des Mißlingens der Rettung tolerabel ist, hängt von der Größe der Gefahr und der Schutzwürdigkeit des bedrohten Gutes ab. 51 "Geeignet" zur Abwendung von Gesundheitsgefahren für das Behandlungspersonal wäre ein HIV-Test jedenfalls dann, wenn er absolute Gewißheit über den HIV-Status des jeweiligen Patienten vermitteln würde. Denn im Falle eines positiven Befundes würden Ärzte und Pflegepersonal bei Durchführung aller übertragungsgeeigneten Behandlungsmaßnahmen zur striktesten Beachtung aller Vorsichtsregeln 52 motiviert 53 , so daß eine HIV-Übertragung praktisch ausgeschlossen werden könnte. Die Möglichkeit falsch-positiver Testergebnisse ist im Hinblick auf die Geeignetheit zum Schutz des Behandlungspersonals irrelevant, nicht aber diejenige falsch-negativer Testergebnisse. Entscheidende Bedeutung kommt daher der Sensitivität 54 des jeweils verwendeten Testsystems zu. Angesichts der festgestellten geringen Fehlerraten 55 dürfte den gebräuchlichen Testverfahren insoweit die Geeignetheit als Mittel zum Schutz des Behandlungspersonals nicht abgesprochen werden können. Ein gewichtiger Einwand erhebt sich aber aus anderen Gründen generell gegen alle indirekten Testverfahren. Infolge der individuell unterschiedlich langen Phase zwischen Aufnahme des Virus und der Bildung einer für den Nachweis ausreichenden Anzahl von Antikörpern ist tatsächlich die Zahl falschnegativer Testbefunde wesentlich höher, als dies die relativ günstigen Werte zur Sensitivität suggerieren. 56 Demnach kann bei einem Teil der Patienten, bei denen dem Testbefund zufolge erhöhte Vorsichtsmaßnahmen jedenfalls nicht im Hinblick auf eine mögliche HIV-Übertragung angezeigt sind, der Test seinen Schutzzweck nicht erreichen. Würden Ärzte und Pflegepersonal - unter Ignorierung der nur beschränkten Aussagekraft der HIV-Antikörper-Tests den negativen Testbefund sogar als Freibrief für geringere Sorgfalt mißversteLenckner a.a.O. Rdn. 19. Vg!. hierzu Erster Teil 5.2.5.4. 53 Näher zur Begründung der Annahme eines derartigen Motivationseffektes sog!. im folg. (4.2.5.2). 54 Vg!. Erster Teil 4.2.2. 55 Vg!. Erster Teil 4.2.2. 56 Die Sensitivität enthält nur eine Aussage über die Fehlerrate bei Tests von Seren, in denen an sich eine die Nachweisgrenze überschreitende Anzahl von Antikörpern vorhanden sind (vg!. Erster Teil 4.2.2). 51
52
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
121
hen, so wäre der Test - da ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermittelndsogar kontraproduktiv 57 • Jedoch kann die - im Einzelfall bestehende - Möglichkeit einer derartigen unzutreffenden Interpretation des Testergebnisses nicht dazu führen, das Instrument selber - den Test - als ungeeignet zu disqualifizieren. Entscheidend ist vielmehr, daß jedenfalls der weitaus größere Teil der Virusträger vor Durchführung einer übertragungsgeeigneten Behandlungsmaßnahme erkannt wird und dadurch der erwünschte Motivationseffekt in der Mehrzahl der Fälle, in denen überdurchschnittliche Sorgfalt angezeigt ist, erzielt wird. Bei sachgemäßer Anwendung des Tests, insbesondere realistischer Interpretation des Testergebnisses, führt dieser demnach zu einer merklichen Verringerung des Ansteckungsrisikos für das Behandlungspersonal und stellt damit ein geeignetes Mittel zum Schutze des Erhaltungsguts - Leben und Gesundheit von Ärzten und Pflegepersonal - dar. 4.2.5.2 Erforderlichkeit des HIV-Tests
Damit stellt sich die Frage nach der Erforderlichkeit, die Frage also, ob diegegen den Willen des Patienten erfolgte - Durchführung des Tests als das relativ mildeste Mittel anzusehen ist. Dies setzt voraus, daß sie nach ihrer Art und Anwendung von den dem Täter zu Gebote stehenden Mitteln das schonendste ist. 58 Ausgeschlossen ist die Rechtfertigung demgegenüber dann, wenn in der konkreten Situation weniger einschneidende Maßnahmen möglich sind, mit denen die Gefahrabwendung ebenso aussichtsreich wahrgenommen werden kann. 59 Verneint wird das Vorliegen dieser Voraussetzung von Eberbach 6fJ, da es sich als "einfachste und gradlinige Alternative" anbiete, den Patienten auf den geplanten Test hinzuweisen. Kein verständiger Patient werde einer generell, gleichsam routinemäßig durchgeführten Schutzmaßnahme die Einwilligung versagen. Geschehe dies im Einzelfall doch, so solle der Arzt vorsorglich jenen hohen Hygienestand wahren, den er auch bei positivem Testergebnis einhalten würde. Einleuchtend erscheint auf den ersten Blick der Einwand, schon durch vorsorgliche Wahrung des bei Virusträgern angezeigten "hohen Hygienestands" ließe sich die Infektionsgefahr abwenden, zumal es gesicherter Erkenntnis entspricht, daß die Einhaltung der im Hinblick auf die HBV-Übertragung 57 In diesem Sinne Bruns (AIDS, S. 355), der meint, die Befugnis zu heimlichen HIVTests "würde der Mißachtung der unbedingt gebotenen hygienischen Schutzmaßnahmen nur Vorschub leisten." Diese These unterstellt medizinischen Fachkräften (!) ein Maß an Blauäugigkeit, das wohl kaum mit der Wirlichkeit in Einklang stehen dürfte! 58 Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 20. 59 Hirsch LK § 34 Rdn 52 m. w. N. 60 Heimliche Aids-Tests, S. 1472.
122
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
statuierten Verhaltensmaßregeln zuverlässig auch die HIV-Infektion verhindert. 61 Im Vergleich zur nicht konsentierten HIV-Diagnostik wäre dies für den Patienten zweifellos das schonendere Mittel. Die Frage ist aber, ob es sich hierbei um eine wirkliche - d. h. im Hinblick auf den Schutzweck zumindest weitgehend gleich effektive - Alternative handelt. Als solche wäre sie nur dann anzusehen, wenn Ärzten und Pflegepersonal die ständige Beachtung aller dieser Vorsichtsmaßregeln bei jeder übertragungsgeeigneten Behandlungsmaßnahme theoretisch möglich wäre und mit der Einhaltung dieses optimalen Sicherheitsstandards auch praktisch gerechnet werden könnte. Insbesondere in faktischer Hinsicht sind erhebliche Zweifel angebracht. Denn angesichts der großen Zahl derartiger Behandlungskontakte, die täglich - noch dazu häufig unter Zeitdruck - ablaufen, kann es kaum ausbleiben, daß bisweilen die Aufmerksamkeit nachläßt und die gebotenen Sorgfaltsvorkehrungen nicht mehr strikt beachtet werden. Diese jedem Routinebetrieb inhärente Gefahr bestand auch bisher schon und war von den Betroffenen als berufsspezifisches Risiko in Kauf zu nehmen. Angesichts der Unheilbarkeit und der hohen Mortalitätsrate bei AIDS hat dieses Risiko aber eine neue, mit dem bisherigen nicht vergleichbare Dimension erreicht. Dieses Risiko kann nicht mehr einfach - da "berufsspezifisch" - als hinnehmbar betrachtet werden. Andererseits erscheint es illusorisch anzunehmen, das allgemeine Bewußtsein vom Vordringen dieser Krankheit könnte genügen, nunmehr die ständige Einhaltung des optimalen Hygienestandards zu gewährleisten. Damit würde man an Ärzte und Pflegepersonal unrealistische Anforderungen stellen und die aus der Ausbreitung des HI-Virus resultierenden Belastungen einseitig auf die Angehörigen dieser Berufsgruppe abwälzen. Diese Annahme kann sich zwar (noch) nicht auf empirische Belege speziell aus dem Bereich der Krankenversorgung stützen, da entsprechende Untersuchungen - soweit ersichtlich - noch nicht durchgeführt wurden. Jedoch dürften die vorliegenden Erkenntnisse der arbeitspsychologischen Forschung zur Wirkung der allgemeinen Aktivierung im Hinblick auf die Anforderungsbewältigung bei Arbeitsprozessen diese These bestätigen. Danach soll die bloß allgemeine Aktivierung dann gravierende Nachteile aufweisen, wenn sie nicht als vorübergehende, sondern als langfristige oder ständige Bewältigungstechnik eingesetzt wird. 62 Kennzeichnend für die dabei festzustellenden blinden Formen der Überwindung von Schwierigkeiten sei, daß die praktizierten Verhaltensweisen nicht notwendig zum Erfolg führten und nicht selten sogar Fehler produzierten. 63 Allgemeine Aktivierungserscheinungen steIlten stets unrationelle Verhaltensweisen dar, als deren Folge die Entwicklung optimaler Tätigkeitsstrukturen verhindert werde. 64
Geht man aber davon aus, daß die routinemäßige Einhaltung von Sicherheitsstandards stets aufgrund der allgemeinen menschlichen Unzulänglichkeit die 61 62 63 64
V gl. Erster Teil 5.2.5.4. Hacker 11.2.2 (S.465). Hacker a.a.O. Hacker 11.2.2 (S. 466).
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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Gefahr von "Ausreißern" in sich birgt, so bringt die mit der Kenntnis des HIVStatus des konkreten Patienten verbundene Aktualisierung des Gefahrbewußtseins in - derzeit noch relativ selten auftretenden - Einzelfällen zweifellos ein erhöhtes Maß an Sicherheit für Ärzte und Pflegepersonal. Denn das positive Wissen um die Infektiosität des betreffenden Patienten dürfte stets einen Motivationseffekt dahingehend auslösen, daß hier sämtliche Sicherheitsrnaßregeln strikt beachtet werden, was ohne diese Kenntnis nicht in dem Maße zu erwarten ist. Damit verspricht der HIV-Test in den Fällen, in denen sich ein positiver Befund ergibt, eine Verringerung des Ansteckungsrisikos für Ärzte und Pflegepersonal. Die Möglichkeit, durch generelle Wahrung eines "hohen Hygienestands" die HIV-Übertragung zu verhindern, vermag daher als Einwand gegen die Erforderlichkeit von HIV-Tests an Patienten nicht zu überzeugen. Ob dieser Zugewinn an Sicherheit in einem - unter dem Aspekt der Zumutbarkeit tragbaren - Verhältnis zu der damit verbundenen Interessenbeeinträchtigung auf Seiten des Patienten steht, ist eine ganz andere Frage, der erst im Rahmen der Interessenabwägung nachzugehen ist. 6S 4.2.5.3 Zusammenhang zwischen Erforderlichkeit des HIV-Tests und ärztlicher Behandlungspflicht
Im allgemeinen wird die Auffassung vertreten, die Gefahr sei nicht schon deshalb anders abwendbar, weil der Inhaber des in Anspruch genommenen Guts um seine Einwilligung gefragt werden könnte. 66 Soweit damit der Subsidiaritätsthese, die die Einwilligung als unabdingbare Vorschaltvoraussetzung für die Anwendung der Notstandsregeln betrachtet 67 , eine Absage erteilt wird, ist dem aus den bereits erwähnten Gründen voll beizupflichten. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß die Möglichkeit, die Einwilligung des Rechtsgutsträgers zu erlangen, im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Notstandshandlung schlechthin unerheblich ist. Vielmehr ist die Gefahr dann anders abwendbar, wenn die Notstandslage in gleicher Weise bei Verweigerung der Einwilligung entfiele 68 • Im vorliegenden Zusammenhang rückt damit die Frage nach den Konsequenzen der Weigerung des Patienten, sich dem HIV-Test zu unterziehen, in den Blickpunkt. Würde diese nämlich den Arzt seinerseits zur Verweigerung der Behandlung bzw. zumindest der übertragungsgeeigneten Behandlungsmaßnahme berechtigten, so stünde ihm eine seinem Schutz vor Ansteckung mehr als gleichwertige Alternative zu Gebote. Dies gilt selbstverständlich auch dann, 65 66 67
68
Zu dieser Frage unten 4.2.5.5. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 20; Jakobs AT 13/21 m. w. N.; Hirsch LK § 34 Rdn. 52. Vgl. oben 4.1.3. Sch-Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 20; Geilen. Anmerkung, S. 384.
124
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
wenn der Arzt von vorneherein ohne Angabe (sachlicher) Gründe schlechthin zur Ablehnung der Behandlung berechtigt wäre. Die Behandlungsverweigerung stellt in diesen Fällen im Vergleich zur nichtkonsentierten HIV-Diagnostik auch das mildere Mittel dar, da jene abgesehen von den Fällen der Behandlungspflicht des Arztes 69 - den Schutz des Erhaltungsgutes ohne Eingriff in die Rechte Dritter erreicht. Daß bei dieser Alternative - Vermeidung des übertragungsgeeigneten Kontaktes - der Arzt eine finanzielle Einbuße hinnehmen müßte, ist ohne Bedeutung, da die Preisgabe bloßer Gewinnaussichten im Rahmen der Interessenabwägung zur Bestimmung der relativen Milde der Rettungsalternativen 70 nicht nennenswert ins Gewicht fallen kann. Ebensowenig kann hier das Interesse des Patienten an der Durchführung der Behandlung zu Buche schlagen und etwa die Behandlungsverweigerung im Vergleich zur "Zwangstestung" als das weniger schonende Mittel erscheinen lassen. Denn auf dieses Interesse, kann sich derjenige, der die Einwilligung in den vom Arzt zur Voraussetzung für die Behandlung erklärten HIV-Test verweigert hat, nicht berufen. Freilich sind einer derartigen ultimativen Forderung des Arztes normative Grenzen gezogen: Sie muß immer dann ins Leere gehen, wenn der Arzt aus Rechtsgründen verpflichtet ist, die Behandlung zu übernehmen. In diesen Fällen - aber auch nur in diesen Fällen - ist dem Aspekt der Erforderlichkeit des Notstandseingriffs Genüge getan, so daß - vorbehaltlich eines entsprechenden Ergebnisses der Interessenabwägung nach § 34 S. 1, 2. Halbs. StGB sowie der Bejahung der Angemessenheit nach § 34 S. 2 StGB - der ohne Einverständnis des Patienten vorgenommene HIV-Test gerechtfertigt ist. 4.2.5.4 VoraussetzungenjUr die Behandlungspflicht des Arztes
Damit hängt die Erforderlichkeit von HIV-Tests zum Schutze von Ärzten und Pflegepersonal davon ab, wie man die Frage der Behandlungspflicht des Arztes beantwortet. Im Prinzip steht es dem Arzt frei, die gewünschte Behandlung abzulehnen; grundsätzlich besteht kein Kontrahierungszwang 71. Strengere Regeln gelten jedoch für den Kassenarzt, da dieser gemäß § 368 a Abs. 4 RVO mit seiner Zulassung grundsätzlich zur Behandlung aller sozialversicherten Patienten verpflichtet ist, wobei die Verletzung dieser öffentlich-rechtlichen Pflicht mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden kann 72. Zur Ablehnung der Behandlung ist der Arzt nur in begründeten Fällen berechtigt. Hierzu sog!. Vg!. Jakobs AT 13/18. 71 Vg!. § 1 Abs. 6 der Musterberufsordnung für deutsche Ärzte (MuBO); eingehender Eberbach, ArztrechtIiche Aspekte, S.283. 72 Narr Rdn. 727. 69
70
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
125
Die Frage ist nun, ob die (mögliche) HIV-Infektiosität eines Patienten als derartiger Ausnahmefall anzuerkennen ist. Eberbach verneint dies generell, da berufsbedingte Infektionen leicht zu vermeiden seien und die Gefahr des Ausbleibens anderer Patienten wegen des Virusträgers kein aus dem medizinisch-persönlichen Bereich stammender Umstand sei, der allein als "wichtiger Grund" in Frage käme 73 • Zutreffend ist es zunächst, im HIV-Status des Patienten keinen relevanten Grund für die Behandlungsverweigerung zu erblicken. Davon zu unterscheiden ist aber die hier interessierende Konstellation, daß die Eigenschaft des Patienten als Virus träger ungeklärt ist und lediglich tatsächliche Umstände einen entsprechenden Verdacht nahelegen. Will hier der Arzt zur Abklärung seines eigenen Risikos einen Test durchführen und verweigert dies der Patient, so verwehrt er dem Arzt eine von diesem für erforderlich gehaltene Maßnahme zum Eigenschutz. Des weiteren impliziert diese Entscheidung vielfach eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient, die in jedem Fall ein berechtigter Grund zur Ablehnung der Behandlung wäre 74 • Freilich können im Einzelfall nicht nur Zweifel an der Verschwiegenheit des Arztes der Grund für den Widerstand des Patienten sein, sondern auch andere, das Arzt-Patientenverhältnis nicht unmittelbar berührende Motive. Auch dann ist aber die Verweigerung des HIV-Tests als beachtenswerter Grund anzuerkennen, der den Arzt seinerseits zur Ablehnung der Behandlung berechtigt. Denn es muß dem Arzt zugestanden werden, die Übernahme einer Behandlung davon abhängig zu machen, daß er das damit für ihn verbundene Risiko realistisch abschätzen kann. Es erschiene inkonsequent, würde man für den Patienten im Hinblick auf dessen verfassungsrechtliches Selbstbestimmungsrecht Aufklärung über alle entscheidungsrelevanten Umstände im Zusammenhang mit dem ärztlichen Eingriff reklamieren, dem Arzt aber - der sich mit gleichem Recht auf die Freiheitsgarantien des Art. 2 GG berufen kann -ein berechtigtes Interesse an umfassender Information über berufsspezifische Gefahren absprechen. Daher ist der Arzt im Normalfall berechtigt, die mit übertragungsgeeigneten Maßnahmen verbundene Behandlung eines Kassenpatienten, der sich der HIVDiagnostik widersetzt, abzulehnen, ohne disziplinarrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. 75 Dieselben Gesichtspunkte kommen zum Tragen, wenn erst nach Übernahme der Behandlung Tatsachen bekannt werden, die einen HIV-Test angezeigt erscheinen lassen. Verweigert der Patient hierzu seine Einwilligung, so kann der Arzt den Behandlungsvertrag wegen Vorliegens eines wichtigen Grundes kündigen und sich dadurch seiner vertraglichen Verpflichtung entledigen 76. 73
74
75 76
Arztrechtliche Aspekte, S. 283. Narr Rdn. 727. Im Erg. ebenso Laufs/Laufs, S. 2263. A.A. Eberbach, Arztrechtliche Aspekte, S. 283.
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
Einschränkungen dieser weitgehenden Freiheit des Arztes können sich indes aus der Vorschrift des § 323 c StGB ergeben, die unter bestimmten Umständen für jedermann die Pflicht zur Hilfeleistung statuiert: Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen einer Notsituation im Sinne der genannten Vorschrift, insbesondere eines Unglücksfalles, also eines plötzlich eintretenden Ereignisses, das erhebliche Gefahren für Menschen oder Sachen hervorruft oder hervorzurufen droht 77 • Die Hilfspflicht setzt damit bereits vor Eintritt eines Schadens ein. Ausgelöst wird sie durch alle plötzlichen Ereignisse, die unmittelbar erhebliche Gefahren für Menschen oder Sachwerte begründen und in einen erheblichen Schaden umzuschlagen drohen 78. Im vorliegenden Zusammenhang folgt aus dem Merkmal der "Plötzlichkeit" eine erste Einschränkung: Lediglich bei unfallbedingten Verletzungen sowie bei Eintritt einer mit der Gefahr schwerer Schäden verbundenen plötzlichen Wendung im Verlauf einer Krankheit 79 wird man von einer derartigen Notlage sprechen können 8o • Während sich bei der Voraussetzung der Erforderlichkeit dieselben Probleme wie auch sonst stellen, erlangt der Aspekt der Zumutbarkeit der Hilfeleistung bei HIV-infizierten oder -verdächtigen Hilfsbedürftigen besondere Bedeutung: Allgemein beurteilt sich diese Frage nach dem Maßstab des allgemeinen Sittlichkeitsempfindens aufgrund einer Abwägung zwischen den Gefahren der Unglückssituation einerseits und den Eigeninteressen des potentiellen Helfers. 81 Unzumutbar ist die Hilfeleistung etwa, wenn der Helfer dadurch eigene Rechtsgüter einer erheblichen Gefahr aussetzen würde 82 • "Erheblich" sind solche Gefahren nicht etwa erst dann, wenn sie diejenigen überwiegen, die dem hilfsbedürftigen Rechtsgut drohen. Die mit der Hilfeleistung für Rechtsgüter des Helfers verbundenen Gefahren müssen aber ein gewisses Gewicht aufweisen und in einem angemessenen Verhältnis zu den zu bekämpfenden Gefahren stehen. Je schwerer die drohenden Schäden wiegen, desto mehr ist es dem Hilfspflichtigen auch zuzumuten, Gefahren für seine eigenen Rechtsgüter in Kauf zu nehmen 83 • Nach einer Entscheidung des Reichsgerichts kann eine - zur Verneinung der Zumutbarkeit führende - eigene erhebliche Gefahr in der Bedrohung der Gesundheit des Helfers durch "die Möglichkeit der Ansteckung"84 begründet Rudolphi SK § 323 c Rdn. 5 m.w.N. Rudolphi a.a.O. 79 So die h.M.; zur abw. Auffassung von Eb. Schmidt für den Fall der krisenhaften Wendung einer Krankheit vg1. Rudolphi SK § 323 c Rdn. 5 sowie Bockelmann a. a. O. Fn. 11. 80 Ponsold-Bockelmann, S. 3 (1. Sp.); Sch.Sch.-Cramer § 323 c Rdn. 6. 81 Sch.Sch.-Cramer § 323 c Rdn. 20. 82 Cramer a.a.O. Rdn. 21. 83 Rudolphi SK § 323 c Rdn. 25 m. w. N. 84 RG DR (= Deutsches Recht) 1944, 726f (727); im entschiedenen Fall wurde die Gefahr einer Ansteckung mit Nasendiphterie in Betracht gezogen. 77
78
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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sein. Daraus kann jedoch nicht der Schluß gezogen werden, das Bestehen einer Ansteckungsgefahr entbinde ohne weiteres von der Hilfspflicht. Vielmehr bedarf es der eingangs angesprochenen Interessenabwägung, wobei der Höhe des Ansteckungsrisikos im konkreten Falle maßgebliche Bedeutung zukommt. Dann kann aber der HIV-Status des Hilfsbedürftigen allein nicht schon die Hilfeleistung als unzumutbar erscheinen lassen, da nur bei bestimmten Verhaltensweisen, insbesondere solchen, die die Gefahr eines Kontakts mit virushaltigern Blut begründen, eine über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehende Infektionsgefahr besteht 85 • Beschränkt sich die erforderliche Hilfeleistung dagegen auf in diesem Sinne nicht gefahrgeneigte Kontakte, so werden die Erhaltungsinteressen des sich in einer Notsituation befindlichen Rechtsguts, das ja schon per definitionem erheblicher Geflihrdung ausgesetzt sein muß, stets die Eigeninteressen des Helfers überwiegen, fallen doch bei diesem nur minimale Risiken für die eigene Gesundheit in die Waagschale. Aber auch bei prinzipiell übertragungsgeeigneten Kontakten, etwa wenn die Versorgung einer stark blutenden Wunde erforderlich wird, wird im allgemeinen die Zumutbarkeit der Hilfe zu bejahen sein. Denn nach gesicherter Erkenntnis kann bei strikter Einhaltung aller einschlägigen Sicherheitsrnaßnahmen das Übertragungsrisiko für den Arzt praktisch ausgeschlossen werden. Zwar wurde zuvor 86 der auf dieser Erkenntnis basierenden These, bei HIV-Tests fehle es schlechthin am Merkmal der Erforderlichkeit, ausdrücklich widersprochen. Das maßgebliche Argument hierfür, die faktische Unmöglichkeit, ständig also bei allen vorkommenden Behandlungen - diesen optimalen Sicherheitsstandard zu wahren, so daß es des durch die Kenntnis des aktuellen Risikos ausgelösten Motivationseffektes bedürfe, kommt aber im Kontext des § 323 c StGB nicht in gleicher Weise zum Tragen. Zum einen stellen Notsituationen von der in § 323 StGB vorausgestzten Qualität ohnehin den Ausnahmefall dar, so daß von der Situation selbst eine gewisse Appellfunktion im Hinblick die Notwendigkeit des Selbstschutzes ausgeht und die Gefahr nachlassender Sorgfalt zumindest nicht in dem Maße gegeben ist wie bei reinen Routinemaßnahmen. Es erscheint daher auch berechtigt, in diesen Fällen auf Seiten des Pflegepersonals die Anforderungen an die Aktualisierung des Wissens um mögliche Gefahrdungen höher zu schrauben als etwa im Routinebetrieb. Zum anderen kann in Notlagen von der in § 323 c StGB geforderten Intensität dem Recht des Arztes, seine Entscheidung hinsichtlich der Behandlungsübemahme von der genauen Kalkulierbarkeit der damit verbundenen Risiken abhängig zu machen, keine durchschlagende Bedeutung zukommen. Denn typischerweise ist in derartigen Situationen sofortiges Handeln unabdingbar und auch von Rechts wegen gefordert 87 , ohne daß der Gesetzgeber dem potentiellen Helfer eine Überlegungsfrist oder etwa die Befugnis der vorherigen Gefahrenerforschung 8S 86 87
Vgl. Erster Teil 5.2.2 und 5.2.5. Vgl. 4.2.5.2. Vgl. Sch.Sch.-Cramer § 323 c Rdn. 24.
128
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
eingeräumt hätte. Daraus ist aber zu schließen, daß in § 323 c StGB insoweit das Selbstbestimmungsrecht des Hilfspflichtigen dem Gebot der Effizienz der Hilfe untergeordnet ist.
Zusammenfassend ist damit festzuhalten: Im Falle einer Notsituation i. S.d. § 323c StGB darf der Arzt die notwendige Behandlung eines (tatsächlich oder mutmaßlich) HIV-infizierten Hilfsbedürftigen nicht ablehnen, so etwa wenn dieser nach einem Unfall der ärztlichen Versorgung bedarf oder wenn dessen Krankheit überraschend einen bedrohlichen Verlauf nimmt. 88 Für die Frage der Erforderlichkeit des HIV-Tests folgt daraus: Im Regelfall ist die Gefahr für die Gesundheit von Ärzten und Pflegepersonal anders als durch den (nicht-konsentierten) HIV-Test abwendbar, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB also ausgeschlossen. Ist nämlich der Arzt - so wie im Normalfall - nicht zur Durchführung der übertragungsgeeigneten Behandlungmaßnahme verpflichtet, so wird durch die Frage nach der Einwilligung des Patienten in den HIV-Test der Notstandseingriff injedem Fall obsolet. Wird die Frage abschlägig beschieden, so steht es dem Arzt frei, durch Ablehnung der Behandlung den risikobehafteten Kontakt zu vermeiden; stimmt der Patient zu, ist die Venenpunktion aufgrund der Einwilligung gerechtfertigt. In Fällen dieser Art, in denen es der Arzt versäumt hat, nach der Einwilligung zu fragen oder diese verweigert wurde, muß daher der Rückgriff auf die Notstandsregeln versagen. Diese Aussage ist nicht zu verwechseln mit der - bereits die Anwendbarkeit der Notstandsregeln betreffenden - Subsidiaritäts-These: Letztere verneint generell die Rechtfertigung nach § 34 StGB, also unabhängig von der Frage der Behandlungspflicht des Arztes und damit auch und gerade dann, wenn der Arzt der ihm oder seinem Personal drohenden Gesundheitsgefahr nicht schon durch schlichtes Unterlassen derBehandlung des Infizierten aus dem Wege gehen kann.
Erforderlich ist der HIV-Test - auch der nicht durch eine wirksame Einwilligung gedeckte - nur in den Fällen, in denen der Arzt nach der Bestimmung des § 323c StGB zur Behandlung des HIV-Infizierten verpflichtet ist, wenn also eine akute Erkrankung oder eine unfall bedingte Verletzung sofortige ärztliche Versorgung gebietet.
4.2.5.5 Interessenabwägung (§ 34 S. 1, 2. Satzt. StGB) Damit ist aber noch nicht gesagt, daß in den zuletzt genannten Fällen der erforderliche - HIV-Test im Ergebnis tatsächlich gerechtfertigt ist. Dies setzt 88 Im Ergebnis entspricht dies weitgehend der Auffassung von Eberbach (Arztrechtliche Aspekte, S. 284), der jedoch einschränkend "einzelne Arten von Maßnahmen" für unzumutbar erachtet. Dies birgt aber die Gefahr in sich, HIV-Infizierte mehr und mehr von der sonst rechtlich geforderten mitmenschlichen Solidarität auszunehmen.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
129
vielmehr zusätzlich eine der Abwägungsklausel des § 34 S. 1/2. Halbs. StGB entsprechende Wertung voraus. Dem Gesetzeswortlaut nach muß die Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen, in die neben dem Wert der beteiligten Güter und der Höhe der drohenden materiellen und ideellen Schäden auch die Nähe und Schwere der dem geschützten Gut drohenden Gefahr sowie eine Reihe weiterer Faktoren einzustellen sind,89 ein wesentliches Überwiegen des zu schützenden gegenüber dem durch die Notstandshandlung zu beeinträchtigenden Interesse ergeben. Ausgehend von § 228 BGB - defensiver Notstand bei von Sachen ausgehenden Gefahren - wird aber dann, wenn die Gefahr vom Eingriffsgut selbst ausgeht, diese Formel im Hinblick auf den zu fordernden Interessensaldo umgekehrt. In diesen Fällen des sogenannten DeJensivnotstandes reicht es - nach im Ergebnis 90 wohl einhelliger Auffassung - wenn der verursachte Schaden den verhinderten nur nicht wesentlich überwiegt 91 . Eine derartige Umkehrung der Proportionalität 92 tritt dann ein, wenn die abzuwehrende Gefahr ihren Ursprung im Herrschafts- und Verantwortungsbereich des Hilfebedürftigen hat,93 wenn also das Eingriffsopfer für die Gefahr zuständig ist, d. h. die Pflicht hat, die Gefahr selbst zu beseitigen oder nur infolge Unfähigkeit diese Pflicht nicht hat. 94Was die aus der Behandlung eines HIV-Infizierten resultierenden Ansteckungsgefahren für Ärzte und Pflegepersonal anbelangt, so ist die Bestimmung dieser "Gefahrenzuständigkeit" wesentlich weniger eindeutig, als dies zunächst scheinen mag: Da bei optimaler Beachtung aller ohnehin - im Hinblick auf andere Infektionsrisiken - angezeigten Vorsichtsmaßregeln eine relevante Gefahr nicht besteht, die HIV-Übertragung also von einem Fehlverhalten auf Seiten der Ärzte abhängig ist, ist - so könnte man argumentieren die Gefahr dem Bedrohten selbst zuzurechnen, womit ein Aggressivnotstand vorläge. Vorstehende Argumentation liefe aber auf eine unzulässige Überbürdung von Sicherungspflichten hinaus. Diese trifft nach den zum Unterlassungsdelikt entwickelten Zurechnungskriterien denjenigen, der durch sein Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen die Gefahr für den Eintritt schädlicher Erfolge geschaffen hat. 95 Für de'n HIV-infizierten Patienten erwachsen demnach dann Sicherungspflichten zur Verhinderung der Virusübertragung, wenn er es bei 89 Vgl. Jescheck § 33 IV 3 c; Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn.26ff; Hirsch LK § 34 Rdn.62ff. 90 Lediglich die Begründungen divergieren: Während die wohl h.M. aus § 228 BGB einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund ableitet (vgl. Schroeder. Notstandslage, S. 340) postuliert Hruschka (Strafrecht, S. 134f.) einen außergesetzlichen Rechtfertigungsgrund. 91 Schroeder a. a. O. 92 Jakobs AT 13/46. 93 Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 30. 94 Jakobs AT 13/47. 95 Sch.Sch.-Stree § 13 Rdn. 32.
9 pfeffer
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV -Tests
Antritt einer prinzipiell mit Infektionsrisiken behafteten Behandlung unterlassen hat, den Arzt auf seinen HIV-Status hinzuweisen. Hierzu wäre er verpflichtet gewesen, um dem Arzt eine eigenverantwortliche Entscheidung hinsichtlich der Übernahme der Behandlung bzw. entsprechend hohe Sorgfalt bei Selbstschutzmaßnahmen zu ermöglichen 96. Unterläßt der Patient diesen Hinweis, so handelt er pflichtwidrig und es liegt ein zur Garantenhaftung führender Tatbestand vor. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese mangelnde Information auf Verschulden beruht, da nicht etwa nur die schuldhafte Herbeiführung der Gefahr zur Garantenstellung kraft Ingerenz führt. 97 Nach den von Jakobs entwickelten Zurechnungskriterien ergibt sich diese Lösung schon daraus, daß die Organisationszuständigkeit "für die eigene Person genuin (besteht)". 98 Aus dieser Organisationszuständigkeit folgt die Pflicht, dafür zu sorgen, daß der eigene Organisationskreis keine schädlichen Außenwirkungen hat. Diese Pflicht besteht unabhängig vom Verhalten dessen, der durch die Gefahr bedroht wird. Sie wird also insbesondere nicht etwa dadurch aufgehoben, daß das spätere Opfer sich seinerseits zurechenbar schadensgeneigt verhält. 99 Eine Grenze besteht hier zwar insofern, als die aus sozialadäquatem Verhalten resultierenden Gefahren dem Inhaber des Organisationskreises nicht mehr zugerechnet werden. 1°O Diese Schranke wird aber im vorliegenden Zusammenhang nicht relevant, da die Verheimlichung des Infektionsrisikos bei Behandlungsbeginn und die hieraus resultierenden Gefahren nicht mehr als "sozialadäquat" anzusehen sind 101. Nach alledem ist im Falle des Verschweigens des HIV-Status durch den Patienten die Ärzten und Pflegepersonal im Zuge von Behandlungsmaßnahmen drohende HIV-Infizierung dem Verantwortungsbereich des Patienten zuzuordnen, so daß aus der Sicht des Arztes ein DeJensivnotstand vorliegt. In Umkehrung der dem Wortlaut nach von § 34 S. 1/2. Halbs StGB vorausgesetzten Proportionalität tritt daher die Rechtfertigung schon dann ein, wenn die Beeinträchtigung der Interessen des ohne seinen Willen einem HIV-Test unterzogenen Patienten - "Eingriffsseite"102 - die Schutzinteressen des Behandlungspersonals - "Erhaltungsseite"103 - nur nicht wesentlich überwiegt.
96 Im Erg. ebenso Schlund (Juristische Aspekte, S. 564); a.A. Bruns (AIDS, Alltag, S. 355) - näher zu dieser Frage Dritter Teil. zweiter Abschn., 1.3.4. 97 Dies betonen auch diejenigen Autoren, die Ptlicntwidrigkeit des Vorverhaltens verlangen; vgl. Sd•. Sch.-Stree § 13 Rdn. 38. 98 Jakobs AT 29/31. 99 Jakobs AT 29/30. 100 Jakobs a.a.O. 101 Vgl. Dritter Teil. zweiter Abschn. 1.3.1.1. 102 Begriff nach Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 23. 103 Begriff nach Lenckner a. a. O.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
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Auf der Eingriffsseite sind die durch den Notstandseingriff verletzten Rechtsgüter der körperlichen Integrität sowie des Selbstbestimmungsrechts des Patienten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu berücksichtigen. Dem stehen auf der Erhaltungsseite die Rechtsgüter Leben und Gesundheit des Pflegepersonals gegenüber. Zwar sind die letztgenannten Güter nur dann in rechtlich erheblichem Ausmaß gefährdet, wenn eine Kumulierung mehrerer unglücklicher Umstände - Austritt von HIV-haltigem Körpersekret während der Behandlung, Mißachtung der einschlägigen Sicherheitsvorschriften durch das ärztliche Personal und Auftreffen des infizierten Blutes auf eine Wunde oder andere Hautöffnung, durch die das Virus in den Blutkreislauf des Arztes bzw. Pflegers gelangen kann - eintritt. Bei der Abschätzung dieses Risikos ist aber daran zu erinnern, daß in den Fällen, in denen nach der hier vertretenen Konzeption überhaupt die Stufe der Interessenabwägung nach § 34 StGB erreicht wird, eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit für die Infektiosität des betreffenden Patienten besteht. Dies deshalb, weil nur bei Patienten mit Risikofaktoren überhaupt eine "Gefahr" LS.d. § 34 StGB angenommen wurde; bei anderen Patienten stellt sich daher das Problem der Interessenabwägung erst gar nicht. Andererseits wiegt der Eingriff in die körperliche Integrität angesichts der Harmlosigkeit des Einstichs bei einer Venenpunktion und der geringen Menge des entnommenen Blutes nicht sehr schwer. Schwerwiegender erscheinen dagegen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sowie die Gefahren, die dem Patienten vor allem in psychosozialer Hinsicht bei Bekanntwerden eines positiven HIV-Befundes drohen 104 • Jedoch würde die Ablehnung der Notstandsrechtfertigung einen unzumutbaren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Arztes implizieren lOS. Da er in den hier in Rede stehenden Fällen ausnahmslos zur Behandlung verpflichtet ist 106 , wäre er gezwungen, Tätigkeiten vorzunehmen, deren Risiko er mangels Kenntnis der relevanten Tatsachen nicht abschätzen kann. Nach alledem ist jedenfalls ein wesentliches Überwiegen der beeinträchtigten Interessen des Patienten gegenüber denjenigen von Ärzten und Pflegepersonal nicht festzustellen. Den Anforderungen der im Hinblick auf den Defensivnotstand zu modifizierenden Abwägungsklausel des § 34 S.l StGB ist daher Genüge getan.
4.2.5.6 HIV-Test als "angemessenes Mittel" (§ 34 S.2 StGB) Zu prüfen bleibt demnach, ob ein ohne wirksame Einwilligung des Patienten vorgenommener HIV-Test ein "angemessenes Mittel" zur Gefahrabwendung Vgl. Erster Teil 6. Vgl. hierzu oben 4.2.5.4. 106 Dies ergibt sich aus der oben zur Frage der Erforderlichkeit vertretenen Auffassung, wonach in den Fällen, in denen die Behandlung abgelehnt werden kann, die Gefahr "anders abwendbar" ist. 104 lOS
9'
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2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
darstellt, wie dies § 34 S.2 StGB fordert. Aussagekraft und Effizienz dieser Notstandseinschränkung werden zwar in der Literatur teilweise als "nur gering" 107 eingeschätzt. Dem wird jedoch mit Recht entgegengehalten, die eigenständige Bedeutung dieser Klausel bestehe darin, das am Prinzip der Werterhaltung orientierte Ergebnis der Interessenabwägung nach § 34 S. 1 StGB zusätzlich in sozialethischer Hinsicht an den Maßstäben der Gesamtrechtsordnung zu messen. Demnach müßten die "obersten Prinzipien der Gemeinschaft" ergeben, daß es "sachgemäß billigenswert und im Interesse der Gemeinschaft erlaubt ist, die Notstandslage durch Beeinträchtigung des kollidierenden Interesses zu überwinden." 108 Besondere Bedeutung kommt dieser Einschränkung im Bereich der erzwungenen Blutspende oder des medizinischen Experiments gegen den Willen des Patienten ZU. 109 Eine zwangsweise Entnahme von Blut, das zum Zwecke der Transfusion benötigt wird, ist nach h.M. bei einem Unbeteiligten nicht einmal dann durch § 34 StGB gerechtfertigt, wenn dies das einzige Mittel zur Lebenserhaltung wäre. Dies - so wird argumentiert, widerspräche dem Freiheitsprinzip schlechthin und der Menschenwürde. Ho Die Rechtsordnung könne einen solchen Eingriff nicht gestatten, da sie damit das Freiheitsprinzip, eine Grundvoraussetzung ihres eigenen Geltungsanspruchs, preisgeben würde lll . Schließlich sei hier und erst recht bei Entnahme von Organen eines Lebenden zu Transplantationszwecken die Grenze der gegenseitigen Solidarität eindeutig überschritten. 112 Bei diesen Stellungnahmen darf aber nicht übersehen werden, daß sie im Kontext Blutspende bzw. Organspende abgegeben wurden, während es im vorliegenden Zusammenhang um die Entnahme einer geringen Menge Blutes quasi zum Zwecke der "Gefahrerforschung" geht. Eine differenzierte Lösung für beide Fallgruppen scheint zwar etwa Geilen abzulehnen, indem er - wenn auch nur beiläufig und innerhalb eines Votums zu einer § 168 StG B betreffenden Entscheidung - konstatiert, der absolute Schutz der Körperintegrität dürfe durch fremdbestimmte Notstandsrechtfertigung auf keinen Fall aufgeopfert werden. 113 Dieser These ist mit Recht Seelmann unter Hinweis auf § 904 BG B und § 81 a StPO entgegengetreten. Die genannten Vorschriften zeigten - so Seelmann - daß Eingriffe in die Autonomie einzelner, sogar Unbeteiligter, bei Vorliegen entsprechend gewichtiger Interessen durch das Strafrecht legitimiert würden. H4 Es mag dahinstehen, ob nicht Seelmann damit seinerseits eine zu 107
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Baumann (Weber) § 2211 1 b m. w. N. Jescheck § 34 IV 3.d). Vgl. Jescheck a.a.O. m.w.N. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 41 (a. E.) m. w. N. Gallas S. 325f. Samson SK § 34 Rdn. 18. Geilen, Probleme, S.46 (I. Sp.). Seelmann, S. 70f.
4. Rechtfertigung aufgrund Notstands
133
weitgehende Generalisierung vornimmt und etwa auch der Blut- bzw. Organspende die Rechtfertigung nach § 34 StGB eröffnet. Für unsere Fragestellung von Interesse ist lediglich, daß die gegen die Entnahme von Körpersubstanz zu Transfusions- bzw. Transplantationszwecken erhobenen Bedenken nicht auf die Blutentnahme zum Zwecke der "Gefahrerforschung" übertragen werden können. Dies folgt aus dem unterschiedlichen sozialen Sinngehalt dieser beiden Typen von Eingriff. Handelt es sich nämlich bei einer Blutspende "wertungsgemäß um einen Akt mitmenschlicher Hilfsbereitschaft, durch den der Spender für den anderen etwas aus seinem eigenen Lebensreservoir aufopfert" 115, so erschöpft sich die Bedeutung der Blutentnahme zum Zwecke des HIV-Tests in der Anwendung eines medizinisch-technischen Hilfsmittels zur Feststellung aufklärungsbedürftiger Tatsachen. 116 Bei ersterer kann der Umfang der von Rechts wegen gebotenen mitmenschlichen Solidarität in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur dahingehend definiert werden, daß es jedenfalls bei einem Unbeteiligten - d. h. einer zum Empfänger in keinem besonderen Verhältnis stehenden Person - dessen eigener sittlichen Entscheidung überlassen sein muß, ob er das persönliche Opfer erbringt. ll7 Dagegen wird denjenigen, die nach der vorliegenden Konzeption ausnahmsweise auch ohne ihren Willen einem HIV-Test unterzogen werden dürfen, kein ausschließlich durch das Gebot gegenseitiger Solidarität begründetes Opfer aufoktroyiert, sondern lediglich eine Duldungspflicht zur Abwendung einer aus ihrem eigenen Verantwortungsbzw. Organisationsbereich herrührenden Gefahr. Im Hinblick auf den genannten Zurechnungaspekt stehen damit der Rechtfertigung des Eingriffs in diesen Sonderfällen die Wertungen der Gesamtrechtsordnung nicht entgegen. Die nicht konsentierte HIV-Diagnostik ist demnach in diesem Rahmen als "angemessenes Mittel" zur Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit von Ärzten und Pflegepersonal anzusehen. 4.2.6 Zusammenfassung
Ohne wirksame Einwilligung des Patienten zum Schutze des Behandlungspersonals vorgenommene HIV-Tests können nur ausnahmsweise durch § 34 StGB gerechtfertigt sein. Im einzelnen müssen folgende Bedingungen kumulativ vorliegen: -
bei dem betreffenden Patienten liegt mindestens ein sogenannter Risikofaktor vor, der nach vorliegenden Erkenntnissen den Verdacht begründet, daß er HIV-infiziert ist;
-
eine die Möglichkeit eines Blutkontaktes eröffnende Behandlungsmaßnahme steht unmittelbar bevor; 1lS 116
117
Wesseis AT § 8 IV 4. Wesseis a. a. O. Wesseis a.a.O.
134
-
2. Teil, 2. Abschn.: Rechtfertigung des HIV-Tests
der Arzt ist zur Behandlung des Patienten rechtlich verpflichtet, da die Voraussetzungen des § 323c StGB vorliegen.
Nur wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist die in der Venenpunktion liegende tatbestandsmäßige Körperverletzung aufgrund Notstands gerechtfertigt. In allen anderen Fällen kommt ein Rückgriff auf § 34 StGB nicht in Betracht. 118
118 Nur zur Illustration, wieviel weiterreichend im Vergleich zur hier vertretenen Position - die zum Teil andernorts den Patienten auferlegten Beeinträchtigungen sind, sei das Beispiel Schweden angeführt: Nach Angaben von v. Hippel (S. 129) müssen dort seit September 1985 die Ärzte ihre Patienten bei "Verdacht" auf AIDS testen. Neben den bereits gesetzlich bestehenden Verboten hinsichtlich Blut-, Organ- oder Samenspende durch HIV-Infizierte, der Weitergabe von Muttermilch durch sie sowie ihrer Betätigung als Prostituierte können die Ärzte den Infizierten ein bestimmtes Sexualverhalten vorschreiben und weitere "individuell ausgeformte" Anordnungen treffen. Bei Mißachtung dieser ärztlichen Vorschriften drohen staatliche Zwangsmaßnahmen bis hin zur Einweisung in eine geschlossene Anstalt.
Dritter Abschnitt
Die besondere Problematik der HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten 1. Problemstellung 1.1 Rechtstatsächliche Lage Angaben des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz zufolge waren von den am 1. September 1987 in den bayerischen Justizanstalten einsitzenden Gefangenen etwa 95 % auf HIV untersucht, obwohl die Teilnahme ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgte.! Zwangstests werden demnach nicht vorgenommen. Allerdings sind die Leiter der Justizvollzugsanstalten angewiesen, Testverweigerern die Notwendigkeit der HIV-Diagnostik eindringlich zu vermitteln. Fruchtet dieser Appell nicht, so sollen nicht untersuchte Gefangene, die Risikogruppen angehören, entsprechend den für erwiesenermaßen HIV-positive Gefangene geltenden Richtlinien behandelt werden. 2 Dies bedeutet insbesondere die grundsätzliche Unterbringung in einem Einzelhaftraum sowie die besonders gründliche Prüfung der Eignung des Gefangenen für Vollzugslockerungen und für Urlaub. Beide Maßnahmen können - so die ministerielle Anweisung - davon abhängig gemacht werden, daß der Gefangene die Unterrichtung besonders gefährdeter Personen (etwa des Intimpartners) nachweist. Zu den Risikogruppen werden dabei Homo- und Bisexuelle, Fixer, Tätowierer, Prostituierte, Bluter und die Intimpartner der genannten Personen gerechnet. 3 Angemerkt sei noch das Ergebnis der Tests:
Von den bis 1. September 1987 in den bayerischen Justizvollzugsanstalten an 18749 Gefangenen durchgeführten HIV-Antikörpertests fielen 302 positiv aus. Von den Infizierten (253 Männer und 49 Frauen) waren 227 (= 75,2 % der Infizierten) Fixer, 24 (= 7,9 % der Infizierten) Homo- oder Bisexuelle, 6 Prostituierte, 5 Tätowierer und 9 (= 0,05 % der Untersuchten) Angehörige keiner Risikogruppe. 4
1 Eigene Informationen des Verf. auf Anfrage beim Bayer. Staatsministerium Justiz. 2 Eigene Informationen des Verf. nach Rückfrage im Bayer. Staatsministerium Justiz. 3 Eigene Informationen des Verf. nach Rückfrage im Bayer. Staatsministerium Justiz. 4 Dem Verf. übergebene Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums Justiz.
der der der der
136
2. Teil, 3. Abschn.: mV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten 1.2 Intention der Untersuchung
Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch die Problematik der Rechtmäßigkeit von HIV-Tests an Anstaltsinsassen trotz der geschilderten Praxis nach wie vor als virulent und sogar noch um eine zusätzliche Facette erweitert: Es stellt sich nämlich die Frage, ob die von den Inhaftierten erteilten Einwilligungen in jedem Fall rechtswirksam sind. Insbesondere gilt es - unabhängig von der derzeit bekannten Praxis - Grenzen aufzuzeigen, inwieweit auf den Gefangenen zur Erlangung der Einwilligung eingewirkt werden kann, ohne dadurch deren Wirksamkeit in Frage zu stellen.
2. Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten 2.1 Prämisse Vorausgesetzt werden soll im vorliegenden Zusammenhang, daß die Einwilligung in die Venenpunktion zum Zwecke der HIV-Diagnostik auf einer ordnungsmäßigen, den oben entwickelten Kriterien 1 entsprechenden Aufklärung des Probanden basierte. Fehlte es bereits hieran, so ist die Einwilligungohne Rücksicht auf die im Folgenden anzustellenden Überlegungen - schon deswegen unwirksam und die tatbestandsmäßige Körperverletzung kann nur noch aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Eingriffsbefugnis 2 gerechtfertigt sem. 2.2 Das Problem der "Freiwilligkeit" Zweifel an der Wirksamkeit der Einwilligung bestehen bei inhaftierten Personen im Hinblick auf das Erfordernis der Freiwilligkeit. 3 Dies deshalb, weil die mit der Inhaftierung verbundene Abhängigkeit von den Repräsentanten der "totalen Institution"4 Strafvollzug den Spielraum zur autonomen Entscheidung zumindest einzuengen droht. 5 2.2.1 Stellungnahmen in Schrifttum und Rechtsprechung
Lehrbuch- und Kommentarliteratur beschränken sich in dieser Frage auf die pauschale Aussage, die Freiwilligkeit werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß rechtmäßige Zustände wie etwa Strathaft den Entschluß bestimmten 6 bzw. ein Vgl. oben erster Abschn. 3.2.3. Hierzu unten 3. 3 Vgl. Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 45,48 vor § 32fT. 4 Vgl. Goffmann. Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, 1961, (deutsch 1977). 5 Vgl. Amelung. S. 1 fT. 6 So M./Zipf AT-1 § 17 Rdn. 59. 1
2
2. Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten
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"besonderer Status der Unfreiheit (Gefangene, Untergebrachte)" machten eine Einwilligung nicht ohne weiteres unfreiwillig.? Auch die Rechtsprechung folgt dieser Linie, wobei auf die bei jedem Entschluß vorhandene "Abhängigkeit von mitsprechenden äußeren Bedingungen"B hingewiesen wird. Unter rechtsstaatlichen Verhältnissen könne daher auch ein Häftling freiwillige Entschlüsse fassen. Insbesondere liege nicht etwa dann ein unfreiwilliger Entschluß vor, wenn mit der Einwilligungserteilung eine mildere Bestrafung oder die Vermeidung künftiger staatlicher Zwangsmaßnahmen bezweckt werde. 9 Die zitierten Auffassungen betonen damit zwar im Grundsatz die Rechtserheblichkeit von Einwilligungen Gefangener, deuten aber gleichzeitig an, daß der Umstand der Inhaftierung Anlaß dazu gibt, den autonomen Charakter der Entscheidung eines derart "Unfreien" jeweils besonderer Prüfung zu unterziehen. Eine differenzierte Analyse der aus der Gefangenschaft resultierenden Einwilligungsprobleme hat Amelung 10 vorgelegt. Das von ihm entwickelte System liefert Ergebnisse, die auch von der h.M. akzeptiert werden dürften. Im Gegensatz zu den oben wiedergegebenen vagen Formeln ermöglicht Amelungs Konzeption jedoch eine rationale Ableitung der Ergebnisse. Sie soll daher auch im vorliegenden Zusammenhang Anwendung finden. 2.2.2 Die Konzeption von Amelung
Ausgehend von einer soziologischen und psychologischen Analyse der Situation des Gefangenen isoliert Amelung vier mögliche Einwände gegen die Freiwilligkeit von Einwilligungserklärungen Inhaftierter. Zwei davon sind dem Motivationsbereich zuzuordnen - Einwilligungserteilung zur Erlangung der Freiheit einerseits, zur Verbesserung der anstaltsinternen Lage bzw. zur Vermeidung einer drohenden Verschlechterung andererseits l l - , die beiden übrigen der Frage der Einsichtsfähigkeit - Einwirkung der normalen psychischen Folgen der Haft auf die Entscheidung sowie Erteilung des Konsenses in einer speziellen Krisensituation 12 - , also dem Bereich der klassischen Wirksamkeitsvoraussetzungen. 13
Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 48 vor § 32ff. BGHSt 19, 201 (206). 9 BGH a.a.O. 10 S.9ff. 11 Amelung bezeichnet diese - aus der sozialen Lage des Gefangenen resultierenden Fragen als "Freiwilligkeitsprobleme i.e.S." (S. 10). 12 "Freiwilligkeitsprobleme i.w.S." nach der Terminologie von Amelung (S. 10). 13 Amelung, S. 9. 7
8
138
2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der ]ustizvollzugsanstalten
2.2.2.1 Freiwilligkeitsprobleme i. e. S.
2.2.2.1.1 Unfreiwilligkeit und Rechtswidrigkeit des Zwanges bei Einwilligungserteilung Was den erstgenannten Fragenkomplex - Motivationsbereich - angeht, so soll "Freiwilligkeit" nur dann anzunehmen sein, wenn die Einwilligung unbeeinflußt von "eingreifendem" staatlichen Zwang erteilt wird. Auf eingreifendem Zwang beruhten aber alle Einwilligungen, die dazu dienen, die Entlassung zu beschleunigen oder sonstigen Handlungsbeschränkungen zu entgehen, die mit der Einsperrung verbunden sind. Entsprechend motivierte Einwilligungen Gefangener erfolgten "im Rechtssinne unfreiwillig".14 Im Falle der HIV-Tests geht nun die eingangs berichtete Praxis zwar nicht dahin, die Einwilligung der Gefangenen mit vorzeitiger Entlassung oder Hafterleichterung zu honorieren. Jedoch ist die Versagung der Einwilligung infolge der Gleichstellung von Testverweigerern mit HIV-Trägern - mit Belastungen verbunden, die jedenfalls den HIV-negativen Mitgefangenen nicht zugemutet werden. Unabhängig vom HIV-Status des einzelnen Häftlings impliziert die Einwilligungsverweigerung für jeden von ihnen die Gefahr einer Verschlechterung der bei Einwilligungserteilung zu erlangenden Haftbedingungen. Denn den Testverweigerern ist von vornherein bereits die Chance auf normale Haftbedingungen genommen, während die Testteilnehmer - auch solche aus Risikogruppen - auf einen negativen Befund hoffen können. In den Fällen, in denen für den Entschluß zur Einwilligungserteilung die befürchtete automatische Gleichstellung mit HIV-Positiven motivierend war, beruht die Einwilligung damit auf "eingreifendem staatlichen Zwang" im Sinne obiger Terminologie, ist also im Rechtssinne unfreiwillig erfolgt. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß eine derartige ("unfreiwillige") Einwilligung auch unwirksam ist. Die "Unfreiwilligkeit" erweist sich damit als zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für die Unwirksamkeit der Einwilligung. Nach Amelung hat die Unfreiwilligkeit im Rechtssinne nur dann stets die Unwirksamkeit der Einwilligung zur Folge, wenn diese durch rechtswidrigen Zwang erwirkt würde. Rechtswidrig ist die Zwangsausübung, wenn ein Eingriff in eine rechtlich geschützte Position des Unfreien angedroht oder vollzogen wird, ohne daß dafür eine gesetzliche Grundlage vorliegt. 1s Besteht die Einwilligungsmotivation dagegen darin, durch die Erduldung einer - nach den subjektiven Maßstäben des Gefangenen weniger belastenden - Ersatzmaßnahme legitimen staatlichen Zwang abzuschwächen oder in Zukunft ganz zu verhindern, so ist die Einwilligung Amelung zufolge beachtlich, sofern folgende speziellen Wirksamkeitsgrenzen beachtet sind: 14 IS
Amelung, S. 11. Ders., S. 18.
2. Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten
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die Wahl des Inhaftierten zwischen beiden Übeln - Beeinträchtigung durch den originären (legitimen) staatlichen Zwang einerseits, durch die mit der Ersatzmaßnahme verbundenen Beeinträchtigungen andererseits - darf nicht durch zusätzlichen Zwang beeinflußt werden; die Ersatzmaßnahme, in deren Erduldung der Eingriffsunterworfene einwilligt, muß ein geeignetes Mittel zur Erreichung gerade des mit der Originärmaßnahme verfolgten (legitimen) Zwecks sein (sog. "legitimationsfähiger Zweckzusammenhang") 16. 2.2.2.1.2 Legitimität des bei Erteilung der Einwilligung zum HIV-Test ausgeübten Zwanges
Übertragen auf den vorliegenden Zusammenhang stellt sich damit zunächst die Frage, ob es sich bei den durch die Einwilligung in die HIV-Diagnostik abzuwendenden Beschränkungen um legitimen staatlichen Zwang handelt, ob also für die als Folge der Gleichstellung von Testverweigerern und HIVPositiven angeordneten Maßnahmen - insbesondere die zum Teil geforderte Einzelhaft 17 - eine gesetzliche Grundlage besteht. Die gesetzliche Regelung basiert auf dem Grundsatz gemeinsamer U nterbringung während Arbeit und Freizeit (vgl. § 17 Abs. 1 und 2 StVollzG). Jeder Gefangene hat also einen Anspruch darauf, daß Arbeit, Ausbildung und jede sonstige Beschäftigung während der Arbeitszeit gemeinsam mit anderen Gefangenen erfolgen 18. Ebenso muß den Gefangenen Gelegenheit zu gemeinsamer Freizeit gegeben werden l9 . Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in bestimmten Einzelfällen zulässig. 20 Dabei ist die völlige Isolierung von anderen Gefangenen ausschließlich unter den Voraussetzungen des § 88 Abs.2 Ziff. 3 StVollzG (Absonderung), des § 89 StVollzG (Einzelhaft) oder als Disziplinarmaßnahme nach § 103 Abs. 1 Ziff.5 bzw. 9 StVollzG möglich. 21 Einzelhaft i. S. d. § 89 Abs. 1 StVollzG liegt i. Ü. auch dann vor, wenn die Trennung eines Insassen von seinen Mitgefangenen nur durch Teilnahme am Gottesdienst und an der täglichen Feierstunde unterbrochen wird 22 • Im Hinblick auf die bei Testverweigerern nicht auszuschließende Möglichkeit, daß diese HIV-Träger und damit auch potentielle - Überträger sind, wäre deren Absonderung sowie Einzelhaft nur zulässig, wenn ein Eingriffsgrund i.S.d. § 88 Ders., S. 14fT. Hiervon zu unterscheiden ist die - etwa in Bayern angeordnete - Zuweisung eines Einzelhaftraumes (insbesondere für die allgemeinen Ruhezeiten), die keinerlei Absonderung des Gefangenen impliziert. 18 Feest in: AK StVollzG § 17 Rz. 2. 19 Feest in: AK StVollzG § 17 Rz. 3. 20 Calliess/Müller-Dietz Rdnr. 5 zu § 17 StVollzG. 21 Feest in: AK StVollzG § 17 Rz. 5. 22 Böhm in: Schwind/Böhm Rz. 5 zu § 17 StVollzG. 16
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2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
Abs. 1 StVollzG vorläge. Voraussetzung ist dabei in jedem Falle eine konkrete, von dem Gefangenen selbst ausgehende Gefahr, d. h. der unmittelbar drohende Eintritt eines unerwünschten Erfolges. 23 Nicht erforderlich ist zwar ein schuldhaftes Verhalten des Gefangenen, vielmehr lediglich eine erhöhte Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt. 24 Jedoch reichen für eine derartige Gefahrprognose nicht schon bloße Befürchtungen oder ein bloßer Verdacht. 2S Eine von den Testverweigerern ausgehende "Gefahr von Gewalttätigkeiten" i.S.d. § 88 Abs. 1 StVollzG, die auch die schuldlose Verursachung von Leibesoder Lebensgefahr für andere erfaßt,26 wäre demnach nur anzunehmen, wenn konkrete Anhaltspunkte den Schluß erlaubten, dieser konkrete Gefangene werde andere mit dem HI-Virus infizieren. Es müßte dann aber eine hinreichende Wahrscheinlichkeit nicht nur für den HIV-Status des betreffenden Testverweigerers sprechen - was ohnehin nur bei Personen mit Risikofaktoren 27 der Fall ist - , sondern auch für die Erwartung, dieser werde zu nicht-infizierten Mitgefangenen übertragungsgeeignete Kontakte 28 aufnehmen. Selbst in den verbleibenden Fällen scheitert aber eine Maßnahme nach §§ 88, 89 StVollzG am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG), da durch Einzelunterbringung während der Ruhezeit, die ohnehin gemäß § 18 StVollzG die Regel darstellt, sexuelle Kontakte potentieller HIV-Überträger sowie eventuelles needle-sharing sicher unterbunden werden können. Die ohnehin nur theoretische Möglichkeit einer HIV-Transmission durch Alltagskontakte stellt in der Anstalt ebensowenig wie sonst eine rechtlich relevante Gefahr dar. Denn hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des allgemeinen Lebensrisikos, das jeder zu tragen hat. 29 Damit verbleibt lediglich noch die Möglichkeit einer - an Eingriffsintensität hinter Aussonderung und Einzelhaft zurückbleibenden 30 - Einschränkung der gemeinschaftlichen Unterbringung nach § 17 Abs. 3 StVollzG. Zwar gelten für diese Maßnahme weniger strenge VoraussetzungenY Unabdingbar ist aber auch für sie das Vorliegen konkreter Tatsachen, die die Gefahrdung ergeben;32 ebenso muß sie sich an der Schranke der Erforderlichkeit messen lassen. Daher scheidet ein Rückgriff auf diese Befugnisnorm aus denselben Gründen aus, die schon die Heranziehung der §§ 88,89 StVollzG als Rechtsgrundlage verwehrten. 23 CalliessjMüller-Dietz Rdnr. 2 zu § 88 StVollzG. Schwind in: SchwindjBöhm Rz. 5 zu § 88 StVollzG. CalliessjMüller-Dietz Rdnr. 2 zu § 88 StVollzG. 26 Calliess j Müller-Dietz a. a. O. 27 Vgl. Erster Teil 5.2.5. 28 Vgl. Erster Teil 5.2.2. 29 Vgl. oben (zweiter Abschn. 4.2.2.4) die insoweit gleichgelagerte Problematik bei der Frage der Notstandsrechtfertigung (§ 34 StGB); vgl. (zu § 34 StGB) Jakobs AT 13j12. 30 Böhm in: SchwindjBöhm Rz. 5 zu § 17 StVollzG. 31 Böhm a. a. O. 32 CalliessjMüller-Dietz Rdnr. 5 zu § 17. 24
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2. Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten
141
Als Zwischenergebnis ist daher Jestzuhalten:
War die Einwilligung zum HIV-Test durch die Erwartung motiviert, Testverweigerer hätten mit Einzelunterbringung zu rechnen, so wurde sie durch rechtswidrigen Zwang erwirkt und ist damit unwirksam.
Davon zu unterscheiden sind diejenigen Fälle, in denen die Testverweigerung - wie der Gefangene weiß -lediglich hinsichtlich der Gewährung von Urlaub oder Ausgang (vgl. §§ 13 bzw. 11 StVollzG) insoweit mit Restriktionen verbunden ist, als deren Genehmigung von einer Einschätzung des betreffenden Häftlings als "nicht verbreitungsgefährlich" abhängig gemacht wird. Auch hier beruht die Einwilligung nach der Terminologie von Amelung auf ",eingreifendem' staatlichen Zwang", da deren Erteilung motiviert ist durch die Absicht, zeitweise den mit der Einsperrung verbundenen Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit zu entgehen. 33 Die Frage der Rechtswidrigkeit dieses Zwangs beantwortet sich wiederum danach, ob eine derartige restriktive Handhabung der Vollzugslockerungen rechtsgrundlos eine rechtlich geschützte Position des Unfreien beeinträchtigen würde 34 • Weder auf Ausgang noch auf Urlaub besteht ein Anspruch des Gefangenen, vielmehr nur ein Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch bei der Entscheidung über einen entsprechenden Antrag. 35 Rechtswidriger Zwang läge demnach vor, wenn die Verweigerung des HIV-Tests bei der Entscheidung über Vollzugslockerungen aus rechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden dürfte. Nun sind aber sowohl Urlaubs- wie Ausgangsgewährung vom Vorliegen der Minimalvoraussetzungen des § 11 Abs.2 StVollzG36 abhängig. Insbesondere darf also "nicht zu befürchten (sein), daß der Gefangene die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten mißbrauchen werde." Würde der Infizierte in Kenntnis seines HIV-Status durch Eingehen übertragungsgeeigneter Kontakte 37 das HIVirus auf andere weiterübertragen, ohne diese vorher über das Ansteckungsrisiko informiert zu haben, so wäre dies als Straftat jedenfalls nach §§ 223, 223 a StGB zu bewerten. 38 Selbst wenn man an die Qualität der zu befürchtenden Straftat erhöhte Anforderungen stellt und in der Regel nur solche genügen läßt, bei denen ein nicht wiedergutzumachender Schaden größeren Umfangs droht, 39 Vgl. Amelung, S. 11. Vgl. Amelung, S. 18. 3S Vgl. Calliess/Müller-Dietz Rdnr. 2 zu § 13 und Rdnr. 1 zu § 11 StVollzG. 36 Calliess/Müller-Dietz Rdnr. 5 zu § 11 StVollzG. 37 Vgl. Erster Teil 5.2.2. 38 Vgl. etwa Eberbach (Rechtsprobleme, S. 7 ff.) sowie im Rahmen dieser Arbeit Dritter Teil, zweiter Abschn. 1.1.2. 39 So Uhlig-van Büren/Joester in: AK StVollzG § 11 Rz.23; a.A. Kühling in: Schwind/Boehm Rz. 14 zu § 11 StVollzG. 33
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2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
so würde die schuldhafte HIV-Übertragung als Mißbrauch i. S. d. § 11 Abs. 2 StVollzG anzusehen sein. Zu "befürchten" ist ein derartiger Mißbrauch aber nur, wenn begründete Hinweise hierfür vorliegen. 4O Die Tatsache der Testverweigerung allein kann demnach nicht die Versagung von Urlaub bzw. Ausgang unter Rückgriff auf § 11 Abs. 2 StVollzG rechtfertigen. Wird dagegen bei Gefangenen aus Risikogruppen etwa die Gewährung von Urlaub von einer positiven Prognose hinsichtlich des verantwortungsbewußten Verhaltens gegenüber ihren Mitmenschen abhängig gemacht, so sind hiergegen keine prinzipiellen Einwände zu erheben. Entscheidend ist freilich die dem gegenwärtigen Erkenntnisstand hinsichtlich der Übertragungswege entsprechende Operationalisierung des Begriffs "verantwortungsvolles Verhalten". Nur wenn sich im Einzelfall bei einem Gefangenen Fakten 41 ergeben, die die Besorgnis begründen, er werde sich außerhalb der Anstalt an die zur Vermeidung der HIV-Übertragung erforderlichen Vorsichtsmaßregeln42 trotz sorgfaltiger Aufklärung nicht halten, so wäre die Ablehnung seines Antrags auf Urlaub oder Ausgang rechtmäßig. Stellt sich den zur Einwilligung in den HIV-Test aufgerufenen Gefangenen die Alternative, in dieser Weise, daß nämlich die Testverweigerung nur dann die Chancen auf Vollzugslockerungen beeinträchtigt, wenn bei dem betreffenden Gefangenen Risikofaktoren hinsichtlich Infektiosität und Aufnahme übertragungsgeeigneter Kontakte zu ahnungslosen Dritten vorliegen, so wird rechtmäßiger Zwang ausgeübt. Genau besehen besteht hier die negative Konsequenz der Testverweigerung allein darin, daß einem Element der Gefahrprognose i. S. d. § 11 Abs.2 StVollzG - der Infektiosität des AntragssteIlers - anstelle einer bloßen erhöht (!) Wahrscheinlichkeit das Faktum "HIV-Status positiv" als vorliegend unterstellt wird. Dies aber erscheint gerechtfertigt: Zum einen im Hinblick darauf, daß § 11 Abs.2 StVollzG ohnehin insgesamt nur eine prognostische Beurteilung verlangt, zum anderen aber auch wegen der Verantwortlichkeit des Antragstellers selbst für das Fehlen gesicherter Daten über seinen HIV-Status. 2.2.2.1.3 Spezielle Wirksamkeitsgrenzen beim legitimen Zwang Die Rechtserheblichkeit einer aufgrund der beschriebenen Motivationslage erteilten Einwilligung hängt danach von den oben genannten speziellen Wirksamkeitsgrenzen ab, insbesondere also vom Vorliegen eines "legitimationsrahigen Zweckzusammenhangs. "43 40 Kühling a.a.O.; noch restriktiver Uhlig-van Büren/Joester (a.a.O. Rz. 21), die das Vorliegen "schwerwiegender Fakten", die die Befürchtung rechtfertigen würden, verlangen. 41 So etwa besondere psychische Labilität oder wiederholte ernstzunehmende Äußerungen, die tatsächlich auf die vielzitierte "Desperado-Mentalität" schließen lassen. 42 Vgl. Erster Teil 5.2.5.4.
2. Rechtfertigung durch spezielle Einwilligung des Inhaftierten
143
Die Venenpunktion im Rahmen der HIV-Diagnostik müßte also ein taugliches Mittel sein, den Zweck des durch sie substituierten Eingriffs - die Ablehnung der Vollzugslockerung - auf andere Art und Weise zu erreichen. 44 Im vorliegenden Zusammenhang ist es der Zweck der negativen Entscheidung nach § 11 Abs. 2 StVolllzG, die HIV-Infizierung außerhalb der Anstalt lebender Personen durch den Antragsteller zu verhindern. Erbringt der HIV-Test einen (zuverlässigen) negativen Befund, so erweist sich die "Abschottung" des Probanden von der Außenwelt als obsolet, da die Rechtsgüter Dritter als Folge der positiven Verbescheidung des Antrags insoweit nicht gefährdet würden. Damit eröffnet der HIV-Test in jedem Falle die Chance, auf eine Versagung von Urlaub bzw. Ausgang verzichten zu können, die sonst aufgrund der Gefahrprognose hätte erfolgen müssen. Daß bei einem Teil der Tests, denjenigen mit positivem Befund, die Originärmaßnahme - Antragsablehnung - gleichwohl ergehen muß, also durch den Test nicht substituiert werden könnte, ist ohne Belang. Denn die Geeignetheit eines Mittels ist stets aufgrund einer ex-anteBeurteilung zu ermitteln. 4s 2.2.2.1.4 Ergebnis zum Fragenkreis "Freiwilligkeitsprobleme i. e. S." Je nachdem, welche - vom Gefangenen antizipierte - Konsequenz die Verweigerung des HIV-Tests haben sollte, ist die dadurch motivierte Einwilligung wirksam oder unwirksam: -
unwirksam ist sie dann, wenn die Weigerung die Einzelunterbringung des Gefangenen während Arbeit und/oder Freizeit zur Folge haben sollte;
-
wirksam dann, wenn sie lediglich zur Einzelunterbringung des Testverweigerers während der Ruhezeiten führen sollte oder die Gewährung von Urlaub und Ausgang von einer positiven Prognose hinsichtlich "verantwortungsvollen Verhaltens" des Gefangenen außerhalb der Anstalt abhängig gemacht würde. 2.2.2.2 Freiwilligkeitsprobleme i. w. S.
2.2.2.2.1 Rationalitätskontrolle und Wirksamkeit der Einwilligung Neben diesen aus der sozialen Abhängigkeit des Gefangenen resultierenden Einflüssen auf die Einwilligung Unfreier problematisiert Amelung46 solche haftpsychologischer Natur. In der Frage, inwieweit als Ausfluß normaler 43 Die weitere Voraussetzung - keine Beeinflussung der Entscheidung durch zusätzlichen Zwang - ist eine reine Frage des Einzelfalles, auf deren Erörterung daher im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden muß. 44 Vgl. Amelung, S. 16. 45 Vgl. Sch.Sch.Lenckner § 34 Rdnr. 19 zur gleichgelagerten Problematik beim rechtfertigenden Notstand. 46 S.20.
144
2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
psychischer Folgen der Einsperrung spezifisch haftbedingte Motive bei Erteilung der Einwilligung deren Wirksamkeit tangieren, wird eine Differenzierung vorgenommen. Unter dem Aspekt der Notwendigkeit einer Rationalitätskontrolle wird unterschieden zwischen Einwilligungen, deren Konsequenzen sich auf das Leben des Eingesperrten in der totalen Institution beschränken, und solchen, deren Folgen über die Einsperrung hinausreichen. Eine Rationalitätskontrolle wird dabei nur für die zweite Gruppe befürwortet, ohne daß indes deren Ergebnis die Wirksamkeit der Einwilligung berühren könnte. Dies erscheint zutreffend, da wegen der Autonomie des Rechtsgutsträgers sogar eine offensichtlich unvernünftige Einwilligung als verbindlich zu gelten hat. 47 Die Verneinung der EinwilligungsHihigkeit bei Gefangenen liefe auf eine Gleichstellung mit Minderjährigen und Geistesgestörten hinaus, was - abgesehen von den hiergegen aus prinzipiellen Gründen zu erhebenden Einwänden - auch im Widerspruch zu positiv-rechtlichen Regelungen stünde, die die Wirksamkeit von Einwilligungen Inhaftierter voraussetzen. 48 2.2.2.2.2 Kontrollpflicht des Staates und strafrechtliche Relevanz Anstelle einer Verankerung der gebotenen Rationalitätskontrolle in der Einwilligungsproblematik schlägt Amelung49 die Statuierung einer entsprechenden Pflicht des Staates vor, gestützt auf die allgemeine anstaltsrechtliche Fürsorgepflicht. Danach soll "der Staat" verpflichtet sein, die Risiken einer Einwilligung, deren Folgen über das Leben in der Anstalt hinausreichen, zu kontrollieren und in unvertretbaren Fällen zu verhindern, daß der Einwilligung entsprechend verfahren wird. so Welche strafrechtlichen Konsequenzen eine Verletzung dieser "Fürsorgepflicht" haben sollte, läßt Amelung freilich offen. Denkbar erscheint es, zu einer Zurechnung etwa eines durch eine "irrationale" - aber gleichwohl wirksame - Einwilligung gedeckten medizinischen Eingriffs über die Rechtsfigur der actio illicita in causa zu gelangen. 51 Letztlich kann dies aber im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, da für die Durchführung eines HIV-Tests stets plausible - wenn auch nicht notwendig zwingende Gründe sprechen dürften. Als "unvertretbar" wird man die Einwilligung hierzu wohl in keinem Falle bezeichnen können. 52 Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 40 vor § 32ff. Vgl. etwa §§ 17 Abs. 3 Nr. 4, 57, 58, 63 i.V.m. 101 StVollzG; dazu Amelung, S. 1 ff. 49 S.22. 50 Amelung, S. 22f. 51 Vgl. hierzu oben erster Abschn. 3.4.6. 52 Fälle "absoluter Kontraindikation" des HIV-Tests, in denen dieser wie von vornherein absehbar - zu irreversiblen psychischen oder physischen Schäden führte, die die bloße Ungewißheit über den HIV-Status nicht herbeigeführt hätte, wurden bishersoweit ersichtlich - nicht mitgeteilt; insbesondere erscheint es - selbst unter Berücksichtigung der haftpsychologischen Einflüsse - unwahrscheinlich, daß bei einer derartigen Disposition des Infizierten dieser überhaupt die Einwilligung erteilen würde. 47
48
3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen
145
Was die Frage der Wirksamkeit von Entscheidungen anbelangt, die in einer speziellen haftpsychologischen Krisenlage (B.: Haftpsychose) getroffen wurden, ergibt sich deren Lösung schon aus der allgemeinen Einwilligungsdogmatik: Bei entsprechender Intensität dieser Krise ist die Einwilligung mangels Einsichtsfähigkeit des Einwilligenden unwirksam 53. 2.2.2.2.3 Ergebnis zum Fragenkreis "Freiwilligkeitsprobleme i. w. S." Eine durch normale haftpsychologische Einflüsse geprägte Entscheidung zur Einwilligung in den HIV-Test ist rechtswirksam. Unwirksam ist lediglich die in einer schweren haftspsychologischen Krisenlage erteilte Einwilligung.
3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen In den Fällen, in denen es an einer wirksamen Einwilligung fehlt - sei es infolge Unwirksamkeit der erteilten Einwilligung, sei es infolge Weigerung des Betroffenen _1, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der Venenpunktion zum Zwecke der HIV-Diagnostik aufgrund öffentlich-rechtlicher Eingriffsbefugnisse. 3.1 Vorbehalt des Gesetzes im Strafgefangenenverhältnis Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafgefangenenverhältnis aus dem Jahre 1972 2 ist der Rückgriff auf die Rechtsfigur des "besonderen Gewaltverhältnisses", die nach überkommener Auffassung die Einschränkung der Grundrechte von Strafgefangenen erlaubte, - nach Ablauf der vom Gericht konzedierten Übergangsfrist 3 - ausgeschlossen. Die Grundrechte von Strafgefangenen - im vorliegenden Zusammenhange also insbesondere dasjenige auf Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) - können seither nur noch " ... durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden ... "4.
Vgl. Amelung, S. 24. Auf die Möglichkeit einer heimlichen Durchführung des HIV-Tests soll nicht näher eingegangen werden, da sich hiergegen im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip dieselben Einwände erheben, die schon im Zusammenhang mit §§ 32 Abs. 2, 31 Abs. 1 BSeuchG angeführt würden. Aus den dort genannten Gründen können auch an Gefangenen vorgenommene heimliche Eingriffe nicht durch die hier an sich einschlägigen öffentlichrechtlichen Befugnisnormen gerechtfertigt sein. 2 BVerfGE 33, 1 ff. 3 BVerfGE 33, 1 ff (121). 4 BVerfGE 33, 1 ff (11). 53
1
10 Pfeffer
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2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der ]ustizvollzugsanstalten
3.2 Eingriffsbefugnis aus § 101 StVollzG Nach § 101 Abs. 1 S. 1 StVollzG sind medizinische Untersuchungen zwangsweise u. a. bei Gefahr für die Gesundheit Dritter zulässig. Die erste Alternative der genannten Vorschrift kann hier außer Betracht bleiben, da nach dem Sinn der gesetzlichen Regelung zwangsweise medizinische Eingriffe nur zu Zwecken durchgeführt werden dürfen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dienen. 5 Einen derartigen therapeutischen Nutzen für den zu Untersuchenden selbst hat aber der HIV-Test beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht.
Das Bestehen einer Gefahrenlage ist für die Anordnung von HIV-Tests unabdingbare Voraussetzung, da die Tests mit einer Venenpunktion und der Entnahme eines natürlichen Körperbestandteils (Blut) verbunden, somit als körperliche Eingriffe zu qualifizieren sind.6 Damit handelt es sich um keine Untersuchung i.S.d. § 101 Abs. 2 StVollzG, die ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Gefahr zulässig wäre. 3.2.1 Auslegung des Begriffs "Gefahr" i.S.d. § 101 Abs.1 S.l/1. Us. StVoDzG
Erforderlich aber auch hinreichend sind jegliche Gefahren für die Gesundheit Dritter, die von dem betroffenen Gefangenen ausgehen,7 so insbesondere auch die Gefahr der Ansteckung mit einer Krankheits. Allerdings muß es sich hierbei um eine konkrete Gefahr handeln. 9 Eine derartige Auslegung gebieten zum einen die durch eine auf § 101 Abs. 1 StVollzG gestützte Maßnahme tangierten Grundrechte des jeweiligen Gefangenen; eine Einschränkung dieser Grundrechte kommt nach der bereits mehrfach erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur in Betracht, "wenn sie zur Einschränkung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerläßlich ist .. ".10 Zum anderen legt die Zugehörigkeit von § 101 Abs.l S.l Hs. 1/2. Alt. StVollzG (Abwehr von Gefahren für andere Gefangene) zum Bereich des Sicherheitsrechts diese Interpretation nahe. Denn es ist allgemein anerkannt, daß bei sicherheitsrechtlichen Maßnahmen, die zu Eingriffen in die Rechtssphäre des Bürgers führen, der Begriff der "Gefahr" in der jeweiligen Befugnisnorm im konkreten Sinne zu verstehen istY
Brühl in: AK StVollzG § 101 RZ.3. Vgl. Brühl a.a.O. RZ.22. 7 Calliess/Müller-Dietz Rdnr. 7 zu § 101 StVollzG. 8 Calliess/Müller-Dietz a.a.O.; Müller in: Schwind/Böhm § 101 RZ.15. 9 Vgl. Brühl in: AK StVollzG Rz. 3 zu § 101 StVollzG. 10 BVerfGE 33, 1 ff (11). 11 Vgl. Art.11 Abs. 1 (Bayer.) Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz). 5
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3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen
147
Eine "Gefahr für die Gesundheit anderer Personen" liegt demnach nur dann vor, wenn aufgrund von Tatsachen der Eintritt dieses unerwünschten Erfolgs wahrscheinlich ist; eine bloß theoretische Gefahr genügt nicht. 12 3.2.2 Anwendung des Gefahrenbegriffs auf die bei HIV-Tests gegebene Sachlage
Dies setzt zunächst die Feststellung von Fakten voraus, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die HIV-Infektiosität des betreffenden Gefangenen begründen. 3.2.2.1 Die Auffassung von Schlund
Erfüllt ist diese Bedingung nach Auffassung von Schlund13 , "wenn ein begründeter Verdacht auf AIDS-Erkrankung nach den feststellbaren äußeren Symptomen beim Gefangenen gegeben ... ist." Diese These dürfte auf einem Mißverständnis der medizinischen Zusammenhänge beruhen: Die Gefahr einer Übertragung des HI-Virus besteht bereits ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Virus, nicht etwa mit Ausbildung des Vollbildes AIDS, der eigentlichen "AIDSErkrankung" .14 3.2.2.2 Früheres Risikoverhalten als Gefahren-Indikator
Das Auftreten einer typischen HIV-Symptomatik ist daher kein geeigneter Anknüpfungspunkt für die Gefahrprognose. Stattdessen ist auf Tatsachen abzustellen, die nach bisherigen Erkenntnisssen über die Übertragungswege des Virus auf dessen Rezeption durch den betreffenden Gefangenen schließen lassen. Derartige HIV-spezifische Risikofaktoren sind nach derzeitigem Wissensstand die intravenöse Applikation von Drogen, der (vor Mai 1985 erfolgte)ls Empfang von Blut oder Blutprodukten, (ungeschützte) homosexuelle Kontakte sowie (auch hetero-) sexuelle Kontakte zu Personen mit einem oder mehreren der vorstehenden Risikofaktoren. 16 Soweit in der allgemeinen Diskussion von "Risikogruppen"17 die Rede ist, handelt es sich lediglich um eine "Vertypung" der Gefahr LS.d. § 101 Abs. 1 S. 1 StVollzG,18 die aber nicht den Blick dafür verstellen darf, daß die Gefahr aus einem bestimmten Verhalten 12 Vgl. Müller in: SchwindjBöhm Rz.13 zu § 101 StVollzG.; LR-Wendisch § 119 Rdn. 174 verlangt sogar "hohe Wahrscheinlichkeit". 13 Juristische Aspekte, S. 568. 14 Vgl. Erster Teil 3.1 u. 3.3. 15 Seit diesem Zeitpunkt besteht aufgrund entsprechender Sicherheitsvorkehrungen kein relevantes Risiko mehr hinsichtlich der Kontamination dieser Präparate mit HIV (vgl. Erster Teil 5.2.5.2). 16 Vgl. Rübsaamen, S. 207. 17 Vgl. Merkblatt Nr. 43 des Bundesgesundheitsamtes, abgedr. AIFO 1986, 163. 18 So ausdr. Eberbach, Anmerkung, S. 143. 10*
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2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der JustizvoJlzugsanstalten
resultiert, nicht etwa aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Von Bedeutung ist dies insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit der Widerlegung der aus der Risikogruppen-Zugehörigkeit resultierenden Gefahrvermutung: Steht fest, daß ein Angehöriger einer sogenannten Risikogruppe die der Gruppe im allgemeinen zugeschriebene riskante Verhaltensweise selbst nicht praktiziert hat - etwa needle-sharing ablehnt und stets steriles Injektionsbesteck verwendet -, so ist die Annahme einer Gefahr nicht gerechtfertigt. Nur wenn man dies im Auge behält und die Zugehörigkeit zu einer "Risikogruppe" lediglich als widerlegliche Vermutung bewertet, so erscheint der Rückgriff auf diesen Terminus unbedenklich.
Nach Auffassung von Eberbach begründet auch die Zugehörigkeit zur "Risikogruppe der Prostituierten" eine konkrete Gefahr i. S. d. § 101 Abs. 1 S. 1 StVollzG, da diese "selbst ,berufsbedingt' gefährdet sind."19 Jedoch läßt sich schon die These von der "Risikogruppe Prostituierte" durch die derzeit vorliegenden Untersuchungen zur HIV-Prävalenz kaum belegen, sofern man nur diejenigen Prostituierten gesondert ausweist, bei denen der Risikofaktor "intravenöse Drogenapplikation" zum Tragen kommt 20 . Zum anderen kann aus dem häufigen Wechsel des Geschlechtspartners allein noch nicht auf die Aufnahme des HI-Virus geschlossen werden, wenn man nicht gleichzeitig unterstellt, zumindest mit einem infizierten Freier sei Verkehr ohne ausreichenden Schutz ausgeübt worden. Diese Prämisse bedürfte aber auch erst der Fundierung durch entsprechende empirische Nachweise. 21
3.2.2.3 Prognose künftigen Risikoverhaltens als zusätzliche Voraussetzung for die Annahme einer Gefahr Davon abgesehen begegnet die Auffassung Eberbachs einem weiteren, m. E. noch gewichtigeren Einwand: Selbst die - auf entsprechende Risikofaktoren gestützte - Prognose hinsichtlich des positiven HIV-Status eines Gefangenen erlaubt nämlich noch nicht den Schluß auf eine von ihm ausgehende Ansteckungsgefahr. Denn die Übertragung des Virus setzt geeignete zwischenmenschliche Kontakte voraus 22 . Hinzukommen müssen daher Anhaltspunkte, daß der potentielle HIV-Träger in Eberbach a. a. O. Vgl. hierzu die vom Bayer. Staatsministerium der Justiz veröffentlichten Daten (siehe in diesem Abschnitt 1.1). 21 Untersuchungen bei Nürnberger Prostituierten im März! April 1986, an denen 89 % der 448 in Nürnberg registrierten Prostituierten teilnahmen, führten in keinem einzigen Falle zum Nachweis von HIV-Antikörpern, was die Autoren auf die häufige Benutzung von Kondomen und den Kundenstamm zurückführten. Bundesweit wird die HIVPrävalenz bei registrierten Prostituierten derzeit auf 1 % (bei nicht registrierten vermutlich infolge eines höheren Anteils an Drogensüchtigen - auf 20 %) geschätzt (AIFO 1987, 193). 22 Vgl. Erster Teil 5.2.2. 19
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3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen
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der Anstalt übertragungsgeeigente Verhaltensweisen praktizieren wird - etwa solche sexueller Art oder Aggressionshandlungen, die Blut-zu-Blut-Kontakte eröffnen. Die Gegenauffassung, die aus der Risikogruppen-Zugehörigkeit das Vorliegen einer "Gefahr für die Gesundheit anderer Personen" (§ 101 Abs.1 S. 1 StVollzG) folgert, beruht offenbar auf der - unausgesprochenen - Gleichsetzung der Eingriffsvoraussetzungen nach Bundes-Seuchenrecht und Strafvollzugsrecht. Dieses Eindrucks kann man sich insbesondere dann nicht erwehren, wenn - wie meist - bei der Frage der Zulässigkeit einer Anordnung nach § 101 StVollzG lediglich die in den Hinweisen für den Vollzug des BSeuchG23 enthaltene Typisierung nach Risikogruppen problematisiert wird. 24 Diese Gleichsetzung ist aber sachlich nicht gerechtfertigt, da das Bundes-Seuchengesetz die in der Befugnisnorm (§§ 32 Abs. 2 i. V. m. 31 Abs. 1 BSeuchG) verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe in § 2 BSeuchG selbst konkretisiert. "Ansteckungsverdächtig" ist demnach bereits eine Person, "von der anzunehmen ist, daß sie Erreger einer übertragbaren Krankheit ... aufgenommen hat .. " (§ 2 Ziff.3 BSeuchG). Aufgrund dieser ausdrücklichen positivrechtlichen Regelung kommt es hier also gerade nicht darauf an, ob mit einem übertragungsgeeigneten Verhalten der Träger der Krankheitserreger zu rechnen ist. 2S Dies beruht auf einer Wertung des Gesetzgebers, der im Vorfeld (!) der Gefahrenabwehr Ermittlungen zur Gefahrenerforschung schon dann zulassen wollte, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Infektiosität des Betroffenen besteht. 26 Dagegen setzt § 101 Abs.1 StVollzG ausdrücklich eine "Gefahr" voraus. Die Auslegung dieses Begriffs hat mangels Konkretisierung durch den Gesetzgeber - nach allgemeinen sicherheitsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen, ohne daß hierzu die - gänzlich anders formulierte und auch von anderen gesetzgeberischen Intentionen getragene - Regelung des BSeuchG herangezogen werden könnte. Würde man dagegen in Anlehnung an die seuchenrechtlichen Bestimmungen auf eine Verhaltensprognose verzichten und stattdessen allein auf den Verdacht bezüglich des positiven HIV-Status abstellen, so liefe dies auf die routinemäßige Austestung der Angehörigen sogenannter "Risikogruppen" hinaus. Ihnen würde damit praktisch - ohne daß entsprechende Tatsachen diese Annahme begründeten - generell unterstellt, sie würden sich künftig nicht nur verantwortungslos im Umgang mit ihren Mitmenschen, sondern sogar krimine1l 27 verhalten. Eine derartige Vermutung wäre aber weder empirisch belegbar noch mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vereinbar. 23 Vgl. Bekanntmachung des ßayerischen Staatsministerium des Innern vom 19.5.1987, MAßl. Nr. 10/1987, S. 246fT. 24 So etwa bei Eberbach, Anmerkung. 25 Eingehend zum seuchenrechtlichen Verdacht: Rübsaamen, S. 209fT. 26 Vgl. Rübsaamen, S. 168. 27 Vgl. hierzu Dritter Teil, zweiter Abschn. 1.1.2.
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2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
Daher muß entgegen der vorstehend zitierten Auffassung die Gefahrprognose auf beide Komponenten - Hf V-Status des Betroffenen und dessen künftiges Verhalten - erstreckt und hinsichtlich heider Elemente auf entsprechende Tatsachen gestützt werden. 28 Die Verhaltensprognose dürfte zwar in der Praxis Schwierigkeiten bereiten, die aber bei prognostischen Entscheidungen in der Natur der Sache liegen. Von Bedeutung für die Einschätzung dürfte insbesondere der Verlauf des Aufklärungsgespräches sein: Gelingt es, den Betroffenen von der erhöhten Wahrscheinlichkeit seiner Infektiösität und der daraus folgenden Notwendigkeit von Verhaltensmodifikationen zu überzeugen, oder verschließt er sich - realitätsblind - der Erkenntnis, er könne HIV-Träger sein? Offensichtliche Indifferenz den Verhaltenshinweisen gegenüber dürfte ebenso Anlaß zu einer positiven Gefahrprognose geben wie Äußerungen, die auf eine Art "Desperado-Mentalität" schließen lassen. Allgemeingültige Kriterien können hier freilich nicht aufgestellt werden. Es wird sich vielmehr stets um eine einzelfall bezogene Entscheidung handeln. Zu erwägen wäre, der Praxis insoweit einen Beurteilungsspielraum zuzubilligen, wie er etwa im Falle der Anwendung der Flucht- und Mißbrauchsklausel (§ 11 Abs. 2 StVollzG) anerkannt wird. 29
3.2.2.4 Nicht-HfV-speziJischer Ansteckungsverdacht als Rechtjertigungsgrund für die Hf V-Diagnostik?
In Zweifel gezogen wurde neuerdings, daß die Anordnung der HIVDiagnostik eine Gefahr gerade hinsichtlich der Übertragung des Hf-Virus voraussetze. So hält es etwa Loschelder 30 für die Durchführung eines HIV-Tests für "keineswegs nötig, daß die vorhandenen Anzeichen gerade den Verdacht auf AIDS erhärten". Es genüge vielmehr, wenn diese Anzeichen auf eine Krankheit hindeuten, "die den Gefangenen schwerwiegend oder andere Personen ... ,einfach' gefährdet". Aus der Befugnis zur Blutentnahme folgert Loschelder offenbar gleichzeitig die Zulässigkeit der HIV-Diagnostik. Die Konsequenz dieser Auffassung bestünde darin, daß bei Vorliegen irgendwelcher Symptome zwangsweise (!) ein umfassender gesundheitlicher "Check-up" an dem betreffenden Gefangenen durchgeführt werden dürfte. Dem steht aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 96 Abs. 1 StVollzG), der nicht nur bei der Auswahl zwischen mehreren geeigneten Maßnahmen, sondern auch hinsichtlich des Umfanges des jeweiligen Eingriffs zum Tragen kommt, entgegen. So ist insbesondere auch der Vollzug einer Maßnahme einzustellen, wenn ihr Zweck erreicht ist 31 . Damit gebietet der Grundsatz der Erforderlichkeit im Falle einer Blutentnahme die Beschränkung der Labordiagnostik auf die Ermittlung derjenigen Krankheit, deren Symptome den Gefahrverdacht i. S. d. § 101 Abs. 1 S. 1 StVollzG begründeten. Würde 28 29
30 31
Im Erg. ebenso Schlund. Juristische Aspekte. Vgl. Calliess/Müller-Dietz Rdnr. 6 zu § 11 StVollzG. S. 1469. Brühl in AK StVollzG § 96 Rz. 3.
3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnonnen
151
dieser Anlaß zu einer allgemeinen Ausforschungsdiagnose oder auch "nur" zusätzlich zur HIV-Diagnostik benutzt, so wäre das - i. ü. auch verfassungsrechtlich vorgegebene - Interventionsminimum überschritten. Für letztere bedarf es vielmehr einer speziellen Anordnung, die nur bei Vorliegen einer Gefahr im Hinblick auf die HIV-Übertragung ergehen kann. Maßgeblich sind hier dieselben Erwägungen, die schon die Erstreckung einer ohne Aufklärung über die HIV-Diagnostik erteilten Einwilligung auf den HIV-Test verbieten 32 . Die Auffassung Losehelders, wonach sich nur die Frage der Zulässigkeit der Venenpunktion stellen würde, bei der Verwertung des entnommenen Blutes der Anstalt dagegen völlig freie Hand bliebe, beruht auf einer Mißachtung des durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Gefangenen. Denn nach der vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten "Volkszählungsurteil"33 vorgenommenen Konkretisierung umfaßt dieses Grundrecht "auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden" 34. Grundrechtlichen Schutz genießt der Einzelne damit aber gerade auch vor der ohne seinen Willen erfolgenden Erhebung seiner persönlichen Daten 3s . Beschränkungen, die ohnehin nur im überwiegenden Allgemeininteresse hinzunehmen sind, bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich ihre Voraussetzungen und ihr Umfang klar und "für den Bürger erkennbar" ergeben 36 . Der HIV-Status des Betroffenen, der nach Losehelder ohne weiteres soll ermittelt werden dürfen, stellt ein persönliches Datum ersten Ranges dar 37 . Dessen Erhebung ohne spezialgesetzliche Grundlagen verstieße daher eklatant gegen das Recht des Gefangenen auf "informationelle Selbstbestimmung". Die Anordnung des HIV-Tests setzt daher die von dem betreffenden Gefangenen ausgehende spezifische (konkrete) Gefahr der HIV-Übertragung auf Dritte voraus. 3.2.3 Sonstige Eingriffsvoraussetzungen
3.2.3.1 Zumutbarkeit und Ungefährlichkeit
Die in § 101 Abs. 1 StVollzG genannten weiteren Einschränkungen der Eingriffsbefugnis bereiten dagegen keine Schwierigkeiten: Die mit der HIVDiagnostik verbundenen ärztlichen Maßnahmen sind weder unzumutbar noch mit erheblichen Gefahren für den Gefangenen verbunden. 32 33 34 3S 36
37
Vgl. hierzu die Ausf. im Zweiten Teil, erster Abschn. 3.2.3. BVerfGE 65, 1 ff. BVerfGE 65, 1 ff (42). Vgl. BVerfGE 65, 1ff(43). BVerfGe 65, 1 ff (44). Vgl. BVerfG NJW 1972, 1123 (1124).
152
2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten
3.2.3.2 Erforderlichkeit des HIV-Tests Ebensowenig bestehen Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Erforderlichkeit. 38 Zwar wäre es theoretisch denkbar, durch gezielte Aufsichtsrnaßnahmen übertragungsgeeignete Kontakte jedes nur potentiellen HIVTrägers zu unterbinden. Dadurch würde man aber an die Vollzugsbediensteten unzumutbare und letztlich wohl auch unrealistische Anforderungen stellen. Aufgrund des mit der positiven Kenntnis von der Infektiosität bestimmter Gefangener verbundenen erhöhten Motivationseffekts 39 für die wirklich gefährdeten Bediensteten40 ist als Folge der (selektiven) Bekanntgabe des positiven HIV-Befundes eines zu betreuenden Gefangenen mit einem Zugewinn an Sicherheit für den damit befaßten Vollzugsbediensteten zu rechnen. Die Einhaltung eines optimalen Sicherheitsstandards scheint bei bloßem HIVVerdacht weniger gewährleistet. Die Erhebung des Befundes erweist sich daher als die effektivere Maßnahme und ist damit erforderlich. Die Anordnung der Maßnahme erfolgt durch die Anstaltsleitung nach Anhörung des Arztes. 41 3.3 HIV-Tests an U-Häftlingen 3.3.1 Eingriffsvoraussetzungen
Bei Gefangenen, die sich in Untersuchungshaft befinden, gilt § 101 StVollzG - eine unmittelbar nur den Vollzug der Freiheitsstrafe betreffende Regelungmit den sich aus § 178 Abs. 1 und 2 StVollzG ergebenden Modifikationen. Danach bestehen hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen keine U nterschiede 42 • 3.3.2 Anordnungskompetenz
Eine Besonderheit besteht jedoch hinsichtlich der Anordnungkompetenz: Diese liegt gern. § 119 Abs. 6 StPO, der nach §§ 178 Abs. 2 StVollzG "unberührt" bleibt - d.h. an die Stelle der entsprechenden Regelung des StVollzG tritt-, beim Richter, der vor der Anordnung aber den Arzt zu hören hat. 43 Die gemäß § 119 Abs.6 StVollzG vorgesehene Ersatzzuständigkeit von Staatsanwalt, Anstaltsleiter oder anderen Beamten kann im Falle der Anordnung eines HIVA. A. Lasche/der. Vgl. hierzu bereits oben (zweiter Abschn. 4.2.5.2). 40 D. h. diejenigen, bei denen aufgrund ihrer spezifischen Tätigkeit (B.: Zahnarzt, Aufsichtbeamte bei aggressiven Gefangenen) die Möglichkeit übertragungsgeeigneter Kontakte besteht - nur diese dürfen im übrigen über den HIV-Status des betreffenden Gefangenen infonniert werden. 41 Vgl. Müller in: Schwind/Böhm Rz. 34 zu § 101 StVollzG. 42 Vgl. LR-Wendisch § 119 Rdn. 174ff. 43 K/einknecht/Meyer § 119 Rdnr. 43. 38
39
3. Rechtfertigung durch öffentlich-rechtliche Befugnisnormen
153
Tests nicht eintreten, da es sich hierbei um eine endgültige und nicht nur um eine vorläufige Maßnahme handelt. Ebensowenig erscheint die Annahme eines "dringenden Falles" plausibel begründbar, da die Vornahme des Tests stets um einige Zeit aufschiebbar ist, ohne daß dadurch ein - nicht durch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen während dieser kurzen (!) Zeit abwendbarer Schaden drohte. Die Durchführung des HIV-Tests ist aber auch bei U-Häftlingen Aufgabe der Vollzugs behörde 44 • 3.4 Eingriffsbefugnis nach den Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes (BSeuchG) 3.4.1 Konkurrenzverhältnis zu § 101 StVollzG
Neben § 101 StVollzG bleiben die zum Schutz anderer Personen bereits vor Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes bestehenden Regelungen, so insbesondere auch diejenigen des Bundes-Seuchengesetzes und des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 45 , unberührt.46 Das zuletzt genannte Gesetz eröffnet allerdings im Falle der HIV-Infektion keinerlei Eingriffsbefugnisse, da Geschlechtskrankheiten im Sinne dieses Gesetzes in dessen § 1 enumerativ bezeichnet sind. AIDS bzw. die HIV-Infektion ist hier nicht genannt. Anders verhält es sich dagegen beim Bundes-Seuchengesetz, das auf AIDS prinzipiell Anwendung findet. 47 3.4.2 Eingriffsvoraussetzungen der seuchenrechtUchen Befugnisnormen
Liegen daher bei einem Gefangenen Tatsachen vor, die die Annahme eines Ansteckungsverdachts begründen, so kann eine zwangsweise Untersuchung nach §§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs. 1 BSeuchG erfolgen. Der hierzu erforderliche seuchenrechtliche Verdacht setzt zwar - anders als § 101 StVollzG - nicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit für die künftige Aufnahme übertragungsgeeigneter Kontakte durch den potentiellen HIV-Träger voraus. Jedoch müssen zumindest konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der betreffende Gefangene selbst den HI-Virus aufgenommen hat. 48 Routinetests aller Gefangenen oder auch nur der Neuzugänge werden daher auch nicht durch das BSeuchG legitimiert.
44 4S 46
47 48
KleinknechtfMeyer § 119 Rdnr. 44. Gesetz vom 23.7.1953 (BGBL I S.700). Brühl in: AK StVollzG § 96 Rz. 7. Vgl. Zweiter Teil, zweiter Abschn. 3.1. Vgl. Rübsaamen, S. 209fT.
154
2. Teil, 3. Abschn.: HIV-Diagnostik im Bereich der Justizvollzugsanstalten 3.4.3 Anordnungskompetenz
Sind die seuchenrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen erfüllt, so bedarf es allerdings der Anordnung des HIV-Tests durch das zuständige Gesundheitsamt, da das BSeuchG nur diesem die Anordnungskompetenz verleiht. 49 Die für das Auftreten übertragbarer Krankheiten in Gemeinschaftseinrichtungen vorgesehenen speziellen Eingriffsbefugnisse der §§ 45ff BSeuchG sind im vorliegenden Zusammenhang dagegen nicht einschlägig, da sie sich nur auf die in § 45 BSeuchG abschließend genannten Krankheiten beziehen und die HIV-Infektion bzw. AIDS nicht in diesem Katalog enthalten ist 50 • 3.5 Ergebnis Bei Personen, die sich in Straf- oder Untersuchungshaft befinden, sind HIVTests ohne wirksame Einwilligung des Betroffenen zulässig, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte die erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Gefangene Virusträger ist und zu Dritten ansteckungsgeeignete Kontakte aufnehmen wird, ohne diese zuvor über seinen HIV-Status zu informieren. Die Rechtfertigung folgt in diesen Fällen aus § 101 Abs.l StVollzG bzw. §§ 178 Abs.l und 2 i. V.m. 101 StVollzG. Daneben eröffnet das Bundes-Seuchengesetz dem Gesundheitsamt zwar unter den Voraussetzungen der §§ 32 Abs. 2 i. V. m. 31 Abs. 1 BSeuchG auch bei Strafgefangenen und U-Häftlingen die Möglichkeit zur Anordnung von zwangsweisen HIV-Tests. Die damit gegenüber § 101 Abs. 1 StVollzG verbundene Ausweitung des Kreises der Duldungspflichtigen ermöglicht aber nicht etwa Routinetests an sämtlichen Gefangenen. Für ein derartiges Screening besteht vielmehr im geltenden Recht keine gesetzliche Grundlage. Auch die allgemeine Notstandsrechtfertigung nach § 34 StGB könnte - abgesehen von den generellen Bedenken, die der Heranziehung dieser allgemeinen Norm zur Rechtfertigung hoheitlichen Handeins entgegenstehen 51 - keine weitergehenden Eingriffsbefugnisse vermitteln. Nach der hier vertretenen Auffassung decken sich vielmehr die "Gefahren"Begriffe von § 34 StGB und § 101 StVollzG.
49
So auch Gallwas •. S. 38.
so Vgl. Gallwas. S. 38. 51 Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 7 einerseits, Jakobs AT 13/42 sowie Samson SK § 34 Rn. 5 a andererseits.
Dritter Teil
Befunderöffnung Erster Abschnitt
Befugnis zur Befunderöffnung 1. Problemstellung Im Hinblick auf die durch § 203 StGB strafrechtlich bewehrte Schweigepflicht des Arztes erlangt die Frage nach der Befugnis des Arztes zur Weitergabe des Testergebnisses an Dritte gegen den Willen des Patienten nicht nur unter dem Aspekt der zivilrechtlichen Haftung des Arztes·, sondern auch unter demjenigen des Strafrechts Bedeutung. Die Frage der Befugnis zur Mitteilung des Befundes an den Injizierten selbst könnte allenfalls in extremen Ausnahmefällen strafrechtliche Relevanz erlangen: So etwa unter dem Aspekt der Körperverletzung, wenn die Mitteilung des positiven Testergebnisses bei dem Patienten schockbedingte Gesundheitsbeeinträchtigungen hervorruft. In diesen Fällen bedarf es aber einer sorgfältigen Prüfung der Vorhersehbarkeit des schädlichen Erfolgs und - falls diese im Einzelfall bejaht wird - der Notstandsrechtfertigung des Arztes. Die Annahme einer Notstandslage i.S.d. § 34 StGB ist unter dem Aspekt der Gefährdung Dritter plausibel, da aus der Unwissenheit des HIV-Trägers über seine Infektiosität besondere Ansteckungsgefahren resultieren.
2. Überblick über den Meinungsstand Abgesehen von der Einwilligung des Patienten in die Befundmitteilung an Dritte wird eine entsprechende Befugnis des Arztes in erster Linie aus § 34 StGB abgeleitet 1. Die Notwendigkeit zur Heranziehung des § 34 StGB bezweifelt Deutsch 2 • Seiner Meinung nach könne sich die Befugnis zur Unterrichtung eines Gefährdeten auch ohne einen Notstand "aus der Interessenkollision ergeben" 3 • '" Vgl. hierzu Eberbach, Rechtsprobleme, S. 39ff. So ausdr. Eberbach, Juristische Probleme, S. 233; ders., Rechtsprobleme, S. 33f.; Lang, S. 150; Laufs/ Laufs, S. 2265. 2 Besprechung, S. 701 f. 3 Deutsch, Besprechung, S. 702 Hervorh. durch Verf. 1
156
3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
Von anderen Autoren wird auf die vom BGH4 entwickelten Grundsätze über die Abwägung widerstreitender Pflichten oder Interessen abgestellt 5 • Eine Befugnis etwa zur Benachrichtigung des Arbeitgebers des Infizierten oder der Blutspendezentrale soll sich hieraus dann ergeben, wenn der Patient - sollte er "das Vollbild des manifest erworbenen Immun-Defekt-Syndroms aufweisen"6 - ärztlichen Belehrungen, kein Blut mehr zu spenden, nicht nachgekommen ist oder zum nachgeordneten Pflegepersonal in einer Arztpraxis oder Klinik gehört. Gerade die letztgenannte, auf eine Kasuistik von Offenbarungsbefugnissen zusteuernde Auffassung macht deutlich, daß es der genauen Durchleutung der angesprochenen Normen bzw. Rechtsinstitute bedarf, ehe man sie auf die spezielle Problematik der Weitergabe des HIV-Befundes anwendet.
3. Tatbestandsprobleme des § 203 StGB § 203 Abs. 1 StGB untersagt dem Arzt, Zahnarzt usw. die Offenbarung eines ihm bekanntgewordenen fremden Geheimnisses.
3.1 "Fremdes Geheimnis" Geheimnisse sind Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind - faktischer Aspekt - und an deren Geheimhaltung derjenige, den sie betreffen, ein von seinem Standpunkt aus sachlich begründetes Interesse - normativer Aspekt - hat oder bei eigener Kenntnis der Tatsache haben würde. l Der vom Arzt erhobene HIV-Befund eines Patienten ist dessen persönlichem Lebensbereich zuzuordnen, stellt mithin eines der vom Gesetz exemplarisch genannten Geheimnisse dar. Vereinzelt wird allerdings die Auffassung vertreten, diese Vorschrift erfasse nur personenbezogene Informationen, so daß ein "Geheimnis" wenigstens die Erkennbarkeit des Betroffenen voraussetze. 2 Nach dieser Auffassung fehlte es demnach bei der Weitergabe anonymisierter Befundtaten etwa zum Zwecke der statistischen Erfassung schon an der Tatbestandsvoraussetzung "Geheimnis". Diese Restriktion läßt sich aber weder mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren noch ist sie der Sache nach geboten, da die Tathandlung des "Offenbarens" ohnehin eine entsprechende Einschränkung der Strafbarkeit impliziert.
Vgl. BGH NJW 1968, 2288ff (2290). So Schlund, Juristische Aspekte, S. 451. 6 Schlund a. a. 0.; gemeint ist aber wohl nur das Vorliegen einer HIV-Infektion, da nach Auftreten des AIDS-Vollbildes die Befundmitteilung - wegen der Offensichtlichkeit der Krankheit - kaum noch praktische Bedeutung haben dürfte. t Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 5. 2 Rogall, S. 5. 4
5
3. Tatbestandsprobleme des § 203 StGB
157
Sofern der HIV-Befund bislang allenfalls einer beschränkten Zahl von Personen bekannt war, unterf1illt er somit dem Schutzbereich des § 203 StGB, da das Interesse an dessen Geheimhaltung unter Würdigung von Lage und Standpunkt des Betroffenen verständlich und damit schutzwürdig 3 ist. An dieser Beurteilung ändert sich auch dann nichts, wenn man mit einer Mindermeinung 4 verlangt, daß die betreffende Information eine Eignung zur Privatheitsverletzung aufweist, daß also deren Bekanntgabe geeignet ist, den Betroffenen in seiner sozialen Geltung zu beeinträchtigen. Gerade letzteres ist ja der Hauptgrund für die verbreitete Skepsis gegenüber dem HIV-Test. 5 3.2 Innerer Zusammenhang zwischen Berufsausübung und Bekanntwerden Der Befund muß dem Täter in seiner Eigenschaft als Arzt usw., d. h. in einem inneren Zusammenhang mit der Ausübung seines Berufes bekanntgeworden sein. 6 Zweifelhaft könnte dies allenfalls in den Fällen sein, in denen der Arzt den Test ausschließlich zu statistischen Zwecken - etwa im Rahmen eines allgemeinen Screenings - und ohne jegliche medizinische Indikation bei dem konkreten Patienten durchführt. Jedoch ist auch hier dem Arzt der Befund "als Arzt" bekanntgeworden. Dies folgt aus einer am Schutzzweck orientierten Auslegung des § 203 Abs. 1 StGB. Der persönliche Lebens- und Geheimbereich soll nämlich von den genannten Trägern sozial bedeutsamer Berufe gerade deswegen nicht verletzt werden, weil der einzelne weitgehend gezwungen ist, sich ihnen anzuvertrauen 7 • Soweit demnach die Informationserlangung durch die mit der ärztlichen Behandlung zwangsläufig verbundene Öffnung des Privatbereichs des Patienten - quasi durch den Abbau sonst bestehender Schutzbarrieren - ermöglicht oder erleichtert wird, ist § 203 Abs. 1 StGB einschlägig. Entscheidender Aspekt ist dabei, ob die betreffende Tatsache dem Arzt aufgrund einer zum Behandlungsgeschehen gehörenden Maßnahme bekannt geworden ist 8 • Die Befunderhebung im Rahmen der ärztlichen Behandlung erscheint geradezu als Paradebeispiel für einen derartigen inneren Zusammenhang, ohne daß es dabei auf deren Zweck ankäme. 3.3 Offenbaren des Geheimnisses Die Tathandlung besteht im Offenbaren des Geheimnisses, was die Aufdeckung sowohl der geheimen Tatsache selbst als auch des Betroffenen 3 4 5 6
7 8
Vgl. Dreher-Tröndle § 203 Rdn. 5. Vgl. Rogall, S. 6. Vgl. Erster Teil 6. Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 15. Vgl. Dreher-Tröndle § 203 Rdn. 1. Kreuzer, Anmerkung, S. 144.
158
3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
voraussetzt 9 . Gibt daher der Arzt lediglich bestimmte demographische Daten der von ihm getesteten HIV-Positiven weiter, ohne daß diese Daten Rückschlüsse auf den Namen des Betroffenen zuließen, so ist der Tatbestand des § 203 StGB nicht verwirklicht. 10 Fraglich erscheint jedoch gerade angesichts der durch die modernen Datenverarbeitungstechniken eröffneten nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zur ReIdentifikation anonymisierter Daten, wann im Einzelfall die zur Strafbarkeit führende hinreichende Erkennbarkeit des Betroffenen gegeben ist. Rogall ll verlangt hier eine "gewisse Wahrscheinlichkeit der Herstellung eines Personen bezuges" . Es reiche nicht schon jede theoretische Möglichkeit der (Re-)Identifizierung, ein gewisses "Restrisiko" verbleibe beim Betroffenen.
Bei der Frage der Tolerierung eines derartigen "Restrisikos" erscheint m.E. jedoch äußerste Vorsicht geboten. Dies legt schon der vom Bundesverfassungsgericht bestätigte hohe Rang des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nahe. Bedenkt man die besondere Sensibilität des Datums "HIV-Befund", kommt dem Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen erst recht gesteigerte Bedeutung zu. Dies ist bei der - letztlich der Praxis zu überlassenden Grenzziehung zu beachten. Im Hinblick auf den Adressaten der Mitteilung ist erforderlich, daß durch sie der geschlossene Kreis der am Geheimnis beteiligten Personen gesprengt wird 12. Daher "offenbart" der zur Geheimhaltung Verpflichtete auch dann, wenn er die Tatsachen Personen mitteilt, die ihrerseits zur Geheimhaltung verpflichtet sind 13 oder die zum Betroffenen in einem Angehörigenverhältnis stehen 14. Die Befundmitteilung an bisher nicht eingeweihte Dritte bedarf demnach auch dann der speziellen Rechtfertigung 15 , wenn diese Dritten selbst einer der in § 203 Abs. 1 oder 2 StGB genannten Berufsgruppen angehören. Besondere Relevanz erlangt diese Erkenntnis bei der Frage der Zulässigkeit innerbehördlichen Informa tionsausta usches 16 •
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe Strafrechtlich sanktioniert ist nur die unbefugte Offenbarung von Privatgeheimnissen. Dem Merkmal "unbefugt" kommt nach h. M. lediglich Hinweisfunktion im Hinblick auf die Möglichkeit der Rechtfertigung zu 1 . Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 19. Vgl. Lenckner a.a.O.; Samson SK § 203 Rn. 35; Rüping, S. 207. 11 Rogal/. S. 5. 12 Mösl LK § 300 Rdn. 9. 13 Samson SK § 203 Rn. 35. 14 Schlund. Fragen, S. 266. 15 Hierzu sogl. (4.). 16 Eingeh. hierzu Rogal/. S. 8 f.
9
10
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
159
Befugt handelt der an sich zur Wahrung des Geheimnisses Verpflichtete, dessen Offenbarung durch besondere gesetzliche Regelungen oder durch allgemeine Rechtfertigungsgründe legitimiert ist, wobei - nach einer freilich bestrittenen Auffassung - auch der Aspekt der Sozialädäquanz herangezogen werden kann 2 • Nur rechtfertigende, nicht etwa tatbestandsausschließende Wirkung kommt i. ü. auch der Einwilligung des Betroffenen ZU3. Welche Normen bzw. Rechtsinstitute die Weitergabe des HIV-Befundes zu legitimieren vermögen, ist im folgenden im einzelnen zu untersuchen.
4.1 Einwilligung4 des Betroffenen
Voraussetzung ist hier die Zustimmung des Verfügungsberechtigten zur Offenbarung: VerjUgungsberechtigter hinsichtlich des festgestellten HIV-Befundes ist allein der getestete Patient, da es sich dabei um ein diesen selbst betreffendes Geheimnis handelt 5 • Für die Wirksamkeit der Einwilligung gelten die allgemeinen Voraussetzungen; der Einwilligende muß also insbesondere in der Lage sein, die Tragweite seiner Erklärung zu überblicken und ihre Wirkung nachzuvollziehen 6 • Ihre Erteilung kann auch stillschweigend (konkludent) erfolgen 7 , was insbesondere dann anzunehmen ist, wenn die Weitergabe von Geheimnissen in bestimmten Bereichen üblich ist und dies der Betroffene zur Zeit der Bekanntgabe privater Tatsachen gegenüber dem primären Adressaten weiß. Die übliche Weitergabe der Information durch diesen ist dann gerechtfertigt. 8 Die Frage ist allerdings, bei welchen (sekundären) Adressaten die Informationsübermittlung der "Üblichkeit" entspricht. Dies soll im folgenden an Hand einiger Beispiele untersucht werden, denen besondere praktische Relevanz zukommen dürfte.
1 Vgl. Dreher-Tröndle § 203 Rdn. 27; Rogall, S.6; z.T. a.A. Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn.21. 2 Vgl. Dreher-Tröndle a.a.O. 3 Vgl. Rogall, S. 6. 4 Bockelmann (Ponsold, S. 15) spricht stattdessen von der "Entbindung von der Schweigepflicht", gelangt aber wohl zu mit der h.M. übereinstimmenden Ergebnissen. S Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 23; ebda. auch zur Dispositionsbefugnis hinsichtlich von Geheimnissen Dritter. 6 Rüping, S. 207; eingeh. zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Einwilligung vgl. Zweiter Teil, erster Abschn. 2.2.2. 7 Schlund, Fragen, S. 266; Laufs, Arztrecht, Rdn. 280. 8 Vgl. Samson SK § 203 Rn. 40.
160
3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
4.1.1 Konkludente Einwilligung in die Weitergabe an eigene Hilfskräfte des Arztes
Teilt der Arzt Patientengeheimnisse seinen eigenen Hilfskräften mit, so geschieht dies nach überwiegender Auffassung regelmäßig mit der (konkludent erteilten) Einwilligung des Patienten 9 • Diese Beurteilung erscheint aufgrund der - vom Patienten auch so wahrgenommenen - arbeitsteiligen Organisation von Praxis- und Krankenhausbetrieb, die eine Geheimhaltung von Patientendaten jedenfalls insoweit faktisch unmöglich macht, als diese in die ärztliche Dokumentation aufzunehmen sind, auch sachgerecht. Werden Krankheitsdaten nur in diesem Umfang weitergegeben, so entspricht dies den Vorstellungen eines "Durchschnittspatienten", da vom Arzt nicht erwartet werden kann, etwa Patientendaten - um ihrer absoluten Geheimhaltung willen - selbst aufzuzeichnen oder auch einfachere, an sich problemlos von seinen Mitarbeitern zu erledigende Behandlungsmaßnahmen, die die Kenntnis des Befundes voraussetzen oder zumindest Rückschlüsse hierauf zulassen, ausschließlich selbst durchzuführen. Damit ist aber auch schon die Grenze der aus einer konkludenten Einwilligung abzuleitenden Befugnis aufgezeigt: Angesichts der besonderen Sensibilität des Datums "HIV-Befund" reicht der Konsens des Patienten nur soweit, als die Weitergabe dieses Geheimnisses aus organisatorischen Gründen unvermeidbar oder sogar notwendig ist. Von Bedeutung dürfte dies u. a. in Großpraxen sowie im Klinikbetrieb sein: Nur auf die Unterrichtung der unmittelbar mit der Betreuung des konkreten Patienten befaßten Hilfskräfte des Arztes erstreckt sich die konkludente Einwilligung. 10 Nicht gedeckt ist durch sie die Weitergabe des Befundes an Stellen, die keine Funktion gerade bei der Behandlung des getesteten Patienten erfüllen, sondern reine Kontrollaufgaben etwa im Hinblick auf die Effizienz der inneren Organisation wahrnehmen, ebensowenig die Übermittlung an den Träger des Krankenhauses l l sowie an Aufsichtsinstanzen 12 . 4.1.2 Befundmitteilung an andere Ärzte
Die Schweigepflicht des behandelnden Arztes besteht nach ganz h.M. auch gegenüber medizinischen Kollegen, die der Patient nicht konsultierte. 13 U nzulässig ist daher grundsätzlich auch die Unterrichtung eines vom behandelnden Arzt hinzugezogenen weiteren Arztes 14. Eine stillschweigende Einwilligung hierzu ist lediglich dann anzunehmen, wenn der Patient selbst sich auf unmittelbaren Vorschlag des einen Arztes in die Behandlung des anderen oder Vgl. Samson a.a.O. m. w. N.; Schlund, Fragen, S. 267. 1. Erg. ebenso Schlund a.a.O.; Samson a.a.O. 11 Samson a. a. O. 12 Laufs, Arztrecht, Rdn. 28t. 13 Laufs, Arztrecht, Rdn.27t. 14 Schlund, Fragen, S. 267.
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4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
161
eines Krankenhauses begibt 15 • Gleiches gilt, wenn sich der Patient in einem Krankenhaus oder einer Gemeinschaftspraxis der Behandlung durch ein Team von Fachärzten unterzieht. Hier erklärt er sich zumindest konkludent mit dem Zusammenwirken der Ärzte und der dabei notwendig werdenden gegenseitigen Unterrichtung über medizinische Daten und Fakten einverstanden. 16 4.1.3 Befundmitteilung an Angehörige des Patienten
Auch dem Verlobten oder Ehegatten des Patienten gegenüber hat der Arzt grundsätzlich zu schweigen. Eine Regel-Ausnahme-Vermutung des Inhalts, daß der Patient regelmäßig mit der Information des Partners einverstanden sei, läßt sich nicht begründen. 17 Sie würde auch zu einer Relativierung des durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgten Rechts 18 , selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden dürfen, führen. Für einen Teilbereich - das Recht zur Geheimhaltung auch vor dem Partner - würde man nämlich dadurch ohne weiteres dem Grundrechtsträger den Rechtsschutzverzicht unterstellen und ihm dadurch die Last der Initiative insoweit aufbürden, als er den Willen zu unbeschränktem Geheimnisschutz von sich aus deutlich machen müßte. Eine stillschweigende Einwilligung kann allenfalls dann angenommen werden, wenn der Patient den Arzt in Begleitung seines Partners oder nächster Angehöriger aufsucht und seine subjektiven Beschwerden in deren Gegenwart dem Arzt schildert 19 • Eine mutmaßliche Einwilligung vermag nur ausnahmsweise zur Rechtfertigung zu verhelfen. Der Rückgriff auf dieses Rechtsinstitut setzt nämlich voraus, daß der Betroffene selbst - etwa infolge Bewußtlosigkeit - nicht befragt werden kann 20 • Besteht dagegen die Möglichkeit, mit der Information des Lebensgefährten oder sonstiger naher Verwandter zuzuwarten, bis der Betroffene selbst seinen Willen hierzu äußert, so scheidet die Berufung auf eine mutmaßliche Einwilligung aus 21 . Selbst wenn derartiges Zuwarten nicht möglich sein sollte, ist noch eine weitere Einschränkung zu beachten: Es müssen Umstände vorliegen, die nach objektivem Urteil den Schluß zulassen, daß der Betroffene im Falle seiner Befragung eingewilligt haben würde. 22 Nach alledem scheint dem Rechtsinstitut der mutmaßlichen Einwilligung für die Weitergabe des HIV-Befundes kaum praktische Bedeutung zuzukommen. 23 15 16
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20 21 22
Laufs, Arztrecht, Rdn.272. Schlund, Fragen, S.267. Schlund, Fragen, S. 266. Vgl. BVerfGE 65, 1 ff (41) - sog. "Volkszählungsurteil". Schlund, Fragen, S. 266. Samson, SK § 203 Rn. 42. Zur Begründung i.e. Zweiter Teil, zweiter Abschn., 1. Lenckner, Verschwiegenheitspflicht, S. 235.
11 Pfeffer
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3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung 4.1.4 Befundmitteilung an den (potentiellen) Arbeitgeber des Patienten
Wie eingangs 24 erwähnt, wird teilweise die Übermittlung des positiven HIVBefundes an den Arbeitgeber des Infizierten für zulässig erachtet. Fraglich ist, ob diese These mit der Annahme einer stillschweigenden Einwilligung begründet werden könnte. In der Kommentarliteratur findet sich
hierzu die - wiederum nicht näher begründete - These, wer sich der Einstellungsuntersuchung durch den Amtsarzt unterziehe, stimme ebenso wie derjenige, der sich dem Amts- oder Vertrauensarzt zur Untersuchung stelle, um einen bestimmten Zweck zu erreichen oder einem Verfahrenserfordernis zu genügen, der Mitteilung des Befundes an den Auftraggeber des Arztes - also den Arbeitgeber - im Umfange des Untersuchungszwecks zu. 2S Jedenfalls in dieser generalisierenden Form ist die These jedoch nicht haltbar. Scheinbar plausibel ist sie noch im Falle von Einstellungsuntersuchungen sowie von Untersuchungen, die der Arbeitgeber im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses turnusmäßig verlangt, um sicherzustellen, daß der jeweilige Arbeitnehmer in gesundheitlicher Hinsicht noch den Anforderungen seines konkreten Arbeitsplatzes genügt. In allen anderen Fällen läßt dagegen nichts darauf schließen, der Patient sei mit einer Unterrichtung seines Arbeitsgebers über den von seinem Arzt festgestellten Befund einverstanden. Selbst in den erwähnten Sonderlagen ist aber ein Konsens hinsichtlich der Mitteilung eines positiven HIV-Befundes mehr als zweifelhaft. Denn dadurch wird - was den Fall der Einstellungsuntersuchung anbelangt - der vom Patienten mit dem Antritt zur Untersuchung verfolgte Zweck, den Arbeitgeber in spe zur Begründung eines Dienst- bzw. Arbeitsverhältnisses zu veranlassen, gerade nicht erreicht. Unterzieht sich jemand in dieser Situation einem HIV-Test, so geschieht dies in der Erwartung oder zumindest in der Hoffnung, der Befund werde negativ sein. An der Übermittlung des positiven HIV-Befundes an den Arbeitgeber wird er in aller Regel kein Interesse haben, was für den Arzt auch ohne weiteres erkennbar ist. 26 Was die Fälle von Eignungsuntersuchungen innerhalb bestehender Arbeitsverhältnisse angeht, so wird es zumeist schon am erforderlichen Zusammenhang zwischen Untersuchungszweck und HIV-Befund fehlen, da die HIV-Infektion jedenfalls überwiegend der weiteren Berufsausübung nicht entgegensteht. Vgl. M./Schroeder BT-1 § 29 III 5 a). Vgl. oben 2. 2S Mös[ LK § 300 Rdn. 10. 26 Eine davon abweichende Zwecksetzung des (potentiellen) Arbeitgebers etwa die positive Selektion der Gesunden - ist dagegen für den vorliegenden Zusammenhang ohne Belang, da bei der Auslegung von Inhalt und Umfang der Einwilligung m.E. ausschließlich auf den Willen und das Interesse des Getesteten abgestellt werden kann; dies deshalb, weil er als Inhaber des preiszugebenden Rechtsguts "körperliche Integrität" der einzig Dispositionsbefugte ist. 23
24
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
163
Soweit aber in Einzelflillen - ob nun sachlich berechtigt oder nicht - der Arbeitgeber ausdrücklich auch die HIV-Diagnostik verlangt, deckt sich die Interessenlage des HIV-positiven Arbeitnehmers mit derjenigen des Einstellungsbewerbers: Die Mitteilung des positiven Befundes entspricht typischerweise nicht seinem Willen. Zumindest wird er sich für diese Situation die Entscheidung darüber vorbehalten wollen, ob er die mit der Nichtvorlage eines ärztlichen Zeugnisses bzw. der Vorlage eines nur fragmentarischen Attests verbundenen Risiken tragen will oder aber diejenigen, die aus dem Bekanntwerden seines positiven HIV-Status resultieren. Damit ist aber die Annahme einer stillschweigenden Einwilligung des Arbeitnehmers bzw. Einstellungsbewerbers in die Weitergabe eines etwaigen positiven HIV-Befundes an seinen (potentiellen) Arbeitgeber in keinem Falle begründ bar. Dieses Ergebnis deckt sich genau besehen auch mit der eingangs zitierten These Mösls: Die Mitteilung des positiven Testresultats hält sich gerade nicht im - nach der Motivation des sich dem Test unterziehenden Patienten (1) zu bestimmenden - "Umfang des Untersuchungszwecks". Unzulässig ist i.ü. die Mitteilung des HIV-Befundes an den Arbeitgeber auch, wenn der Patient eine für jenen bestimmte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wünscht. Nur auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten darf der Arzt sein Attest auf die Ursache der Arbeitsunfähigkeit erstrecken. 27 Dies ist insbesondere dann zu beachten, wenn Folgeerkrankungen der HIV-Infektion zur Arbeitsunfähigkeit führen. 4.1.5 Die Sonderproblematik beim beamteten Arzt und beim Werksarzt
Zweifel an der hier gefundenen Lösung könnten nun in den Fällen auftreten, in denen die Untersuchung durch einen beamteten Arzt oder einen Werksarzt durchgeführt wird. Im Hinblick auf deren Weisungsgebundenheit gegenüber ihrem Dienstherren fehle es - so könnte man argumentieren - an dem von § 203 StGB vorausgesetzten Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient 28 • Aufgrund entsprechender Erwägungen vertritt Kierski 29 die Auffassung, § 300 StGB - der Vorläufer des heutigen § 203 StGB - erfasse von vomeherein nicht die dienstliche Tätigkeit der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes sowie der Werksärzte. Andernfalls wäre - so Kierski - die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe der Amtsärzte "ernstlich in Frage gestellt, oftmals sogar unmöglich gemacht" 30. Der Werksarzt schließlich sei Berater oder gar Angehöriger der Betriebsleitung und als solcher dieser gegenüber vertraglich zur Auskunft verpflichtet 31 • 27
28 29 30
11*
H. M. - vgl. Schlund, Fragen, S. 267. Vgl. RG St 71,384; 66, 273 (274). S. 130fT. Kierski, S. 131.
164
3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
Schlund32 hält diese generelle Herausnahme der genannten Gruppen von Ärzten aus der Strafvorschrift des § 203 StGB nicht für berechtigt und schlägt stattdessen eine differenzierende Lösung vor: Wo ein Arzt-Patienten-Verhältnis bestehe, der Arzt also für den Patienten tätig werde, bleibe es bei der Schweigepflicht des Arztes. Anders sei es dagegen, wenn der Arzt nur als Gutachter im Auftrag des Arbeitgebers des Patienten oder im Verwaltungsinteresse einer Behörde oder für ein Gericht tätig werde; mangels Arzt-PatientenVerhältnisses entfalle hier die Schweigepflicht. Beide Auffassungen begegnen indes dem Einwand, für Einschränkungen des Schutzbereichs des § 203 StGB zu plädieren, die sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen lassen: Wie sich aus der Formulierung des Gesetzes ergibt, die nicht nur bei "anvertrauten", sondern auch bei "sonst bekanntgewordenen" fremden Geheimnissen Diskretion gebietet, kommt es auf die freiberufliche Tätigkeit des Arztes gerade nicht an. Allein wesentlich ist vielmehr, daß der Berufsträger die Kenntnis in beruflicher Eigenschaft erlangt hat. 33 Zu fordern ist nach dem Wortlaut des Gesetzes lediglich ein innerer Zusammenhang zwischen Berufsausübung und Kenntniserlangung 34 , nicht etwa ein besonders geartetes Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Auch das von Kierski 3S herangezogene Argument des "Sinnzusammenhang ( s), in den die Vorschrift gestellt ist", bietet keine tragfähige Grundlage für eine derartige Reduktion des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Denn wenn Kierski als Ergebnis seiner systematischen Auslegung - zu Recht - konstatiert, der Gesetzgeber habe den Geheimnisschutz " ... auf dasfreigewählte Vertrauensverhältnis ... "36 zwischen Arzt und Patient beschränken wollen, so steht dies gerade nicht dafür, Amts- und Werksarzt von dieser Pflicht generell zu entbinden. Denn um Untersuchungen, denen sich der Patient "aufgrund freien Entschlusses"37 unterzieht, wird es sich auch beim Werksarzt in aller Regel handeln, da der Arbeitnehmer zu deren Duldung nicht verpflichtet ist. Es mag allenfalls eine entsprechende vertragliche Obliegenheit bestehen, d. h. die Verknüpfung des Untersuchungs gebots mit für den Arbeitnehmer nachteiligen Konsequenzen im Falle seiner Weigerung. Ob er diese auf sich nehmen oder zur Untersuchung antreten will, bleibt aber seiner freien Entscheidung überlassen. Ganz entsprechend ist die Lage bei einem Teil der vom Amtsarzt vorgenommenen Untersuchungen. Das Erscheinen zur Einstellungsuntersuchung für den 31
32 33 34 3S
36 37
Kierski, S. 132. Fragen, S. 268. Mös! LK § 300 Rdn. 8. Vgl. hierzu oben 3.2. S. 129. Kierski, S. 129 (Hervorh. d. Verf.). Kierski a. a. O.
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
165
öffentlichen Dienst etwa ist zwar durch die einschlägigen beamtenrechtlichen Vorschriften veranlaßt, die ein Gesundheitsattest als Berufungsvoraussetzung statuieren. Dennoch unterzieht sich der Bewerber der Untersuchung freiwillig, da eine entsprechende gesetzliche Duldungspflicht nicht besteht. Inwieweit (und vor allem auch an wen)38 die Weitergabe des dabei gewonnenen Befundes zulässig ist, hängt von der (stillschweigenden) Einwilligung des Betroffenen ab. Würde man hier bereits den Schutzbereich des § 203 StGB in der von Kierski vorgeschlagenen Weise beschneiden, so hätte dies den Wegfall jeglicher strafrechtlich bewehrter - Schweigepflicht des Arztes zur Folge. Vom strafrechtlichen Schutz ausgenommen wäre dann aber nicht nur die Weitergabe an die zuständige Einstellungsbehörde (bzw. an den Arbeitgeber), sondern schlechthin an jedermann. 39 Diese Auslegung des § 203 StG B verbietet sich schon aufgrund der Einstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht 40 , im vorliegenden Zusammenhang insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung41 . Eine derart restriktive Interpretation des strafrechtichen Schutzes von Privatgeheimnissen ist auch nicht - wie Kierski 42 meint - aus praktischen Gründen geboten. Denn soweit keine gesetzliche Pflicht zur Duldung der Untersuchung durch den Amtsarzt besteht, liegt deren Durchführung und die Bekanntgabe des dabei gewonnenen Befundes ohnehin im Interesse des Betroffenen, der das Attest als Voraussetzung für einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt benötigt. Liegt dieses der Behörde mangels Einwilligung des Betroffenen nicht vor, so mag sie daran ihre Konsquenzen knüpfen und den begehrten Verwaltungsakt versagen, eine Störung des Verwaltungsablaufs tritt dadurch nicht ein. Was aber die verbleibenden Fälle (insbesondere an gerichtlich beauftragte Gutachter ist hier zu denken) anbelangt, so bedarf es ebensowenig einer Tatbestandskorrektur. Die Lösung ergibt sich hier schon aus dem Bestehen einer gesetzlichen Pflicht zur Duldung der Untersuchung. Deren Statuierung durch den Gesetzgeber impliziert insoweit auch die Entbindung des untersuchenden Arztes von seiner Verschwiegenheitspflicht. Denn - so konstatiert Bockelmann 43 zu Recht - "die Errichtung derartiger Duldungspflichten wäre sinnlos, wenn der Arzt das Resultat seiner Exploration der zur Anordnung der Begutachtung befugten Dienststelle nicht mitteilen dürfte." Daraus folgt für den vorliegenden Zusammenhang, daß bei Untersuchungen an Arbeitnehmern bzw. Stellenbewerbern auch dann keine erweiterten Offenbarungsbefugnisse gelten, wenn sie von einem Werksarzt 44 oder beamteten Arzt 38 39 40
41 42 43 44
Vgl. hierzu Ponsold-Bockelmann. S. 38. Vgl. Bockelmann a.a.O. Vgl. BVerfGE 7, 205f. BVerfGE 65, trf (41), sowie oben 4.1.3. S.130. Strafrecht, S. 38. Zur Offenbarungsbefugnis aufgrund § 3 ASiG sogl. (4.2).
166
3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
durchgeführt werden. Denn dies ändert nichts daran, daß sich die Probanden hier freiwillig der Untersuchung unterziehen und nicht etwa aufgrund einer gesetzlichen Duldungspflicht. Da letztere fehlt, ist - anders als etwa bei Zwangsuntersuchungen nach §§ 81, 81 a, 81 c StPO oder §§ 32 Abs. 2 i. V.m. 31 Abs.1 BSeuchG - für die Weitergabe des Befundes die Einwilligung des Betroffenen erforderlich. Diese kann freilich nicht schon - entgegen Bockelmann 45 - stets im freiwilligen Antritt zur Untersuchung gesehen werden, sondern beurteilt sich nach dem vom Patienten verfolgten Zweck 46 • 4.2 Offenbarungsbefugnis aufgrund gesetzlicher Spezialbestimmungen Eine positivrechtliche Regelung der Befundweitergabe enthält zum einen das Bundes-Seuchengesetz, wo in §§ 3, 4 die Meldung einer Erkrankung, zum Teil auch schon des bloßen Krankheitsverdachts ausdrücklich zur Pflicht erhoben wird. Es versteht sich von selbst, daß diese - gern. § 69 BSeuchG mit Geldbuße bewehrte - Pflicht auch eine entsprechende Befugnis zur Offenbarung impliziert. Jedoch gehört die HIV-Infektion bzw. AIDS nicht zum Katalog der im Bundes-Seuchengesetz enumerativ genannten meldepflichtigen Krankheiten, so daß die die Meldepflicht betreffenden Vorschriften insgesamt nicht anwendbar sind 47 • . Gänzlich unanwendbar sind die Regelungen des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten48 , da AIDS - mangels Erwähnung im abschließenden Katalog des § 1 des Gesetzes - keine Geschlechtskrankheit im Sinne des Gesetzes ist. Damit erlaubt auch dieses Gesetz weder die namentliche (vgl § 12 des Gesetzes) noch die anonymisierte Weitergabe der Daten des Infizierten. In Betracht käme - allerdings nur in Extremfällen - damit lediglich eine aus § 138 Abs. 1 Nr.6 StGB abzuleitende Befugnis. 49 Voraussetzung wäre hierfür das Vorliegen von Erkenntnissen, die darauf schließen lassen, der HIV-Infizierte werde in Kenntnis seiner Infektiosität die Infektion eines anderen mit dem HIVirus herbeiführen, wobei er sowohl hinsichtlich der Virusübertragung als auch hinsichtlich eines etwaigen tödlichen Verlaufs der durch die Infektion verursachten Krankheit zumindest bedingten Vorsatz (dolus eventualis)50 aufweisen müßte. Im Hinblick auf die Bedeutung des durch § 203 StGB geschützten Interesses ist i. Ü. zu fordern, daß der Arzt sich primär um die anderweitige Abwendung einer derartigen Tat bemüht 51 , also durch umfassende Aufklärung A.a.O. Vgl. oben 4.1.4. 47 Bachmann, S. 101 f. 48 Gesetz vom 23. Juli 1953 (BGBI I S. 700). 49 Vgl. Lenckner, Verschwiegenheitspflicht S. 236; Samson SK § 203 Rn. 48. 50 Zum Diskussionsstand in der Frage der Voraussetzungen dieser Vorsatzform und ihrer Abgrenzung zur bewußten Fahrlässigkeit vgl. Sch.Sch.-Cramer § 15 Rdn. 68ff. 51 Samson SK § 203 Rn. 48; ebenso Mös[ LK § 300 Rdn. 16. 4S
46
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
167
und Appelle an das Verantwortungsbewußtsein des Infizierten eine Verhaltensänderung herbeizuführen versucht. Spezielle Offenbarungsbefugnisse bestehen darüberhinaus für den Betriebsarzt aufgrund § 3 Arbeitssicherheitsgesetz s2 • Erlangt er Erkenntnisse über den Gesundheitszustand eines Arbeitnehmers, die Bedenken im Hinblick auf die Weiterbeschäftigung dieses Arbeitnehmers am bisherigen Arbeitsplatz begründen und lassen sich die möglichen Gesundheitsgefahren durch technische oder arbeitsorganisatorische Veränderungen nicht beseitigen, so hat er gegenüber dem Arbeitgeber gern. § 3 ASiG die Pflicht, andere geeignete Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit vorzuschlagen und gegebenenfalls auf einen Arbeitsplatzwechsel hinzuwirken. 53 Soweit derartige Vorschläge dem Arbeitgeber Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers ermöglichen, erfolgt diese Geheimnisoffenbarung aufgrund § 3 ASiG befugt. Auch diese Befugnis beschränkt sich aber auf die Bekanntgabe des für die Aufgabenerfüllung des Betriebsarztes unbedingt Erforderlichen. 54 Mitgeteilt werden darf also nur die Stellungnahme hinsichtlich der (bedingten) Geeignetheit oder Ungeeignetheit des Arbeitnehmers für eine bestimmte Tätigkeit oder einen bestimmten Arbeitsplatz, nicht aber der Untersuchungsbefund. 5S
4.3 Offenbarungsbefugnis unter dem Aspekt der Sozialadäquanz Im Zusammenhang mit § 203 Abs. 2 StGB leitet Franzheim s6 die Befugnis zur Offenbarung personenbezogener Daten aus dem Gesichtspunkt sozialädäquaten Handelns s7 ab. 58 Voraussetzung für die Anwendung dieses Rechtsinstituts wäre aber per definitionem zumindest, daß die Weitergabe des HIV-Befundes als "übliche, von der Allgemeinheit gebilligte und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige .. " S9 Handlung anzusehen ist und als solche "im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit"60 liegt. Eine solche Übung läßt sich aber ebensowenig feststellen wie ein allgemeiner Konsens hinsichtlich der Zulässigkeit der Weitergabe derart sensibler Daten - dies zumal angesichts S2 Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit v. 12.12.1973 (BGBI I S. 1885) i.d.F. v. 12.4.1976 (BGBI I S. 965), abgek. ASiG. S3 Hinrichs, S. 2287. 54 Hinrichs a. a. O. 5S H.M. vgl. Hinrichs a. a. O. S6 S.7. 57 Dabei ist aber zu beachten, daß das Merkmal der Sozialadäquanz nicht als Rechtfertigungsgrund, sondern als Auslegungshilfe bzw. Tatbestandskorrektivfungiert (vgl. M./Zipf AT-1 § 17 Rdn. 21). 58 Dageg. ausdr. Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 53 a. 59 BGH 23, 226ff (228); enger M./Zipf AT-l § 17 Rdn. 17. 60 BGH a.a.O.
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3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
der bekannten Risiken im gesellschaftlichen Bereich, ist der HIV-Status des Betroffenen erst einmal aufgedeckt 61 . Der Aspekt der Sozialadäquanz bietet demnach keine tragfähige Grundlage für die Befugnis zur Offenbarung des HIVBefundes.
4.4 Offenbarungsbefugnis aufgrund schlichter Interessenabwägung Die Befugnis zur Offenbarung von Geheimnissen im Sinne des § 203 StGB soll sich nach einer auch heute noch vertretenen Auffassung nach den Grundsätzen über die Wahrnehmung berechtigter Interessen "in direkter oder entsprechender Anwendung des § 193 StGB"62 ergeben. Zum Teil wird hierfür Gewohnheitsrecht in Anspruch genommen 63 und auf entsprechende Judikate verwiesen, in denen allerdings die Rechtfertigung aus den "Grundsätzen über die Abwägung widerstreitender Pflichten oder Interessen"64 gewonnen wird. Der Rückgriff auf diese beiden Rechtfertigungskonstrukte 6S wird aber von einer in der Literatur vordringenden Auffassung abgelehnt und stattdessen ausschließlich die allgemeine Notstandsregelung des § 34 StG B herangezogen 66 • Für diese Position sprechen gewichtige Argumente: Was die "Grundsätze über die Abwägung widerstreitender Pflichten oder Interessen" angeht, so wurden in den wenigen Fällen, in denen die Rechtsprechung diese Grundsätze zur Anwendung brachte, der Sache nach ohnehin stets die Voraussetzungen des § 34 StGB beachtet. 67 Wenn Rogall68 demgegenüber feststellt, die Rechtsprechung habe in diesen Fällen den § 34 StGB nicht bemüht, so ist dies nicht weiter verwunderlich, zitiert er doch ausnahmslos Judikate vor Inkrafttreten des § 34 StGB69. Ließe man die Rechtfertigung aufgrund einer von den Voraussetzungen des § 34 StGB gelösten schlichten Interessenabwägung eintreten, so würde man den gesetzgeberischen Willen unterlaufen und den grundrechtlich verbürgten Geheimnisschutz der Betroffenen einer gefährlichen Vgl. Erster Teil 6. Rogall, S. 6 m.w.N.; Ponsold-Bockelmann, S.17. 63 So ausdr. Bockelmann a.a.O. 64 BGH NJW 1968, 2288ff (2290), im Anseh!. an BGHSt 1, 366ff (368); auf die letztgenannte Entscheidung nimmt Bockelmann (a.a.O.) Bezug. 65 Zum systematischen Standort und zum Verhältnis dieser beiden Rechtfertigungsgründe zueinander vg!. Eser, Wahrnehmung, S. 27ff. 66 So insbes. Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn. 30; Samsan SK § 203 Rn. 46; Jakobs AT 16/37. 67 Vg!. Lenckner a. a. 0.; wenn Lenckner auf das Merkmal des "wesentlichen Überwiegens" des zu schützenden Interesses nicht eingeht, so liegt dem wohl der Rechtsgedanke des § 228 BGB zugrunde (s.u.). 68 S.6. 69 Diese Vorschrift wurde erst durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StRG) vom 4.7.1969 (BGBI I S. 717) eingeführt; zur Rspr. nach Inkrafttreten des 2. StRG vgl. etwa BGH JZ 83, 151ff (152), wo ausdrücklich § 34 StGB herangezogen wird. 61
62
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
169
Relativierung aussetzen. Die von Rogall70 gegen die Auffassung von der Exklusivität des § 34 StGB erhobenen krirninalpolitischen Bedenken können letzteres nicht rechfertigen. Zudem sind sie nicht stichhaltig, da derart gewichtige Informationsinteressen, die eine Zurücksetzung der Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen zu legitimieren vermöchten, wohl nur in den Fällen auftreten dürften, in denen aus der Geheimhaltung die Realisierung einer von dem Betroffenen ausgehenden Gefahr drohet. Dann entbindet aber bereits der aus § 228 BGB entlehnte Gedanke des Defensivnotstandes von der sonst problematischen Feststellung des wesentlichen Überwiegens des zu schützenden Interesses. Hier ist es bereits ausreichend, wenn der verursachte Schaden den verhinderten nur nicht wesentlich überwiegt. 72 Aus ganz entsprechenden Gründen ist auch ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund der "Wahrnehmung berechtigter Interessen" abzulehnen 73 • Letztlich kann dies aber im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, da der Anwendungsbereich dieses Rechtfertigungsgrundes sich bisher auf die Geltendmachung eigener Ansprüche des gern. § 203 StG B zur Geheimhaltung Verpflichteten und seine Verteidigung in einem Strafverfahren beschränkte 74 • Für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs besteht weder ein praktisches Bedürfnis noch wäre sie dogmatisch begründbar. Die Befugnis zur Offenbarung des HIV-Befundes kann sich demnach weder aus den "Grundsätzen über die Abwägung widerstreitender Pflichten oder Interessen" noch aus denjenigen über die "Wahrnehmung berechtigter Interessen" ergeben. Der These von Deutsch 7 S, die Mitteilungsbefugnis könne auch ohne Vorliegen eines Notstandes allein schon aus der Interessenkollision zwischen dem Infizierten und dem Gefährdeten hergeleitet werden, ist daher nicht zu folgen. 4.5 Offenbarungsbefugnis aufgrund § 34 StGB76
Voraussetzung für die Ableitung einer Offenbarungsbefugnis aus der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) ist das Bestehen einer Notstandslage, d.h. einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges S.6. So etwa, wenn zu befürchten ist, daß der HIV-Infizierte im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht die gebotene Sorgfalt walten läßt, insbesondere die Aufklärung des Sexual partners unterläßt. 72 I.e. hierzu vgl. Zweiter Teil, zweiter Abschn. 4.2.5.5. 73 Sch.Sch.-Lenckner § 203 Rdn 30; Samson SK § 203 Rn 46; Schünemann, S. 61 f. 74 Samson a. a. 0.; vgl. auch Bocke/mann (Ponsold, S. 17), der ausdr. auf die Wahrnehmung eigener Interessen durch den Arzt abstellt und i.ü. ebenfalls lediglich Beispiele der oben angesprochenen Art anführt. 7S Besprechung, S. 701 f. 76 Allgemein zu den Voraussetzungen der Notstandsrechtfertigung vgl. Zweiter Teil, zweiter Abschn. 4.2. 70 71
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3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
Schutzgut, die nur durch die Mitteilung des HIV-Befundes an Dritte abgewendet werden kann 77 • Als "Erhaltungsgut"78 ist im vorliegenden Zusammenhang in erster Linie an Leben und Gesundheit ansteckungsgefahrdeter Dritter zu denken. Diese anerkannten Schutzgüter des § 34 StGB79 können vom Arzt im Wege der Notstandshilfe 80 vor Beeinträchtigungen bewahrt werden. Voraussetzung ist das Bestehen einer "Gefahr", d.h. einer auffestgestellte tatsächliche Umstände gegründeten Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Schadens am Schutzgut 81 . Dafür genügt nicht etwa schon der HIV-Status des Betroffenen, wenngleich ihn dies zum potentiellen Virusüberträger macht. Dies folgt aus der Erkenntnis, daß nur ganz bestimmte Verhaltensweisen als übertragungsgeeignet gelten können 82 , nämlich nur solche, bei denen eine ausreichende Menge virushaltiger Körperflüssigkeit in die Blutbahn des anderen gelangt. Eine "Gefahr" für Leib und Leben Dritter liegt daher nur dann vor, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, der Infizierte werde die gebotene Vorsicht im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht einhalten und werde insbesondere Personen, zu denen er übertragungsgeeignete Kontakte unterhält - wichtigstes Beispiel hierfür ist der Sexualpartner -, nicht von selbst über seinen HIV-Status aufklären. Die Notwendigkeit einer derartigen - auf konkrete Fakten gestützten Verhaltensprognose übersieht Eberbach 83 , wenn er unter bloßem Hinweis auf das Überwiegen der elementaren Lebensgüter des Dritten gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse des Infizierten schlechthin die Information des Dritten durch den Arzt als durch § 34 StGB gerechtfertigt ansieht. Diese These vertreten i. ü. weder Lenckner noch Gallwas, auf die sich Eberbach 84 ausdrücklich bezieht. So beschränkt Gallwas 85 die Befugnis zur Offenbarung des HIVBefundes gegenüber den Angehörigen des Infizierten ausdrücklich darauf, "daß der Patient seinem Rat nicht Folge leisten wird". Lenckner 86 schließlich führt eine Entscheidung des Reichsgerichts an, in der die "erforderliche" (!) Warnung 87 von Angehörigen vor einer von dem Patienten ausgehenden Ansteckungsgefahr als befugt angesehen wurde. Vgl. Sch.Sch.-Lenckner § 34 Rdn. 8. Vgl. Sch.Sch.-Lenckner§ 34 Rdn. 26 sowie oben Zweiter Teil, zweiter Abschn. 4.2.1. 79 Vgl. Hirsch LK § 34 Rdn. 22. 80 Hirsch LK § 34 Rdn. 25. 81 Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 12 m. w.N. 82 Vgl. Erster Teil 5.2.2. 83 Rechtsprobleme, S. 33 f. 84 A.a.O. Fn. 86. 85 S.38. 86 Sch.Sch. § 203 Rdn.31. 87 RGSt 38, 62ff (64); in dem entschiedenen Falle lagen zudem Tatsachen vor, die auf riskante Verhaltensweisen der Infizierten hindeuteten. 77
78
4. Rechtfertigung der Befundweitergabe
171
Unzutreffend ist i. ü. auch die von Eberbach andernorts vertretene undifferenzierte These, der Arzt dürfe die Ehefrau oder den homosexuellen Lebensgefährten eines "AIDS-infizierten" Patienten 88 oder gar schlechthin "Personen, deren naher Umgang mit dem Infizierten ihm bekannt ist"89 warnen. Hier ist zwar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von der Aufnahme übertragungsgeeigneter Kontakte auszugehen und damit auch von einer Gefahr für Leben und Gesundheit des jeweiligen Partners des Patienten. Jedoch muß es sich bei § 34 StGB um eine "nicht anders abwendbare" Gefahr handeln, so daß die Offenbarung des HIV-Befundes nur gerechtfertigt ist, wenn sie das einzige Mittel zum Schutz der genannten Güter ist. 90 Der Arzt muß daher vor Bruch seiner Schweigepflicht alle Mittel ausschöpfen, um den Patienten selbst zu geeigneten Maßnahmen zur Verhinderung dieser Gefahren zu veranlassen. 91 Das setzt zunächst eine eindringliche und umfassende Aufklärung über gefährliche, bedingt gefährliche und ungefährliche zwischenmenschliche Kontakte voraus. So dann ist der Infizierte dazu anzuhalten, vor weiteren sexuellen Kontakten den jeweiligen Partner über seinen HIV-Status zu informieren, ebenso wie etwa Ärzte und Zahnärzte, wenn diese berufsbedingt übertragungsgeeignete Kontakte zu ihm aufnehmen. Nur wenn der Arzt danach noch ernstliche Zweifel daran hat, daß der Patient sich an seine Ratschläge halten wird oder das Zureden des Arztes" ... wegen der Uneinsichtigkeit des Patienten von vomeherein zwecklos (ist) ... "92, eröffnet § 34 StGB die Befugnis zur Offenbarung des Befundes gegenüber dem potentiell Gefährdeten. Allein die Versicherung, sich auf "safer sex" mit dem - nicht aufgeklärten - Partner zu beschränken, reicht allerdings nach der hier vertretenen Auffassung nicht aus. 93 Liegen Umstände vor, die die Annahme begründen, der Infizierte werde übertragungsgeeignete Kontakte - als solcher ist der Geschlechtsverkehr selbst bei Kondomverwendung anzusehen 94 - praktizieren, so läßt nur die vollständige Aufklärung des dadurch potentiell Gefahrdeten die Notstandslage i.S.d. § 34 StGB entfallen. Läßt sich der voll informierte Partner auf das Risiko ein, dann ist hierin - Einwilligungsfahigkeit vorausgesetzt - eine wirksame Einwilligung in die Gefahrdung zu sehen, die Notstandshilfe von Seiten Dritter ausschließt.
Was schließlich Schlunds These 9s angeht, bei HIV-Infizierten, die in einer Arztpraxis oder Klinik beschäftigt seien, dürfe stets der Arbeitgeber über den Befund informiert werden, so bedarf diese ebenfalls der Differenzierung: Nur 88 89 90 91 92
93 94 9S
Juristische Probleme, S.2265. Arztrechtliche Aspekte, S. 289. Vgl. Samson SK § 203 Rn. 43; Laufs/Laufs, S. 2265. So auch Rieger, Bruch, S. 153. BGH NJW 1968, 2288 (2290). Vgl. hierzu im folg. Abschn. 1.3. Vgl. Erster Teil 5.2.5.1. Schlund, Juristische Aspekte, S. 451.
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3. Teil, 1. Abschn.: Befugnis zur Befunderöffnung
wenn der betreffende HIV-Träger in einem besonders sensiblen Bereich beschäftigt ist, in dem eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Blut-zu-BlutKontakte besteht, und wenn er selbst die Unterrichtung des Arbeitgebers (im Hinblick auf die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereiches) voraussichtlich nicht vornehmen wird, verhilft § 34 StGB zur Rechtfertigung. Die Antwort auf die sich anschließende Frage, an welche Personen der positive HIV-Befund unter Berufung auf § 34 StGB mitgeteilt werden kann, ergibt sich wiederum aus der in dieser Vorschrift enthaltenen Restriktion, wonach es sich um eine "nicht anders abwendbare Gefahr" handeln muß. Es dürfen damit keine weniger einschneidenden Abwehrmittel zur Gefahrabwendung zur Verfügung stehen 96 • Daraus folgt insbesondere, daß der Kreis der Informierten so klein als möglich zu halten ist. Sind die potentiell gefährdeten Personen bekannt, so wird durch § 34 StGB ausschließlich deren Unterrichtung legitimiert. Lediglich wenn diese nicht bekannt sind oder deren Kreis unübersehbar ist 97 ist m.E. die Unterrichtung amtlicher Stellen, insbesondere der Polizei- und Sicherheitsbehörden gerechtfertigt. Auch wenn unter Berücksichtigung der vorgenannten Aspekte eine "nicht anders abwendbare Gefahr" i. S. d. § 34 StGB vorliegt, bedarf es im Einzelfall noch einer sorgfältigen und umfassenden Abwägung, ob das Geheimhaltungsinteresse des Patienten oder das Schutzinteresse des Ansteckungsgefährdeten höher zu bewerten ist 98 • In der Regel wird aber den Rechtsgütern Leben und Gesundheit der Vorrang einzuräumen sein. 99
4.6 Ergebnis Die Befugnis zur Offenbarung des HIV-Befundes kann sich lediglich aus einer wirksamen Einwilligung des Infizierten oder aufgrund rechtfertigenden Notstands (§ 34 StG B) ergeben. Letzteres setzt aber das Vorliegen von Anhaltspunkten dafür voraus, daß der Infizierte - ohne vorherige Information des potentiell Gefährdeten - zu Dritten übertragungsgeeignete Kontakte aufnehmen wird. Nur dann ist der Arzt befugt, seine durch den Behandlungkontakt erlangte Kenntnis weiterzugeben, wobei der Adressatenkreis für diese Information nur so weit ausgedehnt werden darf, als es zur Erreichung des Zwecks der Gefahrabwendung unerläßlich ist.
96 97
98 99
Dreher/Tröndle § 34 Rdn. 5 m. w. N.
Zu denken ist hier etwa an die vielzitierten "Desperados". Lang. S. 150. Laufs/Laufs. S. 2265.
Zweiter Abschnitt
Pfficht zur Befunderöffnung 1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundmitteilung 1.1 Problemstellung 1.1.1 Zusammenhang zwischen Pflicht zur Befundmitteilung und Strafbarkeit der HIV-Übertragung
Ein ausdrückliches Gebot des Inhalts, der Infizierte habe seinen HIV-Status oder sogar einen diesbezüglichen Verdacht Dritten zu offenbaren, hat der Gesetzgeber - jedenfalls bisher - nicht statuiert. Mittelbar könnte sich ein derartiges Gebot aber dann ergeben, wenn die Strafbarkeit der HIV-Übertragung auf Dritte davon abhinge, ob diese zuvor vom HIV-Träger über ihre Infektiosität informiert wurden oder nicht. Tatsächlich gehen alle Autoren, die sich mit der Strafbarkeit des HIV-Trägers im Falle der Infektion eines Dritten befassen, vom Wegfall jeglicher Strafbarkeit aus, wenn jener den Dritten über seine Infektiosität unterrichtet hat und dieser sich dennoch auf übertragungsgeeignete Kontakte - etwa (ungeschützten) Geschlechtsverkehr - einläßt l . Zur Begründung wird zum Teil auf die Straflosigkeit eigenverantwortlicher Selbstgefährdung 2 , zum Teil auf das Vorliegen einer Einwilligung des Infizierten 3 abgestellt. 1.1.2 Überblick über die Strafbarkeit bei HIV-Übertragung
Einschlägige Tatbestände im Falle der Übertragung des HI-Virus sind zunächst die Körperverletzungstatbestände der §§ 223, 223a, 230 StGB4. Hinreichend ist dabei - im Hinblick auf die dadurch bedingten Funktionsstörungen im Immunsystem des Virusempfängers 5 - bereits die Aufnahme des Virus. Wegen der hohen Mortalitätsrate 6 stellt die HIV-Transmission auch eine "das Leben gefährdende Behandlung" im Sinne des § 223a StGB dar? Kommt 1 HerzogjNestler-Tremel, S. 366; Bruns, Nochmals: Aids, S. 2282; Herzberg, Strafdrohung, S. 1462; Schlund, Juristische Aspekte, S. 564; Eberbach, Juristische Probleme, S.231. 2 HerzogjNestler-Tremel a. a. 0.; Bruns a. a. 0.; ähnl. Eberbach (a.a.O), der den Aspekt des HandeIns auf eigene Gefahr in den Vordergrund stellt. 3 So Herzberg a.a.O.; ausdr. abI. hierzu Bruns (a.a.O). 4 Eberbach, Juristische Probleme, S. 232; AG München NJW 87, 2314 m. w. N. 5 Vgl. Erster Teil 2.2. 6 Vgl. Erster Teil 3.4.3. 7 So auch Eberbach, Juristische Probleme, S. 232; Schlund, Juristische Aspekte, S. 564; Bruns, AIDS, Prostitution, S. 693.
3. Teil, 2. Abseh.: Pflicht zur Befunderöffnung
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es zum Ausbruch der manifesten AIDS-Erkrankung (AIDS-Vollbild) 8 , so liegt der (objektive) Tatbestand einer schweren Körperverletzung i. S.d. § 224 StGB vor, da das damit einhergehende Krankheitsbild als "Siechtum" zu charakterisieren ist 9 , d. h. als chronischer Krankheitszustand von nicht absehbarer Dauer, der wegen der dadurch bedingten Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens Hinfälligkeit zur Folge hat 10. Tritt schließlich der Tod des Infizierten ein, so kommen - bei Nachweisbarkeit eines entsprechenden Vorsatzes l l - auch Totschlag (§ 212 StGB) oder sogar Mord (§ 211 StGB)in Betracht. Läßt sich lediglich der Körperverletzungsvorsatz nachweisen und kann dem Virusüberträger hinsichtlich der Todesfolge - was angesichts der umfassenden Aufklärung über die Folgen der HIV-Infektion die Regel sein wird - Fahrlässigkeit zum Vorwurf gemacht werden, so ist § 226 StGB einschlägig 12 . Fehlt jeglicher Vorsatz, so verbleibt es bei § 222 StGB. Dagegen dürfte eine Bestrafung unter dem Aspekt der Vergiftung (§ 229 StGB)13 die Ausnahme darstellen, da dieser Tatbestand die Absicht des Täters voraussetzt, die Gesundheit des Opfers zu beschädigen. Dolus directus 2. Grades reicht hier nicht aus. Vielmehr muß der Täter eine - als sicher oder möglich vorgestellte - Gesundheitsbeschädigung erstrebt haben 14. Dies wird sich im Einzelfall nur schwer nachweisen lassen. Freilich ist die Beweisbarkeit ohnehin die Krux bei der Anwendung sämtlicher Straftatbestände - zum einen im Hinblick auf den Nachweis des entsprechenden Vorsatzes, zum anderen aber auch im Hinblick auf die Kausalität des konkreten Täters für die Ansteckung des Opfers IS. Einen Ausweg aus der Problematik des Kausalitätsnachweises bietet zwar der Rückgriff auf die Versuchsstrafbarkeit l6 . Dann stellt sich aber das Problem des Vorsatznachweises - mangels Strafbarkeit eines "fahrlässigen Versuchs" - in verschärfter Form. Vgl. Erster Teil 3.3. Ebenso Eberbach a. a. O. sowie Schlund a. a. O. 10 Dreher-Tröndle § 224 Rdn. 10m. w. N. 11 Vgl. hierzu Bruns. AIDS, Prostitution, S. 694f; ders., Nochmals: Aids, S. 2281; ders., AIDS, Alltag, S. 355; Herzberg. AIDS-Infizierung, S. 52; ders., Strafdrohung, S. 1463ff; ders., Zur Strafbarkeit, S. 2283; ders., Bedingter Vorsatz, S. 779ff; LG München NStZ 1987, 228 (229); Herzog / Nestler-Tremel. S. 363ff. 12 Eberbach. Juristische Probleme, S. 232. 13 Zu den objektiven Tatbestandsvoraussetzungen vgl. Schlund. Juristische Aspekte, S.565. 14 Hirsch LK § 229 Rdn. 18; Sch.Sch.-Stree § 229 Rdn. 9. 15 Vgl. hierzu Bruns AIDS, Prostitution, S. 694f; ders., Nochmals: Aids, S. 2281; ders., AIDS, Alltag, S. 355; Herzberg, AIDS-Infizierung, S. 52; ders., Strafdrohung, S. 1461; ders., Zur Strafbarkeit, S. 2283; Herzog/Nestler-Tremel. S. 363. 16 Vgl. Herzberg, AIDS-Infizierung, S. 54: ders., Strafdrohung, S. 1463; Bruns. Nochmals: Aids, S. 2281; Herzog/Nestler-Tremel, S. 363. 8
9
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundermittlung
175
Diese Probleme bedürfen in unserem Zusammenhang freilich keiner vertieften Erörterung. Denn sie mögen zwar Zweifel an der Effizienz strafrechtlicher Ge- bzw. Verbote begründen, nicht aber an deren Bestand und Verbindlichkeit. 1.1.3 Folgerungen f"tir die Pflicht zur Befundmitteilung
Steht nach alledem fest, daß die HIV-Infizierung Dritter strafrechtliche Verbote verletzt, so kann die im Rahmen dieser Arbeit interessierende Frage nur lauten, ob diese Strafbarkeit etwa schon aufgrund der besonderen Situation, in der der Ansteckungskontakt stattfindet, entflillt oder ob hierfür die vollständige vorherige Aufklärung des Ansteckungsgefahrdeten unabdingbare Voraussetzung ist. So betrachtet erweisen sich die genannten strafrechtlichen Verletzungsverbote mittelbar als Gebotsnormen im Hinblick auf die Offenbarung des HIVBefundes gegenüber Gerahrdeten. Deren Reichweite gilt es im folgenden abzuklären, wobei die Beantwortung dieser Frage wiederum davon abhängt, unter welchen Voraussetzungen von einer "eigenverantwortlichen Selbstgerahrdung" bzw. einer (stillschweigenden) Einwilligung 17 auszugehen ist. Im Auge zu behalten ist allerdings, daß den hier herauszuarbeitenden Mitteilungs"pflichten" nicht etwa ein strafrechtliches Gebot im Sinne eines (echten oder unechten) Unterlassungsdeliktes zugrundeliegt. Das Unterlassen der Offenbarung allein begründet noch nicht die Strafbarkeit des HIV-Trägers. Diese tritt vielmehr nur im Falle der Virusübertragung auf den nichtinformierten Dritten ein. Genau genommen müßte daher von einer Aufklärungs- oder Offenbarungsobliegenheit gesprochen werden. Aus Gründen der Kongruenz mit dem bisher vorliegenden Schrifttum wurde aber an der gebräuchlichen Terminologie festgehalten.
1.2 Meinungsstand zur Informationspflicht des HIV-Trägers 1.2.1 Lösung über die Rechtsfigur des "erlaubten Risikos" (Herzberg)
Herzberg 18 beantwortet die Frage nach der Strafbarkeit der HIV-Übertragung im Rahmen von Sexualkontakten in zwei Schritten, von denen jeder zu einer Abschichtung eines Teils der Fälle als strafrechtlich irrelevant führt.
Auf der ersten Stufe untersucht Herzberg die objektive Zurechenbarkeit des verursachten Erfolges - der HIV-Infizierung des Dritten - unter dem Aspekt der Überschreitung des erlaubten Risikos. Diese sei Zurechnungsvoraussetzung sowohl bei fahrlässiger wie auch bei vorsätzlicher Herbeiführung des Erfolges 19. Im Falle des Überschreitens der Grenze des erlaubten Risikos ist nach dem Konzept von Herzberg in die zweite Stufe der Strafbarkeitsprüfung einzutreten, 17
Vgl. ob. 1.1.1.
AIDS-Infizierung, S. 53 f; Strafdrohung, S. 1462 f; Zur Strafbarkeit, S. 2284; Bedingter Vorsatz, S. 778f. 19 Vgl. insbes. Herzberg, Bedingter Vorsatz, S. 778f. 18
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3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
der Frage nach dem Vorliegen einer wirksamen Einwilligung des Infizierten, etwa des Geschlechtspartners des "Täters". Dadurch könne die Risikosetzung " ... wieder zu einer erlaubten werden"20. Erst an dieser Stelle setzt - mittelbar - die "Pflicht" zur Aufklärung des Sexualpartners über den HIV-Status ein. Bei der Bestimmung des erlaubten Risikos geht Herzberg von der Sozialüblichkeit und Erlaubtheit von Verhaltensweisen aus, die - bekanntermaßen die hohe Wahrscheinlichkeit einer Übertragung von "landläufigen Virusinfekten", insbesondere infolge einer Tröpfcheninfektion, in sich bergen. Ebensowenig wie einem Grippe- oder Erkältungskranken jeglicher Kontakt zu Dritten verboten sei, überschreite etwa die Weitergabe von AIDS-Viren schlechthin die Grenzen des erlaubten Risikos. Vielmehr müsse man dem HIV-Träger diesbezüglich "einen gewissen Spielraum"21 zubilligen. Im einzelnen schlägt Herzberg folgende Grenzziehung vor: - Ist dem HIV-Träger seine Infektiosität unbekannt und hat er auch keinen besonderen Grund, es zu vermuten (wobei ein promiskes Sexualleben oder die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe jedenfalls zur Zeit hierfür noch nicht hinreichend sei), so überschreite er durch seine sexuelle Aktivität nicht die Grenzen des erlaubten Risikos 22 . - Dagegen beginne "mit der Erkenntnis oder sachlich begründeten Vermutung, sich angesteckt zu haben, die Fahrlässigkeit"23. Trotz der etwas mißverständlichen Formulierung dürften hierzu auch die Fälle zu rechnen sein, in denen der HIV-Träger die auf seinen HIV-Status hindeutenden objektiv, d. h. bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt erkennbaren - Verdachtsmomente übersieht bzw. die daraus resultierende Gefahrenprognose selbst nicht nachvollzieht. Diese Auslegung legt die von Herzberg an anderer Stelle 24 getroffene Feststellung nahe, daß "mit der Erkenntnis des eigenen Befalls die Fahrlässigkeit beginnt".
-
Für die letztgenannte Gruppe - über ihren HIV-Status informierte oder lediglich aufgrund Fahrlässigkeit nicht informierte HIV-Träger - macht Herzberg aber eine bedeutsame Einschränkung: Ein erlaubtes Risiko liege vor, "wenn der Infizierte ... - ohne aufzuklären und vielleicht sogar lügend - die fachmännisch empfohlenen Methoden der Risikominimierung (,safer sex') anwendet"2S
Die zuletzt genannte Modifikation ist umso erstaunlicher, als Herzberg in einer vorausgegangenen Stellungnahme 26 noch die Auffassung vertreten hatte, auch "safer sex" sei dem, der sich befallen wisse, nur erlaubt, wenn wenigstens 20 21 22 23
24 2S
26
Herzberg, Strafdrohung, S. 1462; ders., AIDS-Infizierung, S. 53. Herzberg a.a.O. Herzberg a.a.O. Herzberg, Strafdrohung, S. 1462. Herzberg, AIDS-Infizierung, S. 53. Herzberg, Strafdrohung, S. 1462. Herzberg, AIDS-Infizierung, S. 54.
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befunderrnittlung
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eine "rudimentäre Einwilligung" vorliege, der Partner also erkennen lasse, daß er sich des AIDS-Risikos bewußt sei und sich mit den getroffenen Schutzvorkehrungen begnüge. Zur Aufgabe dieser Sicht wurde Herzberg nach eigenen Angaben durch rechts- und gesundheitspolitische Entscheidungen des Staates bewogen. Dieser habe in seiner Aufklärungskampagne "voll und ganz auf die Infektionsvermeidung beim Geschlechtsverkehr gesetzt, ohne dem schon Infizierten eine noch strengere Disziplin - sprich ehrliches Bekennen und Enthaltsamkeit - abzuverlangen" 27 • Darin liege die - auch bei der juristischen Beurteilung zu beachtende - sachverständige Einschätzung, "safer sex" mindere die Gefahr in jedem Fall auf ein soziales und für den einzelnen erträgliches Maß. Sähe sich der Infizierte belehrt, daß er bei Verschweigen des HIV-Befundes trotz Verwendung eines Präservativs allemal ein rechtlich verbotenes Risiko setze, so läge der - primär zu hemmende - Schritt zum ungeschützten Geschlechtsverkehr nahe. 28 Eine Überschreitung des erlaubten Risikos liegt nach Herzberg somit nur dann vor, wenn der über seinen HIV-Status informierte oder aufgrund Fahrlässigkeit nicht informierte HIV-Träger ungeschützten Geschlechtsverkehr praktiziert. Nur in diesen Fällen stellt sich - auf einer zweiten Stufe der Strafbarkeitsprüfung - die Frage nach dem Vorliegen einer wirksamen Einwilligung des Sexualpartners, die auch nach Herzberg vollständige Aufklärung voraussetzt 29 • Der Autor weist dabei i. ü auch auf mögliche Zweifel an der Relevanz der Einwilligung im Hinblick auf § 226a StGB hin, zerstreut diese aber sogleich - zu Recht - mit dem Hinweis, es handle sich nicht um die Einwilligung in eine Verletzung, sondern um die Akzeptierung eines bloßen Verletzungsrisikos. Der Aspekt des "Handeins auf eigene Gefahr", der die ganze Rechtsordnung durchziehe, könne nicht über § 226 a StG Beinfach ausgeschaltet werden. 30
Zu ähnlichen Ergebnissen dürfte Eberbach 31 gelangen. Anders als Herzberg hebt dieser Autor zwar maßgeblich auf die Vermeidbarkeit der HIV-Übertragung ab, die diese Krankheit von anderen Infektionen, deren Weitergabe als "sozial adäquat" gilt, unterscheide 32 • Die zur Vermeidung notwendige gravierende Lebensveränderung sei dem HIV-Träger wegen der schlimmen Folgen einer Infizierung anderer auch zumutbar. Wenn Eberbach aber unter dem Aspekt der Schuld, den er als verbunden mit der Frage der Vermeidbarkeit ansieht, den Fahrlässigkeitsvorwurf offensichtlich an die Unterlassung von Vorsichtsmaßnahmen wie "safer sex" anknüpft 33 , so läuft dies letztlich 27 28 29
30 31
32 33
Herzberg, Strafdrohung, S. 1462. Herzberg a.a.O., S. 1463. Herzberg, Strafdrohung, S. 1462; ders., AIDS-Infizierung, S. 53. Herzberg a.a.O. Juristische Probleme, S. 231; ebenso wohl Schlund, Juristische Aspekte, S. 564. Eberbach, Juristische Probleme, S. 231; ders., Rechtsprobleme, S. 10. Eberbach a. a. O.
12 pfeffer
178
3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
unausgesprochen - auf die Herzbergsche Differenzierung hinaus. Eine Pflicht zur Aufklärung, die nach Eberbach unter dem Gesichtspunkt des Handeins auf eigene Gefahr die Verantwortlichkeit auf de~ Partner übergehen läßt, ergibt sich demnach auch bei diesem Autor lediglich bei "unabgeschirmtem Geschlechtsverkehr" 34. 1.2.2 Lösung nach den Grundsätzen über die Straflosigkeit eigenverantwortlicher Selbstgef"ährdung
1.2.2.1 Differenzierung nach Bruns
Ausgangspunkt der Bruns'schen 35 Lösung ist der Gedanke des Handeins auf eigenes Risiko. Aus der Straflosigkeit eigenverantwortlich gewollter oder in Kauf genommener Selbstschädigungen und Selbstgefahrdungen sowie der Mitwirkung hieran 36 folgert er, auch bei einverständlichen ungeschützten Sexualkontakten und einverständlicher Benutzung unsteriler Spritzen bleibe der infizierte Beteiligte grundsätzlich straffrei. Zwar verfügten die über ihren Status informierten HIV-Träger über ein "überlegenes Sachwissen" im Sinne der von der h. M. statuierten Einschränkung der Straflosigkeit bei Beteiligung an Selbstverletzungen bzw. -gefahrdungen. Jedoch müsse "im Interesse der Verhütung und Bekämpfung von AIDS immer wieder betont werden, daß jeder grob unvorsichtig handelt, der sich auf irgendwelche Erklärungen anderer verläßt, selbst wenn diese durch ,Gesundheitszeugnisse' untermauert werden". 37 Wegen der Möglichkeit falsch-negativer Testergebnisse 38 sei oberstes Gebot aller Aufklärungsbemühungen der Grundsatz, man müsse sich im Zweifel immer so verhalten, als ob man selbst und sein Partner infiziert wären. Das müsse auch auf die strafrechtliche Bewertung ausstrahlen 39. Die von Bruns hieraus gezogene Konsequenz ist die Annahme, wer auf die empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen verzichte, handle grundsätzlich eigenverantwortlich. Denn "es wäre ... im Hinblick auf die AIDS-Prophylaxe kontraproduktiv, wenn man unrichtige Erklärungen eines Infizierten gleichwohl als erhebliche Täuschungen über das Infektionsrisiko werten und strafrechtlich ahnden würde. Das würde nur die verhängnisvolle Tendenz verstärken, statt selbst vorsichtig zu sein, die Vorsorge Dritten zu überlassen. "40 So die von Herzberg (Strafbarkeit, S. 2283) eingeführte Terminologie. Nochmals: Aids, S. 2282; AIDS, Alltag, S. 356 sowie- speziell für den Fall der HIVÜbertragung bei Ausübung der Prostitution - AIDS, Prostitution, S. 694. 36 Vgl. oben 1.1. 37 Bruns. AIDS, Alltag, S. 356. 38 Vgl. Erster Teil 4.2.2. 39 Bruns, Nochmals: Aids, S. 2282. 40 Bruns a. a. O. 34
35
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
179
Eine Abweichung von diesem Grundsatz propagiert Bruns nur für "monogame Beziehungen". Habe hier der eine Teil dem anderen Anlaß gegeben, auf seine Treue zu vertrauen, so begründe dies nach einem Seitensprung ohne "safer sex" gegenüber dem Betrogenen Aufklärungs- und Vorsorgepflichten. 41 Statt der Aufklärung über das Ansteckungsrisiko käme - was praktisch auf dasselbe hinauslaufe - auch in Betracht, durch "safer sex" dafür zu sorgen, daß das Risiko sich nicht auswirke 42 • Im Ergebnis hält Bruns demnach eine Bestrafung wegen der HIV-Übertragung nur dann für möglich, wenn der Verursacher sich beim Geschlechtsverkehr nicht auf "safer sex" beschränkt hat. 43 Der HIV-Träger hätte daher in keinem Fall die - mittelbare - Pflicht zur Aufklärung des Intimpartners, sondern jedenfalls stets die Alternative zwischen der Aufklärung einerseits und der Beachtung der empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen andererseits. Nicht ausdrücklich beantwortet wird in den neueren Beiträgen von Bruns die naheliegende Frage, von wem grundsätzlich die Initiative zur Beschränkung auf minder riskante Sexualpraktiken ausgehen muß. In einer früheren Stellungnahme 44 hatte Bruns zwar noch ausdrücklich konstatiert, grundsätzlich müsse jeder über seinen HIV-Status Informierte seine Partner über dieses Risiko aufklären oder durch Beschränkung auf "safer sex" dafür sorgen, daß sich das erhöhte Risiko nicht auswirkt, andernfalls die HIV-Übertragung als Straftat zu bewerten sei 4S • Eine Ausnahme hatte er nur im Falle von Prostitierten angenommen, deren unrichtige Angaben er nicht als "erhebliche" Täuschungen über das Ansteckungsrisiko gewertet wissen wollte. Wenn Bruns nunmehr4ö aber monogamen Beziehungen explizit eine Sonderstellung einräumt, gleichwohl aber auch hier (nur) fordert, der untreue Partner müsse - so er den anderen nicht aufkläre - durch "safer sex" für Risikominimierung sorgen, dann läßt dies lediglich einen Schluß zu: In sämtlichen Fällen nicht monogamer Beziehungen - also nicht mehr nur im Rahmen gewerblicher Sexualkontakte - soll der HIV-Positive weder zur Beschränkung auf ,safer sex' noch zur Aufklärung des Partners" verpflichtet sein; die Strafdrohung entfiele stets allein schon aufgrund der Tatsache, daß ungeschützter Geschlechtsverkehr ausgeübt wurde, unabhängig davon, von wem die Initiative hierzu ausging. Propagierte Bruns zunächst die Zurücknahme des strafrechtlichen Schutzes vor HIV-Infizierung allein für den Täterkreis "Prostituierte", so ist diese Einschränkung nunmehr der Sache nach aufgegeben und der Forderung nach Bruns a.a.O. Bruns, AIDS, Alltag, S. 356. 43 So ausdr. a. a. O. 44 AIDS, Prostitution - Das Manuskript wurde nach eigenen Angaben von Bruns (vor Fn. 1) im Oktober 1986 abgeschlossen. 4S Bruns a. a. O. (S. 694). 4ö In: Aids, Alltag (S. 356) sowie in Zur Strafbarkeit (S. 2282). 41
42
12*
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3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
einem wesentlich weitergehenden Rückzug des Strafrechts gewichen. Die im Rahmen dieser Arbeit primär zu untersuchende Frage nach der Verpflichtung des HIV-Trägers, seinen Intimpartner über den HIV-Befund zu unterrichten, müßte Bruns demnach heute - abgesehen von den Fällen monogamer Beziehungen, bei denen die beschriebene Wahlmöglichkeit besteht - mit einem uneingeschränkten Nein beantworten. 1.2.2.2 Differenzierung nach Herzog/Nestler-Tremel
Ausgangspunkt der Differenzierung ist auch bei Herzog/Nestler-TremeI 47 die Feststellung, die eigenverantwortliche Selbstgefährdung schließe die Strafbarkeit des (möglicherweise) Infizierenden aus. Im Anschluß an die oben mehrfach zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs 48 gelangen die Autoren in den Fällen beiderseitiger Kenntnis von der Infektion des einen Partners unter der Annahme eines "bedingten QuasiVorsatzes" des Sich-selbst-Gefährdenden zur Straflosigkeit des Verursachers. Die beiderseitige Kenntnis führe nämlich zu einer symmetrischen Vorstellung beider Partner über die Wahrscheinlichkeit der Infektionsgefahr. 49 Bei beiderseitiger Unkenntnis sei dagegen diese Symmetrie der Vorstellungen über die Risikohöhe dann nicht selbstverständlich, wenn der HIV-Träger aufgrund der "Aids-relevanten Verhaltensweisen" in seiner Vergangenheit erheblich mehr Anlaß dazu habe, seine Infektiosität zu befürchten, als der darüber nicht informierte Partner. 50 Diese Konstellation wollen die Autoren analog zu den für die Fälle nur einseitiger Kenntnis des HIV-Trägers von ihnen herausgearbeiteten Grundsätzen behandelt wissen. Kläre der "wissend AIDS-Positive" nicht über seinen Zustand auf, so sei zu unterscheiden zwischen -
"Risikokontakten" und
-
anderen Kontakten 51; bei diesen differenzieren die Autoren weiter zwischen
-
Alltagssituationen einerseits 52 und
-
Verhältnissen enger persönlicher Verbundenheit andererseits 53 •
Bei Risikokontakten in Risikosituationen, worunter der ungeschützte Geschlechtsverkehr mit Angehörigen der sogenannten Risikogruppen - vor allem mit (drogenabhängigen) männlichen und weiblichen Prostituierten - verstanS.366ff. BGH 32, 262 - vgl. oben 1.2.2.1. 49 HerzogjNestler-Tremel, S. 366f. so HerzogjNestler-Tremel, S. 367. 51 HerzogjNestler-Tremel, S. 366. 52 Herzogj Nestler-Tremel, S. 369 f. 53 HerzogjNestler-Tremel, S. 370. 47
48
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
181
den wird 54, gelangen die Autoren stets zur Straflosigkeit. Wer trotz der objektiven Voraussehbarkeit der "AIDS-Infektionsgefahr" bei derartigen Kontakten ungeschützten Geschlechtsverkehr ausübe, komme seiner ihm zumutbaren Zuständigkeit für Selbstschutz nicht nach und handle folglich auf eigene Gefahr. Eine eventuelle Infektion habe sich der Betreffende dann selbst zuzuschreiben. 55 Die Strafbarkeit des Infizierenden kann Herzog/NestlerTremel zufolge weder unter dem Aspekt der mittelbaren Täterschaft 56 noch entsprechend der Dogmatik zur täuschungsbedingten Unwirksamkeit einer Einwilligung begründet werden. Hiervon abgegrenzt werden sogenannte Alltagssituationen, zu denen insbesondere auch der Geschlechtsverkehr mit Personen zählen soll, die keiner Risikogruppe angehören. 57 Solange die Infektionsrate bestimmter Populationen deutlich höher liege als diejenige der Gesamtpopulation, sei die Annahme eines statistisch höheren Risikos der Infizierung bei sexuellen Kontakten mit Angehörigen dieser (Teil-)Populationen gerechtfertigt. Außerhalb dieser Risikosituationen sei es aber (zur Zeit noch) "eine berechtigte und vernünftige gesellschaftliche Erwartung, daß sexuelle Kontakte nicht unter Lebensgefahr gemacht werden müssen."58 Das Strafrecht müsse deutlich machen, daß diese Erwartung Schutz verdient, indem es diejenigen Personen zur Verantwortung zieht, die diese Erwartung hintergehen. Verschweige der - keiner Risikogruppe angehörende - HIV-Postive dem Sexualpartner seinen HIV-Status, so sei der Einwilligung in den Geschlechtsverkehr die Grundlage entzogen, da sie auf falschen Voraussetzungen beruhe. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß mit der Einwilligung in den ungeschützten Geschlechtsverkehr zugleich die körperliche Integrität einem Risiko ausgesetzt sein solle, das der Einwilligende nicht kennt und auch nicht vermuten muß. 59 Der nicht aufgeklärte Partner agiere - übertragen auf das Modell der mittelbaren Täterschaft - infolge seines (Risiko-)Irrtums als Werkzeug des "AIDS-Positiven" quasi-unvorsätzlich gegen seine eigene körperliche Integrität. 60 Für Verhältnisse enger persönlicher Verbundenheit gelte der genannte Aspekt, das Strafrecht habe der Schutzbedürftigkeit berechtigter Erwartungen innerhalb von Sexualkontakten Rechnung zu tragen, in noch stärkerem Maße. Diese Konstellationen seien "strukturgleich zur strafrechtlichen Haftung für U nterlassen in Garantenverhältnissen zu sehen."61 Normativ entscheidend für die Zurechnung sei das Vertrauensverhältnis, das zum ungeschützten Geschlechts54
55 56
57 58 59 60
61
Herzog(Nestler-Tremel. S. 366. Herzog(Nestler-Tremel. S. 369. Herzog(Nestler-Tremel. S. 367. Herzog(Nestler-Tremel. S. 369. Herzog(Nestler-Tremel a. a. O. Herzog(Nestler-Tremel. S. 369f. Herzog(Nestler-Tremel. S. 370. Herzog(Nestler-Tremel a.a.O.
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3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
verkehr und damit zur Möglichkeit der Infizierung führe. In fester und enger sexueller Partnerschaft könne Offenheit über AIDS-Infektiosität gefordert werden. Wer hier Treue vorspiegle und seinen - ihm bekannten - positiven HIV-Befund verschweige, bewege sich" ... außerhalb des konstitutiven interpersonalen Vertrauens- und Gegenseitigkeitsverhältnisses derartiger Beziehungen, kann sich auf keinerlei (mutmaßliche) Einwilligung des Partners berufen und läßt ihn als blindes Werkzeug sexueller Bedürfnisse unbewußt in Lebensgefahr geraten. "62 Selbst wenn der HIV-Positive erst verspätet von seinem Status erfahre und annehmen müsse, inzwischen seinen Partner ohnehin bereits angesteckt zu haben, bedarf es den Autoren zufolge vor weiteren Sexualkontakten nach dem Zeitpunkt dieser Kenntniserlangung der Information des Partners. Dies deshalb, weil auch diese Kontakte noch - wegen der Möglichkeit der Steigerung der Infektion bzw. der Vorverlagerung des Todeszeitpunkts strafrechtlich relevant seien. 63 1.3 Kritik an den vorgestellten Ansätzen und eigene Lösung 1.3.1 Kritik an der Lösung über die Recbtsfigur des "erlaubten Risikos" (Herzberg)
Die grundsätzliche Berechtigung der RechtsfIgur des erlaubten Risikos wie auch - sofern man diese bejaht - deren Voraussetzungen und Grenzen gehören nach wie vor zu den strittigsten Punkten der Strafrechtsdogmatik. 64Von den prinzipiellen Bedenken gegen die Anerkennung eines selbständigen dogmatischen Instituts "erlaubtes Risiko"6s einmal abgesehen, bestehen jedenfalls erhebliche Zweifel an seiner Anwendbarkeit auf die Fälle der HIVÜbertragung. 1.3.1.1 Abgrenzung zwischen sozialer Adäquanz und erlaubtem Risiko
Zweifelhaft erscheint zunächst schon die von Herzberg 66 gezogene Parallele zwischen der Ansteckung mit "landläufigen Virusinfekten" und der Übertragung des HI-Virus. Da jene im Wege der Tröpfcheninfektion erfolgt, somit nur um den Preis der Unterbindung jeglichen zwischenmenschlichen Kontakts verhindert werden könnte, was aber angesichts der relativen Geringfügigkeit der hervorgerufenen Gesundheitsbeeinträchtigung gesellschaftlich gerade nicht erwartet wird, handelt es sich insoweit schon um ein sozialadäquates Risiko. Die Möglichkeit, trotz Bestehens einer Grippe- oder Erkältungskrankheit mit anderen wie gewohnt kommunizieren zu können, mag im Interesse des sozialen 62 63 64
65 66
Herzog/Nestler-Tremel a.a.O. Herzog/Nestler-Tremel a. a. O. M./Zipj§ 28 Rdn.21 (mit Überblick über den Diskussionsstand). Vgl. hierzu insbes. Hirsch LK Rdn. 29 vor § 32. Strafdrohung, S. 1462 (sub 3.a).
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
183
Zusammenlebens notwendig und richtig sein, das entsprechende Verhalten daher auch als sozialadäquat 67 angesehen werden. Im Hinblick auf die Höhe des drohenden Erfolgsunwerts verbietet sich aber jedenfalls für Verhaltensweisen, die das Risiko der HIV-Übertragung in sich bergen, der Rückgriff auf den Aspekt der Sozialadäquanz 68 • Deren Grenze ist nämlich dann erreicht, wenn so erhebliche Rechtsgutsverletzungen drohen, daß es dem Betroffenen nicht zumutbar ist, ohne strafrechtlichen Schutz gelassen zu werden. 69 "Erheblich" in diesem Sinne sind insbesondere Körperverletzungen von der in § 223a StGB bezeichneten Qualität 70. Entscheidend ist hierbei, ob die riskante Handlung zum Zeitpunkt ihrer Vornahme nach dem Urteil eines "normalen" Teilnehmers des betreffenden Verkehrskreises geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. 71 Letzteres ist für die HIV-Inflzierung ohne weiteres zu bejahen. 72 Es ist daher zumindest mißverständlich, wenn Herzberg 73 die HIV-Infektion in einem Atemzug mit grippalen Infekten nennt und konstatiert, man werde "mutatis mutandis ... auch bei der Weitergabe von AIDS-Viren dem Virusträger einen gewissen Spielraum des erlaubten Risikos zubilligen müssen." Verwischt wird dabei jedenfalls der Unterschied zwischen "Sozialadäquanz" und "erlaubtem Risiko", die es auseinanderzuhalten gilt 74 . 1.3.1.2 Grundlagen der Rechtsfigur des erlaubten Risikos
Die Rechtsfigur des "erlaubten Risikos" kommt dagegen auch bei Herbeiführung gravierender Rechtsgutsverletzungen in Betracht. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, daß das menschliche Sozialleben, insbesondere in einer hochtechnischen Gesellschaft, ohne Zulassung gewisser voraussehbarer Schäden undenkbar ist1 5 • Als erlaubtes Risiko wird es daher angesehen, "wenn im Zusammenhang mit der technischen Bewältigung, der entdeckerischen Erweiterung und den zeitgemäßen Freuden des menschlichen Daseins Gefahren für Leib und Leben von Menschen und für den Bestand von Sachgütern eingegangen werden, die das Gemeinwesen aufs Ganze gesehen um der Vorteile willen hinzunehmen bereit ist"76.
67 68
69 70 71
72 73 74 7S
76
Vgl. M./Zip!§ 17 Rdn.17 (zu den Voraussetzungen der Sozialadäquanz). Im Erg. ebenso Eberbach. Rechtsprobleme, S. 10. Dölling. S. 58. Vgl. Dölling. S. 62. Vgl. Dölling a.a.O. Vgl. ob. (i. dies. Abschn.) 1.1.2. Strafdrohung, S. 1462. M./ZiP! § 28 Rdn. 23. Schroeder LK § 16 Rdn. 159. Schmidhäuser 9/30.
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3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
Die Erlaubnis des Risikos dient damit zum einen der Ermöglichung bestimmter sozial anerkannter Tätigkeiten, zum anderen der Entlastung der Aufmerksamkeit in schwierigen Situationen und damit der Konzentration der Aufmerksamkeit auf Sondergefahren 77. Beschränkt man den Anwendungsbereich der Rechtsfigur des erlaubten Risikos mit einem Teil der Literatur im wesentlichen auf die riskanten Rettungshandlungen 78, so scheidet ein Rückgriff hierauf im vorliegenden Zusammenhang von vorneherein aus. Aber selbst wenn man den Anwendungsbereich weiter faßt, ergeben sich erhebliche Zweifel am Herzbergsehen Lösungsansatz. 1.3.1.3 Der Aspekt der (fehlenden) Konkretisierbarkeit des Opfers
Bei Durchsicht der Kasuistik zum erlaubten Risiko fallt nämlich auf, daß das potentielle Opfer der für erlaubt angesehenen Risikohandlung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zur Zeit der Handlungsvornahme nicht individualisiert ist. Dies gilt uneingeschränkt für die Lebensbereiche Straßen-, Luft- und Eisenbahnverkehr, industrielle Produktion ebenso wie für die mit dem Abbau von Bodenschätzen sowie mit der Nutzung bestimmter Energiequellen verbundenen Risiken und weitgehend auch für den Sportsektor. 79 Durch die Anerkennung dieser Risiken als "erlaubt" wird - was ganz überwiegend auch von den Gegnern der Lehre vom erlaubten Risiko als eigenständigem Rechtsinstitut so gesehen wird 80 - gleichsam die Allgemeinheit mit einem gewissen "Lebensrisiko" belastet, dessen Realisierung (nahezu) jeden gleichermaßen treffen kann. Dem entspricht die rechtsdogmatische Einschätzung, "daß erlaubte Risiken nur tolerabel sein dürften, wenn das potentielle Opfer allenfalls vage konkretisiert ist, mit anderen Worten, es darf niemand Anlaß haben, darüber zu klagen, daß er unverhältnismäßig stark an den Nachteilen (und entsprechend schwach an den Vorteilen) der allgemeinen Handlungsfreiheit beteiligt sei. "81 Jakobs bezeichnet zwar diese weitere Voraussetzung des erlaubten Risikos als wenig geklärt und vermeidet selbst eine eindeutige Festlegung. 82 Sie zu statuieren, ist aber konsequent, wenn man das Rechtsinstitut des erlaubten Risikos damit rechtfertigt, das dadurch gewährleistete differenzierte Verhaltensrepertoire komme letztlich ebenso dem zugute, der im Einzelfall von den Folgen fremden -legalen - Risikoverhaltens betroffen sei 83 • Diese Ausgewogenheit Schroeder LK § 16 Rdn. 161. So ausdr. M./Zipj§ 28 Rdn. 23; ähnl. Jescheck § 36 II, der darüber hinaus allerdings noch die Wahrnehmung berechtigter Interessen als Anwendungsfall des erlaubten Risikos nennt. 79 Zur Kasuistik vgl. Schroeder LK § 16 Rdn. 195fT; Hirsch LK Rdn. 30 vor § 32. 80 Hirsch a.a.O. 81 Jakobs AT 7/38. 82 Jakobs a.a.O. 77
78
83
Vgl. Jakobs AT 7/35.
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
185
von Vor- und Nachteilen der Zulassung risikoträchtigen Verhaltens ist nämlich nur solange gewährleistet, als nicht schon von vorneherein feststeht, daß eine bestimmte Person dessen "Kosten" zu tragen hat. Hinzukommt m.E. ein weiteres: Würde man die Gefährdung bestimmter, d. h. konkretisierter Personen zugunsten von - durch wen auch immer als solche definierten - Gemeinwohlbelangen schlechthin als erlaubt anerkennen, so würde man ohne positivrechtliche Grundlage und unter Umgehung der Voraussetzungen der speziellen Rechtfertigungsnormen (insbesondere des § 34 StGB) Eingriffe etwa in die körperliche Unversehrtheit legitimieren. Dies verbietet sich aber im Hinblick auf das entsprechende Grundrecht in Art. 2 Abs. 2 GG, das bei der Auslegung einfachen Rechts zu beachten ist 84 , also auch bei der Interpretation des Rechtsinstituts des erlaubten Risikos. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG sind Eingriffe in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nur auf Grund eines Gesetzes zulässig. Erforderlich ist hierbei ein förmliches Gesetz, so daß Gewohnheitsrecht zur Legitimierung nicht ausreicht 85.
1.3.1.4 Der Aspekt des Gefahrbewußtseins auf Seiten des Opfers Die hier vertretene Auffassung, der Aspekt des erlaubten Risikos scheide bei Konkretisierung des Opfers der Risikohandlung aus, scheint nun insoweit im Widerspruch zur Lehre zu stehen, als dort zum Teil auch der Bereich des Gesundheitswesens als Anwendungsfall des erlaubten Risikos genannt wird 86 . Abgesehen davon, daß hier vielfach schon die Rechtfertigung aufgrund (stillschweigender) Einwilligung eintreten dürfte, nehmen diese Fälle aber eine Sonderstellung im Hinblick auf das Zustandekommen der Gefahrenlage ein: Der Patient setzt seine Rechtsgüter bewußt und gewollt der Gefährdung durch ärztliche Eingrifffe aus, indem er sich in Behandlung begibt. Dieser Umstand allein rechtfertigt den Rückgriff auf die Figur des erlaubten Risikos. Selbst Schmidhäuser, der den Anwendungsbereich dieses Rechtsinstituts sehr weit zieht 87 , setzt für das Erlaubtsein riskanter Handlungen voraus, "daß der durch sie Gefährdete sich durch Beteiligung an der Gefahr bewußt selbst gefährdet" 88 . Die Beachtung dieser Voraussetzung scheint bei Herzberg fraglich. Ihm zufolge soll sich der HIV-Positive beim Geschlechtsverkehr unabhängig vom Wissensstand des Partners innerhalb des erlaubten Risikos halten, wenn er nur "die fachmännisch empfohlenen Methoden der Risikominimierung (,safer sex') anwendet"89. Die nach den bisherigen Erkenntnissen naheliegende Vermutung, 84 85 86 87 88
89
BVerfGE 7, 205f. Seifert/Hömig (Antoni) Art. 2 Rdn. 14. So insbes. Schroeder LK § 16 Rdn. 197ff. So die Beurteilung von M./Zipj§ 28 Rdn.21. Schmidhäuser 9/34. Herzberg, Strafdrohung, S. 1462.
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3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
daß durch die Verwendung von Präservativen die Infektionsgefahr jedenfalls nicht völlig ausgeschaltet werden kann 90 , teilt offenbar auch Herzberg 91 • Die These, die im Rahmen der staatlichen Aufklärungskampagne veröffentlichten Empfehlungen implizierten die sachverständige Einschätzung, "safer sex" mindere die Gefahr "in jedem Fall auf ein soziales und für den einzelnen erträgliches Maß"92 macht aber deutlich, daß Herzberg dieses Risiko auf etwaige Partner von HIV-Positiven bewußt überbürden will. Die Möglichkeit, auf geschlechtliche Kontakte mit dem Infizierten zu verzichten, "weil ihnen bei aller safety das Restrisiko noch zu groß ist"93, soll den Gesunden aus rein gesundheitspolitischen Gründen abgeschnitten sein 94 • Daß damit die oben erwähnte Einschränkung für die Anwendbarkeit der Rechtsfigur des erlaubten Risikos über Bord geworfen wird, liegt auf der Hand. Von einer bewußten Gefahrübernahme kann nur dann die Rede sein, wenn der Gefährdete sich in Kenntnis der Höhe des Risikos in die Gefahrenlage begibt. Dies allein ist freilich noch kein zwingender Einwand gegen die Herzbergsche Lösung. Neue Probleme zwingen zu neuen Lösungen, so könnte man argumentieren. Jedoch sind auch bei der Ausgestaltung des "erlaubten Risikos" als Rechtsinstitut - sofern man es überhaupt als solches anerkennt - verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten. Dies deshalb, weil bei Feststellung, Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts infolge der "Ausstrahlungswirkung der Grundrechte"95 die darin zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind. Aufgrund Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG gehört die Bestimmung über die leiblich-seelische Integrität zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen, in die nur aufgrund eines (förmlichen) Gesetzes eingegriffen werden darf (Art. 2 Abs. 2 S.3 GG).96 Was nun die aus dem Selbstbestimmungsrecht abzuleitenden Anforderungen an die Ausgestaltung des Rechtsinstituts des erlaubten Risikos anlangt, so liegt es im vorliegenden Zusammenhang nahe, auf die zum ärztlichen Heileingriff entwickelten Grundsätze zur Risikoaufklärung zurückzugreifen. Denn auch im Falle des Geschlechtsverkehrs mit einem infizierten Partner geht es um die aus einer körperlichen Einwirkung möglicherweise resultierenden nachteiligen gesundheitlichen Folgen. Bei ärztlichen Heileingriffen ist der Arzt nach Rechtsprechung und herrschender Lehre zur vorherigen Aufklärung über die möglichen unerwünschten Folgen verpflichtet. 97 Die Aufklärung hat sich zu erstrecken auf alle nicht ganz Vgl. Erster Teil 5.2.5.1. Vgl. Herzberg, Strafdrohung, S. 1462 a.E. 92 Herzberg, Strafdrohung, S. 1462f. 93 Herzberg a.a.O. (S.1462). 94 Vgl. Herzberg a.a.O. (S. 1463). 95 BVerfGE 7, 198ff (205). 96 BVerfGE 52, 131 ff (175) Sondervotum; vgl. auch schon oben Zweiter Teil, Erster Abschnitt 3.2. 90
91
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
187
außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegenden Risiken, die für die Entschließung des Patienten von Bedeutung sein können, weil sie im Falle ihrer Verwirklichung zu einer schweren Belastung der Lebensführung würden. 98 Die Hinweispflicht soll lediglich bezüglich solcher Gefahren entfallen, deren Realisierung im allgemeinen so selten und in concreto so wenig wahrscheinlich ist, daß sie bei einem "verständigen Menschen" für den Entschluß über die Einwilligung in die Behandlung "nicht ernsthaft ins Gewicht fallen "99. Diese Voraussetzungen für den Wegfall der Aufk:lärungspflicht müssen im vorliegenden Zusammenhang zumindest mit gleicher Stringenz gelten, wenn nicht sogar eine Verschärfung der Anforderungen geboten ist. Dies folgt aus einer Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zweckrichtung des für die Gefahr jeweils ursächlichen Verhaltens: Während dem (medizinisch indizierten) ärztlichen Heileingriff der - ausschließlich dem Gefährdeten selbst zugute kommende - individuelle Heilzweck zugrunde liegt, kann der HIV-Infizierte, der mit einem nicht aufgeklärten Partner den Geschlechtsverkehr ausübt, keine entsprechende Interessenlage für sich in Anspruch nelunen. Werden die mit dem ärztlichen Eingriffverbundenen Risiken immerhin noch durch die ilun innewohnenden Heilungschancen relativiert, so wird durch den sexuellen Kontakt des HIV-Infizierten ein - für den Partner vorher nicht aktuell existentes - Risiko erst geschaffen. Der mit der Verneinung der Aufk:lärungspflicht im letztgenannten Fall allenfalls erzielbare Nutzen käme nicht dem gefährdeten Partner zugute, sondern wäre allenfalls - wenn überhaupt - auf gesundheitspolitischer Ebene meßbar. Bei Anwendung der Grundsätze zur Risikoaufk:lärung bei ärztlichen Heileingriffen kommt man an der Entscheidungserheblichkeit des Umstandes, daß der Sexualpartner HIV-infiziert ist, nicht vorbei. Denn angesichts der schwerwiegenden Folgen der HIV-Infektion und des nicht unerheblichen, gegenwärtig nicht sicher abzuschätzenden Übertragungsrisikos auch bei sogenanntem "safer sex" handelt es sich hierbei um auch für einen "verständigen Menschen" bedeutsame Fakten, die er in die Entscheidung über die Aufnalune des Sexualkontakts einstellen wird. Der Vorschlag Herzbergs zielt aber expressis verbis darauf ab, dem potentiellen Sexualpartner eines HIV-Infizierten die Möglichkeit einer derartigen Abwägung abzuschneiden. Würde man dem folgen, so würde mit diesem Partner - unter Verstoß gegen Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG - genau in der Weise verfahren, die sogar im Falle ärztlicher Heilbehandlung vor der Verfassung keinen Bestand haben kann: er würde zum "bloßen Gegenstand von Gesundheitspolitik und ihrer Vollzüge" 100 degradiert. Hirsch LK § 226 a Rdn. 27. BGH JR 85, 65 (66). 99 BGH NJW 63, 393. 100 BVerfGE 52, 131 ff (175) (Sondervotum). 97
98
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3. Teil, 2. Abseh.: Pflicht zur Befunderöffnung
Abgesehen von diesen materiell-verfassungsrechtlichen Einwänden gerät Herzbergs Argumentation aber auch in Konflikt mit dem sich aus Art. 2 Abs. 2 S.3 GG ergebenden Vorbehalt des Gesetzes. Würde man dem potentiellen Geschlechtspartner eines HIV-Infizierten allein aufgrund von konzeptionellen Überlegungen der Administrative (!), die in bloßen Empfehlungen ihren Niederschlag gefunden haben, den strafrechtlichen Schutz entziehen, so wäre damit gegen das Erfordernis eines förmlichen Gesetzes für Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht verstoßen. Mangels entsprechender Entscheidung des Gesetzgebers kann daher aus der öffentlichen Propagierung von Maßnahmen der Risikominderung kein Schluß auf die Grenzen des erlaubten Risikos gezogen werden. 1.3.1.5 Zwischenergebnis
Aus der Beschränkung des Anwendungsbereichs des erlaubten Risikos auf die Fälle bewußter Gefahrübernahme folgt - entgegen Herzberg 101 - auch, daß die sexuelle Betätigung selbst des unwissend HIV-Positiven nicht unter Rückgriff auf diese Rechtsfigur als "erlaubt" zu qualifizieren ist. Zwar scheidet bei Fehlen von Verdachtsmomenten, die den HIV-Status nahelegen, eine Bestrafung wegen der HIV-Übertragung aus. Dies folgt aber aus dem fehlenden Wissen um die Verwirklichung des äußeren Tatbestandes des § 223 a bzw. - im Hinblick auf §§ 222/230 StGB - aus der mangelnden Erkennbarkeit 102 des Erfolgseintritts. Lediglich in den Fällen einer HIV-Übertragung, in denen die Unkenntnis des Täters hinsichtlich seines HIV-Status nicht auf Fahrlässigkeit beruht, decken sich daher die aufgrund des hier entworfenen Konzepts gefundenen Ergebnisse mit denjenigen Herzbergs. 1.3.2 Teilnahme an einer Selbstgefährdung oder einverständliche Fremdgefährdung?
Bevor die vorstehend zitierten Auffassungen, die mit dem Eigenverantwortlichkeits-Argument operieren, einer näheren Überprüfung unterzogen werden, bedarf es der dogmatischen Einordnung der Problematik: Beteiligt sich der den Sexualpartner infizierende HIV-Träger an einer Selbstgefährdung des anderen oder nimmt er eine Fremdgefährdung vor? Zwar könnte die Zuordnung für die vorliegene Thematik dahinstehen, hätte sie nur Konsequenzen konstruktiver Art: Liegt auf Seiten des Opfers eine erhebliche Fehlvorstellung über sein eigenes Handeln vor, so führt dies entweder - bei Annahme einer Selbstschädigung zur mittelbaren Täterschaft des Hintermannes oder - geht man von einer Fremdschädigung aus - infolge Unwirksamkeit der Einwilligung zur unmittelbaren Täterschaft des Fremdverletzers 103 • Jedoch erlangt sie darüber hinaus Strafdrohung, S. 1462. Zu diesem grundlegenden Merkmal der Fahrlässigkeit vgl. Schroeder LK § 16 Rdn.127ff. 103 M.-K. Meyer, S. 153. 101
102
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundennittlung
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Bedeutung im Hinblick auf die Kriterien, nach denen sich die Rechtserheblichkeit der Fehlvorstellung des "Opfers" beurteilt. Diesbezüglich besteht nämlich nach wohl überwiegender Meinung lO4 keine Kongruenz zwischen den beiden Konstruktionen, so daß insbesondere die Einwilligungsgrundsätze auf die Selbstgefährdungssituation nicht anzuwenden sind. lOS
Im vorliegenden Zusammenhang ergeben sich Zweifel an der Einordnung, da zwar die Infektionsgefahr allein vom Virusträger ausgeht - was für Fremdgefährdung zu sprechen scheint. Andererseits ist gerade der Geschlechtsverkehr idealiter das Ergebnis partnerschaftlicher Interaktion - was seine Qualifizierung als gemeinschaftliche Selbstgefährdung nahelegt. Die Abgrenzungsfrage wurde bisher in erster Linie im Rahmen der Diskussion um die Sterbehilfe virulent. Bei allem Streit um das geeignete Abgrenzungskriterium scheint sich hier doch nunmehr die Auffassung durchgesetzt zu haben, die darauf abstellt, ob dem Suizidenten noch die freie Entscheidungsmöglichkeit hinsichtlich des Abbruchs des zum Tode führenden Kausalverlaufs verbleibt, nachdem der Helfer seinerseits die entscheidende Ursache gesetzt hatI 06 Überträgt man diesen Grundsatz auf den vorliegenden Kontext, so dürften die besseren Gründe für die Annahme einer Fremdgefährdung sprechen 107. Denn eine freie Entscheidung darüber, ob man die Gefahr einer HIV-Infektion eingeht, setzt die volle Kenntnis dieses Risikos voraus. Ohne dieses Wissen ist die - im Hinblick auf die Aufnahme sexueller Beziehungen zum betreffenden Partner tatsächlich vorhandene - Entscheidungsherrschaft des Gefährdeten insgesamt gesehen nur eine scheinbare. Von einer überlegenen Entscheidungsherrschaft des die Gefahr verursachenden Dritten - hier: des HIV-Trägers - ist nämlich dann auszugehen, wenn dem Werkzeug die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung eines Vorsatzdeliktes in einer die Zurechnung ausschließenden Weise erschwert und der Hintermann dafür zuständig ist. lOS Nach alledem ist die HIV-Ansteckung etwa infolge Sexualkontakts mit einem infizierten Partner das Resultat einer Fremdgefährdung, so daß die Frage der Strafbarkeit des Verursachers nach Einwilligungsgrundsätzen zu beantworten ist. Im Hinblick auf das eingangs dargestellte Spektrum von divergierenden Auffassungen, die zum Teil auf die Figur der mittelbaren Täterschaft zurückgreifen, soll im folgenden allerdings auch hierzu Stellung genommen werden.
104 Anders aber eine im Vordringen befindliche Auff. vgl. insbes. M.-K. Meyer, der zufo1ge nur "verschiedene Ausdrucksformen der Autonomie des Rechtsgutsträgers vorlägen" (S. 152). 105 Zum Streitstand: Dölling, S. 74; zur Notwendigkeit der Differenzierung: Roxin, Schutzzweck, S. 250; vgl. auch Schroeder LK § 16 Rdn. 181. 106 Sch.Sch.-Eser § 216 Rdn. 11; Schroeder BT-1 § 2 IV B 3. 107 A.A. Herzog/Nestler-Tremel, S. 368. 108 Jakobs AT 21/63 näher zur Frage der Zurechnung s. unt. 1.3.3.6.
3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
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1.3.3 Stellungnahme zur These von der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung
1.3.3.1 Die Position der Rechtsprechung
In der allgemein begrüßten 109 Entscheidung vom 14.2.1986 110 hat der Bundesgerichtshof unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung den Standpunkt eingenommen, eigenverantwortlich gewollte - erstrebte, als sicher vorausgesehene oder in Kauf genommene - und verwirklichte Selbsttötungen oder -verletzungen unterfielen nicht dem Tatbestand eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts, da das Gesetz nur die Tötung oder Verletzung eines anderen mit Strafe bedrohe lll . Mangels Vorliegens einer Haupttat sei daher eine Bestrafung des sich vorsätzlich an dem - tatbestandslosen (!) - Geschehen Beteiligenden nicht möglich 112. Ebensowenig könne die fahrlässige Veranlassung, Förderung oder Ermöglichung des zur Selbsttötung oder -verletzung führenden eigenverantwortlichen HandeIns des Selbstschädigers die Strafbarkeit des Beteiligten begründen. Dies ist nur folgerichtig, da eine derartige Bestrafung gegen das in den Vorschriften der §§ 15 und 18 StG B zum Ausdruck kommende Stufenverhältnis der Schuldformen verstieße und damit einen Wertungswiderspruch implizierte ll3 . Entsprechendes gilt für die Beteiligung an einer eigenverantwortlich gewollten - erstrebten, als sicher vorausgesehenen oder in Kauf genommenen - und vollzogenen Selbstgefährdung - und zwar unabhängig davon, ob das mit der Gefährdung bewußt eingegangene Risiko sich realisiert oder nicht 114 • Ebensowenig wie die eigenverantwortlich gewollte und bewirkte Selbstschädigung ist die bloße Selbstgefährdung ein tatbestandsmäßiger Vorgang, der Voraussetzung für eine strafbare Beteiligung wäre. 1lS Ein etwaiges Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges ist irrelevant, da der bewußt und eigenverantwortlich sich selbst Gefährdende mit dem gefährlichen, in seiner möglichen Tragweite überblickten Verhalten das Risiko der Realisierung der Gefahr übernimmt 116. Die Strafbarkeit kann vielmehr erst dort beginnen, wo der sich Beteiligende kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdendem. Stree. Beteiligung, S. 180 m. w. N. BGH 32, 262fT. 111 BGH 32,262 (264) m. w. N.; Dreher-Tröndle Rdn.4 vor § 21t. 112 Sch.Sch.-Eser Rdn. 35 vor §§ 211 fT; BGH a. a. O. m. w. N. 113 BGH a.a.O.; Eser a.a.O. 114 BGH 32, 262 (265); Jähnke LK § 222 Rdn. 21. l1S BGH a.a.O. m.w.N.; Jähnke a.a.O.; Schroeder LK § 16 Rdn.181; Rudolphi SK Rdn. 79 vor § 1. 116 Hirsch LK9 Rdn. 105 vor § 51; BGH a.a.O. 117 Dreher-Tröndle Rdn. 4 vor§ 211; BGH a.a.O.; ähnlich Jähnke (LK § 222 Rdn. 21), der allerdings ausdrücklich verlangt, der sich Beteiligende müsse die Mangelhaftigkeit der 109
110
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundermittlung
191
1.3.3.2 Dogmatische Einordnung der These von der Straflosigkeit der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung
Bei der Anwendung dieser These auf den vorliegenden Zusammenhang erweist sich die - in der Literatur mit Recht kritisierte l18 - mangelnde dogmatische Einordnung des Problems als Hindernis. Denn ohne diese fehlt es an geeigneten Kriterien für die Grenzziehung, wann ein die Strafbarkeit auslösender Wissensvorsprung des sich Beteiligenden vorliegt. Ausgangspunkt bei der Beantwortung dieser Frage ist die Erkenntnis, daß die Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen strafrechtlich mißbilligten Erfolg allein noch nicht hinreichend ist zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes einer Strafnorm. 119 Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus die normative Zurechenbarkeit dieses Erfolgs. Diese wiederum setzt voraus, daß der Täter durch seine erfolgsursächliche Handlung entgegen der dem Schutz des betreffenden Rechtsguts dienenden Verhaltensnorm die Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen bzw. erhöht hat und daß gerade diese rechtlich verbotene Gefahr sich in dem konkreten Erfolg verwirklicht hat. 120 In den Fällen der erst durch ein Dritt- bzw. Opferverhalten vermittelten Kausalität wird diese allgemeine Zurechnungsregel durch eine aus dem Verantwortungsprinzip abzuleitende Lehre von den Verantwortungsbereichen ergänzt. 121 Bei der Abschichtung von Verantwortungsbereichen besteht weitgehend darüber Einigkeit, daß jedenfalls der eigenverantwortlich Handelnde, der seine eigenen Rechtsgüter verletzt oder gefährdet, hierfür grundsätzlich allein die Verantwortung trägt 122 . Da er sich die Beeinträchtigung seiner Güter selbst zuzuschreiben hat, kann ein Dritter, der sein Handeln veranlaßt, ermöglicht oder gefördert hat, deswegen nicht strafrechtlich belangt werden. "Der Schutzbereich einer Norm zugunsten eines Einzelnen endet dort, wo dessen eigener Verantwortungsbereich beginnt."123 Damit wird auch die im vorliegenden Zusammenhang besonders interessierende Einschränkung des Bundesgerichtshofs für den Fall überlegenen Sachwissens des sich Beteiligenden ohne weiteres verständlich: Von einer die Zurechnung zum Verantwortungsbereich des sich selbst Gefährdenden begründenden eigenverantwortlichen Schadensverursachung kann nur gesprochen werden, wenn dessen Willensbildung nicht in rechtserheblicher Weise gestört war.
Entschlußfassung des Opfers erkannt haben bzw. zumindest dazu in der Lage gewesen sein. 118 Stree, Beteiligung, S. 181. 119 Stree a. a. O. 120 Sch.Sch.-LencknerRdn. 92 vor§§ 13ffm. w. N.; ähnl. Rudolphi SK Rdn. 57 vor§ 1. 121 Sch.Sch.-Lenckner Rdn. 100 vor §§ 13ff. 122 Stree, Beteiligung, S. 181. 123 Stree a.a.O.
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3. Teil, 2. Abseh.: Pflicht zur Befunderöffnung
Wann ein Defekt vorliegt, der den sich selbst Gefährdenden als bloßes Werkzeug des den Defekt steuernden Hintermannes erscheinen läßt, ist in der Literatur umstritten und vom Bundesgerichtshof1 24 bisher noch nicht eindeutig entschieden. Ein Teil der Lehre vertritt in der ähnlich gelagerten Frage der Voraussetzungen für die Freiverantwortlichkeit beim Suizid die Auffassung, selbst der unter Druck von Seiten Dritter beschlossene Suizid sei nur dann unfrei, wenn er zur Abwendung einer Notstandslage entsprechend § 35 StGB vorgenommen wurde l25 • Folgerichtig gelangen diese Autoren im Falle eines Irrtums nur dann zur Unfreiheit des sich selbst Schädigenden, wenn die Fehlvorstellung das Opfer in eine dem § 35 StGB entsprechende Zwangssituation oder in eine den Voraussetzungen des § 20 StG B en tsprechende seelische Panik si tua tion stürzte 126. Nur bei einer derartigen Konstellation soll der den Irrtum veranlassende Hintermann unter rechtlichen Aspekten als der eigentliche Herr des Geschehens erscheinen und als mittelbarer Täter haften. 127 Dagegen wird von einer im Vordringen begriffenen Gegenauffassung der Bereich unfreien Handeins wesentlich weiter gefaßt. Im Rechtssinne frei ist danach der Suizidentschluß nur dann, wenn er - gemessen an den für die Wirksamkeit einer Einwilligung entwickelten Kriterien - als Ausdruck eines freien und ernstlichen Verlangens nach dem Tod erscheint l28 . In den Fällen der Täuschung des Suizidenten wird Irrtumsherrschaft des Täuschenden insbesondere dann angenommen, wenn das Opfer die Bedeutung des Todes als Lebensbeendigung verkennt 129. Die Herbeiführung eines Motivirrtums soll dagegen für sich allein nicht genügen 130. Ein Ende dieser Diskussion um die Voraussetzungen für die Freiverantwortlichkeit des Entschlusses zur Selbstschädigung ist gegenwärtig nicht absehbar. Auch der Bundesgerichtshof hat sich einer Festlegung enthalten und sich auf die Formulierung zurückgezogen, die Abgrenzungsfrage könne für die Fälle der Täuschung "nicht abstrakt beantwortet werden", sondern hänge "im Einzelfall von Art und Tragweite des Irrtums ab"l3l. Es ist daher im folgenden zu untersuchen, ob dem Streit für die hier zu entscheidende Frage nach einer mittelbaren - strafrechtlich bewehrten Pflicht des HIV-Infizierten zur Aufklärung seines Sexualpartners überhaupt Relevanz zukommt. Vgl. BGHSt 32, 262 (265f); BGHSt 32, 38 (41 f). Roxin LK § 25 Rdn. 52 m. w. N. 126 Lackner StGB 16 vor § 211 Anm. 3b m. w. N.; Dölling, S. 79. 127 Roxin LK § 25 Rdn. 52. 128 Lackner StGB Anm. 3 b vor § 211 (anders noch die Voraufl.) m. w. N.; Wesseis AT § 13 III 3; ders. BT-1 § 1 IV 1; Jähnke LK Rdn. 26 vor § 211. 129 Lenckner StGB Anm. 3 b) vor § 211 m. w.N. im AnschI. an BGHSt 32,38 (41). 130 Lenckner a.a.O. 131 BGHSt 32, 38 (42). 124 125
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundermittlung
193
1.3.3.3 Rechtliche Relevanz der Unkenntnis über den HIV-Status des Sexualpartners nach Einwilligungs-Grundsätzen
Sind in Fällen der Identität von Tatmittler und Opfer für die Tatherrschaft des Hintermannes die Regeln der rechtfertigenden Einwilligung maßgeblich 132, so stellt sich wiederum die bereits im Zusammenhang mit dem Themenkomplex "Durchführung von HIV-Tests" aufgetretene Frage der Abgrenzung erheblicher und unerheblicher Fehlvorstellungen. 133 Auf den vorliegenden Kontext übertragen müßte die "Testfrage"l34 also lauten: Irrt derjenige, der mit einem HIVinfizierten Partner (ungeschützten) Geschlechtsverkehr ausübt, ohne von dessen HIV-Status zu wissen, darüber, wieviel er aufgibt, oder nur über sonstige Umstände? Zur Beantwortung dieser Frage sind die objektive Sachlage einerseits und das Vorstellungsbild des nicht infizierten Partners andererseits gegenüberzustellen. Im Falle ungeschützten Geschlechtsverkehrs ist nach derzeitigen Erkenntnissen von einem Übertragungsrisiko von 1: 100 (Analverkehr) bzw. 1: 1000 (Vaginalverkehr)135, einer Erkrankungsrate (manifeste AIDS-Erkrankung) von ca. 20 % - 40 % sowie einer Mortalitätsrate von 80 % bezogen auf einen Zeitraum von 36 Monaten 136 auszugehen. Bei Verwendung von Präservativen verringert sich zwar der Faktor "Übertragungsrisiko", ohne daß die Gefahr indes gänzlich eliminiert würde. 137 Entscheidend ist nun, wie der nicht infizierte Partner zum Zeitpunkt seiner "Einwilligung" in den Sexualverkehr die damit verbundenen Risiken eingeschätzt hat. Hat er keine Kenntnis vom HIV-Status des anderen, so liegt es auch nahe, daß ihm das objektiv bestehende Risiko einer HIV-Infizierung, der dadurch drohenden Erkrankung und deren möglicherweise letaler Ausgang als Folge des Geschlechtsverkehrs verborgen bleibt. Ob eine entsprechende Divergenz zwischen tatsächlichem und perzipiertem Risiko vorliegt, bedarf freilich in jedem konkreten Fall der Überprüfung und in einem etwaigen Strafverfahrenbei Beachtung des Grundsatzes "in dubio pro reo" - des Nachweises. Die Vermutung, in den meisten Fällen werde eine derartige Divergenz vorliegen, erscheint allerdings angesichts erster empirischer Untersuchungen plausibel. Darin hatten immerhin 69 % der Befragten erklärt, im Falle einer eigenen Infizierung mit "AIDS" würden sie ihren Partner benachrichtigen, 25 % wollten ihr Sexualleben einstellen. 138 Trotz berechtigter Bedenken hinsichtlich Validität und Repräsentativität dieser nicht nach Teilpopulationen differenzierenden Daten 139, dürften sie doch einen entsprechenden 132 133
134 135 136 137 138
So ausdr. Herzberg, Täterschaft, S. 38ff. Vg. Zweiter Teil, Erster Abschn 4.4.4.2-4.4.4.4. Vgl. Schmid (S. 2602) und die Erläut. hierzu in Zweiter Teil, Erster Absch. 4.4.4.1. Vgl. Erster Teil 5.2.5.1. Vgl. Erster Teil 3.3 sowie 3.4.3. Vgl. Erster Teil 5.2.5.1 - "HIV-bezogener" Pearl-Index. Runkel, S. 137.
13 Pfeffer
194
3. Teil, 2. Absch.: Pflicht zur Befunderöffnung
Trend aufzeigen und auch die weitergehende Schlußfolgerung auf die Erwartung bei der Mehrheit der Bevölkerung, ein potentieller Sexualpartner werde ebenso gegebenenfalls über seinen HIV-Status aufklären, zulassen.
Fraglich bleibt dann die Relevanz dieser Divergenz, d. h.ihre Bedeutung für die Wirksamkeit der Einwilligung in die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität durch einen Dritten. Hilfreich erscheint auch hier eine Rückbesinnung auf die Grundsätze zur Risikoaufklärung beim ärztlichen Heileingriff. Die unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben von Rechtsprechung und Lehre hier gezogenen Grenzen sind normativer Maßstab für die Einwilligungsrelevanz von Fehlvorstellungen. l40 Um nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegende Risiken, die für die Entscheidung des Einwilligenden insbesondere im Hinblick auf die schweren Belastungen der Lebensführung im Falle ihrer Realisierung - von Bedeutung sein können 141, handelt es sich aber selbst noch bei dem relativ geringen "Restrisiko", das trotz Anwendung der empfohlenen Sicherheitsvorkehrungen ("safer sex") immer verbleibt. Ob der noch nicht HIV-Infizierte dieses Risiko eingehen will, muß ihm im Hinblick auf sein verfassungsrechtlich garantiertes Selbstbestimmungsrecht selbst überlassen bleiben. Bewertete man das Fehlen dieser Risikokenntnis als irrelevant für die Wirksamkeit der Einwilligung, so würde man dem Einwilligenden - durch Entzug des strafrechtlichen Schutzes - eine Lebensgefahr geradezu aufoktroyieren. Eine derartige Auslegung des Rechtsinstituts der Einwilligung verbietet sich mit Rücksicht auf die "Ausstrahlungswirkung der Grundrechte"142 in Art. 1 Abs.l sowie Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG. Nach alledem ist die eingangs gestellte" Testfrage" dahingehend zu beantworten, daß der die Risiken der konsentierten Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht voll Überblickende nicht weiß, wieviel er aufgibt. Angesichts der Vielzahl der in der Einwilligungsproblematik entwickelten Ansätze zur Abgrenzung zwischen relevanten und irrelevanten Fehlvorstellungen, kann es sich hierbei aber nur um ein Zwischenergebnis handeln, das noch an den dort aufgestellten Kriterien zu messen ist. Stellt man mit Arzt l43 auf die Rechtsgutsbezogenheit des Irrtums ab, so bestätigt sich das bisher gefundene Ergebnis: Eine Fehlvorstellung über das mit dem Eingriff verbundene Risiko ist ein Unterfall des Irrtums über den Umfang der Rechtsgutspreisgabe l44 . Unproblematisch gelingt auch die Einordnung des Risikoirrtums in die von M.-K. Meyer entworfene Kasuistik rechtsgutsbezogener IrrtÜffier 145 , da die Fehlvorstellung über das Maß der Gefahrdung 139 140 141 142
143 144 145
Zur Kritik: Kreutz, S. 129, 131. Zur Begr. i. e. vgl. ob. 1.3.1.4. Vgl. BGH JR 85, 65 (66). BVerfGE 7, 198ff (205). Willensmängel, S. 29 f. - eingeh. hierzu Zweiter Teil, Erster Abschnitt 4.4.4.2. Vgl. Arzt, Willensmängel, S.47 Anm. 75. Eingeh. hierzu Zweiter Teil, Erster Abschn. 3.4.4.3.
1. Verpflichtung des Infizierten zur Befundermittlung
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ausdrücklich als Fallgruppe genannt wird 146. Ebenso eindeutig 147 ist die Subsumtion unter die von Roxin postulierte (erste) Fallgruppe, in der er diejenigen Täuschungen zusammenfaßt, die die Art und das Ausmaß der Rechtsgutspreisgabe betreffen 148. Für ein Verkennen des Ausmaßes der Gefahr muß nämlich dasselbe gelten wie für den von Roxin beschriebenen Fall der Diskrepanz zwischen tatsächlicher und erwarteter Verletzung. Selbst wenn man von der restriktivsten Auffassung von Brandts/ Schlehofer ausgeht, bestätigt sich das bisherige Ergebnis, da auch diese Autoren einen rechtsgutsbezogenen Willensmangel annehmen, wenn das Opfer irrtums bedingt die konkrete Integritätsbeeinträchtigung verkennt l49 , worunter auch die Eintrittswahrscheinlichkeit einer - ungewollten - Beeinträchtigung fällt. Damit bleibt festzuhalten: Legt man in den Fällen der durch Geschlechtsverkehr verursachten HIVÜbertragung auf einen über