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German Pages 484 [486] Year 2018
BEIHEFTE
Susanne Oberholzer
Zwischen Standarddeutsch und Dialekt Untersuchung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen von Pfarrpersonen in der Deutschschweiz
Germanistik
ZDL
Franz Steiner Verlag
zeitschrift für dialektologie und linguistik
beihefte
173
Susanne Oberholzer Zwischen Standarddeutsch und Dialekt
zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt
band 173
Susanne Oberholzer
Zwischen Standarddeutsch und Dialekt Untersuchung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen von Pfarrpersonen in der Deutschschweiz
Franz Steiner Verlag
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2015 auf Antrag der Promotionskommission Prof. Dr. Christa Dürscheid (hauptverantwortliche Betreuungsperson), Prof. Dr. Peter Sieber, Univ.-Prof. Dr. Alexandra N. Lenz als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12214-6 (Print) ISBN 978-3-515-12213-9 (E-Book)
meinen Eltern
VORWORT Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine etwas gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Herbst 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Promotionsschrift angenommen wurde. Das Verfassen einer Dissertation setzt Unterstützung auf verschiedenen Ebenen voraus. An dieser Stelle möchte ich mich bei den Menschen bedanken, die mir während dieser Zeit mit Rat und Tat und offenem Ohr zur Seite gestanden sind. Als Erstes danke ich meinen Betreuer/-innen Prof. Dr. Christa Dürscheid, Prof. Dr. Peter Sieber und Univ.-Prof. Dr. Alexandra N. Lenz, die mich mit ihrem wohlwollend kritischen Blick und ihrer Expertise begleitet haben. Peter Sieber danke ich zudem für seine wertvollen Hinweise bei der Überarbeitung der Dissertation zum Buch. Über die Jahre hinweg durfte ich vom Austausch mit verschiedenen Personen profitieren, die nicht alle namentlich erwähnt werden können. An dieser Stelle sei jedoch den folgenden Personen speziell gedankt: für den Austausch in linguistischen Fragen Prof. Dr. David Britain, Prof. Dr. Sara Hägi, PD Mag. Dr. habil. Manfred Glauninger sowie meinen Kolleginnen und Kollegen im Projekt „Variantengrammatik des Deutschen“, vom Doktoratsprogramm Linguistik der Universität Zürich sowie des Instituts für Germanistik der Universität Wien, insbesondere Dr. Martin Businger, Michael Riccabona, Andrea Kleene und Timo Ahlers; für den Austausch in theologischen Fragen PD Dr. Christina Aus der Au, Dr. Friederike Osthof, Dr. Christian Walti sowie P. Franz-Xaver Hiestand SJ; für die Unterstützung mit der Datenbank Dr. Stephan Lücke; für die Karten Dr. Philipp Stoeckle; für die redaktionelle Hilfe Andrea Sprecher und Vanessa Huber. Für die finanzielle Unterstützung der Untersuchung bin ich folgenden Institutionen zu grossem Dank verpflichtet: der Universität Zürich für den Beitrag aus dem Forschungskredit, dem Schweizerischen Nationalfonds für das Stipendium für Angehende Forschende sowie der Janggen-Pöhn-Stiftung für das gewährte Stipendium. Die vorliegende Buchpublikation haben mit ihrem Beitrag folgende Einrichtungen unterstützt: Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen und Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau. Mein Dank geht zudem an die Herausgeber der Beihefte der Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik für die Aufnahme dieser Arbeit in ihre Reihe. Letztlich wäre diese Untersuchung nicht möglich gewesen ohne meine Informant/-innen der beiden grossen Landeskirchen – vielen Dank ihnen allen. Von Herzen möchte ich mich schliesslich bei meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden bedanken, die mich auf dem Weg zum fertigen Buch begleitet und mich in vielfältiger Weise immer unterstützt haben, insbesondere meinen Eltern, Vanessa und Michael.
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ............................................................................................................... 7 Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 15 Tabellenverzeichnis ........................................................................................... 18 Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................... 21 1 EINLEITUNG............................................................................................... 23 1.1 Dialekt und Standarddeutsch in der Deutschschweiz die letzten 100 Jahre ............................................................................................... 23 1.2 Dialekt und Standarddeutsch bei Deutschschweizer Pfarrpersonen ........ 27 1.3 Theoretische Einbettung ........................................................................ 29 1.4 Forschungsfragen .................................................................................. 30 1.5 Aufbau der vorliegenden Untersuchung ................................................. 32 I THEORETISCHER HINTERGRUND .......................................................... 35 2 DIE DEUTSCHSCHWEIZER SPRACHSITUATION: SPRACHFORMEN UND KONZEPTE......................................................... 37 2.1 Schweizerdeutsch .................................................................................. 38 2.1.1 Dialekt als Sprachform der Mündlichkeit .................................... 39 2.1.2 Dialekt als Sprachform der Schriftlichkeit ................................... 40 2.2 Standarddeutsch..................................................................................... 41 2.2.1 Standarddeutsch als Sprachform der Schriftlichkeit ..................... 41 2.2.2 Standarddeutsch als Sprachform der Mündlichkeit ...................... 42 2.3 Mischphänomene zwischen den beiden Varietäten ................................. 44 2.4 Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus? ..................................................................................... 46 2.4.1 FERGUSONS Diglossie-Begriff ..................................................... 47 2.4.2 Ergänzung des Diglossie-Begriffes .............................................. 51 2.4.3 Bilingualismus: den Laien ernst nehmen ..................................... 57 2.4.4 Primärsprache, Sekundärsprache, Fremdsprache ......................... 61 2.4.5 Diglossie vs. Bilingualismus ....................................................... 63 2.5 Deutsch als plurizentrische Sprache ....................................................... 64 2.5.1 Definitionen ................................................................................ 65 2.5.2 „Plurizentrisch“, „plurinational“, „pluriareal“ – terminologische (und politische) Grabenkämpfe .......................... 66
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2.5.3 Schweizer Standarddeutsch – eine gleichberechtigte Varietät ...... 67 2.5.4 Plurizentrizitätsbewusstsein der Deutschschweizer/-innen ........... 68 2.6 Zusammenfassung ................................................................................. 69 3 DIALEKT UND STANDARDDEUTSCH IN DEN KIRCHEN: UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND FORSCHUNGSSTAND .......... 71 3.1 Die beiden grossen Landeskirchen ......................................................... 71 3.2 Untersuchungsgebiet.............................................................................. 73 3.2.1 Untersuchungsgebiet: reformierte Kirche .................................... 74 3.2.2 Untersuchungsgebiet: katholische Kirche .................................... 75 3.3 Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste ............................... 77 3.3.1 Ablauf reformierter Gottesdienste ............................................... 77 3.3.2 Ablauf katholischer Gottesdienste ............................................... 80 3.3.3 Einteilung der Gottesdienste in der vorliegenden Studie .............. 82 3.4 Varietätengebrauch in der Kirche: Forschungsstand und Tendenzen ...... 88 3.4.1 Linguistische Übersichtsdarstellungen: Versuch einer diachronen Beschreibung ............................................................ 88 3.4.2 Linguistische Darstellungen ........................................................ 94 3.4.3 Theologische Darstellungen ...................................................... 110 3.4.4 Zwischenfazit ............................................................................ 123 3.5 Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen .......................... 124 3.5.1 Dialektbibelübersetzungen ........................................................ 124 3.5.2 Kirchenlieder im Dialekt ........................................................... 131 3.5.3 Dialektvorlagen für die Liturgie ................................................ 135 3.6 Zusammenfassung ............................................................................... 137 4 CODE-SWITCHING .................................................................................. 139 4.1 Definition des Terminus Code-Switching ............................................ 139 4.2 Code-Switching aus soziopragmatischer Sicht ..................................... 141 4.3 Code-Switching als stilistisches Mittel in der Deutschschweiz ............. 145 4.3.1 Code-Switching mit pragmatischer Bedeutung .......................... 146 4.3.2 Code-Switching ohne pragmatische Bedeutung ......................... 147 4.3.3 Code-Switching als erweiterte stilistische Ressource ................. 148 4.4 Bedeutung von Code-Switching für die vorliegende Studie.................. 150 5 SPRACHEINSTELLUNGEN ..................................................................... 151 5.1 Theoretische Grundlagen ..................................................................... 151 5.1.1 Definition des Terminus Einstellung (engl. attitude).................. 152 5.1.2 Zum Wesen von Einstellungen .................................................. 153 5.1.3 Stereotyp ................................................................................... 158 5.2 Spracheinstellungsforschung in der Deutschschweiz ............................ 159 5.2.1 Bisherige Spracheinstellungsforschung ..................................... 159
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5.2.2 Grundsatzproblem: kein einheitliches „Hochdeutsch“Konzept..................................................................................... 167 5.3 Bedeutung von Spracheinstellungen für die vorliegende Studie ........... 169 6 KORPUS UND METHODE ....................................................................... 171 6.1 Authentische Sprachgebrauchsdaten: die Gottesdienstaufnahmen ........ 171 6.1.1 Das Sample reformierter Pfarrpersonen ..................................... 172 6.1.2 Das Sample katholischer Pfarrpersonen ..................................... 177 6.1.3 Weiterverarbeitung der Rohaufnahmen ..................................... 178 6.2 Tiefeninterviews .................................................................................. 180 6.3 Fragebogenerhebung............................................................................ 181 6.3.1 Vorgehen bei der Datengewinnung............................................ 181 6.3.2 Verschiedene Fragebogenversionen in Abhängigkeit von der Erstsprache ................................................................... 182 6.3.3 Sample der Fragebogenerhebung ............................................... 184 6.3.4 Sample der Fragebogenerhebung – Version 1 ............................ 186 6.3.5 Sample der Fragebogenerhebung – Version 2 ............................ 188 6.3.6 Sample der Fragebogenerhebung – Version 3 ............................ 190 6.3.7 Berücksichtigung der Fragebogenversionen in der vorliegenden Studie................................................................... 193 6.3.8 Weiterverarbeitung der Daten aus der Fragebogenerhebung ...... 193 6.4 Umfrage bei den reformierten und katholischen Landeskirchen ........... 193 6.5 Interview mit einem Professor für Praktische Theologie ...................... 195 II EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG ............................................................ 197 7 SPRACHREGELUNGEN IN DEN LANDESKIRCHEN ............................ 199 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
Kirchenordnungen der reformierten Kantonalkirchen........................... 200 Liturgiam authenticam ......................................................................... 201 Umfrageresultate für die reformierte Kirche......................................... 202 Umfrageresultate für die katholische Kirche ........................................ 205 Diskussion der Umfrageresultate ......................................................... 209 Ergebnisse aus Interviews und Fragebögen .......................................... 211 7.6.1 Reformierte Pfarrpersonen ........................................................ 211 7.6.2 Katholische Pfarrpersonen......................................................... 217 7.7 Diskussion der Resultate aus Interviews und Fragebogenerhebung ...... 217 7.8 Fazit .................................................................................................... 218 8 SPRACHGEBRAUCH DER DEUTSCHSCHWEIZER PFARRPERSONEN IM GOTTESDIENST.................................................................................. 221 8.1 Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst ...................................... 221 8.1.1 Sechs Varietätenmuster ............................................................. 221 8.1.2 Unterschiede nach Art des Gottesdienstes ................................. 224
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8.1.3 Unterschiede nach Kantonen ..................................................... 225 8.1.4 Intraindividuelle Variation bzw. Konstanz................................. 227 8.1.5 Varietät nach Gottesdienstteil .................................................... 230 8.1.6 Code-Switchings vom Dialekt zum Standarddeutschen ............. 239 8.1.7 Code-Switchings vom Standarddeutschen zum Dialekt ............. 245 8.1.8 Funktionen von Code-Switching ............................................... 256 8.2 Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst...................................... 262 8.2.1 Unterschiede nach Gottesdienstteil ............................................ 262 8.2.2 Unterschiede nach Priester ........................................................ 264 8.2.3 Code-Switchings in katholischen Gottesdiensten ....................... 265 8.2.4 Funktionen von Code-Switching ............................................... 269 8.3 Diskussion der Resultate ...................................................................... 270 9 VARIETÄTENWAHL UND EINFLUSSFAKTOREN AUS SICHT VON DEUTSCHSCHWEIZER PFARRPERSONEN.................................. 274 9.1 Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst .................................................. 275 9.2 Intendierter Varietätengebrauch im katholischen Sonntagsgottesdienst .................................................. 290 9.3 Intendierter Varietätengebrauch in Kasualgottesdiensten ..................... 292 9.3.1 Abdankungen ............................................................................ 292 9.3.2 Taufen....................................................................................... 294 9.3.3 Fazit .......................................................................................... 295 9.4 Intendierter Varietätengebrauch in weiteren kirchlichen Kontexten ...... 295 9.4.1 Jugendgottesdienst .................................................................... 295 9.4.2 Religionsunterricht .................................................................... 296 9.4.3 Konfirmationsunterricht ............................................................ 298 9.4.4 Andacht im Altersheim ............................................................. 299 9.4.5 Beichte ...................................................................................... 299 9.4.6 Fazit .......................................................................................... 300 9.5 Gottesdienstvorbereitung: Verschriftung und Vorbereitungszeit........... 301 9.5.1 Ausformulierungsgrad ............................................................... 301 9.5.2 Verschriftung der Predigt nach Varietät..................................... 303 9.5.3 Vorbereitungszeit ...................................................................... 305 9.5.4 Fazit .......................................................................................... 305 9.6 Dialektvorlagen ................................................................................... 306 9.6.1 Dialektbibeln............................................................................. 306 9.6.2 Dialektlieder ............................................................................. 311 9.6.3 Fazit .......................................................................................... 318 9.7 Mögliche Einflussfaktoren für die Varietätenwahl im Gottesdienst ...... 319 9.7.1 Komplexität der Inhalte ............................................................. 319 9.7.2 Der Dialekt als Varietät des „Plauderns“ ................................... 320 9.7.3 Verschiedene Rollen der Pfarrperson im Gottesdienst ............... 321 9.7.4 Vorlieben der Gemeinde............................................................ 322
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9.7.5 Fazit .......................................................................................... 323 9.8 Varietätenwahl als Thema in der Ausbildung ....................................... 324 9.8.1 Ausbildung zur Pfarrperson ....................................................... 324 9.8.2 Interview mit Prof. DAVID PLÜSS, Universität Bern ................... 325 9.8.3 Bedeutung der Sprachformenfrage während der Ausbildung ..... 330 9.8.4 Sprachliche Vorbildfunktion ..................................................... 331 9.8.5 Fazit .......................................................................................... 332 9.9 Individuelle und institutionelle Entwicklungstendenzen ....................... 333 9.9.1 Individuelle Entwicklung der Pfarrpersonen .............................. 334 9.9.2 Entwicklung des Sprachgebrauchs in den Kirchen ..................... 336 9.9.3 Fazit .......................................................................................... 337 9.10 Exkurs: Die allochthonen Pfarrpersonen .............................................. 337 9.10.1 Die Alltagssprache der allochthonen Pfarrpersonen ................... 338 9.10.2 Sprachwahl der Gemeindeglieder gegenüber allochthonen Pfarrpersonen ............................................................................ 339 9.10.3 Varietät in Sonntagsgottesdiensten ............................................ 340 9.10.4 Veränderungen im Sprachverhalten seit Beginn der Tätigkeit in der Schweiz........................................................................... 341 9.10.5 Fazit der Fragebogenerhebung unter allochthonen Pfarrpersonen ............................................................................ 342 9.11 Diskussion der Resultate ...................................................................... 343 10 SPRACHEINSTELLUNGEN ZU DIALEKT UND HOCHDEUTSCH ...... 347 10.1 Stereotype zu Dialekt und Hochdeutsch ............................................... 348 10.2 Nuancierte Einstellungen zu Dialekt und Hochdeutsch bei Pfarrpersonen – Fallbeispiele ......................................................... 351 10.2.1 Pfarrperson r12: stabil kritische Einstellungen zum Hochdeutschen – stabil positive zum Dialekt............................. 352 10.2.2 Pfarrperson r15: Fremdsprachenstereotyp, tendenziell positive Bewertungen zu Hochdeutsch und ein gewisses Defizitempfinden ........................................................ 355 10.2.3 Pfarrperson k05: Fremdsprachenstereotyp, differenzierte Einstellungen zu beiden Varietäten, Plurizentrizitätsbewusstsein ....................................................... 359 10.2.4 Pfarrperson r17: Fremdsprachenstereotyp, positive Einschätzungen von Hochdeutsch, insbesondere als Varietät der Schriftlichkeit .............................. 362 10.2.5 Pfarrperson r05: Fremdsprachenstereotyp, dezidiert positive Einstellungen zu Hochdeutsch, gleichzeitig ausgeprägtes Defizitempfinden ............................... 366 10.2.6 Pfarrperson k01: differenzierte Einstellungen zu beiden Varietäten und ausgeprägtes Plurizentrizitätsbewusstsein .......... 370
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10.2.7 Pfarrperson r19: ausgesprochen positive Einstellungen zu Hochdeutsch, kritische Einstellungen zum Dialekt im Gottesdienst ......................................................................... 374 10.2.8 Pfarrperson r01: tendenziell kritische Einstellungen zum Dialekt, sehr positive Bewertungen von Hochdeutsch................ 379 10.2.9 Pfarrperson r14: ausgesprochen positive Einstellungen zu beiden Varietäten .................................................................. 383 10.2.10 Zwischenfazit .......................................................................... 387 10.3 Verschiedene Hochdeutsch- und Dialektkonzepte ................................ 388 10.3.1 Hochdeutsch als Sprache in der Schweiz ................................... 388 10.3.2 Hochdeutsch als Sprache für Informationssendungen am Beispiel von Meteo .............................................................. 389 10.3.3 Hochdeutsch als Sprache im Kindergarten ................................ 390 10.3.4 Hochdeutsch als Sprache der Schule ......................................... 391 10.3.5 Dialekt als geschriebene Sprache .............................................. 391 10.3.6 Dialekt als Gottesdienst- und Predigtsprache ............................. 392 10.3.7 Hochdeutsch als Gottesdienst- und Predigtsprache .................... 393 10.4 Diskussion der Resultate ...................................................................... 394 11 SYNOPSE – VERGLEICH VON OBJEKTIVEN UND SUBJEKTIVEN DATEN ................................................................... 398 11.1 Tatsächlicher vs. intendierter Sprachgebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst .................................................. 398 11.2 Tatsächlicher vs. intendierter Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst ............................................................... 404 11.3 Zusammenhang zwischen Sprachverhalten und Spracheinstellungsäusserungen ..................................................... 404 11.4 Fazit .................................................................................................... 407 III SCHLUSSWORT ....................................................................................... 409 12 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK .............................................. 411 12.1 Zusammenschau der Resultate ............................................................. 411 12.2 Dialekt und Standarddeutsch als wichtige Varietäten im Gottesdienst ......................................................................................... 414 12.3 Zwei gegenläufige Bewegungen .......................................................... 416 12.4 Differenzierte Spracheinstellungen zu beiden Varietäten...................... 418 12.5 Ansätze für künftige Einstellungsforschung in der Deutschschweiz ..... 420 12.6 Diglossie als passendes linguistisches Beschreibungsmodell für die Deutschschweiz ........................................................................ 421 LITERATURVERZEICHNIS.......................................................................... 424 ANHANG........................................................................................................ 442
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25:
Erhebungsgebiet für die reformierte Kirche. Karte: PHILIPP STOECKLE .................................................................... 74 Erhebungsgebiet für die katholische Kirche. Karte: PHILIPP STOECKLE .................................................................... 76 Tabelle mit verschiedenen Nutzungskontexten von Standarddeutsch im Gespräch zwischen autochthonen Deutschschweizer/-innen aus CHRISTEN et al. (2010, 95) .................. 145 Kontextsensitives Modell der Spracheinstellungen nach TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 215) ...................................................... 157 Bildschirmfoto von PRAAT mit den drei Tiers text, auffaelligkeiten und gottesdienstteil .................................................. 178 Bildschirmfoto von PRAAT mit Beispiel eines Transkripts eines Gottesdienstanfangs mit den Tags sprecher, zitat und varietaet ......... 179 Altersstruktur der Pfarrerinnen und Pfarrer nach Jahrgängen (n=681) ............................................................................................ 185 Geschlecht der Gewährspersonen (n=681) ........................................ 185 Amtsjahre der Pfarrerinnen und Pfarrer (n=668, 13 fehlende Werte) .............................................................. 186 Geschlecht der Gewährspersonen bei Fragebogenversion 1 (n=454) ............................................................................................ 187 Altersstruktur der Pfarrerinnen und Pfarrer nach Jahrgängen für Fragebogenversion 1 (n=454) ........................................................... 188 Amtsjahre der Pfarrerinnen und Pfarrer für Fragebogenversion 1 (n=444, 10 fehlende Werte) .............................................................. 188 Geschlecht der allochthonen Gewährspersonen (n=97) ..................... 190 Altersstruktur der allochthonen Gewährspersonen nach Jahrgängen gruppiert (n=97)..................................................... 192 Amtsjahre der allochthonen Pfarrerinnen und Pfarrer (n=96, 1 fehlender Wert) .................................................................. 192 Vorhandensein einer Sprachformenregelung in den Kirchgemeinden (n=454) ....................................................... 214 Eingangswort nach gewählter Varietät (n=40) .................................. 230 Gruss nach gewählter Varietät (n=40)............................................... 231 Einleitung erstes Gebet nach gewählter Varietät (n=34) .................... 231 Gebet nach gewählter Varietät (n=37)............................................... 232 Einleitung Lesung nach gewählter Varietät (n=39) ........................... 232 Lesung nach Varietät (n=40)............................................................. 233 Predigt nach Varietät (n=40)............................................................. 233 Abkündigungen nach Varietät (n=22) ............................................... 234 Einleitung Fürbitte nach Varietät (n=30)........................................... 234
16 Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37: Abb. 38: Abb. 39: Abb. 40: Abb. 41: Abb. 42: Abb. 43: Abb. 44: Abb. 45: Abb. 46: Abb. 47: Abb. 48: Abb. 49: Abb. 50: Abb. 51: Abb. 52: Abb. 53:
Abbildungsverzeichnis
Fürbitte nach Varietät (n=35)............................................................ 235 Einleitung Unser Vater nach Varietät (n=39) .................................... 235 Unser Vater nach Varietät (n=40) ..................................................... 236 Mitteilungen nach Varietät (n=40) .................................................... 236 Einleitung Segen nach Varietät (n=23) ............................................. 237 Segen nach Varietät (n=39) .............................................................. 237 Visualisierung der möglichen Kommunikationsperspektiven im Gottesdienst (vgl. PAUL 1990, 34–35)............................................... 248 Gottesdienstteil „Eingangswort“ nach Sprachform; Interview (n=23)............................................................................... 276 Gottesdienstteil „Eingangswort“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 277 Gottesdienstteil „Gruss“ nach Sprachform; Interview (n=23) ............ 277 Gottesdienstteil „Gruss“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ...... 278 Gottesdienstteil „Gebete (ohne Fürbitte)“ nach Sprachform; Interview (n=23)............................................................................... 278 Gottesdienstteil „Gebete (ohne Fürbitte)“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 279 Gottesdienstteil „Einleitung und Ausgang der Lesung“ nach Sprachform; Interview (n=23) .......................................................... 280 Gottesdienstteil „Einleitung und Ausgang der Lesung“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ..................................................... 280 Gottesdienstteil „Lesung“ nach Sprachform; Interview (n=23) ......... 281 Gottesdienstteil „Lesung“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) .... 281 Gottesdienstteil „Liedansagen (inkl. der Aufforderung, sich zu erheben etc.)“ nach Sprachform; Interview (n=23) ................ 282 Gottesdienstteil „Liedansagen (inkl. der Aufforderung, sich zu erheben etc.)“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)........... 282 Gottesdienstteil „Predigt“ nach Sprachform; Interview (n=23).......... 283 Gottesdienstteil „Predigt“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) .... 284 Gottesdienstteil „Abkündigungen“ nach Sprachform; Interview (n=23)............................................................................... 284 Gottesdienstteil „Abkündigungen“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 285 Gottesdienstteil „Fürbittegebet“ nach Sprachform; Interview (n=23)............................................................................... 285 Gottesdienstteil „Fürbittegebet“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 286 Gottesdienstteil „Unser Vater“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 286 Gottesdienstteil „Mitteilungen/Kollekte“ nach Sprachform; Interview (n=23)............................................................................... 287 Gottesdienstteil „Mitteilungen/Kollekte“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 287
Abbildungsverzeichnis
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Abb. 54: Gottesdienstteil „Sendungswort“ nach Sprachform; Interview (n=21)............................................................................... 288 Abb. 55: Gottesdienstteil „Sendungswort“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ......................................................................... 288 Abb. 56: Gottesdienstteil „Segen“ nach Sprachform; Interview (n=23) ........... 289 Abb. 57: Gottesdienstteil „Segen“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454) ...... 290 Abb. 58: Verschriftung der Gottesdienstvorbereitung: ausformuliert, in Stichworten oder gemischt (n=454) .............................................. 302 Abb. 59: Verschriftung der Predigt: Sprachform der Verschriftung und verwendete Sprachform im GD (n=454) ........................................... 303 Abb. 60: Verschriftung Dialektpredigt: Verwendete Varietät für die schriftliche Vorlage (n=348).................................................. 304 Abb. 61: Einsatz von Dialektbibeln im Gottesdienst (n=454) .......................... 306 Abb. 62: Verwendete Dialektbibeln bei den Pfarrpersonen mit Berner Dialekt (n=134)............................................................... 308 Abb. 63: Verwendete Dialektbibeln bei den Pfarrpersonen mit Baselbieter/Basler Dialekt (n=18) ............................................... 308 Abb. 64: Verwendete Dialektbibeln bei den Pfarrpersonen mit Zürcher Dialekt (n=58) ............................................................... 309 Abb. 65: Verwendete Dialektbibeln bei den Pfarrpersonen mit Ostschweizer Dialekt (n=16) ...................................................... 309 Abb. 66: Einschätzung der Eignung von Dialektliedern im Predigtgottesdienst im Vergleich zu hochdeutschen Liedern (n=454)........... 316 Abb. 67: Einschätzung der Entwicklung des eigenen Sprachformengebrauchs (n=454) ...................................................... 334 Abb. 68: Objektive (oben, n=40) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für das Eingangswort ................................................... 399 Abb. 69: Objektive (oben, n=40) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für den Gruss ............................................................... 400 Abb. 70: Objektive (oben, n=40) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Predigt ............................................................. 401 Abb. 71: Objektive (oben, n=37) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für das Gebet ............................................................... 402 Abb. 72: Objektive (oben, n=39) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Einleitung der Lesung ...................................... 479 Abb. 73: Objektive (oben, n=40) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Lesung ............................................................. 480 Abb. 74: Objektive (oben, n=22) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Abkündigungen ................................................ 481 Abb. 75: Objektive (oben, n=35) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Fürbitte ............................................................ 482 Abb. 76: Objektive (oben, n=40) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für die Mitteilungen..................................................... 483 Abb. 77: Objektive (oben, n=39) und subjektive Daten (unten, n=23) im Vergleich für den Segen .............................................................. 484
TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10:
Tab. 11:
Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16:
Verteilung von Situationstypen nach Varietät gemäss FERGUSON, deutsche Übersetzung nach WERLEN (1998, 23). ................................ 48 Anzahl Mitglieder der reformierten Landeskirche in den fünf untersuchten Kantonen im Jahr 2000 (vgl. BOVAY / BROQUET 2004, 122–123) ............................................ 75 Anzahl Mitglieder der katholischen Landeskirche in den drei untersuchten Bistümern im Jahr 2000 (vgl. Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut SPI 2007, 40) ...................................... 76 Gerüst eines Predigtgottesdienstes gemäss Evangelischreformiertem Gesangbuch, Nr. 150 (Gesangbuchverein 1998, 235) .... 78 Ausschnitt aus dem Gerüst eines Predigtgottesdienstes mit Taufe gemäss Evangelisch-reformiertem Gesangbuch Nr. 151 (Gesangbuchverein 1998, 236) ........................................................... 79 Gerüst eines Abendmahlsgottesdienstes gemäss Evangelischreformiertem Gesangbuch, Nr. 153 (Gesangbuchverein 1998, 238) .... 80 Aufbau der Messfeier gemäss Katholischem Gesangbuch Nr. 29 (Schweizer Bischofskonferenz 1998, 98–99) ...................................... 81 Einteilung der Gottesdienstteile für die Analyse der reformierten Gottesdienstaufnahmen ...................................................................... 84 Einteilung der Gottesdienstteile für die Analyse der katholischen Gottesdienstaufnahmen ...................................................................... 88 Gewählte Sprachform pro Gottesdienstteil gemäss Selbsteinschätzung der Pfarrpersonen in Basel-Landschaft (n=36) für einen normalen Sonntagsgottesdienst (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 110) ......................................................... 104 Gewählte Sprachform pro Gottesdienstteil gemäss Selbsteinschätzung der Pfarrpersonen in Basel-Landschaft für einen Familien- oder Abendgottesdienst (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 111) ...................................... 104 Einschätzungen der beiden Sprachformen durch Pfarrpersonen aus dem Kanton Zürich (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 131) .................................................................................................. 105 Übersicht über die verwendeten Methoden ....................................... 171 Aufschlüsselung der verwendeten Siglen für die reformierten Aufnahmen .................................................................. 174 Korpus der Gottesdienstaufnahmen in reformierten Kirchgemeinden der Deutschschweiz ....................... 177 Korpus der Gottesdienstaufnahmen in katholischen Pfarreien der Deutschschweiz................................... 177
Tabellenverzeichnis
19
Tab. 17: Angaben zu versandten Fragebögen und Rücklauf nach Kanton und Total ..................................................................... 182 Tab. 18: Nationalität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fragebogenerhebung (n=681) ........................................................... 186 Tab. 19: Anzahl Pfarrerinnen und Pfarrer nach Kanton für Fragebogenversion 1 (n=454)...................................................... 187 Tab. 20: Anzahl Pfarrerinnen und Pfarrer nach Kanton für Fragebogenversion 2a (n=49) ...................................................... 189 Tab. 21: Anzahl Pfarrerinnen und Pfarrer nach Kanton für Fragebogenversion 2b (n=74)...................................................... 190 Tab. 22: Nationalität der allochthonen Gewährspersonen (n=97) .................... 191 Tab. 23: Wohn- und Arbeitskanton der allochthonen Gewährspersonen (n=97) .................................................................. 191 Tab. 24: Kantonalkirchen mit Sprachformenregelungen (Wortlaut gemäss jeweiliger Kirchenordnung) .................................. 201 Tab. 25: Angaben über Sprachregelungen nach Wohnkanton in Prozent (n=441)............................................................................ 214 Tab. 26: Verteilung der 40 reformierten Gottesdienste auf die sechs Varietätenmuster ......................................................... 222 Tab. 27: Anzahl reformierte Gottesdienste nach Varietätenmuster (fremde Aufnahmen, n=19) .............................................................. 224 Tab. 28: Anzahl reformierte Gottesdienste nach Varietätenmuster (eigene Aufnahmen, n=21) ............................................................... 224 Tab. 29: Die Nutzung von Standarddeutsch im Deutschschweizer Kontext; für Gottesdienste adaptierte Tabelle gemäss CHRISTEN et al. (2010, 95).................................................... 258 Tab. 30: Die Nutzung von Dialekt im Deutschschweizer Kontext innerhalb Standarddeutsch gesprochener Passagen im Gottesdienst (in Anlehnung an die Tabelle für Standarddeutsch in CHRISTEN et al. 2010, 95) ............................................................. 261 Tab. 31: Varietät nach Gottesdienstteil für die sechs untersuchten katholischen Gottesdienste ............................................................... 263 Tab. 32: Tabelle aus dem Fragebogen Version 1, Frage 9 ............................... 275 Tab. 33: Angekreuzte Varietät pro Gottesdienstteil für die katholischen Priester (n=6) .................................................... 291 Tab. 34: Tabelle aus dem Fragebogen Version 1, Frage 11 ............................. 293 Tab. 35: Gottesdienstteile im Dialekt für Abdankungs- und Sonntagsgottesdienst im Vergleich in Prozent .................................. 294 Tab. 36: Im Jugendgottesdienst verwendete Varietät nach Kanton in Prozent (n=231)............................................................................ 296 Tab. 37: Im Religionsunterricht verwendete Varietät nach Kanton in Prozent (n=308)............................................................................ 297 Tab. 38: Im Konfirmationsunterricht verwendete Varietät nach Kanton in Prozent (n=343)............................................................................ 298
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Tabellenverzeichnis
Tab. 39: In Andachten/Besinnungen/Gottesdiensten im Altersheim verwendete Varietät nach Kanton in Prozent (n=378) ....................... 299 Tab. 40: Verschriftung der Gottesdienstvorbereitung nach Altersgruppen (n=454) ............................................................. 302 Tab. 41: Verschriftung der Predigt: Sprachform der Verschriftung – verwendete Sprachform im GD nach Kanton, in Prozent (n=454) ..... 304 Tab. 42: Verschriftung der Predigt: Sprachform der Verschriftung – verwendete Sprachform im GD nach Altersgruppen, in Prozent (n=454)............................................................................ 305 Tab. 43: Von den Pfarrpersonen in ihren Gottesdiensten verwendete Dialektübersetzungen gemäss Angabe im Onlinefragebogen (n=260)........................................................... 307 Tab. 44: Kein Dialektbibelgebrauch nach Dialekt der Pfarrperson in Prozent (n=195)............................................................................ 310 Tab. 45: Verwendung der Dialektlieder aus dem RG in Prozent; Interview (n=23) und Fragebogen (n=454) ....................................... 312 Tab. 46: Verwendung der Dialektlieder aus dem RG nach Wohnkanton in Prozent (n=441)............................................................................ 313 Tab. 47: Positive Antworten auf die Frage „Ich verwende im Gottesdienst grundsätzlich keine Dialektlieder“ nach Wohnkanton in Prozent (n=21).............................................................................. 314 Tab. 48: Antworten auf die Frage „Wurde die Frage der Sprachformenwahl (Dialekt oder Hochdeutsch) in Ihrer Ausbildung/Weiterbildung je thematisiert?“ nach Altersgruppen in Prozent (n=454) ...................... 330 Tab. 49: Funktion als sprachliches Vorbild für die eigene Gemeinde nach Wohnkanton in Prozent (n=441)............................................... 331 Tab. 50: Sprachformen, die Gemeindeglieder gegenüber Allochthonen benutzen, nach der Selbstwahrnehmung der Pfarrpersonen (n=97).... 339 Tab. 51: Die 10 grössten Antwortkategorien für die Frage „Dialekt ist für mich im Vergleich zu Hochdeutsch …“ (n=454) ......................... 349 Tab. 52: Die 10 grössten Antwortkategorien für die Frage „Hochdeutsch ist für mich im Vergleich zum Dialekt …“ (n=454) .......................... 350 Tab. 53: Vergleich zwischen der subjektiven Einschätzung der Varietätenwahl und der tatsächlich gewählten Varietät pro Gottesdienstteil........................................................................... 403 Tab. 54: Ablauf des Gottesdienstes r1214pr01zhs........................................... 471
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abb. Abs. AG AI AR Art. BE BL BS CS FB-Zitat FR GD GD-Zitat GL GR HD Int-Zitat JU Kap. KG LU m NW OW RG SG SH SO SZ Tab. TG UR VS w ZG ZH
Abbildung Absatz Aargau Appenzell-Innerrhoden Appenzell-Ausserrhoden Artikel Bern Basel-Landschaft Basel-Stadt Code-Switching Fragebogenzitat Freiburg Gottesdienst Gottesdienstzitat Glarus Graubünden Hochdeutsch Interviewzitat Jura Kapitel Katholisches Gesangbuch Luzern männlich Nidwalden Obwalden Reformiertes Gesangbuch St. Gallen Schaffhausen Solothurn Schwyz Tabelle Thurgau Uri Wallis weiblich Zug Zürich
1 EINLEITUNG Der Sprachgebrauch der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer und implizit auch deren Spracheinstellungen waren in den vergangenen rund 100 Jahren immer wieder Thema in der Öffentlichkeit, je nach Jahrzehnt und äusseren Einflüssen mit unterschiedlichem Fokus. In den letzten rund 20 Jahren wird die Diskussion um die Rolle der beiden Varietäten Dialekt und Schweizer Standarddeutsch in der Deutschschweiz mit einer gewissen Vehemenz geführt, nicht zuletzt wegen der in diesem Zeitraum verstärkten Zuwanderung deutscher Staatsbürgerinnen und -bürger in die Schweiz. Während auf der einen Seite der Dialekt immer mehr Domänen zu erobern scheint, die ursprünglich dem Standarddeutschen vorbehalten waren, wird auf der anderen Seite die Förderung eines selbstbewussten „Schweizer Hochdeutsch“ propagiert. Die im öffentlichen Diskurs präsenten Bewertungen der beiden Varietäten Dialekt und Standarddeutsch sind dabei häufig sehr stereotyp. Gleichzeitig herrscht innerhalb der Linguistik Uneinigkeit über das für die Deutschschweizer Sprachsituation passende sprachwissenschaftliche Beschreibungsmodell; die kontrovers geführte Diskussion bewegt sich primär zwischen den beiden Konzepten Diglossie und Bilingualismus. Für Letzteres spricht dabei aus Sicht verschiedener Linguistinnen und Linguisten die Einschätzung der Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher, die Standarddeutsch – mit grosser Regelmässigkeit – nicht als eine weitere Varietät des Deutschen, sondern in der Tendenz als Fremdsprache beurteilen. Nicht alleine der Sprachgebrauch der Deutschschweizer Bevölkerung, sondern auch die Spracheinstellungen stehen also im Fokus sprachwissenschaftlicher Forschung. Vor diesem Hintergrund aktueller öffentlicher und fachlicher Diskussionen präsentiert sich die vorliegende Untersuchung: Sie stellt eine empirisch gesicherte Beschreibung von Sprachgebrauch und Spracheinstellungen einer spezifischen Berufsgruppe von Deutschschweizer Sprachbenutzerinnen und -benutzern dar: Pfarrpersonen der beiden grossen Schweizer Landeskirchen. Weshalb diese spezifische Sprechergruppe im Fokus der Untersuchung steht, wird in Kapitel 1.2 erläutert. In Kapitel 1.3 wird die theoretische Einbettung der Studie umrissen. Die konkreten Forschungsfragen folgen in Kapitel 1.4, der Aufbau der Studie in Kapitel 1.5. Zuerst soll jedoch ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Dialekt und Standarddeutsch seit Beginn des 20. Jahrhunderts den weiteren Rahmen dieser Untersuchung ausleuchten. 1.1 DIALEKT UND STANDARDDEUTSCH IN DER DEUTSCHSCHWEIZ DIE LETZTEN 100 JAHRE Diskussionen um das Verhältnis von Dialekt und Standarddeutsch werden nicht erst in neuerer Zeit in der Öffentlichkeit und in der Sprachwissenschaft geführt: Sprach-
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Einleitung
gebrauch und implizit auch Spracheinstellungen waren in den vergangenen 100 Jahren, je nach Jahrzehnt und äusseren Einflüssen, immer wieder im Fokus.1 Blickt man zurück, kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer ersten „Kampfphase um die Erhaltung und Sammlung der schweizerdt. Mundarten“ (SONDEREGGER 2003, 2863), die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges andauerte; dies vor dem Hintergrund, dass der Niedergang der schweizerdeutschen Dialekte – insbesondere für die Deutschschweizer Städte – befürchtet wurde. Es machte sich eine „pessimistische[…] Grundstimmung“ (SONDEREGGER 2003, 2863) breit. In der Vorkriegszeit und während des Ersten Weltkriegs breitete sich also eine erste „Mundartwelle“ in der Deutschschweiz aus. Kaum war diese erste Mundartwelle verebbt, folgte nach einer Phase von „sprachpflegerischen Bemühungen“ um die beiden Varietäten Dialekt und Standarddeutsch (SONDEREGGER 2003, 2865) bereits die nächste ihrer Art: Diese fällt mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen und darf als Reaktion auf die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sowie deren Ziel, alle Menschen mit deutscher Muttersprache zusammenzuschliessen (vgl. SONDEREGGER 2003, 2869), verstanden werden. Diese Mundartwelle ist Teil der sogenannten „Geistigen Landesverteidigung“, einer polit[isch]-kulturelle[n] Bewegung […], welche die Stärkung von als schweizerisch deklarierten Werten und die Abwehr der faschist[ischen], nationalsozialist[ischen] und kommunis t[ischen] Totalitarismen zum Ziel hatte (JORIO 2006).
Im Verlauf der 1930er Jahre nahmen in der Deutschschweiz die „sprachpolitischen Abwehrreaktionen bei bedeutender Rückbesinnung auf die mundartliche Grundlage des Schweizerdeutschen“ (SONDEREGGER 2003, 2869) zu, mit dem Ziel, sich vom nationalsozialistischen Dritten Reich und insbesondere von Deutschland abzugrenzen. Dabei gilt es bei dieser Bewegung zwei Strömungen zu unterscheiden: eine eher gemässigte und eine extreme. Letztere zielte darauf ab, das Schweizerdeutsche2 als Schriftsprache für die Deutschschweiz zu etablieren und „damit eine sprachliche Trennung der dt. Schweiz vom gesamtdt. Sprachgebiet [zu] vollziehen“ (SONDEREGGER 2003, 2869). Das Ziel einer allgemein gültigen schweizerdeutschen Schriftsprache wurde letztlich aber nicht erreicht, das Schweizerdeutsche erfuhr in diesem Zusammenhang jedoch „als Symbol für die kulturelle Identität der Deutschschweiz und als wichtiges Unterscheidungsmerkmal [zum deutschsprachigen Ausland; S.O.] […] eine starke Aufwertung“ (SIEBENHAAR / WYLER 1997b, 38). Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine Phase der Konsolidierung bisheriger Sprachverhältnisse, das „gleichberechtigte[…], aber im einzelnen verschieden strukturierte[…] Verhältnis[…] Mundarten/neuhochdeutsche Standardsprache“ (SONDEREGGER 2003, 2870) wurde allgemein anerkannt. Diese Gleichberechtigung zwischen den beiden Varietäten hatte aber nicht lange Bestand, und so mündete die Konsolidierungsphase in den 1960er Jahren in eine dritte Mundartwelle, die RASH 1 2
Für eine ausführliche Sprachgeschichte der Deutschschweiz vgl. SONDEREGGER (2003). Im Folgenden werden die Termini „Schweizerdeutsch“, „Dialekt“ und „Mundart“ synonym verwendet. Dies entspricht auch dem Sprachgebrauch der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer selbst, ohne dass dabei Bedeutungsunterschiede zum Tragen kämen.
Dialekt und Standarddeutsch in der Deutschschweiz die letzten 100 Jahre
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(2002, 69) als „die Mundartwelle“ bezeichnet.3 Im Gegensatz zu den ersten beiden Mundartwellen, die der Abgrenzung gegenüber Deutschland dienten, kann – zumindest am Anfang dieser Welle – „kein sprachpolitisches Bedürfnis für betonte Abgrenzung nach aussen gesehen werden“, wie HAAS (1998, 88) feststellt. Der Dialekt breitet sich seit den Sechzigerjahren aus und „dringt immer mehr ein in die Predigt, den höheren Unterricht, das Militär und in alle Kommissionen, wofern nicht Anderssprachige anwesend sind“ (RIS 1980, 121). SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID (1991, 80) gingen am Ende des letzten Jahrhunderts (zu Recht) davon aus, dass der von den Anwälte[n] der Standardsprache […] ausgerufene „sprachliche Notstand“ wohl noch einige Zeit weiter bestehen [wird]; die Befürworter eines ausgedehnten Verwendungsbereichs der Mundart hingegen können beruhigt ins nächste Jahrhundert blicken.
Ob diese dritte Mundartwelle je ein Ende gefunden hat, war bis Ende des Jahrtausends ungeklärt: „Ihre Wirkung hält unvermindert an“ (RIS 1980, 121) bzw. „for many people this Mundartwelle has not ended“ (RASH 1998, 76; Hervorhebung im Original). In den letzten rund 15 Jahren wurde die Diskussion um die Rolle der beiden Varietäten Dialekt und Schweizer Standarddeutsch in der Deutschschweiz denn auch in der Öffentlichkeit mit einer gewissen Vehemenz geführt. Die folgenden ausgewählten Schlagzeilen aus Schweizer Zeitungen und von der Webseite des Schweizer Radios und Fernsehens bilden die Zuspitzung dieser Diskussion seit 2010 ab: 16.10.2010, Tages-Anzeiger Der Dialekt als Sprache des Herzens? Pardon, das ist Kitsch! 22.10.2010, Tages-Anzeiger Ein „Grüzzi, grüzzi“ verbitten wir uns 29.06.2011, Neue Zürcher Zeitung Dialekt und Hochdeutsch nicht gegeneinander ausspielen 06.03.2013, Tages-Anzeiger Schweizerdeutsch im Tram gefordert 28.07.2014, Neue Zürcher Zeitung Gespräch zur Konjunktur des Dialekts in der Deutschschweiz. „Schweizerdeutsch ist nicht minderwertig“ 01.09.2014, Schweizer Radio und Fernsehen Mundart boomt: Aber welli eigentlich gnau?
3
Laut RIS (1980, 121) ist diese „mit einer von Bern ausgehenden Neuentdeckung des Dialekts als Literatursprache“ verbunden.
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Einleitung 14.03.2015, Schweizer Radio und Fernsehen Helvetismen stinken nach Stall – oder riechen nach Heimat? 30.11.2016, Der Bund Dieses bäurische Hochdeutsch 28.02.2017, Neue Zürcher Zeitung Ein Lob auf die Helvetismen 30.09.2017, NZZ am Sonntag Mundart ist mehr als Sprache des Herzens
Es ist fraglich, ob sich die neusten Diskussionen um den Stellenwert des Dialekts – und gleichzeitig der deutschen Standardsprache – tatsächlich unter dieser dritten Mundartwelle subsumieren lassen, die demnach seit bald 50 Jahren um sich greifen würde. Wenn es sich hierbei nach wie vor um die dritte Mundartwelle handelt, stellt die aktuelle Situation einen neuen Höhepunkt der Welle dar, nachdem diese zwischenzeitlich wieder etwas abgeflacht war, sind doch die Diskussionen in den vergangenen fünfzehn Jahren teils von ausserordentlicher Intensität. Allenfalls breitet sich hier aber auch eine vierte Mundartwelle aus, die – im Gegensatz zur dritten – wiederum durch ein „sprachpolitisches Bedürfnis für betonte Abgrenzung“ (wie HAAS es 1998 nannte) geprägt ist. Jedoch handelt es sich dieses Mal nicht nur um Abgrenzung gegen aussen – gegenüber Deutschland –, sondern gleichzeitig auch gegen innen: Seit am 1. Juni 2002 das Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der Europäischen Union in Kraft getreten ist (vgl. EDA, Direktion für europäische Angelegenheiten DEA 2017), hat die Zuwanderung von deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in die Schweiz stark zugenommen: Die Zahl deutscher Staatsangehöriger in der Schweiz hat sich seit 2002 mehr als verdoppelt (von 126’084 im Jahr 2002 auf 303’525 im Jahr 2016, vgl. Bundesamt für Statistik 2018a), wobei der Anstieg kontinuierlich verlief. Derzeit beträgt der Anteil Deutscher an der Schweizer Gesamtbevölkerung 3.6 %; sie bilden nach den Italienerinnen und Italienern die zweitgrösste Ausländergruppe in der Schweiz (14.4 % der ausländischen Wohnbevölkerung, vgl. Bundesamt für Statistik 2018a). Für Teile der Deutschschweizer Bevölkerung spielt also erneut das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber den Deutschen im In- und Ausland sowie – damit zusammenhängend, aber nicht alleine davon ausgelöst – die Rückbesinnung auf die Deutschschweizer Identität eine Rolle. Für beides eignet sich der Dialekt, das Schweizerdeutsche, bestens als Symbol: Der Dialekt macht die Deutschschweizer anders nach aussen und gleich nach innen. […] Psychologisch gesehen spielt er für unsere Identität eine grosse Rolle. Wenn wir den Dialekt nicht hätten, wären wir ja Deutsche!
So äusserte sich der Historiker THOMAS MAISSEN anfangs 2014 in einem Interview (BÜTTNER 2014).
Dialekt und Standarddeutsch bei Deutschschweizer Pfarrpersonen
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Die gegenwärtigen Diskussionen4 zeigen die grosse Bedeutung des Dialekts für die Deutschschweizer Identität denn auch wieder exemplarisch auf.5 Wie sich eine spezifische Berufsgruppe von Deutschschweizer Sprachbenutzerinnen und -benutzern in dieser aktuellen Situation sprachlich verhält und welche Bedeutung der Dialekt, aber auch Standarddeutsch für sie insbesondere in ihrem beruflichen Alltag spielt, wird in dieser Studie untersucht. 1.2 DIALEKT UND STANDARDDEUTSCH BEI DEUTSCHSCHWEIZER PFARRPERSONEN Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden also der Sprachgebrauch und die Spracheinstellungen in der Deutschschweiz: Wie gehen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer mit den ihnen verfügbaren Varietäten des Deutschen – Schweizerdeutsch und Standarddeutsch – zu Beginn des 21. Jahrhunderts um, wie setzen sie diese insbesondere in der Mündlichkeit ein und welche Spracheinstellungen haben sie gegenüber den verschiedenen Varietäten des Deutschen, mit denen sie in Berührung kommen? Diesen Fragen wird am Beispiel einer Gruppe von Deutschschweizer Berufssprecherinnen und Berufssprechern nachgegangen, nämlich Pfarrpersonen der evangelisch-reformierten sowie der römisch-katholischen Landeskirche. Mit dem Terminus „Pfarrpersonen“ werden in der vorliegenden Untersuchung Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Kirche bezeichnet sowie – begrifflich etwas übergeneralisierend – Priester der katholischen Kirche6. Der Fokus der Studie liegt auf autochthonen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern.7 4
5 6 7
In den vergangenen Jahren erschien eine Vielzahl von Artikeln in verschiedenen Deutschschweizer Print- und Onlinemedien zum Thema „Sprache(n) in der Deutschschweiz und Deutsche in der Deutschschweiz“ (vgl. z. B. FORSTER 2013, HÄTTENSCHWILER 2014, VON MATT 2010, WIDMER 2010, WYSS 2010, ZWEIFEL 2010, 2012a, 2012b, 2013, WERLEN 2015). Ausserdem führt beispielsweise der Tages-Anzeiger online verschiedene Dossiers zum Thema (neu heissen diese nicht mehr „Dossier“, sondern „Stichwort“), in denen diverse Artikel zu einem Themenbereich gesammelt werden: „Deutsche in Zürich“ [40 Artikel, , Stand: 20.02.2018] bzw. „Deutsche in der Schweiz“ [33 Artikel sowie eine Bildstrecke, , Stand 20.02.2018] sowie „Schweizerdeutsch-Debatte“ [25 Artikel, , Stand: 20.02.2018], wobei die einzelnen Artikel in verschiedenen Dossiers auftauchen können. Die Diskussionen um den Stellenwert bzw. den Umgang mit den beiden Varietäten ist aber kein auf die 2010er Jahre beschränktes Phänomen. KROPF (1986, 3) erwähnt Ähnliches in Bezug auf die 1980er Jahre. In der katholischen Kirche sind nur diejenigen Priester Pfarrer, die die Leitung einer Gemeinde innehaben. Im Rahmen eines Exkurses werden Einblicke in den intendierten Sprachgebrauch von allochthonen Pfarrpersonen in der Deutschschweiz gewährt (vgl. Kap. 9.10). Als „allochthon“ werden in der vorliegenden Studie – der Definition von CHRISTEN et al. (2010, 17) folgend – Personen bezeichnet, die keinen Deutschschweizer Dialekt sprechen. Ihre Erstsprache ist also
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Einleitung
Die Untersuchung dieser spezifische Berufsgruppe lohnt sich aus verschiedenen Gründen: Sprache ist das Berufswerkzeug Nummer eins für diese Sprecherinnen und Sprecher, sie kommen damit in beiden medialen Kontexten, schriftlich und mündlich, täglich in Kontakt (z. B. in der Seelsorge, im kirchlichen Unterricht, in der Gottesdienstvorbereitung, im persönlichen Bibelstudium etc.). Als ausgebildete Theologinnen und Theologen sind sie den kritischen Umgang mit Sprache gewohnt; sie sind sprachbewusste und -affine Menschen, bilden doch Kenntnisse in drei alten Sprachen (Latein, Altgriechisch, Hebräisch) die Voraussetzung für ein erfolgreiches Studium. Pfarrpersonen sind aber auch Akademikerinnen und Akademiker mit Bodenhaftung: Ihre Arbeit zwingt sie dazu, ihr theologisches Fachwissen für die breite Bevölkerung herunterzubrechen. Innerhalb der (christlichen) Bevölkerung kann ihnen durchaus eine gewisse Vorbildfunktion bezüglich Sprache und ihrer Verwendung zugesprochen werden: Pfarrerinnen und Pfarrer können – obwohl sie gesellschaftlich in den vergangenen Jahren an Prestige verloren haben8 – als Modellsprecher/-innen des Standarddeutschen (vgl. dazu AMMONS „Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät“, AMMON 1995, 80) bezeichnet werden. Der Blick auf diese spezielle Bevölkerungsgruppe und damit hinein in die Deutschschweizer Kirchen ist aber nicht nur wegen der Rolle von Pfarrpersonen als sprachliches Vorbild von Interesse: Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs und der Spracheinstellungen von Pfarrerinnen und Pfarrern in der Deutschschweiz bietet sich insbesondere auch deshalb an, weil die Kirche traditionell einen der Kontexte darstellt, in denen sogenannter „situationsinduzierter Standardgebrauch“ (vgl. CHRISTEN et al. 2010, 13–14 und Kap. 2.2.2) vorkommt, wo der Gebrauch von Standarddeutsch institutionalisiert ist. Die oben angesprochenen Entwicklungen haben aber dazu geführt, dass der Dialekt vermehrt Domänen einnimmt, die ursprünglich der Standardsprache vorbehalten waren, darunter auch die Kirchen der Deutschschweiz. Es stellt sich also die Frage, wie sich die Situation in den Deutschschweizer Kirchen in den 2010er Jahren präsentiert. Die Frage der Sprachformenwahl in Kirchen der Deutschschweiz lässt sich nicht getrennt von allgemeinen Entwicklungen in der Bevölkerung betrachten: „Die Kirche war und ist von diesen sprachlichen Veränderungen [= Mundartwellen; S.O.] ebenso selbstverständlich mitbetroffen wie jeder andere gesellschaftliche Teilbereich“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 74), allenfalls mit einiger zeitlicher Verzögerung: „Der institutionell-kirchliche Sprachgebrauch hinkt der gesamtgesellschaftlichen Sprachentwicklung um einige Jahre oder Jahrzehnte hinterher.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 120) Ein Blick hinter die Kirchen-
8
entweder nicht Deutsch oder sie sind deutschsprachig, verfügen aber über keine muttersprachliche Kompetenz in einem Deutschschweizer Dialekt. Vgl. die Daten für Deutschland (Institut für Demoskopie Allensbach 2013), die zeigen, dass der Beruf „Pfarrer/Geistlicher“ im Jahr 2013 zwar noch an sechster Stelle der Berufe genannt wird, vor denen die Befragten am meisten Achtung haben (29 % im Vergleich zu 76 % für „Arzt“), aber im Vergleich zu den Neunzigerjahren klar an Ansehen eingebüsst hat (1995: 42 %). Für die Schweiz liegen keine vergleichbaren Studien vor, die Zahlen können aber – mit einer gewissen Vorsicht betreffend genaue Werte – wohl in der Tendenz übertragen werden.
Theoretische Einbettung
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mauern verspricht interessante Erkenntnisse zum Verhältnis von Dialekt und Standarddeutsch in diesem spezifischen Gebrauchskontext. Neben dem tatsächlichen Sprachgebrauch bilden die Spracheinstellungen der Pfarrerinnen und Pfarrer in der vorliegenden Studie einen zweiten Schwerpunkt: Konkret sollen die Einstellungen gegenüber Dialekt und Standarddeutsch sowie der intendierte Sprachgebrauch der Pfarrpersonen untersucht werden. Dafür wird der Blick über den engen Raum der Kirche hinaus geweitet und der öffentliche Diskurs (mit-)einbezogen, indem die Einstellungen von Pfarrpersonen zu aktuellen Fragen bezüglich der Varietätenverteilung in der Deutschschweiz ermittelt werden. Dies ist legitim und nötig: Die Frage nach dem Umgang mit den beiden Varietäten Schweizerdeutsch und Standarddeutsch in der Deutschschweiz ist, wie bereits gezeigt, seit geraumer Zeit (wieder) Thema einer sehr breiten Öffentlichkeit; die Diskussion wird letztlich auch von den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber den beiden Sprachformen bestimmt. Pfarrerinnen und Pfarrer sind Teil der Deutschschweizer Sprachgemeinschaft und somit potentielle Mitgestalterinnen und -gestalter des Diskurses um die Bedeutung von Dialekt und Standarddeutsch. In ihrer beruflichen Funktion kommt ihnen sicherlich eine aktive Rolle bei der Gestaltung zu. Die Untersuchung fokussiert dabei auf Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Kirche, da sie in der sprachlichen Gestaltung der Gottesdienste mehr Freiheiten geniessen als ihre katholischen Kollegen (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.1). Sowohl die Analyse der Sprachgebrauchs- als auch jene der Spracheinstellungsdaten stützt sich hauptsächlich auf die Daten von reformierten Pfarrpersonen aus fünf verschiedenen Deutschschweizer Kantonen. Ergänzend werden aber auch die Varietätenwahl und die Einstellungen von sechs Priestern analysiert. 1.3 THEORETISCHE EINBETTUNG Die vorliegende Untersuchung bietet eine Verknüpfung linguistischer Fragestellungen mit Fragen, die für Theologinnen und Theologen von Relevanz sind. Sprache ist für die (praktische) Theologie und insbesondere für den Pfarrberuf unverzichtbar. Die Botschaft der Bibel wird durch Sprache verkündet. Sprache ermöglicht erst die Interaktion mit der Gemeinde, den Menschen. In der Deutschschweiz haben die Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Ausübung ihres Berufs dabei die „Qual der Wahl“ zwischen zwei Varietäten. Die Studie leistet einen Beitrag zur Diskussion über die adäquate linguistische Beschreibung der spezifischen Sprachsituation der Deutschschweiz. Die Debatte über die passende terminologische (und damit bis zu einem gewissen Grad auch ideologische) Charakterisierung bewegt sich (grösstenteils) zwischen Diglossie und Bilingualismus (vgl. dazu Kap. 2.4). Um die Frage beantworten zu können, welches Modell passender ist, muss in erster Linie der authentische – sowohl mündliche wie auch schriftliche – Sprachgebrauch von autochthonen Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprechern herangezogen werden. Letztlich bildet dieser die Entscheidungsbasis dafür, ob die Deutschschweiz eher mit Diglossie oder mit Bilingualismus passender beschrieben wird. Wie in der Folge detailliert ausgeführt wird, spie-
30
Einleitung
len aber auch die Spracheinstellungen der Deutschschweizer Bevölkerung eine gewisse Rolle für diese Entscheidung, da die Frage, ob Standarddeutsch als Teil der eigenen Sprache oder als (eine Art) Fremdsprache eingeschätzt wird, im Bilingualismusmodell relevant ist. Inwiefern bei der entsprechenden Einordnung des Standarddeutschen vonseiten der Sprecherinnen und Sprecher auch ein Bewusstsein für die Plurizentrizität des Standarddeutschen von Bedeutung ist, wird in der Untersuchung ebenfalls thematisiert. Der Fokus der Untersuchung des Sprachgebrauchs liegt auf Wechseln zwischen den beiden Varietäten Dialekt und Standarddeutsch. Die theoretische Einordnung dieses Phänomens geschieht vor dem Hintergrund der soziopragmatischen Perspektive von Code-Switching, wonach dieses als Kontextualisierungshinweis dient und ihm funktionale Bedeutung zukommt. Für die Varietätenwechsel vom Standarddeutschen in den Dialekt wird eine Einteilung in Abhängigkeit des soziopragmatischen Gewichts vorgeschlagen, wie sie für die Wechsel in die umgekehrte Richtung bereits vorliegt (vgl. CHRISTEN et al. 2010). Für die Analyse des zweiten Schwerpunktes, der Spracheinstellungen, wird auf den kontextsensitiven Ansatz zur Einstellungserforschung zurückgegriffen, mithilfe dessen die Vielschichtigkeit von Spracheinstellungen adäquat beschrieben werden kann. Die eindimensionale Interpretation von Spracheinstellungen bzw. Spracheinstellungsäusserungen in der bisherigen Forschung zur Deutschschweiz hat die ausgeprägte Ausbildung von (positiven wie negativen) Stereotypen zu den beiden Varietäten Dialekt und Standarddeutsch eher unterstützt. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag zur Aufschlüsselung von bisher als widersprüchlich taxierten Einstellungen und stellt einen Versuch dar, die Vielschichtigkeit von Spracheinstellungen aufzuzeigen und zu interpretieren. Objektive und subjektive Sprachdaten werden in dieser Untersuchung als grundsätzlich eigenständige Datenkategorien angesehen. Sie werden in einem ersten Schritt auch unabhängig voneinander analysiert und interpretiert. Dieser Ansatz schliesst aber die Analyse möglicher Wechselwirkungen der beiden Datenarten – im Sinne von Übereinstimmungen bzw. auch Inkonsistenzen – explizit nicht aus: Eine diesbezügliche Interpretation der Daten ist Teil der Studie (vgl. Kap. 11). 1.4 FORSCHUNGSFRAGEN Die folgenden Themenbereiche und konkreten Forschungsfragen stehen im Zentrum der Untersuchung: –
Vorschriften der Kantonalkirchen/Bistümer: Gibt es vonseiten der reformierten Kantonalkirchen bzw. der katholischen Bistümer oder allenfalls der Kirchgemeinden und Pfarreien Vorschriften bezüglich der Sprachform, die im Gottes-
Forschungsfragen
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dienst, bei Kasualien9 oder im konfessionellen Unterricht zu verwenden ist? Falls ja, wie lauten diese? (Kap. 7) Tatsächlicher Varietätengebrauch im Sonntagsgottesdienst: Welche Varietät(en) wird (werden) in den Gottesdiensten verwendet? An welchen Stellen im Gottesdienst finden allfällige Varietätenwechsel zwischen Dialekt und Standarddeutsch statt? Lassen sich diese kategorisieren? Welche Schlüsse lassen sich aus den Resultaten in Bezug auf die linguistische Beschreibung der Deutschschweizer Sprachverhältnisse ziehen? (Kap. 8) Intendierter Varietätengebrauch im Berufsalltag: Welche Varietäten verwenden Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelisch-reformierten und der römisch-katholischen Landeskirche in der Deutschschweiz gemäss eigenen Aussagen in ihrem Berufsalltag: in Gottesdiensten, im Religionsunterricht, für Kasualien, für Seelsorgegespräche? Welche Entscheidungsfaktoren führen sie für die Varietätenwahl in ihren Gottesdiensten an? (Kap. 9) Dialektvorlagen: Welche Rolle spielen Dialektlieder und Dialektbibeln in den Gottesdiensten? Welche Dialektvorlagen werden verwendet? Welche Bedeutung hat die dialektale Vielfalt der Dialektvorlagen für deren Verwendung? (Kap. 9.6) Einstellungen: Welche Spracheinstellungen haben Pfarrerinnen und Pfarrer dem Dialekt und dem Standarddeutschen („Hochdeutschen“)10 gegenüber? Wie positionieren sich Pfarrpersonen bezüglich Einstellungen gegenüber Dialekt und Standarddeutsch innerhalb der Deutschschweizer Sprachgemeinschaft? Lassen sich ihre Einstellungen mit den in der bisherigen Forschung erhobenen Einstellungen von Deutschschweizer Personen vergleichen? Besteht zwischen den geäusserten Einstellungen und dem Sprachverhalten ein Zusammenhang? (Kap. 10 und 11) Ausbildung: Welche Rolle spielt die Sprachformenfrage in der Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Deutschschweiz? (Kap. 9.8)
Um diese Forschungsfragen zu beantworten, wurden mittels verschiedener Methoden Sprachgebrauchs- und Spracheinstellungsdaten, also objektive und subjektive Daten, von Pfarrerinnen und Pfarrern in der Deutschschweiz erhoben. Die Resultate zeigen, wo der kirchliche Sprachgebrauch heute steht, ob ihn die jüngste Mundartwelle definitiv erreicht hat oder ob Faktoren wie die Zuwanderung von Fremd9
„Als Kasualien oder als Amtshandlungen werden die liturgisch geordneten kirchlichen Handlungen mit Ausnahme des sonntäglichen Gottesdienstes bezeichnet. Im Unterschied zum Gottesdienst werden die kasuellen Feiern nicht an regelmäßig wiederkehrenden Daten des Kalender- oder Kirchenjahres, sondern aus einem bestimmten Anlaß abgehalten. Sie beziehen sich auf eine einmalige und einzigartige Situation (Kasus) im Leben des einzelnen Christen oder im Lebenszusammenhang der christlichen Gemeinschaft.“ (STECK 1988, 673) Es handelt sich also beispielsweise um Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. 10 In dieser Studie wird der Terminus „Standarddeutsch“ für die Beschreibung der in der Deutschschweiz verwendeten Standardvarietät verwendet. Wo auf die subjektiven Meinungen von Sprecherinnen und Sprechern eingegangen wird, wird der Terminus „Hochdeutsch“ verwendet. Zudem wird er benutzt, wenn in den zitierten Quellen von „Hochdeutsch“ die Rede ist.
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Einleitung
sprachigen bzw. Deutschen in die Deutschschweiz einen Gegenpol zur Ausbreitung des Dialekts bilden, sodass die Entwicklung in die andere Richtung – in Richtung eines vermehrten Standardgebrauchs – geht.11 1.5 AUFBAU DER VORLIEGENDEN UNTERSUCHUNG Die vorliegende Untersuchung besteht aus einem theoretischen Teil, der die Kapitel 2 bis 6 umfasst, einem empirischen Teil mit den Kapiteln 7 bis 11 sowie dem abschliessenden Kapitel 12. In Kapitel 2 wird ein Blick auf die Deutschschweizer Sprachsituation geworfen. Dabei wird zunächst beschrieben, wie sich die Verwendung der beiden Sprachformen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit präsentiert. Anschliessend werden die wichtigsten theoretischen Konzepte bezüglich der spezifischen Sprachsituation vorgestellt. Kapitel 3 ist der Betrachtung des Untersuchungsgegenstands, Dialekt und Standarddeutsch in den Deutschschweizer Landeskirchen, gewidmet. Dafür werden zuerst in aller Kürze die beiden untersuchten Landeskirchen charakterisiert, um anschliessend auf das Untersuchungsgebiet der vorliegenden Studie einzugehen. Der Ablauf von reformierten und katholischen Gottesdiensten wird vorgestellt, bevor der aktuelle Forschungsstand betreffend die Varietätenverwendung und -einschätzung in den Kirchen der Deutschschweiz sowohl aus linguistischer wie auch theologischer Sicht referiert wird. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Beschreibung der wichtigsten dialektalen Vorlagen, die für den Gebrauch im Gottesdienst beider Kirchen verfügbar sind. In Kapitel 4 wird das theoretische Fundament gelegt, um die im Sprachgebrauch von Pfarrpersonen auftretenden Varietätenwechsel zu klassifizieren: Obwohl der Terminus Code-Switching lange nur für Wechsel zwischen zwei verschiedenen Sprachen eingesetzt wurde, zeigt die neuere Forschung, dass dieser sich ausgezeichnet eignet, um auch Wechsel zwischen Dialekt und Standarddeutsch in der Deutschschweiz einzuordnen. Es wird in diesem Kapitel im Speziellen auf die soziopragmatische Perspektive von Code-Switching eingegangen. Um die theoretische Fundierung für die Spracheinstellungsuntersuchung geht es in Kapitel 5. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, dass in der modernen Soziolinguistik ein kontextsensitiver Ansatz zur Einstellungserforschung verfolgt wird, mithilfe dessen versucht wird, der Vielschichtigkeit der Spracheinstellungen gerecht zu werden. Ein Überblick über ausgewählte Spracheinstellungsstudien für die Deutschschweiz in diesem Kapitel bildet ab, dass das Bild der Spracheinstellungen der Deutschschweizer Bevölkerung von einer Vielzahl von Stereotypen geprägt ist. Ausserdem wird deutlich gemacht, worin die Problematik bisheriger 11 Auf eine diachrone Betrachtung muss in der vorliegenden Untersuchung weitgehend verzichtet werden, da keine vergleichbaren Daten vorhanden sind. Wo Hinweise auf den Sprachgebrauch von Pfarrpersonen aus der Literatur verfügbar sind, werden diese in die Untersuchung eingeflochten.
Aufbau der vorliegenden Untersuchung
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Spracheinstellungserhebungen in der Deutschschweiz besteht und wie dieser in der vorliegenden Untersuchung begegnet wird. Den theoretischen Teil der Studie schliesst eine Beschreibung des Korpus und der verwendeten Methoden in Kapitel 6 ab. Im ersten Kapitel des empirischen Teils, Kapitel 7, stehen die Sprachregelungen in der reformierten und katholischen Kirche im Zentrum. Dabei wird zunächst ein Blick auf bestehende Regelungen in den Kirchen geworfen. Anschliessend werden die Antworten auf eine briefliche Umfrage bei beiden Landeskirchen präsentiert. Die Einschätzungen der Pfarrpersonen die Sprachregelungen betreffend ergänzen die Ergebnisse. Dem tatsächlichen Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Sonntagsgottesdienst ist Kapitel 8 gewidmet. Die Analyse der Gottesdienstaufnahmen hinsichtlich verwendeter Varietäten und auftretender Varietätenwechsel wird für die reformierten und katholischen Gottesdienste getrennt vorgenommen. Die Varietätenwahl aus Sicht der Pfarrpersonen selbst sowie mögliche Einflussfaktoren auf die Wahl der Sprachform werden in Kapitel 9 dargestellt. Es handelt sich um das erste von zwei Kapiteln, in denen subjektive Daten analysiert werden. In Kapitel 10 werden die Spracheinstellungen der Pfarrerinnen und Pfarrer zu Dialekt und Standarddeutsch untersucht und diskutiert. Eine Synopse aller Resultate in Kapitel 11 sowie eine Zusammenfassung und ein Ausblick in Kapitel 12 schliessen die Untersuchung ab.
I
THEORETISCHER HINTERGRUND
2 DIE DEUTSCHSCHWEIZER SPRACHSITUATION: SPRACHFORMEN UND KONZEPTE Die Schweiz verfügt offiziell über vier Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch (Bundesverfassung 1999, Art. 4 „Landessprachen“).12 Deutsch ist die dominierende Landessprache der Schweiz, sie wird im Jahr 2016 von 72.3 % der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung mit Schweizer Staatsangehörigkeit gesprochen, in absoluten Zahlen sind dies 3,8 Millionen Sprecher/-innen (vgl. Bundesamt für Statistik 2018d).13 Die vier Landessprachen verteilen sich nicht gleichmässig über die Schweiz: Die Viersprachigkeit ist ein Charakteristikum des Bundes, jedoch nicht der 26 Schweizer Kantone14. Diese sind mehrheitlich einsprachig – davon 17 deutschsprachige, vier französischsprachige, ein italienischsprachiger –, teils zweisprachig (Bern, Freiburg, Wallis), und nur einer ist offiziell dreisprachig (Graubünden: Deutsch, Rätoromanisch, Italienisch). Die Viersprachigkeit beschreibt zudem die Sprachsituation in der Schweiz nur adäquat, wenn man ausschliesslich die offiziellen Landessprachen in Betracht zieht: Betrachtet man die Anzahl Sprecher/-innen von Nichtlandessprachen, stellt man eine markante Zunahme derselben von 0.7 % im Jahr 1950 auf 8.5 % im Jahr 200015 fest: „Die Schweiz ist von einem viersprachigen zu einem vielsprachigen Land geworden.“ (SIEBER 2010, 373) In der Deutschschweiz sind zwei Varietäten des Deutschen präsent: Schweizerdeutsch16 einerseits, Standarddeutsch andererseits. Die Deutschschweizer Sprach12 Deutsch, Französisch und Italienisch sind gleichzeitig „Amtssprachen des Bundes“. Rätoromanisch hält den Status der Amtssprache nur „im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache“ (Bundesverfassung 1999, Art. 70 „Sprachen“). 13 Der Anteil des Französischen als Hauptsprache liegt bei 23.7 % (1,25 Millionen), derjenige des Italienischen bei 6.2 % (329’361) und derjenige des Rätoromanischen bei 0.7 % (35’581). Nichtlandessprachen werden von 9.5 % (589’916) der Bevölkerung schweizerischer Nationalität als Hauptsprache gesprochen. Betrachtet man die gesamte Wohnbevölkerung, liegt der Anteil des Deutschen bei 63.5 %, des Französischen bei 22.9 %, des Italienischen bei 8.5 % und des Rätoromanischen bei 0.5 %. Die Nichtlandessprachen machen 21.9 % aus (vgl. Bundesamt für Statistik 2018d). 14 Die Schweiz besteht aus 26 Kantonen. Sechs davon (Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Nidwalden und Obwalden, Appenzell-Ausserrhoden und Appenzell-Innerrhoden) wurden in der alten Bundesverfassung (gültig bis 1999) als „Halbkantone“ bezeichnet (Bundesverfassung 1874, Art. 72, 73, 123). In der neuen Verfassung (Bundesverfassung 1999) kommt der Begriff nicht mehr vor, er wird aber beispielsweise vom Bundesamt für Statistik noch verwendet (Bundesamt für Statistik 2018b). 15 Die aktuellen Zahlen sind mit jenen vor dem Jahr 2000 nicht vergleichbar, da ab 2000 in der Strukturerhebung mehrere Hauptsprachen angegeben werden konnten. Der Anteil der Nichtlandessprachen hat von 2000 zu 2016 stark zugenommen. Vgl. zu den Zahlen Fussnote 13. 16 Vgl. Fussnote 2.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
situation zeichnet sich durch „die ständige Präsenz“ dieser zwei Varietäten aus (SIEBER 2013, 108; Hervorhebung im Original). Die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer sind „zweisprachig innerhalb der eigenen Sprache“, wie es einst der Schweizer Schriftsteller HUGO LOETSCHER (1986, 28) prägnant auf den Punkt brachte. Dabei handelt es sich nicht um ein Miteinander von Dialekt und Standarddeutsch, sondern eher um ein Nebeneinander der beiden Sprachformen, wie im Folgenden klar werden wird. Eine erste – sehr deutliche – Annäherung an dieses Nebeneinander bildet die Beschreibung SIEBERS (2010, 374): „In der Deutschschweiz schreibt man – prinzipiell Standardsprache, und man spricht – ebenso prinzipiell – die Mundarten.“ [Hervorhebung im Original] Im Folgenden wird die Sprachsituation in der Deutschschweiz genauer beschrieben. Dabei werden zunächst die Termini Schweizerdeutsch und Standarddeutsch besprochen und die Verwendung dieser beiden Varietäten in Mündlichkeit und Schriftlichkeit beleuchtet. Anschliessend wird auf Mischphänomene zwischen Dialekt und Standarddeutsch eingegangen, bevor die terminologische Diskussion wiedergegeben wird, die seit Jahren geführt wird und sich zwischen dem Diglossieund dem Bilingualismus-Begriff bewegt. Es wird in diesem Zusammenhang aber auch ein dritter Vorschlag gezeigt. Schliesslich wird das Konzept der Plurizentrizität mit Fokus auf die Deutschschweiz diskutiert. 2.1 SCHWEIZERDEUTSCH Der Terminus „Schweizerdeutsch“ dient nicht, wie es scheinen könnte, der Bezeichnung eines einheitlichen Dialekts, der von allen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern gesprochen wird, sondern ist ein Oberbegriff für die Vielzahl kleinräumiger dialektaler Varietäten in der Deutschschweiz, die fast ausnahmslos dem Hochalemannischen und dem Höchstalemannischen zugeordnet werden (die Mundart der Stadt Basel ist niederalemannisch, die Mundart von Samnaun im Kanton Graubünden wird den südbairisch-tirolischen Dialekten zugeordnet17, vgl. zur Dialekteinteilung SONDEREGGER 2003, 2838–2839). „Schweizerdeutsch“ wird in der Deutschschweiz synonym verwendet mit „Dialekt“ oder „Mundart“: Der Deutschschweizer spricht „Schwiizerdüütsch“, „Dialekt“ oder „Mundart“ und meint damit meist seine eigene dialektale Varietät. Diese dialektalen Varietäten sind in der Regel aber nicht verbindlich kodifiziert.18 Eine grobe dialektale Einteilung der Deutschschweiz aufgrund von Nord-Südund Ost-West-Gegensätzen in vier Regionen ist möglich (vgl. HOTZENKÖCHERLE 1984), dabei wird der Ost-West-Gegensatz heute als wichtigere Dialektgrenze erachtet (vgl. HAAS 2000, 63), eine kleinräumigere Einteilung der Dialekte ist indessen durchaus sinnvoll. Zählen lassen sich die verschiedenen Dialekte aber nicht: 17 Diese Einschätzung basiert jedoch auf über 90 Jahre alten Daten, vgl. OBERHOLZER (2016) für ein aktuelles Projekt zur dialektalen Einordnung der in Samnaun gesprochenen Varietät(en). 18 Es gibt aber diverse Dialektwörterbücher, für eine Auflistung vgl. Schweizerisches Idiotikon (2014).
Schweizerdeutsch
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[…] wie viele Mundarten es aber gibt, das weiss auch der Schweizer nicht zu sagen. Gewöhnlich benennt er seine Mundart nach dem Herkunftskanton, was für eine ungefähre Charakterisierung genügen mag. (HAAS 2000, 60)
Die Vielzahl an Dialekten verhindert jedoch im Normalfall die sprachliche Verständigung nicht: Jeder spricht seinen Dialekt – AMMON (1995, 294) benützt für diese Art der Kommunikation den Terminus „polydialektaler Dialog“ –, im Fall der höchstalemannischen Dialektsprecher allenfalls mit geringfügigen Anpassungen (vgl. dazu z. B. KOLDE 1981, 69–70, MATTER / ZIBERI 2001, MATTER / WERLEN 2004, WERLEN 2005, WERLEN 2006). Die rezeptive Sprachkompetenz der Deutschschweizer/-innen in Bezug auf andere Schweizer Dialekte ist sehr hoch, weil sich einerseits durch die (in den letzten Jahren verstärkte) berufliche Mobilität Dialektkontakte ergeben und andererseits sowohl das staatliche Fernsehen als auch das staatliche Radio Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Dialektregionen der Deutschschweiz beschäftigen, sodass sich Deutschschweizer/-innen beim täglichen Medienkonsum gezwungenermassen rezeptiv mit der Dialektvielfalt auseinandersetzen müssen19. Die Mobilität der Deutschschweizer kann aber auch zu Dialektanpassungen der Zugezogenen führen, wobei man zwischen langfristiger und kurzfristiger Akkommodation unterscheiden muss. CHRISTEN (2000, 35) nennt – der Terminologie HOFERS (1997) folgend – dialektal flexible Sprecher/-innen (etwas plakativ) „Chamäleons“, Sprecher/-innen, die dialektal stabil (sowohl kurz- als auch langfristig) sind, werden von ihr als „Fossilien“ bezeichnet.20 2.1.1 Dialekt als Sprachform der Mündlichkeit Schweizerdeutsch ist in der Deutschschweiz die Sprachform für die alltägliche Kommunikation, „die unstrittig normale mündliche Sprachform der informellen Situation – die deutschschweizerische Umgangssprache“ (SIEBER 2010, 374; Hervorhebung im Original).21 Der Terminus „Umgangssprache“ ist allerdings nicht unproblematisch, bezeichnet dieser doch in Deutschland und Österreich die Sprachform(en) zwischen den Polen Dialekt und Standardsprache, die es in der Schweiz in dieser Form nicht gibt (vgl. z. B. AMMON 1995, 289–290). In der Schweiz gibt es nur „entweder – oder“: Der Deutschschweizer spricht Mundart oder Standardsprache, und jeder Deutschschweizer kann unterscheiden, ob sein Gesprächspartner gerade Mundart oder Standardsprache spricht. (SIEBER 2010, 374)22
19 Zum Gebrauch der Varietäten im Radio vgl. RAMSEIER (1988), BURRI et al. (1995) und GEIGER et al. (2006). 20 Zum Thema Dialektanpassung in der Deutschschweiz vgl. z. B. CHRISTEN (1997, 2000a, 2010), WERLEN et al. (2002), OBERHOLZER (2012). 21 Als die „Sprache des alltäglichen Umgangs“ bezeichnen AMMON / BICKEL / LENZ (2016, L) die Deutschschweizer Dialekte. 22 Trotz klarer Trennung der beiden Varietäten sind Mischphänomene möglich, vgl. dazu Kap. 2.3.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
Eine (oder mehrere) Zwischenstufe zwischen den beiden Polen existiert in der Deutschschweiz nicht, es handelt sich also in keinem Fall um eine Sprachsituation mit Kontinuum zwischen Dialekt und Standardsprache (wie in Süddeutschland oder Österreich23), sondern um eine diglossische (oder allenfalls bilinguale, vgl. die Diskussion in Kap. 2.4) Situation. „Der Dialekt wird [in der Schweiz; S.O.] von allen sozialen Gruppen verwendet und ist daher nicht sozial markiert.“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, LI) Die Varietätenwahl wird in der Schweiz weder von der „soziale[n] und regionale[n] Herkunft der Sprecherin oder des Sprechers, [vom] Bildungsgrad, [der] Einschätzung der Situation (offiziell vs. privat)“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, XLVI) noch vom Thema beeinflusst: Entgegen der Meinung vieler spielt der Gegenstand, über den gesprochen wird, keine Rolle. Grundsätzlich lässt sich über jeden Gegenstand in beiden Sprachformen sprechen. (SIEBER 2010, 375; Hervorhebung im Original).
Ebenso wenig haben die „emotionale Beteiligung […] [oder] stilistische Absichten“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, XLVI) einen Einfluss, dies im Gegensatz zur Situation in Österreich, wo all die genannten Faktoren die Wahl der Varietät mitbestimmen. Einzig die Nicht-Dialektkompetenz eines Gesprächspartners kann einen Einfluss auf die Varietätenwahl haben (vgl. Kap. 2.2). Kurz gefasst: Personen, die des Schweizerdeutschen mächtig sind und in informellen Situationen Standarddeutsch mit einem anderen Deutschschweizer sprechen, verstossen gegen pragmatische Regeln (vgl. HAAS 1998, 78). 2.1.2 Dialekt als Sprachform der Schriftlichkeit Nicht mehr in jedem Fall gegen pragmatische Regeln verstösst, wer den Dialekt in der Schriftlichkeit verwendet. Wie stark sich die Situation in den vergangenen 30 Jahren gewandelt hat, zeigt ein Satz aus einem Aufsatz von HAAS aus dem Jahr 1998: Genau so selbstverständlich beherrscht die Standardsprache das Reich der Schrift. Die meisten Deutschschweizer haben kaum je einen Satz in ihrem Dialekt geschrieben, fast alle finden es beschwerlich, Dialekt zu lesen. (HAAS 1998, 78)
Diese Beschreibung trifft auf die Situation, wie sie sich heute präsentiert, keinesfalls mehr zu, und es stellt sich die Frage, ob sie in dieser Deutlichkeit in den späten Neunzigerjahren24 überhaupt zutraf, geht doch CHRISTEN nur sechs Jahre später davon aus, dass es 23 Zur Frage, ob auch im alemannischsprachigen Bundesland Vorarlberg – wie in der Vergangenheit angenommen – eine Diglossiesituation wie in der Deutschschweiz vorherrscht oder ob es sich bei der dortigen Sprachsituation nicht doch eher um ein Dialekt-Standard-Kontinuum handelt, vgl. ENDER / KAISER (2014) und KAISER / ENDER (2015). 24 RIS schrieb bereits 1980, also 18 Jahre, bevor HAAS’ Aufsatz entstand, dass „der Gebrauch der geschriebenen Mundart – außerhalb der von breiten Bevölkerung gelesenen Mundartliteratur –
Standarddeutsch
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heute in der Deutschschweiz vermutlich eine Gruppe von wohl vor allem jüngeren Menschen [gibt], die nun nicht nur in der Mündlichkeit über Dialekt und Standard verfügt, sondern auch in der Schriftlichkeit, und die vielleicht sogar häufiger und mehr Dialekt als Standardsprache schreibt (CHRISTEN 2004, 82–83; Hervorhebung S.O.).
Diese Entwicklung wurde durch das Aufkommen digitaler Textnachrichten (SMS) in der Mitte der Neunzigerjahre sowie des Internets begünstigt: Die alleinige Dominanz des Standarddeutschen als Schriftsprache in der Deutschschweiz wurde endgültig aufgebrochen. Dass der Dialekt das Standarddeutsche in diesen handyund internetbasierten Kommunikationsformen – SMS (und seinen Nachfolgern wie WhatsApp, Facebook Messenger u. Ä.), Chat, E-Mails usw. – abgelöst hat (oder allenfalls gar nie ablösen musste, weil er von Anfang an den Vorrang hatte?), zeigen auch die Daten aus dem Projekt sms4science: „Rund drei Viertel der deutschsprachigen SMS sind in Schweizerdeutsch verfasst.“ (STÄHLI / DÜRSCHEID / BÉGUELIN 2011) Ausserhalb dieser Kontexte, in denen der Dialekt schriftlich verwendet wird, gilt der schriftliche Dialektgebrauch nach wie vor als Verstoss gegen eine pragmatische Regel in der Deutschschweiz. Dies trifft insbesondere (aber nicht nur) auf die Sachprosa zu.25 2.2 STANDARDDEUTSCH Standarddeutsch wird in der Deutschschweiz in erster Linie als schriftliche Sprachform verwendet. In der Mündlichkeit ist sein Platz durch die starke Präsenz des Schweizerdeutschen eingeschränkt. Das Standarddeutsche der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer unterscheidet sich sowohl in seiner schriftlichen wie seiner mündlichen Form vom Standarddeutschen, das in Deutschland und Österreich verwendet wird: Die standardsprachlichen Unterschiede treten auf allen sprachlichen Ebenen auf und machen Schweizer Standarddeutsch zu einer Standardvarietät des Deutschen, vgl. die Diskussion zur Plurizentrizität in Kap. 2.5. 2.2.1 Standarddeutsch als Sprachform der Schriftlichkeit Standarddeutsch ist die normale Sprachform der Schriftlichkeit in der Deutschschweiz; in der Schriftlichkeit hält es – ausserhalb der privaten Kommunikation, besonders derjenigen, die sich am Pol der konzeptionellen Mündlichkeit bewegt, vgl. Kap. 2.1.2 – unangefochten seine Stellung. Die Bedeutung des Standardsehr stark zugenommen hat“ (RIS 1980, 122; Hervorhebung im Original) und erwähnt die Werbung, Kontaktinserate sowie vereinzelte Todesanzeigen im Dialekt als Beispiel, bezieht sich hier also nicht auf den individuellen Sprachgebrauch aller Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer. 25 In die Kategorie „Spielerei“ gehören denn auch die sechs bisherigen „Blick am Abend“-Ausgaben, die am 28.5.2013, am 2.6.2014, am 2.6. 2015, am 2.6.2016, am 2.6.2017 und am 4.6.2018 in Dialekt erschienen sind.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
deutschen für die Schriftlichkeit drückt sich – nebst dem Gebrauch von „Hochdeutsch“ – auch in den Termini „Schriftdeutsch“ bzw. „Schriftsprache“ aus, die von den Sprachbenutzerinnen und -benutzern in der Deutschschweiz häufig anstelle des vor allem im wissenschaftlichen Diskurs benutzten Terminus „Standarddeutsch“ verwendet werden. 2.2.2 Standarddeutsch als Sprachform der Mündlichkeit Für die Mündlichkeit spielt Standarddeutsch in der Deutschschweiz eine untergeordnete Rolle, da, wie in Kap. 2.1 erwähnt, die Deutschschweizer Dialekte die alltägliche Umgangssprache der Bevölkerung darstellen. Dennoch wird Standarddeutsch in der Deutschschweiz auch für die mündliche Kommunikation verwendet: Sobald […] eine Situation einen offiziellen oder formellen Anstrich bekommt, kann Standarddeutsch als [gesprochene; S.O.] Sprachform möglich oder sogar obligatorisch werden. Im einzelnen sind hier jedoch sehr verschiedenartige Faktoren wirksam, die je nach Situation unterschiedlich zusammenwirken. Die Regeln für die Wahl der Sprache [= Sprachform; S.O.] sind dementsprechend im Einzelfall sehr kompliziert, viel komplizierter jedenfalls, als es dem Deutschschweizer im allgemeinen bewußt ist. Dieser hat sich im Laufe seines Lebens meist so sehr daran gewöhnt, daß er die Kompliziertheit der Regeln gar nicht bemerkt und ihrer erst gewahr wird, wenn er die Situation einem Außenstehenden beschreiben muß. (LÖTSCHER 1983, 124)
Diese „Kompliziertheit“ lässt sich jedoch in drei Konstellationen von mündlichem Standarddeutschgebrauch schematisch auffächern: CHRISTEN et al. (2010, 13–14) unterscheiden zwischen “situationsinduziertem“, „adressateninduziertem“ und „diskursinduziertem“ Standardgebrauch. Als situationsinduziert gilt der Gebrauch des Standarddeutschen, wenn es in „Gebrauchskontexte[n]“ verwendet wird, „die sich durch hohe Formalität und Distanz auszeichnen oder für welche die Standardsprache institutionalisiert ist“ (CHRISTEN et al. 2010, 13). Sie gehen davon aus, dass es diese Art von Standarddeutschverwendung ist, [die] aus der Perspektive der Sprechergemeinschaft prominent ins Bewusstsein kommt, wenn es um die Präsenz der gesprochenen Standardsprache im Deutschschweizer Sprachleben geht. Es handelt sich um einen Gebrauch der Standardsprache, mit dem die gesamte Deutschschweizer Bevölkerung selbstverständlichen rezeptiven Umgang hat, in deren Produktion aber nur ein geringer Teil involviert ist. (CHRISTEN et al. 2010, 13–14)
Dies entspricht dem oben im Zitat von LOETSCHER erwähnten Standarddeutschgebrauch.26 Zu solch situationsinduziertem Standardgebrauch kommt es beispiels26 Für BERTHELE sind das Zitat LOETSCHERS und ein weiteres von PETER BICHSEL („Nein, das Hochdeutsche ist für uns keine Fremdsprache, nur eine leicht fremde Sprache.“) zwei dieser „Dikta von Deutschschweizer Schriftstellern“, die „in der Regel […] als Aufhänger zur Charakterisierung der Sprachsituation [dienen]“. BERTHELE hält solche Aussagen für problematisch, da sie „keinerlei Präjudizcharakter für die grosse Mehrheit der DeutschschweizerInnen“ hätten, weshalb er das Wort uns im Zitat von BICHSEL für nicht gerechtfertigt hält: „wenn er sich damit auf die Deutschschweizer SchriftstellerInnen beziehen würde, hätte er bestimmt Recht. Mit seiner generischen Referenz auf alle DeutschschweizerInnen ist Bichsels ‚uns‘ aber
Standarddeutsch
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weise in der Schule27 (vgl. dazu u. a. SIEBER / SITTA 1986, SIEBER 1997, BACHMANN / GOOD 2003, GYGER 2005, 2007, OBERHOLZER 2006), in den Medien (vgl. dazu u. a. RAMSEIER 1988, GEIGER et al. 2006, HAVEL 2012), in der Politik (vgl. dazu u. a. STEINER 2006) sowie in der Kirche. Diese Art von Standarddeutschgebrauch wird also im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen. Zu adressateninduziertem Standardgebrauch kann es kommen, wenn autochthone Dialektsprecherinnen und -sprecher mit Personen sprechen, die „sprachlich als allochthon erkennbar“ sind, also wenn sie keinen Deutschschweizer Dialekt sprechen oder „lernersprachliche Dialektabweichungen wahrnehmbar sind“ (CHRISTEN et al. 2010, 14). Während der situationsinduzierte Standardgebrauch eine Art „künstliches“ Verwenden von Standarddeutsch darstellt, da das Standardsprechen nicht durch das Gegenüber, sondern eben alleine durch die Situation induziert ist, dient der adressateninduzierte Standardgebrauch der besseren Verständigung zwischen den Kommunikationspartnern: Die Verständigung kann so sichergestellt werden. Die Kommunikation zwischen Autochthonen und Allochthonen hat – gerade in der Berufswelt – bedingt durch die starke Migration insbesondere aus Deutschland in den vergangenen Jahren stark zugenommen. So verwendeten im Jahr 2016 44.7 % aller Erwerbstätigen in der Deutschschweiz bei der Arbeit (auch) Hochdeutsch (86.2 % Schweizerdeutsch), bei den Schweizerinnen und Schweizern ohne Migrationshintergrund ist es ein Drittel (36.1 % vs. 97.9 % Schweizerdeutsch, vgl. Bundesamt für Statistik 2018c).28 Im Kontakt mit Allochthonen ist adressateninduzierter Standardgebrauch eine „Option“, wird aber nicht von allen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern praktiziert: Eine Rekrutenbefragung von 1985 zeigte, dass junge Deutschschweizer Männer beim Dialekt bleiben, solange die Kommunikation „noch sichergestellt ist“ (SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID 1991, 211). Auch CHRISTEN et al. (2010) zeigen am Beispiel von Deutschschweizer Polizistinnen und Polizisten, die Notrufgespräche von Allochthonen entgegennehmen, dass der adressateninduzierte Standardgebrauch bei weitem nicht die einzige Option für solche Gespräche ist: zweifellos inadäquat, entspricht allenfalls der Realität und / oder dem Wunschdenken einer Bildungselite – gerade im Fall des scheinbar volksnahen Sozialdemokraten Bichsel eine etwas befremdliche Verallgemeinerung.“ (BERTHELE 2004, 130–131) 27 Bis ins Jahr 2000 nahm der Gebrauch des Dialekts in den Schulen der Deutschschweiz jedoch zu, wie die Zahlen der Volkszählung 2000 zeigen (LÜDI / WERLEN 2005, 83–86). Die eher schlechten Ergebnisse Schweizer Schülerinnen und Schüler bei der PISA-Studie 2000 führten dann in den 2000er-Jahren aber zu einer Art Hochdeutsch-Offensive in Deutschschweizer Schulen, bei der die konsequente Verwendung des Standarddeutschen „auf sämtlichen Schulstufen und in allen Fächern“ (EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) 2003, 7) angestrebt wurde (vgl. dazu u. a. OBERHOLZER 2006). 28 Nicht mit diesen Zahlen aus der Strukturerhebung vergleichbar sind die Daten aus der Erhebung zu Sprache, Religion und Kultur 2014 vom Bundesamt für Statistik (Bundesamt für Statistik 2017b): Bei dieser Erhebung wurde explizit nicht nur nach den gesprochenen Sprachen, sondern auch nach dem schriftlichen Sprachgebrauch gefragt („schriftlich, mündlich oder beim Lesen“). Gemäss dieser Erhebung von 2014 verwenden in der Deutschschweiz „81 % der Erwerbstätigen regelmässig Schweizerdeutsch, 87 % Hochdeutsch“ (Bundesamt für Statistik 2017b, 19).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
Weder kommt ausschliesslich und grundsätzlich nur die eine oder nur die andere Varietät zum Einsatz, noch wird die einmal gewählte Varietät zwingend als einzige Varietät beibehalten: „[I]n ungefähr einem Drittel der Gespräche [kommen] beide Varietäten zum Zuge“ (CHRISTEN et al. 2010, 99).29 In einem weiteren Drittel der Gespräche wird nur Standarddeutsch gesprochen. Entscheidend für die Wahl der Varietät ist in erster Linie die Varietät der anrufenden Person – so wird mit Dialekt sprechenden Allochthonen tendenziell ebenfalls Dialekt gesprochen (CHRISTEN et al. 2010, 103) – sowie die „inhaltlich vermittelte Zugehörigkeit zur in group der Anrufenden“ (CHRISTEN et al. 2010, 105; Hervorhebung im Original). Standarddeutsch kann also als gesprochene Varietät im Kontakt mit Allochthonen zum Einsatz kommen, ebenso kann aber je nach Gegenüber auch der Dialekt gewählt werden: Es gibt „im Deutschschweizer Kontext offenbar gegenüber Allochthonen nicht die eine ri chtige Sprachformenwahl“ (CHRISTEN et al. 2010, 99; Hervorhebung im Original). Die dritte Konstellation des mündlichen Standardgebrauchs ist der diskursinduzierte Standardgebrauch: Er kommt „vornehmlich in Dialektgesprächen zwischen Autochthonen“ vor; es handelt sich hierbei um „umfangmässig limitierte standardsprachliche Einschübe“, die „funktional eingesetzt werden, beispielsweise für die authentische Redewiedergabe deutschländischer Äusserungen“ (CHRISTEN et al. 2010, 63). Dass es sich dabei keineswegs um ein Randphänomen der sprachlichen Realität von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern handelt, zeigen die Zahlen aus der oben erwähnten Untersuchung des Polizeinotrufs: In 12.4 % der untersuchten Gespräche wird Standarddeutsch „in irgendeiner Form verwendet“, häufig eben in Form dieser „kurze[n], standardsprachliche[n] Insertionen“. Diese haben „in jedem einzelnen Fall eine (mehr oder weniger ausgeprägte) pragmatische Funktion“.30 2.3 MISCHPHÄNOMENE ZWISCHEN DEN BEIDEN VARIETÄTEN Es besteht gemeinhin Einigkeit darüber, dass die beiden Varietäten Dialekt und Standarddeutsch strukturell getrennt sind und keine weiteren Varietäten zwischen diesen beiden Polen existieren. Unbestritten ist zudem, dass sich das Schweizerdeutsche zwar des sprachlichen Materials des Standarddeutschen bedient und dieses teilweise entlehnt, um den Bedarf an Neologismen für neue Sachverhalte oder Objekte („es handelt sich dabei insbesondere um fachsprachliche Ausdrücke, idiomatische Wendungen, aber auch um alltägliches sprachliches Material“, PETKOVA 2012b, 134) zu decken, jedoch nicht ohne es vorher phonetisch-phonologisch und
29 Vgl. dazu auch Fussnote 165 (Kap. 4.3). 30 Auf diese letzte Art von Standardgebrauch bzw. das Code-Switching, das diesem Standardgebrauch zugrunde liegt, wird in den Kapiteln 3 und 8 noch detailliert eingegangen: Im ersten Kapitel geht es um die theoretische Einordnung des Code-Switchings, im zweiten um konkrete Beispiele für solche Varietätenwechsel in Gottesdiensten.
Mischphänomene zwischen den beiden Varietäten
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morphologisch dem (jeweiligen) Dialekt anzupassen und es so zu eigenständigen Teilen des Dialektlexikons zu machen. Dennoch wurden in der Vergangenheit von verschiedener Seite Mischphänomene zwischen den beiden Varietäten beobachtet und dokumentiert (z. B. BERTHELE 2004, CHRISTEN 2000b, CHRISTEN et al. 2010, PETKOVA 2009, 2011, 2016).31 BERTHELE (2004, 121) geht davon aus, dass „in der Deutschschweiz aus struktureller Sicht durchaus und möglicherweise in zunehmendem Masse Zwischenformen zwischen Mundarten und Standard existieren“ und schätzt es als interessant ein, dass „oft weder Deutschschweizer LinguistInnen noch Laien diese Mischsprachen als solche zu erkennen bereit sind, sondern von klaren Trennlinien zwischen Dialekt und Standard ausgehen“. Für CHRISTEN (2000b, 252) sind solche Mischphänomene Teil eines „suboptimalen Dialekts“, der gerade dadurch entsteht, dass standardsprachliche Lexeme in den Dialekt übernommen, aber nicht vollständig integriert werden in dem Sinne, dass sie beispielsweise lautlich nicht basisdialektal sind. Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher müssen teils auf das Standarddeutsche zugreifen, um einen Wortschatz zur Verfügung zu haben, der sowohl themen- als auch textsortengerecht ist (vgl. CHRISTEN 2000b, 256). Solche standardsprachlichen Formen bilden dann „die Ausgangsgrösse für die Dialektrealisierung“ (CHRISTEN 2000b, 256). Für den dadurch entstehenden suboptimalen Dialekt gilt unter Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern offensichtlich „eine gewisse Variantentoleranz“: Bereits ein „unvollständiger“ Grad an Anpassung – jetzt aus der Perspektive der Basismundart – ist ausreichend, um neue Elemente – und bezeichnenderweise nur solche – akzeptabel als Dialekt erscheinen zu lassen. (CHRISTEN 2000b, 253–254)
CHRISTEN (2000b, 254) geht davon aus, dass „ein gewisser Konsens darüber [existiert], welche standardsprachlichen Varianten, welche Variantenbündel vermieden werden müssen, wenn eine Äusserung als nichtstandardsprachlich gelten soll“. Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer mischen also Standarddeutsch und Dialekt nicht willkürlich durcheinander, sondern folgen gewissen Regeln: Für sie ist klar, dass hybride Formen, wie sie CHRISTEN exemplarisch darstellt, zum Dialekt gehören – und nicht zur Standardsprache (vgl. CHRISTEN 2000b, 254). Dieser „dialektisierende“ Zugriff auf die Standardsprache mit ihrer ganzen Ausdrucksbreite verschafft den Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern ihre polyfunktionalen, stilistisch ausgebauten Dialekte, die sie sich für ihren sprachlichen Alltag offenbar wünschen. Sie nehmen dabei einen dialektalen Variantenraum in Kauf, der um nicht-beliebige, standardsprachliche Varianten erweitert ist. (CHRISTEN 2000b, 256)32
PETKOVA (2009) wirft die Frage auf, ob sich hier allenfalls eine Veränderung in der Sprachsituation der Deutschschweiz abzeichnet, die grundlegend am Konzept der Diglossiesituation (vgl. dazu Kap. 2.4) rüttelt, stellt sich aber anderswo (PETKOVA 31 Vgl. Fussnote 165 (Kap. 4.3) für die Diskussion eines solchen Mischphänomens, dem „multiplen Code-Switching“. 32 Davon unterschieden werden müssen die metaphorischen Code-Switchings, also „echte“ Wechsel vom Dialekt in die Standardsprache, die als Kontextualisierungshinweise dienen (CHRISTEN 2000b, 247–248); vgl. dazu Kap. 4.3.1.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
2012b, 137) nach ausführlicher Diskussion schliesslich auf den Standpunkt, dass „den Mischbereichen zwischen den Varietäten […] nur eine marginale Bedeutung zu[kommt]“. Für sie sprechen zwei Punkte dafür, dass es sich bei der Deutschschweizer Sprachsituation trotz allem um eine diglossische – und nicht um ein Kontinuum – handelt (PETKOVA 2012b, 136): Einerseits sind Sprecherinnen und Sprecher „im Transfer von sprachlichem Material geübt“ (und markieren somit dieses trotz möglicher Interferenzen aus der jeweils anderen Varietät dergleichen, dass eindeutig feststellbar ist, zu welcher der beiden Varietäten es gehört).33 Andererseits konzeptualisieren sie die beiden Sprachformen zweifellos „als zwei voneinander abgesonderte Einheiten“ und richten „ihren Sprachgebrauch nach einem ‚entweder-oder‘ von Dialekt und Standardsprache aus[…]“. Graubereiche zwischen den beiden Polen sind für PETKOVA kein Grund, an dieser Auffassung zu zweifeln: Dass es Graubereiche mit ungeklärtem Status gibt, gehört wohl zur sprachlichen Realität allgemein, die kaum distinkte, bloß dichotomisch organisierte Kategorien enthält. Das Vorkommen solcher Graubereiche verweist auf die Multidimensionalität einer jeden Sprachwelt. (PETKOVA 2012b, 137)
PETKOVA (2016, 30) weist darauf hin, dass solche Mischformen „vor Augen führen, wie flexibel und unverkrampft die Sprachgemeinschaft ihre sprachlichen Ressourcen nutzt“. 2.4 DAS PASSENDE LINGUISTISCHE BESCHREIBUNGSMODELL: DIGLOSSIE ODER BILINGUALISMUS? Zur Beschreibung der Deutschschweizer Sprachsituation – diesem Nebeneinander von Schweizerdeutsch und Standarddeutsch – stehen sich zwei Modelle gegenüber: Diglossie und Bilingualismus. In den vergangenen rund 60 Jahren wurden die beiden Konzepte je nach aktuellen Entwicklungen in der Deutschschweiz immer wieder neu diskutiert und mit zusätzlichen Attributen versehen, um sie passgenau zu machen. Im Folgenden sollen die beiden Konzepte und die entscheidenden Unterschiede anhand einiger ausgewählter, aussagekräftiger Aufsätze (FERGUSON 1959, KOLDE 1981, RIS 1990, WERLEN 1998, HAAS 1998, 2004, BERTHELE 2004, PETKOVA 2012b) dargestellt werden. Dabei wird sowohl aufgezeigt, was zur Weiterentwicklung des ursprünglich so „begeistert aufgenommen[en]“ Konzepts der Diglossie (HAAS 2004, 83) geführt hat, als auch diskutiert, was Linguistinnen und Linguisten dazu bringt, sich für das eine oder das andere Modell zu entscheiden. Schliesslich wird noch ein dritter Ansatz, jener der „Sekundärsprache“ (vgl. HÄGI / SCHARLOTH 2005), vorgestellt.
33 PETKOVA (2016, 69) hält es für wahrscheinlich, dass „die Sprecherinnen oder Sprecher aus ihrer Sicht [dem Standarddeutschen oder dem Dialekt; S.O.] zuweisbare Elemente“ produzieren, wo ambige Elemente in den von ihr untersuchten Korpora auftreten.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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2.4.1 FERGUSONS Diglossie-Begriff Um die Sprachsituation der Deutschschweiz zu beschreiben, wird in der Fachliteratur häufig der Terminus „Diglossie“ herangezogen. Dieser wurde von FERGUSON 1959 eingeführt. In seinem Artikel „Diglossia“ widmet er sich der Situation, in der „two varieties of a language exist side by side throughout the community, with each having a definite role to play“ (FERGUSON 1959, 325) und definiert diese als „Diglossie“. 34 Die Deutschschweiz dient ihm als eine der vier Sprachgemeinschaften35, anhand derer er solche Sprachsituationen charakterisiert. FERGUSON beschreibt die Eigenschaften, die ihm für die Klassifikation relevant erscheinen, und bezeichnet die Standardvarietät als „H (‚high‘) variety“ und die regionalen Dialekte als „L (‚low‘) variety“ (FERGUSON 1959, 327). Er wählt folgende Eigenschaften, in denen sich H und L unterscheiden, um das Konzept der Diglossie zu beschreiben: function, prestige, literary heritage, acquisition, standardization, stability, grammar, lexicon und phonology, und liefert im Anschluss seine ausführliche Definition von Diglossie: DIGLOSSIA is
a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation. (FERGUSON 1959, 336; im Original kursiv)36
Dass FERGUSONS Definition zwar einer ersten, oberflächlichen Beschreibung der Deutschschweizer Sprachsituation dienen kann, sei hier nicht bestritten. Es zeigt 34 Über die Notwendigkeit der genetischen Verwandtschaft zwischen den beiden Varietäten wurde in der Folge viel diskutiert. HUDSON (2002, 14) stellt sich beispielsweise auf den Standpunkt, dass „too much has been made of the degree of structural proximity between constituent codes in a verbal repertoire as a diagnostic of diglossia. Defining the codes in diglossia a priori as varieties of the same language or otherwise is an arbitrary gesture and in itself contributes nothing of value to sociolinguistic theory“. Er geht aber davon aus, dass „if the structural difference between codes in diglossia is viewed as an outcome of the social circumstances giving rise to diglossia, there is ample reason to suppose that language varieties in diglossia will in fact show a strong statistical tendency to be varieties of the same language […]“ (HUDSON 2002, 15). Für HUDSON ist das entscheidende Charakteristikum einer diglossischen Situation, dass ein „gehobener Code“ und ein alltäglicher Dialekt in einer Sprachgemeinschaft koexistieren, wobei der gehobene Code von keinem Sprecher in der Sprachgemeinschaft als Muttersprache gesprochen wird (HUDSON 2002, 23). 35 Die anderen drei sind Ägypten mit klassischem und ägyptischem Arabisch, Haiti mit Französisch und haitianischem Kreol und Griechenland mit klassischem und modernem Griechisch. 36 Für eine ausführliche alternative Theorie von Diglossie, die FERGUSONS Punkte kritisch begutachtet und Entwicklungen des Diglossie-Begriffes thematisiert, vgl. HUDSON (2002). Seiner Meinung nach besteht die konzeptuelle Einheit der von FERGUSON beschriebenen Sprachsituationen in einem spezifischen Set an Beziehungen zwischen funktionaler Aufteilung der Codes, der fehlenden Gelegenheit, H als Muttersprache (im Sinne der gesprochenen Erstsprache) zu erwerben, und dem daraus resultierenden Fehlen von Muttersprachlern in H, sowie der Stabilität im Gebrauch von L für umgangssprachliche Zwecke (vgl. HUDSON 2002, 40).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
sich jedoch bei genauerem Betrachten der von ihm genannten Eigenschaften, dass diese mit (heutigem) Blick auf die Schweiz teilweise recht problematisch sind. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass FERGUSON „bei seiner Analyse des Schweizerdeutschen die Situation der Fünfziger Jahre“ berücksichtigt (WERLEN 1998, 22). Seit dieser Momentaufnahme sind einschneidende Veränderungen im Sprachverhalten der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer vor sich gegangen, die einerseits mit dem Aufkommen neuer Kommunikationsmittel, andererseits aber mit der Verschiebung von Kontexten weg von der Standardsprache hin zum Dialekt zusammenhängen (vgl. z. B. HAAS 2004, 84). Dass die Einteilung FERGUSONS – insbesondere aus heutiger Sicht – nicht unproblematisch ist, sei hier exemplarisch anhand der ersten beiden von ihm genannten Eigenschaften gezeigt: 1) Die Spezialisierung der Funktion für H und L bezeichnet FERGUSON als eine der wichtigsten Eigenschaften von Diglossie: „In one set of situations only H is appropriate and in another only L, with the two sets overlapping only very slightly“ (FERGUSON 1959, 328). Er nennt dafür Situationstypen, denen er die jeweils angebrachte Varietät zuweist:
Predigt Befehle an Diener, Kellner, Arbeiter etc. Persönlicher Brief Parlamentsrede, politische Rede Universitäre Vorlesung Gespräch mit Familie, Freunden, Kollegen Radionachrichten Radio-„Seifenoper“ Zeitungsartikel, Bildlegenden Legenden politischer Karikaturen Dichtung Volksliteratur
H (Hochsprache) + + + + + + + -
L (Mundart) + + + + +
Tab. 1: Verteilung von Situationstypen nach Varietät gemäss FERGUSON, deutsche Übersetzung nach WERLEN (1998, 23).
Die hier genannten typischen Situationen lassen sich in der Deutschschweiz nicht immer klar der einen oder der anderen Varietät zuordnen; die für H genannten Situationen „Predigt“37 und „persönlicher Brief“ beispielsweise sind nicht (mehr) 37 Die Verwendung der Varietäten für die Predigt in reformierten und römisch-katholischen Kirchen wird in der vorliegenden Arbeit ein Schwerpunkt sein. SCHWARZENBACH hielt bereits 1969 fest, dass Predigten im Dialekt gehalten werden. Er verwies in seiner Studie u. a. auf den „Ersten Generalbericht der evangelisch-reformierten Kirche im Kanton Solothurn betreffend die Jahre 1949–1960“, in dem es heisst: „Die Predigt in Mundart wird meist in Familien- und Wochengottesdiensten (Bibelstunden) gehalten, aber auch in Filialgemeinden und vereinzelt im Hauptgottesdienst“ (zitiert nach SCHWARZENBACH 1969, 187). Es war also schon zu der Zeit, als FERGUSON „Diglossia“ veröffentlichte, keinesfalls so, dass für Predigten lediglich Standarddeutsch in Frage kam.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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eindeutig der H-Varietät zuzuordnen, ebenso wenig die Rede im Parlament (vgl. z. B. LÖTSCHER 1983, 126). Nachrichtensendungen im Fernsehen und Radio werden in der Deutschschweiz keineswegs durchgängig in Standarddeutsch gesprochen.38 Eher zutreffend sind die beschriebenen Situationen für L, wobei sich diese eben keinesfalls auf die aufgezählten beschränken. Es sei zudem erwähnt, dass für das, was FERGUSON folk literature – im Gegensatz zu poetry – nennt, in der Deutschschweiz die Varietätenverteilung nicht der vorgeschlagenen entspricht: Die in der Deutschschweiz produzierte Literatur im Dialekt spielt „seit alters in der Deutschschweiz eine nicht nur folkloristische Rolle“ (SIEBER 2010, 374), sondern zeigt im Gegenteil immer wieder erstaunliche Blüten und Blütezeiten (vgl. dazu auch SCHMID 2007).39 Es zeigt sich also allein anhand des Blicks auf diese eine Eigenschaft, dass die Definition von Diglossie in der von FERGUSON vorgeschlagenen Differenziertheit nicht eins zu eins auf die Deutschschweizer Sprachsituation passt.40 Dies gilt noch mehr für die zweite von FERGUSON genannte Eigenschaft, das Prestige: 2) Für das Prestige gilt laut FERGUSON (1959, 329): „In all the defining languages [= Arabisch, Neugriechisch, Schweizerdeutsch, haitianisches Kreol; S.O.] the speakers regard H as superior to L in a number of respects.“ FERGUSON relativiert das Ganze später leicht und schreibt, dass selbst dort, wo „the feeling of the reality and superiority of H is not so strong“, normalerweise der Glaube vorherrscht, dass H irgendwie schöner, logischer und besser geeignet sei, wichtige Gedanken auszudrücken (FERGUSON 1959, 330). KOLDE (1981, 68–69, Fussnote 61) weist darauf hin, dass genau dieses eine Element der klassischen Definition der Diglossie von Ch. A. Ferguson nicht auf die deutschschweizerischen Verhältnisse übertragbar ist: [die; S.O.] […] Bezeichnung der einen Variante als H (high), die der anderen als L (low).
Er begründet dies in erster Linie mit den Interferenzen von H zu L, aber eben gleichzeitig auch von L zu H: Dies spricht dafür, daß es sich um eine weitgehend funktionale (mediale) Varianz handelt, ohne daß die beiden Varianten unterschiedlich bewertet würden, oder richtiger: beide Varianten unter je verschiedenen Aspekten höher und niedriger bewertet werden, so daß sich die Wertungen insgesamt gegenseitig neutralisieren. Während die Mundart einen hohen affektiven und ethnischen Identifikationswert besitzt, gilt das Schriftdeutsche nicht nur höher hinsichtlich der kommunikativen Reichweite; da seine sichere Beherrschung auch Zeichen einer längeren Schulausbildung ist und die sozial hochbewerteten Berufe in Ausbildung und Ausübung höhere
38 „Zu diesem Zeitpunkt [= Fünfzigerjahre; S.O.] ist die öffentliche Rede in der deutschen Schweiz noch weitgehend hochdeutsche Rede; auch am Radio ist mit wenigen Ausnahmen nur Hochdeutsch zu hören. Dialektpredigt ist zu diesem Zeitpunkt im katholischen Bereich nicht denkbar, hingegen wurde im protestantischen Raum schon länger darüber diskutiert […].“ (WERLEN 1998, 22–23) 39 So war beispielsweise in jüngster Vergangenheit dem im Dialekt verfassten Roman von PEDRO LENZ, „Der Goalie bin ig“, grosser Erfolg beschieden. 40 Auch für BERTHELE (2004, 114–116) sind mindestens sechs der zwölf Eigenschaften („Kontexte“) mit einem Fragezeichen zu versehen.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte Anforderungen an die Schriftsprachbeherrschung stellen, hat es auch einen sozialen Statuswert. (KOLDE 1981, 69, Fussnote 61)
Problematisch ist zudem die Wahl der Termini für das Prestige – high und low –; diese impliziert eine „evaluatorische Komponente“, mit der H-Varietät als der „wertvollere[n], überlegene[n], logische[n], ‚eigentliche[n]‘ Sprache“ und der L-Varietät als „wertlos[en], gewöhnlich[en], weniger logische[n] Sprachform“ (BERTHELE 2004, 116–117). BERTHELE hält diese terminologische Wahl für eine bewusste seitens FERGUSONS. Nicht nur BERTHELE, der die Bewertung der Deutschschweizer Sprachsituation als Diglossie ablehnt, sondern auch Verfechter der Diglossie wie HAAS beurteilen die „Wahl des Terminus Diglossie“ als „nicht nur glücklich“ aufgrund seiner kolonialistischen Konnotationen und der möglichen Interpretation als höher und tiefer in Bezug auf „Sozialschichten“ (HAAS 2004, 82). Gerade diese „evaluatorische Komponente“ lässt für das Prestige der beiden Varietäten in der Deutschschweiz Widersprüchlichkeiten erkennen: Zwar hat Standarddeutsch sehr wohl hohes Prestige, zweifellos als geschriebene Sprache und beispielsweise ebenso als gesprochene Sprache41 für die „Tagesschau“ im Schweizer Fernsehen, jedoch wird in der Deutschschweiz auch dem Dialekt ein hohes Prestige zugesprochen.42 Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Unterscheidung nach Prestige als Definitionsmerkmal für die Diglossie im Fall der Schweiz gelten mag. Die Benennung der beiden Varietäten mit den Adjektiven high und low führt, gerade weil sie diese „evaluatorische Komponente“ enthält, zudem zu Konnotationen, die insbesondere bezüglich der Frage des Prestiges, aber auch im Allgemeinen in Frage gestellt werden müssen: So zeigt die Diskussion um die Begrifflichkeit „Hochdeutsch“ beispielhaft, dass mit „hoch“ Konnotationen wie „besser, schöner, gebildeter“ verbunden sind (die im Fall von „Hochdeutsch“ ja nicht im wissenschaftlichen Terminus, der als Gegenpart zu „Niederdeutsch“ als Sprachbezeichnung geprägt wurde, verankert sind) und mit „tief“ auch die Verbindung zu einer tieferen sozialen Schicht oder tieferen Bildungsniveaus hergestellt werden kann, was gerade im Fall der Deutschschweiz und der dortigen Verwendung des Schweizerdeutschen in allen Bereichen des Alltags – Schweizerdeutsch als „die unstrittig normale mündliche Sprachform der informellen Situation“ (SIEBER 2010, 374) – nicht zutrifft. Die Problematik in der Bestimmung des Prestiges der beiden Varietäten liegt darin, „dass das Prestige einer Varietät niemals losgelöst von der Ge41 Wenn es von Deutschschweizern in einer als Schweizer Standarddeutsch (vgl. dazu das Kapitel 2.5 zu Deutsch als plurizentrische Sprache) erkennbaren Lautung gesprochen wird: SCHUPPENHAUER / WERLEN (1983, 1423) stellten sich auf den Standpunkt, dass „die Standardsprache (vor allem hörbar deutscher Standard) kein hohes Prestige [geniesse]. Den Dialekten wird im allgemeinen ein höheres Prestige zugesprochen […].“ [Hervorhebung S.O.] AMMON (1995, 286) hält den „Prestigeunterschied zwischen H und L […] in der Schweiz zumindest [für; S.O.] schwächer ausgeprägt als in den anderen nationalen Zentren des Deutschen [= Deutschland und Österreich; S.O.] – falls nicht sogar umgekehrt und dann mit Fergusons Varietätenbenennung unvereinbar.“ 42 Gemäss BERTHELE (2004, 117) ist jedoch auch für die Deutschschweiz manchmal eine „Geringschätzung des Dialekts anzutreffen“. Äusserungen in diese Richtung würden „insbesondere [von; S.O.] LehrerInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle[n]“ gemacht.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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brauchssituation gesehen werden darf“ (BERTHELE 2004, 118): Gerade weil sich die funktionale Verteilung der Varietäten in der Deutschschweiz nicht so kanonisch präsentiert, wie von FERGUSON postuliert, lässt sich auch diese strikte Zuteilung eines hohen Prestiges für die Standardvarietät und eines tiefen Prestiges für den Dialekt nicht aufrechterhalten. Wer in der Deutschschweiz „überhaupt sozial ein[…]steigen“ will, braucht den Dialekt, wohingegen „man die H-Varietät in Fergusons Paradigma braucht, um sozial aufzusteigen“ (BERTHELE 2004, 119; Hervorhebung im Original in Fettdruck). Auch die Eigenschaft „Prestige“ zeigt sich also für die Deutschschweiz nicht so, wie in FERGUSONS Definition angenommen.43 Hingegen trifft auf die Deutschschweizer Sprachsituation zu, was laut FERGUSON eine diglossische Situation von einer Sprachsituation, in der neben der Standardsprache verschiedene regionale Dialekte existieren, unterscheidet: In einer Diglossie benützt niemand H als Varietät in einer gewöhnlichen Konversation, sondern L. Die Verwendung von H in normalen Gesprächen wird als illoyal gegenüber der Sprechergemeinschaft empfunden (FERGUSON 1959, 337). Es kann zusammenfassend also festgehalten werden, dass das Konzept der Diglossie, wie es FERGUSON 1959 prägte, einen möglichen Rahmen bildet, um sich der Deutschschweizer Sprachsituation zu nähern. Dieser Rahmen passt aber (nicht nur aus heutiger Sicht) nicht vollständig auf die Deutschschweiz. In den vergangenen Jahren führten einerseits diese Tatsache, andererseits aber auch die Einschätzung des linguistischen Status von Schweizerdeutsch – Dialekt oder eigene Sprache? – zu kontroversen Diskussionen auf terminologischer Ebene, die nachfolgend genauer beleuchtet werden. 2.4.2 Ergänzung des Diglossie-Begriffes Zwar wurde „FERGUSONs Diglossie-Konzept […] von den Schweizer Dialektologen und Soziolinguistinnen begeistert aufgenommen […]“, weil somit „endlich […] der längst verspürte Sonderfall ihrer Situation auf den Punkt gebracht [schien]“ (HAAS 2004, 83). FERGUSONS Konzept wurde aber in der Folge (auch ausserhalb der Deutschschweiz) „hundertfach benutzt, verworfen, umdefiniert und wieder aufgegriffen“ (HAAS 2004, 82).44 Es bestand demnach durchaus das Bedürfnis, einen Terminus für solche Sprachsituationen zu finden, aber: „FERGUSONs Vorschlag [liess] viele Probleme ungelöst“ (HAAS 2004, 82). Er passte also, wie bereits im vorangehenden Abschnitt erwähnt, so nicht zur Deutschschweizer Situation, sodass 43 BERTHELE (2004) führt aus, warum auch die von FERGUSON in seiner Definition verwendeten Eigenschaften „Grammatik“, „Lexikon“, „Phonologie“ sowie „Spracherwerb“ nicht vollständig auf die Deutschschweiz passen. Er kommt – aus diesem und weiteren Gründen – zum Schluss, dass es sich bei der Situation nicht um eine diglossische handle, sondern um eine Form der „Zweisprachigkeit“ (vgl. z. B. BERTHELE 2004, 130–131). Vgl. Kap. 2.4.3 zu BERTHELES Sicht auf Bilingualismus. 44 Sechs Jahre früher äusserte sich HAAS nicht so neutral über diese Veränderungen an FERGUSONS Konzept: „Fergusons Konzept ist oft und meist unglücklich modifiziert worden“ (HAAS 1998, 79).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
der Terminus durch verschiedene Attribute ergänzt wurde, um den Eigenschaften der Deutschschweiz gerechter zu werden: „koordinierte Diglossie“, „mediale Diglossie“, „funktionale Diglossie“ oder „ausgebaute Diglossie“.45 Insbesondere der von KOLDE (1981, 65–76) geprägte Terminus „mediale Diglossie“ hat(te) lange durchschlagenden Erfolg: Mundart und Schriftdeutsch [werden] komplementär in Abhängigkeit vom Medium (gesprochen – geschrieben)46, Partner (Deutschschweizer – nicht Deutschschweizer), Formalitätsgrad der Situation (formell – informell) und eigenem Rollenverständnis und Rollenerwartungen gebraucht. Da das Medium am häufigsten den Ausschlag gibt, sprechen wir von medialer Diglossie. (KOLDE 1981, 68; Hervorhebung im Original)
Verschiedene Linguisten anerkennen denn auch die Adäquatheit von KOLDES Zusatz für die Situation anfangs der Achtzigerjahre in der Schweiz (z. B. HAAS 2004, 84). In den seither vergangenen gut 30 Jahren hat sich die Sprachsituation in der Schweiz nochmals stark gewandelt, sodass eine weitere terminologische Anpassung nötig wurde. RASH plädiert für den Terminus functional diglossia, as it fits the situation whereby SG [= Swiss German; S.O.] and HG [= High German; S.O.] are each allocated certain functions, notwithstanding that the criteria for allocation are themselves unstable (RASH 1998, 50).
CHRISTEN et al. (2010, 12) halten es für „wenig hilfreich resp. redundant“, den Terminus mediale Diglossie durch funktionale Diglossie zu ersetzen, „basiert doch das Konzept der Diglossie gerade auf einer funktionalen Trennung zweier Varietäten“. Es folgte zudem die erste Darstellung der Sprachsituation als Bilingualismus (RIS 1990, siehe Kap. 2.4.3) und WERLENS (1998) Beschreibung einer asymmetrischen Zweisprachigkeit (siehe Kap. 2.4.3). HAAS stellt sich 2004 auf den Standpunkt, dass die „‚kanonische‘ Diglossie im Fergusonschen Sinne […] sehr wohl grundlegende Charakteristika der Deutschschweizer Sprachverhältnisse“ beschreibe (HAAS 2004, 83) und kein Überdenken der „soziolinguistischen Kategorien“ vonnöten sei, weil die Veränderung der sprachlichen Realität durch neue Medien nur klarer erkennbar machen, was wir eigentlich immer wussten: Grundlegende Steuerungsfaktoren bei der Varietätenwahl sind nicht die „äusserlichen“ Charakteristika des Mediums (akustisch vs. optisch), grundlegend sind nach wie vor Faktoren, die etwas mit Informalität und Formalität, mit Nähe und Distanz zu tun haben. (HAAS 2004, 85)
45 AMMON (1995, 285) weist darauf hin, dass der Terminus Diglossie „von Nichtschweizern, also aus der Fernsicht, unbefangener verwendet wird als von Schweizern selber“, und begründet dies mit der „bei genauerer Betrachtung mangelhafte[n] Passform des Diglossiebegriffs“ für die deutschsprachige Schweiz. 46 Bereits KOLDE erwähnt mit der „Mundartliteratur“ und der „kommerzielle[n] Werbung für bestimmte Produkte“ Ausnahmen von der Regel, dass der Dialekt nur gesprochen werde: Hingegen taxiert er „in Mundart verfasste Todesanzeigen […] noch als Abweichungen von den sozialen Normen der Sprachenwahl“ (KOLDE 1981, 69; Hervorhebung, S.O.). Auf der anderen Seite betont er, dass „der produktive mündliche Gebrauch des Schriftdeutschen mit Deutschschweizer Partnern […] sehr eingeschränkt“ sei, „und zwar im wesentlichen auf den Schulunterricht und die Kirche“ (KOLDE 1981, 71).
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Lange Zeit stimmte die Verbindung von formeller Sprache mit Schriftlichkeit und informeller Sprache mit Mündlichkeit überein (dies keinesfalls nur für die Schweiz, sondern in allen Sprachgemeinschaften mit Zugang zur Schriftlichkeit). Die Verschiebung innerhalb des ursprünglichen diglossischen Gefüges, wie es FERGUSON 1959 schilderte, hin zu scheinbar mehr Situationen, in denen der Dialekt zum Einsatz kommt, interpretiert HAAS (2004, 84) denn auch als Folge der Zunahme an „mündliche[r] Kommunikation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ und der damit verbundenen Veränderung der „Formalitätszuschreibungen an Kontexte“, die „in allen Sprachen der westlichen Welt“ vonstattenging: Für immer mehr Situationen wurden informellere Register/Varietäten als angemessen betrachtet. In der Diglossie vermehrten sich somit die Kontexte für den Dialekt, bis hin zu einer Varietätenverteilung, die nur noch vom Medium gesteuert schien und nur noch sehr vermittelt vom Formalitätsgrad der Situation. (HAAS 2004, 84)
Für HAAS (1998, 89) sind „die in der deutschen Schweiz zu beobachtenden Vorgänge nichts anderes als die helvetische Variante dieser universellen Verschiebung der Registergrenzen“. Mit dem Aufkommen von neuen Kommunikationsformen wie SMS, E-Mails, Chats usw., in denen Sprache zwar schriftlich realisiert wird, die aber tendenziell der informellen Kommunikation und der Sprache der Nähe47 zugerechnet werden können, hat sich das Gewicht zusätzlich weg von der medialen Diglossie hin zu einer Diglossie, die durch die Kriterien Nähe–Distanz sowie Informalität–Formalität bestimmt wird (funktionale Diglossie, vgl. z. B. RASH 1998, 50), gewandelt. „Das Medium hat an ‚steuernder Kraft‘ verloren“ (HAAS 2004, 85). Für HAAS ist die Situation am treffendsten mit dem Terminus „ausgebaute Diglossie“ zu beschreiben, wobei sich der Terminus „,Ausbau‘ auf die Erweiterung der diglossischen Kompetenzen der Gesamtgesellschaft“ bezieht (HAAS 2004, 102, Fussnote 23). Die Sprachsituation in der Deutschschweiz stellt für HAAS einen Fall von „Diglossie mit totaler Überlagerung“ dar. Innerhalb dieser „Diglossie mit totaler Überlagerung“ gehört die Deutschschweiz zum Subtypus „ausgebauter Typ“, bei dem die ganze Gesellschaft Hochsprache und Dialekt braucht (HAAS 1998, 80–81). Für SIEBENHAAR (2003, 126) hingegen „gilt die mediale Diglossie [im Distanzbereich; S.O.] weiterhin: die Standardsprache wird durch die verschriftete Mundart kaum in Frage gestellt“. Die „Neustrukturierung“ betrifft gemäss SIEBENHAAR „nur den Nähebereich […], wo auch in der schriftlichen Kommunikation vermehrt die Mundart verwendet wird“. Anders beurteilt SNOW (2013), der drei Subkategorien von Diglossie unterscheidet, nämlich traditional diglossia, revived diglossia und modern diglossia, die Gründe für Verschiebungen zwischen L und H: Instead of being driven by modernisation, changes in modern diglossia [= Diglossie, wie sie in der Deutschschweiz vorherrscht; S.O.] tend to be driven by the forces of utility value and identity; in fact, we might view modern diglossia patterns as a balance between these two forces. In both Switzerland and Hong Kong, the H variety has very high utility value because of its role in neighbouring societies, so there are compelling practical reasons for members of the 47 Vgl. zum Terminus „Sprache der Nähe“ KOCH / OESTERREICHER (1985).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte diglossic community to want to be able to both speak and write the H variety. However, in both Switzerland and Hong Kong, the diglossic community also has strong identity reasons for distinguishing themselves from members of these neighbouring societies, and it is these which cause people to avoid speaking H to each other when possible. When the desire to assert a distinct local identity increases, so does the role of L; when there seems less need to assert such an identity, the role of H tends to expand (SNOW 2013, 72).
In dieser Beschreibung geht es aber lediglich um die Verschiebung zu mehr gesprochenem Dialekt, also der Ausdehnung des Dialekts auf Kontexte, die ursprünglich der H-Varietät vorbehalten waren. Die Gewichtung der Abgrenzung der Deutschschweizer Sprachgemeinschaft gegenüber den benachbarten Sprachgemeinschaften (insbesondere in Deutschland) als Beweggrund für Veränderungen in den Rollen von H und L erscheint aus Deutschschweizer Sicht klar übertrieben, umso mehr, als SNOW (2013, 71) zusätzlich das Argument in den Raum stellt, dass it is also quite possible that the attitudes and feelings driving this expansion [= graduelle Ausdehnung der sozialen Rollen der L-Varietät in der Deutschschweiz] will lose some of their steam as Germany’s Nazi past becomes increasingly distant.
Für SNOW (2013, 72) ist die Deutschschweiz neben Hongkong der einzige Fall von modern diglossia, der klar in die Parameter passt. Die Hinwendung zu mehr Dialekt nur mit dem Faktor Identität zu erklären, greift viel zu kurz, sie mit der Nazivergangenheit der Deutschen zu verbinden und zu spekulieren, dass sich mit Fortschreiten der Zeit die Einstellungen der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ändern, erscheint noch viel gewagter. In der Diglossiediskussion wird immer wieder der Faktor Verwandtschaft der beteiligten Varietäten kontrovers thematisiert: Damit verbunden ist die Diskussion über die linguistische Ähnlichkeit der Varietäten. Für HAAS (2004, 87) ist es zweifellos wenig aussichtsreich, einen Punkt auf einer sprachlichen Ähnlichkeitsskala definieren zu wollen, ab dem eine Situation „gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit“ als Diglossie oder aber als Bilingualismus gelten soll,
er stellt sich aber auf den Standpunkt, dass es sich bei der linguistischen Verwandtschaft zwar nicht um eine „hinreichende, aber eine notwendige Bedingung der Diglossie“ handelt (HAAS 2004, 88)48. Er schlägt vor, statt von Verwandtschaft von „systematischer Ähnlichkeit“ (HAAS 2004, 88; Hervorhebung im Original) zu sprechen. Zur verbreiteten Spracheinstellungsäusserung von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern, Hochdeutsch sei die erste Fremdsprache, merkt HAAS (2004, 94) an, es sei eine „simplifizierende, gerade von Gebildeten gern kokett eingesetzte Pointe“. Es handle sich dabei um eine der „kollektiven Überzeugungen der Sprachgemeinschaft, die sich in einer langen Geschichte entwickelt haben, zusammen mit den sozialen, politischen, kulturellen Verhältnissen ihres Landes“ (HAAS 2004, 94). 48 1998 sprach sich HAAS entschieden dafür aus, „an der linguistischen Bedingung der nahen Verwandtschaft der beiden Diglossie-Varietäten [festzuhalten; S.O.] […], da sie für die Besonderheit und das Funktionieren dieser Sprachsituation von ausschlaggebender Bedeutung ist“ (HAAS 1998, 79–80).
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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Ähnlich äussert er sich sechs Jahre früher: „Äusserungen, wonach das Standarddeutsche eine Fremdsprache sei, sind provokativ gemeint und werden gegen Provokationen eingesetzt.“ (HAAS 1998, 91) HAAS geht es bei diesen pointiert formulierten Aussagen wohl in erster Linie darum, die Position der Diglossie zu stärken49 und sich gegen die Verfechter der Bilingualismusthese abzugrenzen. Es ist nämlich durchaus so, dass nicht alle Aussagen von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern, die das Standarddeutsche als Fremdsprache klassifizieren, reine Provokation bzw. eine Pointe sind: Diese Einstellung herrscht zwar bei einigen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vor. Sie kann aber weder verallgemeinernd für die gesamte Deutschschweizer Sprachgemeinschaft geltend gemacht werden (wie das beispielsweise BERTHELE in der Tendenz tut, vgl. BERTHELE 2004, 128–129), noch können solche Aussagen lediglich als Provokationen abgetan werden, sondern müssen, wie in Kap. 10 gezeigt wird, hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf ein spezifisches mentales „Hochdeutschkonzept“ bzw. „Hochdeutsch-Modell“ (vgl. CHRISTEN et al. 2010, 15 und Kap. 5.2.2) betrachtet werden. Für PETKOVA (2012b, 12650) ist die Deutschschweizer Diglossie eine „Kategorie mit fuzzy boundaries“ [Hervorhebung im Original]. Sie skizziert eine „alternative Darstellung der Diglossie als kognitives Modell“ (PETKOVA 2012b, 127; Hervorhebung im Original). Da eine Sprachsituation nicht statisch ist und sich Gesellschaften verändern und entwickeln, „bedarf [die Situation; S.O.] immer wieder eines prüfenden Blickes: Hat sie Bestand? Ist die diglossische Beschreibung noch angemessen, welche Veränderungen sind zu verzeichnen?“ PETKOVA hält die Diskussion, die WERLEN und BERTHELE angestossen haben, für wertvoll, weil die beiden „Hinweise auf Grenzbereiche und Veränderungen“ geliefert haben (PETKOVA 2012b, 126). Sie weist auf die „mediale[n] und gesellschaftliche[n] Wandelprozesse“ hin, die eine Veränderung der funktionalen Verteilung der Varietäten zur Folge hatten, die schliesslich dazu geführt haben, dass die einstmals klare Distribution der beiden Varietäten nach Medium „erneut aufgeweich[t]“ wird: „Beide Varietäten dringen immer weiter in die Bereiche des jeweils anderen Mediums ein“ (PETKOVA 2012b, 130–131). Diese Verschiebungen haben beispielsweise dazu geführt, dass „für einige Kontexte in der Schriftlichkeit (SMS, Chat, social media etc.) der Dialekt mittlerweile als die ‚unmarkierte‘ Wahl gelten kann“ (PETKOVA 2012b, 131). PETKOVA zeigt auf, wie sowohl der geschriebene Dialekt als auch die gesprochene Standardsprache an Einfluss gewonnen haben, und kommt zum Schluss, dass das Bild komplex ist. Eine „funktionale Trennlinie zwischen den Varietäten ist soweit vorhanden, als beide Varietäten immer noch je nach Kontext getrennt voneinander verwendet werden“ (PETKOVA 2012b, 132). Es existiere aber keine klare Trennlinie, „die Dialekt-Kontexte von Standard-Kontexten per se voneinander ab49 Dies unterstreicht auch das direkt vorangehend Gesagte, dass es „der Hypothese von der einheitlichen diglossischen Kompetenz [entspreche], dass die Deutschschweizer die Zusammengehörigkeit der diglossischen Varietäten als Formen der ‚deutschen Sprache‘ nicht bezweifeln“ (HAAS 1998, 91). Es darf bezweifelt werden, dass dies für alle Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer uneingeschränkt so gilt. 50 Der Text erschien 2012 bereits in einer früheren Nummer der LiLi (166), allerdings ohne Fussnoten, weswegen der Reprint nötig wurde.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
grenzen würde“ (PETKOVA 2012b, 132; Hervorhebung im Original). PETKOVA stellt auch die Frage in den Raum, ob die Veränderungen dazu geführt haben könnten, dass es sich bei der Deutschschweizer Sprachsituation um ein Kontinuum handelt, verneint dies jedoch; auch die Sprecher konzeptualisieren „beide Varietäten als zwei voneinander abgesonderte Einheiten“, ausserdem garantiert gerade „die Durchlässigkeit der Varietäten“, also der „Transfer von sprachlichem Material“ von Varietät zu Varietät, die Trennung der beiden Sprachformen (PETKOVA 2012b, 136–137). PETKOVA (2012b, 139) zeigt anhand eines (hypothetischen) Schemas auf, wie Dialekt und Standard zwischen den Polen von Nähe und Distanz verteilt sind, und zwar nach Vorkommen der Varietäten in der Mündlichkeit und Schriftlichkeit getrennt. Sie kommt zur Erkenntnis, dass „beide Varietäten beinah auf der ganzen Bandbreite auftreten und dies sowohl in der Mündlichkeit als auch in der Schriftlichkeit“. Interessant ist dabei, dass mündlicher Dialekt nicht nur als Sprache der Nähe anzutreffen [ist], sondern […] auch in Situationen mit steigendem Formalitäts- und Vorbereitungsgrad, mit hoher Monologizität etc. auf[tritt]51, beispielsweise in Interviews mit Exponenten aus Wirtschaft und Politik im Radio über Voten im Kantonsparlament bis hin zu Reden vor Publikum, die als Endpunkt auf der Achse der konzeptionellen Schriftlichkeit angesehen werden können […] (PETKOVA 2012b, 139–140).
Aber nicht nur das Spektrum des Dialekts ist sehr breit, auch jenes der Standardsprache: Als „geschriebene Sprache der Distanz“ wie auch als geschriebene Sprache in den „Nähebereiche[n]“ (neue Medien), als gesprochene Sprache neu auch vermehrt in „Bereiche[n] der Nähe“, was insbesondere durch die Migration (aus Deutschland) verursacht wurde, die zu vermehrtem Gebrauch der Standardsprache im Berufsleben, aber auch teilweise im Privatleben führt (PETKOVA 2012b, 140–141). Im Schema von PETKOVA fehlt einzig der Dialekt in schriftlicher Form als Sprache der Distanz; es fehlt zwar nicht an Belletristik im Dialekt, aber an wissenschaftlicher Fachliteratur. Konkret heisst das also, dass „sich beide Varietäten annähernd auf der gesamten Breite der Achse zwischen Nähe und Distanz verteilen und zwar sowohl in der Mündlichkeit, als auch in der Schriftlichkeit“ (PETKOVA 2012b, 141). PETKOVA (2012b, 146) kommt zu dem Schluss, dass die Auffassung der Deutschschweizer Diglossie als eine Verteilung der Varietäten zwischen den Registern der Nähe und denjenigen der Distanz zu überzeugenden Erklärungen führt. Um die Sprachsituation adäquat zu beschreiben, muss jedoch von einer Vielzahl von Achsen zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz ausgegangen werden, wobei auch innerhalb der Standard- und der Dialektbereiche weitere solche Achsen angesetzt werden müssten. Es scheint zudem, dass sich die Verwendungskontexte beider Varietäten zu einem nicht geringen Grade überlappen.
Sie geht weiter davon aus, dass „trotz der Vielfalt“, die sprachlich in der Deutschschweiz herrscht, „die Beschreibung der Deutschschweiz als eine Diglossie immer noch zutreffend ist“ (PETKOVA 2012b, 148; Hervorhebung im Original). Diese sei 51 Diese Merkmale, also steigender Formalitäts- und Vorbereitungsgrad sowie hohe Monologizität, sind auch typisch für den mündlichen Sprachgebrauch von Pfarrpersonen.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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jedoch „vielschichtig“ und „im Fluss“ und die beiden Varietäten sind nicht „zwei entgegengesetzte Pole[,] sondern […] zwei Bereiche mit großer Bandbreite“ (PETKOVA 2012b, 148). PETKOVA hält es für eine Diglossie, „die – etwas überdeutlich formuliert – in erster Linie in den Köpfen der Sprecherinnen und Sprecher als solche konzeptualisiert und auch interpretiert wird“ und folgt terminologisch CHRISTEN (2004), indem sie diese Situation als „konzeptionelle Diglossie“ bezeichnet (PETKOVA 2012b, 148). Abschliessend plädiert PETKOVA (2012b, 152) dafür, dass bei einem Modell wie demjenigen der Deutschschweizer Diglossie, bei dem Produktion und Rezeption, die etische und die emische Perspektive als Orientierungsdimensionen dienen, wobei zudem eine längere Tradition bei der Erforschung der Wahrnehmung der Sprachgemeinschaft besteht, […] Experten- und Laienkonzepte miteinbezogen werden [sollen].
Sie hält fest, dass die Deutschschweizer Sprachsituation „denn auch nach wie vor Anlass zur Diskussion“ biete und die „Ansätze rund um ihre Beschreibung noch lange nicht ausgeschöpft sind“ (PETKOVA 2012b, 152). 2.4.3 Bilingualismus: den Laien ernst nehmen Gewöhnlich52 wird auf RIS (1990) verwiesen, wenn die Sprache auf den Ursprung der Bilingualismusdebatte für die Deutschschweiz kommt: RIS (1990, 42) hält die Verwendung des „traditionelle[n] Diglossiemodell[s]“ für nicht mehr sinnvoll, da „die wenigen ‚Reservate‘ des gesprochenen Hochdeutschen […] heute nur noch durch institutionelle Rahmenbedingungen definiert“, aber nicht mehr schichtenspezifisch sind. In der Deutschschweiz nehme die „gesprochene Mundart nahezu all die Funktionen wahr[…], die anderswo einer gesprochenen Hochsprache zukommen“, und das impliziert wiederum, dass das gesprochene Hochdeutsch in der Schweiz im internen Gebrauch nicht mehr als komplementäre Sprachform im Sinne des Diglossiemodells fungiert, sondern als Zweitsprache im Sinne des Bilingualismus-Modells, die man in gewissen Kommunikationssituationen mehr noch verwenden darf als verwenden muss (RIS 1990, 42; Hervorhebung im Original).
Für RIS (1990, 42; Hervorhebung im Original) kommt man nicht umhin, das Standarddeutsche in der Deutschschweiz „nur noch als Zweitsprache neben der in ihrer gesprochenen Form nahezu als ‚Vollsprache‘ zu deklarierende Mundart zu bezeichnen“. Dennoch sei die Situation zu relativieren, sei doch sowohl das „passive Verständnis des gesprochenen Hochdeutschen […] weitgehend gegeben“ und zudem „Hochdeutsch als Schriftsprache kaum angefochten“ (RIS 1990, 42).53 52 RIS’ Analyse der Deutschschweizer Verhältnisse als Bilingualismus und nicht als Diglossie stellt für BERTHELE (2004, 112) die „einzige mir bekannte Ausnahme“ dar. 53 Zudem hatten „rein bildungssprachlich […] noch nie so viele Deutschschweizer Anteil an der deutschen Hochsprache und damit auch an der durch sie transportierten Kultur der deutschsprachigen Nachbarländer, und dies gilt gleichermassen für die Print- wie für die gesprochenen Medien: Gab es in den fünfziger Jahren eine kleine Schicht von Gebildeten, die auf Kanzeln
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
Nichtsdestoweniger wird Standarddeutsch von vielen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern nicht mehr als die eine der beiden Formen der Muttersprache (Otto von Greyerz) betrachtet, sondern als problemlos zu verstehende und leicht anzuwendende Zweitsprache im Sinne des Bilingualismusmodells oder gar als Fremdsprache, die mit den eigentlichen Schulfremdsprachen auf derselben Ebene steht. (RIS 1990, 43; Hervorhebung im Original)
BERTHELE, einer der Schweizer Linguisten, die in neuerer Zeit die Bilingualismusthese verfechten, stellt sich hier auf einen leicht anderen Standpunkt: So werde Standarddeutsch zwar mehrheitlich als „Fremdsprache“ bezeichnet, „aber im präzisierenden Gespräch als eine andere Art von Fremdsprache als etwa das Französische“ (BERTHELE 2004, 127; Hervorhebung im Original im Fettdruck)54. Für RIS – wie auch für BERTHELE – ist aber entscheidend, was die Sprecher selbst für eine Wahrnehmung der Sprachsituation haben: Es ist folglich müssig, jemanden, dessen Sprachlichkeit und sprachliche Selbstbegegnung sich ganz in der Mundart vollzieht, belehren zu wollen, er hätte Hochdeutsch gefälligst auch als „Muttersprache“ zu betrachten, genau so wie es verkehrt wäre, einem schweizerischen Schriftsteller vorwerfen zu wollen, dass er in der Sprache der nördlichen Nachbarn nicht nur schreibt, sondern auch denkt. (RIS 1990, 43)
Für RIS gilt es dennoch zu differenzieren, denn er gibt zu bedenken, dass kein Sprachgefühl existiert, dass für alle Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer verbindlich ist, und es deshalb wahrscheinlich sei, dass das Diglossiemodell nach wie vor gültig sei, insbesondere für solche Personen, die mit Deutschen oder Deutschland verbunden sind, oder älteren gebildeten Personen (vgl. RIS 1990, 43– 44). Gemäss seiner Einschätzung ist Bilingualismus jedoch die treffendere Beschreibung der Deutschschweizer Sprachsituation. RIS erklärt diese Wandlung hin zu einer „eher nahezu bilinguale[n] Sprachsituation in der deutschen Schweiz“ als Reaktion auf Wandlungen des kulturellen (und natürlich auch sozioökonomischen) Selbstbildes des Deutschschweizers vor allem im Hinblick auf seine Einstellung zu Deutschland, in weit geringerem Masse auch zu den bis in die Nachkriegszeit als kulturell überlegen betrachteten Schweizer[n] französischer und italienischer Zunge (RIS 1990, 48).
und Lehrstühlen möglichst Bühnensprache sprechen wollten, und daneben einen weit grösseren Bevölkerungsanteil, der gesprochenes Deutsch aus dem Munde von Deutschen entweder nur unzureichend verstand oder gar nicht mehr hören wollte, so ist heute gesprochenes Hochdeutsch in jedem Fernsehzimmer präsent, genau so wie ein grosser Teil der Bevölkerung heute mit hochdeutsch sprechenden Zuzügern und Feriengästen in Kontakt kommt und deren Sprache hört, auch wenn er ihnen nicht unbedingt in ihrer Sprache antworten will.“ (RIS 1990, 43; Hervorhebung im Original) 54 Der Diglossie-Verfechter HAAS (2004, 89) weist darauf hin, dass in diglossischen Gesellschaften „die ‚verwandte‘ H-Varietät auf eine Weise [erworben werde; S.O.], die vom ‚gewöhnlichen‘ Fremdspracherwerb abweicht“. Es handelt sich für ihn also nicht um einen Fremdspracherwerb im eigentlichen Sinne – und somit wohl auch nicht um eine Fremdsprache im eigentlichen Sinne.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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Für WERLEN (1998)55 handelt es sich bei den Deutschschweizer Verhältnissen um „asymmetrische Zweisprachigkeit“. Er stellt fest, dass sich die Sprachsituation in der Deutschschweiz seit den Fünfzigerjahren, als FERGUSON seinen Beitrag veröffentlichte, stark verändert hat, was zur terminologischen Anpassung mediale Diglossie von KOLDE geführt habe. WERLEN beschreibt detailliert, inwiefern es zu Veränderungen und Anpassungen im Kommunikationsverhalten der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer gekommen ist. Dabei bleibt er nicht bei der Beschreibung der Kontexte des mündlichen Dialekt- und des schriftlichen Standarddeutschgebrauchs stehen, sondern weitet den Blick als einer der ersten ausführlich auf schriftlichen Dialekt- und mündlichen Standarddeutschgebrauch aus sowie zusätzlich auf die rezeptive Seite der Kommunikation, die seiner Meinung nach in bisherigen Beschreibungen der Sprachsituation vernachlässigt wurde (vgl. WERLEN 1998, 24). Er stellt dabei die „Interpretation als mediale Diglossie in Frage“ (WERLEN 1998, 33; Hervorhebung im Original) und plädiert dafür, dass die Kommunikation nach verschiedenen Kriterien aufgeschlüsselt und getrennt zu betrachten ist: „zwischen Produktion und Rezeption, zwischen Literalität und Oralität, zwischen massenmedialer und persönlicher Funktion, zwischen In-Group und OutGroup-Kommunikation“ (WERLEN 1998, 33). Da zwar sowohl das Schweizerdeutsche wie auch das (Schweizer) Standarddeutsche „als voll ausgebaute Varianten beansprucht“ werden, dieser Ausbau aber nicht für beide Varietäten auf die gleiche Art und Weise vonstatten geht – zum einen, weil der Ausbau beim Dialekt ungesteuert passiert, bei Standarddeutsch hingegen gesteuert über die Schule, zum anderen, weil im Bereich des Standards „die oralen Register weitgehend vernachlässigt werden“ –, benennt WERLEN die Situation mit „asymmetrischer Zweisprachigkeit“ (WERLEN 1998, 33)56. Er vermeidet zwar so die klare Positionierung im Lager der Bilingualismusverfechter, zeigt aber unmissverständlich auf, dass in seinen Augen der Diglossiebegriff ausgedient hat. Die Meinung, dass die Beschreibung der Sprachsituation in der Deutschschweiz als Diglossie inadäquat ist, teilt auch BERTHELE (2004). Er hält die „Diglossie-Sichtweise aus volkstümlicher und aus linguistischer Sicht“ für „problematisch“ und kritisiert an dieser Sichtweise insbesondere, dass sie nicht dem Empfinden und der Selbsteinschätzung der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer selbst entspricht. Das „Insistieren auf dem Diglossie-Begriff“ hält er für eine „primär ideologische Position“ (BERTHELE 2004, 112). Das Einnehmen der 55 Diese Publikation wird von HAAS (2004, 84) als „sorgfältigste Beschreibung der Deutschschweizer Diglossie zwanzig Jahre später [= nach dem Aufsatz von KOLDE 1981; S.O.]“ bezeichnet. 56 HAAS (2004, 103) hält WERLENS Konzept für nicht überzeugend, sind doch „[i]n keinem Fall von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit […] alle Teilkompetenzen symmetrisch entwickelt, und noch weniger ist irgendwo der Zustand absoluter sprachlicher Gleichheit aller erreicht: ‚Asymmetrischer Bilingualismus‘ ist eine Tautologie“. Für HAAS (2004, 103) ist die Deutschschweiz nach wie vor ein „prototypische[r] Fall von Diglossie“ und er sieht denn auch keinen Grund, „einem derart prototypischen Fall von Diglossie einen unzutreffenden Namen zu geben – sei dies nun ‚Bilingualismus‘ (Ris 1990) oder ‚asymmetrischer Bilingualismus‘ (Werlen 1998)“.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
Gegenposition, also der These des Bilingualismus, als deren Verfechter sich BERTHELE positioniert, sei „naturgemäss genauso ideologisch“ (BERTHELE 2004, 113), aber sie habe einen entscheidenden Vorteil: Sie nimmt die Sprecherinnen und Sprecher ernst(er). [Sie] hat […] den Vorteil, sowohl mit der Laien-Ideologie der DeutschschweizerInnen selber als auch mit dem Erleben der die Deutschschweiz Besuchenden besser übereinzustimmen (BERTHELE 2004, 113).
Die Argumentation BERTHELES erfolgt auf zwei verschiedenen Pfaden: Einerseits entkräftet er die Gültigkeit der Eigenschaften, die FERGUSON zur Definition für Diglossie anführte, für die Deutschschweiz (vgl. dazu Kap. 2.4.1), andererseits plädiert er für die bessere Wahrnehmung der Sprecherperspektive und demnach den Standpunkt, dass Standarddeutsch für die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer eine Art Fremdsprache sei. Natürlich sei Schweizerdeutsch „sicherlich keine solche prototypische Sprache“57, jedoch „reichen diejenigen Merkmale, die die schweizerdeutschen Dialekte von der Standardsprache unterscheiden/abgrenzen allemal aus, ihr einen ‚gewissen‘ Sprachstatus zuzugestehen“ (BERTHELE 2004, 126–127). Dies werde auch von den Laien im Gespräch so geäussert: „Die Standardsprache wird nach meiner Beobachtung spontan nicht nur einfach als andere Sprache als der Dialekt bezeichnet, sondern mehrheitlich sogar als Fremdsprache […]“ (BERTHELE 2004, 127; Hervorhebungen im Original Fettdruck) und die „Idee der Fremdsprachlichkeit des Hochdeutschen“ werde „auch von aussen wahrgenommen“. Es handle sich beim Standarddeutschen in der Deutschschweiz ebenso wenig um eine prototypische Fremdsprache, wie Schweizerdeutsch eine prototypische Sprache sei, denn die Fremdsprachlichkeit des Standarddeutschen sei nicht für alle Kontexte gleich hoch: Wenn aber Laien vom Hochdeutschen als Fremdsprache sprechen […], so meinen sie damit die emotionale Fremdheit des Standards. Die Fremdheit des Hochdeutschen nimmt für den Deutschschweizer im Bereich der Mündlichkeit mit abnehmendem Formalitätsgrad zu. In der Schriftlichkeit sind die Verhältnisse umgekehrt: Es gibt zwar eine alltägliche Praxis informellen Dialektschreibens, doch je formeller der Schreibanlass, desto klarer ist die Standardsprache die unmarkierte Wahl. Auch im Bereich der Schriftlichkeit sind dabei die Dinge im Fluss, entwickelt sich doch neben der dialektalen Schriftlichkeit in der Deutschschweiz auch eine der Mündlichkeit nähere standardsprachliche Schriftlichkeit […]. Entscheidend für den konstatierten und bedauerten ‚fremden‘ Status der Standardsprache im Bewusstsein der DeutschschweizerInnen […] ist jedoch wahrscheinlich die Tatsache, dass eben ausgerechnet im unmarkiertesten aller Sprachverwendungskontexte die grössten Barrieren bestehen, dass man, selbst nach höherer Ausbildung und mit viel Kontakt zur Schriftsprache, sich gerade in alltäglichen Situationen der Standardsprache nur schlecht zu bedienen weiss. (BERTHELE 2004, 128)
Für die Sprecherinnen und Sprecher ist Standarddeutsch also emotional fremd. BERTHELE (2004, 128–129) plädiert dafür, dass Sprachwissenschaftler/-innen diese 57 „Prototypische Sprachen in den westlichen Folk-Modellen haben eine beträchtliche literarische und nichtliterarische Schrifttradition, kodifizierte Grammatiken, von umliegenden Sprachen distinkte sprachliche Merkmale auf allen Beschreibungsebenen, oft ein politisch souveränes ‚Mutterland‘, haben eine oder mehrere Prestigevarietäten, werden von SprecherInnen anderer typischer Sprachen nicht ohne Lernaufwand verstanden, etc.“ (BERTHELE 2004, 126)
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volkstümlichen Gebrauchs- und Sichtweisen berücksichtigen (und gründlich erforschen), statt sie einfach als ‚Gerede‘ von der Fremdsprache Hochdeutsch (SIEBER / SITTA 1986, 34) wegzuwischen.
Für ihn sind es denn auch „AkademikerInnen, SchrifstellerInnen und sonstige VertreterInnen des bildungsbürgerlichen Standes, die das Diglossie-Modell favorisieren“58 (BERTHELE 2004, 131). Dies hänge damit zusammen, dass mit dem Terminus Bilingualismus „ein[…] verborgene[r] Wille[…] zur Abkoppelung vom deutschen Sprachraum“ (BERTHELE 2004, 131) verbunden werde.59 Zusätzlich verwenden diese Bevölkerungsschichten das Standarddeutsche häufiger, was sie zur Beschreibung der Sprachsituation als Diglossie bringe. Demgegenüber stehe aber eben „die grosse Mehrheit der Betroffenen“, deren „Sprachrealität […] aus Innen- und Aussensicht mit Zweisprachigkeit besser charakterisiert ist“ (BERTHELE 2004, 131; Hervorhebung im Original). Es handelt sich dabei aber nicht um einen prototypischen Fall von Bilingualismus, sondern um einen besonderen Fall der Zweisprachigkeit, mit einer ‚typischen‘ Sprache Hochdeutsch und einer ihr eng verwandten ‚untypischen‘ Sprache Schweizerdeutsch […]. Während erstere typischerweise für die Schriftlichkeit verwendet wird, dominiert letztere typischerweise die Mündlichkeit, wobei keine dieser Zuordnungen streng kategorisch ist. (BERTHELE 2004, 131)
Dieses Statement zeigt exemplarisch auf, dass die Sprachsituation in der Deutschschweiz von einem Verfechter des Bilingualismus kaum anders beschrieben wird als von einem Verfechter der Diglossie: „In der Deutschschweiz schreibt man – prinzipiell Standardsprache, und man spricht – ebenso prinzipiell – die Mundarten“ (SIEBER 2010, 374) [Hervorhebung im Original]. Die Unterschiede liegen in der Einnahme und Verteidigung der Laiensicht60, aus welcher die Standardsprache häufig als Fremdsprache eingeschätzt wird. 2.4.4 Primärsprache, Sekundärsprache, Fremdsprache Einen dritten terminologischen und ideologischen Weg schlagen HÄGI / SCHARLOTH (2005, 40) ein: Sie plädieren dafür, die „Frage, ob Standarddeutsch für 58 Vgl. auch Fussnote 26 (Kap. 2) zu BERTHELES Meinung über die Feststellung des Schriftstellers HUGO LOETSCHER, er sei zweisprachig innerhalb einer Sprache. 59 Auch SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID (1991, 80, Fn. 35) gehen davon aus, dass die „Befürworter eines vermehrten Gebrauchs der Standardsprache […] vor allem aus dem Bildungsbürgertum [kommen]“ und für diese der Zusammenhang mit dem gesamten deutschsprachigen Kulturraum zentral ist. 60 Mit Laien sind linguistisch nicht geschulte Personen gemeint. Lange wurde (insbesondere in der Dialektologie) das Wissen sogenannter Laien nicht berücksichtigt. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts rückt nun diese Laiensicht immer stärker ins Zentrum des linguistischen Interesses, im deutschsprachigen Raum seit den Neunzigerjahren. Die Laienlinguistik beschäftigt sich damit, „über welche Wissensbestände der linguistische Laie, der Nichtspezialist, der Alltagsmensch im Unterschied zum Linguisten verfügt“ (HUNDT / ANDERS / LASCH 2010, XI). Vgl. zur Laienlinguistik im Allgemeinen z. B. ANTOS (1996), PRESTON (1999), ANDERS et al. (2010). Für laienlinguistisch geprägte Arbeiten vgl. z. B. ANDERS (2010), PURSCHKE (2011).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
Deutschschweizer eine Fremdsprache ist“, unbeantwortet zu lassen und diese „zu verwerfen“. Sie sei nämlich „falsch gestellt, denn sie stellt den Befragten vor Alternativen, die vor dem Hintergrund der Sprachsituation in der Deutschschweiz nicht angemessen sind“. HÄGI / SCHARLOTH (2005, 41) schlagen denn auch vor, „dieses kategoriale Prokrustesbett zu verlassen“ und bieten anstelle des Diglossiebzw. des Bilingualismuskonzepts das Konzept der „Sekundärsprache“ an: Im Vergleich zur Primärsprache wird die Sekundärsprache von den autochthonen Sprechern untereinander seltener verwendet, gehört jedoch im Gegensatz zu einer Fremdsprache durchaus zum Alltag. Die produktive Kompetenz in der Sekundärsprache unterscheidet sich von der in der Primärsprache hinsichtlich der Anzahl der stilistischen Register, über die die Sprecher verfügen. Dies wirkt sich auch auf die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten aus: Während die Selbsteinschätzung der rezeptiven Kompetenz bei Primär- und Sekundärsprache gleich ist, halten die Angehörigen der Sprachgemeinschaft häufig ihre eigene Kompetenz für defizitär. Die Sekundärsprache ist immer voll ausgebaut und standardisiert und hat eine größere kommunikative Reichweite als die Primärsprache. Die Verteilung des Sprachprestiges ist stark abhängig von der Gebrauchssituation. Affektiv steht die Primärsprache für Vertrautheit, Nähe, Wärme und gilt als emotionale Heimat, der Gebrauch der Sekundärsprache ist dagegen verbunden mit Funktionalität, Formalität oder Distanz. Im Unterschied zur Sekundärsprache symbolisiert die Primärsprache lokale, regionale oder gar nationale Identität. (HÄGI / SCHARLOTH 2005, 41; Hervorhebungen S.O.)
HÄGI / SCHARLOTH fächern die soziolinguistischen Charakteristika von Primär-, Sekundär- und Fremdsprache auf und zeigen damit klar die Überschneidungen, aber auch die Abgrenzungen von Sekundär- und Fremdsprachen auf. Die Vorteile des Konzeptes liegen für HÄGI / SCHARLOTH (2005, 43) darin, dass die Sekundärsprache „in verschiedenen Varietäten“ realisiert werden kann, also beispielsweise sowohl ein ausgeprägtes Schweizer Standarddeutsch wie auch ein deutschländisches Standarddeutsch unter diesem Terminus gefasst werden können. Zudem enthält dieses Konzept „keinerlei sprachpolitische[n] Implikationen“ (HÄGI / SCHARLOTH 2005, 43). Dem Konzept der Sekundärsprache im Zusammenhang mit Dialekt und Standarddeutsch in der Deutschschweiz war bisher kein Erfolg beschieden. Es wurde bisher von Fachkreisen offensichtlich nicht rezipiert. Die Problematik des Konzeptes liegt darin begründet, dass es versucht, eine terminologische Lösung jenseits des Diglossie- und des Bilingualismuskonzepts zu finden, um die Frage, ob Standarddeutsch für Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer eine Fremdsprache sei, unbeantwortet lassen zu können. Es stellt sich aber die Frage, ob über ein so weit verbreitetes Stereotyp, das auch dann genannt wird, wenn man den Gewährspersonen das Stichwort „Fremdsprache“ nicht vorgibt, hinweggegangen werden kann. Angesichts der sich ausbreitenden Relevanz subjektiver Daten in der linguistischen Forschung darf dies eher bezweifelt werden: Wenn sich Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher in diese Richtung äussern, können solche Aussagen nicht ignoriert werden. Dies – zusammen mit der Tatsache, dass die beiden Konzepte der Diglossie und des Bilingualismus weitverbreitet und seit Jahren in Gebrauch sind – hat dazu geführt, dass der Vorschlag von HÄGI / SCHARLOTH bisher kaum Resonanz erfahren hat.
Das passende linguistische Beschreibungsmodell: Diglossie oder Bilingualismus?
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2.4.5 Diglossie vs. Bilingualismus Es ist davon auszugehen, dass die Diskussion um die terminologische Verortung der Deutschschweizer Sprachsituation weitergehen wird, einerseits – je nach Ideologie – an den beiden Polen Diglossie und Bilingualismus, andererseits innerhalb des jeweiligen Pols mit Zusätzen in Form neuer Attribute, die bisherige Attribute wie „medial“, „funktional“ oder „ausgebaut“ ablösen werden. Zusätzlich wird die Veränderung im Sprachverhalten der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer die Anpassung der Terminologie an die aktuelle Sprachsituation nach sich ziehen. Die Frage, ob es sich bei der Sprachsituation in der Deutschschweiz um Diglossie (mit allfälligen spezifizierenden Zusätzen) oder Bilingualismus handelt, lässt sich objektiv aus linguistischer Sicht nicht abschliessend beantworten, handelt es sich hierbei doch, wie BERTHELE ausführt, um eine ideologische Entscheidung, da sich aufgrund linguistisch-struktureller Merkmale nicht feststellen lässt, ob es sich bei zwei Varietäten um zwei Sprachen oder eher um eine Dialekt-Sprachen-Situation handelt. Der entscheidende Unterschied in den zwei theoretischen Ansätzen besteht (unter anderem) in der unterschiedlichen Bewertung der Sprechersicht: Während der Diglossieansatz das Empfinden der Sprecherinnen und Sprecher nicht in den Vordergrund stellt, nehmen die Verfechter des Bilingualismusansatzes den Standpunkt ein, dass die Sprechersicht der sogenannten „Laien“ wichtig, wenn nicht gar (mit-)entscheidend ist. Es stellt sich nun aber das Problem, dass der Einbezug der Sprechersicht ebenfalls nicht zu einer klaren Entscheidung für den einen oder anderen Standpunkt führt. So zeigen zwar verschiedene Untersuchungen, dass viele Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer „Hochdeutsch“ als (erste) Fremdsprache beurteilen (z. B. SCHARLOTH 2003, 2005, HÄGI / SCHARLOTH 2005, ENDER / KAISER 2009; vgl. dazu auch Kap. 5.2.1). Es gibt aber offenbar auch solche, die für sich selbst nicht zu diesem Schluss kommen61. Somit kann das Kriterium „den Sprecher ernst nehmen“ nicht unilateral für die These des Bilingualismus angewendet werden, sondern könnte genauso gut von den Verfechterinnen und Verfechtern des Diglossiekonzepts angeführt werden. Zudem schränken selbst RIS und BERTHELE das Fremdsprachenkonzept ein, wenn sie das Schweizerdeutsche als „‚untypische‘ Sprache“ (BERTHELE 2004, 131; Hervorhebung S.O.) bzw. als „in [seiner; S.O.] gesprochenen Form nahezu als ‚Vollsprache‘“ (RIS 1990, 42; Hervorhebung S.O.) bezeichnen: Schweizerdeutsch verdient also den Stempel einer Sprache tel quel selbst von Bilingualismus-
61 Es stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Gruppe wirklich nur um das Bildungsbürgertum, um „AkademikerInnen, SchrifstellerInnen und sonstige VertreterInnen des bildungsbürgerlichen Standes“, handelt, wie BERTHELE (2004, 131) dies annimmt, oder ob nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Fremdsprachenhypothese quer durch die Schichten ihre Anhänger findet, wie auch die Diglossie-Sichtweise ausserhalb des Bildungsbürgertums unterstützt werden kann, in Abhängigkeit davon, nach welchem Konzept von Hochdeutsch man die Leute fragt. Vgl. dazu z. B. CHRISTEN et al. (2010) sowie Kap. 10.
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
verfechtern nicht. Der Grund dafür liegt im asymmetrischen Verhältnis der beiden Varietäten, wie selbst RIS (1990, 42–43) anmerkt: Aber auch wenn der aktiv gesprochenen Sprache Priorität für die Zuweisung einer Sprachform als der eigentlichen Muttersprache zukommt, so sind doch die Relativierungen vorzunehmen, dass erstens das passive Verständnis des gesprochenen Hochdeutschen – auch in leicht umgangssprachlichen Varianten der Bundesrepublik – weitgehend gegeben ist (im Gegensatz zu früher, wo viele Schweizer nur das Schriftdeutsch der Schule und der Kanzel im Ohr hatten), und dass zweitens Hochdeutsch als Schriftsprache kaum angefochten ist – trotz des Reichtums an Mundartliteratur und der zunehmenden Verwendung der Mundart in der Korrespondenz zwischen Jugendlichen – und dass die schriftliche hochsprachliche Kompetenz der Deutschschweizer sich kaum signifikant von derjenigen von Deutschen unterscheidet. [Hervorhebungen im Original]62
In diesem Zitat werden verschiedene Themenfelder aufgeworfen, die im Rahmen dieser Studie angesprochen werden: Einerseits scheinen Spracheinstellungen bzw. Spracheinstellungsäusserungen von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern die Bevorzugung der Bilingualismusthese von RIS und BERTHELE zu stützen (anders WERLEN, der der Sprecherperspektive keine spezielle Aufmerksamkeit schenkt). Wie steht es um die Bewertung von „Hochdeutsch“ als Fremdsprache in der Deutschschweiz? Die Frage nach Spracheinstellungen und entsprechenden Untersuchungen zur Deutschschweiz wird in Kap. 5.2 geschildert werden. Andererseits werden in diesem Zitat die zwei Konstellationen angesprochen, die der klassischen medialen Diglossie widersprechen, die aber beide ihren offensichtlichen Platz in der Deutschschweizer Sprachrealität eingenommen haben: der geschriebene Dialekt und das gesprochene Standarddeutsch. Wie hat sich der Sprachgebrauch in den vergangenen Jahrzehnten in dieser Hinsicht verändert? Die dritte Frage, die im Zitat aufgeworfen wird, ist diejenige nach der Art des gesprochenen (und allenfalls auch geschriebenen) „Hochdeutschen“: in diesem Fall das der Bundesrepublik Deutschland versus dem der Deutschschweiz. Dies führt zur Thematik der Plurizentrizität, der sich das folgende Kapitel widmet. 2.5 DEUTSCH ALS PLURIZENTRISCHE SPRACHE In diesem Kapitel werden zuerst die zentralen Termini im Zusammenhang mit dem Plurizentrizitätskonzept am Beispiel des Deutschen vorgestellt, um anschliessend auf die spezifische Situation des Schweizer Standarddeutschen und dessen Bewertung durch die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer einzugehen.
62 RIS geht sogar noch einen Schritt weiter und geht davon aus, dass sich die Deutschschweizer „schon nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland“ gute mündliche Fähigkeiten in der hochdeutschen „Umgangssprache“ aneignen und zwar mit derselben Leichtigkeit, wie dies Österreicher tun, „deren sprachlicher Ausgangspunkt hochsprachenäher ist und die ihrer Standardsprache weiterhin eine sehr grosse Domäne zuweisen“. Es könne also „auch in der Schweiz jeder fliessend hochdeutsch sprechen […], der es will oder muss“ (RIS 1990, 43).
Deutsch als plurizentrische Sprache
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2.5.1 Definitionen Deutsch wird als plurizentrische Sprache63 bezeichnet. Eine Sprache ist dann plurizentrisch, wenn sie „in mehr als einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch ist und wenn sich dadurch standardsprachliche Unterschiede herausgebildet haben“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, XXXIX).64 Deutsch ist Amtssprache in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien sowie Südtirol. Die Sprache besteht also aus mehreren Zentren; unterschieden werden Vollzentren und Halbzentren65. Als Vollzentren des Deutschen werden die Länder bezeichnet, in denen die „eigene[n] standardsprachlichen Besonderheiten“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, XXXIX) in eigenen Kodizes festgehalten sind: Deutschland, Österreich sowie die (deutschsprachige) Schweiz. Bei den Zentren, wo eigene Kodizes fehlen, handelt es sich um Halbzentren: Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Die Ausformungen der deutschen Sprache in den einzelnen Zentren werden „Standardvarietäten“ genannt: Standarddeutsch in der Schweiz ist also eine Standardvarietät des Deutschen. Das Entscheidende am Konzept der Plurizentrizität (auch „Plurizentrik“ genannt, z. B. bei SCHMIDLIN 2011) ist, dass die „standardsprachliche[n] Unterschiede“, die Varianten, „nicht als Abweichungen von einer übergreifenden deutschen Standardsprache gelten, sondern als gleichberechtigt nebeneinander bestehende standardsprachliche Ausprägungen des Deutschen“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016, XLI). Die verschiedenen Varietäten sind demnach gleichwertig und im jeweiligen Zentrum gültig und richtig. Die Standardvarietäten der einzelnen Zentren bestehen aus einer grossen Zahl an Konstanten, also sprachlichen Elementen, die im gesamten deutschen Sprachraum nicht variieren (z. B. Baum), und den jeweiligen Varianten66. Diese kommen auf sämtlichen sprachlichen Ebenen vor (für Beispiele aus dem Schweizer Standarddeutschen vgl. SIEBER 2010, 376–380): Sie sind also keinesfalls auf die Lexik
63 Für die Theorie des Plurizentrizitätskonzepts vgl. insbesondere CLYNE (1992a, 1992b, 2004) sowie AMMON (2005). Für das Deutsche hat AMMON (1995) die Diskussion lanciert und insbesondere die Standardvarietät der Deutschschweiz (die Situation in Österreich präsentiert sich seit Jahrzehnten anders, vgl. AMMON 1995, 208–209) aufgewertet; für SIEBER (2010, 375) ist es „eine erste differenzierte linguistische Auseinandersetzung mit schweizerischen Formen des Hochdeutschen“. Für das Deutsche vgl. zudem AMMON et al. (2004), SCHMIDLIN (2011) sowie AMMON / BICKEL / LENZ (2016). 64 Neben Deutsch sind z. B. auch Englisch, Spanisch, Französisch oder Portugiesisch plurizentrische Sprachen. Für weitere Beispiele plurizentrischer Sprachen vgl. CLYNE (1992b). 65 In der Zweitauflage des Variantenwörterbuchs (AMMON / BICKEL / LENZ 2016; Erstauflage: AMMON et al. 2004) werden zusätzlich noch Viertelzentren berücksichtigt: Rumänien, Namibia sowie die mennonitischen Gemeinschaften in Nord- und Südamerika, wo das Deutsche „keinen Status als Amtssprache besitzt und zudem keine Kodifizierung vorliegt, aber dennoch Modelltexte und Sprachnormautoritäten existieren“ (SCHNEIDER-WIEJOWSKI 2013, 118). 66 Die nationalen Varianten der Schweiz werden „Helvetismen“, diejenigen Österreichs „Austriazismen“ und diejenigen Deutschlands „Teutonismen“ genannt. Zur Diskussion der Terminologie für die nationalen Varianten Deutschlands vgl. SCHNEIDER-WIEJOWSKI/AMMON (2013).
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
beschränkt, für diese aber dank des „Variantenwörterbuchs des Deutschen“ (AMMON et al. 2004 bzw. AMMON / BICKEL / LENZ 2016) am besten dokumentiert.67 2.5.2 „Plurizentrisch“, „plurinational“, „pluriareal“ – terminologische (und politische) Grabenkämpfe Ein Blick in das Variantenwörterbuch zeigt, dass viele der sogenannten nationalen Varianten unspezifische Varianten sind, d. h. nicht nur in einem der Zentren gültig und gebräuchlich, sondern in mehreren: So ist beispielsweise Aprikose gleichzeitig Helvetismus und Teutonismus, alleine die Österreicher nennen diese Steinfrucht Marille, dieses Lexem ist somit ein spezifischer Austriazismus. Die Frage, ob die Sichtweise der nationalen Standardvariation vertretbar ist, stellt sich auch angesichts von unzähligen Fällen, in denen ein Lexem nur in Teilen eines Landes gültig ist bzw. in Teilen eines Landes sowie im angrenzenden Land. Auf diese grenzüberschreitende Variation gehen AMMON / BICKEL / LENZ (2016, XLVII) selbst ein und verneinen sie keinesfalls: Entsprechend der historisch weit zurückreichenden geographischen Grobstruktur des deutschen Sprachraums gibt es auch auf der Ebene der Standard- und Umgangssprache zahlreiche Wörter, deren Verbreitung nicht auf Österreich bzw. eine Region Österreichs beschränkt ist, sondern über die Staatsgrenzen hinausgeht. Gemeinsamkeiten in der Standardsprache kommen besonders mit Bayern und dem gesamten süddeutschen Raum sowie von Vorarlberg mit der Schweiz und Südwestdeutschland vor.
Dennoch haben solche Fälle zur Kritik68 geführt, dass das Konzept der Plurizentrizität in seiner Interpretation als rein „plurinational“ falsch sei, da die Varianten Nationengrenzen tatsächlich häufig überschreiten.69 Als Alternative wird – z. B. von SCHEURINGER (1996) – der Terminus der „Pluriarealität“ vorgeschlagen, welcher der Tatsache dieser grenzüberschreitenden Variation Rechnung trägt, die insbesondere im Süden des deutschsprachigen Raumes vorherrscht. SCHMIDLIN (2011, 4, Fussnote 6) kann den Einwand gerade für den Grenzraum Süddeutschland-Österreich nachvollziehen, sieht aber keinen Widerspruch im Begriff der Plurizentrizität, solange „man nicht nur nationale Varianten, sondern auch regionale Varianten berücksichtigt, deren Geltungsareale über nationale Grenzen hinausgehen“. Dieser Argumentation folgend, wird auch in der vorliegenden Studie von „Plurizentrizität“ gesprochen, die jedoch nicht als Plurinationalität, sondern als regionale Plurizentri-
67 Auf (morpho-)syntaktischer Ebene folgt die „Variantengrammatik des Deutschen“ (vgl. z. B. DÜRSCHEID / ELSPASS / ZIEGLER 2015), ein Handbuch, in dem „die arealen Unterschiede in der Grammatik der deutschen Standardsprache“ dokumentiert werden (DÜRSCHEID / ELSPASS / ZIEGLER 2015, 212). 68 Vgl. z. B. SCHEURINGER (1996), ELSPASS (2005), GLAUNINGER (2013). 69 Die Kritik bezog sich zudem auf die Tatsache, dass das Plurizentrizitätskonzept nicht in der Wahrnehmung der Sprecherinnen und Sprecher angekommen war, vgl. z. B. ELSPASS (2005, 301).
Deutsch als plurizentrische Sprache
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zität verstanden werden will.70 Diese Entscheidung wurde insbesondere auch angesichts der Tatsache gefällt, dass der hier untersuchte Sprachraum, die Deutschschweiz71, ein homogeneres Gebiet als das häufig diskutierte Übergangsgebiet Bayern-Österreich bildet und die sich in der bisherigen Forschung herausgestellten Varianten (in der Orthographie, Morphologie und Lexik) meist im gesamten Deutschschweizer Sprachraum Gültigkeit haben. Somit präsentiert sich die Deutschschweiz „trotz deutlicher Unterschiede zwischen den Dialekten in den einzelnen Regionen […] auf der Ebene der Standardsprache weitgehend“ als Einheit (BICKEL / LANDOLT / Schweizerischer Verein für die Deutsche Sprache 2012, 8). 2.5.3 Schweizer Standarddeutsch – eine gleichberechtigte Varietät Wenn man nun also von einer plurizentrischen Sprache Deutsch ausgeht, bedeutet dies für die Deutschschweiz, dass die Varianten in Phonetik, Morphologie, Syntax, Lexik, Orthographie, Semantik und Pragmatik im Standarddeutschen, wie es in der Schweiz (mündlich und schriftlich) verwendet wird, standardsprachlich und korrekt sind: Das vielzitierte „Schweizer Hochdeutsch“ (z. B. BACHMANN / GOOD 2003, 13) ist also die Varietät, die die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer „selbstbewusst“ verwenden können (und nach der Meinung verschiedener Exponentinnen und Exponenten von Bildungsforschung und -politik auch sollten, vgl. z. B. BACHMANN / GOOD 2003 oder zu den Aussagen von Bildungspolitiker/-innen OBERHOLZER 2006). Diese Varietät ist – folgt man dem Konzept der Plurizentrizität – den anderen Standardvarietäten des Deutschen gleichwertig. „Das Spannungsfeld der nationalen Zentren des Deutschen“ hat AMMON „deutlich ins Bewusstsein gehoben“ (SIEBER 2010, 375). Gemäss SIEBER (2010, 375) […] war und ist [dies] gerade für die Schweiz von besonderer Bedeutung, ist doch hier das Prestige und der Stellenwert der nationalen Varietät Schweizerhochdeutsch aufgrund der starken Stellung der Dialekte keineswegs gesichert, im Gegenteil […].
Das Konzept der Plurizentrizität ist demnach gerade aus Deutschschweizer Sicht von grossem Interesse. Das Schweizer Standarddeutsch ist denn auch in den letzten Jahren „[ü]ber den engen Rahmen der sprachwissenschaftlichen Diskussion hinaus […] als eigenständige Varietät des Deutschen im deutschsprachigen Gebiet wahrgenommen worden“ (SIEBER 2013, 126). Die Auffassung des Deutschen als plurizentrische Sprache hat sich in verschiedenen Kodizes niedergeschlagen, auch 70 Das Projekt der Variantengrammatik verzichtet hingegen bewusst auf die Verwendung des Terminus Plurizentrizität und zieht stattdessen Pluriarealität vor, da Ersterer „gerade im Kontext des Variantenwörterbuchs stark an das Konzept der ‚nationalen Vollzentren‘ gebunden ist“ (DÜRSCHEID / ELSPASS / ZIEGLER 2015, 211). 71 Sogar GLAUNINGER (2013, 127; Hervorhebung S.O.), einer der Verfechter des Konzepts der Pluriarealität bzw. der supra-/postnationalen Sichtweise, räumt der Schweiz einen Sonderstatus ein: „Diesem Konzept [= der Plurinationalität; S.O.] und somit den darauf gründenden Postulaten fehlen im deutschen Sprachraum, den Sonderfall Schweiz ausgenommen, die historischen Voraussetzungen.“
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
solchen, die (teils ausschliesslich) die Schweizer Standardvarietät kodifizieren: Neben dem bereits erwähnten Variantenwörterbuch (AMMON et al. 2004 sowie AMMON / BICKEL / LENZ 2016) ist für die Lexik auf BICKEL / LANDOLT / Schweizerischer Verein für die Deutsche Sprache (2012) sowie für die phonetische Ebene auf HAAS / HOVE (2010) hinzuweisen (vgl. SIEBER 2013, 128), auf grammatischer Ebene steht die bereits erwähnte Variantengrammatik kurz vor dem Abschluss (vgl. z. B. ELSPASS / DÜRSCHEID 2017).72 2.5.4 Plurizentrizitätsbewusstsein der Deutschschweizer/-innen Ob die Erkenntnis, dass es sich beim von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern gesprochenen und geschriebenen Standarddeutsch um eine korrekte Standardvarietät handelt und keinesfalls um eine minderwertige oder gar falsche Ausgabe eines Standarddeutschs, das „die Deutschen“ sprechen, in den Köpfen der Mehrheit der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer allerdings angekommen ist, darf mit Recht bezweifelt werden: Davon zeugen einerseits die Stimmen von Deutschschweizer Laien, die „Hochdeutsch“ als erste Fremdsprache bezeichnen (vgl. dazu beispielsweise SCHARLOTH 2005, 2006 sowie Kap. 5.2.1), andererseits aber auch das Korrekturverhalten von Lehrpersonen, sogenannter Normautoritäten (vgl. AMMON 1995, 80), die „Helvetismen als fehlerhaftes Deutsch [betrachten]“ (SCHMIDLIN 2011, 104). Dies zeigte schon die von AMMON (1995, 423–447) durchgeführte Untersuchung mit einem Aufsatz, der in drei Versionen – einer mit Teutonismen, einer mit Austriazismen und einer mit Helvetismen73 – vorlag und von den Lehrpersonen aus den drei Ländern korrigiert werden sollte: Die Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer korrigierten teilweise eigene Varianten und waren zudem auch toleranter gegenüber Teutonismen. Zwar fand diese Untersuchung vor der Diskussion um die Plurizentrizität des Deutschen statt, die AMMON selbst ja mit seinem Werk von 1995 ausgelöst hat, aber einerseits waren bereits zu jenem Zeitpunkt gewisse lexikalische Helvetismen kodifiziert (beispielsweise im Rechtschreibeduden), hätten also den Lehrpersonen bekannt sein können, andererseits zeigen die Daten von LÄUBLI (2006), dass sich die Situation auch zehn Jahre später – mitten in der Diskussion um ein selbstbewusstes Schweizer Hochdeutsch – nicht massgeblich geändert hat. In die gleiche Richtung weisen die Daten SCHMIDLINS, die für die Deutschschweizer Gewährspersonen74 ein geringes „Bewusstsein der standardsprachlichen Gültigkeit von Eigenvarianten“ feststellt (SCHMIDLIN 2011, 226), wohingegen sich die Österreicher/-innen den Austriazismen gegenüber bedeutend loyaler verhalten (vgl. SCHMIDLIN 2011, 228). 72 Einen institutionsspezifischen Kodex bildet der Text von GEIGER et al. (2006) für Sprecherinnen und Sprecher des öffentlichen Radios. 73 Zur Kritik an den von AMMON für die Untersuchung gewählten nationalen Varianten vgl. SCHMIDLIN (2011, 201). 74 Die Gewährspersonen haben einen Onlinefragebogen ausgefüllt. Für die Zusammensetzung des Samples nach höchstem Bildungsabschluss vgl. SCHMIDLIN (2011, 216–217). Es handelt sich also nicht um eine Befragung von Lehrpersonen.
Zusammenfassung
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Zusätzlich zeigt sich, dass die Gewährspersonen aus der Schweiz eigenen Varianten teils die vollständige Standardsprachlichkeit absprechen (vgl. SCHMIDLIN 2011, 252, 254). SCHMIDLIN weist aber auch auf den Widerspruch hin, der sich für Gewährspersonen aus der Schweiz ergibt: Wird ihnen die Verwendung bestimmter Varianten in einem bestimmten Kontext vorgelegt, geben sie häufig an, sie zu kennen und selbst zu verwenden. Wird ihnen eine Reihe von Varianten vorgelegt, mit denen sie einen Satz ergänzen sollen, wählen sie die Eigenvarianten jedoch häufig ab. Man könnte diesen Widerspruch als plurizentrisches Wunschbild interpretieren, welches in sich zusammenfällt, sobald es zur Variantenwahl in einem konkreten sprachlichen Kontext kommt. (SCHMIDLIN 2011, 283)
Schweizerinnen und Schweizer tendieren stärker als Befragte aus anderen Regionen dazu, bei einer Auswahl von mehreren Varianten, die (nord-)deutsche zu bevorzugen, beurteilen aber Helvetismen, die ihnen „in einem gängigen Kontext vor[gesetzt werden] – notabene ohne sie als Helvetismen zu deklarieren“, als eher standardsprachlich (SCHMIDLIN 2011, 285). Sie unterscheiden sich in ihrem Verhalten z. B. von den Österreicher/-innen und den Süddeutschen, auch von jenen, die ebenfalls zum alemannischen Dialektgebiet gehören. SCHMIDLIN (2011, 290–291) hält es für möglich, dass das gespaltene Verhältnis der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer zu ihren eigenen Varianten mit der „Überlagerung von Helvetismen und Dialektalismen“ zu tun hat, was zur „Unsicherheit im Hinblick auf die standardsprachliche Geltung von Helvetismen“ führt. Sie zweifelt zudem daran, dass sich an diesem Umstand in naher Zukunft etwas ändern könnte, würden sich doch die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer kaum mit der „standardsprachliche[n] Geltung“ von Varianten auseinandersetzen aufgrund des hohen Identifikationswertes, den das Schweizerdeutsche (im Gegensatz zum Schweizer Standarddeutschen) als Sprache der (informellen) Mündlichkeit hat (vgl. SCHMIDLIN 2011, 291). 2.6 ZUSAMMENFASSUNG Wie in diesem Kapitel gezeigt, zeichnet sich die Deutschschweizer Sprachsituation durch das Nebeneinander zweier Varietäten des Deutschen, Schweizerdeutsch (Dialekt) und (Schweizer) Standarddeutsch aus (Kap. 2.1 und 2.2). Während der Dialekt die gebräuchliche Varietät für den alltäglichen mündlichen Sprachgebrauch aller sozialen Gruppen in der Deutschschweiz ist, wird Standarddeutsch hauptsächlich schriftlich verwendet. Diese Zweiteilung ist aber nicht so kategorisch: Es finden sich einerseits Situationen, in denen der Dialekt als Sprachform der Schriftlichkeit gebraucht wird, beispielsweise für die handy- und internetbasierte Kommunikation. Andererseits wird Standarddeutsch in der Deutschschweiz auch als gesprochene Varietät gebraucht; hierfür werden drei Konstellationen unterschieden: der situations-, der adressaten- und der diskursinduzierte Standardgebrauch. Zwischen den beiden Varietäten lassen sich Mischphänomene beobachten (Kap. 2.3). Diese Formen entstehen aber nicht aus einer willkürlichen Mischung von Dialekt und Standarddeutsch, die Bildung der hybriden Formen folgt vielmehr
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Die Deutschschweizer Sprachsituation: Sprachformen und Konzepte
gewissen Regeln. Zudem konzeptualisieren die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer die beiden Varietäten als zwei getrennte Einheiten – sie selbst weisen diese Formen jeweils der einen oder der anderen Varietät zu. Für die linguistische Beschreibung dieser spezifischen Sprachsituation mit zwei nebeneinander existierenden Varietäten des Deutschen stehen sich im Wesentlichen zwei Konzepte gegenüber: Diglossie und Bilingualismus (Kap. 2.4). Ein drittes Konzept, jenes der Sekundärsprache, hat in der Fachliteratur keine grosse Aufmerksamkeit erfahren. Die Diglossie beschreibt eine Sprachsituation, in der zwei Varietäten einer Sprache nebeneinander vorkommen und jede in jeweils bestimmten Situationen benützt wird, die Verteilung der Varietäten also funktional bedingt ist. Im vorliegenden Kapitel wurde aufgezeigt, dass der ursprüngliche Diglossiebegriff, wie ihn FERGUSON geprägt hat, für die Deutschschweizer Verhältnisse gewisse Schwächen aufweist. (Deutschschweizer) Linguistinnen und Linguisten haben den Terminus durch verschiedene Attribute (koordiniert, medial, funktional, ausgebaut, konzeptionell) ergänzt, um ihn der Sprachsituation und insbesondere den durch veränderte Gegebenheiten (beispielsweise das Aufkommen neuer Kommunikationsformen) neuen sprachlichen Bedingungen anzupassen. Das Bilingualismusmodell impliziert auf der anderen Seite, dass Standarddeutsch in der Deutschschweiz als Zweit- bzw. Fremdsprache gilt; dies hängt in erster Linie an der eingeschränkten Verwendung des Standarddeutschen als gesprochene Varietät in der Deutschschweiz. Ein Hauptargument für die Beschreibung der Verhältnisse als Bilingualismus ist, dass dieser Terminus das Empfinden und die Selbsteinschätzung der Deutschschweizer Bevölkerung besser trifft, weil diese Standarddeutsch als eine Art Fremdsprache empfinde. Die Frage, ob die Deutschschweizer Verhältnisse passender mit dem Terminus Diglossie oder Bilingualismus beschrieben werden können, lässt sich vom linguistischen Standpunkt her objektiv nicht beantworten. Hilfreiche Erkenntnisse zur Beantwortung der Frage können empirische Untersuchungen zu Spracheinstellungen und Sprachgebrauch bzw. der tatsächlichen Varietätenverteilung liefern. Ein letztes wichtiges Kernkonzept im Zusammenhang mit der Deutschschweizer Sprachsituation ist die Plurizentrizität (Kap. 2.5), gemäss welcher Schweizer Standarddeutsch eine von mehreren Standardvarietäten des Deutschen ist. Die standardsprachlichen Besonderheiten der Schweiz stehen gleichberechtigt neben den standardsprachlichen Ausprägungen des Deutschen in den anderen deutschsprachigen Ländern. Während diesem Konzept in der linguistischen Forschung grosser Erfolg beschieden ist, ist es in den Köpfen der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer bisher kaum angekommen: Diese bevorzugen binnendeutsche Varianten und haben ein wenig ausgeprägtes Bewusstsein für die Standardsprachlichkeit der eigenen Standardvarietät.
3 DIALEKT UND STANDARDDEUTSCH IN DEN KIRCHEN: UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND FORSCHUNGSSTAND Im vorliegenden Kapitel wird der Untersuchungsgegenstand der Studie und der Forschungsstand zum Thema vorgestellt. In einem ersten Teil wird dabei ein Blick auf die beiden grossen Landeskirchen der Schweiz, deren Mitgliederzahlen und Organisationsstruktur geworfen (Kap. 3.1), anschliessend das Untersuchungsgebiet präsentiert (Kap. 3.2) sowie die Abläufe reformierter und katholischer Gottesdienste beschrieben (Kap. 3.3). Es folgt in einem zweiten Teil eine Darstellung des Forschungsstandes zum Thema Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen (Kap. 3.4), wobei hier zunächst Übersichtsdarstellungen zur Deutschschweizer Sprachsituation im Zentrum stehen, anschliessend werden linguistische Publikationen behandelt und letztlich wird der Fokus auf Publikationen von theologischer Seite gerichtet. Abschliessend werden in einem dritten Teil drei Typen von Dialektvorlagen präsentiert, die Deutschschweizer Pfarrpersonen zur Gestaltung ihrer Gottesdienste einsetzen können (Kap. 3.5): Dialektbibeln, Dialektlieder und Dialektliturgien. 3.1 DIE BEIDEN GROSSEN LANDESKIRCHEN Die vorliegende Untersuchung widmet sich dem Sprachgebrauch und den Spracheinstellungen von Pfarrpersonen der beiden grossen der drei Schweizer Landeskirchen: der evangelisch-reformierten und der römisch-katholischen Kirche. Ihnen gehören knapp zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung an: Zur evangelisch-reformierten Kirche bekannten sich gemäss der Strukturerhebung75 im Jahr 2012 26.9 % der Schweizer Bevölkerung, zur römisch-katholischen Kirche 38.2 %.76 Ebenfalls 75 Die Strukturerhebung ist eines der vier Kernelemente der neuen Volkszählung, die ab 2010 die vorher im Zehnjahresrhythmus stattfindende flächendeckende Volkszählung ablöste (vgl. Bundesamt für Statistik 2017a, 2017c, 2017d). Berücksichtigt werden dabei „Personen ab 15 Jahren, die in einem Privathaushalt leben“ (Bundesamt für Statistik 2017c). 76 Vgl. Bundesamt für Statistik (2018f); weitere 21.4 % waren 2012 konfessionslos und die restlichen 12.2 % verteilen sich auf andere christliche Glaubensgemeinschaften (5.7 %), islamische Glaubensgemeinschaften (4.9 %), jüdische Glaubensgemeinschaften (0.3 %) sowie andere Religionsgemeinschaften (1.3 %). Die Anteile für die beiden grossen Landeskirchen sind klar abnehmend. Von der letzten Volkszählung im Jahr 2000 bis zur Strukturerhebung im Jahr 2012 büssten beide Landeskirchen an Mitgliedern ein: die römisch-katholische um 4.1 %, die evangelisch-reformierte um 7.0 %. Diese Tendenz hält seit den 1970er Jahren an, als die beiden Kirchen zusammen noch einen Anteil von 95.5 % hatten. (Gemäss den neusten Zahlen der Strukturerhebung 2016 büsste die evangelisch-reformierte von 2012 bis 2016 nochmals 2.4 % ein, die römisch-katholische 1.7 %, vgl. Bundesamt für Statistik 2018e.)
72
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
zu den Landeskirchen der Schweiz gehört die christkatholische Kirche77, welche in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt wird. Landeskirchen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „durch den kant[onalen] Verfassungs- und Gesetzgeber, der [ihnen] Instrumente seines öffentl[ichen] Rechts zur Verfügung stellt, v. a. das Besteuerungsrecht“ (WINZELER 2008), förmlich anerkannt sind. Durch ihre allmähl[iche] Verselbstständigung und die Wahrnehmung eines entsprechenden Selbstbewusstseins haben sich die schweiz[erischen] L[andeskirchen] im 20. Jh. von Kirchen des Landes zu Kirchen im Land und von staatl[ichen] Anstalten zu Partnerinnen des Staates gewandelt. (WINZELER 2008)
Zur evangelisch-reformierten Kirche, fortan als „reformierte Kirche“78 bezeichnet, zählten sich bei der Eidgenössischen Volkszählung 2000 2’408’049 Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz (vgl. BOVAY / BROQUET 2004, 12, Tab. 2), gemäss der Strukturerhebung 2012 sind es rund zehn Jahre später noch 1’792’178 Personen79. Betrachtet man nur die Bevölkerung mit Schweizer Pass, sind es 33.1 % bzw. 1’707’298 Personen. Die reformierte Kirche war einst die „tonangebende Konfession“ in der Schweiz, verlor aber einerseits durch die Einwanderung katholischer Personen (insbesondere aus Ländern Südeuropas wie Italien, Portugal und Spanien) an Prozentanteilen, andererseits durch den anhaltenden Säkularisierungsprozess an Mitgliedern (RÜEGGER 2006). Im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche ist die reformierte Kirche nicht streng hierarchisch organisiert: Sie verfügt über eigentliche demokratische Strukturen. Dies liegt darin begründet, dass „die heutigen Strukturen der meisten ref[ormierten] Kirchen […] in der 2. Hälfte des 19. Jh. in Analogie zu den neuen polit[ischen] Strukturen gebildet“ wurden (RÜEGGER 2006). So ist die reformierte Kirche einerseits auf Gemeindeebene als autonome Kirchgemeinde mit Exekutive (Kirchgemeinderat, Kirchenvorsteherschaft) und Legislative (Kirchgemeindeversammlung), andererseits kantonal80 mit Exekutive (Kirchenrat) und Legislative (Synode) organisiert, weswegen im Folgenden auch von „Kantonalkirche(n)“ die Rede sein wird. Zur römisch-katholischen Kirche, die im Weiteren als „katholische Kirche“ bezeichnet wird, gehörten im Jahr 2000 41.82 % der Schweizer Bevölkerung, was 3’047’887 Personen entspricht (vgl. BOVAY / BROQUET 2004, 12, Tab. 2), gemäss 77 Die christkatholische Kirche ist mit 33 Kirchgemeinden in elf Kantonen vertreten und ist die kleinste der drei Landeskirchen mit rund 13’100 Mitgliedern (Stand Eidgenössische Volkszählung 2000, vgl. VON ARX 2010), was einem Anteil von 0.18 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. 78 Es handelt sich dabei um die gebräuchliche Alltagsbezeichnung für diese Kirche, wie „katholische Kirche“ die gebräuchliche Bezeichnung für die römisch-katholische Kirche ist. 79 Es handelt sich bei der Strukturerhebung allerdings um eine Stichprobenerhebung, vgl. Fussnote 75. 80 Eine Ausnahme bilden die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, deren Einzugsgebiet nicht auf einen Kanton beschränkt ist, sondern zu denen neben den Kirchgemeinden des Kantons Bern auch „die acht Kirchgemeinden im oberen Teil des Kantons Solothurn sowie die drei reformierten Kirchgemeinden des Kantons Jura“ gehören (Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn 2013).
Untersuchungsgebiet
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der Strukturerhebung 2012 sind es zwölf Jahre später noch 2’545’011 Mitglieder. Bei den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern beträgt der Anteil 37.5 %, das entspricht 1’934’250 Personen. Die katholische Kirche ist damit die grösste Glaubensgemeinschaft in der Schweiz, hat aber wie die reformierte Kirche in den letzten Jahren an Terrain eingebüsst (vgl. Fussnote 76). Die katholische Kirche ist in der Schweiz durch eine doppelte Struktur geprägt: einerseits durch eine kirchlich-hierarchische in den sechs Bistümern Basel, Chur, Lausanne-Genf-Freiburg, Lugano, St. Gallen und Sitten, die Rom direkt unterstellt sind, sowie zwei Gebietsabteien, Einsiedeln und St-Maurice, andererseits durch die öffentlich-rechtliche in den verschiedenen kantonalen Körperschaften (vgl. WEIBEL 2007). Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Kirche. Die Studie bietet einen vertieften Blick auf die Sprachsituation und die Spracheinstellungen in dieser Landeskirche. Die katholische Kirche wird anhand eines kleinen Samples von Priestern untersucht; dabei sollen die Daten der Priester einen ersten Einblick in die Sprachformenfrage in dieser Kirche eröffnen.81 Die klare Fokussierung auf die reformierte Kirche ist in der Unterschiedlichkeit der Gottesdienste der beiden Kirchen begründet: Während die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer einen grossen Teil der im Gottesdienst gesprochenen Texte selbst formulieren (können) und mit der Predigt, die in der Regel das Zentrum des Gottesdienstes bildet, einen zehn- bis zwanzigminütigen Monolog halten, ist der Spielraum der katholischen Priester für frei formulierte Texte beschränkter: Durch das Ordinarium, die in jedem Gottesdienst gleichbleibenden Texte, und das Proprium, die im Jahresablauf wechselnden Texte, sind viele Texte vorgegeben. Zudem spielt die Homilie, also die Predigt, im katholischen Gottesdienst eine untergeordnete Rolle – ihr wird bei weitem nicht dasselbe Gewicht zugemessen wie der Predigt im reformierten Gottesdienst. Das Zentrum des katholischen Gottesdienstes ist die Eucharistiefeier. Dabei gilt: Je mehr standarddeutsche Textvorlagen bestehen, die abgelesen (oder alternativ auswendig nachgesprochen) werden, desto weniger sprachlichen Gestaltungsspielraum hat die Pfarrperson. Wenn also die Sprachformenfrage an sich und mögliche Sprachformenwechsel interessieren, bietet der reformierte Gottesdienst mit seiner freieren Gottesdienstordnung und dem grossen Anteil frei formulierter Texte einen grösseren Fundus für die Untersuchung. 3.2 UNTERSUCHUNGSGEBIET Das Untersuchungsgebiet der vorliegenden Studie bildet die deutschsprachige Schweiz. Für die Untersuchung des Sprachgebrauchs und der Spracheinstellungen wurden im Fall der reformierten Kirche fünf Kantonalkirchen ausgewählt, im Fall
81 Eine vertiefte Studie zur Situation in dieser Landeskirche muss derzeit aber ein Forschungsdesiderat bleiben.
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
der katholischen Kirche wurde die Untersuchung in drei verschiedenen Bistümern durchgeführt. 3.2.1 Untersuchungsgebiet: reformierte Kirche Um Daten zur Untersuchung von Sprachgebrauch und Spracheinstellungen reformierter Pfarrpersonen zu gewinnen, wurden Erhebungen in den Kantonen BaselLandschaft (BL), Bern (BE), St. Gallen (SG), Thurgau (TG) und Zürich (ZH) durchgeführt (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Erhebungsgebiet für die reformierte Kirche. Karte: PHILIPP STOECKLE
Die Anzahl Personen mit reformiertem Bekenntnis präsentiert sich in diesen fünf Kantonen wie folgt:
Untersuchungsgebiet
Kanton BL BE SG TG ZH
Anzahl reformierte Personen in absoluten Zahlen 104’881 607’358 119’439 96’060 497’986
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Anteil an der Gesamtbevölkerung in Prozent 40.4 63.5 26.4 42.0 39.9
Tab. 2: Anzahl Mitglieder der reformierten Landeskirche in den fünf untersuchten Kantonen im Jahr 2000 (vgl. BOVAY / BROQUET 2004, 122–123)82
Die beiden Kantonalkirchen BE und ZH sind die grössten reformierten Kantonalkirchen der Schweiz und wurden deswegen für diese Studie gewählt. Zudem liegt BE westlich der in Kap. 2.1 kurz erwähnten Dialektgrenze, welche die westliche Deutschschweiz dialektologisch von der östlichen trennt, ZH liegt östlich davon: Es eröffnet sich also auch die Möglichkeit zu eruieren, ob die Dialektlandschaft mit dem Sprachverhalten der Pfarrerinnen und Pfarrer in Zusammenhang steht. Die drei übrigen Kantonalkirchen haben ungefähr gleich viele Mitglieder, wobei BL wie BE im Westen der Deutschschweiz liegt. 3.2.2 Untersuchungsgebiet: katholische Kirche Die Daten, die im Zuge der kleinen Stichprobe mit katholischen Pfarrpersonen erhoben wurden, stammen aus den drei Bistümern Basel, St. Gallen und Chur, die – mit Ausnahme des deutschsprachigen Teils von FR – die gesamte Deutschschweiz abdecken (aber auch die rätoromanische und einen Teil der italienisch- und französischsprachigen Schweiz umfassen).
82 Die Zahlen der Eidgenössischen Volkszählung 2000 wurden als Basis für die Festlegung der Untersuchungskantone genommen. Die Zahlen der Strukturerhebung 2012 (vgl. Bundesamt für Statistik 2018f), dem Jahr, in dem die Gottesdienstaufnahmen und Interviews grösstenteils gemacht wurden, unterscheiden sich doch erheblich von denjenigen der letzten Volkszählung: Kanton BL BE SG TG ZH
Anzahl reformierte Personen in absoluten Zahlen 77’876 463’420 89’684 76’395 377’369
Anteil an der Gesamtbevölkerung in Prozent 33.3 55.5 22.2 35.7 32.2
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Abb. 2: Erhebungsgebiet für die katholische Kirche. Karte: PHILIPP STOECKLE
Das Bistum Basel ist das grösste der sechs Schweizer Bistümer und umfasst die Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Jura, Luzern, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau und Zug. In diesem Bistum lebt rund ein Drittel aller Schweizer Katholiken. Das Bistum St. Gallen umfasst die Kantone St. Gallen, Appenzell Innerrhoden sowie Appenzell Ausserrhoden. Das Bistum Chur umfasst die Kantone Graubünden, Schwyz, Uri, Nid- und Obwalden, Glarus und Zürich (vgl. Schweizer Bischofskonferenz 2018). Bistum Basel Chur St. Gallen
Anzahl katholischer Personen in absoluten Zahlen 1’070’097 658’769 264’928
Anteil an der Gesamtbevölkerung in Prozent 35.5 38.6 50.9
Tab. 3: Anzahl Mitglieder der katholischen Landeskirche in den drei untersuchten Bistümern im Jahr 2000 (vgl. Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut SPI 2007, 40)83
83 Auch hier unterscheiden sich die Zahlen der Strukturerhebung 2012 von jenen der Volkszählung 2010 teils erheblich: Das Bistum Basel zählt noch 867’793 Katholiken (32.5 %), das Bistum Chur 556’657 (35.6 %) und das Bistum St. Gallen 213’738 (47.2 %), vgl. HUSISTEIN (2012, 8).
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste
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3.3 ABLAUF REFORMIERTER UND KATHOLISCHER GOTTESDIENSTE 3.3.1 Ablauf reformierter Gottesdienste Der Ablauf eines reformierten Gottesdienstes ist nicht strikt vorgeschrieben, im Gegenteil: Wer reformierte Gottesdienste gestaltet, genießt eine große Freiheit. Reformierter Gottesdienst ist weniger an festgelegten Formen und Gestaltungen zu erkennen als an der Art seines Zustandekommens. (Liturgiekommission 2014)84
Eine reformierte Liturgie darf „keinen absoluten Gültigkeitsanspruch erheben […]. Reformierte bieten Modelle zur Auswahl an“ (BORNHAUSER 2005). So sollen denn auch die im Evangelisch-reformierten Gesangbuch präsentierten Gottesdienstordnungen nicht als „fertig ausgearbeitete“ Ordnungen verstanden werden, sondern als „‚Gerüste‘, an denen in verantwortlicher Freiheit weitergebaut werden kann und soll“. Es können auch „einzelne Elemente weggelassen, umgestellt oder hinzugefügt werden“ (Gesangbuchverein 1998, 234). Dass in der Theorie alles möglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass in der Praxis auch alles gemacht wird: Trotz aller liturgischen Freiheit scheint es in der reformierten Deutschschweiz einen Konsens über die Gestalt des Sonntagsgottesdienstes zu geben; es scheint ein identifizierbarer Typus „reformierter Gottesdienst im deutschschweizerischen Raum“ zu existieren. (BORNHAUSER 2005, 10)
Dieser entspricht einer „‚Art Normalordnung: Orgel – Gruß – Lied – Gebet – Lesung – Lied – Predigt – Orgel – Gebet – Mitteilungen – Segen/Lied – Orgel‘“ (MARTI in BORNHAUSER 2005, 10). Diese Normalordnung entsteht nicht durch Regelungen „von oben“, sondern, weil sie entweder aus eigener Gottesdienstbesuchserfahrung oder von Lehrpfarrerinnen und -pfarrern bzw. Amtsvorgängerinnen und -vorgängern „eher unreflektiert“ übernommen wird (BORNHAUSER 2005, 14). Eine fixe Gemeinsamkeit der reformierten Sonntagsgottesdienste stellt die Fokussierung auf die Predigt dar. Ein ebenso fester Bestandteil ist das von Pfarrperson und Gemeinde gemeinsam gesprochene Unser Vater (vgl. BORNHAUSER 2005, 23). Das Unser Vater ist in der Regel das einzige von der Pfarrperson und der Gemeinde gemeinsam gesprochene Versatzstück eines reformierten Gottesdienstes; dieser unterscheidet sich dadurch klar vom katholischen Pendant. Der Gebetscharakter im reformierten Gottesdienst ist ansonsten monologisch und pfarrerzentriert. Im Folgenden sollen nun die drei Gerüste für Gottesdienste dargestellt werden, die für die vorliegende Arbeit von Relevanz sind: ein Predigtgottesdienst, ein Gottesdienst mit Taufe sowie ein Gottesdienst mit Abendmahl. Diese Gerüste bilden die Basis für die Einteilung der in der Studie untersuchten Gottesdienste; die im
84 Das Zitat ist auf der neu gestalteten Webseite der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz () nicht mehr verfügbar.
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Folgenden verwendete Einteilung ist jedoch kleingliedriger wie die hier präsentierten Gerüste, wie in Kap. 3.3.3 aufgezeigt wird. 3.3.1.1 Predigtgottesdienst Ein Predigtgottesdienst besteht aus fünf „Wegstücken“ (EHRENSPERGER 2001): der „Sammlung“ mit Glockengeläute, Eingangsspiel, Gruss- und Eingangswort und dem ersten Lied des Gottesdienstes, einem „Lob- und Anbetungsteil“ mit dem Psalmgebet und dem zweiten Lied, der „Verkündigung“ mit Lesung(en), einem weiteren Lied und der Predigt gefolgt von einem Orgelzwischenspiel, einem Gebet oder einem Lied, der „Fürbitte“ mit Abkündigungen („das Gedenken an eben verstorbene Menschen aus der Gemeinde“, EHRENSPERGER 2001, 2), Mitteilungen und Hinweise zur Kollekte sowie der „Sendung“ mit Segen, Sendungswort und dem Schlusslied (vgl. EHRENSPERGER 2001, 1–2). Hauptschritte des Gottesdienstes Sammlung Anbetung Verkündigung
Fürbitte
Sendung
Gottesdienstelemente Eingangsspiel Gruß- und Eingangswort Eingangslied Gebet Loblied Schriftlesung Lied Predigt Zwischenspiel/Lied/Glaubensbekenntnis85 Abkündigungen Fürbitten und Unser Vater Lied Mitteilungen Sendung Schlusslied Segen Ausgangsspiel
Tab. 4: Gerüst eines Predigtgottesdienstes gemäss Evangelisch-reformiertem Gesangbuch, Nr. 150 (Gesangbuchverein 1998, 235)
3.3.1.2 Predigtgottesdienst mit Taufe Eine reformierte Taufe wird meistens als Teil eines Sonntagsgottesdienstes gefeiert (und nicht als selbständige Feier wie in der katholischen Kirche). Wird ein Gottesdienst mit Taufe gefeiert, entspricht das Gerüst für die Hauptschritte „Sammlung“, „Verkündigung“, „Fürbitte“ und „Sendung“ demjenigen in Tab. 4. Im zweiten 85 „Schrägstriche geben Alternativen an“ (Gesangbuchverein 1998, 235).
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste
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Hauptschritt, „Taufe und Anbetung“, wird die Taufe gefeiert. Sie besteht aus einem Eingangswort, bei dem der Täufling vorgestellt wird, aus der Taufbesinnung, der Taufpredigt, die ersetzt oder ergänzt werden kann durch das Glaubensbekenntnis, es folgt die Taufverpflichtung mit dem Gebet und anschliessend die Taufhandlung selbst. Nach dem Anzünden der Taufkerzen folgt ein Gebet als Fürbitte und schliesslich ein Tauflied (vgl. EHRENSPERGER 2005b, 1). Hauptschritte des Gottesdienstes
Gottesdienstelemente
Taufe und Anbetung
Gebet Taufbesinnung Glaubensbekenntnis Taufhandlung Dank und Fürbitte Tauflied/Loblied
Tab. 5: Ausschnitt aus dem Gerüst eines Predigtgottesdienstes mit Taufe gemäss Evangelisch-reformiertem Gesangbuch Nr. 151 (Gesangbuchverein 1998, 236)
3.3.1.3 Abendmahlsgottesdienst Im reformierten Gottesdienst ist das Abendmahl nicht Teil eines jeden Sonntagsgottesdienstes, im Gegenteil: Wann es gefeiert wird, ist in den jeweiligen kantonalen Kirchenordnungen festgelegt. So wird es beispielsweise im Kanton Thurgau „[a]n Weihnachten, am Karfreitag, an Ostern, an Pfingsten und in der Regel am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag sowie mindestens an drei weiteren von der Kirchgemeinde festgelegten jährlich wiederkehrenden Tagen“ gefeiert (Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau 2014, § 52, Abs. 1).86 Nicht nur bei Predigtgottesdiensten, sondern auch „in der Feierpraxis des Abendmahles“ herrscht in der reformierten Kirche eine „große Vielfalt“ (EHRENSPERGER 2005a, 3). Das Gerüst aus dem Evangelisch-reformierten Gesangbuch besteht auch in Bezug auf den Abendmahlsgottesdienst aus fünf Teilen: „Sammlung“, „Verkündigung“, „Fürbitte“, „Abendmahl“ und „Sendung“. Hauptschritte des Gottesdienstes
Gottesdienstelemente
Sammlung
Eingangsspiel Gruß- und Eingangswort Eingangslied Schuldbekenntnis
86 „Die Kirchenvorsteherschaft kann aus besonderem Anlass weitere Abendmahlsfeiern festlegen.“ (Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau 2014, § 53, Abs. 2)
80
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Hauptschritte des Gottesdienstes Verkündigung
Fürbitte
Abendmahl
Sendung
Gottesdienstelemente Schriftlesung Lied Predigt Glaubensbekenntnis Abkündigungen Fürbitten Lied Zurüstung des Tisches und Einladung Anbetung und Lob Abendmahlsbericht Abendmahlsgebet (Bitte um den Heiligen Geist, Vergegenwärtigung des Heils, Unser Vater, Friedensgruß) Austeilung (Gesang, Austeilung, Dankgebet) Mitteilungen Sendung Schlusslied Segen Ausgangsspiel
Tab. 6: Gerüst eines Abendmahlsgottesdienstes gemäss Evangelisch-reformiertem Gesangbuch, Nr. 153 (Gesangbuchverein 1998, 238)
3.3.2 Ablauf katholischer Gottesdienste In der katholischen Kirche ist die Messfeier „Mitte des Gemeindelebens“ (Schweizer Bischofskonferenz 1998, 97). Diese besteht aus zwei Teilen, dem „Wortgottesdienst“ und der „Eucharistiefeier“, die von der „Eröffnung“ und der „Entlassung“ umrahmt werden. Im Gegensatz zum reformierten folgt der katholische Gottesdienst einer festen Struktur, der Messordnung. Hauptschritte des Gottesdienstes
Eröffnung
Wortgottesdienst
Gottesdienstelemente Einzug: Gesang oder Instrumentalspiel Begrüßung und Einführung Allgemeines Schuldbekenntnis und Kyrie Sonntägliches Taufgedächtnis Gloria Tagesgebet Erste Lesung Antwortpsalm Zweite Lesung Halleluja (Ruf vor dem Evangelium) Evangelium Homilie (Predigt) Glaubensbekenntnis (Credo) Fürbitten
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste Hauptschritte des Gottesdienstes
Eucharistiefeier
Entlassung
81
Gottesdienstelemente Gabenbereitung Gabenprozession Gabengebet Eucharistisches Hochgebet Präfation (Dank und Lobpreis) Sanctus (Dreimalheilig-Ruf) Postsanctus (Überleitung) Wandlungsepiklese (Wandlungsbitte) Einsetzungsbericht Akklamation Anamnese (Heilsgedächtnis) Darbringungsgebet Kommunionepiklese (Bitte um Anteilgabe) Interzessionen (Bitten für Lebende und Tote) Schlussdoxologie (Schlusslobpreis) Kommunion Gebet des Herrn Friedensgruss Brechung des Brotes (Agnus Dei) Kommunionspendung Besinnung und Danklied Schlussgebet Mitteilungen Segen Entlassungsruf
Tab. 7: Aufbau der Messfeier gemäss Katholischem Gesangbuch Nr. 29 (Schweizer Bischofskonferenz 1998, 98–99)
In der katholischen Messe gibt es fixe Textstücke, die über das gesamte Kirchenjahr gleich bleiben („Ordinarium“) – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei –, diese wechseln sich im Gottesdienst mit dem „Proprium“, Stücken mit „De-temporeCharakter und einer betonten Prägung durch die Kirchenjahrzeit“, ab (EHRENSPERGER 2005c, 1). Die Liturgiestücke, die dem Proprium zugerechnet werden, sind aber ebenfalls in einer festen Reihenfolge verankert: Es besteht also keinesfalls eine „große Freiheit“ (Liturgiekommission 2014) wie beim reformierten Gottesdienst, was die Abfolge der Messelemente betrifft, ebenso wenig kann die Messordnung als „Modell zur Auswahl“ (BORNHAUSER 2005) verstanden werden, wie dies in der reformierten Kirche der Fall ist. Es bleiben neben dem Ordinarium, dem Proprium, den Präsidialgebeten (die Gebete, die der Priester spricht, insbesondere das Hochgebet) und dem Vaterunser nur einige wenige Elemente, deren Gestaltung frei ist: die Begrüssung und Einführung, die Predigt, die Fürbitten, die Mitteilungen und allenfalls eine in Tab. 7 nicht aufgeführte Verabschiedung. Einer der augenfälligsten Unterschiede gegenüber den reformierten Gottesdiensten liegt sicherlich in der stark dialogisch ausgerichteten Gebetskultur, nach der Priester und Gemeinde die ihnen jeweils zugeteilten Gebetsteile sprechen. Ein weiterer Unterschied liegt in der Möglichkeit, Liturgieelemente der katholischen Messe zu singen statt zu sprechen (vgl. EHRENSPERGER 2005c, 1).
82
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
3.3.3 Einteilung der Gottesdienste in der vorliegenden Studie Für die Untersuchung des Sprachgebrauchs im Rahmen der vorliegenden Studie wurde eine Einteilung der Gottesdienste vorgenommen, die sich an den oben vorgestellten Gottesdienstordnungen gemäss dem Evangelisch-reformierten Gesangbuch (Gesangbuchverein 1998, Nr. 150–153) sowie dem Katholischen Gesangbuch (Schweizer Bischofskonferenz 1998, Nr. 29) orientiert. Es wurde aber eine genauere Einteilung vorgenommen, die insbesondere die einleitenden Worte zu Gebeten, Liedern, Lesung usw. vom eigentlichen Gebet, Lied usw. abtrennt. Durch die hier vorgenommene kleingliedrige Aufteilung des Gottesdienstes wurde die inhaltliche Homogenität der einzelnen Teile erhöht und die Scharnierfunktion der Übergänge (zwischen Einleitung und dazugehörigem Gottesdienstteil) klarer gemacht. An diesen Stellen sind Code-Switchings am ehesten zu erwarten, weil sie häufig den Übergang von einem frei formulierten Text (Einleitung) zu einem vorgegebenen Text (Lied, Lesung usw.), der meist in Standarddeutsch formuliert ist, bilden. Es wurden für die Studie folgende Gottesdienstteile unterschieden – für die reformierten Gottesdienste: Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Eingangsspiel Eingangswort Gruss Gebet_Einleitung Gebet
Lied_Einleitung Lied Lesung_Einleitung Lesung Lesung_Predigttext
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils87 Der Gottesdienst wird durch Musik (meist Orgelspiel, selten andere Instrumentalmusik) eröffnet. Es folgt ein Bibelwort zur Eröffnung des Gottesdienstes; häufig z. B. „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (1. Kor. 1,3). Nach dem Bibelwort folgt in der Regel eine kurze Begrüssung der Gottesdienstgemeinde zum Gottesdienst. Einleitung des folgenden Gebetes, enthält allenfalls einen Hinweis, ob die Gemeinde zum Gebet aufsteht oder sitzen bleibt. Gebet (ausser Fürbitte und Unser Vater, die separat markiert werden) Einleitung des folgenden Liedes, enthält beispielsweise die Hinführung zum Lied, die Liednummer im Gesangbuch sowie die Angaben, welche Strophen gesungen werden und allenfalls den Hinweis, dass das Lied stehend (oder sitzend) gesungen wird. Gemeinsam gesungenes Lied Einleitung der folgenden Lesung mit Angabe der gelesenen Stelle aus der Bibel oder bei anderer Quelle Angabe der Quelle. Schriftlesung, meist wird hier der (Bibel-)Text, auf den sich die Predigt bezieht, gelesen. Schriftlesung des Predigttextes, wurde unterschieden, wenn eine zweite Lesung voranging.
87 Orientierung an BUKOWSKI et al. (1999); eigene Formulierungen.
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Predigt Orgelspiel Fürbitte_Einleitung Fürbitte
Unservater_Einleitung
Unservater
Abkündigungen
Mitteilungen
Sendung
Segen_Einleitung
Segen
Ausgangsspiel Taufe_Einleitung Taufe_Taufbesinnung
83
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils Kernstück des reformierten Gottesdienstes, Auslegung eines Bibelabschnittes durch die Pfarrperson Orgelspiel während des Gottesdienstes (aber nicht zum Eingang oder Ausgang; diese werden separat markiert) Einleitung zur folgenden Fürbitte Gebet, in dem Gott für jemand anderen um etwas gebeten wird, dies kann auch ein weltweites Anliegen (wie Frieden) sein; nicht selten folgt eine Phase der Stille auf die Fürbitten, in der die Gottesdienstbesucher ihre ganz persönlichen Bitten vor Gott bringen können. Einleitung des folgenden Unser Vater; enthält häufig den Hinweis, dass dies das Gebet ist, das Jesus Christus die Menschen gelehrt habe und die ganze Christenheit verbinde. Das gemeinsame Gebet aller Christen, in reformierten Kirchen beginnt es mit „Unser Vater im Himmel“ statt „Vater unser im Himmel“. Es wird in der Regel von der Pfarrperson und der Gemeinde gemeinsam gesprochen. Gedenken an in der vorangehenden Woche verstorbene Menschen aus der Gemeinde; Nennung der Namen der Verstorbenen, Erwähnung des Alters sowie Lesen eines Bibelverses als Abschluss dieses Gottesdienstteiles; häufig gefolgt von kurzem Orgelspiel. Mitteilungen verschiedener Art, Ankündigung von Veranstaltungen der Kirchgemeinde, Ansage des Bestimmungsortes der Kollekte (Geldsammlung beim Ausgang der Kirche). Bibelwort oder frei formulierte Sätze, die die Gemeinde aus dem Gottesdienst hinaus in die neue Woche senden sollen. Dieses Element fehlt relativ häufig oder ist direkt mit dem Segen verbunden. Einleitung des folgenden Segens, enthält die Angabe dazu, ob die Gemeinde den Segen sitzend oder stehend empfängt sowie, wenn sie sich erheben soll, häufig auch die Angabe, ob sie sich zum Ausgangsspiel nach dem Segen wieder setzen soll. Schlusssegen, stellt die Gemeinde unter Gottes Schutz und schliesst den Gottesdienst ab; häufig in der Form des Aaronitischen Segens „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ (4. Mose 6, 24–26). Orgelspiel zum Ende des Gottesdienstes Einleitung der Taufe, Präsentation des Kindes/der Kinder, die im Gottesdienst getauft werden. Enthält das einleitende Gebet sowie die Taufansprache.
84
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Taufe_Glaubensbekenntnis Taufe_Taufhandlung_Einleitung
Taufe_Taufhandlung Taufe_Fürbitte Taufe_Lied_Einleitung Taufe_Lied Abendmahl_Einladung Abendmahl_Lied_Einleitung Abendmahl_Lied Abendmahl_Gebet_Einleitung Abendmahl_Gebet
Abendmahl_Einsetzungsworte
Abendmahl_Unservater_Einleitung Abendmahl_Unservater Abendmahl_Austeilung Abendmahl_Dankgebet Abendmahl_Friedensgruss Schuldbekenntnis_Einleitung Schuldbekenntnis
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils Glaubensbekenntnis, das von der Pfarrperson und der Gemeinde gemeinsam gesprochen (gelesen) wird. Einleitung der Taufhandlung, umfasst beispielsweise die Bitte, dass die Eltern und Paten mit dem Kind zum Taufstein kommen. Enthält die Tauffrage an Eltern und Paten sowie die eigentliche Taufe mit den Worten „…, ich taufe dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“, enthält auch den Taufspruch, der dem Täufling mit auf den Lebensweg gegeben wird. Fürbitte für den Täufling zum Abschluss der Taufe Einleitung eines Liedes während der Taufe Lied während der Taufe Einladung an die Gemeinde, am Abendmahl teilzunehmen. Einleitung eines Liedes während des Abendmahls Lied während des Abendmahls Einleitung eines Gebetes während des Abendmahls Gebet vor dem eigentlichen Abendmahl Worte, mit denen das Abendmahl „eingesetzt“ wird: 1. Kor. 11, 23b–25 (oder 26) „Der Herr, Jesus, nahm in der Nacht, da er ausgeliefert wurde, Brot, dankte, brach es und sprach: Dies ist mein Leib für euch. Das tut zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Essen den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.“ Einleitung zum Unser Vater im Rahmen des Abendmahls Unser Vater im Rahmen des Abendmahls Die Pfarrperson lädt die Gemeinde zum Abendmahl ein (z. B. „Kommt, denn es ist alles bereit! Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist.“) und teilt gemeinsam mit den Abendmahlshelfern Brot und Wein aus. Gebet nach der Austeilung von Brot und Wein, um Gott zu danken. Traditioneller Friedensgruss, die Gemeindeglieder reichen einander die Hand und wünschen sich gegenseitig Frieden. Einleitung zum folgenden Schuldbekenntnis, enthält die Aufforderung aufzustehen oder sitzen zu bleiben. Bekennen der Schuld; wird nur in einem Gottesdienst eingesetzt.
Tab. 8: Einteilung der Gottesdienstteile für die Analyse der reformierten Gottesdienstaufnahmen
–
für die katholischen Gottesdienste:
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Eingangsspiel
Begrüssung
Einführung Kyrie_Einleitung Kyrie
Lied_Einleitung Lied Tagesgebet_Einleitung Tagesgebet Erste_Lesung_Einleitung Erste_Lesung Antwortpsalm_Einleitung Antwortpsalm Zweite_Lesung_Einleitung Zweite_Lesung Halleluja Evangelium_Einleitung Evangelium Orgelspiel
85
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils88 Der Gottesdienst wird durch Musik eröffnet. Eröffnung des Gottesdienstes mit dem Gruss „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. – Amen.“ sowie „Die Gnade unsres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch. – Und mit deinem Geiste.“ Es folgt eine kurze Begrüssung der Gemeinde zum Gottesdienst sowie die Einführung zum Thema des Gottesdienstes, des Evangeliums, der Predigt. Einleitung des folgenden Kyrie Im Kyrie wird Gott um Erbarmen gebeten mit dem Ruf „Herr erbarme dich, Christus erbarme dich, Herr erbarme dich“, dessen Strophen von der Gemeinde wiederholt werden. Einleitung des folgenden Liedes (enthält allenfalls die Hinführung zum Lied, die Liednummer im Gesangbuch sowie die Angaben, welche Strophen gesungen werden) Gemeinsam gesungenes Lied, auch das Gloria wird so gekennzeichnet Einleitung des folgenden Gebetes mit den Worten: „Lasset uns beten.“ Tagesgebet; der Priester wendet sich an Gott, die Gemeinde schliesst das Gebet mit „Amen“. Dieses Gebet schliesst den Eröffnungsteil des Gottesdienstes ab. Einleitung der ersten Lesung: „Lesung aus X“, wobei X die Bibelstelle ist. Lesung aus der Bibel (Altes Testament); endet in der Regel mit „Wort des lebendigen Gottes – Dank sei Gott.“ Einleitung des folgenden Antwortpsalms Psalm, Antwort auf die erste Lesung, gesungen (ist im Korpus häufig ein Lied aus dem KG) Einleitung der zweiten Lesung: „Lesung aus X“, wobei X die Bibelstelle ist Lesung aus der Bibel (nicht-evangelische Schriftlesung aus dem Neuen Testament); endet in der Regel mit „Wort des lebendigen Gottes – Dank sei Gott.“ Gesungenes Halleluja Einleitung zum folgenden Evangelium mit den Worten „Der Herr sei mit euch – Und mit deinem Geiste. Aus dem heiligen Evangelium nach … Ehre sei dir, o Herr.“ Lesung aus dem Evangelium; schliesst mit „Evangelium unsres Herrn Jesus Christus – Lob sei dir, Christus.“ Orgelspiel während des Gottesdienstes (aber nicht zum Eingang oder Ausgang; diese werden separat markiert)
88 Orientierung an Schweizer Bischofskonferenz (1998); eigene Formulierungen.
86
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Predigt Glaubensbekenntnis_Einleitung Glaubensbekenntnis Fürbitte_Einleitung
Fürbitte
Opfer_Ankündigung Gabengebet89 Sanctus_Einleitung
Präfation Sanctus Postsanctus
Wandlungsepiklese
Einsetzungsbericht Akklamation
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils Deutung des „verkündeten Schriftwortes, sonstige[r] Elemente der Feier oder andere Glaubensgeheimnisse im Auftrag der Kirche“ durch den Priester (Schweizer Bischofskonferenz 1998). Einleitung des folgenden Glaubensbekenntnisses Die Gemeinde bekennt ihren Glauben mit dem gemeinsam gesprochenen Credo. Einleitung der folgenden Fürbitte Die Fürbitten bilden den Abschluss des Wortgottesdienstes. In den Fürbitten bittet die Gemeinde nicht „für sich selbst“ (MESSNER 2009, 195). Die Gemeinde bittet „für alle Menschen, für das Heil der Welt, für die Kirche auf der ganzen Erde und für die Ortsgemeinde“, aber auch für „Notleidende“ (Schweizer Bischofskonferenz 1998, 105). Dazu kommen die Anliegen der Kirche in der Welt und die Anliegen bezüglich der politischen Gestalt der Welt und der weltlichen Ordnungen (Staat, Beruf, Familie usw.)“ (MESSNER 2009, 195). Nach jeder Fürbitte folgt in der Regel der Fürbitteruf „Wir bitten dich, erhöre uns“. Ansage des Bestimmungsortes des Opfers, der während des folgenden Orgelspiels eingezogenen Kollekte Gebet zum Beginn der Eucharistiefeier Einleitung zum auf die Präfation folgenden SanctusLied. Die Gottesdienstteile ab hier bis und mit Schlusslobpreis bilden das Eucharistische Hochgebet. In der Präfation werden die Anwesenden eingeladen, ihre Herzen zu Gott zu erheben: „Der Herr sei mit euch. – Und mit deinem Geiste. – Erhebet die Herzen. – Wir haben sie beim Herrn. – Lasset uns danken dem Herrn unserm Gott. – Das ist würdig und recht.“ Gemeinsamer Heilig-Ruf, oder gesungen. Beginnt mit dem vom Priester gesprochenen Satz „Ja, du bist heilig, grosser Gott“ und dient der Überleitung vom Sanctus zur Wandlungsepiklese. In der Epiklese bittet der Priester, dass Brot und Wein geheiligt werden und zu Jesu Leib und Blut werden (die sogenannte Wandlung): „Darum bitten wir dich, allmächtiger Gott: Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus.“ Bericht, wie Jesus das Abendmahl eingesetzt hat mit den Worten „Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde ... Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ „Geheimnis des Glaubens: – Deinen Tod, o Herr verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“
89 In der Tabelle nicht enthalten ist die Gabenprozession, da diese nicht laut gesprochen wird.
Ablauf reformierter und katholischer Gottesdienste Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile
Anamnese
Interzessionen
Schlusslobpreis Vaterunser_Einleitung Vaterunser Friedensgruss_Einleitung Friedensgruss
Agnus_Dei Kommunion_Einladung Kommunionspendung Besinnung Gebet_Einleitung Gebet Mitteilungen Segen_Einleitung
Segen
Entlassungsruf_Einleitung Entlassungsruf
87
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils Gebet „Darum, gütiger Vater, feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung deines Sohnes und bringen dir so das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles dar. Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen. Wir bitten dich: Schenk uns Anteil an Christi Leib und Blut und lass uns eins werden durch den Heiligen Geist.“ In den Interzessionen wird zum Ausdruck gebracht, dass die Eucharistie in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche (Papst, Bischöfe, Priester, Diakone, Maria, Apostel, Heilige, Verstorbene) gefeiert wird. Schliesst das eucharistische Hochgebet ab: „Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit! Amen.“ Einleitung des folgenden Vaterunser Das gemeinsame Gebet aller Christen; es wird vom Priester und der Gemeinde gemeinsam gesprochen. Einleitung des folgenden Friedensgrusses Friedensgruss; enthält die Formel „Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch. – Und mit deinem Geiste.“ Es folgt der durch gegenseitigen Händedruck ausgeführte Friedensgruss. Brechung des Brotes für die Kommunion. Begleitet wird diese durch die Worte „Lamm Gottes – Du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Erbarme dich unser. Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Gib uns deinen Frieden.“ Einladung zur Kommunion Spendung der Kommunion an die Gottesdienstgemeinde Stille nach der Kommunion Einleitung zum folgenden Schlussgebet (Schluss-)Gebet Mitteilungen verschiedener Art, Ankündigung von Veranstaltungen der Kirchgemeinde Einleitung zum folgenden Segen, enthält beispielsweise gute Wünsche für den Sonntag und die kommende Woche. Schlusssegen, stellt die Gemeinde unter Gottes Schutz: „Der Herr sei mit euch – und mit deinem Geiste. – Es segne euch der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. – Amen.“ Einleitung zum folgenden Entlassungsruf, enthält die guten Wünsche für den Sonntag und die kommende Woche (falls nicht vor dem Segen geäussert) Abschluss des katholischen Gottesdienstes mit den Worten: „Gehet hin in Frieden. – Dank sei Gott dem Herrn.“
88
Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Im vorliegenden Korpus vorkommende Gottesdienstteile Ausgangsspiel
Kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Gottesdienstteils Orgelspiel zum Ende des Gottesdienstes
Tab. 9: Einteilung der Gottesdienstteile für die Analyse der katholischen Gottesdienstaufnahmen
3.4 VARIETÄTENGEBRAUCH IN DER KIRCHE: FORSCHUNGSSTAND UND TENDENZEN Im Folgenden soll ein Überblick über den Stand der Forschung zu Dialekt und Standarddeutsch in Kirchen bzw. in Gottesdiensten präsentiert werden. Die Texte, die sich mit dem Thema befassen, werden zusammengefasst und durch eine kurze Wertung in den Zusammenhang dieser Arbeit gestellt. Es wird hierzu ein Blick auf linguistische wie theologische Studien bzw. Schilderungen der letzten 50 Jahre geworfen, wodurch einerseits die verschiedenen (fachlichen) Sichtweisen, andererseits auch Tendenzen über ein halbes Jahrhundert hinweg aufgezeigt werden. Gerade weil der mündliche Standarddeutschgebrauch in der Deutschschweiz nicht den Normalfall darstellt und dieser häufig das Resultat einer bewussten Sprachformenwahl ist, wird die Verwendung des Standarddeutschen in der Mündlichkeit in Abhandlungen zur Deutschschweizer Sprachsituation immer wieder hervorgehoben, insbesondere der situationsinduzierte Standardgebrauch (vgl. Kap. 2.2.2). Dabei wird auch die Situation in Deutschschweizer Kirchen thematisiert (u. a. LÖTSCHER 1983, SIEBER / SITTA 1986, RASH 1998 bzw. 2002, SIEBENHAAR / WYLER 1997b, HAAS 2000). Diese die Kirche betreffenden Ausschnitte aus solchen Übersichtspublikationen zur Deutschschweizer Sprachsituation geben einen ersten Überblick über die Sprachformenwahl in den Kirchen (Kap. 3.4.1). Neben diesen Übersichtspublikationen existieren aber auch sowohl linguistische Studien als auch theologische Publikationen, die sich dem Thema Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen bzw. im Gottesdienst widmen, so beispielsweise SCHWARZENBACH (1969), RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996), KAMM (2007) aus linguistischer Sicht (Kap. 3.4.2) sowie MEILI (1985), BIETENHARD (1990), KOCH (1990), RICKENMANN (2005), URWYLER / GYSEL (2011) aus theologischer Sicht (Kap. 3.4.3). Diese werden im Folgenden ebenfalls berücksichtigt. 3.4.1 Linguistische Übersichtsdarstellungen: Versuch einer diachronen Beschreibung Einig sind sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass der Dialektgebrauch im Gottesdienst in der Deutschschweiz90 im Verlauf des letzten halben 90 Auch in Deutschland ist das Thema „Dialekt in der Kirche“ aktuell. Davon zeugen verschiedene aktuelle Publikationen (z. B. DIEBNER / KRÖGER / MERGEL 2014, BONS 2014). Die Thematik wurde aber auch in früheren Jahren v. a. mit Fokus auf den niederdeutschen Sprachraum beleuchtet (vgl. dazu z. B. ANDRESEN 1973, ANDRESEN et al. 1980, BULICKE 1979, BELL-
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Jahrhunderts zugenommen hat – und die Standardsprache somit eines ihrer angestammten Terrains eingebüsst hat.91 Dass Standarddeutsch aber nicht „seit jeher“ die vorherrschende Sprachform für den kirchlichen Sprachgebrauch war, zeigt RIS (1980, 119) auf: Noch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wissen wir, dass man zwar schriftsprachliche Kirchenlieder – mit sehr mundartlicher Aussprache – sang, die Predigt aber weiterhin im Dialekt hielt und auch die schriftsprachlichen Zitate der Vorlage noch in eine mundartnahe Form umsetzte.
Zwischen diesem Zeitpunkt (Mitte des 19. Jahrhunderts) und den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts scheint dann aber das Standarddeutsche in den Kirchen überwogen zu haben. SCHWARZENBACH (1969, 236) geht davon aus, dass sich die „nhd. Predigtsprache erst im 19. Jh.“ „[v]öllig ausgebildet […] und in allen Landesgebieten durchgesetzt“ hat. Den Übergang zu diesem Zustand im 19. Jahrhundert bezeichnet SCHWARZENBACH (1969, 236) als einen „allmählichen“. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 118) sprechen von der „Selbstverständlichkeit der Verwendung von Standardsprache in den Schweizer Kirchen des 19. und 20. Jahrhunderts“.92 Den Wandel hin zum Dialekt schreibt RIS (1980, 121) der dritten Mundartwelle zu: „Die Mundart dringt immer mehr ein in die Predigt […].“ RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 120) fassen die Geschichte des kirchlichen Sprachgebrauchs der letzten vier Jahrhunderte wie folgt zusammen: Noch lange Zeit nach der Reformation ist – aus Gründen einer defensiven Gesamthaltung der modernen Einheitssprache gegenüber – eine Bevorzugung der Dialekte (oder mindestens einer stark dialektal gefärbten Variante des Einheitsdeutschen) festzustellen. Im 19. Jahrhundert wird die Standardsprache zur normalen Sprachform kirchlichen Redens und ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist nun wieder ein sehr deutlicher Pendelschlag zugunsten der Mundart festzustellen.93
/ KRÖGER 1979). Eine ausführliche Diskussion und Würdigung der Publikationen zum Thema Dialekt in deutschen Gottesdiensten und ein Vergleich zu Deutschschweizer Gottesdiensten müssen aber an anderer Stelle geleistet werden. 91 Eine der wenigen auf Zahlen fundierten Aussagen zu diesem Thema findet sich im Jahrzehntbericht 1981–1990 der Berner Landeskirche unter dem Stichwort „Gottesdienstsprache“: „Die Mundart greift stark um sich. In mehr als einem Drittel der Gemeinden wird grundsätzlich in Mundart gepredigt, in 97 Gemeinden (43 %) gelegentlich. In Mundart gebetet wird etwas weniger häufig, aber nur in 19 Gemeinden werden die Gebete grundsätzlich hochdeutsch gehalten. Nur in 46 Gemeinden wird die Mundartpredigt als solche angekündigt. Bei der grossen Mehrheit scheint sie bereits selbstverständlich zu sein, besonders im Emmental und im Oberaargau.“ (Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Bern/Evangelisch-reformierter Synodalverband Bern-Jura 1990, 38; Hervorhebung im Original) – Diese Zahlen fussen aber ausschliesslich auf den Aussagen der Kirchgemeinden. 92 RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ verweisen auf eine Stelle aus einem Referat von WALTER NEIDHART, Professor für Praktische Theologie an der Universität Basel, aus dem Jahr 1980: „‚Aus der Thurgauer Kirche wird berichtet, dass vor 1914 viele Pfarrer auch am Werktag mit dem Volk Schriftdeutsch redeten. … Auf diese Weise wollten die Pfarrer das Volk an die Sprache der Bibel gewöhnen.‘“ (NEIDHART gemäss RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 119) 93 TRÜMPY (1955, 105) schreibt für den Sprachgebrauch in Kirchen (und Schulen) im 18. Jahrhundert: „Auch in der Kirche hörte man größtenteils entweder Dialekt oder eine Sprache, die mindestens den deutschen Reisenden so vorkam.“ MANN
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Auch LÖTSCHER (1983) erwähnt das Aufkommen des Dialekts in den Kirchen, differenziert aber nach den Konfessionen: In der reformierten Kirche zeichne sich in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Änderung ab, weg von einer fast ausschliesslichen Verwendung des Standarddeutschen. Dieselbe Tendenz lasse sich bei den Katholiken feststellen, wenn auch noch ausgeprägter und zwar als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils und der damit einhergehenden Liturgiereform, die „eine starke Strömung zu einer volksnäheren Gestaltung des Gottesdienstes“ mit sich brachte: „Im Zuge dieses Liturgiewandels erfolgte vielerorts sozusagen ein direkter Wechsel von Latein zu Mundart.“ (LÖTSCHER 1983, 130) Dies sei möglich gewesen, weil „die deutsche Standardsprache als Liturgiesprache in der katholischen Kirche vordem viel weniger verwurzelt war als in der reformierten Kirche“ (LÖTSCHER 1983, 130). Er geht davon aus, dass „eine Predigt an einem feierlichen Festgottesdienst beinahe sicher auf Standarddeutsch gehalten wird, während ein intimerer Gottesdienst in kleinerem Kreis zum Mundartgebrauch einlädt“ (LÖTSCHER 1983, 125).94 Die Kirche zählt für LÖTSCHER (1983, 129) aber (neben der Schule und den Massenmedien) zu jenen Bereichen, „die besonders diffizil sind in der Verteilung von Standardsprache und Mundart, und die auch dementsprechend immer wieder zu Diskussionen Anlass geben“. So sei die Varietätenwahl in der Kirche eng verquickt mit dem Problem der Verkündigung. Neben dem Bedürfnis, die Gemeinde möglichst direkt und konkret anzusprechen [, was wohl für den Dialekt spricht; S.O.], besteht auch das Empfinden, daß das religiöse Wort Ehrfurcht einflößen soll, daß Feierlichkeit und Distanz zum Gottesdienst gehören, und daß Mundartgebrauch die Gefahr unverbindlicher Geschwätzigkeit mit sich bringt. Zweifellos sind solche Probleme nicht ein für allemal zu lösen und zu entscheiden, vielmehr hängt viel vom gegebenen Rahmen ab, viel aber auch von der Persönlichkeit des Geistlichen, von der Zusammensetzung der Gemeinde und von den Bedürfnissen der Zeit. (LÖTSCHER 1983, 129–130)
LÖTSCHER spricht hier verschiedene Faktoren an, die die Sprachwahl potentiell beeinflussen, und geht davon aus, dass in jedem Zeitalter jeweils adäquate Lösungen für diese Problemstellung gefunden werden. Eine Besonderheit stellen in der Deutschschweiz (auch ausserhalb der Kirchen) „vorgegebene Formel[n]“ oder „vorformulierte[…] Textstück[e]“ dar: Für diese würde auch in Situationen, wo sonst nur Dialekt gesprochen werde, Standarddeutsch verwendet.95 Als Beispiel erwähnt LÖTSCHER Gebete, die in Mundartgottesdiensten in ihrer standarddeutschen Form belassen werden:
94 Ebenfalls nach Konfessionen differenziert urteilt WERLEN (1998, 33, Fn. 1): „In den fünfziger Jahren ist die katholische Messe noch vollständig lateinisch; nur die Predigt wird auf Deutsch gehalten, das aber wohl überall auf hochdeutsch.“ An anderer Stelle schreibt er, dass Predigten im Dialekt zum Zeitpunkt von FERGUSONS „Diglossia“-Aufsatz (also in den Fünfzigerjahren) „im katholischen Bereich nicht denkbar“ gewesen seien, mit Verweis auf SCHWARZENBACH (1969) weist er aber darauf hin, dass „im protestantischen Raum schon länger darüber [= über Dialektpredigten; S.O.] diskutiert“ wurde (WERLEN 1998, 22). 95 Vgl. zu Dialektvorlagen für ebensolche Passagen im Gottesdienst aber Kap. 3.5 und 9.6.
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[E]s sind meist gedruckte Texte, die zudem in ihrer Form nicht beliebig sind, und so würde eine Übersetzung in das Schweizerdeutsche die Gefahr einer Verfälschung des Inhalts oder der Liturgie mit sich bringen. (LÖTSCHER 1983, 134)
Etwas anders als LÖTSCHER und RIS schätzt WYLER die Situation ein; für ihn ist es nicht erstaunlich, dass in der feierlichsten Veranstaltung der Kirche, im Gottesdienst und in der Sonntagspredigt, die Hochsprache verwendet wird. Die Stillage der Bibel verträgt sich nach der Auffassung vieler Kirchenbesucher besser mit der Hoch-Sprache als mit dem Dialekt, der Sprache des täglichen Umgangs. Pfarrer, welche um der grösseren Volksnähe willen ihre Predigten in der Mundart hielten, mussten erleben, dass die Umgangssprache für diesen Zweck als zu profan angesehen wurde. Die weitgehende Ablehnung der Mundart für die Predigt muss auch mit der Situation dieser Andachtsform zu tun haben: Der Pfarrer steht auf der Kanzel über oder vor der Gemeinde und legt einen Text aus der Bibel aus. (WYLER 1984, 21–22)
WYLER geht also 1984 davon aus, dass die Stellung des Standarddeutschen für den Gottesdienst und die Predigt noch einigermassen gesichert ist, zumindest was den traditionellen sonntäglichen Predigtgottesdienst betrifft. Anders schätzt er die Situation für andere Gottesdienstformen mit geringerer Formalität, wie beispielweise Jugend- oder Familiengottesdienste, ein: Dort habe der Dialekt eindeutig den Vorrang. WYLER (1984, 22) folgert, dass in der Kirche beide Varietäten gebraucht werden. Dass der Varietätengebrauch im kirchlichen Kontext gerade am Ende des letzten Jahrhunderts Wandelprozessen unterworfen war, zeigt ein Blick auf die Neuauflage der Publikation von WYLER (zusammen mit SIEBENHAAR, SIEBENHAAR / WYLER 1997a) 13 Jahre später sowie auf den Vorabdruck dieser vollständig überarbeiteten Auflage (SIEBENHAAR / WYLER 1997b)96. Im Vorabdruck wird der Entwicklung hin zu mehr Dialekt Rechnung getragen: Die gesamtgesellschaftliche Hinwendung zur Nähe und Intimität, welche auch im Gottesdienst ihren Niederschlag findet, bringt auch hier eine vermehrte Verwendung der Mundart mit sich. So zeigt eine aktuelle Untersuchung [= diejenige von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996); S.O.], daß in der protestantischen Kirche fast die Hälfte aller Predigten in Mundart gehalten werden.97 Text-Lesungen erfolgen meist noch in der Standardsprache. Aber auch dafür wird vereinzelt die Mundart verwendet, schließlich gibt es mehrere philologisch wertvolle Bibelübersetzungen aus den Urtexten in verschiedene Mundarten. In vielen Gottesdiensten stehen 96 Diese ist auf der Webseite von BEAT SIEBENHAAR als PDF-Datei verfügbar, [29.01.2018]. 97 Diese Aussage ist falsch: Die Auswahl des Korpus von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ lässt diesen Schluss nicht zu, da das Korpus bewusst aus einer ähnlichen Menge von Gottesdiensten in beiden Sprachformen zusammengestellt wurde: „Beim Verhältnis der zwei Sprachvarietäten wurde eine zahlenmässig ungefähr gleiche Verteilung von Mundart- und standarddeutschen Gottesdiensten angestrebt. Eine mengenmässig proportionale Verteilung von Mundart- und standardsprachlichen Gottesdiensten im Korpus entsprechend dem kantonalkirchlichen Verteilungsverhältnis von tatsächlich stattfindenden Mundart- und standardsprachlichen Gottesdiensten spielt für die Repräsentativität des Textkorpus keine Rolle. Zudem sind für den Bereich der Zürcher Kantonalkirche die diesbezüglichen Zahlen ohnehin nicht bekannt.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 212) – Die Zahlen zum Verhältnis von Dialekt- und Standardgottesdiensten sind für keinen der Deutschschweizer Kantone bekannt.
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen somit mundartliche und standardsprachliche Elemente nebeneinander, wobei im Sonntagsgottesdienst ein leichtes Übergewicht der standardsprachlichen Elemente besteht, während im Familien- und Abendgottesdienst verstärkt die Mundart zum Zug kommt. So finden je nach Art der kirchlichen Veranstaltung beide Sprachformen in der Kirche Verwendung. (SIEBENHAAR / WYLER 1997b, 28)
Mit Ausnahme der Einschätzung betreffend Familiengottesdienste sowie der Aussage, dass beide Sprachformen in der Kirche ihren Platz haben, wurde diese Passage komplett überarbeitet: Ob die Entwicklung weg von Standarddeutsch hin zum Dialekt in diesen 13 Jahren stattgefunden hat oder ob die Einschätzung WYLERS 1984 eher zu konservativ war, lässt sich nicht feststellen, da keine empirische Untersuchung aus den Jahren zwischen 1969 (dem Erscheinungsjahr von SCHWARZENBACHs Studie, vgl. Kap. 3.4.2) und 1996 (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ, vgl. ebenfalls Kap. 3.4.2) vorliegt. Die klare Einschätzung der Vorlieben der Gottesdienstgemeinde für das Standarddeutsche dürfte tendenziell aber schon 1984 zu optimistisch gewesen sein (vgl. dazu auch die Daten in GUTZWILLER 1991, 133–134). Dieser überarbeitete Absatz zur Kirche („Kirche, Militär und Justiz“) fand den Weg in die Endfassung der Broschüre (SIEBENHAAR / WYLER 1997a) jedoch nicht. SIEBENHAAR (p. c. 05.08.2012) begründet das Verschwinden des Absatzes damit, dass die Herausgeber dieses Themenbündel „als weniger wichtig“ erachtet hätten. Dies ist umso erstaunlicher, als sich doch klare Veränderungen der Sprachsituation gerade im Bereich der Kirche ergeben haben, denen die beiden Autoren auch entsprechend Rechnung getragen hatten. Auf die unterschiedlichen Rollen der beiden Varietäten im Gottesdienst, wie sie schon in den erwähnten Publikationen angesprochen wurden, gehen auch SIEBER / SITTA (1986, 22) in ihrer Studie zur Schule ein. Sie stellen ebenfalls fest, dass Standarddeutsch nicht mehr „die alleinige Sprachform der Kirche“ sei und die Kirche ein „besonders uneinheitliches Bild“ biete: Standardsprache hat dort einen hohen Rang, wo es um Anlehnung an den Wortlaut der Heiligen Schrift geht, sie spielt eine Rolle in der Predigt (die ja auch oft schriftlich vorbereitet wird), aber die Predigt bedient sich nicht notwendigerweise der Standardsprache. In Familiengottesdiensten, in Feldgottesdiensten oder in Gottesdiensten für Kinder überwiegt die Mundart. (SIEBER / SITTA 1986, 22)
Auch SCHLÄPFER (1994, 289) schreibt, dass in den Kirchen der Dialekt das Standarddeutsche verdrängt habe und zwar „fast noch deutlicher als in der Schule“. Für den kirchlichen Unterricht sämtlicher Konfessionen geht er vom ausschliesslichen Dialektgebrauch aus, in Familien- und Jugendgottesdiensten werde „in der Regel“ ebenfalls Dialekt gesprochen. Die Mehrheit der Hochzeiten werde im Dialekt abgehalten, die Beerdigungen seltener. „Im regulären Sonntagsgottesdienst bleiben formelhaft-theologische Sequenzen bei der Standardsprache“, wohingegen für die Predigt häufig Dialekt gewählt werde (SCHLÄPFER 1994, 289). SCHLÄPFER (1994, 289) erwähnt als Beispiel das Verhalten eines ihm offenbar bekannten Pfarrers, „der als konsequenter Verfechter der Mundartpredigt auftritt, sich an gewöhnlichen Sonntagen auch daran hält, am Osterfeiertag jedoch Standard spricht“. Er führt das darauf zurück, dass dieser Geistliche – wie wohl auch andere – Standarddeutsch als „stärker ritualisierte Sprachform, als die eigentliche Hoch-Sprache empfindet“
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(SCHLÄPFER 1994, 289–290). Dies führt ihn zur Frage, ob das Argument, der Dialekt „bringe der Gemeinde die Kirche und damit das Wort Gottes näher“ (SCHLÄPFER 1994, 290), das die Dialekt-Befürworter ins Feld führen, einer Überprüfung standhält. SCHLÄPFER positioniert sich gegen die Allgemeingültigkeit des Argumentes und begründet dies mit den Fällen von Pfarrpersonen aus dem Ausland, „die kein Schweizerdeutsch sprechen, ihre Gemeinde und selbst die Kinder im Unterricht mit ihrem Wort ohne jede Schwierigkeit erreichen“ (SCHLÄPFER 1994, 290). SCHLÄPFER (1994, 294) geht davon aus, dass der sich ausbreitende Gebrauch von Dialekt in der Öffentlichkeit, also in elektronischen Medien und der Kirche, ähnliche Gründe hat wie der vermehrte Gebrauch von Schweizerdeutsch in den Schulen: „Man will Distanz abbauen, näher beim Hörer sein.“ Er zweifelt jedoch, ob dies so gelingt, sieht aber noch einen weiteren Grund für den vermehrten Gebrauch des Dialekts: dass es für den Deutschschweizer Sprecher, also auch den „Prediger“, bequemer ist, Dialekt zu sprechen, „als sich um adäquaten Ausdruck seiner Sache in der Standardsprache zu bemühen“ (SCHLÄPFER 1994, 294). SCHLÄPFER (1994, 294) geht so weit zu behaupten, dass dies „vielfach der unausgesprochene Grund der Vorliebe vieler Deutschschweizer für die Mundart“ sei.98 AMMON (1995, 293) erwähnt die Kirche als eine der wenigen öffentlichen Domänen, auf die „die mündliche Verwendung des Schweizerhochdeutschen […] weitgehend […] beschränkt“ ist. Er fügt aber an, dass in Kirchen – wie auch im Schulunterricht und in Kantonsparlamenten – „durchaus auch Dialektsprechen“ vorkommt, was er auf die „Ausgebautheit (Modernisiertheit)“ des Dialekts zurückführt. RASH weist 1998 darauf hin, dass die Sprachformenfrage in den Kirchen keine Frage sei, die lediglich in neuerer Zeit aktuell ist – die Frage wurde seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder diskutiert (RASH 1998, 67–68).99 Sie stellt fest, dass die Sprachformenwahl weder von der katholischen noch der reformierten Kirche geregelt sei, und merkt an, dass „the traditional view is that only HG [= High German; S.O.] has the required degree of solemnity for Church functions“ (RASH 1998, 65). Standarddeutsch sei für die meisten konventionellen Theologen „the ‚Vatersprache‘, the accepted language of authority“ (RASH 1998, 65).100 Sie geht davon aus, dass die linguistischen Argumente für die Beibehaltung von Standarddeutsch als Sprache für alle kirchlichen Anlässe auf der Annahme basieren, dass die christliche Botschaft nur in der Standardsprache adäquat ausgedrückt werden könne: „The most common claim is that dialect is not adequate to the task of conveying complex theological ideas or abstract concepts.“ (RASH 1998, 66) 98 Einen anderen Standpunkt vertrat LÖTSCHER zehn Jahre davor. Er geht davon aus, dass „mancher Akademiker […] über komplizierte Themen aus sprachlichen Gründen und aus Gewohnheit viel besser standarddeutsch diskutieren [kann] als in Schweizerdeutsch“ (LÖTSCHER 1983, 129). 99 Erwähnt werden ein Artikel im Zürcher Kirchenboten von 1942 und die Debatte in den Mitteilungen des Deutschschweizerischen Sprachvereins von 1942/43. 100 In der deutschen Übersetzung heisst es: „die ‚Vatersprache‘; die Sprache der Autorität: sie ist die selbstverständliche Sprache des Gottesdienstes“ (RASH 2002, 60).
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RASH (1998, 67) hält schliesslich fest, dass „in practice, sermons in both Catholic and Protestant churches are increasingly held in dialect“. Sie gründet diese Feststellung wohl auf Aussagen aus den von ihr zitierten Texten (so schreibt beispielsweise STOLZ in RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ, 1996, 19: „Immer mehr Predigten werden in Mundart gehalten, der Religionsunterricht praktisch immer.“), ausser bei SCHWARZENBACHS Studie liegen diesen Aussagen jedoch keine empirischen Untersuchungen zugrunde. RASH glaubt, dass die Diskussion für und gegen den zunehmenden Dialektgebrauch in Gottesdiensten zweifellos auch in Zukunft weitergehen werde. Sie nimmt an, dass sich die Pfarrpersonen weiterhin die Freiheit nehmen, in der Varietät zu predigen, die sie für sich selbst und für die Gemeinde für die angemessene halten. HAAS (2000, 81) stellt sich implizit gegen die oben erwähnte Aussage von RIS: Er geht davon aus, dass bis ungefähr zum Ende des 19. Jahrhunderts die Standardsprache geschrieben wurde, und zusätzlich auch gesprochen, und zwar bei Gelegenheiten, die den „gehobenen“ mündlichen Ausdruck verlangten – öffentliche Rede, Predigt, parlamentarische Diskussion, Vereinsverhandlungen, ja selbst beim dienstlichen Gespräch unter Offizieren.
Zu jener Zeit „wurde die deutschschweizerische Diglossie nur wenigen zum Problem“ (HAAS 2000, 81). Unter dem Titel „Die Diglossie wird zum Problem“ (HAAS 2000, 84) zeichnet HAAS die Entwicklung des 20. Jahrhunderts hin zu einer medialen Diglossie: „Die Standardsprache verliert somit einen Teil jener wenigen Bereiche des gesprochenen Worts, die ihr lange unangefochten überlassen waren.“ Zur Situation in der Kirche, die zu diesen Bereichen gehört, schreibt er: „Mundart wird immer mehr Kirchensprache, nicht nur für Jugend- und Abendgottesdienste“ (HAAS 2000, 84). 3.4.2 Linguistische Darstellungen Die beiden wichtigsten linguistischen Darstellungen zum Thema Dialekt und Standarddeutsch in Kirchen, die die Deutschschweiz betreffen, sind SCHWARZENBACHS „Die Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz“ mit einem ausführlichen Kapitel zur Kirche (SCHWARZENBACH 1969, 185–239) sowie die Studie von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ „Mundart und Standardsprache im reformierten Gottesdienst. Eine Zürcher Untersuchung“ aus dem Jahr 1996 (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996). Daneben soll hier auf eine universitäre Seminararbeit zum Thema eingegangen werden (KAMM 2007). Alle drei Darstellungen zeichnet aus, dass sie nicht auf subjektiven Einschätzungen der Autoren basieren – wie die im vorangehenden Kapitel beschriebenen Darstellungen –, sondern sie sich auf subjektive oder objektive Daten (bzw. eine Kombination von beiden) stützen. SCHWARZENBACH geht in seiner Untersuchung der Frage nach, welche Rolle der Dialekt in den Kirchen der Deutschschweiz spielt, und fokussiert dabei auf die reformierte Kirche. Er begründet dies mit dem höheren Dialektgebrauch der Reformierten im Vergleich zu den Katholiken:
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„Bei den evangelischen Christen wird die Mundart in der Predigt eher mehr gebraucht als bei den katholischen“, schreibt mir auch der Lektor für Homiletik am Kapuzinerkloster Solothurn. So ist es kein Zufall, wenn in der folgenden Darstellung der Sprachgebrauch der re formi e rt e n Ki rc he im Vordergrund steht; es ist auch festzustellen, dass die meisten bisherigen Kontroversen über die Frage des Mundartgottesdienstes dieses Bekenntnis betreffen. (SCHWARZENBACH 1969, 185; Hervorhebung im Original)
Um auch den Zustand in der katholischen Kirche in eingeschränktem Masse zu beschreiben, befragt SCHWARZENBACH die drei Bischöfe der Diözesen Basel, St. Gallen und Chur sowie Vertreter der verschiedenen Priesterseminarien per Brief zum katholischen Sprachgebrauch. Die Antworten fliessen in die Beschreibung SCHWARZENBACHS Studie ein, wo Abweichungen zur reformierten Kirche festzustellen sind.101 SCHWARZENBACH geht in seiner Studie auf verschiedene Aspekte des Varietätengebrauchs in der Kirche ein, darunter die folgenden: – – – – – – –
die Rolle der unterschiedlichen Dialekte in der Deutschschweiz und deren Einfluss auf die Varietätenwahl, den Einfluss von Standarddeutsch auf den Dialekt beim Predigen, die Frage der Ausbildung bezüglich Dialektpredigt, den Gebrauch von Dialektübersetzungen von Bibeltexten den Gebrauch des Dialekts für Gebete, die Varietätenwahl für Predigtgottesdienste sowie andere Gottesdienstarten, Religions- und Konfirmationsunterricht die Entwicklung des Sprachformengebrauchs bis zum Erscheinen der Studie.
Basis von SCHWARZENBACHS Beschreibung der reformierten Verhältnisse den Dialektgebrauch in der Kirche betreffend bildet eine briefliche Umfrage, die er bei 100 Pfarrpersonen in drei Kantonen102 (Bern, Zürich sowie in den beiden Halbkantonen103 Basel-Landschaft und Basel-Stadt) durchgeführt hat. Die Gewährspersonen wählt er zudem nach den Kriterien Alter104 und Grösse der jeweiligen Kirchgemeinde aus. Den Fragebogen erstellt SCHWARZENBACH auf der Grundlage einer 1942 im Zürcher „Kirchenboten“105 durchgeführten Umfrage mit dem Titel 101 WERLEN (1984, 163, Fussnote 18) erachtet SCHWARZENBACHS Darstellung der katholischen Verhältnisse nur 15 Jahre später als „veraltet“. 102 Den Faktor „Kantone“ wählt er aufgrund einer These von AUGUST STEIGER, der 1924 davon ausgegangen war, dass im Westen der Deutschschweiz stärker am Dialekt festgehalten werde als im Osten (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 188). 103 Vgl. Fussnote 14 (Kap. 2). 104 Für den Faktor „Alter“ macht er das „Vordringen der Mundart im Laufe der letzten vier Jahrzehnte“, das „auch im kirchlichen Bezirk nicht zu verkennen ist“, geltend (SCHWARZENBACH 1969, 188). Diese Entwicklung ging nach den Sechzigerjahren mit mindestens demselben Tempo weiter (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 23): Die Standardsprache, die einst die „Sprache des Gottesdienstes“ gewesen ist, sei „merklich zurückgedrängt“ worden. 105 Der Kirchenbote ist das offizielle Publikationsorgan der evangelisch-reformierten Kirche im Kanton ZH (er heisst auch in anderen Kantonen so) und erscheint seit 1915 in regelmässigen Abständen (monatlich).
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„Mundart oder Hochdeutsch?“, die also mitten im Zweiten Weltkrieg erschien, einer Zeit, in der die Frage der Varietäten immer wieder diskutiert wurde.106 Die Dialektfrage trieb also bereits früh auch die Kirche um, wobei diese Diskussion – wie heute ebenfalls – durch den öffentlichen Diskurs im ausserkirchlichen Bereich mitgeprägt wurde (Stichwort „Geistige Landesverteidigung“, vgl. JORIO 2006). Zwischen den Auswertungen der einzelnen Fragen aus dem Fragebogen thematisiert SCHWARZENBACH verschiedene Teilaspekte der Dialektdebatte in Bezug auf die Kirchen. SCHWARZENBACH geht in seiner Untersuchung zunächst der Frage nach, welche Rolle der Dialekt der Pfarrperson für die Varietätenwahl spielt. Es geht ihm dabei in erster Linie darum herauszufinden, ob Unterschiede zwischen den einzelnen schweizerdeutschen Dialekten dazu führen, dass die Pfarrpersonen in ihren Gottesdiensten auf den Dialekt verzichten, weil sich ihr Dialekt von jenem der Gemeinde unterscheidet. Dies kommt aber nur für einen knappen Fünftel (zehn von 47) der Pfarrer in Frage. Von Verständnisschwierigkeiten zwischen der Gemeinde und dem Pfarrer aufgrund verschiedener Dialekte berichten lediglich drei junge Berner Pfarrer (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 194–195). Für SCHWARZENBACH ist aber klar, dass „hinter jener Forderung, man möge den Dialekt in der Predigt nur da gebrauchen, wo er von jenem der Hörer nicht allzu sehr abweiche, doch ein richtiger Kern“ stecke, und er stellt „ein geschärftes Empfinden dafür […] besonders 106 Neben der erwähnten Umfrage aus dem Zürcher Kirchenboten zeugt auch die Diskussion in den „Mitteilungen des Deutschschweizerischen Sprachvereins“ davon: So erschien 1942 in der Nr. 11 ein Artikel von STEIGER mit dem Titel „Mundart in der Kirche?“ (STEIGER 1942), in dem der Verein zu ebendieser Umfrage Stellung bezieht, und in der 12. Nummer ein weiterer Artikel mit dem Titel: „Nochmals: Mundart in der Predigt?“ (STEIGER 1943). STEIGER schreibt im Namen des Deutschschweizerischen Sprachvereins, der für die Förderung beider Varietäten in der Deutschschweiz eintritt, und positioniert sich in der Frage, welche Varietät für die Predigt verwendet werden soll, als klarer Standarddeutschverfechter: „[D]arum sind wir grundsätzlich gegen die Predigt in Mundart.“ (STEIGER 1942, 2) Dafür sprechen diverse Gründe: Einerseits ist für ihn der Dialekt „das geistige Werktagskleid“ und „die Schriftsprache […] das Sonntagsgewand“, in dem es einem „feierlicher zumut“ ist. Dabei sei das „Werktagskleid, das Arbeitskleid“ deswegen nicht zu verachten, „aber wenn wir für feierliche Stunden eine feierlichere Sprache haben als für gewöhnliche, so ist das für uns eine Bereicherung“ (STEIGER 1942, 2). Andererseits seien „die mundartlichen Laute [zwar; S.O.] gemütlicher im Ohr als die andern, aber Gemütlichkeit ist nicht das höchste Ideal […], und die Kirche ist nicht die Stätte der Gemütlichkeit, sondern der Erhebung […]“ (STEIGER 1942, 2). Dennoch gibt es auch für STEIGER Spielraum für den Gebrauch des Dialekts in der Kirche: „Für Abendgottesdienste und Bibelstunden, auch für den pfarramtlichen Religionsunterricht der Schule, die ja weniger feierlich, eher vertraulich wirken sollen, mag die Mundart angehen. Auch für Feldgottesdienste, weil der Soldat nur dazu im Felde steht, unser eigenstes Eigentum zu verteidigen, und die Sprache dieses Eigentums ist die Mundart.“ STEIGER plädiert aber dafür, dass der Pfarrer „in allen diesen Fällen […] sich […] zuerst prüfen oder noch besser: prüfen lassen [soll], ob er über diese Dinge in echter Mundart sprechen könne“ (STEIGER 1942, 2). Im Namen des Deutschschweizerischen Sprachvereins beantwortet STEIGER also die Umfrage des Kirchenboten wie folgt: „1. Soll in Mundart gepredigt werden a) in allen Gottesdiensten? – Nein! b) Nur in besondern Gottesdiensten? – Ja, aber auch da nur, wenn der Pfarrer sich überzeugt hat, daß er es kann. 2. Soll das Gebet in Mundart gehalten werden? – Nein! 3. Soll die Mundart auch auf Eingangswort und Segen, sowie den Text ausgedehnt werden? – Nein!“ (STEIGER 1942, 2).
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auf katholischer Seite“ fest: Der Regens des Priesterseminars Chur schrieb SCHWARZENBACH, dass einerseits die Gefahr bestehe, dass man nicht verstanden werde oder dem Dialekt mehr Aufmerksamkeit schenke als dem Inhalt. Ähnliche Äusserungen tätigen auch reformierte Pfarrer (SCHWARZENBACH 1969, 195). Ein zweiter Fragenblock dreht sich um die „Möglichkeiten und Grenzen der kirchlichen Mundartrede“. Für SCHWARZENBACH liegen die Schwierigkeiten des Dialektgebrauchs in der Kirche vor allem im Bereich des Fachwortschatzes. Er zitiert STEIGER (1942, 2), der davon ausgeht, dass Dialektreden in der Deutschschweiz, auch solche von Pfarrern, „hochdeutsch gedacht und nur Wort für Wort ins Schweizerdeutsche übersetzt“ sind. Hier scheint sich im Bewusstsein der Rednerinnen und Redner, auch der Pfarrpersonen, in den vergangenen 70 Jahren aber etwas geändert zu haben, greifen doch bei weitem nicht mehr alle zur Standardsprache beim Verfassen des Manuskripts, wie auch SCHWARZENBACH (1969, 201–202) feststellt. Die Pfarrpersonen wurden im Fragebogen gefragt, ob ihr Dialekt „beim öffentlichen Reden von der Schriftsprache beeinflusst [sei] (‚Papierdeutsch‘)“ und ob sie deswegen „Bedenken [hätten], in der Mundart zu predigen“ (SCHWARZENBACH 1969, 201). Über die Hälfte der 85 Pfarrer geht davon aus, dass ihr Dialekt nicht von der Schriftsprache beeinflusst sei (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 201). SCHWARZENBACH interessiert sich ausserdem dafür, ob im Rahmen der Ausbildung „eine Möglichkeit geboten werden [sollte], sich mit der Eigenart des Mundartredens im öffentlichen Vortrag vertraut zu machen“. 51 Pfarrer befürworten eine derartige Möglichkeit, 32 lehnen sie ab. SCHWARZENBACH (1969, 203) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Kirche kein Sprachinstitut“ sei und „sprachpflegerische Argumente […] den Theologen recht wenig kümmern [können]“. Bevor die Frage des Dialektes für Bibelübersetzungen, die einzelnen Teile des Gottesdienstes bzw. die verschiedenen Gottesdienstarten und weitere kirchliche Anlässe thematisiert wird, zählt SCHWARZENBACH verschiedene Vor- und Nachteile des Dialekts für den Gebrauch im Gottesdienst auf und zeigt hier auch seine persönliche Einstellung auf. Die Vorteile des Dialektes für die Verkündigung sieht er in seiner Bildhaftigkeit oder der Fähigkeit, „Dinge beim Namen [zu] nenne[n]“ (SCHWARZENBACH 1969, 209). Einen Nachteil könne man hingegen in der Tatsache sehen, dass die Sprachform „vom Wesentlichen der Predigt“ ablenken kann (SCHWARZENBACH 1969, 212). Beim Versuch, „die inhaltlichen und ausdrucksmässigen Möglichkeiten der Mundart zur geistlichen Rede zu überblicken“, sehe man sich „immer wieder […] in der Auffassung bestärkt, es sei auch in der Kirche die Mundart eine Teilsprache, ein ‚Dialekt‘, ein besonderes Idiom […] im stilistischen [Sinn]“ (SCHWARZENBACH 1969, 213; Hervorhebung im Original). Es handle sich dabei um „die Teilsprache der Nähe“ (SCHWARZENBACH 1969, 213). Er glaubt, dass [d]ie Frage nach der Mundartpredigt […] nicht persönlicher Liebhaberei oder einer zeitbedingten Mundartbewegung entsprungen [ist], auch wenn sie sicher davon mit ausgelöst wurde; sie ist eine Frage nach der Sprachform Mundart und ihren Möglichkeiten, die sie der Verkündigung gibt: eine theologische Frage und eine sprachliche zugleich. (SCHWARZENBACH 1969, 213)
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Dabei gilt es für SCHWARZENBACH (1969, 213) zwei Punkte zu beachten: Einerseits sei der Dialekt die Sprache der Gemeinde und für die Menschen auch leichter als Hochdeutsch. Andererseits sei das Bibelwort „durch die Überlieferung“ in Hochdeutsch gegeben – und in dieser Sprachform „bedenken unsere Theologen es auch“. Deswegen plädiert er für ein Miteinander der beiden Varietäten im Gottesdienst: [D]ie Mundart [muss], wo sie der Verkündigung dient, offen bleiben. Die Hochsprache aber, gebildet und geformt daran, bleibe es erst recht. Nur im Zusammenspiel beider Formen entfaltet die Botschaft sich so, wie es in sprachlicher Unvollkommenheit möglich ist, in unsere Wirklichkeit. SCHWARZENBACH (1969, 214)
Die Pfarrer wurden von SCHWARZENBACH gefragt, ob sie die „berndeutschen Evangelien“, die „zürichdeutschen Psalmen“ oder „Der guet Bricht“ verwenden (vgl. hierzu auch Kap. 3.5.1). Zudem wurde ermittelt, ob allenfalls „[a]ndere Bibelübersetzungen, Betrachtungen, Gebetsammlungen in Mundart“ zum Einsatz kommen und ob die Pfarrer „vermehrt solches Schriftgut begrüssen“ würden (SCHWARZENBACH 1969, 218). Rund die Hälfte der Pfarrer, die diese Frage beantworten, befürwortet den Gebrauch der Übersetzungen. Unter denjenigen, die die Frage nicht beantwortet haben, vermutet SCHWARZENBACH (1969, 218) „mehrheitlich Gegner eines derartigen mundartlichen Schrifttums“. SCHWARZENBACH (1969, 219) thematisiert neben den Dialektbibeln auch die Gebete, wobei es dabei zwischen freien und gebundenen Gebeten, die formelhaft sind, zu unterscheiden gelte. Erstere sprechen 34 Pfarrer in Familiengottesdiensten, in denen sie im Dialekt predigen, ebenfalls im Dialekt. Neun weitere tun dies ebenfalls „gelegentlich“. 21 Pfarrer sprechen in diesen Fällen auch die gebundenen Gebete im Dialekt. SCHWARZENBACH (1969, 219) hält fest, dass die Antworten keinen Schluss darauf zulassen, „ob es sich dabei um die spontane Übertragung hd. Vorlagen handelt (in einer Antwort ausdrücklich!) oder um schriftliche Vorbereitung eines Mundarttextes“. Das Unser Vater wird nur von ganz wenigen (vier Pfarrer im Familiengottesdienst regelmässig) im Dialekt gesprochen, „obwohl Berner, Basler und Zürcher Fassungen bestehen“ (SCHWARZENBACH 1969, 219). Die Frage des Dialektes betrifft nicht nur die Lesungen und Gebete, sondern auch die Lieder. Im Gegensatz zu heute gab es zur Zeit von SCHWARZENBACHS Studie noch keine Dialektlieder im offiziellen Gesangbuch der reformierten Kirche; diese fanden erst in das Gesangbuch von 1998 Eingang (vgl. dazu die Ausführungen in MARTI 2001 sowie Kap. 3.5.2.1): Das Ki rc he nl ie d, das einen so reichen Schatz fassbar geprägten Glaubensgutes enthält, ist völlig schriftsprachlicher Tradition verpflichtet, ebenso kennt man von den L it urgi e n, die im reformierten Gottesdienst die Handlungen begleiten, keine Mundartfassungen. (SCHWARZENBACH 1969, 221; kursive Hervorhebungen S.O.)
SCHWARZENBACH geht davon aus, dass kaum ein Wunsch nach Dialektfassungen besteht, dies sowohl für die gebundenen Gebete wie auch für die Liturgie. Er begründet dies damit, dass die Sprache des gebundenen Gebets und der Liturgie […] Formel [ist], durch Tradition bestärkt, vor dem Flüchtigen und Nachlässigen der Rede aus dem Stegreif bewahrt, schön und vornehm in der Sprache, rhythmisch gebunden und in seiner Aussage unanfechtbar gültig und dauernd.
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Die Schriftsprache gewinnt hier ihre höchste Würde. (SCHWARZENBACH 1969, 221; kursive Hervorhebung S.O.)
Bei der Predigt beobachtet SCHWARZENBACH (1969, 223; kursive Hervorhebung S.O.) einen inhaltlichen Wandel, der sich auf die Redeweise und die Sprachform auswirke: Persönlicher ist auch die Aussage geworden; mehr und mehr wird das persönliche E rle bni s zum Ausgangspunkt der Betrachtungen. […] Die Redeweise ist zwangloser geworden. Der hohe Ton der Kanzelrede gerät als Pathos in Verruf. Nüchtern, sachlich, im natürlichen Konversationston solle gepredigt werden, fordert man.
Für ihn ist klar, dass mit dem Wandel der Art und Weise, wie der Pfarrer zu predigen habe, der „Ruf nach der Mundartpredigt“ zusammenhängt (SCHWARZENBACH 1969, 223). Er vermutet zudem einen Zusammenhang von gewählter Sprachform mit dem Lokal, wo der Gottesdienst stattfindet (Filialgottesdienste in Schulhäusern oder einer Aussengemeinde im Dialekt, Hauptgottesdienste in der Kirche hingegen in Hochdeutsch, vgl. SCHWARZENBACH 1969, 224). Für „den ordentlichen Sonntagmorgengottesdienst“ bevorzugen die in SCHWARZENBACHS Studie befragten Pfarrpersonen klar Hochdeutsch: Rund 75 % schliessen den Gebrauch des Dialekts für diese Gottesdienste aus. Es gibt bei dieser Frage einen klaren Stadt-Land-Unterschied (86 % Ablehnung in der Stadt, 66 % auf dem Land), den SCHWARZENBACH aber auf den Faktor Alter zurückführt, da sich unter den von ihm befragten Landpfarrern mehr junge Personen befinden: Von der jüngeren Generation (47 Befragte) lehnen 64 % den Dialekt für den ordentlichen Sonntagsgottesdienst ab, bei der älteren sind es 84 %.107 Ein anderes Bild präsentiert sich bei den Kasualgottesdiensten und anderen besonderen Gottesdiensten: „Die Mundartpredigt hat sich hier einen bestimmten festen Platz erworben.“ (SCHWARZENBACH 1969, 225) Für Familiengottesdienste in der Kirche wählt die grosse Mehrheit regelmässig den Dialekt, eine Minderheit entscheidet sich auch da für Hochdeutsch, die meisten davon sind ältere Pfarrer (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 225). Noch stärker ist die Tendenz zu Dialekt, falls die Familiengottesdienste im Freien stattfinden. Die Abendgottesdienste werden tendenziell in Hochdeutsch gehalten, vor allem von den älteren Pfarrern. Bei den Werktagsgottesdiensten halten sich die beiden Sprachformen die Waage. Für Bibelstunden (ausserhalb der Kirche) wird in der Regel der Dialekt gewählt. Dort wird Hochdeutsch nur dann verwendet, wenn Fremdsprachige anwesend sind. Bei den Kasualien gilt es die Art zu unterscheiden: Taufen, die in der Regel Teil des Sonntagsgottesdienstes sind, werden von der grossen Mehrheit in Hochdeutsch gehalten. Auch bei Trauungen stellt der Dialekt die Ausnahme dar, viele ältere Pfarrer lehnen ihn kategorisch ab (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 226). Bei Abdankungen hält Hochdeutsch relativ unangefochten die Stellung (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 227). 107 Zur Sicht der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher verweist SCHWARZENBACH auf die Kirchenbote-Umfrage von 1942/43, bei der 85 % der Antwortenden (208 Personen) die Predigt im Dialekt entweder überhaupt oder zumindest für den traditionellen Sonntagsgottesdienst ablehnen. Lediglich 15 % „sprachen sich damals (1942/43) für den Gebrauch der Mundart in allen Gottesdiensten aus“ (SCHWARZENBACH 1969, 225).
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„[A]m meisten Raum gewonnen“ hat der Dialekt laut SCHWARZENBACH (1969, 228) im Jugendgottesdienst und im kirchlichen Unterricht. Dabei gibt es aber kantonale Unterschiede: Während Zürcher Pfarrer tendenziell Hochdeutsch für den Religionsunterricht an der Oberstufe verwenden, weil diese Varietät in der entsprechenden Schulordnung als einzige Unterrichtssprache festschrieben ist, wird im Kanton Bern in der Regel Dialekt für den Religionsunterricht verwendet (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 230). Ein geeintes Bild über die Kantonsgrenzen hinweg zeigt sich beim Blick auf den Konfirmationsunterricht, der in der Regel im Dialekt abgehalten wird: „Sicher spielt das Bestreben mit, von diesen kostbaren Stunden ein ‚Schulgeschmäcklein‘ fernzuhalten.“ (SCHWARZENBACH 1969, 230) Hier seien Unterschiede zu den Katholiken festzustellen, wo „beim Unterricht die Betonung […] mehr auf der Einübung in der Hochsprache“ liege (SCHWARZENBACH 1969, 230). Für SCHWARZENBACH ist klar, dass sich beim Sprachgebrauch in der Kirche, im Speziellen in der reformierten Kirche der Deutschschweiz, seit dem Ersten Weltkrieg ein Wandel abzeichnet. Diesen betrachtet er „heute aber sozusagen [als] abgeschlossen“ (SCHWARZENBACH 1969, 233). Er glaubt, dass „man die Mundartpredigt [in ihren Möglichkeiten und Grenzen; S.O.] jedoch erst in den dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts wirklich verstehen gelernt“ habe, geht jedoch davon aus, dass „die kirchliche Tradition“ zu stark sei und die Pfarrer zu sprachbewusst […], als dass die Bewegung eine allzu grosse Wirkung gehabt hätte. Man hat der Mundart Eingang gewährt da, wo Anliegen und Äusserungslage ihr günstig sind, aber sonst begegnet man ihr mit grossen Vorbehalten, gerade von seiten einer jüngeren theologischen Strömung, die der Lehre und dem gegebenen Wort grösseres Gewicht beimisst als ein volksverbundener Liberalismus. (SCHWARZENBACH 1969, 238)
Rückblickend lässt sich feststellen, dass sich SCHWARZENBACH in diesem Punkt geirrt hat: Der Wandel ging auch bzw. gerade ab den Siebzigerjahren entscheidend weiter. Wie bereits in Fussnote 101 erwähnt, erachtet WERLEN SCHWARZENBACHS Darstellung der katholischen Verhältnisse nur 15 Jahre nach dem Erscheinen als veraltet. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 73) tun dies einige Jahre später auch in Bezug auf die reformierte Kirche: Der wesentliche Grund, der die Arbeit als überholt erscheinen lässt, liegt bei den markanten Verschiebungen, die die jüngste (dritte) Mundartwelle unseres Jahrhunderts für das gegenseitige Verhältnis der beiden Sprachformen bewirkt hat und noch immer bewirkt.
Der Beginn dieser Mundartwelle fällt mit der Publikation von SCHWARZENBACHS Studie zusammen, sodass „das einige Jahre vorher zusammengetragene Material, auf das er sich abstützt, von dieser neuen, deutlichen Ausweitung des Mundartgebrauchs noch kaum betroffen sein konnte“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 73). In der Untersuchung von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ selbst steht der Gebrauch von Dialekt und Standarddeutsch im reformierten108 Gottesdienst am Bei108 Auf die Untersuchung von katholischen Gottesdiensten verzichten RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ vor allem wegen der unterschiedlichen Sprachsituation der beiden Konfessionen, wobei
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spiel des Kantons Zürich im Zentrum, wobei der Fokus auf den Predigten liegt. Hierbei steht aber nicht die Frage im Vordergrund, „in welchem Ausmass in den Gottesdiensten von den beiden Sprachformen Gebrauch gemacht wird […] (obwohl sich auch in dieser Hinsicht vielerlei Aufschlüsse ergaben)“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 13).109 Vielmehr geht es den Forschern darum festzustellen, ob sich „die Wirkungen der beiden Sprachformen [unterscheiden] und wenn ja, worin“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 13). Die Ausgangshypothese lautet denn auch, dass die beiden Varietäten im Gottesdienst verschiedene Leistungen erbringen und dies sowohl Pfarrpersonen als auch den Gottesdienstbesucher/-innen klar sei (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 19). Für die Hypothesenbildung stützen sie sich auf die gängigen Stereotype bezüglich Dialekt und Standarddeutsch: Der Dialekt ist unmittelbarer, intimer, herzlicher im Vergleich zur Standardsprache; letztere ist distanzierter, intellektueller, eher analytisch als synthetisch, sie hat eine Tendenz zum Dogmatischen. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 19)
Sie untersuchen Tonaufnahmen von regulären Sonntagsgottesdiensten110 der reformierten Kirche hinsichtlich der Gesichtspunkte der unterschiedlichen Lexik, Syntax sowie Semantik der Dialekt- und Standardpredigten. Ziel ist es, die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der beiden Varietäten in Predigten aufzuzeigen. Mit diesem Anliegen scheitern RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ aber: Mit den gewählten Methoden lassen sich kaum Unterschiede zeigen. Die Predigt als Textsorte weise „zwar durchaus einen eigenen sprachstrukturellen Charakter auf […], […] dieser [werde] aber weniger von der verwendeten Sprachform, als vielmehr von der Textsorte selber definiert“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 288; Hervorhebung im Original). Ihre Studie stellen RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ in den Zusammenhang der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit. „Konkrete Ansatzpunkte“ für Fragestellungen der Studie „ergaben sich von der ‚Mundartwelle‘ her, welche seit einiger Zeit in der Schweiz zu beobachten ist“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 18). Die Feststellung, dass der Dialekt sein Terrain ausweite, gelte „auch für die Kirche: Immer mehr Predigten werden in Mundart gehalten, der Religionsunterricht praktisch immer“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 19). Als Grund für diese Ausweitung im kirchlichen Kontext sehen die Autoren die Unmittelbarkeit und die geringere Distanz des Dialekts, der nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz anspreche. Zudem sie sich dabei z. B. auf die unterschiedlichen Gebetstraditionen (reformiert: freies Gebet vs. katholisch: vorformuliertes Gebet) und die rituelle Funktion von Sprache in der katholischen Messe beziehen (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 188–194). 109 So schliessen RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 112) beispielsweise aus den Antworten auf ihre briefliche Umfrage zu den Sprachformenregelungen, dass zwar überall in der Deutschschweiz ein Trend zu „vermehrtem Mundartgebrauch“ vorhanden sei, man aber bezüglich des konkreten Anteils des Dialekts „mit grossen regionalen Unterschieden“ rechnen müsse. 110 Ausserdem wurden die Pfarrpersonen, deren Gottesdienste aufgezeichnet wurden, per Fragebogen befragt. Antworten aus dieser Befragung werden in der Studie nicht vollständig, sondern in Auswahl erwähnt.
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen kehren die stereotypen Argumente für den Dialektgebrauch im Gottesdienst auch in Makrotheorien zur Entwicklung von Religion in der Gegenwart wieder. Religion, so pflegt man zu betonen, unterliegt zunehmend der Individualisierung, der Subjektivierung und der Emotionalisierung. Von da aus könnte man versuchen, eine Beziehung herzustellen: Der Übergang religiöser Botschaft aus der Standardsprache in den Dialekt ist ein Symptom dieser globalen Veränderungen von Religion […]. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 19; Hervorhebung S.O.)
Allerdings ist für RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 19) klar, dass die Mundartwelle nicht im Religionswandel entstanden ist, sondern mit der „Hinwendung zu kleinen, überschaubaren Verhältnissen“ und dem „Bedürfnis nach neuer Beheimatung in der ‚Region‘“, die beide „unübersehbar“ seien: „Offenbar soll die wirtschaftliche, kulturelle und politische Universalisierung kompensatorisch abgefangen werden.“ Die dritte Mundartwelle habe das Gefüge der Sprachformenverteilung in der Deutschschweiz nachhaltig aus den Fugen gehoben, stellen RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ fest, auch jenes in den Kirchen, denn diese waren und sind, wie bereits an anderer Stelle in dieser Untersuchung erwähnt, von diesen sprachlichen Veränderungen ebenso selbstverständlich mitbetroffen wie jeder andere gesellschaftliche Teilbereich, und das bedeutet: Im Gegensatz zu Schwarzenbachs Prognose [= der 1969 von einer Konsolidierung der damaligen Situation ausging; S.O.] setzte sich die „Landnahme der Mundart“ auch im kirchlichen Umfeld verstärkt fort. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 74)
In vorausschauender Weise gehen sie jedoch davon aus, dass ihrer Studie angesichts der „heute wieder verstärkt wirksame[n] nationale[n] Komponente der Mundartwelle“ dasselbe widerfahren könnte (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 74; Hervorhebung im Original). So hat sich die folgende Annahme als absolut richtig herausgestellt: Im Rahmen der gesamten Europa-Diskussion und generell im Rahmen der politischen Neuordnung unseres Kontinents und der damit zusammenhängenden allgemeinen Rückbesinnung auf nationale und regionale Identität und Werte wäre es nicht sehr verwunderlich, wenn die anhaltende Mundartwelle nun nicht zu einer Abflachung käme, sondern im Gegenteil eine neue Stärkung erfahren würde. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 74)
RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 26) stellen fest, dass die Untersuchung „des Spannungsfeldes zwischen Mundart und Standardsprache in der Kirche nur im Kontext der gesamten Umwelt“ einen Sinn mache. Dabei seien gewisse, besondere Gesichtspunkte zu beachten: 1. „Dass man dem Hörer eine Aussage mit der Mundart, seiner Primärsprache, näher bringt als mit der Standardsprache, trifft nur bedingt und nur unter bestimmten Umständen zu.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 26) Dies sei nur dann der Fall, wenn die Predigt im Dialekt eine Ausnahme darstelle. Darüber hinaus kämen gewisse Pfarrpersonen bei ihren Zuhörer/-innen besser an, wenn sie im Dialekt predigten, was aber auch damit zusammenhängen könne, dass sie „von der inneren Syntax her andere Inhalte, andere Beispiele“ wählen als auf Standarddeutsch. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 26)
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2. „Eine gute Mundartpredigt zu verfassen und zu sprechen, in einer Form, die wirklich (gute) Mundart ist, ist ein sehr anspruchsvolles Unterfangen.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 26) Wer davon ausgehe, dass es einfacher sei, im Dialekt zu predigen, „mach[e] es sich auch einfacher – und das Ergebnis ist entsprechend“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 26). Die Autoren gehen davon aus, dass nur wenige die nötige Übung und Begabung für diese Aufgabe mitbringen. Darüber hinaus erschwerten ad hoc übersetzte standardsprachliche Manuskripte das Sprechen einer guten Mundart. (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 26–27) 3. „Die Mundart kann Aufmerksamkeit erregen und vom Inhalt ablenken.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27) Dabei existieren zwei mögliche Gefahren: Einerseits können sich Hörer/-innen an einer unreinen Mundart stören und davon abgelenkt werden, andererseits könne die Ablenkung durch die Beliebtheit (bzw. Unbeliebtheit) des gesprochenen Dialekts bei den Zuhörer/-innen ausgelöst werden. (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27) 4. „Das Standarddeutsche wird unter Umständen besser verstanden.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27) Diesen Faktor gelte es einerseits bei Personen mit Hörschwierigkeiten zu bedenken, andererseits bei Gottesdiensten, an denen Personen teilnehmen, die Schweizerdeutsch schlecht oder gar nicht verstehen (z. B. in Kurorten oder in Gebieten mit hohem Anteil an Arbeitsmigration) (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27). 5. „Sprache hat immer auch rituellen Charakter.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27) Deswegen stelle sich die Frage, welche Bedeutung die Predigt im ganzen Gottesdienst hat. Durch die Verwendung des Dialekts könnte sie beispielsweise explizit vom restlichen standarddeutschen Gottesdienst abgehoben werden „und so den Alltag in den Gottesdienst einbringen“, oder aber sie sei, „auch mit der Sprachform, Teil eines Ganzen“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 27). Wie durch diese Gesichtspunkte klar wird, ist eine Beurteilung der Leistungsfähigkeit der beiden Varietäten kaum möglich, ohne sich mit dem Thema Einstellungen zu Dialekt und Standarddeutsch auseinanderzusetzen. So stellen die Einstellungen denn auch einen gewichtigen Teil der Studie dar, da sie mit der Zeit „eine gewisse Eigendynamik“ entwickelt haben (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 49). In die Untersuchung flossen daher neben der eigentlichen Analyse der Gottesdienste auch Resultate von Umfragen mit ein. Dazu gehörten neben einer Erhebung der Sprachregelungen in den Kantonalkirchen (vgl. dazu auch Kap. 7) auch die Verteilung der Varietäten nach Gottesdienstteil im Kanton Basel-Landschaft, wo Standarddeutsch als Predigtsprache vorgeschrieben ist. Dabei ergab sich für den regulären Sonntagsgottesdienst folgendes Bild für die Sprachform, in der die einzelnen Teile in der Regel gehalten würden:
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Liturgisches Element Unservater-Gebet Text-Lesungen Segen Gebet Predigt Begrüssung Anzeigen111
In Standard 36 35 31 22 20 21 18
In Mundart 1 3 6 16 17 18 20
Tab. 10: Gewählte Sprachform pro Gottesdienstteil gemäss Selbsteinschätzung der Pfarrpersonen in Basel-Landschaft (n=36112) für einen normalen Sonntagsgottesdienst (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 110)
Hier zeigt sich, dass die Vorschrift nur von etwas mehr als der Hälfte der Befragten eingehalten wird.113 Aus der Tabelle ist zudem eine „konstante Zunahme der Standard-Befürwortung“ ersichtlich, durch die, gemäss RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 110), sich sozusagen eine „Rangliste des Feierlichkeitsgrades“ für die verschiedenen Elemente erstellen [lässt], sofern man davon ausgeht, die Verwendung der Standardsprache geschehe tatsächlich in der Absicht, mehr Feierlichkeit zu erreichen.
Ein anderes Bild zeigt sich für Familien- und Abendgottesdienste, wo die Pfarrpersonen in Basel-Landschaft mehr Mundart wählen: „[I]n der ‚Ritualitäts-Abstufung‘ rangieren jetzt die Text-Lesungen an erster Stelle (noch vor dem Unservater!), während das Element ‚Predigt‘ mit den Anzeigen auf gleicher Ebene steht.“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 111) Liturgisches Element Text-Lesungen Unservater-Gebet Segen Gebet Begrüssung Predigt Anzeigen
In Standard 14 9 9 6 6 5 5
In Mundart 5 5 11 14 15 15 15
Tab. 11: Gewählte Sprachform pro Gottesdienstteil gemäss Selbsteinschätzung der Pfarrpersonen in Basel-Landschaft für einen Familien- oder Abendgottesdienst (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 111)
111 Damit ist der Gottesdienstteil gemeint, der in dieser Studie Mitteilungen genannt wird. 112 Gemäss RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 110) handelt es sich um eine „Befragung von 36 reformierten Pfarrerinnen und Pfarrern aus dem Baselland“. Das Total von über 36 bei gewissen Gottesdienstteilen erklärt sich durch Doppelnennungen (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 110, Fussnote 15). 113 Im Nachbarkanton Basel-Stadt (ohne Sprachformenvorgabe) gaben alle 19 befragten Pfarrpersonen an, die Predigt im regulären Sonntagsgottesdienst in Standarddeutsch zu halten (vgl. RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 111).
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In einer Fragebogenerhebung gingen RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 130) ausserdem der Frage nach, „[w]elche besonderen (positiven und negativen) Eigenschaften und Wirkungsweisen […] [s]ie der jeweiligen Sprachform zu[rechnen]“.114 Die Antworten auf diese offene Frage werden gebündelt und „einzeln entweder einer positiv (+), neutral (=) oder negativ (–) besetzten Begriffskategorie“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 129) zugeordnet, wobei diese Zuordnung nicht immer in eindeutiger Art und Weise möglich ist. Dabei entsteht ein klares Bild mit einer positiven Bewertung des Dialekts und einer viel stärker neutralen bzw. teils negativen Bewertung des Standarddeutschen: Mundart (MA) Positive Begriffe (+) Neutrale Begriffe (=) Negative Begriffe (–) Nennungen total
55 8 1 65
84.6 % 13.9 % 1.5 % 100.0 %
Standardsprache (SS) 24 25 10 59
40.7 % 42.3 % 17.0 % 100.0 %
Tab. 12: Einschätzungen der beiden Sprachformen durch Pfarrpersonen aus dem Kanton Zürich (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 131)
Die häufigsten Attribute für den Dialekt sind – jeweils mit der entsprechenden Bewertung von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 130–131) – „intimer/persönlicher“ (8 Nennungen, +), „näher (beim Volk)/weniger abgehoben“ (8 Nennungen, +), „gefühlvoller/emotionaler“ (5 Nennungen, +) sowie „alltäglicher“ (5 Nennungen, =). Für Standarddeutsch nannten die Zürcher Pfarrpersonen „distanzierend/Distanz wahrend/Distanz schaffend“ (11 Nennungen, =), „feierlicher/festlicher“ (7 Nennungen, +), präziser (5 Nennungen, +), „fremder/eine Fremdsprache/unvertraut“ (3 Nennungen, –) sowie „klarer“ (3 Nennungen, +). Es fällt auf, dass RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ die Eigenschaft „distanzierend“ als neutral einschätzen. Diese könnte von den Pfarrpersonen aber auch mit einer eher negativen Wertung verbunden sein, was sich aber nicht definitiv feststellen lässt. Auch hier betonen RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 143) erneut den Zusammenhang zwischen der Gesellschaft allgemein und der Kirche: So seien kollektive Einstellungen und Stereotype zu den Sprachformen in der Deutschschweiz auch „für die Kirche von Interesse“, gerade auch für Pfarrpersonen, deren wichtigstes Berufswerkzeug die Sprache sei. Es gehe [u]m die Sprachform als mögliche Ursache von situationsspezifischen Kommunikationsstörungen oder auch als Mittel zur Kommunikationserleichterung infolge von Missachtung bzw. Ausnützung stereotyper Einschätzungen (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 143).
Sie weisen darauf hin, dass man sich als Pfarrperson im Gottesdienst
114 Diese Frage wurde im Wortlaut für die vorliegende Studie (sowohl für die Interviews wie auch die Fragebogenuntersuchung) übernommen (vgl. Kap. 10.1).
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen angesichts der Wirksamkeit kollektiver Attitüden [werde] bewusst sein müssen, welche Nebenbotschaften man mit dem Entscheid für die eine oder andere Sprachform aussendet (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 143).
Für die Autoren der Studie gibt es „einige wesentliche Faktoren […] und gewisse Zusammenhänge“, die Pfarrpersonen beim Entscheid für die eine oder andere Varietät hinsichtlich der Predigt beachten sollten. Diese Faktoren sind jeweils nicht unabhängig, sondern „stehen dabei durch zahlreiche gegenseitige Abhängigkeiten und Überschneidungen miteinander in Beziehung“ (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 144). RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 144–185) zählen folgende mögliche Entscheidungsfaktoren bzw. Faktorenbündel auf, die ihnen beachtenswert erscheinen: – – – – –
Faktoren „Autorität“, „Solidarität“, „Hierarchie“ Faktoren „Feierlichkeit“, „Ritualität“, „Sakralität“ Faktoren „Volkstümlichkeit“, „Beheimatung“, „Intimität“, „Fremdheit“ Faktoren „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ Faktor „Stereotype Bewertung bestimmter Dialekte“115
Zusammengefasst lassen sich also keine markanten Unterschiede in der Leistung der beiden Varietäten bezüglich Lexik, Syntax und Semantik bei den Predigten feststellen: Die Unterschiede Mundart-Standardsprache sind in der Predigt viel weniger stark ausgeprägt als gemeinhin angenommen wird. Die oft grossen Erwartungen, die gerade auch im Bereich kirchlicher Rede in die kommunikative Wirksamkeit der Mundart als Sprachform gesetzt werden, lassen sich auf der Ebene von Wortschatz, Satzbau und inhaltlicher Gewichtung nicht begründen, sondern sie leben zur Hauptsache von den kollektiven affektiven Einstellungen der Deutschschweizer/innen gegenüber den zwei gebräuchlichen Sprachformen und gegenüber den verschiedenen Dialekten. (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 295; Hervorhebung S.O.)
Die Untersuchung belegt gemäss RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 22) „die Leistungsfähigkeit der Vorurteile, welche den beiden Sprachformen diese oder jene Qualität zuweisen“. Sie schlussfolgern, dass sich aus den Resultaten für die einzelne Pfarrperson kein einfaches Ja oder Nein zu einer der beiden Sprachformen ableiten lasse. Der Entscheid, die eigene Predigt in der jeweiligen Sprachform zu halten, werde vom „eigene[n] Dialekt, [der] eigene[n] Beheimatung in den beiden Sprachformen und nicht zuletzt [von den] persönlichen Zielsetzungen beim Predigen […] je individuell massgeblich“ mitbestimmt (RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996, 296). Ebenfalls der Frage der Sprachformen im reformierten Gottesdienst und im kirchlichen Unterricht ist die (unveröffentlichte) Seminararbeit von KAMM (2007) gewidmet. Er untersucht die Thematik am Beispiel des reformierten Kirchenbezirks 115 RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996, 185) nennen noch weitere Faktoren, die sie aber nicht weiter ausführen: „Raum“, „Architektur“, „Gottesdienste unter freiem Himmel“,„Gruppengrösse“,„Emotionalität“,„Hörer(innen)erwartungen“,„Alltagssprache“, „Fachsprache“, „Intellektualität“ sowie „Abstraktheit“, „Anschaulichkeit“.
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Toggenburg (Kanton SG) und legt den Fokus auf Gottesdienstformen einerseits und Unterrichtsformen andererseits. Als Grundlage für seine Arbeit dient ihm eine eigene Umfrage bei reformierten Pfarrerinnen und Pfarrern in ebendiesem Kirchenbezirk. Die Seminararbeit bettet er in den Diskurs der Ausbreitung der beiden Sprachformen in der Deutschschweiz ein, wie dies bereits SCHWARZENBACH und RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ taten. Basis von KAMMS Untersuchung ist eine Fragebogenerhebung bei 41 Pfarrpersonen, wobei 30 davon autochthone Dialektsprecher/-innen sind (die elf allochthonen Pfarrpersonen erhalten einen separaten Fragebogen). Er geht davon aus, dass die Ergebnisse aufgrund der hohen Rücklaufquote116 für den untersuchten Kirchenbezirk verallgemeinerbar sind; eine Übertragbarkeit über den Kirchenbezirk hinaus ist für ihn jedoch nicht sicher (vgl. KAMM 2007, 13). In einem ersten Teil werden die Einstellungen zu den Sprachformen Dialekt und Standarddeutsch im Allgemeinen erhoben (vgl. KAMM 2007, 13–16). KAMM stellt fest, dass die „Charakterisierungen des Dialektes und der Standardsprache […] in sich kaum widersprüchlich“ erscheinen und einer Art „Leitdifferenz“ NäheDistanz folgen: „Diese Leitdifferenz scheint Sprachform-Stereotype konzeptionell zumindest unterschwellig wesentlich zu organisieren“ (KAMM 2007, 14). Die Stereotype, die sich in den Resultaten zeigen, entsprechen weitgehend jenen aus der Untersuchung von RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996). Die Pfarrpersonen verorten den Dialekt als emotionalere, besser verständliche Varietät; von anderen wird er aber auch als „nicht festlich“ bzw. „etwas gewöhnlich“ eingeschätzt. Standarddeutsch wird von den Pfarrer/-innen als feierlicher und ernst eingeschätzt. Gewisse erachten es als besser verständlich. Gleichzeitig gilt Standarddeutsch als distanzierter, schafft eine gewisse Fremdheit, was aber die Möglichkeit eröffnet, die Botschaft der Bibel in geeigneter Form zu übermitteln. Darüber hinaus wird es als präziser, eleganter oder auch poetischer eingeschätzt. Um komplexe Inhalte verständlich zu machen, scheint den Pfarrpersonen Standarddeutsch mehrheitlich geeigneter. Die emotionale Wirkung hingegen sei beim Dialekt grösser (vgl. KAMM 2007, 14–16). In einem zweiten Teil steht die Selbsteinschätzung der Pfarrpersonen betreffend gewählter Varietät für ihre Gottesdienste im Zentrum (vgl. KAMM 2007, 16– 25). Keine Pfarrperson setzt konsequent auf eine Sprachform für alle ihre Sonntagsgottesdienste, zudem variieren die Pfarrpersonen die Varietät nach Gottesdienstteil. Für die Begrüssung, die Liedansagen und Mitteilungen sowie die Einleitung zur Lesung verwenden drei Viertel tendenziell den Dialekt. KAMM (2007, 18) stellt fest, dass diese Gottesdienstteile alle „nicht im engeren Sinn liturgische Elemente sind und entsprechend wenig rituellen Charakter haben“. Ein völlig anderes Bild zeigt sich für das Eingangswort, das Sendungswort und den Segen, welche drei Viertel der Pfarrpersonen tendenziell in Standarddeutsch halten. Für diese Wahl spielt offensichtlich die Tatsache eine Rolle, dass hier Zitate oder Formeln verwendet werden: 116 Die Rücklaufquote bei den Deutschschweizern betrug 79 %, bei den übrigen Pfarrpersonen 66 % (KAMM 2007, 12).
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Als „Schriftzitat“ werden diese Elemente selten in Dialekt übersetzt, zusätzlich stärkt die Hochsprache scheinbar auch die Einreihung des Gottesdienstes und der Liturgie in die „Tradition der Kirche“. Somit sind ein hoher Grad an Schriftlichkeit, Ritualität und damit verbundenes liturgisches Traditionsbewusstsein wohl für den starken Anteil an Standardsprache bei diesen Elementen mitverantwortlich. (KAMM 2007, 18)
Diese Aussage gelte noch stärker für den Segen, der noch häufiger in Standarddeutsch gesprochen werde. Aus diesem Grund bezeichnet KAMM (2007, 18) diese Gottesdienstelemente als „Zitatelemente“. Auch die Lesung wird grossmehrheitlich in Standarddeutsch gehalten, was KAMM (2007, 19) zur Schlussfolgerung bringt, dass zumindest mit dem Element der Lesung und anderen Elementen mit Einsatz von Bibeltexten in den allermeisten Gottesdiensten (auch in alternativen) meist ein standardsprachlicher Anteil zu finden sein ist [sic!], auch bei Pfarrpersonen, die ansonsten sehr konsequent auf Dialekt setzen.
Für die Predigt wählen die meisten Pfarrpersonen die Sprachform, in der sie die Mehrheit des übrigen Gottesdienstes halten. Bei den Gebeten werden beide Varietäten ungefähr gleich häufig gewählt. Aufgrund der eingegangenen Antworten erstellt KAMM folgende sechs Varietätenprofile für die Sonntagsgottesdienste 1. 2. 3. 4. 5. 6.
sehr stark dialektbetont dialektbetont Tendenz Dialekt ausgeglichen bis Tendenz Standard Liturgie Standard sehr stark standardbetont
Von den befragten Pfarrpersonen verwenden 13 eines der dialektbetonten Profile (1–3), zehn eines mit „Elementmehrheit Standard“ (KAMM 2007, 20). Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich für KAMM, dass Standarddeutsch für viele Befragte für folgende Gottesdienstteile „vor allem aufgrund ihres Zitatcharakters, ihrer Schriftlichkeit, ihrer Ritualität und fixen Form“ gegeben ist, und zwar in „abnehmender Reihenfolge“: – – – –
Lesung Segen Sendungswort Eingangswort
Bei den übrigen Elementen lasse sich die „persönliche Sprachformwahl der Pfarrpersonen“ deutlicher feststellen (KAMM 2007, 20). Neben den traditionellen Sonntagsgottesdiensten thematisiert KAMM auch Festtags-, Familien- und Kasualgottesdienste sowie Jugendgottesdienste. Die Mehrheit der Pfarrpersonen gibt an, ihren Sprachgebrauch auch für Feiertags- und Familiengottesdienste beizubehalten. Für Familiengottesdienste „benutzen auch
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ansonsten eingefleischte Anhänger des Standarddeutschen immer Dialekt“ (KAMM 2007, 22). Bei den Kasualien richten sich viele Pfarrpersonen nach den betroffenen Personen (Hochzeitspaar, Trauerfamilie usw.) und deren Wünschen; es überwiegt in KAMMS Umfrage der Dialekt. Bei den Beerdigungen tendiert eine Minderheit „sehr bewusst zur Standardsprache“, um die nötige Distanz wahren zu können (KAMM 2007, 22). Bei Besinnungen in Alters- und Pflegeheimen sowie Spitälern verwenden 20 Pfarrpersonen nach eigenen Angaben den Dialekt. Für den Konfirmandenunterricht und Jugendgottesdienste kommt ebenfalls grösstenteils der Dialekt zum Einsatz. Der Religionsunterricht müsste im Kanton St. Gallen – aufgrund Regeln der Schule – in Standarddeutsch stattfinden; zwei Drittel der Befragten verwenden „meist“ oder „immer“ Dialekt und halten sich somit nicht an die Weisung. Diese befolgen lediglich vier Personen (vgl. KAMM 2007, 23–25). In Anlehnung an RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ (1996) widmet KAMM (2007, 25–32) sich schliesslich den Entscheidungsfaktoren für die Varietätenwahl und benutzt dazu die in der Zürcher Studie definierten Faktorenbündel, ergänzt diese aber noch um weitere mögliche Faktoren117. Er geht davon aus, dass die Varietätenwahl „kaum je monokausal bestimmt wird, sondern ein komplexes Zusammenspiel von Faktoren beinhaltet“ und sich die Pfarrpersonen „der Wichtigkeit und der Sensibilität der Sprache und ihres gezielten Einsatzes oft überaus bewusst“ sind (KAMM 2007, 33). Der Gottesdienst werde als „partizipative Form“ wahrgenommen und die Pfarrpersonen wollten mit der Varietätenwahl den Anwesenden, dem Glauben und sich selbst „gerecht werden“ (KAMM 2007, 33). KAMM (2007, 34) geht davon aus, dass es „kaum unterschätzt werden [kann], wie stark schlussendlich die persönlichen Präferenzen und Bedürfnisse einer Pfarrperson deren Sprachformwahl prägen“. In einem abschliessenden Teil beschäftigt sich KAMM (2007, 34–37) mit der Eigeneinschätzung der Veränderungen im Sprachgebrauch der Pfarrpersonen sowie der Einschätzung der Vorlieben der Gottesdienstgemeinde.118 Er sieht betreffend die Veränderungen des Varietätengebrauchs seit Amtsantritt einen „deutliche[n] Vormarsch der Mundart“, der „scheinbar jeweils individuelle Ursachen vor Ort, bei den jeweiligen Pfarrpersonen“ hat (KAMM 2007, 35). Bezüglich der Vorlieben der Gemeindeglieder geht die Hälfte der befragten Pfarrpersonen von einer „mehr oder weniger ausgeprägte[n] Bevorzugung der Mundart“ aus (KAMM 2007, 35). Ähnlich wie SCHWARZENBACH und RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ wagt auch KAMM eine „Trendeinschätzung für zukünftige Entwicklung“: Er stellt fest, dass Pfarrpersonen bei der Varietätenwahl einzig die Bedingungen in ihrer Gemeinde sowie die „eigenen Möglichkeiten und Vorlieben“ bedenken und sie ihre Abwägungen „nicht in einen grösseren Zusammenhang“ stellen (KAMM 2007, 36). Die befragten Pfarrpersonen selbst gehen grossmehrheitlich davon aus, dass der Trend 117 Diese sind: „Raum“, „Intellektualität und Emotionalität“, „Alltags-/Fachsprache – Abstraktheit/Anschaulichkeit“, „Hörererwartungen und Gemeindezusammensetzung“, „‚Äussere Vorgaben‘ (Ausbildung/Kirchgemeinde/Kanton/Pflichtenheft)“, „(Amts-)Alter und Geschlecht“. 118 Auch diese Fragen wurden für die vorliegende Untersuchung von KAMM übernommen, vgl. Kap. 9.7.4 und 9.9.1
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zum Dialekt weiter anhalte. KAMM (2007, 37) selbst vermutet aufgrund seiner Resultate, dass der Dialekt in den Gottesdiensten vieler Kirchgemeinden schon länger an Terrain gewonnen hat und auch weiterhin auf dem Vormarsch sein könnte, was auch einem Bedürfnis vieler – aber längst nicht aller – Gemeindeglieder zu entsprechen scheint. Allerdings dürfte augenscheinlich die persönliche Präferenz der Befragten öfters auch die subjektive Einschätzung allgemeiner Bewegungen prägen.
KAMMS Arbeit lässt quantitative Schlüsse bezüglich der subjektiven Einschätzungen des Sprachgebrauchs, allerdings beschränkt auf den Kirchenbezirk Toggenburg, zu: Sie weisen in die Richtung, die in der bisher publizierten Forschungsliteratur ohne empirische Fundierung angedeutet wurde: mehr Dialektgebrauch im Gottesdienst. 3.4.3 Theologische Darstellungen Auch Theologinnen und Theologen befassen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Dialekt und Standarddeutsch, da die gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Dialekt die Kirchen spätestens während der dritten Mundartwelle miterfasst hat. Die Urteile über die Ausbreitung des Dialekts und die Berechtigung, Dialekt in diesem Kontext zu verwenden, gehen unter Theologinnen und Theologen teils weit auseinander. Die Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich veröffentlichte 1978 „Arbeitsblätter für den Gottesdienst“, die auf acht Seiten Dialektvorlagen enthalten (drei Psalmen, die Weihnachtsgeschichte und vier Gedichte). Auf zwei vorangehenden Seiten wird auf das „Problem der Mundart“ eingegangen und der Bogen zu den Mundartwellen und der damit verbundenen Ausdehnung des Dialektgebrauchs in Schule, Hochschule, Medien und Literatur geschlagen. Für die Autoren stehen [i]n diesem Zusammenhang […] auch, was unsere reformierte Landeskirche betrifft, die Familiengottesdienste und Abendgottesdienste; in den ersteren bedient sich der Pfarrer durchwegs, in den letztern häufig der Mundart (Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich 1978, Mundart-Texte 1).
Die Gründe für die aktuelle Mundartwelle sehen sie in der antiautoritären Tendenz unserer Zeit, in der Ablehnung alles Hieratischen und Pathetischen. Gerade das „Hohe“ an der „Hochsprache“ ist vielen ein Ärgernis, weil sie darin nur einen illegitimen Anspruch, eine Anmassung – oder bestenfalls eine tote Tradition zu erkennen vermögen. Das Schweizerdeutsche dagegen gilt als nüchterner, karger und wirklichkeitsnäher. Insofern dient die Mundart der „Demokratisierung“ in der Kirche; der Pfarrer spricht dieselbe Sprache wie das Kirchenvolk und steigt, sozusagen, von der Kanzel mitten in seine Gemeinde hinab. (Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich 1978, Mundart-Texte 1–2; Hervorhebung S.O.)
Den Autoren scheint diese Tendenz zu missfallen; sie verweisen darauf, dass der Dialekt einerseits dem „älteren, traditionsverhafteten Kirchenpublikum zum Teil“
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nicht gefalle. Andererseits sprächen intellektuellere Gründe für die Verwendung von Standarddeutsch: intellektuell differenziertere Erörterungen schriftdeutsch besser formulieren, weil diese Sprache, auf Grund ihrer langen Tradition, den abstrakten Bereichen viel leichter beikommt. Wer vom Schriftdeutschen zur Mundart wechselt, steigt sozusagen in eine zwar ursprünglichere, aber auch kindlichere Sprachschicht ab. Was er an Kommunikation gewinnt, kann er an Geistigkeit verlieren. – Ausserdem ist zu sagen, dass heute gerade auch die Kinder, infolge des Fernsehens, viel früher mit dem Schriftdeutschen in Berührung kommen; wenn es nur um die gegenseitige Verständigung ginge, könnte sich der Pfarrer schon bald des Schriftdeutschen bedienen. Aber die Mundart, als unsere eigentliche Muttersprache, wirkt eben spontaner. Sie ist aber gar nicht etwa leichter zu verwenden als die Schriftsprache, im Gegenteil: Man muss sich in dieser sehr konkreten, anschaulichen Sprache den Weg selber bahnen, es ist noch nichts „vorgebahnt“ – ganz abgesehen davon, dass die Mundart schriftlich schwer zu fixieren ist. (Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich 1978: Mundart-Texte 2; Hervorhebungen S.O.)
Die Verantwortlichen der Zürcher Liturgiekommission gehen davon aus, dass die Situation im Jahr 1978 „im Fluss“ sei und der Dialekt in Familiengottesdiensten, in weiten Teilen auch im Religionsunterricht sowie den „geselligen Veranstaltungen der Kirche“ Einzug gehalten habe. Die Autoren sehen die Eignung des Dialekts im kirchlichen Sprachgebrauch „besonders für das schlichte Erzählen“, gehen aber davon aus, dass, „wo man dagegen reflektieren will, […] man vielleicht die Schriftsprache vorziehen“ werde (Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich 1978, Mundart-Texte 2). Sieben Jahre später widmet MEILI (1985) sich der Thema Dialekt- und Standardgebrauch in der reformierten Kirche. Er geht davon aus, dass es sich beim Dialektgebrauch um eine neuere Entwicklung handle, da es bis in die Siebzigerjahre keinerlei Hinweise auf den Dialekt als Gottesdienstsprache in den deutschsprachigen Liturgien und den dazugehörigen Kommentaren gegeben habe, dies jetzt aber der Fall sei. Er glaubt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Dialektgebrauch und den häufigeren Familiengottesdiensten sowie dem Kinderabendmahl gebe (MEILI 1985, 107). MEILI referiert in seinem Aufsatz gegenläufige Meinungen seiner Zeit: Während die einen sich angesichts der Präsenz von Fremdsprachigen und Hörbehinderten für Hochdeutsch auf der Kanzel aussprächen und dem Dialekt den Gehalt und die Prägnanz absprächen, befürworteten andere den Dialekt, da einem eine Predigt in demselben „unmittelbar“ anspreche und „mehr Gefühl, mehr Wärme und Nähe“ vermittle (MEILI 1985, 108–109). Die Kernfrage, welche Varietät verwendet werden soll, ob es eine richtige oder falsche Entscheidung in diesem Zusammenhang gebe, beantwortet MEILI (1985, 109) vor dem Hintergrund seiner eigenen Berufserfahrung in ländlichen und vorstädtischen Gemeinden. Seine Einstellungen zu den beiden Varietäten werden in der Begründung der Sprachformenwahl für die eigenen Gottesdienste sichtbar: die Nähe und Vertrautheit des Dialekts und die Distanz der Standardsprache. Der Entscheid für die jeweilige Varietät scheint in MEILIS Fall eine sehr bewusste gewesen zu sein:
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Meistens habe ich schriftdeutsch gepredigt, doch kam es vor, dass ich auch in einer gewöhnlichen Sonntagspredigt den Dialekt verwendete, weil ich ein Bibelwort, einen Predigtgedanken, ein Erlebnis der Gottesdienstgemeinde besonders nahebringen wollte. (MEILI 1985, 109; Hervorhebung S.O.)
Für Traugottesdienste überliess er die Wahl der Sprachform dem Hochzeitspaar: „die allermeisten wünschten sich die vertrautere Mundart“ (MEILI 1985, 109). Jugend-, Familien- und Abendgottesdienste hielt ich in Dialekt, währenddem ich die Abdankungen fast immer schriftdeutsch gestaltete, um eine gewisse Distanz einzuhalten, wodurch den Trauernden die Verarbeitung ihrer Trauer erleichtert werden konnte. Die direktere Mundart würde die Gefühle verstärken. (MEILI 1985, 109; Hervorhebung S.O.)
Der Dialekt kam für den Religions- und Konfirmandenunterricht sowie alle Gespräche mit Gemeindegliedern zum Einsatz; für Vorträge benutzte er Standarddeutsch, „da sie so besser vorzubereiten sind; zudem habe ich den Eindruck, in der Schriftsprache sei es mir eher möglich, knapp, genau und gewandt zu formulieren“ (MEILI 1985, 109) – eine weitere Aussage, die auf seine Einstellungen zur Sprachform Standarddeutsch hinweist. MEILI (1985, 110) äussert sich aber explizit als Verfechter der „typisch schweizerische[n] Zweisprachigkeit“: Er empfindet diese als „Bereicherung“. Ein anderer reformierter Pfarrer macht sich fünf Jahre später Gedanken zur Sprache der Kirche: HANS BIETENHARD, der zusammen mit seiner Frau RUTH das Neue Testament ins Berndeutsche übersetzt hat, und gemeinsam mit der Frau und dem Sohn auch Auszüge aus dem Alten Testament, stellt ebenfalls fest, dass eine Mundartwelle die Deutschschweiz erfasst habe, die nicht nur zu Mundartliteratur im eigentlichen Sinn, sondern auch zu Übersetzungen von Teilen der Bibel geführt habe (vgl. BIETENHARD 1990, 187). Über dieses „Erstarken der Mundart“ ist er nicht erstaunt; erstaunlicher findet er, dass auch in Deutschland ein Florieren des Dialektes im Bereich der Bibelübersetzungen beobachtet werden könne (vgl. BIETENHARD 1990, 187). Dabei nehme offensichtlich das Plattdeutsche hier eine Vorrangstellung ein. Er betont in diesem Zusammenhang die Rezipientenseite: „Reaktionen aus dem Volk zeigen, dass grosses Verlangen nach der biblischen Botschaft in Mundart vorliegt und grosse Dankbarkeit, wenn dieses Verlangen erfüllt wird“ (BIETENHARD 1990, 187). Aus seinen persönlichen Erfahrungen als Übersetzer schliesst BIETENHARD (1990, 187), dass es möglich sei, alles im Dialekt auszudrücken, „selbst die schwierigsten theologischen Gedankengänge etwa der Briefe des Apostels Paulus“. Dies erfordere zwar häufig syntaktische Änderungen, was er aber als positiv erachtet, denn der Dialekt übt einen heilsamen Zwang aus, die Gedanken in Verbalsätzen auszudrücken, die „…heiten, …keiten“ und die „…ung“ möglichst zu vermeiden, ebenso wie die hochgestochenen Fremdwörter – eine Seuche des gegenwärtigen „Gelehrtenchinesisch“ (BIETENHARD 1990, 187).
Ein mögliches Risiko beim Gebrauch des Dialekts in der Verkündigung liege allerdings „darin, in einen allgemeinen, unverbindlichen Plauderton zu fallen“ (BIETENHARD 1990, 187). Dafür gebe es aber ein Gegenmittel:
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geistige Disziplin, strenges Überlegen; sie [= die Verkündigung im Dialekt; S.O.] verlangt mindestens so viel Arbeit wie die „Hochsprache“. Insofern kann die Predigt im Dialekt auch eine Hilfe sein beim Bemühen um die Schriftsprache. (BIETENHARD 1990, 187)
Wie MEILI argumentiert auch BIETENHARD (1990, 187–188) vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als Pfarrer, wie sich die Frage der Sprachformenwahl je nach Gottesdienstart und -ort anders stellt. Er führt aus, dass er die Trauung seiner Nichte in Berndeutsch durchgeführt und dafür bei einigen Gästen, insbesondere jenen aus der Ostschweiz119, Verwunderung darüber geerntet hat, dass selbst die Trauliturgie im Dialekt gesprochen wurde (BIETENHARD 1990, 188). Er hält dies für eine Eigenheit der Berner Pfarrpersonen: Im allgemeinen kann man nämlich feststellen, dass die berndeutsch predigenden Pfarrer die Predigt, die Taufliturgie und meist auch die Lektion (den einleitenden biblischen Text) berndeutsch halten resp. lesen, aber den der Predigt zugrunde liegenden Bibeltext hochdeutsch vorlesen. Sie können dabei auf das volle Einverständnis der anwesenden HörerInnen zählen. Es ist ein übereinstimmender Tribut an die erwartete Feierlichkeit des Gottesdienstes – wobei diese kaum je ausgesprochene, aber durchaus bejahte Übereinkunft sich vielleicht vergleichen lässt mit dem Hebräischen in den Synagogengottesdiensten zur Zeit Jesu. (BIETENHARD 1990, 188)
Offensichtlich erachtet also auch BIETENHARD Hochdeutsch als die geeignete(re) Varietät, wenn ein Gottesdienst (oder zumindest Teile davon) besonders feierlich sein soll. BIETENHARD (1990, 188) wundert sich darüber, dass die Sprachformenfrage nur in Bezug auf den Sonntagsgottesdienst gestellt wird und nicht für jegliche kirchliche Tätigkeit bzw. weitere kirchliche Anlässe. Er geht davon aus, dass bei diesen Aktivitäten unter der Woche „fast ausnahmslos Dialekt gesprochen“ wird, und er hält eine Änderung dieses Usus für „sehr unwahrscheinlich“. Für ihn als Theologen ist es wichtig, dass es gerade diese Aktivitäten und Anlässe sind, die den Sonntagsgottesdienst als Hauptveranstaltung der Verkündigung in der reformierten Kirche abgelöst haben (vgl. BIETENHARD 1990, 188). Dadurch verliere die Verkündigung in Standarddeutsch noch zusätzlich an Gewicht. Im gleichen Sammelband, in dem BIETENHARDS Überlegungen zur Sprache in der Kirche erscheinen, setzt sich auch der katholische Theologe KURT KOCH120 – äusserst kritisch – mit der Frage der Dialektverwendung in den christlichen Kirchen auseinander. KOCH (1990, 182) plädiert klar für die Verwendung von Standarddeutsch im Sonntagsgottesdienst und wundert sich, dass es von Seiten der Kirchenleitungen kaum Vorschriften zu dieser Frage gibt, „obwohl in den christlichen 119 Hier scheint sich die 1924 von STEIGER aufgestellte These, im Westen der Deutschschweiz würde mehr Dialekt verwendet als im Osten (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 188), knapp 70 Jahre später zu bestätigen. Auch LÖTSCHER (1983, 127) schreibt dem Westen einen höheren Dialektgebrauch für formellere Situationen zu: „In der Nord- und Nordostschweiz wird eher Standarddeutsch gewählt als in der Zentralschweiz und im Kanton Bern.“ SCHWARZENBACH (1969, 201) hingegen konnte keine Unterschiede nach Kantonen feststellen. 120 KURT KOCH, geboren 1950, ist seit 2010 Kardinal. Davor (1996–2010) war er Bischof von Basel und hatte ab 1989 den Lehrstuhl für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern inne (Kommunikationsstelle der Schweizer Bischofskonferenz 2014).
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Kirchen das Wort eine hervorragende Rolle spielt und obwohl das Pfarramt seit jeher ein Beruf des Wortes ist“. Er sieht dies darin begründet, dass „die Kirchenleitungen offensichtlich davon ausgehen, dass der feierlichen Würde der Liturgie nur die Hochsprache angemessen sein kann“ (KOCH 1990, 182). Dieser Annahme stehe allerdings eine Entwicklung hin zu mehr Dialekt auch im Gottesdienst gegenüber, die vor allem jungen Theologen und Seelsorgern zuzuschreiben sei, die „auf der modernen und bis in die Massenmedien hinein üblichen Mundartwelle zu reiten gedenken“ (KOCH 1990, 182). Dies ist für KOCH Anlass, Gründe dafür in Erinnerung zu rufen, warum im normalen Sonntagsgottesdienst „die Hochsprache dem Dialekt prinzipiell vorgezogen werden sollte“ (KOCH 1990, 182). Für den damaligen Bischof von Basel sprechen fünf Gründe für den Gebrauch von Standarddeutsch: 1. KOCH erachtet es als schwierig, sich genauso prägnant und präzis im Dialekt auszudrücken wie in Standarddeutsch. Der Dialekt verführe darüber hinaus zum Plauderton und sei die Sprache der Kleingruppe, nicht aber jene der Masse. Genau jene „Masse“ besuche aber den durchschnittlichen Sonntagsgottesdienst; das Publikum eines solchen seien „Hunderte von Gläubigen“ (KOCH 1990, 182). Die geringere Geeignetheit des Dialekts für eine präzise Ausdrucksweise zeige sich insbesondere auch in der geringen Anzahl121 an Dialektbibelübersetzungen.122 2. Als zweites Argument führt KOCH die Vielfalt der Deutschschweizer Dialektlandschaft ins Feld und fragt sich, welcher dieser kleinräumigen Dialekte, die „sich voneinander erheblich unterscheiden“, denn verwendet werden soll. Dies würde – gemeinsam mit der bereits vorhandenen Durchmischung einzelner
121 Dem ist nicht so: Von den der Verfasserin bekannten Dialektübersetzungen der Bibel (vgl. dazu Kap. 3.5.1.1) stammen die meisten aus den Jahren vor dem Erscheinungsdatum des Aufsatzes von KOCH. Insbesondere aus reformierter Feder sind mehrere Übersetzungen in verschiedenen Dialekten verfügbar. Dass KOCHS Aussage nicht zutrifft, zeigen auch die Aussagen verschiedener interviewter Pfarrpersonen, die die Qualität der berndeutschen Übersetzung für höher halten als diejenige der in Standarddeutsch verfassten Übersetzungen. So betont beispielsweise Pfarrperson r17 aus dem Kanton Bern, dass die Übersetzer BIETENHARD das Hebräische wirklich gut verstanden und wiedergegeben hätten. Die Übersetzungen seien teilweise besser als jene der Neuen Zürcher Bibel, weil sie näher am hebräischen Text seien und diesen auch unvoreingenommener wiedergeben würden. 122 Diese Argumente können einerseits durch die relativ grosse Anzahl von Dialektbibelübersetzungen, andererseits aber insbesondere durch die durchschnittliche Anzahl Gottesdienstbesucher/-innen widerlegt werden: Die Realität zeigt, dass eben keinesfalls eine „‚Masse‘“ am Gottesdienst teilnimmt (ausser allenfalls in den grossen Städten, vgl. dazu aber auch BIETENHARD 1990, 188–189, der ebendiesen „Rückgang der Gottesdienstbesucher am Sonntagvormittag in den Städten“ thematisiert). Begibt sich also nur eine kleine Gruppe zum Gottesdienstbesuch, spräche das mit der Argumentation von KOCH sogar für die Verwendung von Dialekt (Sprache der „Kleingruppe“).
Varietätengebrauch in der Kirche: Forschungsstand und Tendenzen
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Deutschschweizer Dialekte123 – die Aufrechterhaltung der Verständigung schwierig machen (KOCH 1990, 182–183)124 3. Sowohl in der Romandie wie auch im Tessin gebe es lokale Dialekte, die Welschen und Tessiner/-innen würden aber auf den Dialektgebrauch im Gottesdienst verzichten. KOCH (1990, 183) lobt, dass „im öffentlichen Leben um der besseren Verständigung willen die französische und italienische Hochsprache gepflegt wird“. Tessiner/-innen und Welsche hätten zudem Schwierigkeiten mit der Verständigung in der Deutschschweiz, wenn dort die lokalen Dialekte gesprochen würden und eben nicht Standarddeutsch, das sie im Gegensatz zu den Dialekten verstehen (vgl. KOCH 1990, 183).125 4. Neben den anderssprachigen Schweizern seien zudem immer mehr fremdsprachige Christen aus dem Ausland in der Schweiz: Ihnen würden durch die Verwendung des Dialekts bei ihren Integrationsbemühungen Steine in den Weg gelegt, und KOCH (1990, 183) bemängelt, dass sie „selbst in der Kirche einer Sprache begegnen müssen, die sie überhaupt nicht verstehen“. Er nennt dies eine „sprachliche Ex-Kommunikation“ und betont die weltweit-universale Dimension der christlichen Kirchen. Man müsse auf Fremdsprachige Rücksicht nehmen und daher Standarddeutsch verwenden. Ausserdem verweist KOCH an
123 Hier scheint ein gewisser Sprachpurismus des Autors durch. 124 Die Frage, welcher Dialekt verwendet werden soll, stellt sich im Pfarralltag durchaus in verschiedenen Kontexten (z. B. bei Dialektbibeln, Dialektliedern oder der Tätigkeit in einem fremddialektalen Umfeld), wird aber von den Pfarrerinnen und Pfarrern selbst insbesondere im Kontakt mit andersdialektalen Deutschschweizer/-innen nicht als grosse Schwierigkeit beurteilt (vgl. OBERHOLZER 2015). Darüber hinaus ist es wie bei Argument 1 möglich, KOCHS Erklärung umzudrehen: Wenn die Dialekte bereits durchmischt sind und es zu Ausgleichsdialekten kommt, dann erschweren diese die Verständigung nicht, sondern erhöhen sie sogar, gerade weil sie Elemente von verschiedenen Dialekten enthalten. Zudem spricht KOCH mit keinem Wort die hohe Verstehenskompetenz der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer an, die sie sich durch den Medienkonsum und den direkten Kontakt mit fremddialektalen Sprecherinnen und Sprechern angeeignet haben. 125 Das Argument des Nicht-Verstehens von Dialektgottesdiensten in der Deutschschweiz durch Tessiner/-innen und Welsche ist berechtigt; die Präsenz von Fremdsprachigen bzw. das Sicherstellen der Verständigung ist der Hauptgrund für adressateninduzierten Standardgebrauch in der Deutschschweiz. Jedoch kann das Verhalten der Welschen und Tessiner/-innen in ihren jeweiligen Sprachregionen nicht als Argument für die Verwendung von Standarddeutsch in Deutschschweizer Gottesdiensten herangezogen werden, präsentiert sich doch die Sprachsituation sowohl in der französischen wie auch der italienischen Schweiz grundlegend anders als diejenige in der Deutschschweiz: In der französischen Schweiz sind die ursprünglichen frankoprovenzalischen Dialekte, die sogenannten patois, bis auf wenige Ausnahmen im Lauf des 20. Jahrhunderts ausgestorben (vgl. KRISTOL / PVC 2012) und somit ist die Verwendung derselben schlicht nicht mehr möglich. In der italienischsprachigen Schweiz hingegen ist die Verwendung der Dialekte viel stärker auf das familiäre Umfeld und den engeren Bekanntenkreis begrenzt als in der Deutschschweiz; für Kontakte ausserhalb der Familie kommt die lokale Koiné oder allenfalls Standarditalienisch zum Einsatz (SPIESS / PVC 2012).
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dieser Stelle auch auf Hörbehinderte, die man durch die Dialektverwendung im Gottesdienst tendenziell ausschliesst.126 5. Schliesslich nennt KOCH theologische Gründe, dass die Standardsprache sowohl in der Predigt als auch in der Liturgie vorzuziehen sei. Er glaubt, dass die Mundart sich gerne „allzu joviale[r] Töne“ bediene, die nicht zum feierlichen Stil der Liturgie oder dem „ernsten Gehalt der Predigt“ passten (KOCH 1990, 183). KOCH (1990, 183) selbst plädiert dafür, aus den von ihm genannten Gründen im normalen Sonntagsgottesdienst Standarddeutsch zu verwenden, warnt aber gleichzeitig vor „Verabsolutierungen“ sowie einem „‚Glaubenskrieg‘“ in dieser Frage. Auch die Mundart hätte Platz im Gottesdienst, allerdings müsse diese eine „gepflegte“ sein und insbesondere dort zum Einsatz kommen, wo eben nicht die Masse den Gottesdienst besuche, wie beispielsweise bei „bestimmte[n] Kasualhandlungen“ (Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen), sowie in Kinder- und Familiengottesdiensten (KOCH 1990, 184). Obwohl KOCH zuvor der Mundart die Qualität, hochstehende theologische und liturgische Inhalte zu transportieren, nicht nur implizit, sondern teils auch explizit abspricht, stellt er also abschliessend fest, dass auch der Dialekt seinen Platz in den Kirchen hat. Er spricht dem Dialekt eine „höhere emotionale Intensität“ sowie eine „Atmosphäre der Wärme, der Geborgenheit und der Direktheit“ (KOCH 1990, 184) zu, nach welcher die Menschen in Zeiten der Überrationalisiertheit streben würden. Deshalb habe der Dialekt „unbestreitbare Vorteile“ auf der Beziehungsebene. Da die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer „von Haus aus eine durchgängige Doppelsprachigkeit“ hätten, solle man diese in den Kirchen auch nutzen und dabei darauf achten, was zu welcher Zeit die geeignete Sprache sei (KOCH 1990, 184). Im gleichen Sammelband beschäftigt sich der reformierte Historiker und Journalist HANNO HELBLING, der als Journalist unter anderem das Zweite Vatikanische Konzil kommentierte (vgl. MAISSEN 2007), mit der biblischen Sprache und dem kirchlichen Sprechen und kommt dabei am Rande auch auf die Frage der Varietäten im Gottesdienst zu sprechen. HELBLING (1990, 178) geht davon aus, dass „für eine deutschschweizerische Gemeinde […] die Sprache des Gottesdienstes nicht Mutter-, sonder[n] Vatersprache“ ist. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass gelegentlich der Dialekt für Predigten oder Gebete verwendet wird: Wer in die Kirche geht, betritt hier grundsätzlich einen anderen Sprachraum. Der Gottesdienst assoziiert sich bei uns deutlicher als in Deutschland mit einem, wenn auch bescheidenen, Bildungsanspruch. (HELBLING 1990, 178)
Im Terminus „Vatersprache“ schwingt laut HELBLING (1990, 178) auch mit, dass diese für den Deutschschweizer „Sprache der Autorität ist“. Er zieht den Vergleich 126 Dieser Punkt ist aus objektiver Sicht durchaus valide und wird von den Pfarrpersonen beider Konfessionen gemäss Aussagen in den Interviews bei der Wahl der Varietät für den Gottesdienst berücksichtigt.
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zum Latein und erwähnt in diesem Zusammenhang das Zweite Vatikanische Konzil: Die Abschaffung des Lateins als Sprache der katholischen Liturgie habe einen antiautoritären Aspekt, aber gerade die Schweizer Katholiken haben unter diesem Gesichtspunkt durch den Übergang zur „Volkssprache“ (die bei uns nicht die Sprache des Volkes ist) wenig gewonnen. Die Autorität ist nur näher gerückt, persönlicher geworden. (HELBLING 1990, 178)
Die Mundartwelle beschäftigt auch den reformierten Theologen ANDREAS MARTI127 elf Jahre später in einer Publikation zum neuen Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz. Die Mundartwelle habe „im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts […] auch den Gottesdienst erreicht“ (MARTI 2001, 177). Er geht davon aus, dass der Dialekt über die Predigten, die hin und wieder in dieser Varietät gehalten wurden, – und zwar mit dem Anspruch, den hermeneutischen Vorgang der Vermittlung zwischen Bibeltext und Lebenswelt bis in die Sprache eben dieser Lebenswelt hinein fortzuführen und damit eine größere Hörernähe und persönliche Unmittelbarkeit zu erreichen (MARTI 2001, 177), –
Eingang in den Gottesdienst gefunden habe. Nach den Predigten folgten die Gebete128 und schliesslich Bibelübersetzungen im Dialekt. Laut MARTI (2001, 177) ist die Bewertung dieser „liturgischen Mundartwelle […] durchaus kontrovers“. Auf der einen Seite stehe das „Argument der Volkssprachlichkeit und Verständlichkeit“, auf der anderen die Tatsache, dass ein gebietsfremder Dialekt unter Umständen fremder wirkt als das Hochdeutsche (es gibt Pfarrer, die mit dem Verfremdungseffekt ihres in diesem Fall exotischen Dialektes virtuos zu spielen vermögen!) (MARTI 2001, 178).
Zudem werde durch die Verwendung des Dialekts im Gottesdienst „die Öffentlichkeit des Gottesdienstes und die Offenheit der Gemeinde beeinträchtigt“ (MARTI 2001, 178): Fremdsprachige Teilnehmer/-innen würden ausgeschlossen.129 In einer Publikation aus dem Jahr 2005 zum reformierten Gottesdienst in der Deutschschweiz („Tatsachen und Tendenzen des 21. Jahrhunderts“) thematisiert BORNHAUSER die Frage des Dialekts in aller Kürze an zwei Stellen, ohne weitere Ausführungen oder Empfehlungen. In Bezug auf die Predigten schreibt er, dass diese in der Tendenz kürzer werden, und: Die Mundart scheint weiter im Vormarsch zu sein oder sogar bereits zu überwiegen. Mundart ist aber offenbar nicht automatisch Alltagssprache, denn sie wird von der Gemeinde mitunter auch als traditionell und kirchlich empfunden. (BORNHAUSER 2005, 10–11)
127 Von MARTI stammen auch die Ausführungen in Kap. 3.5.2 zu den Dialektliedern sowie jene in Kap. 3.5.3 zu Dialekt und Standarddeutsch im Liturgieband zur Bestattung. 128 Interessant ist die Vermutung MARTIS, dass die Dialektversuche am Unser Vater „an der Erfordernis eines textus receptus für das gemeinsame Sprechen und wohl nicht zuletzt am Fehlen einer authentischen dialektalen Optativform scheiterten“ (MARTI 2001, 177). 129 Dieses Argument verbindet also die Kritikerinnen und Kritiker der beiden Landeskirchen, vgl. die Argumente von KOCH in diesem Kapitel.
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Mit nur einem Satz thematisiert er Dialektlieder: „Dialektlieder sollen das gemeinsame Feiern von Kindern und Erwachsenen erleichtern.“ (BORNHAUSER 2005, 7) Ausführlicher widmet sich der katholische Pfarrer RICKENMANN im gleichen Jahr der Frage „Mundart und Kirche“ für alle vier Sprachregionen der Schweiz und beide Konfessionen. Er geht zunächst der Frage nach schriftlichen Dialekttexten nach und stellt fest, dass die „traditionelle[n] kirchliche[n] Dokumente“ in den Amtssprachen abgefasst sind, es aber eine „beeindruckende Vielfalt“ von weiteren Texten wie die Bibel oder liturgische Bücher gebe (RICKENMANN 2005, 119). Diese Vielfalt überrasche nur dann, „wenn man das dahinter stehende Anliegen, möglichst nahe bei den Leuten zu sein, nicht ernst nimmt“. Den mündlichen Dialektgebrauch betreffend bemerkt RICKENMANN (2005, 119), dass „in den Gebieten der schweizerdeutschen Dialekte […] schweizerdeutsche Predigten hüben und drüben – also konfessionsübergreifend – üblich [sind]“ und verweist darauf, dass sich der deutschsprachige Prediger (oder die Predigerin) […] aber gut überlegen [wird,] in welchem Zusammenhang sie oder er eine Predigt auf Schweizerdeutsch halten wird. Wohl kaum jemand wird an einem Festgottesdienst zur Eröffnung des Studienjahres, am Dies academicus auf Schweizerdeutsch predigen. Hingegen werden Familien- und Kindergottesdienste wohl kaum rein auf Hochdeutsch gefeiert, es sei denn der multikulturelle Rahmen unserer Stadtbevölkerung verlange dies. Doch auch in der scheinbar abgelegensten Bergkapelle der Innerschweiz kann es dem Prediger passieren, dass er auf seine in Dialekt gehaltene Predigt angesprochen wird. (RICKENMANN 2005, 119–120)
Für RICKENMANN (2005, 121) ist die Deutschschweiz von den vier Schweizer Sprachgebieten „am resistentesten gegen eine ‚Verhochsprachlichung‘ […] und zwar auch aus kirchlicher Sicht“. Er stellt fest, dass sich Schweizerdeutsch „[t]rotz dem Druck des globalisierten Weltdorfes“ auch in der Kirche behauptet und zwar „etwa in dem Rahmen, den es auch im vergangenen Jahrhundert kannte“ (RICKENMANN 2005, 122). Wie MARTI und KOCH betont RICKENMANN den potentiell ausschliessenden Charakter des Dialekts für Fremdsprachige: In den Gottesdiensten wird der Pfarrer jedenfalls darauf achten müssen, dass durch den Gebrauch des Dialektes niemand am Verstehen gehindert wird: Dies wäre genau das Gegenteil vom Beabsichtigten. (RICKENMANN 2005, 122)
Die neuste Publikation aus kirchlicher Perspektive zur Thematik der Varietätenverwendung ist eine Kontroverse zwischen dem reformierten Pfarrer ANDRÉ URWYLER (Dialekt) und IRENE GYSEL (Standardsprache), ehemalige Redaktorin und Produzentin der Gottesdienstübertragungen des Schweizer Fernsehens sowie bis 2015 reformierte Kirchenrätin im Kanton Zürich, die zunächst jeweils ihren Standpunkt präsentieren und anschliessend auf den Standpunkt des/der anderen in einer Replik Stellung nehmen. URWYLER ist ein Befürworter von Dialektpredigten. Für ihn ist aber klar, dass der Dialekt nicht eingesetzt werden kann, wenn viele Ausländerinnen und Ausländer am Gottesdienst teilnehmen (Tourismusorte, Stadtkirchen). Darüber hinaus plädiert URWYLER (2011, 300) dafür, einen gepflegten Dialekt im Gottesdienst zu verwenden:
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Für mich ist unabdingbar, dass ich als Dialekt-Prediger meine Muttersprache pflege, indem ich diese ständig überprüfe auf Richtigkeit und Feinheit, aber auch im genauen Hinhören auf Volkes Stimme, was immer eine grosse Anstrengung bedeutet. Zudem verlange ich vom Dialektprediger, dass er über eine gute Kenntnis und gepflegte Aussprache auch in der Schriftsprache verfügt.
URWYLER (2011, 299) argumentiert zunächst aus seiner beruflichen Erfahrung: Er predige seit rund 25 Jahren fast ausschliesslich im Dialekt und dies habe ihm „kaum je Vorwürfe oder abschätzige Bemerkungen“ eingebracht. Es gehe nicht darum, die beiden Varietäten gegeneinander auszuspielen, beide hätten „ihre Bedeutung, beide ihren Sitz im Leben“ (URWYLER 2011, 299). Obwohl es für URWYLER (2011, 299– 300) durchaus Argumente für die Verkündigung in Standarddeutsch gibt, spricht er sich für den Dialekt als Sprache der Verkündigung aus und fusst seine Argumentation auf zwei Linien: einer biografischen und einer theologischen. In der biografischen Argumentation verweist URWYLER auf seine Sozialisierung im Kanton Bern und die dortige Mundarttradition in Musik und Lyrik. Als Pfarrer in einer Landgemeinde habe er gelernt, „dass die gute Botschaft in der Sprache des Herzens, also der Muttersprache, die Seelen öffnen kann“ (URWYLER 2011, 301). In der theologischen Argumentation geht der Pfarrer auf verschiedene Punkte ein: die Tatsache, dass Jesus selbst Dialektsprecher war, die Mehrsprachigkeit Palästinas zur Zeit Jesu und die Bibelübersetzungen in die Volkssprache durch LUTHER und ERASMUS VON ROTTERDAM. URWYLER (2011, 302) ist der Meinung, dass die Mundartwelle einen neuen Zugang zum Glauben bzw. zur christlichen Botschaft ermöglicht habe, was er als „historisch bemerkenswert“ erachtet. Für ihn wird Sprache als Vehikel gebraucht […] – mehr nicht: Es ist die grosse Herausforderung an die modernen Dialektübersetzer, dass alles auch im Dialekt gesagt werden kann, selbst die schwierigen theologischen Gedankengänge etwa der Briefe des Apostels Paulus oder des Hebräerbriefes. (URWYLER 2011, 302)
URWYLER selbst verwendet in den Gottesdiensten beide Varietäten und schreibt, dass er das geniesse. Dialekt braucht er für die Predigten, die Taufansprache und die Gebete. Standarddeutsch dient ihm für liturgische Zwecke und kommt für das Eingangswort, „[u]nter Umständen“ für die Lesungen aus der Bibel, den Predigttext (wobei hier auch die berndeutsche Bibelübersetzung möglich ist), das Unser Vater sowie den Segen zum Einsatz, zusätzlich auch für die Lesung des Taufbefehls sowie die Einsetzungsworte beim Abendmahl (vgl. URWYLER 2011, 306). Er gehört zu denjenigen, die behaupten, das Unservater könne man nicht in den Dialekt über-setzen [sic!]. Obschon ich viele Übersetzungen und Übertragungen des Herrengebets kenne, die mich faszinieren, empfinde ich hier so etwas wie eine „heilige Scheu“, die ich im Moment nur damit begründen kann, dass ich das zentrale Gebet gerne weltweit-ökumenisch verstehen möchte, welches unsere begrenzenden (und trotzdem schützenden) Kirchenmauern sprengen [sic!]. (URWYLER 2011, 306)130
130 Gerade das Argument der „weltweiten“ Kirche wird häufig erwähnt, wenn es darum geht, die Rolle des Standarddeutschen für den Gottesdienst zu verteidigen.
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Der reformierte Pfarrer verfasst sein Manuskript für die Predigt vollständig im Dialekt und spricht sich gegen das Ad-hoc-Übersetzen in den Dialekt aus; er begründet dies wie folgt: „Sogar ein geübter Dialektsprecher kann nicht simultan von der Standardsprache in den Dialekt übersetzen, auch wenn es seine eigene Muttersprache ist“. (URWYLER 2011, 307). Für URWYLER (2011, 307–308) ist die Kirche „Kulturgutträgerin“ und hat als solche „zur Sprache, einem der wichtigsten Kulturgüter, Sorge“ zu tragen: Dazu gehören sowohl die Standardsprache, aber ebenso sehr die Sprache des Herzens, die Muttersprache, der Dialekt. Und dieser hat nun einmal den Sitz im Leben in unserer feiernd anwesenden Gemeinde, zu der ich als Prediger mit der guten Botschaft vordringen soll, will und muss. Wenn ich damit nicht nur das Verstehen bewirken kann, sondern auch noch erreiche, dass dieses Verstehen sich mit Gefühlen verbindet, dann habe ich viel erreicht.
IRENE GYSEL plädiert ihrerseits für die Standardsprache im Gottesdienst. Sie spricht als erstes die Adressatengerechtigkeit an: Für Touristinnen und Touristen sei Standarddeutsch passend. Kinder hingegen „brauchen Mundart. Dem muss entsprochen werden.“ (GYSEL 2011, 309) Für sie gilt, dass im Leben beide Varietäten ihren Platz haben sollten, im Gottesdienst jedoch hat Dialekt für GYSEL (2011, 309) keinen Platz. Auch sie argumentiert zunächst vor biografischem Hintergrund und erklärt, dass sie einen Gottesdienst, in dem der Kanzelgruss im Dialekt gesprochen wird, am liebsten direkt wieder verlassen würde. Sie begründet dies in erster Linie mit dem anbiedernden Charakter des Dialekts im Gottesdienst: Der Gebrauch der Mundart ist eine deutliche Bewegung zu mir hin. Man sucht die Nähe zu mir, will etwas für mich oder mit mir. Ich werde umworben. Man begibt sich auf meine Ebene und setzt diese ziemlich tief an. Zu tief. Mein Gegenüber will, dass ich verstehe und traut mir dabei wenig zu. Ich soll „meine Seele öffnen“, wie es André Urwyler nennt. Ob ich das grundsätzlich möchte, werde ich nicht gefragt. Ich behalte mir vor, dies im Laufe einer Liturgie selber zu entscheiden. (GYSEL 2011, 310)
GYSEL (2011, 310) sucht im Gottesdienst eine andere Dimension, die Vorbereitung und bestimmte Rituale brauche. Bei diesem Übergang vom Alltag in den Gottesdienst hilft ihr die Liturgie, die die nötige Distanz zum Alltag ermöglicht. Genau an diesem Übergang weg vom Alltag hindert sie aber der Dialekt, der das exakte Gegenteil bewirke: Sie [= die Mundart; S.O.] verhindert die Distanz zum Alltag, zu „merci“ und „äxcüsi“, zu dem, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Sie wirft mich auf den Alltag zurück. Anstatt mich mit den leicht fremden und als solche vertrauten liturgischen Formeln ins Geschehen des Gottesdienstes mit hineinzunehmen, bedeutet sie mir, dass ich gleichsam zu Hause sein könnte, oder bei der Arbeit, oder beim Altersnachmittag, im Kindergarten, oder bei einer gemütlichen Runde in der guten Stube. (GYSEL 2011, 311)
Für GYSEL (2011, 312) braucht es eine andere Sprachform für den Gottesdienst, damit sie Distanz zum Alltag erreicht: Standardsprache, liturgisch gebundene Sprache, verhilft zu dieser Distanz. Sie hat hier bei uns in der Schweiz etwas Objektivierendes. Dies ist eine Chance, die unsere Zweisprachigkeit mit sich bringt.
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Zentral für sie ist aber auch die Bedeutung der Sprachform für die Liturgie und die Rolle des Liturgen: Der Dialekt berge für den Liturgen die Gefahr, in die Moderation zu verfallen, die aber keine Rolle in einem Gottesdienst haben dürfe. Damit die liturgischen Texte gleichzeitig „fremd und vertraut“ (GYSEL 2011, 313) sind, müssen diese in Standarddeutsch gesprochen werden. Ebenfalls für Standarddeutsch spricht für GYSEL (2011, 313) die Tatsache, dass diese Varietät für alle verständlich ist. Sie glaubt auch, dass man in Standarddeutsch ebenso einfach und verständlich formulieren könne wie im Dialekt, man müsse dafür sich „an die Regeln der mündlichen Rede und des Sprachdenkens halten“, was ja „das eigentliche Handwerkszeug für jeden Prediger“ darstelle (GYSEL 2011, 314). Im Fazit wird klar, dass GYSELS Festhalten am Standarddeutschen als Gottesdienstsprache einen multifaktoriellen Hintergrund hat: Sie stört sich an diversen Neuerungen im Gottesdienst und schiebt die Schuld für diese dem Dialekt zu: „Die Formen zerfallen, und ich bin der Überzeugung, dass der Gebrauch der Mundart wesentlich dazu beiträgt.“ (GYSEL 2011, 316) Es zeigt sich, dass sowohl URWYLER als auch GYSEL theologische Gründe bzw. ihr unterschiedliches Gottesdienstverständnis ins Feld führen, um ihren jeweiligen Standpunkt zu untermauern. Gleichzeitig werden aber an verschiedenen Stellen unterschiedliche Spracheinstellungen deutlich, die den Autoren, die Autorin nicht von anderen Deutschschweizer/-innen unterscheiden. Eine neuere Publikation aus katholisch-theologischer Sicht ist jene von WILLA (2012) auf dem Portal des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz. Er plädiert für einen „differenzierte[n] und bewusste[n] Umgang“ mit Dialekt und Standarddeutsch im Gottesdienst. Der Theologe schildert die gängigen Stereotype den beiden Sprachformen gegenüber und macht klar, dass die Deutschschweizer/-innen aufgrund ihren positiven Einstellungen zum Dialekt als vertrautere und nähere Sprachform diesen „auch in den Gottesdienst hineinnehmen möchten“ (WILLA 2012). Die Grenzen für die Dialektverwendung sieht WILLA in der „begrenzte[n] kommunikative[n] Reichweite“ – Standarddeutsch hingegen „erreicht mehr Menschen“ und ermöglicht „eindeutigere, umfassendere und komplexere Aussagen“, weil diese Sprachform „klarer geregelt“ ist. Standarddeutsch „weitet den geographischen und den geistigen Horizont“ (WILLA 2012). Eine wichtige Frage aus katholischer Warte ist jene nach der Liturgiewürdigkeit des Dialekts. Für WILLA kann – als Folge der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, seit der Muttersprachen bzw. Volkssprachen für den Gottesdienst zugelassen sind, – „keine Sprachform generell als liturgisch unwürdig“ qualifiziert werden. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass „[g]erade die Lebendigkeit und Vielfalt mundartlicher Kommunikation […] das Beziehungsgeschehen der Liturgie bereichern und vertiefen helfen“ kann (WILLA 2012). Er plädiert dafür, dem Dialekt in der Liturgie Platz einzuräumen. Gleichzeitig müsse die „Sprache der Liturgie aber auch durch Weite gekennzeichnet sein“, da sie „der Feier der ganzen Kirche“ diene. Dies geschehe durch die Verwendung von Standarddeutsch, das „die Verbundenheit von Christgläubigen über Raum und Zeit hinweg [besser] zum Aus-
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druck“ bringe als der Dialekt.131 Dass die Standardsprache „eine gewisse Distanz zum Alltag zu schaffen vermag und mit Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit assoziiert wird“, sieht er als weiteren Vorteil für die Verwendung dieser Sprachform im Gottesdienst (WILLA 2012). WILLA listet zum Abschluss sechs „Grundsätze zur Verwendung des Dialekts im Gottesdienst“ auf: 1. „Die Teilnahme der Versammelten an der Liturgie im Zuhören und Mitbeten muss gewährleistet sein.“ (WILLA 2012) Damit wird auf die Situation der Anderssprachigen, die den Gottesdienst im Dialekt nicht verstehen (könnten), verwiesen. 2. „Die Art, die Situation und der Anlass des Gottesdienstes sind zu berücksichtigen.“ (WILLA 2012) Für WILLA passt der Dialekt besser zu schlichten Gottesdiensten ausserhalb der normalen Kirchenräume (Kapelle, Alp) oder zu Gruppengottesdiensten unter der Woche (Kinder- oder Seniorengottesdienste). Für die „feierliche Kathedralliturgie“ und den „sonntäglichen Gottesdienst der ganzen Gemeinde“ empfiehlt der Theologe Standarddeutsch als passendere Sprachform. Grundsätzlich nehme der Dialekt „ein grösseres Gewicht ein[…] in stark biographisch geprägten Feiern“ (WILLA 2012). 3. „Auf die Text- und Redesorten und die Besonderheiten des jeweiligen Sprachgeschehens ist zu achten.“ (WILLA 2012) Laut WILLA (2012) eignet sich der Dialekt z. B. für die Predigt, die Fürbitten, Berichte und Erzählungen, Einführungen sowie die Mitteilungen. Hingegen empfiehlt Willa Standarddeutsch für biblische Lesungen, „sakramentale Spendeformeln von hoher performativer Qualität“ (wie die Taufformel), für „regelmässig wiederkehrende liturgische Formeln sowie kirchlich festgelegte liturgische Gebete“. 4. „Dialekt lässt sich gezielt einsetzen als Mittel der Verfremdung und Verlebendigung.“ (WILLA 2012) Der Einsatz der Mundart kann, wenn er unerwartet ist, dazu führen, dass man besonders zuhört. WILLA (2012) nennt als Beispiel Mundartgedichte oder -gebete wie Psalmen, wo der Dialekt „eine allzu eingeschliffene liturgische und theologische Sprache aufbrechen“ kann. 5. „Auch wenn Dialekt eine spontane Sprachform darstellt, muss seine Verwendung im Gottesdienst vorbereitet sein.“ (WILLA 2012) WILLA (2002) spricht sich klar gegen „Plauderei“ wie auch „Verharmlosung“ und „Verniedlichung“ aus. „Auch kindgemässe Sprache darf nicht kindisch werden.“ 6. „Die beiden Sprachformen sind in ihren jeweiligen Eigenschaften zu respektieren.“ (WILLA 2012)
131 Vgl. dazu auch Fussnote 130.
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Der Dialekt unterscheide sich in Grammatik, Satzbau und Wortschatz vom Standarddeutschen. WILLA (2002) äussert den Wunsch, dass keine Ad-hocÜbersetzungen aus dem Standarddeutschen in den Dialekt gemacht werden. 3.4.4 Zwischenfazit Der ausführliche Blick auf die Publikationen, die sich mit dem Sprachgebrauch in Deutschschweizer Kirchen befassen, zeigt eines klar: Es mangelt an empirischen Untersuchungen zum Thema. Auf objektiven Daten basiert alleine RÜEGGERS Studie aus dem Jahr 1996, Erhebungen anhand von subjektiven Daten haben SCHWARZENBACH (1969) und KAMM (2007) vorgenommen. Die übrigen hier zitierten Texte bringen subjektive Eindrücke der Autorinnen und Autoren zum Ausdruck: So wird zwar über den Gebrauch der Varietäten im Gottesdienst geschrieben, letztlich handelt es sich hier aber nicht um die Interpretation von Sprachgebrauchsdaten, sondern um Aussagen, die auf (persönlichen) Beobachtungen der Schreibenden basieren. Die Beobachtungen gehen zwar tendenziell alle in dieselbe Richtung, nämlich, dass der Gebrauch von Dialekt in den Gottesdiensten der Deutschschweiz in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat, ob dem aber tatsächlich so ist, könnte nur anhand von Sprachgebrauchsdaten festgestellt werden. Aus den Übersichtsdarstellungen zur Deutschschweizer Sprachsituation resultiert vermeintlich ein klares Bild: Seit spätestens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts scheint Standarddeutsch in den Gottesdiensten der Deutschschweiz (insbesondere für die Predigten) klar überwogen zu haben. Ab diesem Zeitpunkt bewegt sich die Kirche vermeintlich mit der Gesellschaft mit und damit hin zu mehr Dialekt. Diese Einschätzung wird jedoch an keiner Stelle durch konkrete Zahlen untermauert; sie basiert letztlich auf subjektiven Wahrnehmungen. Von den drei besprochenen linguistischen Untersuchungen ist jene von SCHWARZENBACH vor der dritten „Mundartwelle“ entstanden. Die Resultate zeigen eine Zunahme des Dialekts für Kasualgottesdienste und besondere Gottesdienste; für den regulären Sonntagsgottesdienst lehnt zu jenem Zeitpunkt aber noch die grosse Mehrheit der Pfarrpersonen den Dialekt ab. Da SCHWARZENBACHS Untersuchung aber zu Beginn dieser dritten Mundartwelle erschienen ist, war seine Vorhersage einer gewissen Konsolidierung der Varietätenverteilung im kirchlichen Umfeld und des Endes der Hinwendung zu mehr Dialekt bereits nach wenigen Jahren überholt, wie RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ in der zweiten hier behandelten linguistischen Studie feststellen. Trotz anderslautender Interpretation durch verschiedene Autorinnen und Autoren lässt aber auch diese Untersuchung keinerlei Aussagen über die reale Varietätenverteilung in Gottesdiensten zu: RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ untersuchen anhand eines zu gleichen Teilen aus Dialektpredigten und standarddeutschen Predigten zusammengestellten Korpus die „Leistungsfähigkeit“ von Dialekt im Vergleich zu Standarddeutsch. 20 Jahre später zeigen KAMMS Daten, dass die Pfarrpersonen nach eigenen Angaben häufig den Dialekt für die eigenen Sonntagsgottesdienste gebrauchen. Diese drei Untersuchungen
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
zeigen also – auf Basis subjektiver Daten (Fragebogenerhebungen) – eine Tendenz zu mehr Dialektgebrauch in den regulären Sonntagsgottesdiensten. Schliesslich lässt sich anhand der Aufsätze von theologischer Seite feststellen, dass sich auch die Kirche selbst mit der Frage des Gebrauchs von Dialekt oder Standarddeutsch in Gottesdiensten beschäftigt, und zwar sowohl reformierte als auch katholische Theolog/-innen. Bei den besprochenen Texten ist häufig ein explizit wertendes Element zu finden, wobei sich die Meinungen zwischen zwei Polen bewegen: jenem der Verfechter/-innen von Standarddeutsch als (fast) alleinige Gottesdienstsprache und jenem der Theologinnen und Theologen, die sich für einen ausgeprägten Dialektgebrauch im Gottesdienst starkmachen. Dabei sind beide Standpunkte bei beiden Konfessionen vertreten. Auch von theologischer Seite scheint die Ansicht verbreitet, der Gebrauch des Dialekts im kirchlichen Umfeld, insbesondere im Gottesdienst, habe stark zugenommen. In diesen Texten wird ebenfalls häufig ein Zusammenhang zwischen gesamtgesellschaftlicher Entwicklung und der Situation in der Kirche hergestellt. Anhand der vorgestellten Texte lässt sich feststellen, dass die Diskussion um die „richtige“ Varietät für den Gottesdienst in den vergangenen 20 Jahren nichts an Aktualität eingebüsst hat. Wie sich die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert und wo sich die Kirche im Vergleich zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung befindet, wird im empirischen Teil der Arbeit (Kap. 7–10) gezeigt, wo die Resultate aus den unterschiedlichen Erhebungen dargestellt werden. 3.5 DIALEKTVORLAGEN FÜR DEUTSCHSCHWEIZER PFARRPERSONEN Wie in Kap. 2.2 beschrieben, wird in der Deutschschweiz für die Schriftlichkeit fast ausschliesslich Standarddeutsch verwendet. Dennoch gibt es für Pfarrpersonen auch schriftliche Vorlagen im Dialekt. Im Folgenden werden drei Arten solcher Dialektvorlagen vorgestellt, die Pfarrerinnen und Pfarrern in der Deutschschweiz potentiell für ihre Gottesdienste bzw. die Gottesdienstvorbereitung oder weitere kirchliche Anlässe verwenden können. Es handelt sich hierbei um Dialektbibelübersetzungen (Kap. 3.5.1), Dialektlieder, die sowohl im offiziellen Gesangbuch der reformierten Kirche als auch in jenem der katholischen Kirche zu finden sind (Kap. 3.5.2), und – in sehr eingeschränktem Masse – um Vorlagen für die Liturgie von reformierten Gottesdiensten (Kap. 3.5.3). 3.5.1 Dialektbibelübersetzungen132 Die Bibel – meist einzelne Bücher bzw. Evangelien – liegt in verschiedenen Übersetzungen in Deutschschweizer Dialekte vor. Theoretisch können Pfarrerinnen und 132 Für einen ausführlichen Blick auf die Beweggründe für eine solche Übersetzung sowie die Herausforderungen, mit denen sich die Übersetzer/-innen in Bezug auf die Verschriftung von
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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Pfarrer in der Deutschschweiz also bei Bedarf auf Bibeltexte im Dialekt zurückgreifen, in der Praxis gibt es allerdings nicht für alle Deutschschweizer Dialekte Übersetzungen, ausserdem ist nur in den wenigsten Dialekten eine vollständige Übersetzung des Neuen Testamentes vorhanden (eine vollständige Übersetzung des Alten Testaments fehlt gänzlich); beides stellt potentiell ein Hindernis für die Benutzung solcher Dialektbibelübersetzungen dar.133 3.5.1.1 Liste der eingesehenen Bibelübersetzungen Im Folgenden sind die von der Verfasserin eingesehenen Bibel(text)übersetzungen in Deutschschweizer Dialekte134 aufgeführt (nach Dialekt und Erscheinungsjahr). Diese sind unter dem jeweiligen Kantonsnamen bzw. dem Kantonsdialekt geordnet, weil dies der üblichen primären Dialekteinteilung von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern entspricht (vgl. dazu Kap. 2.1). Das Spektrum an schweizerdeutschen Bibelübersetzungen ist breit: Die meisten Übersetzungen gibt es für die beiden bevölkerungsreichsten Kantone, Zürich und Bern. Es fehlen aber auch die Übersetzungen für kleinere Kantone, wie beispielsweise Obwalden und Schaffhausen, nicht. Wenig überraschend liegen die Übersetzungen von katholischen Übersetzern in Kantonsmundarten traditionell katholischer Kantone vor, wie Wallis, Luzern oder Obwalden, während die reformierten Übersetzungen insbesondere aus den beiden reformierten „Hochburgen“ Bern und Zürich stammen; häufig sind Theologen die Übersetzer/-innen. Baselbieterdeutsch: – – – –
Der guet Bricht us dr Bible uf Baselbieterdütsch (Bibelhilfsverein Baselland 1939) O Heer und Gott. Psalmen und Prophetelieder baselbieterdütsch (MEYER 1945) Der guet Bricht us der Biblen uf Baselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 1981) Der guet Bricht us der Bible uf Baselbieterdüütsch (Bibelgesellschaft Baselland 1989)
Dialekt auseinandersetzen müssen, vgl. OBERHOLZER (2014a), dort exemplarisch anhand der Vor- bzw. Nachworte acht solcher Übersetzungen dargestellt. 133 Auch SCHWARZENBACH (1969, 196) weist auf Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang hin: „Gerade hier stösst man sich bald an Ungewohntem, besonders dann, wenn es sich um eine Übersetzung in einen andern Dialekt als den eigenen handelt“. Er geht aber davon aus, dass die Schwierigkeiten insbesondere inhaltlich-stilistischer Art sind und vor allem den Gottesdienstbesucher/-innen kaum Probleme bereiten (vgl. SCHWARZENBACH 1969, 197). 134 Auf der Webseite [Stand 09.01.2018] findet sich eine Auflistung von Bibelübersetzungen in die verschiedensten deutschen Mundarten. Unter sind die schweizerdeutschen Übersetzungen aufgelistet. Es fällt auf, dass neben dem Schweizerdeutschen das Plattdeutsche einen Spitzenplatz bezüglich der Anzahl an Übersetzungen einnimmt.
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Der Guet Bricht. S Lukas-Evangeelium. Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 1998) Der Guet Bricht. d Aposchtelgschicht uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2002) Der Guet Bricht. d Korintherbrief uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2009) Der Guet Bricht. s Johannes-Evangeelium und d Johannesbrief uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2016)
Berndeutsch: – – – – – – – – – – – –
Ds Evangelium Lukas bärndütsch (HOWALD 1936, 1939) D’Aposchtelgschicht bärndütsch (HOWALD 1940) Ds Evangelium Matthäus und Markus bärndütsch (HOWALD 1944) D’Wiehnachts-Gschicht. Nach em Evangelium Lukas (HOWALD 1976) En Uswahl vo Psalme bärndütsch (MAURER / SIEBER 1979) Der Brief vom Apostel Poulus a d Christe z Rom (MAURER / SIEBER 1980) Ds Matthäus-Evangelium bärndütsch (MAURER / SIEBER 1981) Ds Lukas-Evangelium bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD 1982) Ds Nöie Teschtamänt bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD 1984) Ds Buech Rut und vier Psalme bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD 1987) Ds Alte Teschtamänt bärndütsch. En Uswahl (BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD 1990) D Psalme bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD 1994)
Luzerndeutsch – – – – – –
Einige Proben von Psalmen in Luzerner Mundart (STAFFELBACH 1970) Grymeti Psalme uff Luzärn-Düütsch (STAFFELBACH 1971) Apostelgeschichte. Luzärnerdütsch (STAFFELBACH 1973a) Di gheim Offebarig uf Buuretüütsch (STAFFELBACH 1973b) Johannes-Evangelium und erster Korintherbrief of Luzärner Mundart (STAFFELBACH 1977) s Markus Evangeelium. Luzärntüütsch vom Walter Haas (HAAS 1988)
Obwaldnerdeutsch –
Markusevangeeli Obwaldnerdytsch (IMFELD 1979)
Schaffhauserdeutsch –
S Maarkusevangeelium übersetzt vom Fritz Gafner i d Schafuuser Mundaart vo Schtäi am Rii (GAFNER 2007)
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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St. Gallerdeutsch – –
Chinderpsalme uf Sanggallertütsch (LEDERGERBER 1966) Das Evangelium nach Markus in Toggenburger Mundart (WALLISER-STRÜBI / KAPPLER 1995)
Walliserdeutsch – –
Där Psalter uf Wallisertitsch (THELER 2007) Ds Niww Teschtamänt uf Wallisertitsch (THELER 2011)
Zürichdeutsch – – – – – – – – – – – – – –
Gönd uuf – iir gwaltige Toor. Zwänzg Psalme uf Züritüütsch (MORF 1970) de prediger Salomo uf hebrëëisch und züritüütsch (SCHOBINGER 1975) S Markus-Evangelium [sic!] (WEBER 1984) S Lukas-Evangeelium (WEBER 1985) De Versamler – de Prediger Salomo (SCHOBINGER 1985) S Matthäus-Evangeelium (WEBER 1986) De Guet Pricht wien en de Mattèèus gschribe hät (SCHOBINGER 1986) Exodus. de Psalm 119 für der uuszug i di nöi wält (BOESCH 1986a) S Johannes-Evangeelium (BOESCH 1986b) D Aposchtelgschicht (WEBER 1987) De Prediger (STOLZ 1987) D Genesis (SCHÄUBLI 1990) S Nöi Teschtamänt Züritüütsch (WEBER 1997; 2003; 2011) S’Liederlied (SCHOBINGER 2005)
Es fällt auf, dass insbesondere in der Ostschweiz eine Lücke in Bezug auf Dialektbibelübersetzungen klafft: Neben der Übersetzung des Markus-Evangeliums ins St. Gallerdeutsche und in den Dialekt des Dorfes Stein am Rhein, das rund 3400 Einwohner hat (Stein am Rhein 2018), liegen noch Kinderpsalmen in einer Toggenburger Mundart vor, Übersetzungen in den Thurgauer, den Bündner, den Glarner oder den Appenzeller Dialekt fehlen ganz. Darüber hinaus fehlen auch Übersetzungen in den Dialekt der Stadt Basel, wohingegen für das Baselbieterdeutsche mehrere Übersetzungen erschienen sind. 3.5.1.2 Zeitpunkt der Übersetzungen Die erste Bibelübersetzung in einen Deutschschweizer Dialekt erscheint 1936, es folgen weitere während des Zweiten Weltkriegs. Danach gibt es eine Pause bis zur ersten Hälfte der Siebzigerjahre, wo die Zahl der Übersetzungen rapide ansteigt. Dass dies zu diesen zwei Zeitpunkten passiert, ist kein Zufall. Die ersten Über-
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
setzungen fallen in die Zeit der Geistigen Landesverteidigung, während der die Dialektliteratur per se eine wichtige Rolle in der Deutschschweiz spielte: „Während des 2. Weltkriegs prägte die D[ialektliteratur] die Gedankenwelt der Geistigen Landesverteidigung in der Deutschschweiz entscheidend mit und hielt bis in die 1960er Jahre an ihr fest“ (SCHMID 2007). Die ersten Dialektbibeln erscheinen also während einer Mundartwelle. Die Häufung in den Siebzigerjahren fällt mit einer „neuen Mundartwelle“ (SONDEREGGER 2003, 2873) zusammen, die sich in den Sechzigerjahren den Weg durch die Deutschschweiz bahnte (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 1.1). Die sprachliche Situation in der Gesellschaft spiegelt sich also auch in den Bibelübersetzungen wider. So geht mit dem markanten Einbruch der „Produktion von dialektaler Buchliteratur“ (SCHMID 2007) seit Mitte der Achtzigerjahre auch ein Einbruch an Dialektbibelübersetzungen in den Neunzigerjahren einher. Die Produktion an Bibelübersetzungen erlebt dann einen dritten Höhepunkt in den 2000er-Jahren mit Übersetzungen in den Kantonen Basel-Landschaft, Schaffhausen, Zürich und Wallis: Dieser kann mit grosser Wahrscheinlichkeit in den Zusammenhang mit der seit anfangs des letzten Jahrzehnts neu aufgekommenen Diskussion um den Stellenwert der beiden Varietäten in der Deutschschweiz gestellt werden. 3.5.1.3 Die Beweggründe für Übersetzungen Warum übersetzt man die Bibel in den eigenen Dialekt, wo doch mit den standarddeutschen Übersetzungen die Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Bibel auch für die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer gegeben ist? Wie an anderer Stelle bereits anhand acht ausgewählter Übersetzungen135 ausführlich gezeigt (OBERHOLZER 2014a), gleichen sich die Beweggründe für die Übersetzung der Bibel in den Dialekt stark. Diese hängen denn auch nicht vom (Kantons-)Dialekt ab; ob Berndeutsch, Zürichdeutsch oder Walliserdeutsch – was zählt, ist die Nähe des Dialekts, dessen Wert als Muttersprache, als Herzenssprache. Exemplarisch dafür sei hier die Argumentation WEBERS aufgeführt, der das Neue Testament ins Zürichdeutsche übersetzt hat: Wänn en Zürcher s Hèèrz uf de Zunge hät, so redt er i siinere Mueterspraach. Drum mäin iich: Wänn s stimmt, das d Büecher vom Nöie Teschtamänt für s Hèèrz gschribe sind, dänn mues es au e züritüütschi Übersetzig gèè.136 (WEBER 1997, 7)
Ein weiteres Argument, das unabhängig von der Herkunft der Bibel und dem Erscheinungsjahr wiederholt in den Vor- bzw. Nachworten der Übersetzer auftaucht, ist jenes, dass der Dialekt es dem Leser ermöglicht, dass sich ihm die Inhalte der 135 HOWALD (1936), BIETENHARD / BIETENHARD (1984), Bibelhilfsverein Baselland (1939), Bibelgesellschaft Baselland (1981), STAFFELBACH (1971), BOESCH (1988), WEBER (1997) sowie THELER (2011). 136 „Wenn ein Zürcher sein Herz auf der Zunge hat, so redet er in seiner Muttersprache. Darum meine ich: Wenn es stimmt, dass die Bücher des Neuen Testamentes für das Herz geschrieben sind, dann muss es auch eine zürichdeutsche Übersetzung geben.“ [Eigene Übersetzung; S.O.]
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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Bibel in einer neuen Art erschliessen, dass ihm „es Liechtli ufgieng, wenn er dr alt guet Bricht in syner eigene Sproch vernehmi“137 (Bibelhilfsverein Baselland 1939, 3). So argumentieren auch BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD (1990), schlagen aber die Brücke hinüber zur standarddeutschen Übersetzung: Müglechscht vil Mönsche sölle dür ds bärndütsche Läse e nöie, ganz pärsönleche Wäg zum Alte Teschtamänt finde. Vilecht macht’s em einte oder andere Muet, sech de o wider a ds schriftdütsche z wage.138 (BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD 1990, 480)139
Neben den Vorteilen, die die Dialektbibeln bringen sollen, verschweigen die Übersetzer/-innen aber auch die Schwierigkeiten nicht: Diese gehen über die Frage, welcher Dialekt für eine solche Übersetzung gewählt werden soll – die Sprache der städtischen Oberschicht oder doch eher ein ländlich geprägter Dialekt? (vgl. dazu z. B. HOWALD 1936, 5, BIETENHARD / BIETENHARD 1984, 534, WEBER 1997, 8) –, über die Herausforderung, die passenden Dialektausdrücke für die jeweilige Übersetzung zu finden (z. B. MAURER / SIEBER 1980, 3), bis hin zur Frage der Dialektverschriftung, existiert doch keine genormte Deutschschweizer Dialektschreibung, sowie des Dialektlesens (hier wird das laute Vorlesen als „Gegenmittel“ empfohlen, vgl. z. B. BOESCH 1988, 17 oder WEBER 1997, 8). 3.5.1.4 Die Adressaten der Übersetzungen Die Bibelübersetzungen sind meist nicht explizit für den Gebrauch im Gottesdienst gedacht; Adressaten der Dialektübersetzungen sind in erster Linie eher Deutschschweizer, die die Bibel in ihrer eigenen „Sprache“ lesen und so eben allenfalls einen neuen Zugang finden wollen. So begründet RICHLI (2007, 9) den Rückgriff auf den „Kleindialekt von Stein am Rhein“, den GAFNER für seine Übersetzung (GAFNER 2007) gewählt hat, mit dem Volk als Zielgruppe der Übersetzung: Denn die Evangelien sind […] eine für das ganze Volk bestimmte Reihe von Erzählungen. Und das Markusevangelium, das auf mündliche Vorlagen zurückgeht, […] findet nur dort die echte Form, wo man den Volkston heraushört. (RICHLI 2007, 9)
Die Verwendung im Gottesdienst wird aber auch von einigen Übersetzer/-innen als Möglichkeit erwähnt. So ist beispielsweise „Der guet Bricht us der Biblen uf Basel137 „ein Lichtlein aufgehe, wenn er den alten guten Bericht in seiner eigenen Sprache vernehme“ [Eigene Übersetzung; S.O.]. 138 „Möglichst viele Menschen sollen durch das berndeutsche Lesen einen neuen, ganz persönlichen Weg zum Alten Testament finden. Vielleicht macht es dem einen oder anderen Mut, sich dann auch wieder an das Schriftdeutsche zu wagen.“ [Eigene Übersetzung; S.O.] 139 Erstaunlich positiv ist auch die Wertung des Standarddeutschen im ersten Kriegsjahr, als die erste Baselbieter Übersetzung erscheint: „Mir Baselbieter chönne mit allen andere Schwyzerlüt froh sy über d’Lutherbible. Sie sell euser Lebtig in ihrer schöne Sunndigsproch mit is rede.“ – Wir Baselbieter [= Einwohner des Kantons Basel-Landschaft] können mit allen anderen Schweizerleuten froh sein über die Lutherbibel. Sie soll unseren Lebtag [= unser Leben lang] in ihrer schönen Sonntagssprache mit uns reden. [Eigene Übersetzung; S.O.] (Bibelhilfsverein Baselland 1939, 3)
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
bieterdütsch“ (Bibelgesellschaft Baselland 1981) einerseits für den Gebrauch zu Hause gedacht, wo man ihn für sich allein lesen könne, die darin enthaltenen Kurztexte könne man „aber au in der Chilche […] bruuche“140. Die Verfasser haben dabei „vor allem a d Familiegottedienscht dänkt, wo jo der Dialekt scho lang Bruuch isch“141. Als mögliche Adressaten kommen also offenbar auch Pfarrpersonen sowie Familien mit Kindern in Frage. Der Hinweis, dass bereits anfangs der Achtzigerjahre im Kanton Basel-Landschaft der Dialekt „scho lang“ Usus für den Familiengottesdienst ist, ist in diachroner Hinsicht sehr wertvoll für die vorliegende Untersuchung. Eine andere Übersetzung, in der der Gebrauch im Gottesdienst explizit erwähnt wird, ist diejenige BOESCHS. Die Psalmen auf Zürichdeutsch sind gedacht „für die gottesdienstliche Versammlung, für die Familie, für die kleine Gruppe und für den Einzelnen“ (BOESCH 1988, hintere Umschlagsseite). Eine weitere Zielgruppe neben Pfarrpersonen und interessierten Laien sieht STAFFELBACH (1971, 4): Er versteht seine Verse als „Anregung“ für den „einen oder andern“, beispielweise „in einem andern Dialekt einen Psalm verkürzt oder verlängert oder – gar verbessert in seiner Mundart wiederzugeben“. STAFFELBACH glaubt also, dass die Texte als Inspiration für andere Dialektübersetzer/-innen dienen könnten. 3.5.1.5 Der Erfolg der Übersetzungen Aussagen zum Erfolg solcher Dialektübersetzungen lassen sich über Verkaufszahlen bzw. die Verfügbarkeit im Buchhandel machen. Erfolgsgeschichten scheinen vor allem die Übersetzungen in Zürich- und Berndeutsch sowie Baselbieterdeutsch zu sein. Im Folgenden einige Übersetzungen, die nach wie vor im Buchhandel erhältlich sind (Stichtag 09.01.2018, ): – – – – – – –
Ds Nöie Teschtamänt bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD 1984) in der 8. Auflage von 2015 D Psalme bärndütsch (BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD 1994) in der 2. Auflage von 2006 Ds Alte Teschtamänt bärndütsch. En Uswahl (BIETENHARD / BIETENHARD / BIETENHARD 1990) S Nöi Teschtamänt Züritüütsch (WEBER 2011), erstmals 1997 erschienen D Psalme Züritüütsch (BOESCH 1988), in der 4. Auflage von 2009 Der Guet Bricht. Us der Biblen uf Baselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 1981) Der Guet Bricht. d Aposchtelgschicht uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2002)
140 „aber auch in der Kirche […] brauchen.“ [Eigene Übersetzung, S.O.] 141 „vor allem an die Familiengottesdienste gedacht, wo ja der Dialekt schon lange Brauch ist.“ [Eigene Übersetzung, S.O.]
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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Der Guet Bricht. d Korintherbrief uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2009) Der Guet Bricht. s Johannes-Evangeelium und d’Johannesbrief uf Baaselbieterdütsch (Bibelgesellschaft Baselland 2016) Där Psalter uf Wallisertitsch (THELER 2007) Ds Niww Teschtamänt uf Wallisertitsch (THELER 2011)
Die Verfügbarkeit und die Anzahl der Auflagen lassen natürlich gewisse Schlüsse auf die Rezeption der Übersetzungen zu, im Detail erfährt man aber wenig zur Aufnahme solcher Texte in der Bevölkerung. Einen kleinen Einblick erlaubt ein Gespräch mit dem Walliser Übersetzer THELER in der Radiosendung „Perspektiven“ von 2012 (KRONENBERG 2012). Er berichtet von den Reaktionen auf seine Übersetzung. Eine Frau habe ihm nach einer Lesung gesagt: „‚Ich ha gar nid gwisst, dass dä Herrgott öu Wallisertitsch redot‘142 […] und [sie] fühlte sich fast ertappt, dass jetzt eben das Walliserdeutsch auch eine Sprache Gottes ist“. Eine andere Frau habe ihm gesagt: „‚Sie haben uns den Heiligen Geist ins Wallis gebracht.‘“ Auf die Frage, ob er Reaktionen von Priestern oder Pastoralassistenten bekommen habe, sagt THELER: Also von offizieller Seite eigentlich nicht. Es gibt ein oder zwei Priester, die sagen, dass sie jetzt die Lesung aus dem Neuen Testament auf Walliserdeutsch regelmässig machen aufgrund eben der Übersetzung.
Wie die Rezeption solcher Übersetzungen durch die Pfarrpersonen aussieht, ist in Kap. 9.6.1 Thema. 3.5.2 Kirchenlieder im Dialekt Eine weitere dialektale Vorlage für die Gestaltung von reformierten und katholischen Gottesdiensten sind Dialektlieder. Beide Kirchen verfügen je über ein eigenes offizielles Gesangbuch: Das „Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz“ (Gesangbuchverein 1998), im Folgenden kurz „RG“ genannt, und das „Katholisches Gesangbuch. Gesang- und Gebetbuch der deutschsprachigen Schweiz“ (Schweizer Bischofskonferenz 1998), im Folgenden kurz „KG“ genannt. In beiden dominiert das standarddeutsche Liedgut klar, es finden sich nur wenige Dialektlieder in diesen beiden Gesangbüchern. Neben den offiziellen Gesangbüchern werden teilweise weitere Gesangbücher oder entsprechende Ringordner mit in der jeweiligen Gemeinde/Pfarrei üblichen Liedern für die Gestaltung der Gottesdienste gebraucht. Solche hat die Autorin beispielsweise in Kirchen während der Gottesdienstaufnahmen gesehen, sie werden aber teilweise auch von den untersuchten Pfarrpersonen in den Interviews und im
142 „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Herrgott auch Walliserdeutsch redet.“ [Eigene Übersetzung, S.O.]
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Fragebogen erwähnt. Dieses Liedgut kann sowohl aus standardsprachlichen als auch dialektalen Liedern bestehen. 3.5.2.1 Dialektlieder im reformierten Gesangbuch Das RG enthält auf insgesamt 868 Titel143 15 Dialektlieder, die gemäss der Deklaration im Gesangbuch selbst in drei verschiedenen Dialekten verfasst sind: Berndeutsch, Zürichdeutsch und Baseldeutsch. Die Lieder sind auf Seite 1096 in einem separaten Verzeichnis „Dialektlieder“ aufgeführt. Es handelt sich um die folgenden Titel: – – –
Nr. 488 Nr. 181 Nr. 417
–
Nr. 426
– – – – – – –
Nr. 336 Nr. 646 Nr. 665 Nr. 536 Nr. 453 Nr. 319 Nr. 532
– – –
Nr. 339 Nr. 863 Nr. 424
–
Nr. 422
Am Morge früeh am Oschtertag (Text: berndeutsch, 1963) Bi de Tauffi chömed miir (T: zürichdeutsch, 1972) Chumm, mir wönd em Heiland singe (T: baseldeutsch, 1953/aargauische Fassung 1957) Das isch de Stärn vo Betlehem (T: zürichdeutsch, 1961; aus der „Zäller Wiehnacht“) Fride wünsch ich diir (T: zürichdeutsch; mündlich überliefert) Für Spiis und Trank (Text und Musik: aus Holland [sic!]) Gott, du bisch wie d’Sune (T: zürichdeutsch, 1975) Gott hät di ganz wiit Wält (T: zürichdeutsch, 1998) Heiland mit der Dornechrone! (T: berndeutsch, 1963) Jesus ladt öis ii (T: zürichdeutsch, 1972) Liebe Gott, mer wänd diir danke (T: zürichdeutsch, mündl. überliefert) Liebgott, du bisch da und weisch, won i stah (T: berndeutsch, 1963) O Heiland, chumm doch gly (T: berndeutsch, 1963) Uf em Fäld i de Nacht (T: zürichdeutsch, nach alten Quellen neu gefasst 1957) Was isch das für e Nacht! (T: zürichdeutsch, 1961; ZW144)
Diese Lieder sind nicht für jeden Sonntagsgottesdienst geeignet, da die meisten für spezielle Kirchenfeste (vor allem Weihnachten: 417, 422, 424, 426, aber auch Ostern: 488, sowie Pfingsten: 453) gedacht sind – und auch im Gesangbuch an der entsprechenden Stelle unter der Rubrik „Gottesdienst im Jahreskreis“ ihren Platz haben. Die wenigsten Dialektlieder sind thematisch neutral verwendbar, so sind denn auch die Lieder 181 (Taufe), 319 (Abendmahl) sowie 646 (Bei Tisch) nur in diesen speziellen Kontexten passend. Neben der thematischen Eignung stellt sich zusätzlich die Frage, ob allenfalls der Dialekt, in dem diese Lieder verfasst sind, einen Hinderungsgrund darstellt,
143 Darin enthalten sind auch Psalmen und andere Texte. 144 ZW = Zäller Wiehnacht, vgl. Lied Nr. 426.
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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solch ein Lied in einem Kanton mit einem anderen Dialekt zu wählen. Dieser Frage wird im Folgenden (vgl. Kap. 9.6.2) nachgegangen. Zwar wollte man ursprünglich der Dialektvielfalt Rechnung tragen, als man beschloss, Dialektlieder ins neue RG aufzunehmen, wie MARTI (2001) in einer Publikation ausführt. Es sollten „verschiedene Dialekte […] berücksichtigt werden“ (MARTI 2001, 178). Letztlich fiel die Wahl aber auf zehn zürichdeutsche und vier berndeutsche Lieder sowie eines, das als „baseldeutsch“ bezeichnet wird, das „jetzt [aber] in einer aargauischen Fassung vorliegt, die dem Zürichdeutschen ziemlich nahe steht“. MARTI (2001, 179) steht dieser Auswahl äusserst kritisch gegenüber: Von Ausgewogenheit also keine Spur, von Vertretung verschiedener Sprachregionen schon gar nicht, und die in weiten Teilen der Schweiz mit einem gewissen Unbehagen beobachtete wachsende Dominanz der Wirtschaftsmetropole Zürich bildete sich im Gesangbuch offenbar auch noch gleich ab.
So stellt sich also in Gemeinden, in denen ein anderer Dialekt vorherrscht wie der des Dialektliedes aus dem RG, die Frage, ob man das Lied spontan in den eigenen Dialekt überträgt. MARTI (2001, 178) hält das spontane „Umsingen“ eines Liedtextes von einer Mundart in eine andere in den meisten Fällen [für; S.O.] nicht möglich, weil Silbenzahl, Lautung und oft auch Syntax beim Dialektwechsel so verändert werden, dass weder Strophenschema noch Reim durchgehalten werden können.
Ein viel gravierenderes Problem als die mangelnde Dialektvielfalt und ein potentiell fremder Dialekt stellt allerdings die Tatsache dar, dass alle Dialektlieder […] mehr oder weniger deutlich Kinderlieder [sind], was historisch natürlich daher rührt, dass der Dialekt sich bislang praktisch nur im Kindergottesdienst auch bis ins Lied hinein ausgebreitet hatte. Damit entsteht nun aber im Gesangbuch eine verhängnisvolle Gleichung „Dialekt = Kinderlied“. Dialekt wird liturgisch gewissermassen zur Kindersprache; komplexere Strukturen und Aussagen, wie sie sonst für das Kirchenlied auch möglich wären, mutet man ihm nicht zu. Ein weiteres Mal erweist das Reformierte Gesangbuch dem Dialekt einen schlechten Dienst, indem es ihn auf einen kleinen Bereich beschränkt und ihn damit eigentlich nicht für voll nimmt. (MARTI 2001, 180–181; Hervorhebung S.O.)
Dass diese Gleichung „Dialekt = Kinderlied“ vorgenommen wurde, steht in Zusammenhang mit der Tatsache, dass erst in dieser Neuauflage des RG überhaupt erstmals Dialektlieder aufgenommen wurden. Diese Aufnahme war aber nicht von Anfang an geplant, sondern wurde erst, als die Vernehmlassungsantworten eintrafen, beschlossen – „nicht zuletzt in Folge regelrechter Druckversuche einzelner Kantonalkirchen“ (MARTI 2001, 176). Zwar gab es schon während der Erarbeitung der Neuauflage Diskussionen betreffend die Aufnahme von Dialektliedern. Diese wurde dann aber Mal für Mal mit folgender Begründung verworfen: „Die Vielfalt der Schweizer Dialekte verhindert die Aufnahme von Dialektliedern.“ (Zitat in MARTI 2001, 176) Die Auswahl wurde dann schliesslich „unter grossem Zeitdruck“ (MARTI 2001, 176) getroffen, als man sich doch für die Aufnahme von Dialektliedern entschied: Um zu Dialektliedern zu kommen, musste man deshalb auf das zurückgreifen, was vorhanden war, konkret vor allem auf das Sonntagsschulliederbuch „Kolibri“, dessen Herausgeber den
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Anspruch hören liessen, das Repertoire der bekannten und brauchbaren geistlichen Dialektlieder weitgehend abzudecken. (MARTI 2001, 179)
Der Kinderliedcharakter der Dialektlieder im RG rührt also daher, dass diese Lieder aus einem Kinderliederbuch übernommen wurden. Es ist nicht so, dass MARTI Dialektliedern per se skeptisch gegenüber steht: Er findet, es „hätte […] reizvoll sein können, die besonderen Chancen der Dialekte zu nutzen“ (MARTI 2001, 181). So vermag die Auswahl an Dialektliedern im RG „weder im Umfang noch in der Zusammensetzung so recht zu befriedigen“ (MARTI 2001, 176). 3.5.2.2 Dialektlieder im katholischen Gesangbuch Im KG gibt es fünf Dialektlieder, die aber nicht – wie im reformierten Pendant – in einem separaten Verzeichnis aufgeführt sind. Es sind dies die folgenden: – – – – –
Nr. 154 Nr. 155 Nr. 156 Nr. 153 Nr. 339
Blyb du bi öis Du bisch öise Vatter im Himmel „Heilig, heilig“ singed dir Himmel und Erde Hüt isch e grosses Fäscht Was isch das für e Nacht
Die ersten vier Lieder finden sich in der Rubrik „Messegesänge für Kinder“, das fünfte bei den Weihnachtsliedern; dieses ist das einzige, das sowohl im KG wie im RG (dort mit der Nr. 422) vorkommt. Im Inhaltsverzeichnis sind alle fünf bei „Kindergesänge“ eingereiht (Schweizer Bischofskonferenz 1998, 930–932). Bei über 808 Titeln in diesem Gesangbuch (nicht alle davon sind Lieder) ist der Anteil Dialektlieder hier ebenfalls marginal – noch marginaler als im reformierten Pendant. Im Gegensatz zum RG werden im KG keine Angaben zum Dialekt gemacht. Das Schibboleth öis (öise), das in den vier Liedern, die lediglich im KG aufgeführt sind, vorkommt, ordnet die Lieder aber klar dem Zürichdeutschen zu. Im Lied 339 von PAUL BURKHARD, das ebenfalls Zürichdeutsch ist, wird dieses Wort allerdings anders geschrieben: eus. Die Zuordnung dieser fünf Lieder zur Sphäre von Kindern korrespondiert mit der oben geschilderten Problematik der Dialektlieder im RG, wird aber durch die klare Zuteilung zu den Messegesängen für Kinder zusätzlich akzentuiert. Die Verbindung Dialekt–Kinder scheint also (auch) auf katholischer Seite explizit zu bestehen und deckt sich auch mit den Aussagen diverser (katholischer und reformierter) Pfarrpersonen in den Erhebungen zu dieser Untersuchung (vgl. z. B. Kap. 9.6.2).
Dialektvorlagen für Deutschschweizer Pfarrpersonen
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3.5.3 Dialektvorlagen für die Liturgie Eine vollständige Aufzählung von dialektalen Vorlagen für verschiedene Teile der Liturgie kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Vereinzelt sind solche Vorlagen verfügbar. Überlegungen für diese Art von Texten gibt es bei der Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz schon seit vielen Jahren. Im Folgenden sollen Ausschnitte zu Dialektliturgievorlagen aus den drei Bänden „Liturgie“ zum Abendmahl, zur Taufe sowie zur Bestattung der Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz wiedergegeben werden, um einen Einblick in die Thematik zu geben. Im Liturgieband zum „Abendmahl“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1983, 52–53) wird die Frage von Dialektformularen im Zusammenhang mit dem Kinderabendmahl angesprochen. Man habe sich „nach gründlichen Erwägungen“ dagegen entschieden, Dialektformulare anzubieten. Der Grund dafür sei, dass solche Formulare „ja in einem bestimmten Dialekt abgefaßt sein und […] dann in neun von zehn Fällen vom Benützer doch wieder in einen anderen Dialekt übersetzt werden [müssten]“. Da die Verantwortlichen der Liturgiekommission dieses Übersetzen von einem fremden in den eigenen Dialekt für „ebenso mühevoll“ halten, wie das „Übersetzen vom Hochdeutschen in einen bestimmten Dialekt“, haben sie sich gegen das Ausarbeiten von Dialektformularen entschieden und überlassen diese Übersetzungsarbeit dem Benutzer selbst (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1983, 53). Einer der Autoren hatte vorgeschlagen, für die Formulare eine Art von „Hochdeutsch [zu] wählen, das sich ohne weiteres ‚vom Blatt‘ in die einzelnen Dialekte übersetzen lässt“; dieses Bestreben „erwies sich [aber; S.O] als generell undurchführbar“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1983, 53). Einen Versuch in diese Richtung stellt das Formular XIV dar, bei dem Folgendes angemerkt ist: „Sprachlich ist die Vorlage so konzipiert, dass sie leicht ab Blatt im Dialekt vorgetragen werden kann.“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1983, 402, Hervorhebung S.O.) Im Band zur „Taufe“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992) wird das Thema Dialekt an verschiedenen Stellen thematisiert: Unter dem Stichwort „Mundarttaufen“ stellen die Autoren fest, dass „[d]ie spontane Übertragung vorliegender schriftdeutscher Taufliturgien in den Dialekt […] selten befriedigend [gerät]“ (Liturgiekonferenz der evangelischreformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 27; Hervorhebung S.O.). Sie machen auf die Unterschiedlichkeit der beiden Sprachformen und auf die Problematik der verschiedenen Dialekte in der Deutschschweiz aufmerksam: Gutes Schriftdeutsch und gute Mundart folgen je verschiedenen Sprachgesetzen und sollten sauber auseinandergehalten werden. Man könnte das Angebot von Dialekt-Taufformularen den einzelnen Kantonalkirchen überlassen, da wir in der deutschen Schweiz so viele verschiedenartige Dialekte nebeneinander haben. Bei einer Durchmischung von Mundart- und Schriftsprachteilen in derselben Liturgie erhalten die letzteren (etwa Lesungen, Taufformel, Unser
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen Vater) leicht den Charakter von blossen Zitaten. (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 27–28; Hervorhebung S.O.)
Als Gegenmittel gegen diesen blossen Zitatcharakter haben sich die Autoren entschieden, „wenigsten[s] ein bern- und ein zürichdeutsches Formular in der jeweiligen Mundartschreibweise aufzunehmen“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 28).145 Zusätzlich ist das standarddeutsche Formular 17 „sprachlich so gestaltet, daß es ohne große Schwierigkeiten in Mundart übertragen werden kann. Allerdings muß dies trotzdem sorgfältig durchdacht und vorbereitet werden“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 117). Im Band 5 zur „Bestattung“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000) ist der Frage „Dialekt und Schriftsprache“ gar ein einzelnes Unterkapitel, das ANDREAS MARTI verfasst hat, gewidmet. Dort werden Vor- und Nachteile der Dialektverwendung im Gottesdienst (nicht nur beschränkt auf Bestattungen) thematisiert. Texte in Dialekt enthält der Liturgieband allerdings nicht: Wer Dialekt verwenden will, muss sich geeignete Texte in seine Umgangssprache selber übersetzen. Die verschiedenen Übersetzungen der Bibel oder von Bibelteilen sind dabei hilfreich (vgl. Literaturliste). (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 54)
Die Ausführungen von MARTI haben ihren Weg in den Band wohl auch deswegen gefunden, weil sich gemäss MARTI „die Tendenz verstärkt [habe], im Gottesdienst vermehrt die Dialektsprache zu verwenden“, insbesondere in Kasualgottesdiensten, „die – ungeachtet des grundsätzlichen Öffentlichkeitsanspruchs jedes Gottesdienstes – zunehmend auf die jeweils beteiligten Familien ausgerichtet werden“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 52).146 MARTI führt Gründe für die Verwendung von Dialekt im Gottesdienst an (z. B. die grössere persönliche Nähe zwischen Gemeinde und Liturg/-in; die Möglichkeiten der präzisen sprachlichen Gestaltung; die geringere Komplexität in der syntaktischen Struktur147 etc.), weist aber auch auf Probleme hin (z. B. die vielen unterschiedlichen Dialekte innerhalb der Deutschschweiz, die auch Distanz schaffen würden; die Gefahr, allochthone Gottesdienstbesucher/-innen sprachlich auszuschliessen; das sprachliche Potential des Dialektes ungenutzt zu lassen) (vgl. Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 52–53). Er plädiert daher dafür, beim Dialekt145 Es handelt sich dabei um die Formulare 18 und 19 (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 103–112); das berndeutsche Formular richtet sich orthographisch nach der BIETENHARD’schen Übersetzung, das zürichdeutsche nach den Richtlinien des Vereins Schweizerdeutsch (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 1992, 178). 146 Vgl. hierzu die Aussage von DAVID PLÜSS in Kap. 9.8.2, der sich dafür ausspricht, die Entscheidung über die Sprachform nicht den beteiligten Familien zu überlassen. 147 „Die konsequente Dialektverwendung kann damit eine heilsame Sprachschule sein.“ (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 53)
Zusammenfassung
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gebrauch in Gottesdiensten auf verschiedene Punkte zu achten. So müsse sichergestellt werden, dass alle Anwesenden den Dialekt verstehen. Darüber hinaus müsse die Pfarrperson dieselbe Sorgfalt walten lassen, wenn sie Formulierungen im Dialekt verfasse wie auf Hochdeutsch: „Im Dialekt gesprochene Texte müssen auch im Dialekt aufgeschrieben sein; die laufende Übersetzung aus dem Hochdeutschen führt in der Regel zu schlechten Ergebnissen.“ (Liturgiekonferenz der evangelischreformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 54) Ausserdem müsse die Verteilung von Hochdeutsch und Dialekt auf die verschiedenen Textgattungen innerhalb eines Gottesdienstes (Predigt, Gebete, Schriftlesung, Lebenslauf, liturgische Rahmenstücke, Begrüssung, Mitteilungen, Ansagen) […] gut durchdacht sein und konsequent gehandhabt werden. Zu beachten ist, dass die Gemeindelieder in aller Regel hochdeutsch gesungen werden und dass das Unser Vater nur hochdeutsch gemeinsam gesprochen werden kann. Die Mischung der Sprachen ist damit im Vornherein gegeben. (Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz 2000, 54; Hervorhebung S.O.)
Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sich die Zahl der Dialektvorlagen in den eingesehenen drei Liturgiebänden der Deutschschweizer reformierten Kirchen in sehr engen Grenzen hält. Das Thema Dialekt wird aber bereits im 1983 erschienenen Band zum Abendmahl angesprochen und beschäftigt die Liturgiekonferenz auch in den folgenden zwei Bänden. Es liegen jedoch von dieser Seite nur zwei (Tauf-)Liturgien im Dialekt vor, man überlässt die Übersetzungsarbeit demnach (bewusst) den Pfarrpersonen selbst. Im Band zur Bestattung wird ihnen mit den Ausführungen von MARTI zusätzlich eine Art Handreichung zur Verwendung von Dialekt im Gottesdienst gegeben. 3.6 ZUSAMMENFASSUNG Im vorliegenden Kapitel wurden Untersuchungsgegenstand und Forschungsstand zum Thema Dialekt und Standarddeutsch in Deutschschweizer Kirchen umrissen. Dabei wurde zunächst (Kap. 3.1) der Untersuchungsgegenstand vorgestellt: In der vorliegenden Studie steht der Sprachgebrauch und die Spracheinstellungen von Deutschschweizer Pfarrpersonen im Fokus. Diese arbeiten für eine der beiden grossen Landeskirchen, die reformierte und die katholische Kirche, zu denen sich zusammen rund 65 % der Schweizer Bevölkerung bekennen. Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die reformierten Pfarrpersonen, da sich in deren Gottesdiensten sprachlich ein grösserer Spielraum eröffnet: Die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer formulieren einen beträchtlichen Teil des gesprochenen Textes selbst, wohingegen die katholischen Priester durch die in den Messbüchern vorgegebenen Texte in ihrer sprachlichen Gestaltungsfreiheit erheblich eingeschränkt sind. Für die Untersuchung der reformierten Kirche wurden Daten von Pfarrpersonen aus den fünf Deutschschweizer Kantonen Basel-Landschaft, Bern, Thurgau, St. Gallen und Zürich gewonnen. Die Daten der katholischen Priester wurden in den Bistümern Basel, Chur und St. Gallen gesammelt (vgl. Kap. 3.2).
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Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen
Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Analyse von Gottesdiensten. Die in Kap. 3.3 vorgestellten Abläufe von reformierten und katholischen Gottesdiensten bilden das Gerüst für die Einteilung der Gottesdienste in dieser Studie (Kap. 3.3.3). Der Stand der Forschung zum Thema der Varietäten in den Deutschschweizer Kirchen wurde in Kap. 3.4 präsentiert. Aus der Zusammenschau wurde klar, dass es zwar vereinzelte linguistische Untersuchungen zu Dialekt und Standarddeutsch in den Kirchen gibt, es aber insbesondere, was die Varietätenverteilung im Gottesdienst angeht, an empirischen Daten mangelt. Zahlreich sind hingegen die Aufsätze bzw. auf subjektiven Meinungen der Autor/-innen beruhenden Texte, die eine Ausbreitung des Dialekts im kirchlichen Kontext beschreiben. Diese sind sowohl auf linguistischer wie auf theologischer Seite zu finden. Diese mutmassliche Tendenz zu mehr Dialektgebrauch wird dabei insbesondere von Personen aus dem theologischen Umfeld nicht einheitlich beurteilt: Es finden sich sowohl Verfechterinnen und Verfechter eines ausgeprägten Dialektgebrauchs im Gottesdienst wie auch solche, die für Standarddeutsch als (alleinige) Gottesdienstsprache plädieren. Deutschschweizer Pfarrpersonen haben die Möglichkeit, in ihren Gottesdiensten auf Dialektvorlagen zurückzugreifen, um selbst jene Teile im Dialekt zu gestalten, die üblicherweise auf Standarddeutsch vorgelesen bzw. gesprochen werden. Solche Dialektvorlagen wurden in Kap. 3.5 vorgestellt: Es handelt sich dabei um Dialektbibelübersetzungen, Dialektlieder sowie wenige Dialektliturgien. Bei den Dialektbibeln wurde das breite Spektrum der Übersetzungen aufgezeigt, der Zeitpunkt sowie die Beweggründe für die Übersetzungen beschrieben, auf die (von den Übersetzern ins Auge gefassten) Adressaten sowie den Erfolg der Übersetzungen eingegangen. Für die Kirchenlieder wurde die unterschiedlich grosse Anzahl an Liedern in den offiziellen Gesangbüchern der beiden Kirchen thematisiert. Für das reformierte Gesangbuch wurde darüber hinaus die Diskussion wiedergegeben, die bei der Aufnahme dieser Dialektlieder geführt wurde (Dialektvielfalt, Eignung der Lieder für die Gottesdienste). Schliesslich wurden für drei Liturgiebände der reformierten Kirche gezeigt, wie die Frage der Dialektliturgien gehandhabt wird.
4 CODE-SWITCHING In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, die Varietätenverwendung von Deutschschweizer Pfarrpersonen zu untersuchen. In ihren Gottesdiensten verwenden viele Pfarrerinnen und Pfarrer sowohl Dialekt als auch Standarddeutsch. Dies führt zu Wechseln zwischen den beiden Varietäten, sogenannten Code-Switchings. Von Interesse ist dabei, an welchen Stellen im Gottesdienst diese Wechsel auftreten und ob sie funktional eingesetzt werden. Im Folgenden wird deshalb auf das Konzept Code-Switching (CS) eingegangen. Von grosser Relevanz für solche Varietätenwechsel in der Deutschschweiz ist dabei der Blick auf die soziopragmatische Ebene und auf mögliche pragmatische Bedeutungen von CS. Deshalb wird nach einer allgemeinen Definition von Code-Switching (Kap. 4.1) ein detaillierter Blick auf das Phänomen aus soziopragmatischer Perspektive geworfen, wobei AUERS Typologie von CS und die Frage, welche Funktionen solche Wechsel haben können, im Zentrum stehen (Kap. 4.2). Schliesslich wird auf die Situation in der Deutschschweiz eingegangen und aufgezeigt, welche Funktionen dem CS in Form des Wechsels zwischen Dialekt und Standarddeutsch in bisherigen Studien zugeschrieben wurde (Kap. 4.3). In Kap. 4.4 wird dargelegt, welche Bedeutung CS für die vorliegende Untersuchung hat. 4.1 DEFINITION DES TERMINUS CODE-SWITCHING Es existieren zahlreiche Definitionen zum Terminus „Code-Switching“; trotz dreier Dekaden intensiver Forschung „the field is still lacking an accepted terminology“ (AUER 2011, 460).148 Die Definition von GUMPERZ (1982, 59), wonach Code-Switching die juxtaposition within the same speech exchange of passages of speech belonging to two different grammatical systems or subsystems
bezeichnet, „seems to be the most widely accepted“ (AUER / EASTMAN 2010, 85). Gemäss einer traditionellen Sichtweise, bei der CS ein mögliches Phänomen bezeichnet, das im Zuge von Sprachkontakt auftritt, und somit Wechsel zwischen „clearly separated, often typologically distant, pairs of languages“ (GIACALONE RAMAT 1995, 45), also zwischen zwei Sprachen149, bezeichnet, springen bi- bzw. 148 Die Forschung zu CS begann vergleichsweise spät – andere Aspekte von Bilingualismus hingegen wurden bereits früher untersucht; insbesondere die Arbeiten von GUMPERZ in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts läuteten den Beginn der Untersuchung dieses Gegenstandes ein, vgl. GARDNER-CHLOROS (2009, 9). 149 CHRISTEN et al. (2010, 57) sprechen von „Sprachen mit grosser linguistischer (und oft auch sozialer) Distanz“.
140
Code-Switching
plurilinguale Sprecherinnen und Sprecher „spontaneously back and forth from one language of their repertoire to another“; dieser Prozess „performs distinct functions and follows grammatical rules“ (LÜDI 2004, 341). GUMPERZ’ Definition lässt es aber zu, nicht nur alternierende Wechsel zwischen Sprachen als CS zu interpretieren, sondern auch solche zwischen „standard and substandard variants of the same language“ (AUER / EASTMAN 2010, 85) bzw. zwischen Standardsprache und Dialekten. Auch GARDNER-CHLOROS (2009, 4; Hervorhebung S.O.) bezieht Dialekte in die Definition mit ein: „It [= CS; S.O.] refers to the use of several languages or dialects in the same conversation or sentence by bilingual people“150. So kann es gemäss CHRISTEN et al. (2010, 57) denn auch „mittlerweile als unbestritten gelten, dass CS nicht nur zwischen etablierten Standardvarietäten, sondern auch zwischen Standardsprachen und Dialekten oder zwischen einzelnen Dialekten vorkommen kann“.151 Deshalb werden solche Wechsel zwischen Dialekt (Schweizerdeutsch) und Standarddeutsch und umgekehrt im Folgenden ebenfalls als Code-Switching152 bezeichnet. CS kann aus verschiedenen Perspektiven153 beleuchtet werden: aus einer strukturellen154, einer soziolinguistisch-ethnographischen, einer soziopragmatischen bzw. konversationsanalytischen Sicht155, aber auch aus psycho- bzw. neurolinguistischer156 Perspektive. Im Folgenden soll der Fokus auf die soziopragmatische Perspektive – und damit auf die funktionale Dimension von CS – gelegt werden, da
150 In diesem Zusammenhang ist „bilingual“ wohl im Sinne von ‚bidialektal‘ zu verstehen. Unter dem Gesichtspunkt der „inneren Mehrsprachigkeit“ (verstanden als „hinreichend ausgeprägte – produktive und rezeptive – Kompetenz im Kommunikationsverhalten ‚innerhalb‘ eines diasystemisch interagierenden Gesamtkomplexes an natürlichsprachigen Varietäten“, GLAUNINGER 2010, 190, Anm. 2, also dem jedem Sprecher in seiner Sprache verfügbaren Variationsspektrum), müssen code-switchende Personen weder bidialektal noch bilingual sein, sondern können als monolinguale Sprecher/-innen mithilfe der ihnen verfügbaren Varietäten solche Wechsel vornehmen. 151 CHRISTEN et al. (2010, 52; Hervorhebung im Original gesperrt statt kursiv) bezeichnen die „Verwendung von Dialekt und Standardsprache [durch die von ihnen untersuchten Polizistinnen und Polizisten; S.O.] als eine spezielle Form von bilingual speech“ und untersuchen daher explizit auch Sprachkontaktphänomene in ihrem Korpus. 152 In der Vergangenheit wurde diese Art von Varietätenwechseln auch als code shifting, code fluctuation, style shifting bezeichnet (vgl. GIACALONE RAMAT 1995, 46). Der Terminus code shifting wird aber häufig(er) für das allmähliche Hinübergleiten „von standardnähere[n] zu dialektnähere[n] Sprechweise[n] (oder umgekehrt)“ (AUER 1986, 98), also für Sprachsituationen mit Dialekt-Standard-Kontinuum, verwendet. 153 Für einen Überblick über die verschiedenen Forschungsblickwinkel vgl. BULLOCK / TORIBIO (2009) (die Wechsel zwischen Dialekt und Standardsprache aber als monolingual style shifting bezeichnen) sowie GARDNER-CHLOROS (2009). Letztere betont ausserdem die Vorteile, die ein solcher Gesamtblick auf das Phänomen des CS mit sich bringt. 154 Vgl. z. B. MYERS-SCOTTON (1997). 155 Vgl. z. B. AUER (1998). 156 Vgl. z. B. FRANCESCHINI et al. (2004).
Code-Switching aus soziopragmatischer Sicht
141
diese Sichtweise auf Codewechsel besonders fruchtbar für die Analyse der Deutschschweizer Sprachrealität ist.157 4.2 CODE-SWITCHING AUS SOZIOPRAGMATISCHER SICHT Switchen Sprecher/-innen, tun sie dies häufig, um etwas zu kommunizieren, das „beyond the superficial meaning of their words“ (GARDNER-CHLOROS 2009, 4) liegt. In diesem Fall kommt dem CS eine funktionale Bedeutung zu. Die funktionale Bedeutung von CS ist mittlerweile allgemein anerkannt (vgl. LÜDI 2004, 345). GUMPERZ betont bereits 1982 die Bedeutung von CS als potentiellem Kontextualisierungshinweis und nennt mögliche Funktionen158, die mittels CS ausgedrückt werden. Solche Codewechsel bezeichnet er als conversational code-switching (GUMPERZ 1982, 59). Zu den gebräuchlichsten Funktionen von CS zählt er Zitate („direct quotations“ oder „reported speech“), Adressatenspezifikation, Interjektionen, Wiederholung (diese dienen häufig dazu, die Botschaft zu erweitern oder zu betonen), „message qualification“ sowie Personalisierung vs. Objektivierung (GUMPERZ 1982, 75–81). Inwiefern diese bereits anfangs Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts definierten Funktionen von CS auch in Deutschschweizer Gottesdiensten von Relevanz sind, wird in Kap. 8 gezeigt werden. Gemäss GUMPERZ (1982, 60) unterscheidet sich konversationelles CS „clearly […] both linguistically and socially from what has been characterized as diglossia in the sociolinguistic literature on bilingualism“. Sprecherinnen und Sprecher würden in einer Diglossiesituation zwar mehr als ein grammatisches System kennen, aber nur ein Code würde „at any one time“ benützt. Es gebe einige wenige Fälle von „situational alternation, where passages in the two varieties may follow one upon the other within a relatively brief timespan“, für ihn gehören solche Fälle aber nicht zum konversationellen CS, denn the alternation always corresponds to structurally identifiable stages or episodes of a speech event. […] There is a simple, almost one to one, relationship between language usage and social context, so that each variety can be seen as having a distinct place or function within the local speech repertoire. (GUMPERZ 1982, 61; Hervorhebung S.O.)
Interessanterweise erwähnt er die alte katholische Messe als solchen Fall von „situational alternation“, wo die lokalen Sprachen in die lateinische Messe „eingestreut“ wurden (GUMPERZ 1982, 60–61). Für ihn sind solche Wechsel zwischen lokaler Sprache und Latein also kein konversationelles CS, in der vorliegenden Studie werden sie aber als solche betrachtet. Ein äusserst anschlussfähiges Konzept für die Analyse von CS aus soziopragmatischer Perspektive stammt von AUER (1999). Von CS spricht AUER „in those cases in which the juxtaposition of two codes (languages) is perceived and interpreted as a locally meaningful event by participants“ (AUER 1999, 310; Hervor157 Dies stellten auch CHRISTEN et al. (2010, 54) in Bezug auf die Untersuchung von Polizeinotrufgesprächen in der Deutschschweiz fest. 158 GUMPERZ (1982, 81) weist darauf hin, dass diese Liste keinesfalls vollständig sei.
142
Code-Switching
hebung S.O.). Den Kontrast zwischen den beiden Varietäten können die Teilnehmer/-innen auf zwei Arten interpretieren: entweder als discourse-related switching, als diskursbezogenes CS, das heisst Aspekte der Situation selbst werden kontextualisiert, oder als participant-related switching, als teilnehmerbezogenes CS; in letzterem Fall werden gewisse Merkmale des code-switchenden Sprechers/der codeswitchenden Sprecherin kontextualisiert und divergierende Sprachpräferenzen und -kompetenzen abgedeckt (AUER 1999, 310).159 Von Interesse für die Analyse der Daten vorliegender Studie ist insbesondere das diskursbezogene CS, das eine Kontextualisierungsstrategie darstellt, mit der Sprecherinnen und Sprecher Bedeutung übermitteln. Diese [stilistischen und rhetorischen; S.O.] Effekte [, die durch das Wechseln zwischen Sprachen auf der Diskursebene entstehen; S.O.] sind möglich, weil die Sprecher den Kontrast zwischen einer Äußerung (oder Äußerungssequenz) in der einen und einer Äußerung (oder Äußerungssequenz) in der anderen Sprache160 geschickt als „Kontextualisierungshinweis“ (Gumperz 1982) einsetzen, der den Gesprächspartnern signalisiert, wie (in welchem Kontext) die so markierte sprachliche Handlung verstanden werden soll […]. (AUER 2009, 93)
Die Effekte des diskursbezogenen CS sind vielfältig: [Sie] reichen von im engeren Sinn interaktionsorganisierenden Veränderungen des „footing“ (Goffman)161 einer Interaktion – z. B. Adressatenwahl, Wechsel zwischen verschiedenen „Stimmen“ etwa bei der Anführung fremder Rede, Kohärenzherstellung, Markierung dispräferierter nächster Handlungen – bis zu feinen Bedeutungsnuancierungen, etwa einem Wechsel der Interaktionsmodalität (key) z. B. vom ernsthaften zum ironischen Sprechen, oder der Modalisierung z. B. mit dem Ziel der Subjektivierung oder Emphase. (AUER 2009, 93; Hervorhebung im Original)
PETKOVA (2016, 55–56) präsentiert eine Zusammenstellung von „Typen von kommunikativer Funktionalität“ von CS (mit entsprechenden Referenzen) und geht davon aus, dass die „Spannbreite der konkret vorkommenden CS-Funktionalität […] jeweils vom soziopragmatischen Kontext, von der Teilnehmerkonstellation, vom thematischen Spektrum etc.“ abhängt:
159 CHRISTEN et al. (2010, 54) verwenden den Terminus sowohl für „sprecher- wie auch adressatenbezogenes CS“. 160 AUER schreibt, dass „[d]iese Kompetenz des Kontextualisierens […] auch Monolingualen nicht fremd [ist], sie […] dazu jedoch andere Ressourcen ein[setzen]: zum Beispiel die Prosodie (Intonation, Rhythmus, Sprechgeschwindigkeit), den Wechsel zwischen verschiedenen Registern oder Varietäten (Dialekt/Standard) oder visuelle Verfahren (Körperorientierung, Gestik, Blickverhalten, Proxemik, etc.).“ (AUER 2009, 93; Hervorhebung S.O.) Ob er hier diese Wechsel zwischen verschiedenen Varietäten von monolingualen Sprecherinnen und Sprechern von der Definition von Code-Switching ausnimmt, wird aus dem Text nicht klar. 161 Vgl. zum Terminus footing GOFFMAN (1979, 5): „A change in footing implies a change in the alignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance. A change in our footing is another way of talking about a change in our frame for events.“
Code-Switching aus soziopragmatischer Sicht
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
143
CS zur Verstärkung einer Aussage CS zur Gliederung komplexer Redebeiträge CS zur Markierung von Zitaten CS zur Markierung von diskursbezogenen Elementen wie Diskurspartikel oder Interjektionen CS zur Personalisierung oder Objektivierung einer Aussage Antagonistisches CS CS zum Abrufen von gemeinsamen Wissensbeständen CS zum Anzeigen der Adressatenwahl CS zum Anzeigen eines Themenwechsels CS als Bestandteil von Sprachspiel CS als Verweis auf die authentische Form in der anderen Varietät CS für das „mot juste“ (Punktuelles) CS zur Verständigungssicherung CS zum Anzeigen der Verknüpfung zum Medium der Schriftlichkeit („[e]ine eher für die diglossische Situation der Deutschschweiz spezifische, doch darin sehr verbreitete Funktion“, PETKOVA 2016, 56)
Welche dieser kommunikativen Funktionen CS zwischen dem Dialekt und Standarddeutsch in der Schweiz erfüllen kann, wird im Folgenden gezeigt (Kap. 4.3). AUER (1999, 311) plädiert dafür, die syntaktische Position des diskursbezogenen CS innerhalb der Konversation für die Interpretation miteinzubeziehen, da es aus der Position im Satz seine Bedeutung erhält. Der prototypische Fall des diskursbezogenen CS erfüllt dabei folgende Bedingungen (AUER 1999, 311–312): a) Es kommt in einem soziolinguistischen Kontext vor, in dem sich die Sprecher/-innen klar in Richtung einer Präferenz für eine Sprache162 zu einem Zeitpunkt orientieren. b) Durch die Abweichung von dieser Sprache signalisiert CS die „Andersartigkeit“ des neuen kontextuellen Rahmes und zieht so einen Wechsel des footing nach sich (dessen genaue Interpretation von Fall zu Fall geschehen muss). c) Die Mechanismen, mit denen CS Bedeutung generiert, können in einer allgemeinen Weise beschrieben werden: Die Art und Weise, wie die interaktionalen Bedeutungen konstruiert werden, bleiben von einer Sprachgemeinschaft zur anderen konstant. d) CS kann einen persönlichen oder einen Gruppenstil darstellen; wenn es ein Gruppenstil ist, wird der Gebrauch des CS normativen, in der Sprachgemeinschaft gültigen Beschränkungen unterworfen sein. Das CS stellt aber keine eigene Varietät dar. e) Die meisten CS kommen an grösseren syntaktischen und prosodischen Grenzen (d. h. „at clause or sentence level“, AUER 1999, 312) vor. 162 AUER (1999, 312) spricht hier von „language“; für jede Verwendung von „Sprache“ in diesem Abschnitt kann „/Varietät“ ergänzt werden, da dies alles auch für Wechsel zwischen verschiedenen Varietäten gilt.
144
Code-Switching
f) Das gleich gute Beherrschen der beiden in das CS involvierten Sprachen ist keine notwendige Voraussetzung für CS. (vgl. AUER 1999, 311–312 und 2011, 467) Neben der pragmatischen Unterscheidung von diskurs- und teilnehmerbezogenem CS stellt AUER eine weitere Dichotomie auf, nämlich die zwischen „alternationalem“ und „insertionalem“ CS (AUER 1999, 313–314): Beim ersten Typ ist die Rückkehr in die vor dem Switching verwendete Sprache nicht voraussagbar. Beim zweiten Typ ist das hingegen möglich. Ein insertionales CS wird gemäss AUER durch ein Inhaltswort (Nomen, Verb, selten Adjektiv oder Adverb) aus einer Sprache, das in die Umgebung einer anderen Sprache eingefügt wird, vollzogen. Dabei ist es für die kommunikative Funktion des CS irrelevant, ob die Insertion auf morphosyntaktischer Ebene vollständig („nahtlos“) in die Umgebungssprache integriert ist oder Elemente aus der zweiten Sprache in die Umgebungssprache hineinträgt (vgl. AUER 1999, 314). Diese Unterscheidung zwischen alternationalem und insertionalem CS scheint aus Deutschschweizer Perspektive wenig fruchtbar zu sein. CHRISTEN et al. (2010, 55) weisen denn auch darauf hin, dass im Deutschschweizer Kontext ein alternationales CS mit einem dauerhaften Wechsel zu Standarddeutsch aus soziopragmatischen Gründen nicht möglich ist: „Die Rückkehr zur L_a [= die für die Interaktionsepisode etablierte Varietät, also der Dialekt; S.O.] ist hier durch Sprachgebrauchskonvention vorgegeben.“ Es ist in alltäglichen Gesprächen unter autochthonen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern nicht möglich, dass ein CS zu einer „Neukonstituierung der Interaktionssprache“ führt. Hingegen sind solche Codewechsel durchaus Teil des im Folgenden untersuchten Sprachmaterials aus Gottesdiensten, wo aber das Verwenden des Standarddeutschen anderen soziopragmatischen Regeln unterliegt als im normalen sprachlichen Alltag der Deutschschweizer Bevölkerung. In Bezug auf die Schweiz gilt im Zusammenhang mit der theoretischen Fundierung von CS zu bedenken, was CHRISTEN et al. 2010 festgehalten haben: [E]in Grossteil der Forschungsarbeiten [beruht; S.O.] auf Datenmaterial […], bei dem zwischen den untersuchten Sprachen grosse strukturelle Distanz besteht. Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass Dialekte gleichermassen als Codes im Sinne von CS fungieren können […], muss bei der Auseinandersetzung mit der theoretischen Beschreibung von CS dieser Tatsache Rechnung getragen werden, insbesondere weil bei geringer struktureller Distanz auch eher damit zu rechnen ist, dass ambige Formen vorkommen, die aus struktureller Perspektive zu beiden Varietäten gehören und meist nur aus emischer Perspektive überhaupt auseinandergehalten werden können […]. (CHRISTEN et al. 2010, 56)163
Nichtsdestotrotz können die vorangehenden theoretischen Ausführungen zu CS als Grundlage für die vorliegende Untersuchung verwendet werden, wie im Folgenden gezeigt wird.
163 Vgl. auch Kap. 2.3 zu den im Zitat angesprochenen ambigen Formen.
Code-Switching als stilistisches Mittel in der Deutschschweiz
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4.3 CODE-SWITCHING ALS STILISTISCHES MITTEL IN DER DEUTSCHSCHWEIZ Das diskursbezogene Code-Switching soll nun mit Blick auf die Deutschschweiz betrachtet werden. Dieses stellt eine stilistische bzw. pragmatische Ressource im Deutschschweizer Alltag dar. Im Folgenden wird am Beispiel der Studie von CHRISTEN et al. (2010) sowie am Rande jener von STEINER (2008) aufgezeigt, welche Funktionen CS zwischen Dialekt und Standarddeutsch in der Deutschschweiz übernehmen kann. Bei autochthonen Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprechern muss zwischen Wechseln mit pragmatischer und solchen ohne pragmatische Bedeutung unterschieden werden, wie CHRISTEN et al. (2010) zeigen (vgl. Abb. 3).164 Beim diskursbezogenen insertionalen CS können verschiedene Funktionen unterschieden werden, je nachdem welche „sozialsymbolischen Bedeutungskomponenten, die mit der Standardsprache verbunden sind, durch den Wechsel aktualisiert werden“ (CHRISTEN et al. 2010, 94).
Abb. 3: Tabelle mit verschiedenen Nutzungskontexten von Standarddeutsch im Gespräch zwischen autochthonen Deutschschweizer/-innen aus CHRISTEN et al. (2010, 95)
Hat ein Codewechsel eine pragmatische Bedeutung, ist diese nicht immer gleich gewichtig: Es hängt vom sozialsymbolischen Wert, der für das Standarddeutsche in der jeweiligen CS-Situation aktiviert wird, ab, wie gross das pragmatische Gewicht
164 Die Untersuchung basiert auf Daten von Polizist/-innen und Anrufenden auf der Notrufnummer der Polizei.
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Code-Switching
des Wechsels ist. Die mit dem CS ausgedrückte Funktion ist dabei sehr unterschiedlich und muss aus dem jeweiligen Kontext abgeleitet werden.165 4.3.1 Code-Switching mit pragmatischer Bedeutung Wenn einem Wechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche „von den Gesprächsteilnehmenden Bedeutung zugeschrieben“ wird, ist er „damit als Codeswitching zu betrachten“ (CHRISTEN et al. 2010, 96). Solche Wechsel dienen als „Kontextualisierungshinweis, der in der kommunikativen Episode nach einer Interpretation verlangt“. Diese ist „unabdingbar“ (CHRISTEN et al. 2010, 96). Um eine solche Interpretation des Kontextualisierungshinweises durch CS vorzunehmen, ist ein Blick auf die „Eigenschaften der Standardsprache“ im spezifischen Fall der Deutschschweiz notwendig, denn es sind diese Eigenschaften, die das Kontextualisierungspotential eines Varietätenwechsels erst aufzeigen (CHRISTEN et al. 2010, 96). CHRISTEN et al. nennen drei solche Eigenschaften: 1. Die Standardsprache ist in Alltagsgesprächen zwischen Autochthonen die unzulässige Sprachform. […] 2. Die Standardsprache ist die kodifizierte Referenzgrösse des Deutschen und ihr kommt aus diesem Grund eine soziopragmatisch herausragende Rolle zu, die sie zur Sprachform der Schriftlichkeit und der Offizialität macht. […] 3. Die Standardsprache ist die authentische Sprachform vieler L1- und L2-Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen und sie wird in der Schriftlichkeit sowie in vielen Situationen gesprochensprachlich verwendet. […] (CHRISTEN et al. 2010, 96)
Die erste Eigenschaft führt dazu, dass ein Wechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche „qua Abweichung eine Bedeutung [hat], die aber selbst nicht aus Eigenheiten der Standardsprache extrahiert werden kann“. Die Bedeutung eines solchen CS 165 Die bisherigen und folgenden Ausführungen betreffen Code-Switchings in Gesprächen zwischen autochthonen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern. CHRISTEN et al. (2010, 98–136) zeigen, dass beim Kontakt mit allochthonen Anrufenden diskursbezogenes insertionales CS vom Dialekt ins Standarddeutsche, gleichzeitig aber auch teilnehmer- und diskursbezogenes CS von Standarddeutsch in Richtung Dialekt vorkommt. Zusätzlich treten Codemixing-Phänomene auf. Eine ausführliche Darstellung eines bisher nicht untersuchten Code-Switching-Phänomens, das in Gesprächen zwischen autochthonen und allochthonen Personen in der Deutschschweiz vorkommt, nimmt PETKOVA (2016) vor: Es handelt sich dabei um „multiples Code-Switching“, ein „häufiges Hin und Her zwischen den Varietäten“ (PETKOVA 2016, 313) von autochthonen Sprecherinnen und Sprechern im Kontakt mit Allochthonen, die „eine standardnahe Varietät sprechen“ (PETKOVA 2016, 2): „Dabei ist oft eine Matrixsprache zu erkennen, zuweilen findet sich aber auch alternationales CS, bei dem das Abwechseln zwischen den Varietäten in den Vordergrund tritt. In beiden Fällen weicht die Sprachform deutlich vom gewohnten Deutschschweizer Sprachgebrauch ab. Das CS verbindet verschiedene Dimensionen der kommunikativen Funktionalität miteinander, wobei die beiden Typen des teilnehmerinduzierten und des diskursinduzierten CS vertreten sind.“ Dieses multiple CS ist aber „keine feste Sprachform“, sondern „Bestandteil einer sprachlichen Strategie“ und kommt nur bei gewissen Sprechern in den untersuchten Korpora vor. Es ist „in der Sprachgemeinschaft kaum in grossem Umfang verbreitet“ (PETKOVA 2016, 315).
Code-Switching als stilistisches Mittel in der Deutschschweiz
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muss also „lokal […] ermittelt werden“, da sie „‚nicht varietäts-inhärent‘“ ist und somit „nicht aus soziolinguistischen Eigenschaften der Standardsprache ermittelt werden“ kann (CHRISTEN et al. 2010, 96). Die zweite Eigenschaft stellt einen Codewechsel in Richtung Standarddeutsch „in einen Zusammenhang mit unterschiedlichen Dimensionen der Schriftlichkeit“. Im Gegensatz zur ersten Eigenschaft ist diese zweite Eigenschaft also „‚varietätsinhärent‘“, die Bedeutung eines solchen Wechsels „erwächst [also; S.O.] aus soziolinguistischen Eigenschaften der Standardsprache“ (CHRISTEN et al. 2010, 96). Mithilfe der dritten Eigenschaft kann ein CS ins Standarddeutsche auf „ein tatsächliches oder bloss vorgegebenes mündliches oder schriftliches sprachliches Original“ weisen. Somit dient die Standardvarietät hier „als authentische Form“, ihr kommt „nicht eine eigentliche Bedeutung zu“ (CHRISTEN et al. 2010, 96). CHRISTEN et al. weisen unter dem Punkt „Pragmatisches Gewicht des Sprachformenwechsels“ darauf hin, dass der „interpretative Aufwand“ für die Bedeutung von CS „unter der Bedingung (1)“ möglicherweise grösser ist, da die Bedeutung „nicht prognostizierbar“ ist. Ein solcher Code-Wechsel entspricht nicht den „erwartbaren Bedeutungen“, die jene sind, die oben unter den Punkten 2) und 3) aufgeführt wurden, in denen „jene kollektiven sozialsymbolischen Bedeutungen der Standardsprache aktiviert werden, die aus ihrem Gebrauch und ihrem Status in der Deutschschweiz resultieren“. Dadurch wird zwar der Interpretationsaufwand für Wechsel unter der ersten Bedingung möglicherweise grösser, gleichzeitig sind solche Wechsel aber „auffälliger“ als diejenigen mit „erwartbaren Bedeutungen“ (CHRISTEN et al. 2010, 96–97). 4.3.2 Code-Switching ohne pragmatische Bedeutung Neben den erwähnten Wechseln mit pragmatischer Bedeutung, die als CS betrachtet werden können, kommen in der Studie von CHRISTEN et al. auch Wechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche ohne pragmatische Bedeutung vor. Solchen Wechseln in die Standardsprache wird von den Gesprächsteilnehmenden keine Bedeutung zugeschrieben, sondern die standardsprachlichen Realisierungen sind Bestandteil der dialektalen Sprachform, zu denen es u. U. keine Alternativen (mehr) gibt, sodass vereinzelt von Entlehnungen gesprochen werden kann. (CHRISTEN et al. 2010, 97)
Solche Wechsel, die eine pragmatische Bedeutung vermissen lassen, beinhalten gemäss CHRISTEN et al. (2010, 97) folgendes standardsprachliches Material: 1. Standardsprachliche Grössen, die für häufig wiederkehrende Funktionen wie die Gesprächssteuerung oder als Ritualia verwendet werden, können sich in dieser Realisierungsform durchsetzen, verlieren dadurch ihr pragmatisches Potential und werden von der Sprechergemeinschaft nicht (mehr) als formal abweichende Grössen wahrgenommen. 2. Die standardsprachlichen Realisierungen von Namen und Termini können zur üblichen Aussprache (‚nach der Schrift‘) werden, zu der es keine dialektalen Pendants (mehr) gibt.
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Code-Switching 3. Die standardsprachlichen Realisierungen von Namen und Termini können als ‚richtige‘ Realisierungen empfunden werden, weil deren schriftliche Fixierungen als die juristisch verbindlichen Formen gelten, denen man mit ‚Originallautung‘ Rechnung trägt.
4.3.3 Code-Switching als erweiterte stilistische Ressource CHRISTEN et al. (2010, 97) halten fest, dass „bei der Verwendung der Standardsprache in Gesprächen unter Autochthonen ein breites Spektrum an Formen und Funktionen anzutreffen ist“. Sie beobachten eine „erhebliche Flexibilität im Gebrauch“, so können einerseits „die gleichen Formen […] verschiedene Funktionen erfüllen“, andererseits kann „die gleiche Funktion […] durch verschiedene Formen realisiert werden“. Dabei kann „das pragmatische Gewicht der einzelnen Varietätenwechsel […] unterschiedlich stark ausgeprägt sein“: Es reicht von der „Funktion einer Entlehnung oder eines nonce borrowin g 166“ über „Insertionen, die zwar auf eine eher ausgeprägte interaktionale Wirkung abzielen, durch ihre Frequenz aber an Markiertheit eingebüsst haben“ bis hin zu „eine[r] breite[n] Palette von Kontextualisierungshinweisen“ (CHRISTEN et al. 2010, 97), die mit diesen standardsprachlichen Insertionen gesetzt werden können: [S]o kann z. B. impliziertes Wissen oder zusätzliche Information übertragen, dem Gesagten ein grösseres Gewicht verliehen, ein Spiel mit sozialen Rollen betrieben oder das gruppeninterne Solidaritätsgefühl gestärkt werden. (CHRISTEN et al. 2010, 97)
Neben diesen Funktionen kann ein Wechsel zum Standarddeutschen auch „als effizientes Mittel zur Gesprächsorganisation“ genutzt werden (CHRISTEN et al. 2010, 97). Ganz allgemein stellt das CS in die Standardsprache „eine erweiterte stilistische Ressource“ dar (CHRISTEN et al. 2010, 97). CHRISTEN et al. (2010) weisen darauf hin, dass Standarddeutsch aber die primäre Varietät der Schriftlichkeit [bleibt], was an der grossen Anzahl Verwendungen sichtbar wird, die den Schnittpunkt zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit markieren. Auch die Tatsache, dass die Standardsprache gebraucht werden kann, um Offizialität und Authentizität anzuzeigen oder zu simulieren, zeugt von ihrer weiter bestehenden Bindung an das Medium der Schriftlichkeit. (CHRISTEN et al. 2010, 97–98)
Gerade diese Tatsache machen sich die Pfarrpersonen in der vorliegenden Untersuchung zunutze, wie in Kap. 8 klar wird. Neben den von CHRISTEN et al. geschilderten CS vom Dialekt ins Standarddeutsche im Dialektkontext – dem „normalen“ mündlichen Kommunikationskon166 Unter nonce borrowing sind Ad-hoc-Entlehnungen zu verstehen, die die morphologische, syntaktische und allenfalls auch phonologische Gestalt der Empfängervarietät annehmen, aber noch keine etablierten Lehnwörter darstellen (vgl. POPLACK 2004, 590). PETKOVA (2012a, 4) weist darauf hin, dass nonce borrowings aus einer anderen Sicht auch „Formen von insertionalem CS dar[stellen] (i.e. das Einfügen von kleineren Einheiten aus einer Varietät B in ein Syntagma der Varietät A), bei dem die formale Integration der eingefügten Lexeme besonders ausgeprägt ist“.
Code-Switching als stilistisches Mittel in der Deutschschweiz
149
text der Deutschschweiz – können in Kontexten des adressaten- und situationsinduzierten Standardgebrauchs (vgl. Kap. 2.2.2) Wechsel vom Standarddeutschen in den Dialekt vorkommen. Diese können ebenso pragmatische Bedeutung haben wie Erstere und somit funktional eingesetzt werden. Für Wechsel vom Dialekt zu Standarddeutsch listen CHRISTEN et al. (2010) folgende möglichen Funktionen167 auf (vgl. Abb. 3): – – – – – – – – – – – –
Diktieren Aufschreiben Vorlesen Propria erkennbar machen Herausheben Gewicht verleihen Gespräche steuern Auf geteilte Wissensbestände anspielen Spielen Zitieren/Pseudozitieren aus der Schriftlichkeit Zitieren/Pseudozitieren aus der Mündlichkeit Crossing
Für den spezifischen Fall von situationsinduziertem Standardgebrauch im Schulunterricht168 führen KROPF (1986) und STEINER (2008) verschiedene Funktionen der CS in den Dialekt auf. Es sind dies gemäss STEINER (2008, 210–223)169 im Sprachgebrauch von Lehrpersonen170 folgende:
167 Eine Zusammenstellung von Ergebnissen früherer Studien bezüglich Funktionen von CodeSwitching in der Deutschschweiz leistet PETKOVA (2016, 83–84). 168 Die Thematik des funktionalen CS ist keinesfalls auf die Deutschschweiz beschränkt. Auf die Funktionalität von Sprachvariation im Schulunterricht geht auch KNÖBL (2012) am Beispiel einer mittelschwäbischen Schulklasse ein. 169 KROPF (1986, 150–287) unterscheidet bei Lehrpersonen „Veranschaulichungsfunktion“, „Aktivierungsfunktion“, „Bagatellisierungsfunktion“, „Abschwächungsfunktion“, „Einverständnis- und Zuwendungsfunktion“, „Diskriminierungsfunktion“ sowie „Verständnissicherungsfunktion“. Bei den Schülern unterscheidet er Funktionen, die „eher konformes Rollenverhalten begleiten“ (KROPF 1986, 211) („Annäherungsfunktion“, „Verständnissicherungsfunktion“, „Einverständnisfunktion“, „Veranschaulichungs- und Präzisierungsfunktion“, „‚Hilfe!‘-Funktion“- sowie „Bagatellisierungsfunktion“), solche, die „sowohl konformes als auch obstruktives Rollenverhalten begleiten können“ (KROPF 1986, 253) („Intensivierungsfunktion“, „Einbezugsfunktion“ sowie „Rückzugsfunktion“), und Funktionen, „die eher obstruktives Rollenverhalten begleiten“ (KROPF 1986, 211) („Absagefunktion“, „Protestfunktion“ sowie „Sabotagefunktion“). 170 Für Schülerinnen und Schüler listet STEINER folgende Funktionen auf: „Veranschaulichungsfunktion“, „Einverständnisfunktion“, „Verständnissicherungsfunktion“, „‚Hilfe!‘“-Funktion, „Intensivierungsfunktion“, „Einbezugsfunktion“, „Rückzugsfunktion“, „Korrektur- und Widerspruchsfunktion, Rechtsfertigungs- oder Entschuldigungsfunktion (STEINER 2008, 223– 238). Für die Funktionen der Code-Switchings der Schüler bei KROPF (1986) vgl. Fussnote 169.
150 – – – – –
Code-Switching
Start- und Schlusssignalfunktion Veranschaulichungsfunktion Einverständnisfunktion Disziplinierungsfunktion Verständnissicherungsfunktion 4.4 BEDEUTUNG VON CODE-SWITCHING FÜR DIE VORLIEGENDE STUDIE
Code-Switching stellt also eine erweiterte kommunikative Ressource dar, die auch von den Pfarrpersonen in der vorliegenden Studie genutzt wird. Für die Analyse der Daten werden die von CHRISTEN et al. (2010) identifizierten Funktionen (vgl. Kap. 4.3.3) als Vergleichsbasis hinzugezogen: Diese Auflistung erweist sich als besonders wertvoll, wird doch in der Studie von CHRISTEN et al. u. a. die alltägliche Kommunikationssituation in der Deutschschweiz – der Dialektgebrauch unter Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern – in den Fokus gerückt. Bei diesem treten dann Abweichungen vom zu erwartenden Sprachgebrauch auf: Ein Deutschschweizer kommuniziert mit einem Deutschschweizer und wechselt dabei – unerwartet? – ins Standarddeutsche. Wenn in Kap. 8 der Sprachgebrauch von Deutschschweizer Pfarrpersonen untersucht wird, wird eine funktionale Kategorisierung für die diskursinduzierten Code-Switchings vorgenommen. Die aus den Varietätenwechseln im Gottesdienst erschlossenen Funktionen werden mit der funktionalen Einteilung von CS von CHRISTEN et al. verglichen. So kann überprüft werden, ob die von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern in alltäglichen Kommunikationssituationen gewählten Kontextualisierungsstrategien mittels CS auch von Pfarrpersonen benutzt werden (können). Da aber der Gottesdienst wie der Schulunterricht auch einen Kontext für situationsinduzierten Standardgebrauch darstellt, ist zudem der Blick auf mögliche Funktionen der Wechsel von Standarddeutsch in den Dialekt lohnend. Dabei kann die Klassifizierung von STEINER bzw. KROPF zwar einen ersten Anhaltspunkt bieten, aber sie darf aufgrund der spezifischen Situation „Unterricht“ nicht eins zu eins für die Kommunikationssituation „Gottesdienst“ übernommen werden: Nur wenige Funktionen (wie diejenige des Start- und Schlusssignals) sind auch für den Gottesdienst relevant, viele sind hingegen nicht übertragbar; dafür kommen andere, neue hinzu. Im Folgenden werden also CS in beide Richtungen in den Blick genommen, und es wird der Versuch gestartet, mögliche Funktionen solcher Varietätenwechsel unter Bezugnahme der soeben erwähnten bereits bestehenden Einteilungen zu klassifizieren. Interessant ist dabei für den spezifischen Fall der gottesdienstlichen Kommunikation, dass bei autochthonen Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprechern CS in beide Richtungen vorkommen. Inwiefern Pfarrpersonen in der Deutschschweiz Varietätenwechsel in ihren Gottesdiensten vornehmen und diese funktional einsetzen, wird in Kap. 8 untersucht.
5 SPRACHEINSTELLUNGEN Im vorangehenden Kapitel wurde der theoretische Rahmen für die Untersuchung des Sprachgebrauchs von Pfarrpersonen, also von objektiven Daten, abgesteckt. In diesem Kapitel soll dasselbe nun für die Analyse von subjektiven Daten, von Spracheinstellungen, geschehen. Lange Zeit wurden in der Sprachwissenschaft nur objektive Daten als valide Daten betrachtet; subjektive Daten werden erst in jüngerer Zeit als gleichwertige Datenkategorie behandelt. Vor rund 30 Jahren forderte BESCH zwar bereits, dass die Wissenschaft „nicht nur die Sprache selbst, sondern auch die Spracherfahrungen einzelner oder von Gruppen zur Kenntnis“ nehme (BESCH 1983, 9). NEULAND stellte jedoch zehn Jahre später fest, dass „die Beschäftigung mit ‚subjektiven‘ Sprachdaten auch heute noch nicht zu den Selbstverständlichkeiten sprachwissenschaftlicher Forschung gehört“ (NEULAND 1993, 723; Hervorhebung im Original). Seither hat aber eine bedeutende Veränderung stattgefunden und seit den späten 2000er-Jahren kann BESCHS Forderung als weitgehend erfüllt betrachtet werden.171 In diesem Kapitel wird zuerst auf die theoretischen Grundlagen von Einstellungen – insbesondere Spracheinstellungen – eingegangen. Nach allgemeinen Begriffsdefinitionen werden ausgewählte Einstellungsmodelle thematisiert. Anschliessend wird auf die bisherige Spracheinstellungsforschung in der Deutschschweiz Bezug genommen und aufgezeigt, welche Einstellungen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer in Untersuchungen zu den Varietäten des Deutschen geäussert haben. Abschliessend soll ein Ansatz diskutiert werden, mit dem mögliche Widersprüchlichkeiten bei der Erhebung von Spracheinstellungen zu Standarddeutsch in der Deutschschweiz besser als bis anhin erklärt werden können. 5.1 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Im Folgenden wird der Begriff „Einstellung“ definiert. Anschliessend wird thematisiert, welche Zusammenhänge zwischen einzelnen Einstellungskomponenten bestehen, welche Funktionen Einstellungen für Menschen erfüllen und welche Voraussagekraft sie für künftiges Verhalten haben. In der Folge wird aufgezeigt, warum ein kontextsensitives Einstellungsmodell für die Erforschung von Spracheinstellungen vielversprechender ist als ein statisches Einstellungsmodell. Abschliessend soll auf den Begriff des Stereotyps eingegangen werden, der bei der Erforschung von Einstellungen eine zentrale Rolle spielt. 171 Vgl. Fussnote 60 (Kap. 2.4.3). Einen geschichtlichen Überblick über die junge Disziplin der Laienlinguistik und einen Einblick in „anfängliche Einwände“ bietet CUONZ (2014, 9–15).
152
Spracheinstellungen
5.1.1 Definition des Terminus Einstellung (engl. attitude) Die Erforschung von Einstellungen hat in der Sozialpsychologie172 eine lange Tradition, sie ist „ein zentraler Bereich“ dieser Disziplin (HADDOCK / MAIO 2014, 198). Der Begriff „Einstellung“ (im Englischen als attitude173 bezeichnet) wird in der Sozialpsychologie (beispielsweise) als „Gesamtbewertung eines Stimulusobjekts“ definiert (HADDOCK / MAIO 2014, 198). Wenn eine Einstellung geäussert wird, beinhaltet dies also ein „wertendes Urteil über ein Stimulusobjekt“ (HADDOCK / MAIO 2014). Etwas ausführlicher ist die Definition von HARTUNG (2010, 61): Einstellungen […] sind nicht direkt beobachtbar, sondern werden aus dem Verhalten (physiologischen Reaktionen, verbalen Äußerungen, Verhaltensabsichten und beobachtbarem Verhalten) erschlossen. Sie stellen reaktiv überdauernde, positive oder negative Bewertungen gegenüber einem Einstellungsobjekt (Personen, Gruppen, Situationen, Ideen, Normen, Gegenstände, Produkte u. a.) dar und nehmen potenziell Einfluss auf das Verhalten einer Person.
Auch in der Soziolinguistik sind Einstellungen ein Kernkonzept (vgl. GARRETT 2010, 19).174 Als Stimulusobjekt in der (Sozio-)Linguistik fungieren sowohl Sprachen und Varietäten wie auch die Sprecherinnen und Sprecher dieser Sprachen bzw. Varietäten und das Sprachverhalten der Sprecher/-innen. GARRETT (2010, 19) weist darauf hin, dass das Konzept attitude schwierig zu definieren sei: „Definitions vary in their degree of elaboration and in the weighting given to different features of attitudes“. Für LENZ (2003, 263) sind Einstellungen „Meinungen und Wertungen […], die […] Kompositionen aus kognitiven, evaluativen und konativen Elementen darstellen und als latente Verhaltensdispositionen interpretiert werden“.175 Sie nimmt damit direkt Bezug auf das sogenannte „Dreikomponentenmodell“, das auf ROSENBERG und HOVLAND zurückgeht und als „eines der einflussreichsten Einstellungsmodelle“ gelten kann (HADDOCK / MAIO 2014, 199). In diesem Modell176 bestehen Einstellungen aus drei verschiedenen Komponenten177: einer „kognitiven“, einer „affektiven“ (auch „evaluativ“ genannten) sowie einer „konativen“ (auch 172 „Eine speziell auf Sprache und Spracheinstellungen gerichtete Forschung gibt es in der Sozialpsychologie erst seit kurzem. Zwar haben sich unterschiedliche Bereiche der Sozialpsychologie schon viel früher indirekt mit sprachlichen Phänomene[n] beschäftigt, ihre eigentliche Bedeutung ist jedoch erst in den letzten 15 Jahren wirklich deutlich geworden.“ (CASPER 2002, 17). CASPER weist zudem darauf hin, dass sich die Sozialpsychologie „eher auf die sozialen Funktionen von Spracheinstellungen“ konzentriert, während die Soziolinguistik „in erster Linie an dem Einfluss von Spracheinstellungen auf Status, Funktion und Gebrauch von Sprachvarietäten und auf das Sprachverhalten interessiert“ ist (CASPER 2002, 19). 173 Zu den Unterschieden zwischen attitudes, habits, values, beliefs und opinions sowie social stereotypes und ideology vgl. GARRETT (2010, 31–35). 174 Dies ist seit LABOVS Arbeit über soziale Schichtung von Sprachgemeinschaften im Jahr 1966 der Fall (vgl. GARRETT 2010, 19). 175 Für weitere linguistische Definitionen vgl. z. B. CASPER (2002, 47–51). 176 Zum Vergleich von Einkomponenten- vs. Dreikomponentenmodell vgl. CASPER (2002, 28– 36). 177 GARRETT (2010, 23) weist darauf hin, dass neuere Studien davor warnen, die drei Komponenten mit den Einstellungen selbst gleichzusetzen: „Cognition, affect and behaviour can instead be seen more in terms of causes and triggers of attitudes.“
Theoretische Grundlagen
153
„verhaltensbezogen“ genannten) Komponente. Die kognitive Komponente von Einstellungen enthält „Überzeugungen, Gedanken und Eigenschaften“, die mit dem betreffenden Objekt assoziiert werden (HADDOCK / MAIO 2014, 200), also das „Wissen über das betreffende Objekt“ (LENZ 2003, 263). Die affektiv-evaluative Komponente enthält „die mit einem Einstellungsobjekt verbundenen Gefühle oder Emotionen“ (HADDOCK / MAIO 2014, 201). Mit diesen werden „die kognitiven Überzeugungen belegt“ (LENZ 2003, 264). Die Verhaltenskomponente, die konative Komponente, betrifft die „predisposition to act in certain ways“ (GARRETT 2010, 23). Werden konative Einstellungen geäussert, „kommen potentielle Handlungsintentionen zum Ausdruck“ (LENZ 2003, 264).178 Diese sind nicht zwingend konsistent mit den kognitiven und affektiven Beurteilungen (vgl. GARRETT 2010, 23). 5.1.2 Zum Wesen von Einstellungen In der Theorie lassen sich Einstellungen also in drei verschiedene Komponenten aufschlüsseln, jedoch sind sie in der (Forschungs-)Praxis selten strikt zu trennen (vgl. LENZ 2003, 264).179 Zudem ist es schwierig, die Art der Vernetzung der Komponenten untereinander zu bestimmen. So wurde sowohl in der Sozialpsychologie wie auch der Linguistik nach einem Kausalzusammenhang zwischen Einstellungen und Verhalten gesucht (vgl. LENZ 2003, 264): Dieser liess sich aber nicht immer in der gewünschten Form bestätigen180, was zu Forderungen führte, der Interpretation von Einstellungen mehr eigenständiges Gewicht zuzurechnen und Einstellungen als „Explanandum sui generis“ zu behandeln, denen eine „eigene gleichberechtigte Wertigkeit neben objektivem Datenmaterial“ zuteil wird (LENZ 2003, 265).181 178 In der Sozialpsychologie wird die Definition etwas weiter gefasst: So definieren HADDOCK / MAIO (2014, 204) die dritte Komponente als „[f]rühere (sowie gegenwärtige und antizipierte) Verhaltensweisen, die mit einem Einstellungsobjekt verbunden sind“. Gemäss HARTUNG (2010, 62) umfasst „die Verhaltenskomponente […] sowohl offen gezeigtes Verhalten als auch die Absicht, sich in bestimmter Weise gegenüber dem Einstellungsobjekt zu verhalten“ [Hervorhebung im Original]. 179 Das Problem der „eindeutige[n] Trennung“ von kognitiven und konativen Items sowie von kognitiver und affektiver Komponente erwähnt auch CASPER (2002, 30–31). CUONZ (2014, 34; Hervorhebung im Original) geht davon aus, dass sich „[e]ine Einstellung […] also nicht einfach aus den Elementen Affekt, Belief und Verhalten zusammen[setzt], sondern […] eine separate Entität [ist], die aus diesen Elementen gespeist wird und diese im Gegenzug ebenfalls speist“. 180 Vgl. zu dieser Frage auch GARRETT (2010, 24–29). Zum gleichen Schluss kommt auch HARTUNG (2010, 62): „Nun zeigen Forschungsergebnisse und Alltagserfahrungen, dass der Zusammenhang zwischen Einstellungen, Überzeugungen und Verhalten nicht so stark ist, wie man intuitiv annehmen möchte.“ 181 Diese „Autonomisierung“ (HOFER 2004, 226) der Einstellungsforschung und der Wertigkeit subjektiver Daten hat in der germanistischen Linguistik spätestens im vergangenen Jahrzehnt den Durchbruch geschafft. Neben Studien (vgl. z. B. LENZ 2003, CUONZ 2014, STUDLER in Vorb.), die explizit Spracheinstellungen als eigenständige Datenkategorie betrachten und ihre Validität als solche darstellen, tragen auch Untersuchungen im Bereich der Perzeptionslinguistik (engl. perceptual dialectology bzw. folk linguistics, ein Terminus, der neben der
154
Spracheinstellungen
Einstellungen werden im Rahmen der Sozialisation erlernt: Die Quellen für den Erwerb sind insbesondere eigene Erfahrungen sowie das soziale Umfeld (einschliesslich der Medien, vgl. GARRETT 2010, 22).182 Einstellungen helfen Menschen dabei, sich in ihrer komplexen Umwelt zu orientieren. Sie ermöglichen Menschen, neuen Informationen und Anforderungen zu begegnen, diese „einzuordnen, zu interpretieren, Schlussfolgerungen für das eigene Handeln abzuleiten sowie eigene Werte und Anliegen zum Ausdruck zu bringen und zu verfolgen“ (HARTUNG 2010, 64). Dabei erfüllen gerade „grundlegende“ Einstellungen auch eine identitätsbildende Funktion in zweifacher Weise: Sie „tragen zum Gefühl der eigenen Identität sowie zur Verbundenheit mit einer Gruppe bei“ (HARTUNG 2010, 64), mit der man ähnliche Einstellungen teilt. Zu solchen Einstellungen können auch Spracheinstellungen gezählt werden. Einmal erworbene bzw. erlernte Einstellungen sind zwar tendenziell stabil, aber nicht statisch: Sie können sich potentiell verändern (vgl. HARTUNG 2010, 63). Einstellungen, die auf eigener Erfahrung gründen, sind dabei stabiler, änderungsresistenter und verhaltenswirksamer als solche, die durch soziale Vermittlung entstanden sind (vgl. HARTUNG 2010, 64). Dabei sind insbesondere frühe Erfahrungen für „spätere Weiterentwicklungen und Modifikationen von Einstellungen“ entscheidend (LENZ 2003, 266).183 Gerade für Einstellungen gegenüber Sprache muss die mögliche Dynamik berücksichtigt werden. Hier lässt sich denn auch ein Paradigmenwechsel innerhalb der linguistischen Einstellungsforschung feststellen: In der neueren Forschung werden „Spracheinstellungen […] nicht mehr als statisch, sondern als dynamisch und im sozialen und kommunikativen Kontext generiert verstanden“ (STUDLER 2013, 203). Neben der möglichen Dynamik von Spracheinstellungen ist ihre Kontextabhängigkeit von enormer Wichtigkeit: „Einstellungen sind Konstrukte, die in Abhängigkeit von gesellschaftsbedingten, situationsspezifischen und interaktionellen Kontexten entstehen und modifiziert werden.“ (LENZ 2003, 266) Sie können also nicht als isolierte Kategorie verstanden werden. Einstellungen müssen dementsprechend erhoben und die erhobenen Daten auch kontextsensitiv interpretiert werden (vgl. LENZ 2003, 268). perceptual dialectology auch die Spracheinstellungsforschung miteinschliesst, vgl. PRESTON 2014), die im deutschsprachigen Sprachraum in den vergangenen Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erfährt, dazu bei (vgl. z. B. ANDERS 2010, ANDERS / HUNDT / LASCH 2010, PURSCHKE 2011, STOECKLE 2014). 182 GARRETT (2010, 23) betont die Rolle von Sprachkontroversen: „Language controversies […] also frequently surface in the media, and in so doing keep these issues on the public agenda, as a focal point for the shaping, reinforcement or change of attitudes.“ Dies trifft insbesondere auch auf die Deutschschweiz zu, wo die Diskussionen um den Status von Dialekt und Standarddeutsch immer wieder und besonders auch in den letzten Jahren öffentlich geführt werden und wurden (vgl. Kap. 1.1). 183 LENZ (2003, 266) betont die Wichtigkeit „sprachbiographische[r] Ansätze“ für diesen Aspekt von Einstellungen: „Der Zusammenhang von (sprach)biographischen Erlebnissen und Einstellungs- und Sprachverhaltensmustern ist auch im Bewusstsein der Sprecher verankert und legt das Einbeziehen sprachlicher Lebensläufe in die Interpretation der Sprach- wie Einstellungsdaten nahe.“
Theoretische Grundlagen
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Für eine kontextsensitive Einstellungsforschung plädieren insbesondere auch TOPHINKE / ZIEGLER (2002, 2006, 2014); so kann die Einstellungsforschung sich nicht darauf beschränken, nur die Einstellungen selbst zu bestimmen, sondern soll vielmehr auch der „Genese und ihren sozialen Bedingungsfaktoren“ gewidmet sein (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 206). TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 210–211) betonen die Bedeutung der Interaktion für „die Verankerung von Spracheinstellungen im Selbstverständnis des Einzelnen“ einerseits, da „[n]ur solche Einstellungen, die auch auf positive Resonanz stoßen, […] zu Bestandteilen des Selbstverständnisses [werden].“ Andererseits entscheidet sich in der sozialen Interaktion „über Ablehnung und Zustimmung […], ob Einstellungen sich weitervermitteln, ob sie modifiziert werden oder ihre Relevanz verlieren.“ Deshalb ist [d]ie Interaktion […] letztlich auch der Ort der Genese neuer Einstellungen. Einstellungen, die sich in der Interaktion bewähren, setzen sich durch und werden zum Bestandteil des sozialen Wissens (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 211).
TOPHINKE / ZIEGLER schlagen ein „kontextsensitives Modell der Spracheinstellungen“ vor, in dem drei Kontexte von Spracheinstellungsäusserungen unterschieden werden: „Makro“-, „Meso“- und „Mikrokontext“ (vgl. TOPHINKE / ZIEGLER 2002 sowie weiterentwickelt TOPHINKE / ZIEGLER 2006). Der Makrokontext umfasst dabei „all die Sinn- und Ordnungsstrukturen, die zur Definition und Ausgestaltung einer konkreten sprachlich-kommunikativen Situation zur Verfügung stehen“ und wird durch den „spezifische[n] soziokulturelle[n] Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen ein sprachlich-kommunikatives Geschehen situiert ist“, gebildet (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 212). Im Makrokontext manifestiert sich die soziokulturelle Abhängigkeit von Spracheinstellungen (vgl. TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 220). In diesem Kontext ergibt sich das gemeinsame Alltagswissen einer Gesellschaft; dieses „[geht] in die Definitionen von sozialen Interaktionen ein[…] und [beeinflusst] diese maßgeblich“ (LENZ 2003, 267). LENZ (2003, 267) weist darauf hin, dass „[i]ntersubjektive Normen und Werte, die von der Gesellschaft vorgegeben und sanktioniert sind“, als „Orientierungsgrößen für das eigene Handeln und Denken“ dienen. Der Makrokontext darf nicht als statisches Konstrukt verstanden werden, denn die ihn bestimmenden Strukturen werden „im sozial-kommunikativen Geschehen dynamisch bearbeitet und verändert“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 212). Für Spracheinstellungsuntersuchungen in der Deutschschweiz ist hier also das Alltagswissen der Deutschschweizerinnen und -schweizer von Relevanz – und damit zusammenhängend auch das Wissen über die beiden dort verwendeten Varietäten des Deutschen und ihre (vermeintlichen) Rollen und Bedeutungen in der Sprachgemeinschaft. Unter Mesokontext von Einstellungsäusserungen verstehen TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 213) „[d]ie konkrete soziale Situation, die durch kontextualisierende Aktivitäten hergestellt wird und die als Interpretationsrahmen für die sprachlichen Äußerungen fungiert“. Dabei wird auf „Situationsmodelle“ zurückgegriffen, die dem Individuum „aus dem Makrokontext heraus zur Verfügung stehen“ und die sich durch „bestimmte Eigenschaften“ auszeichnen, wie beispielsweise „ein spezifisches Rollenmuster, ein bestimmtes Verhältnis von Nähe und Distanz, Öffentlich-
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Spracheinstellungen
keit und Privatheit, Spontaneität und Reflektiertheit sowie auch ein bestimmter Handlungsspielraum“. Diese Situationsmodelle strukturieren „wiederkehrende sprachlich-interaktive Ereignisse“ vor und ermöglichen die „Bildung von Erwartungen an die Situation bzw. an das sprachlich-kommunikative Geschehen“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 213). Auch der Mesokontext ist als dynamisches Konstrukt zu verstehen, er hängt von der Aktualisierung der jeweiligen Situation ab. Im Mesokontext manifestiert sich die situative Abhängigkeit von Spracheinstellungen (vgl. TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 220). In der vorliegenden Studie bilden die leitfadenstrukturierten Interviews mit den Pfarrpersonen den Mesokontext, in denen zwei Personen mit akademischer Ausbildung (Pfarrperson und Interviewerin) aufeinandertreffen, die sich teils erst seit dem aufgezeichneten Gottesdienst kennen, teils aber auch durch vorangegangene Kontakte verschiedener Dauer bereits kennen. Als Mikrokontext bezeichnen TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 214) schliesslich das konkrete Interaktionsgeschehen in seiner zeitlichen Dynamik und in seiner interaktiven Hervorbringung durch eine bestimmte Anzahl von Sprecher/-innen, die ihre sprachlichen Aktivitäten abstimmen und koordinieren.
Damit sind Einstellungsäusserungen in die konkrete Interaktion, in einen konkreten „Äußerungskontext“ eingebettet. Es ist dieser Äusserungskontext, der die jeweiligen Einstellungsäusserungen „vorbereitet, zugelassen oder auch provoziert hat“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 214). Somit ist die Äusserung einer Einstellung „auf den vorgängigen Interaktionskontext bezogen und bestimmt den weiteren Fortgang des Interaktionsgeschehens mit“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 214). Im Mikrokontext manifestiert sich demnach die interaktionale Abhängigkeit von Spracheinstellungen (vgl. TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 220). Wie in Abb. 4 visualisiert, ergeben sich [Einstellungsäußerungen] an einer bestimmten Stelle im dynamischen Geschehen der sprachlichen Interaktion, sind in ihrer Genese an diesen Kontext gebunden und selbst konstitutives Element dieses Kontextes (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 215).
Spracheinstellungsäusserungen sind also „immer dreifach gerahmt“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2002, 188): Sie geschehen „im Kontext einer konkreten Interaktion (Mikrokontext)“, diese Interaktion „realisiert immer einen bestimmten Typ von sozialer Situation, etwa ein Interview (Mesokontext)“. Diese konkrete soziale Situation ist eingebettet in den kulturellen Kontext, „der all die Normen und Werte sowie all das kulturelle Wissen umfasst, das situationsübergreifend Gültigkeit hat und Relevanz besitzt [(Makrokontext); S.O.]“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2002, 188).
Theoretische Grundlagen
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Abb. 4: Kontextsensitives Modell der Spracheinstellungen nach TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 215)
Dabei wird bei einer solchen Einstellungsäusserung zwischen der Relevanz verschiedener Parameter und Bedingungen abgewogen: der persönlichen Intention, den Normerwartungen der Kommunikationspartner (allgemeine und situationsspezifische), der sozialen Situation, „die konstruiert wird“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 215), und dem gewünschten Selbstbild, das ein Individuum vermitteln möchte. Im kontextsensitiven Modell der Spracheinstellungen ist das „soziale Geschehen […] nicht nur Vorkommenskontext von Spracheinstellungsäußerungen, sondern Ort der Genese, Bestätigung und Vermittlung von Spracheinstellungen“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 215; Hervorhebung S.O.). TOPHINKE / ZIEGLER plädieren dafür, bei Spracheinstellungserhebungen die „Äußerungskontexte genauer in den Blick zu nehmen“ (TOPHINKE / ZIEGLER 2006, 221). Der kontextsensitive Zugang zu Spracheinstellungen bedingt eine Kombination verschiedener (qualitativer) Erhebungsmethoden, z. B. den „Einsatz verschiedener Fragestellungen“, damit der „Geltungsgrad [von Einstellungen; S.O.] über die Erhebungssituation hinaus“ gewährleistet werden kann (LENZ 2003, 269). Schwierigkeiten bei Einstellungserhebungen kann der folgende Faktor bereiten: Geäusserte Spracheinstellungen müssen nicht zwingend mit den tatsächlichen Spracheinstellungen einer Gewährsperson übereinstimmen. Dies kann verschiedene Gründe haben: Spracheinstellungsäusserungen können so getätigt werden, dass sie dem Bild entsprechen, dass die Gewährsperson präsentieren will, dienen also der Selbstdarstellung der Person. Zudem können gewisse Äusserungen „im Sinne sozialer Erwünschtheit verzerrt sein“ (HARTUNG 2010, 63; Hervorhebung im Original): Gewährspersonen können dazu tendieren, sich „in einem günstigen Licht“ darzustellen und sind daher „womöglich abgeneigt […], ehrlich über etwas zu berichten, was ihnen vielleicht negativ ausgelegt werden könnte“ (HADDOCK / MAIO 2014, 51). Auch Zensurverhalten ist möglich, „um nicht negativ beurteilt zu werden“ (HADDOCK / MAIO 2014, 51). Der Verzerrung, die durch Selbstdarstellungsmassnahmen vonseiten der Gewährspersonen und durch soziale Erwünscht-
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Spracheinstellungen
heit bedingt ist, kann gemäss HADDOCK / MAIO (2014, 51) in der Praxis durch „nichtreaktiv[e]“ Gestaltung der Messung begegnet werden, d. h. die Gewährsperson weiss nicht, was genau erforscht wird, und kann so das Verhalten und die Spracheinstellungsäusserungen nicht in diese Richtung steuern. In der Linguistik wurde in der Vergangenheit dafür auf die Matched Guise-Technik sowie auf Subject Evaluation-Tests zurückgegriffen, vgl. z. B. STUDLER (2014, 172). Ausserdem kann es passieren, dass eine Person zu einem Einstellungsobjekt keine oder eine „wenig präsent[e]“ Einstellung hat (HARTUNG 2010, 63; Hervorhebung S.O.). Das bedeutet, dass, wenn die Gewährsperson in der Erhebungssituation dennoch eine Einstellung äussert, diese aus der Situation und in der Befragung selbst entstanden ist. Im Idealfall verbalisiert die Person eine solche im Moment entstehende Einstellung („Das habe ich mir bis jetzt gar nicht überlegt“ o. Ä.). 5.1.3 Stereotyp Eine wichtige Subkategorie von Einstellungen sind die sogenannten Stereotype. Diese „stellen wenig individuell differenzierte Einstellungen dar, die den Charakter von Allgemeinplätzen einnehmen“ (LENZ 2003, 270). Stereotype sind sozialisatorisch erworbene und zumeist massenmedial verbreitete, gleichförmige, starre, reduktionistisch übergeneralisierende Schemata respektive schematische Abläufe mit hohem Wiedererkennungswert (REISIGL 2008, 231).
QUASTHOFF (1973, 28; im Original kursiv) definiert Stereotyp aus linguistischer Sicht als de[n] verbale[n] Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar.
Stereotype haben – wie Einstellungen generell – eine Orientierungsfunktion. Zusätzlich erlauben sie es den Menschen, Komplexität zu reduzieren. Sie stiften ausserdem soziale Identität und Kohäsion (vgl. REISIGL 2008, 231). Mittels Stereotypen können Individuen beispielsweise ihre Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe, der Ingroup, manifestieren und sich von anderen Gruppen abgrenzen (vgl. GARRETT 2010, 33). Der Terminus Stereotyp bezeichnet laut RIEHL (2000, 142) „nicht eine einzelne Eigenschaft, sondern das Gesamtbild eines sozialen Objektes“. Diesem werden „bestimmte Handlungen, Eigenschaften oder auch bewertende Typisierungen zugeschrieben“ (RIEHL 2000, 142). Stereotype „beruhen auf bewussten kognitiven Konstituenten und sind als solche auch kommunizierbar“; sie zeichnen sich unter anderem auch dadurch aus, dass „selbst Leute, die sich explizit von Zuschreibungen aufgrund von Stereotypen distanzieren, diese als solche präsent haben und sie jederzeit abrufen können“ (RIEHL 2000, 143). RIEHL postuliert, dass Stereotype auch dann „als kognitive Größen vorhanden“ bleiben, wenn sich die eigentlichen
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„Einstellungen gegenüber den sozialen Objekten ändern“ (RIEHL 2000, 159). Das bedeutet, dass sie im Bewusstsein der Individuen sind und auch abgerufen werden können, selbst wenn die Einstellung des Individuums vom Stereotyp abweicht. 5.2 SPRACHEINSTELLUNGSFORSCHUNG IN DER DEUTSCHSCHWEIZ Im Folgenden wird ein Blick auf ausgewählte bisherige Spracheinstellungserhebungen in der Deutschschweiz geworfen: Es sind dies die Studien von GUTZWILLER (dargestellt in SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID 1991), HOVE (2002), SCHARLOTH (2005) und STUDLER (2013). Anschliessend werden die Problematik dieser Erhebungen und der von CHRISTEN et al. (2010) vorgeschlagene Lösungsansatz für künftige Spracheinstellungsstudien in der Deutschschweiz aufgezeigt. 5.2.1 Bisherige Spracheinstellungsforschung Einen umfassenden Blick auf Spracheinstellungen in der Deutschschweiz ermöglicht die Studie von GUTZWILLER (dargestellt in SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID 1991). Darin werden Daten aus der Pädagogischen Rekrutenprüfung des Jahres 1985, die in Form einer schriftlichen Fragebogenerhebung stattfand, präsentiert. Dass die Studie auf Daten dieser Rekrutenprüfung aufbaut, hat den grossen Vorteil, dass damit eine ganze männliche Jahrgangskohorte „nahezu vollständig und lückenlos“ untersucht werden kann und somit „alle Landesteile, Berufe und sozialen Schichten repräsentativ vertreten sind“ (GUTZWILLER 1991, 54)184. In der Studie werden die Einstellungen der Rekruten zu Dialekt und Standarddeutsch für verschiedene Kontexte aufgeführt (z. B. Schule, Medien, Kirche, Wissenschaft), aber auch die Einstellungen gegenüber verschiedenen Sprechergruppen (anderssprachige Schweizer/-innen sowie Bewohner/-innen der angrenzenden Länder mit Ausnahme des Fürstentums Liechtenstein). Schliesslich wurden auch Selbsteinschätzungen zum schriftlichen und mündlichen Sprachgebrauch der Rekruten sowie im Speziellen zum Gebrauch von Dialekt als geschriebene Varietät erhoben. Dabei ist der tatsächliche Sprachgebrauch der Rekruten – da ja in der Studie nur Einstellungsäusserungen erhoben werden – jedoch nicht feststellbar. Es ging GUTZWILLER (1991, 127) denn auch „vielmehr um den allfälligen Nachweis solcher Einstellungen bei den Rekruten und um den Grad der Zustimmung bzw. Ablehnung in bezug auf vorgegebene Aussagen“. GUTZWILLER stellt fest, dass es
184 Ein gewichtiges Manko der Stichprobe liegt in der Nichterfassung von Einstellungen von Deutschschweizer Frauen. Für weitere Nach- und Vorteile vgl. GUTZWILLER (1991, 53–54).
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Spracheinstellungen kaum zu Überraschungen [kommt], wenn Deutschschweizer in Umfragen gebeten werden, die Eigenschaften der beiden Sprachformen zu beurteilen. Die üblichen Sprachformen-Stereotype […] werden meist bestätigt. (GUTZWILLER 1991, 142; Hervorhebung S.O.)
Dies trifft auch für die Rekruten zu: Sie beurteilen den Dialekt als „farbiger und gefühlvoller“, beurteilen ihn also „als die emotionalere Sprachform“ (GUTZWILLER 1991, 142).185 GUTZWILLER bemerkt, dass „Sprachformen-Stereotype und Vorstellungen, welche Sprachform zu welchem Sprachinhalt bzw. zu welcher Situation passen [sic!], […] bei den jungen Deutschschweizern in sehr ausgeprägter Form vorhanden“ sind. Auffällig ist die Tatsache, dass „kaum signifikante Zusammenhänge zwischen Bildung bzw. Herkunft und diesen Einstellungen“ bestehen (GUTZWILLER 1991, 145). Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Deutschschweizer Männer den Dialekt als ihre einzige Muttersprache186 empfinden (98.0 %, vgl. GUTZWILLER 1991, 93), Hochdeutschlernen zu 45 % nicht als Spass empfunden haben (vgl. GUTZWILLER 1991, 115), 49 % der Rekruten es aber als „sehr wichtig“ und weitere 41.9 % als „ziemlich wichtig“ erachten, neben Dialekt auch Hochdeutsch verstehen und sprechen zu können (GUTZWILLER 1991, 118). Hochdeutsch wird in erster Linie als „Sprache, die man schreibt und liest“, beurteilt (73.0 %) (GUTZWILLER 1991, 130).187 Es ist den Deutschschweizer Rekruten „nicht besonders wichtig“ bzw. „unwichtig“, dem „deutschen Kultur- und Sprachgebiet in Europa“ anzugehören (35.5 bzw. 34.8 %, GUTZWILLER 1991, 158). Hochdeutsch sprechen die jungen Männer zu 22.5 % „regelmässig“ und zu 40.7 % „gelegentlich“ (GUTZWILLER 1991, 166). Im Kontakt mit deutschsprachigen Ausländern wählen 26 % den Dialekt und 61 % Hochdeutsch, über die Hälfte (54.8 %) versucht aber zuerst einmal, Dialekt mit diesen Personen zu sprechen (vgl. GUTZWILLER 1991, 169–170). Der Aussage „Deutschschweizer sprechen nicht gern Hochdeutsch“ stimmen 68.1 % zu („trifft eher zu“, GUTZWILLER 1991, 172). „Einstellungen gegenüber Sprache und deren Sprechern“ werden, so GUTZWILLER (1991, 126), „oft als Stereotype gedeutet“. Deswegen wurden in der Rekrutenbefragung nicht nur Fragen zu Sprachen und Varietäten gestellt, sondern auch zu Sprechergruppen. Bei der Frage nach der Sympathie anderer Sprechergruppen werden die Personen in den übrigen drei Landesteilen der Schweiz mehrheitlich als „sympathisch“ oder „eher sympathisch“ beurteilt (Westschweiz: 79.9 %, italie185 Nicht nur gegenüber der Standardsprache (im Vergleich zum Dialekt) sind in der Deutschschweiz Stereotype vorhanden. GUTZWILLER erwähnt, dass auch „die Beziehungen zwischen den Dialekten entscheidend“ vom „Vorhandensein von Spracheinstellungen, in denen sich ethnische Stereotype widerspiegeln“, mitgeprägt werden (GUTZWILLER 1991, 78). 186 Die Frage lautete: „Welches ist Ihre Muttersprache, d. h. in welcher Sprache fühlen Sie sich beim Sprechen am sichersten? (Falls Sie zweisprachig aufgewachsen sind, geben Sie bitte beide Sprachen an!)“ [Hervorhebung im Original fett statt kursiv] Den Rekruten wurden drei Antwortmöglichkeiten vorgegeben: „Schweizerdeutsch“, „Hochdeutsch“, „andere Sprachen“. GUTZWILLER (1991, 93) geht davon aus, dass, wenn man „bei dieser Formulierung Schweizerdeutsch an[kreuzt], nicht aber zusätzlich auch Hochdeutsch, […] man letzteres damit eigentlich schon zur ‚Fremdsprache‘ [macht].“ Diese Interpretation scheint angesichts der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sehr gewagt. 187 Es waren zwei weitere mögliche Antworten vorgegeben: „Als Sprache der Schule“ sowie „Als Sprache der Deutschen“.
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nische Schweiz: 78.1 %, rätoromanische Schweiz: 57.5 %188). Ganz anders präsentiert sich das Bild für Deutsche (lediglich 39 % fanden Deutsche „sympathisch“ bzw. „eher sympathisch“). Markant besser schneiden die Bewohner der anderen Nachbarländer, inklusive der deutschsprachigen Nachbarn aus Österreich, ab: Österreicher 64.7 %189, Franzosen 76.0 %, Italiener 63.3 %. Diese Resultate zeigen also, dass alleine Personen aus Deutschland bei den Sympathiewerten unter 50 % liegen (vgl. GUTZWILLER 1991, 148–150). Genau umgekehrt präsentiert sich das Bild für die Frage, wie stark „die Unterschiede in der Art und im Charakter zwischen Deutschschweizern und X“ sind: Hier werden die Unterschiede als „eher gross“ zu Welschen (68.8 %) und Tessinern (68.4 %), hingegen zu Deutschen und Österreichern mehrheitlich als „eher klein“ (D: 50.2 %, A: 55.3 %) beurteilt (vgl. GUTZWILLER 1991, 151–153).190 GUTZWILLER erachtet es als „logisch“, dass der Grad der Unterschiedlichkeit zu den Nachbarn mit gleicher Sprache als kleiner eingeschätzt wird als zu anderssprachigen Schweizer/-innen. Obwohl die knappe Mehrheit den Unterschied zu Deutschen für „eher klein“ hält, fokussiert GUTZWILLER auf die 38.8 %, die den Unterschied zwischen Deutschschweizern und Deutschen als „eher gross“ einschätzen, und beurteilt deren Einschätzung als Abgrenzung191 gegenüber der Deutschen (vgl. GUTZWILLER 1991, 151). Zudem ist der Zusammenhang zwischen Sympathiewerten und Einschätzung der Unterschiedlichkeit zwischen Deutschen und Deutschschweizer/-innen statistisch hochsignifikant: „Je grösser die Sympathie ist, desto geringer wird der Unterschied empfunden.“ (GUTZWILLER 1991, 153) Auch dieses Faktum wird von ihm als Distanzmarkierung seitens der Rekruten interpretiert. An dieser Stelle scheint GUTZWILLERS Fokus sehr stark auf diesen Abstand, den die Rekruten zu den Deutschen markieren wollen, gerichtet zu sein. Auf die mögliche Bedeutung des Zusammenhangs zwischen tiefen Sympathiewerten und hohen Ähnlichkeitswerten zwischen den deutschsprachigen Nachbarn und den Deutschschweizer/-innen bzw. die mögliche statistische Signifikanz des Zusammenhangs geht er nicht ein. Dabei könnte die Abgrenzung über die (tiefen) Sympathiewerte für die Rekruten gerade deshalb nötig sein, weil die Deutschen und Österreicher als ähnlich eingeschätzt werden. Und umgekehrt könnten die Sympathiewerte für die Welschen und
188 Auffällig ist hier die hohe Anzahl von Antworten „ich weiss nicht“: 33.9 %. Diese Zahl könnte darauf hindeuten, dass entweder keine Stereotype zu den Rätoromanen vorliegen oder kaum Kontakte zur rätoromanischen Bevölkerung bestehen, die mit rund 36’000 Personen auch die kleinste der vier Sprachgemeinschaften in der Schweiz ausmacht, vgl. Fussnote 13 (Kap. 2). 189 Die Werte sind die zusammengezählten Werte für die Angaben „sympathisch“ und „eher sympathisch“. 190 Auch zu den Rätoromanen sind die Unterschiede mit 46.9 % „eher klein“. Hier fällt wiederum die grosse Anzahl Antworten „ich weiss nicht“ – 31.8 % – auf, vgl. Fussnote 188. 191 Zusätzlich macht GUTZWILLER „die Unbeliebtheit der Deutschen bei den Rekruten“ an der Antwort auf die Frage „Es wird behauptet, dass die Deutschschweizer eher selten nach Deutschland in die Ferien fahren. Welche Gründe könnte das haben?“ fest: 59.1 % wählten von den drei vorgegeben Antwortmöglichkeiten „Der Umgang und der Kontakt mit Deutschen liegt dem Schweizer nicht zu sehr.“ (GUTZWILLER 1991, 154–155)
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Spracheinstellungen
Tessiner deshalb so hoch sein, um Zugehörigkeit zur selben Nation trotz grosser Unterschiede zu manifestieren. Auf die Abgrenzung gegenüber den „wenig beliebten Deutschen“ kommt er denn auch in den Schlussfolgerungen nochmals zu sprechen: Für die Rekruten besitzt der Dialekt ganz offensichtlich einen hohen Stellenwert als nationales Identitätsmerkmal. Er ist ein wichtiges Mittel, das zur gewollten Abgrenzung von Angehörigen anderer deutschsprachiger Nationen, vor allem aber von den wenig beliebten Deutschen, dienen kann. (GUTZWILLER 1991, 211)
Es ist davon auszugehen, dass gerade die von SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID für diese Studie gewählte Methode die Resultate stark überformt hat: Den Rekruten waren mögliche Antworten vorgegeben, sie konnten lediglich den Grad der Zustimmung bzw. Ablehnung auf die vorgegebenen Aussagen variieren. Die schriftliche Befragung ermöglicht nur in sehr begrenztem Masse die Erhebung tatsächlicher Spracheinstellungen192; insbesondere geschlossene Fragen begünstigen Stereotype – nicht zuletzt, wenn die vorgegebenen Antworten – wie in dieser Studie – bereits die vorhandenen Stereotype abdecken. Die Resultate der Studie müssen vor diesem Hintergrund kritisch bewertet werden; ihnen kann kaum ein über Stereotype hinausgehender Erkenntniswert zugeschrieben werden. Dieselbe Problematik stellt sich für die Resultate der Studie von SCHARLOTH (2005), die sich mit Einstellungen von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern zum Standarddeutschen beschäftigt. Anhand eines Wahrnehmungsexperiments und einer Fragebogenerhebung untersucht SCHARLOTH, ob Deutschschweizer/-innen ein Bewusstsein für die plurizentrische Ausprägung des Standarddeutschen (vgl. Kap. 2.5) haben. 76 % beantworteten die Frage „Wie gut meinen Sie, kann der durchschnittliche Schweizer Hochdeutsch?“ mit „mäßig“, weitere 18 % halten die Kompetenz des durchschnittlichen Schweizers für „schlecht“. SCHARLOTH (2005, 241) interpretiert „[d]iese überaus negative Einschätzung der Hochdeutschkompetenz in der Schweiz“ als einen Verweis „auf einen Komplex beladenen Umgang mit der eigenen Standardsprache“. Er geht davon aus, dass die Deutschschweizer ein „Defizienzempfinden“ gegenüber dem Standarddeutschen haben, das dazu führt, dass „die eigene standardsprachliche Kompetenz als defizitär empfunden wird und dass sich Sprecher beim schriftlichen und mündlichen Gebrauch der Standardsprache gehemmt und unsicher fühlen“; er hält die „Annahme eines Defizienzempfindens“ für vielversprechender als „die Rede von negativen Einstellungen zum Standarddeutschen, [insofern] als sie bestimmte Schemata der Selbstwahrnehmung und Handlungsdispositionen impliziert“ (SCHARLOTH 2005, 242).193 192 Sie widerspricht auch der Forderung nach einer kontextsensitiven Interpretation von Spracheinstellungsäusserungen, vgl. Kap. 5.1.2. 193 PETER (2011, 61) kritisiert SCHARLOTHS Haltung: „Dieser Einwand ist deshalb nicht nachvollziehbar, weil es der Einstellungsforschung primär darum geht zu verstehen, was Einstellungen sind oder wie sie entstehen, um dann zu verstehen, ob und wie sich diese auf das Verhalten auswirken (oder auch nicht). Die Tatsache, dass sich die Einstellungsforschung mit dem Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten beschäftigt, ändert nichts daran, dass sie
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Auffällig sind die von SCHARLOTHS Studie zutage geförderten Widersprüchlichkeiten: Einerseits glauben 79 % der Befragten, dass Hochdeutsch für Schweizerinnen und Schweizer die erste Fremdsprache sei, andererseits stimmen nur rund 30 % der Aussage „Hochdeutsch ist für mich eine Fremdsprache“ zu. Ein ähnliches Schema sieht man in der Beurteilung der Hochdeutschkenntnisse: Die durchschnittlichen Hochdeutschkenntnisse des Schweizers werden, wie oben erwähnt, grossmehrheitlich als „mäßig“ oder gar „schlecht“ beurteilt, die eigenen Hochdeutschkenntnisse hingegen schätzten rund 80 % besser ein als die des durchschnittlichen Schweizers (SCHARLOTH 2005, 244). Gemäss dem von SCHARLOTH (2005, 245) aufgestellten „Defizienzempfindensindex“ verfügen 22.4 % seiner Gewährspersonen über „kein Defizienzempfinden“, 44.9 % über ein „schwach ausgeprägtes Defizienzempfinden“ und die restlichen 32.7 % über ein „ausgeprägtes Defizienzempfinden“. Statistisch signifikante Zusammenhänge mit der Ausprägung des Defizienzempfindens stellt er nur für die Variablen des frühen Standarddeutscherwerbs (vor der Volksschule)194 und der Einstellungen gegenüber Deutschen fest (im Gegensatz zur höchsten formalen Bildung, der Gebrauchshäufigkeit und den Einstellungen zum Schweizerdeutschen). SCHARLOTH (2005, 261) geht davon aus, dass sich „hinsichtlich der Einstellungen zum Standarddeutschen […] zwei Idealtypen unterscheiden“ lassen: Einerseits der „Sichere“, andererseits der „Unsichere“. Ersterer hat schon vor dem Schuleintritt Standarddeutsch gelernt, betrachtet es nicht als Fremdsprache, hat positive Einstellungen gegenüber Deutschen, „ist aber dennoch Patriot“ und „überzeugter Verfechter des Schweizerdeutschen“. Der Sichere unterstützt aber auch die Verwendung von Schweizer Hochdeutsch, beurteilt aber (in SCHARLOTHS subjective evaluation test) Helvetismen als „schlechtes oder fehlerhaftes Hochdeutsch“: „Gutes Hochdeutsch sprechen bedeutet für ihn, die deutschländische Standardvarietät zu beherrschen.“ (SCHARLOTH 2005, 261) Auf der anderen Seite steht der Unsichere, der Standarddeutsch erst in der Schule gelernt hat und es als Fremdsprache betrachtet. Dieser Deutschschweizer „fühlt sich gehemmt, wenn er Hochdeutsch sprechen muss“. Er hat negative Einstellungen gegenüber Deutschland und den Deutschen. Der Unsichere meidet Helvetismen, da er „sein eigenes Hochdeutsch für defizitär hält“. Wie für den Sicheren ist auch für ihn das deutschländische Standarddeutsch die „Prestigevarietät“ (SCHARLOTH 2005, 261–262).
dazu beiträgt, zu verstehen, wie es überhaupt zu einer abschließenden Bewertung von Einstellungsobjekten kommt, die das Produkt der Verschmelzung unterschiedlicher Bewertungsaspekte ist.“ 194 SIEBER / SITTA (1986, 146) konstatieren, dass die Einstellungen von Deutschschweizer Kindern gegenüber dem Standarddeutschen während der Schulzeit ins Negative kippen. HÄCKI BUHOFER / BURGER stellen fest, dass diese Entwicklung zwischen den ersten beiden Schuljahren vonstattengeht. Während Kindergartenkinder (Sechsjährige) die Varietäten „weitgehend neutral“ bewerten, kommt es anschliessend zu einer Polarisierung: Die siebenjährigen Erstklässler bevorzugen das Standarddeutsche klar, die achtjährigen Zweitklässler hingegen schätzen den Dialekt als die attraktivere Varietät ein (vgl. HÄCKI BUHOFER / BURGER 1998, 22–23).
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Die Schwächen von SCHARLOTHS Untersuchung sind neben dem eher kleinen, nicht repräsentativen Sample195 insbesondere die suggestiven, stark an Stereotypen orientierten Fragen196. Er macht die Einstellungen gegenüber Deutschland an zwei Punkten fest: zum einen an der Frage, wem die Deutschschweizer/-innen bei einem Fussballspiel Deutschland-Österreich die Daumen drücken würden, und zum anderen an einem Vergleich von Schweizer/-innen und Deutschen anhand eines semantischen Differentials197, bei dem die Proband/-innen zu einer Aussage genötigt wurden, obwohl sie dies vielleicht nicht konnten oder wollten. Diese zwei Fragen zur Indexierung der Einstellungen gegenüber Deutschen bzw. Deutschland zu benutzen, scheint höchst problematisch. Zudem weiss SCHARLOTH die enormen Unterschiede zwischen der Einschätzung der generellen Situation für den Deutschschweizer und der persönlichen Situation der Gewährspersonen nicht zu erklären198 – diese offensichtlichen Gegensätzlichkeiten zeigen die Grenzen der schriftlichen Befragung klar auf. Die Widersprüchlichkeiten zeigen sich auch in HOVES Studie (2002) zur Aussprache des Standarddeutschen in der Deutschschweiz, wenn auch etwas weniger stark ausgeprägt.199 Zwar beurteilen zwölf von 31 Gewährspersonen das deutsche Hochdeutsch als das bessere Hochdeutsch (Antwortmöglichkeiten: „deutsches Hochdeutsch“, „schweizerisches Hochdeutsch“, „gleich“, „nicht beantwortbar“, HOVE 2002, 157), aber auf die Frage, wie die Gewährspersonen es empfinden, wenn 195 Wahrnehmungsexperiment: 50 Proband/-innen, Fragebogenerhebung: 98 Proband/-innen. Die Altersgruppen der Personen unter 30 sowie der Personen zwischen 45 und 59 Jahren sind überproportional vertreten (vgl. SCHARLOTH 2005, 239). 196 „Welche der folgenden Aussagen trifft auf Sie zu? a) Ich fühle mich gehemmt, wenn ich Hochdeutsch sprechen muss. b) Ich fühle mich sicherer, wenn ich Hochdeutsch mit anderen Ausländern spreche, als wenn ich es mit Deutschen rede. c) Hochdeutsch ist für mich eine Fremdsprache. d) Wenn ich mit Deutschen spreche, überlege ich genauer, was ich sage, um keine Fehler zu machen.“ (SCHARLOTH 2005, 243). SCHARLOTH gibt an, für die Items Stereotype gewählt zu haben. Welchen Sinn es macht, Stereotype bestätigen zu lassen, wird nicht erkennbar: Ob die Resultate dieselben gewesen wären, wenn zu den vier stereotypen tendenziell negativen Items vier positive Items hinzugefügt worden wären, ist zweifelhaft. 197 „Im Vergleich zu Schweizern sind Deutsche eher … … unhöflich vs. höflich … ungebildet vs. kultiviert … zurückhaltend vs. offensiv … festgelegt vs. offen für Neues … kalt vs. warmherzig“ (SCHARLOTH 2005, 251). 198 Eine Erklärung liefert er in SCHARLOTH / HÄGI (2005, 25): Die Autoren gehen von einer „diskursive[n] Überformung der Wahrnehmung der Sprachsituation“ aus. „Die Kluft zwischen persönlicher Haltung und der Annahme über die Sprachgemeinschaft ist ein starker Hinweis darauf, dass es sich bei der Einschätzung, das Standarddeutsche sei für Schweizer einer [sic!] Fremdsprache und werde entsprechend schlecht beherrscht, um ein sozial weithin akzeptiertes Stereotyp handelt, das aber auf der individuellen Ebene die Selbstwahrnehmung nur periphär [sic!] beeinflusst. Es ist daher nicht mehr als ein Topos des sprachreflexiven Diskurses, wenn behauptet wird, Hochdeutsch sei für die Mehrheit der Schweizer eine Fremdsprache.“ [Hervorhebung S.O.] 199 HOVE (2002, 157) ist sich bewusst, dass eine Fragebogenerhebung zur Einstellungserhebung nicht optimal ist. Zudem ist auch die Stichprobe mit nur 31 Gewährspersonen sehr klein.
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ein Schweizer wie ein Deutscher Hochdeutsch spricht, antworten 14 von 31 mit „unsympathisch“, weitere sechs mit „sehr unsympathisch“ (HOVE 2002, 158). Interessanterweise geben [s]elbst von den zwölf Gewährspersonen, die im vorliegenden Fragebogen in Item 11 [= die Frage nach dem besseren Hochdeutsch; S.O.] mediendeutsches200 Hochdeutsch als besser beurteilen, […] nur drei hier „sympathisch“ an (HOVE 2002, 159).
HOVE (2002, 159) schliesst daraus, dass viele SchweizerInnen ein gespaltenes Verhältnis zur eigenen Varietät der Standardsprache haben. Es scheint geprägt von einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Deutschen einerseits, andererseits aber gleichzeitig von der Überzeugung, dass für SchweizerInnen schweizerisches Hochdeutsch angemessen ist.
In HOVES Daten zeigen sich zudem die in anderen Studien gefundenen Stereotype weniger stark als erwartet: So sprechen 14 der Befragten „sehr“ gerne Hochdeutsch (Alternativantworten: „es macht mir nichts aus“, „ungerne“).201 HOVE (2002, 160) geht denn auch davon aus, dass Standarddeutsch nicht „[s]o unbeliebt [ist] wie gemeinhin angenommen“. Auch beurteilen es 16 von HOVES Gewährspersonen als „gar nicht“ anstrengend, Hochdeutsch zu sprechen, zudem fühlen sich 18 Personen „gar nicht“ benachteiligt, wenn sie mit Deutschen Hochdeutsch sprechen. HOVE beurteilt die Resultate als „ziemlich erstaunlich“, vor allem „[i]n Anbetracht der vielen Vorurteile“. Dies könnte für sie in der Tatsache begründet sein, dass die untersuchten Gewährspersonen sehr jung sind. Für HOVE (2002, 161) „ist [es] denkbar, dass hier in den vergangenen Jahren ein Wandel stattgefunden hat und dass die Stereotypen [sic!] auf Einstellungen beruhen, die heute nicht mehr in demselben Ausmass zutreffen“. Ebenfalls untersucht hat HOVE das Verhältnis der Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher zu den Deutschen. Sie fragte aber nicht nach der Sympathie gegenüber der Sprechergruppe, sondern gegenüber der Sprachform. Für viele Laien lassen sich diese beiden Einstellungsobjekte nämlich nicht trennen, sondern sie beurteilen häufig Sprachformen nach (stereotypen) Einstellungen gegenüber Sprechern202. So beurteilen die Gewährspersonen in HOVES Studie die süddeutsche Varietät am sympathischsten (bzw. die Süddeutschen), gefolgt von der österreichischen und der norddeutschen Varietät. Auch letztere wird immer noch positiv beurteilt: 24 Personen empfinden diese Varietät als „sympathisch“ oder „eher 200 Mit Mediendeutsch wird in HOVES Studie die Varietät bezeichnet, „die zum Beispiel in Filmen für Figuren verwendet wird, deren Sprache in keinerlei Hinsicht auffallen soll, die also weder dialektal geprägt ist noch zu gehoben klingt. Sie wird auch vielfach im Radio und am Fernsehen gebraucht.“ (HOVE 2002, 4) Sie geht davon aus, dass „das Mediendeutsche viel stärker von der deutschländischen als von der österreichischen oder schweizerischen Varietät geprägt“ ist (HOVE 2002, 4, Fussnote 4). 201 HOVE (2002, 160) führt dieses Resultat zumindest teilweise auf die Tatsache zurück, dass die meisten Gewährspersonen „auch in beruflichen Situationen sind, in denen sie überdurchschnittlich häufig mit der Standardsprache in Kontakt kommen“. 202 So schreibt beispielsweise RIEHL (2000, 158), dass „Spracheinstellungen sich oft mit Einstellungen gegenüber den Sprechern überlappen“.
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sympathisch“ (HOVE 2002, 164). Die Unterschiede zu den Resultaten der Rekrutenprüfung von SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID liegen nach HOVE möglicherweise in den soziodemographischen Unterschieden der Samples begründet: HOVES Informanten sind etwas älter, haben ein höheres Bildungsniveau und mehr Kontakt mit Deutschen und Österreichern, was zu Beurteilungen führe, die weniger stark an den gängigen Stereotypen ausgerichtet seien (HOVE 2002, 165).203 HOVES Gewährspersonen befürworten als Norm in der Deutschschweiz klar ein schweizerisches Hochdeutsch (19 Gewährspersonen); so sollen denn auch die Schweizer Nachrichtensprecher in Zukunft wie bisher sprechen und nicht so wie die deutschen oder österreichischen Nachrichtensprecher (22 Gewährspersonen) und die Unterschiede zwischen dem Schweizer und dem deutschen Hochdeutsch sollen beibehalten werden (17 Gewährspersonen).204 HOVES Daten zeigen in eine etwas andere Richtung als diejenigen von SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID sowie SCHARLOTH, wobei berücksichtigt werden muss, dass HOVE nur ein sehr kleines Sample untersucht und auf die Erhebung von Einstellungen mittels qualitativer Methoden verzichtet hat. Jedoch ermittelt auch sie widersprüchliche Einstellungen, die sie aber zu erklären versucht. Auch die Resultate von STUDLERS Pretest205 (unter Germanistikstudierenden der Universität Basel) sind nicht frei von Widersprüchlichkeiten: So zeigen sich auch bei STUDLER die bereits von SCHARLOTH erfassten Gegensätzlichkeiten bezüglich der eigenen Hochdeutschkompetenz im Vergleich zur Sprachkompetenz der gesamten Deutschschweizer Bevölkerung: 93 % beurteilen ihr gesprochenes Hochdeutsch als „sehr gut bis eher gut“, 97 % der Gewährspersonen glauben, „besser Hochdeutsch zu sprechen als der Durchschnitt der DeutschschweizerInnen“ (STUDLER 2013, 213). STUDLERS Gewährspersonen beurteilen Hochdeutsch grossmehrheitlich als „schöne Sprache“ (80 %), zudem wird „[n]icht nur der Dialekt […] als sympathisch eingeschätzt, sondern auch das Hochdeutsche – zumindest dasjenige der Deutschen“ (STUDLER 2013, 215), für STUDLER ein „erstaunlich[es]“ Resultat aufgrund der in vorangegangenen Studien festgestellten Probleme mit Deutschen und dem deutschländischen Deutsch.206 Hingegen bestätigen sich die gängigen Stereotype gegenüber den Sprachformen:
203 HOVE (2002, 165) gibt aber auch zu bedenken, dass ihre Gewährspersonen den Fragebogen nicht anonym ausfüllen konnten und darum gewisse Resultate allenfalls der sozialen Erwünschtheit geschuldet sind. 204 Der Vergleich der Antworten der Gewährspersonen auf diese drei Fragen bringt aber einige „Ungereimtheiten“ in Form von unerwarteten Antwortkombinationen zutage. HOVE erklärt sie damit, dass Einstellungen ein komplexes Konstrukt sind und die Einstellungskomponenten bei den einzelnen Sprecherinnen und Sprechern jeweils unterschiedlich gewichtet werden, vgl. HOVE (2002, 166–167). 205 Es handelt sich hierbei um die Pilotstudie zu Studlers Habilitationsschrift „Zur Genese von Spracheinstellungen am Beispiel des Hochdeutschen und Schweizerdeutschen in der Deutschschweiz“ (STUDLER in Vorb.). 206 Diese Meinung äussern insbesondere die weiblichen Pfarrpersonen in den Interviews der vorliegenden Studie ebenfalls.
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Der Dialekt wird mehrheitlich als „sympathisch“ und „warm“ beurteilt, das bundesdeutsche Hochdeutsch als „gebildet“, „elegant“, „schnell“, aber auch „arrogant“; das Schweizerhochdeutsch tendenziell eher als „unsympathisch“, „ungebildet“, „ungeschickt“ und „langsam“ […]. (STUDLER 2013, 215)
STUDLER legte den Gewährspersonen „‚Volksmeinungen‘“ zur Zustimmung oder Ablehnung vor. Bei diesen wurde die Aussage „DeutschschweizerInnen sprechen nicht gern Hochdeutsch“ von 77 % der Befragten bejaht, die Aussage „Hochdeutsch ist für DeutschschweizerInnen eine Fremdsprache“ hingegen nur von 33 % (STUDLER 2013, 215).207 Sie erklärt dies mit dem nicht-prototypischen Sample, da die von ihr befragten Laien Germanistikstudierende waren: So stimmten der Aussage mehr Personen zu, die im ersten Semester waren (neun Personen, 45 %) als fortgeschrittene Studierende (eine Person, 10 %). Auch der dritten Aussage „Gefühle kann man nur im Dialekt ausdrücken – Hochdeutsch ist dafür nicht geeignet“ stimmte nur rund ein Viertel der Befragten zu (STUDLER 2013, 216). STUDLER schliesst aus den Resultaten ihrer Pilotstudie, dass „das Hochdeutsch generell weniger unbeliebt ist als vermutet“ und es beim Prestige „sogar besser ab[schneidet] als das Schweizerdeutsche“ (STUDLER 2013, 217). Es zeigt sich anhand dieses Pretests von STUDLER, dass es stark sampleabhängig ist, welche Einstellungen bzw. Stereotype von den Gewährspersonen geäussert werden. Während gewisse Stereotype weniger prominent zutage traten als in anderen Studien, halten sich andere auch bei einem Sample von Germanistikstudierenden einigermassen hartnäckig. Neben der Auswahl des Samples hat wohl die Erhebungsart die Resultate ebenfalls mitbeeinflusst: STUDLER arbeitete nicht nur mit den gängigen Stereotypen, die sie den Gewährspersonen zur Ablehnung bzw. Zustimmung vorlegte, sondern ging mit Fragen zur Sprachsozialisierung und zum Sprachgebrauch („Sprachwahl im Gespräch mit Deutschen“) sowie zur Sprachpolitik in die Tiefe.208 5.2.2 Grundsatzproblem: kein einheitliches „Hochdeutsch“-Konzept Bisherige Studien zu Spracheinstellungen von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern haben also einerseits (fast) immer die gleichen Stereotype – Standarddeutsch werde von der Deutschschweizer Bevölkerung nicht gerne gesprochen oder werde von ihr gar als erste Fremdsprache wahrgenommen – und andererseits widersprüchliche Resultate – eigene Kompetenzen/Wahrnehmung vs. Kompetenzen/Wahrnehmung der gesamten Deutschschweizer Bevölkerung – zutage gefördert. Dies ist insofern problematisch, als mit dem ständigen Referieren derselben Stereotype diese auch verfestigt werden (SIEBER 2013, 120). Dies ist
207 Bei SCHARLOTHS (2005) Untersuchung waren es 79 %. 208 In STUDLERS Studie (in Vorb.) wissen die Gewährspersonen, worum es geht – also anders als bei SCHARLOTHS Untersuchung. Zudem wählt sie einen kontextsensitiven Zugang und erhebt die Daten über qualitative Leitfadeninterviews und einen Onlinefragebogen.
168
Spracheinstellungen
eines der Grundsatzprobleme der Spracheinstellungsforschung in der Deutschschweiz. Die in den Studien festgestellten Widersprüchlichkeiten vermuten CHRISTEN et al. (2010, 15) darin begründet, dass „die erfragte Grösse ‚Hochdeutsch‘ kein einheitliches Konzept ist“, sondern diese Grösse aus verschiedenen mentalen Hochdeutschkonzepten (bei CHRISTEN et al. 2010 „Hochdeutsch-Modelle“209) besteht.210 Sie gehen davon aus, dass abhängig von der jeweiligen Fragestellung ein anderes Hochdeutschkonzept aktiviert wird, sodass scheinbar widersprüchliche Einstellungsäusserungen daraus resultieren. Als Beispiele für solche Hochdeutschkonzepte werden folgende vier genannt: „Hochdeutsch-Modell A“ für eine plurizentrische Sprache mit österreichischer, deutschländischer und schweizerischer Ausprägung, „Hochdeutsch-Modell B“ für eine Sprachform, die in der Schule als normierte und kodifizierte Grösse gelernt wurde, „Hochdeutsch[-]Modell C“ für eine Sprachform, in der man seine Zeitung liest, „Hochdeutsch[-]Modell D“ für eine Sprachform, der man in den Medien Radio und Fernsehen begegnet usw. (CHRISTEN et al. 2010, 15)211
Die Aufzählung in CHRISTEN et al. ist keinesfalls abschliessend zu verstehen; SIEBER (2013, 123) weist denn auch darauf hin, dass weitere mentale Modelle von Hochdeutsch [denkbar sind], die je nach Verwendungssituationen, sprachlicher Sozialisation und kulturellen Orientierungen zusätzliche Aspekte von Hochdeutsch in den Fokus rücken können (z. B. Mehrsprachigkeit, Berufsspezifika, künstlerische Orientierungen etc.).212
Gerade diese zusätzlichen Hochdeutschkonzepte sind für die vorliegende Studie von Relevanz, spielt doch im Alltag einer Pfarrperson insbesondere die berufsspezifische Verwendung von Standarddeutsch als gesprochene Sprache im Gottesdienst einerseits und als Sprache der Bibel andererseits eine wichtige Rolle. Fragt man einen Deutschschweizer nach dem „persönlichen Sprachgebrauch des ‚Hochdeutschen‘, tritt die persönlich vertraute und persönlich gebrauchte Variante schweizerischen Zuschnitts in den Blick“213; etwas anderes passiert, wenn man
209 GUNTERN (2012, 102) spricht von „koexistierende[n] Hochdeutsch-Ideale[n]“. 210 Für TOPHINKE / ZIEGLER (2006, 207) liegen „Inkonsistenzen (z. B. Widersprüchlichkeit oder Variabilität)“ in moderneren Spracheinstellungsstudien in der zu wenig weit „gehende[n] kritische[n] Reflexion theoretischer und methodischer Vorannahmen“ begründet. 211 SIEBER (2013, 123) nennt die vier Modelle von CHRISTEN et al. wie folgt: „Hochdeutsch als plurizentrische Sprache“, „Hochdeutsch als kodifizierte Grösse, als (Standard-)Norm“, „Hochdeutsch als Lese- und Schreibsprache“ und „Hochdeutsch als lebendige Alltagssprache“. 212 Bereits SCHLÄPFER / GUTZWILLER / SCHMID (1991, 81) wiesen darauf hin, dass mehrere Aspekte „von grösster Wichtigkeit [sind] und […] eine besondere Rolle bei der affektiven Besetzung“ von Standarddeutsch spielen: „Die Hochsprache ist die Sprache der Schule, die Sprache der Deutschen und sie ist Lese- und Schreibsprache.“ Sie zogen daraus jedoch nicht den Schluss, dass diese Aspekte getrennt zu betrachten sind. 213 GARRETT (2010, 28) betont im Zusammenhang mit der Frage, wie die Einstellungskomponenten interagieren, dass „links between people’s attitudes towards language varieties and their own behaviours are likely to differ according to the complexity of domains in which language is used“.
Spracheinstellungsforschung in der Deutschschweiz
169
nach dem „Sprachgebrauch ‚aller‘ Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer“ fragt: Bei einer solchen Frage wird potentiell eine Distanz geschaffen, die möglicherweise ein Modell von „Hochdeutsch“ abruft, das stärker mit dessen Kodifizierung zu tun hat und an welches ‚fremde‘ Massstäbe gelegt werden, die ausserhalb der eigenen Sprachgruppe stehen (CHRISTEN et al. 2010, 15).
Das heisst, dass bei künftigen Spracheinstellungsuntersuchungen in der Deutschschweiz darauf geachtet werden muss, welches Konzept von Hochdeutsch mit welcher Frage aktiviert wird und die Antworten der befragten Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer entsprechend gewichtet werden. Dies bedeutet aber auch, dass es die Einstellung gegenüber dem Standarddeutschen in der Deutschschweiz nicht gibt, sondern dass immer ein differenzierter Blick auf Spracheinstellungen von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern geworfen werden muss. 5.3 BEDEUTUNG VON SPRACHEINSTELLUNGEN FÜR DIE VORLIEGENDE STUDIE Für die vorliegende Untersuchung wurden die Spracheinstellungen der Gewährspersonen mittels strukturierter Leitfadeninterviews erhoben; es handelt sich also um qualitative Daten (vgl. dazu auch Kap. 6.2). Im Rahmen dieser Interviews füllten die Gewährspersonen zusätzlich bei verschiedenen Fragen Formulare aus, die eine quantitative Auswertung derselben zulassen. Zusätzlich wurden anhand eines Onlinefragebogens mit einer Mischung von offenen und geschlossenen Fragen Spracheinstellungsdaten erhoben, um die in den Interviews erhobenen Daten zu validieren (vgl. Kap. 6.3). Allerdings können nur die Interviewdaten der Forderung nach einer kontextsensitiven Interpretation von Einstellungen gerecht werden. Der Makrokontext, in dem die Einstellungsäusserungen in den Interviews stattfinden, ist jener der Deutschschweiz mit ihrem diglossischen Sprachgefüge. Die Interviewsituation stellt den Mesokontext dar. Dabei trafen jeweils zwei Akademiker/-innen – die Pfarrperson und die Interviewerin – aufeinander. Die für das Interview gewählte Varietät war selbstredend der jeweilige Deutschschweizer Dialekt der zwei Personen. Da es in der Studie grundsätzlich um die Verwendung und Einstellungen gegenüber dem Schweizerdeutschen in Abgrenzung zum Standarddeutschen geht und nicht um die Bewertung einzelner Deutschschweizer Varietäten214, spielte die regionale Herkunft der Interviewerin nur eine untergeordnete Rolle.215 214 Dennoch wurden die eigene und fremde Deutschschweizer Varietäten immer wieder bewertet, vgl. dazu auch Fussnote 185. 215 Bei der – stereotyp formulierten – Frage nach dem Lieblingsdialekt der Pfarrperson wurde teils auf die sprachliche Herkunft der Interviewerin Bezug genommen: Da Ostschweizer Dialekte in Beliebtheitsumfragen in der Deutschschweiz in der Regel die hintersten Plätze einnehmen, betonten einige Pfarrpersonen, dass ihnen der Ostschweizer bzw. Thurgauer Dialekt (der Dialekt der Interviewerin) nicht unsympathisch sei. Diese expliziten Ausführungen stimmen mit RIEHLS Beobachtung überein, dass „[d]ie Anwesenheit von Sprechern einer negativ bewerteten Varietät […] zur Folge [hat], dass Begründungsmuster gesucht werden“ (RIEHL 2000, 148). So
170
Spracheinstellungen
Bei der Äusserung von Stereotypen, die potentiell problematisch sein können (vgl. z. B. RIEHL 2000), entstand die Gefahr des Gesichtsverlust für die Informantinnen und Informanten kaum, gehört die Interviewerin doch zu ihrer Ingroup und hat somit Zugriff auf dieselben Stereotype.216 Die Studie zielte darauf ab, Einstellungen, die über die üblicherweise referierten Stereotype zu den beiden in der Deutschschweiz verwendeten Sprachformen hinausgehen, zu erheben. Sie basiert deshalb auf der Annahme verschiedener Hochdeutschkonzepte, wie sie in Kap. 5.2.2 geschildert wurden. Deswegen umfasste die Befragung der Pfarrpersonen verschiedene mögliche Konzepte von Standarddeutsch, um allfällige differenzierte Spracheinstellungen zu den beiden Varietäten bei den Pfarrpersonen aufzeigen zu können. Darüber hinaus wurde auch erhoben, in welchem Alter die sprachliche Sozialisierung in Standarddeutsch geschah und welche dialektale Sprachsozialisierung die interviewten Pfarrpersonen erlebt haben. Damit wird der Forderung nach der Berücksichtigung der Sprachbiographie bei der Erhebung von Spracheinstellungen Rechnung getragen. Die (ausgewählten) analysierten Themenkomplexe werden anhand aussagekräftiger Zitate aus den Interviews illustriert. Eine komplette Analyse auf mikrokontextueller Ebene ist aufgrund der Menge der erhobenen Daten (30 leitfadengesteuerte Interviews mit einer durchschnittlichen Dauer von rund 70 Minuten) im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Die Fokussierung auf ausgewählte Themenbereiche und auf die Analyse einzelner Beispielsprecher/-innen ermöglicht einen Blick in die Tiefe, ohne den Gesamtblick auf das Thema zu gefährden, der von einer allzu detaillierten Analyse aller erhobenen Daten überdeckt werden könnte. Die Ergebnisse werden auf zwei Kapitel aufgeteilt: In Kap. 9 werden die Aussagen, die den Sprachgebrauch der Pfarrpersonen in ihrem Berufsalltag betreffen, betrachtet. Die Einschätzung der Varietäten in den verschiedenen Gebrauchskontexten bzw. die unterschiedlichen Hochdeutschkonzepte werden in Kap. 10 beleuchtet. Die Synopse in Kap. 11 führt schliesslich die objektiven mit den subjektiven Daten zusammen.
antwortete beispielsweise Pfarrperson k05 auf die Frage nach dem eigenen Lieblingsdialekt wie folgt: „(Pause) Ich habe in dem Sinn keinen Lieblingsdialekt, also wenn es Umfragen gibt, dort sind die Bündner und die Berner weit vorne. Ich finde es überhaupt schön, wenn ich irgendwo bin in der Schweiz und einen alten Dialekt höre oder einen Dialekt höre, richtig noch schön geredet, finde ich den an und für sich schön. Ich habe keine Mühe mit dem Ostschweizer Dialekt (Lachen).“ 216 RIEHL (2000, 143) weist darauf hin, dass Sprecherinnen und Sprecher „ihre Einstellungen [nur dann] kommunizieren, wenn sie damit keinen Imageverlust erfahren“. Die Interviewten müssen also während des Interviews ihr Gesicht wahren können.
6 KORPUS UND METHODE Für die vorliegende Studie wurde ein Methodenmix (vgl. Tab. 13) gewählt, der es erlaubt, möglichst allen Forschungsfragen gerecht (vgl. Kap. 1.4) zu werden. Einen ersten Schwerpunkt der Untersuchung bildeten Fragen zum Sprachgebrauch der Pfarrpersonen. Diese wurden mittels authentischer Sprachgebrauchsdaten von reformierten und katholischen Gottesdiensten beantwortet (vgl. Kap. 6.1). Für die Analyse der Spracheinstellungen der Pfarrpersonen wurden leitfadengesteuerte Tiefeninterviews mit den Pfarrpersonen, deren Gottesdienstaufnahmen untersucht wurden, durchgeführt (vgl. Kap. 6.2). Ergänzt wurden diese subjektiven Daten durch eine breit angelegte Fragebogenerhebung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen unter reformierten Pfarrpersonen (vgl. Kap. 6.3). Abgerundet wurde die Studie durch eine Erhebung zu Sprachregelungen in den beiden grossen Landeskirchen der Schweiz (vgl. Kap. 6.4) sowie ein Interview zur Frage nach dem Umgang mit den Sprachformen Dialekt und Standarddeutsch in der Ausbildung reformierter Pfarrerinnen und Pfarrer (vgl. Kap. 6.5). Methode Gottesdienstaufnahmen (authentische Sprachgebrauchsdaten) (Kap. 6.1) Tiefeninterviews (Kap. 6.2) Fragebogenerhebung (Kap. 6.3) schriftliche Umfrage (Kap. 6.4) Interview mit Theologieprofessor (Kap. 6.5)
Konfession
Anzahl
Datenkategorie
reformiert
40
katholisch
6
reformiert
24
katholisch
6
reformiert
681
subjektiv
reformiert katholisch
19 22
objektiv/subjektiv
reformiert
1
subjektiv
objektiv
subjektiv
Areal BE, BL, SG, TG, ZH Bistümer der Deutschschweiz BE, BL, SG, TG, ZH Bistümer der Deutschschweiz BE, BL, SG, TG, ZH gesamte Deutschschweiz Universität Bern
Tab. 13: Übersicht über die verwendeten Methoden
6.1 AUTHENTISCHE SPRACHGEBRAUCHSDATEN: DIE GOTTESDIENSTAUFNAHMEN Bisherige Untersuchungen zum Thema Varietätenverwendung in den Kirchen weisen ein Manko auf: Sie basieren nicht auf der Analyse konkreter Sprachdaten, sondern bilden einen allgemeineren, teils subjektiven Eindruck von einzelnen Gottesdiensten ab oder begnügen sich mit der Analyse von Tonaufnahmen eines einzelnen
172
Korpus und Methode
Gottesdienstteiles (Predigt, RÜEGGER / SCHLÄPFER / STOLZ 1996). Die vorliegende Studie schliesst diese Lücke, da sie auf authentischen Tonaufnahmen von Gottesdiensten basiert, die in Deutschschweizer Kirchen gefeiert wurden. Anhand dieser Aufnahmen wird der Sprachgebrauch von reformierten und katholischen Pfarrpersonen untersucht. Für die vorliegende Studie wurden einerseits eigene Tonaufnahmen von reformierten und katholischen Gottesdiensten erstellt. Die Tonaufnahmen entstanden im Zeitraum von April 2012 bis April 2013. Sie wurden mit einem Aufnahmegerät der Marke Zoom H2217 mit einem daran angeschlossenen Richtmikrophon der Marke Sennheiser218 erstellt und im mp3-Format abgespeichert. Die Aufnahmen umfassen jeweils den kompletten Gottesdienst vom Eingangs- bis zum Ausgangsspiel. Pro Pfarrperson wurde ein Gottesdienst aufgezeichnet. Das Aufnahmegerät wurde entweder in einer der vorderen Kirchenbänke oder auf der Empore platziert. Die Pfarrpersonen wurden wenige Tage vor dem Gottesdienst angefragt, ob sie eine Aufnahme des Gottesdienstes zum Zweck einer sprachwissenschaftlichen Dissertation gestatteten und in den Tagen bzw. Wochen nach dem Gottesdienst für ein längeres Gespräch – das leitfadenstrukturierte Interview, vgl. Kap. 6.2 – zur Verfügung stünden. Die Gewährspersonen wussten zum Zeitpunkt der Aufnahme also nicht, dass das Forschungsinteresse auf der Frage der Varietätenwahl lag. Der Forschungsgegenstand wurde ihnen erst im Anschluss an den Gottesdienst mitgeteilt. 6.1.1 Das Sample reformierter Pfarrpersonen Für die Daten aus reformierten Kirchen wurden je vier Sonntagsgottesdienste219 in den fünf Deutschschweizer Kantonen Basel-Landschaft (BL), Bern (BE), St. Gallen (SG), Thurgau (TG) und Zürich (ZH) aufgezeichnet. Dabei wurden die Gottesdienste, von denen eine Tonbandaufnahme erstellt wurde, nach folgenden Kriterien ausgewählt: – – – –
nach Möglichkeit eine Aufnahme aus einer Kirche der Kantonshauptstadt, nach Möglichkeit zwei Aufnahmen aus städtischen Gemeinden und zwei aus ländlichen Gemeinden, Aufnahmen von beiden Geschlechtern, wobei kein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Pfarrerinnen und Pfarrern angestrebt wurde, nach Möglichkeit Altersdurchmischung bei den vier Pfarrpersonen.
217 Das Aufnahmegerät wurde der Autorin von der Hermann Paul School of Language Sciences (HPSL) der Universität Freiburg i. Br., an deren Promotionskolleg „Empirische Linguistik“ sie während der Dauer des Doktorats assoziiertes Mitglied war, für die Feldforschung zur Verfügung gestellt. 218 Das Richtmikrophon wurde der Autorin verdankenswerterweise vom Phonetischen Laboratorium der Universität Zürich zur Verfügung gestellt. 219 Ein Gottesdienst wurde an Pfingstmontag gefeiert.
Authentische Sprachgebrauchsdaten: Die Gottesdienstaufnahmen
173
Die Auswahl der reformierten Pfarrpersonen in den fünf Kantonen geschah einerseits über persönliche Kontakte der Verfasserin, andererseits über die Nachnamen der Pfarrpersonen – die idealerweise eindeutig als Deutschschweizer Nachnamen identifizierbar waren – und den Jahrgang der Pfarrpersonen im „Kalender der evangelischen Kirchen der Deutschschweiz“. Zusätzlich zu diesen 20 Gottesdiensten wurden weitere 20 Gottesdienste ins Korpus aufgenommen, die der Autorin von zwei Kirchgemeinden aus den Kantonen TG und SG zur Verfügung gestellt wurden. Es handelt sich dabei um Aufnahmen, die diese Gemeinden selbst hergestellt haben. Aus dem Pool der verfügbaren Aufnahmen wurden von je zwei Pfarrpersonen der beiden Kirchgemeinden je fünf Aufnahmen ausgewählt. Diese dokumentieren neben normalen Sonntagsgottesdiensten auch Fest- und Familiengottesdienste, die über das Kirchenjahr verteilt gehalten worden sind. Das ergibt für die reformierte Kirche ein Korpus von 40 Gottesdienstaufnahmen aus 22 Kirchgemeinden mit 24 verschiedenen Pfarrerinnen und Pfarrern.220 Um die Anonymität der Pfarrpersonen so weit wie möglich zu gewährleisten und Rückschlüsse auf die Gemeinden nach Möglichkeit ebenfalls zu verhindern, werden weder genaue Jahrgänge der Pfarrpersonen noch genaue Mitgliederzahlen der jeweiligen Kirchgemeinde oder Einwohnerzahlen der jeweiligen politischen Gemeinden wiedergegeben. Diese Daten werden lediglich in Abstufungen dargestellt. Dabei werden die Einwohnerzahlen (Bundesamt für Statistik 2018g221) der jeweiligen politischen Gemeinde in folgende vier Kategorien eingeteilt: – – – –
kleines Dorf (bis 5000 Einwohner) grosses Dorf (5000 bis 10’000 Einwohner)222 Kleinstadt (10’000 bis 30’000 Einwohner) Stadt (ab 30’000 Einwohner)
Bei Pfarrämtern, die sich über mehr als eine politische Gemeinde erstrecken, wurden die Einwohnerzahlen der Ortschaften zusammengezählt, d. h., dass Kirchgemeinden, die sich über mehrere politische Gemeinden hinweg erstrecken, z. B. sogenannte Diasporagemeinden, zwar einzeln je unter „kleines Dorf“ fallen würden, 220 Drei der reformierten Pfarrpersonen haben einen fremdsprachigen Elternteil (davon zwei Mal L1 Französisch, einmal Rätoromanisch), wobei nur mit einer dieser Pfarrpersonen in der Kindheit tatsächlich Französisch gesprochen wurde; in den anderen Fällen wurde Deutsch bzw. eine Mischung aus Schweizerdeutsch und Standarddeutsch gesprochen. Diese drei Personen werden im Folgenden nicht getrennt, sondern zusammen mit den übrigen 21 Gewährspersonen untersucht. 221 In der interaktiven Statistikdatenbank wurden folgende Variablen ausgewählt, um die Einwohnerzahlen der jeweiligen politischen Gemeinde zu eruieren: Jahr 2012 (Beginn der Aufnahmen in den Kirchgemeinden), Ständige Wohnbevölkerung, Geschlecht Total, Staatsangehörigkeit Total, Alter Total. 222 Die Prädikate „Dorf“ bzw. „Kleinstadt“ werden ausschliesslich aufgrund der Einwohnerzahl vergeben ohne Rücksicht auf allfällige Stadtrechte oder Selbstbezeichnungen einer Gemeinde als Dorf, obwohl die Einwohnerzahl 10’000 Personen überschreitet.
174
Korpus und Methode
zusammengezählt hier aber möglicherweise unter „Kleinstadt“ kategorisiert werden. Bei der Anzahl der Gemeindeglieder wird ebenfalls eine Kategorisierung vorgenommen, wobei hier die Einteilung in 2000er-Schritten erfolgt: – – –
< 2000 Mitglieder 2000 bis 4000 Mitglieder …
Die Mitgliederzahlen für den TG stammen aus dem Jahresbericht des Evangelischen Kirchenrates des Kantons Thurgau 2013 (Evangelischer Kirchenrat des Kantons Thurgau 2014, 44), die übrigen Zahlen (per Ende 2013) wurden bei den Pfarrpersonen direkt erfragt. Bei Städten wird die Anzahl Mitglieder für den gesamten Stadtverband angegeben und nicht die der einzelnen Kirchgemeinde.223 Beim Alter der untersuchten Pfarrpersonen werden Kategorien auf der Basis von 10-Jahres-Schritten gebildet, dabei zählt das Alter zum Zeitpunkt der Erhebungen: – – – –
30 bis 39 Jahre (Jahrgänge 1982 bis 1973) 40 bis 49 Jahre (Jahrgänge 1972 bis 1963) 50 bis 59 Jahre (Jahrgänge 1962 bis 1953) ≥ 60 Jahre (Jahrgänge 1952 und älter)
Die zur Kennzeichnung der Gottesdienste verwendeten Siglen können gemäss den Angaben in Tab. 14 aufgeschlüsselt werden:
Konfession
r = reformiert
Kirchgemeinde
fortlaufend ab 01
Pfarrperson
Art des GD224
Nummer des GD
Kanton
Art der Aufnahme (eigene vs. zur Verfügung gestellt)
fortlaufend ab 01
pr = PredigtGD fe = FesttagsGD fa = Familien-GD
in der Regel 01, bei Vergleichsaufnahmen 01–05
BE BL SG TG ZH225
s = eigene i = fremde
Tab. 14: Aufschlüsselung der verwendeten Siglen für die reformierten Aufnahmen
223 In Städten existieren in der Regel verschiedene (kleinere) Kirchgemeinden. 224 GD = Gottesdienst. 225 Die Kantonsnamen werden hier und im Folgenden mit den jeweiligen Autokennzeichen abgekürzt.
175
Authentische Sprachgebrauchsdaten: Die Gottesdienstaufnahmen
Die Sigle r0102fe04tgi bedeutet demnach, dass es sich um eine der Aufnahmen von einer reformierten Pfarrperson handelt. Sie stammt aus Gemeinde 01 von Pfarrperson 02 und dokumentiert einen Festgottesdienst. Der Gottesdienst ist Gottesdienst Nummer 04 dieser Person (es handelt sich also um eine Vergleichsaufnahme). Die Aufnahme stammt aus dem TG und wurde nicht von der Verfasserin hergestellt. Das Korpus der vorliegenden Studie präsentiert sich wie folgt: Kanton Sigle TG r0101pr01tgi r0101pr02tgi r0101pr03tgi r0101fe04tgs226 r0101fe05tgi TG r0102fa01tgi r0102pr02tgi r0102pr03tgi r0102fe04tgi r0102pr05tgi TG r0203pr01tgs TG r0304pr01tgs TG r0405pr01tgs TG r0506fe01tgs SG r0607pr01sgs SG r0708pr01sgs SG r0809pr01sgs SG r0910pr01sgs
Angaben zur Gemeinde
Geschlecht Pfarrperson
Alter Pfarrperson
Kürzel Pfarrperson
Kleinstadt 8000–10’000 Gemeindeglieder Teampfarramt
männlich
≥ 60
r01
Kleinstadt 8000–10’000 Gemeindeglieder Teampfarramt
männlich
50–59
r02
männlich
40–49
r03
weiblich
30–39
r04
männlich
30–39
r05
männlich
40–49
r06
männlich
40–49
r07
männlich
40–49
r08
weiblich
30–39
r09
männlich
50–59
r10
Kleinstadt 4000–6000 Gemeindeglieder Teampfarramt Kleinstadt 2000–4000 Gemeindeglieder Teampfarramt kleines Dorf
Dialekt), zwischen Einleitung Fürbitte und Fürbitte (Dialekt > Standarddeutsch), zwischen Einleitung Unser Vater und Unser Vater (Dialekt > Standarddeutsch), zwischen Unser Vater und Mitteilungen (Standarddeutsch > Dialekt), zwischen Einleitung Segen und Segen (Dialekt > Standarddeutsch).
Solche Wechsel sind im Folgenden anhand von vier Beispielen aus dem Korpus illustriert. GD-Zitat 4. ihr sollt merken | dass ein lebendiger gott | unter euch ist | (0.8) | amen | (0.8) | liebi gmaind häärzlech wilkommen im gottesdienscht an uffert | (0.9) | schöön hend sii s aagebot woorgnoo [Eingangswort > Gruss, GD r0506fe01tgs]285 GD-Zitat 5. amen | (0.8) | wir sitzen | (17.0) | im anschluss | a de gottesdienscht simer alli iiglade zum | chirchekafi dobe | im saal | (0.7) [Unser Vater > Mitteilungen, GD r0101pr02tgi]286 GD-Zitat 6. mir ghööred de predigtteggscht är stoot im matthäusevangeelium | kapitel zwöölf i dä väärse achdedrisg | bis zwaievierzg | (1.7) | einige schriftgelehrte und pharisäer | (0.5) | traten an jesus heran | und sagten | (0.9) [Einleitung Lesung > Lesung, GD r0102pr05tgi]287 GD-Zitat 7. iich schlüsse und entlaa sii mit em säge vo gott | (5.7) | gott segne dich und behüte dich | (1.1) | gott lasse sein angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig | (1.5) | gott erhebe sein angesicht auf
285 „Liebe Gemeinde! Herzlich willkommen im Gottesdienst an Auffahrt! Schön, haben Sie das Angebot wahrgenommen.“ 286 „Im Anschluss an den Gottesdienst sind wir eingeladen zum Kirchenkaffee oben im Saal.“ 287 „Wir hören den Predigttext. Er steht im Matthäusevangelium, Kapitel 12, in den Versen 38 bis 42.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
239
dich | (0.8) | und gebe dir frieden | (1.9) | amen | (2.6) [Einleitung Segen > Segen, GD r0708pr01sgs]288
Neben diesen situationsinduzierten Varietätenwechseln zwischen den einzelnen Gottesdienstteilen finden sich sehr viele „diskursinduzierte Code-Switchings“ zwischen Dialekt und Standarddeutsch bzw. umgekehrt innerhalb einzelner Gottesdienstteile. Auf diese wird in den nächsten beiden Kapiteln eingegangen. 8.1.6 Code-Switchings vom Dialekt zum Standarddeutschen Im Korpus der reformierten Gottesdienstaufnahmen lässt sich eine Vielzahl von Codewechseln feststellen. Ausgewählte Beispiele werden hier vorgestellt. Im Wissen darum, dass solche diskursinduzierte CS aus soziopragmatischer Sicht eine funktionale Bedeutung haben und in der Deutschschweiz, wie in Kap. 4.3 gezeigt, als stilistisches Mittel eingesetzt werden können, werden diese Wechsel im Hinblick auf mögliche Funktionen untersucht und unter Bezugnahme der bereits bestehenden Einteilungen (vgl. Kap. 4.3.3) klassifiziert. Varietätenwechsel vom Dialekt zum Standarddeutschen finden in vielen Gottesdiensten dann statt, wenn aus dem Standarddeutschen zitiert wird; dies ist beispielsweise der Fall bei Bibelversen oder Liedtiteln. So wird in GD-Zitat 8 der Titel eines standarddeutschen Lieds aus dem RG zitiert, in GD-Zitat 9 ein Bibelvers zum Abschluss der Abkündigungen: GD-Zitat 8. drum singe mer etzt zum aafang us em lied acht | ich lobe meinen gott von ganzem herzen | me singed das lied acht zwai mool dure | (2.7) [Einleitung Lied, GD r0102fa01tgi]289 GD-Zitat 9. si isch verwitwet gsii | und isch gschtoorbe im seggsedachzigschte | läbesjoor | (1.8) | jesus christus sait | (0.6) | ich bin die auferstehung und das leben | (0.7) | wer mich annimmt wird leben | auch wenn er stirbt | (0.8) | und wer lebt und sich auf mich verlässt | wird niemals sterben | (1.3) | amen | pause (1.8) | [Abkündigungen, GD r0102fa01tgi]290
Solche Code-Switchings haben die Funktion, Äusserungsteile als Zitat erkennbar zu machen. Diese Art des Codewechsels ist die am häufigsten vertretene im Korpus; weitaus am meisten wird sie für Bibelverse verwendet. In der Regel wird mit solchen CS innerhalb des Gottesdienstes klar angezeigt, dass die Worte nicht die der Pfarrperson, sondern „fremde Worte“ sind. Die Pfarrpersonen können so eigene Gedanken durch den Varietätenwechsel von übernommenem Text trennen. Diese
288 „Ich schliesse und entlasse Sie mit dem Segen von Gott.“ 289 „Darum singen wir jetzt zum Anfang aus dem Lied acht […]. Wir singen das Lied acht zwei Mal durch.“ 290 „Sie ist verwitwet gewesen und ist gestorben im 86. Lebensjahr. Jesus Christus sagt […].“
240
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Möglichkeit nutzen einige von ihnen sehr extensiv (vgl. die Anzahl Gottesdienste, die Varietätenmuster 3 bzw. 4 folgen). Diese Art von Varietätenwechsel findet man in verschiedenen Dialektpredigten, wo allein durch den Wechsel zum Standarddeutschen angezeigt wird, dass ein Bibelwort zitiert wird (und nicht durch eine Einleitungsphrase wie „In der Bibel steht“ oder „Jesus spricht“), und die teils einen Satz im Dialekt unterbrechen: GD-Zitat 10. und wil die liebi äbe nöd nuu es gfüül isch wo vilech emool doo isch vilech au mol nöd doo isch sondern sich | imer wider erwiist i de troiji (2.4) | und i de übernaam vo verantwortig (2.9) | drum git jesus dem petrus jetzt (2.8) | grad en uuftraag | weide meine schafe | (2.5) | dass jesus im ussgrächnet dem petrus | sogäär mit em amt vo de mit äm hirtenamt vo de chirche betraut | (1.1) [Predigt, GD r0203pr01tgs]291 GD-Zitat 11. und zwaitens tuet d maria mit iirer antwoort | mir geschehe nach deinem wort | (1.6) | öpis saage wo in der schöpfigsgschicht | umgekheert | seer oft voorchunt | (1.1) | der herr sprach | und es geschah | (1.0) | jede daag | (2.4) [Predigt, GD r0607pr01sgs]292 GD-Zitat 12. sogaar de wiipuur | cha nämlech e gwüssi heerti zeige | (0.7) | u drum seit er | zum figeboum | (1.1) | oder er seit über de figeboum | (1.0) | vielleicht bringt er in zukunft doch noch frucht | (1.1) | wenn aber nicht | (0.8) | lass ihn umhauen | (1.3) | ganz oohni frucht geits auso gliich nid | (0.8) | füürsoorg u geduud si wichtig | (0.8) | aber si söue doch ou öpis bewüürke [Predigt, GD r1517pr01bes]293
Das ganze Potential, das solchen Code-Switchings innerhalb eines Gottesdienstes, der vom Dialekt dominiert wird, innewohnt, zeigt das Beispiel aus dem Gottesdienst von Pfarrperson r05 exemplarisch: Sie wechselt während der Predigt an einer Stelle innerhalb eines solchen Bibelzitates gar ohne Pause zurück in den Dialekt, um eine eigene Ergänzung zu markieren: GD-Zitat 13. me söll nöd säge chumm daas mache mer etzt immer esoo | oder miir gönd immer döthii oder miir mached aifach ales mitenand daa isch soo | söll me nöd säge oder leered miir | aber i de bible staat | alle dinge ooni usnaam sind möglich dem der glaubt | soo es vols muul | (1.6) | ali sache | eben aa die
291 „Und weil diese Liebe eben nicht nur ein Gefühl ist, das vielleicht einmal hier ist, vielleicht auch einmal nicht hier ist, sondern sich immer wieder erweist in der Treue und in der Übernahme von Verantwortung, darum gibt Jesus dem Petrus jetzt gerade einen Auftrag […]. Dass Jesus ihm ausgerechnet, dem Petrus, sogar mit dem Amt von der, mit dem Hirtenamt von der Kirche betraut.“ 292 „Und zweitens tut die Maria mit ihrer Antwort […] etwas sagen, das in der Schöpfungsgeschichte umgekehrt sehr oft vorkommt […] jeden Tag.“ 293 „Sogar der Weinbauer kann nämlich eine gewisse Härte zeigen. Und darum sagt er zum Feigenbaum oder er sagt über den Feigenbaum: […]. Ganz ohne Frucht geht es also gleich [= trotzdem] nicht. Fürsorge und Geduld sind wichtig, aber sie sollen doch auch etwas bewirken.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
241
wo miir nöd draa tänked dass sii vilicht möglich wääred [Predigt, GD r0405pr01tgs]294
Dieses Beispiel zeigt exemplarisch: Alles, was Standarddeutsch ist, sind Worte von anderen; alles, was Dialekt ist, ist eigenes Gedankengut. Dieses Schema benutzen verschiedene reformierte Pfarrpersonen konsequent. Die Verwendung von standarddeutschen Bibelzitaten in Dialektpredigten wird auch häufig eingesetzt, um Teile des Predigttextes wieder aufzunehmen und sie anschliessend im Dialekt zu erklären (vgl. GD-Zitat 14): GD-Zitat 14. üse täggscht redt vor angere siite häär | (0.3) | redt vo däm | wo gott | mit üüs macht | (0.5) | nämlech | (0.8) | gerecht gesprochen | aus | glauben | (1.1) | grächtfeertiget us | gloube | was meint | daas | (1.2) [Predigt, GD r1820pr01bes]295
Möglich ist aber auch die umgekehrte Reihenfolge: Die Pfarrperson benutzt in GDZitat 15 die standarddeutsche Fassung des Bibelverses, um dem vorher Gesagten, ihrer persönlichen Interpretation des Inhalts dieses Verses, Gewicht zu verleihen. Sie macht somit klar, dass es sich hierbei um ein Wort aus der Bibel handelt, ein Wort von Jesus, was sie mit der Einleitung Jesus sait noch unterstreicht. Ähnlich handhabt das eine andere Pfarrperson (vgl. GD-Zitat 16), die innerhalb der Predigt an einer Stelle ganz kurz ins Standarddeutsche wechselt, um der vorher im Dialekt zitierten Bibelstelle durch die Wiederholung in Standarddeutsch nochmals stärkeres Gewicht zu verleihen. Diese beiden Code-Switchings haben also mehr als eine Funktion (Zitat, Gewicht verleihen). GD-Zitat 15. aber jesus christus wett siis huus sini chile | us öis boue | us diir und us miir | d chile isch nöd öpis wo wiit wäg isch sondern d chile bisch duu | (1.2) | jesus sait ich bin mitten unter euch | (1.1) | iich lad öi jetz ii s lied bi de numere hundertainedachzg z singe bi de tauffi chömed miir [Taufbesinnung und Einleitung Tauflied, GD r0405pr01tgs]296 GD-Zitat 16. und so sin si zu jesus cho und hän gfrogt jo un worum faschte jetz | diini jünger nid | (1.0) | si sin skeptisch gsii | was bisch denn du für aine | was bisch denn du für aine | stoot derhinter hinter dere froog | (1.1) | anderi sin weeniger zrugghaltend gsii und hen sogaar gsait | du bisch e frässer | und e wiisuffer | | ein fresser und weinsäufer | so hät me | hinter sim rugge
294 „Man soll nicht sagen: Komm, wir machen das jetzt immer so. Oder: Wir gehen immer dorthin. Oder: Wir machen einfach alles miteinander, das ist so. Soll man nicht sagen. Oder lernen wir. Aber in der Bibel steht: […] ohne Ausnahme […]. So einen vollen Mund. Alle Sachen, eben auch die, an die wir nicht denken, dass sie möglich wären.“ 295 „Unser Text redet von der anderen Seite her, redet von dem, was Gott mit uns macht, nämlich […]. Gerechtfertigt aus Glauben, was meint das?“ 296 „Aber Jesus Christus will sein Haus, seine Kirche aus uns bauen, aus dir und aus mir. Die Kirche ist nicht etwas, das weit weg ist, sondern die Kirche bist du. Jesus sagt […]. Ich lade euch jetzt ein, das Lied bei der Nummer 181 zu singen: ‚Bi de Tauffi chömed miir‘ [Dialektlied; Bei der Taufe kommen wir].“
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst zischt | | dä khent jo khai maass | dä khent jo khaini reegle [Predigt, GD r2224fe01bls]297
Eine doppelte Funktion hat auch das Code-Switching in GD-Zitat 17: Der zitierte Bibelvers hat den Status einer im Deutschen weitverbreiteten Redewendung. Es handelt sich hierbei also nicht nur um ein CS zur Kennzeichnung eines Bibelzitates, sondern gleichzeitig um das Verwenden von Standarddeutsch für einen idiomatischen Ausdruck. Idiomatische Ausdrücke stellen „eine besonders beliebte Quelle für Übernahmen aus der Standardsprache dar“ (CHRISTEN et al. 2010, 80). GD-Zitat 17. mir mönsche | mir spile i der schöpfig e wichtige roue | nid geng voorbiudlech | (0.4) | aber wichtig | (1.3) | mir sii gäärtner vo däre schöpfig | (1.4) | miir beboue land | tües bewiirtschafte | nümm ganz aui | im schweisse ihres angesichts | (0.6) | aber indiräkt müesse miir fascht aui öpis leischte | für dass mer z ässe uf em tisch hei [Predigt, GD r1517pr01bes]298
In einem weiteren Gottesdienst werden Zeitungsschlagzeilen bzw. Zeitungsausschnitte (pseudo-)zitiert, wobei die (vermeintlichen?) Ausschnitte nur teils in Standarddeutsch zitiert werden (kein schnee und kein glatteis mehr und höhere temperaturen), ein Teil wird im Dialekt wiedergegeben (raifewächsel, es langs wuchänend oder irgende hööchs chrischtlechs fäscht): GD-Zitat 18. was bedeutet ostern für sie | (1.1) | ali joor wider gsiet mer i de tagesziitig irgendes intervjuu | wo wildfremdi lüüt uf de strooss aagschproche wärded | wo mer denn die froog stelt | und denn sind doo so schööni bildli | porträfotene vo dene lüüt ich waiss nöd öb näbert vo ine au mol abfotografiert woorden isch und die froog | gschtelt woorden isch | und e paar gedanke wa etzt äbe ooschtere söll bedüüte | (1.3) | e paar mainige dodezue wos denn mängmol so git | (1.1.) | kein schnee und kein glatteis mehr und höhere temperaturen | bedüüted ooschtere | (1.9) | die tage werden länger | (3.3) | raifewächsel | (4.3) | es langs wuchänend | oder irgende hööchs chrischtlechs fäscht [Predigt, GDr1012fe02sgi]299
297 „Und so sind sie zu Jesus gekommen und haben gefragt: Ja, und warum fasten jetzt deine Jünger nicht? Sie sind skeptisch gewesen. Was bist du denn für einer? Was bist du denn für einer? Steht dahinter, hinter dieser Frage. Andere sind weniger zurückhaltend gewesen und haben sogar gesagt: Du bist ein Fresser und ein Weinsäufer. […]. So hat man hinter seinem Rücken gezischt. Der kennt ja kein Mass, der kennt ja keine Regeln.“ 298 „Wir Menschen, wir spielen in der Schöpfung eine wichtige Rolle, nicht immer vorbildlich, aber wichtig. Wir sind Gärtner von dieser Schöpfung. Wir bebauen das Land, tun es bewirtschaften. Nicht mehr ganz alle […], aber indirekt müssen wir fast alle etwas leisten, für dass wir zu essen auf dem Tisch haben.“ 299 „Alle Jahre wieder sieht man in der Tageszeitung irgendein Interview, in dem wildfremde Leute auf der Strasse angesprochen werden, denen man dann die Frage stellt. Und dann sind da so schöne Bildlein, Portraitfotos von diesen Leuten. Ich weiss nicht, ob jemand von Ihnen auch mal abfotografiert worden und [jemandem] von Ihnen diese Frage gestellt worden ist, und
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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Eine spezielle Art des Zitats findet sich schliesslich in GD-Zitat 19: Die Pfarrperson übersetzt einen lateinischen Ausdruck ins Standarddeutsche und verwendet für die deutsche Übersetzung das Standarddeutsche. Es scheint so, dass für das Übersetzen eines fremdsprachlichen Terminus die Standardsprache geeigneter ist als der Dialekt, wohl auch deswegen, weil dadurch die Übersetzung selbst als klar markiert und begrenzt in dieser Dialektpassage erkennbar wird: GD-Zitat 19. uf em chirchleche kalender hät de suntig de gschpässig name | quasimodo geniti | daas isch latiinisch und bedüüted | wie die neugeborenen kinder | (0.8) | daas isch genau daas bild s bild für daas noiji läbe | wo dur d uferschteeig vo jesus i die wält choo isch [Gruss, GD r0203pr01tgs]300
Nicht immer jedoch wird für Zitate ins Standarddeutsche gewechselt. Im Korpus finden sich einige Stellen, wo Passagen, die aus Zitaten bestehen, im Dialekt gesprochen werden, wie die folgenden Beispiele zeigen. Dabei handelt es sich beispielsweise um die Abendmahlsliturgie (GD-Zitat 20), das Eingangswort (z. B. bestehend aus Kanzelgruss und Bibelvers aus Johannes 6,35 in GD-Zitat 21), den Segen (GD-Zitat 22)301 oder Bibelzitate, die während Taufen (z. B. Johannes 8,12 in GD-Zitat 23) im Dialekt gesprochen werden: GD-Zitat 20. a dem | aabig bevoor jesus | gfange gnoo und | krüüziget woorden isch | (0.8) | isch är namal mit sine fründe | zäme gsässe | (1.2) | da hät jesus s broot gnoo | (0.9) | hät gott defüür tanked | (1.3) | hät s in stück proche | und hät alne devoo gee | (0.9) | dezue hät er gsait […] [Abendmahl Einsetzungsworte, GD r1011fe02sgi]302 GD-Zitat 21. im name vo gott | wo ales läbe schaft und gäärn hät | (0.5) | im name vo jesus christus | wo üüs d liebi vo gott nööch bringt | (0.6) | und im name vom hailige gaischt | wo üses zämeläbe wett glinge laa | (0.5) | fiire mer mitenand dee gottesdienscht | (1.7) | jesus christus sait | (0.7) | iich | bi s broot vom läbe | (0.9) | wäär zu miir chunt hät nie mee hunger | (0.5) | und wäär a miich glaubt | hät nie mee turscht | (1.8) | amen [Eingangswort, GD r1416fa01zhs]303
300 301 302 303
ein paar Gedanken, was jetzt eben Ostern bedeuten soll. Ein paar Meinungen dazu, die es dann manchmal so gibt: […] bedeutet Ostern. […]. Reifenwechsel, ein langes Wochenende oder irgendein hohes christliches Fest.“ „Auf dem kirchlichen Kalender hat der Sonntag den gespässigen [= sonderbaren, seltsamen] Namen Quasimodo geniti. Das ist lateinisch und bedeutet […]. Das ist genau das Bild, das Bild für das neue Leben, das durch die Auferstehung von Jesus in die Welt gekommen ist.“ Der Segen ist eine Dialektübertragung des Aaronitischen Segens (was man u. a. am Genitiv gottes gaischt erkennen kann, den Konjunktiv 1 übersetzt die Pfarrperson mit dem Modalverb sollen). „An dem Abend, bevor Jesus gefangen genommen und gekreuzigt worden ist, ist er nochmals mit seinen Freunden zusammen gesessen. Da hat Jesus das Brot genommen, hat Gott dafür gedankt, hat es in Stücke gebrochen und hat allen davon gegeben. Dazu hat er gesagt […].“ „Im Namen von Gott, der alles Leben schafft und gern hat, im Namen von Jesus Christus, der uns die Liebe von Gott nahe bringt, und im Namen vom Heiligen Geist, der unser Zusammenleben gelingen lassen will, feiern wir miteinander diesen Gottesdienst. Jesus Christus sagt: Ich
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst GD-Zitat 22. gönd i de chraft wo öi gee isch | aifach | liechtfüessig | und zaart | (0.8) | halted uusschau nach de liebi | (1.0) | gottes gaischt | beglaited öi | (1.8) | gott söll diich sägne | und behüete | (0.9) | er söll siis gsicht über diir lüüchte laa | und diir gnäädig sii | (1.2) | är söll guet uf diich acht gee | (0.9) | und diir sin fride schänke | (1.1) | amen [Segen, GD r1011fa04sgi]304 GD-Zitat 23. me hend jetz doo ee taufcheerze | wo de vatter | wörd für sin soon aazünde | jesus christus hät jo gsait | ich bi s liecht vo de wält | wer miir noofolgt wörd nöd im tunkle bliibe | sondern er wörd s liecht vom läbe haa | (17.8) [Taufhandlung, GD r0102pr03tgi]305
Einen Extremfall innerhalb des Korpus bildet das Unser Vater im Dialekt, das in einem Gottesdienst von einem Jodelquartett gesungen wird: GD-Zitat 24. üse vatter im himu | heilig isch di naame | dis riich chunt di wiue gscheet | im himu und uf ärdä | gib üüs hüt üsers tääglech broot | u vergib üüs üsri schuud | u mir vergää üsne schuudiger | füer üüs nid i versuechig | mach üüs frei vom bööse | ds riich u d chraft u d herrlechkeit isch hie bis i d ewigkeit | amen [Unser Vater, GD r1820pr01bes]306
Letztlich sind jedoch die Fälle, in denen in den untersuchten reformierten Gottesdiensten für Zitate von Bibelversen Dialekt verwendet wird, nicht allzu häufig. Neben der Funktion, Zitate erkennbar zu machen, haben die Code-Switchings in den reformierten Gottesdiensten auch die Funktion, das Vor- bzw. Ablesen von schriftlichen Vorlagen zu markieren: So werden viele Lesungen in Standarddeutsch gehalten; auch die Taufversprechen oder literarische Texte werden in Standarddeutsch gelesen. GD-Zitat 25. d lääsig us em eerschde teschtamänt | die schdood im | eerschde khöönigsbuech | (1.0) | khapitel acht | det haists | (1.8) | und vor der ganzen gemeinde israels | (0.5) | trat salomon an den altar des
bin das Brot vom Leben. Wer zu mir kommt, hat nie mehr Hunger. Und wer an mich glaubt, hat nie mehr Durst. Amen.“ 304 „Geht in der Kraft, die euch gegeben ist, einfach, leichtfüssig und zart. Haltet Ausschau nach der Liebe. Gottes Geist begleitet euch. Gott soll dich segnen und behüten. Er soll sein Gesicht über dir leuchten lassen und dir gnädig sein. Er soll gut auf dich Acht geben und dir seinen Frieden schenken. Amen.“ 305 „Wir haben jetzt hier eine Taufkerze, die der Vater für seinen Sohn anzünden wird. Jesus Christus hat ja gesagt: Ich bin das Licht von der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Dunkeln bleiben, sondern er wird das Licht vom Leben haben.“ 306 „Unser Vater im Himmel, heilig ist dein Name, dein Reich kommt, dein Wille geschieht, im Himmel und auf Erden. Gib uns heute unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld und wir vergeben unseren Schuldigern. Führe uns nicht in Versuchung, mach uns frei vom Bösen. Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit ist hier bis in die Ewigkeit. Amen.“
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herrn | (1.2) | breitete seine hände zum himmel aus und sprach [Einleitung Lesung > Lesung, GD r0506fe01tgs]307
Schliesslich werden in reformierten Gottesdiensten durch Wechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche Propria erkennbar gemacht, wie beispielsweise Veranstaltungstitel: GD-Zitat 26. drum findet am mittwoch | am sibni | (1.9) | döt die meditatsioon statt | ganz nah und weit weg | (1.2) | fragen an dorothee | (0.8) | von flüe | mit de %Name% %Name% | de %Name% %Name% | (1.5) | und | (0.8) [Mitteilungen, GD r0101pr03tgi]308
8.1.7 Code-Switchings vom Standarddeutschen zum Dialekt Auch Wechsel vom Standarddeutschen in den Dialekt gibt es zahlreiche in den untersuchten reformierten Gottesdiensten. Diese sind vielfältiger Art, wie die folgenden Beispiele zeigen. GD-Zitat 27. in ewigkeit | (0.6) | amen | (0.9) | mer sitzed | (12.2) | es werden | frauen | (0.9) [Unser Vater > Mitteilungen, GD r0101pr03tgi]309
Dieses CS markiert eine Regieanweisung310 an die Gemeinde, anschliessend an das Unser Vater wieder Platz zu nehmen.311 Die Pfarrperson verwendet hierbei die Formulierung in der 1. Person Plural, obwohl sie selbst sich nicht setzen wird, vermittelt der Gemeinde aber so das Gefühl, ebenfalls ein Teil dieser Gemeinde zu sein.312 307 „Die Lesung aus dem ersten Testament, die steht im ersten Königsbuch, Kapitel acht, dort heisst es: […].“ 308 „Darum findet am Mittwoch um sieben dort diese Meditation statt […] mit %Name% %Name%, %Name% %Name% und.“ 309 „Wir sitzen.“ 310 Der Ausdruck wird auch von PAUL (1990, 52–53 und Fussnote 9) verwendet: „Regieanweisungen moderieren den Vollzug des konventionalen Verfahrens, gehören also selbst nicht notwendigerweise zum Vollzug.“ Er verweist dabei auch auf SCHLOZ, einen praktischen Theologen, der den Terminus „zur Bezeichnung moderierender Zwischentexte im Gottesdienst“ verwendet (PAUL 1990, 53, Fussnote 9). Durch Regieanweisungen wird in Gottesdiensten „auch das körpersprachliche Verhalten der Gemeinde gesteuert“ (PAUL 1990, 68). Für PAUL umfassen dabei Regieanweisungen weitgehend auch die in dieser Studie als Einleitungen eines Gottesdienstteils beschriebene Sequenzen. 311 „Da das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis zu den Höhepunkten der rituellen Kommunikation zählen, sind in den entsprechenden Regieanweisungen häufig Hinweise auf die Regelung des körpersprachlichen Verhaltens zu finden, denn das Aufstehen signalisiert immer auch ein Ansteigen der Ritualität […].“ (PAUL 1990, 186–187; Hervorhebung S.O.) 312 Gemäss PAUL (1990, 68; Hervorhebung S.O.) ist „die Verwendung der 1. Person Plural des Personalpronomens“ ein typisches Merkmal „für die Ankündigung und für das Benennen ritueller Aktivitäten […], weil dadurch der Gemeinschaftsaspekt am besten ausgedrückt werden kann“.
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Solche Regieanweisungen finden sich im Korpus einige, wie auch die folgenden zwei Beispiele zeigen. Im ersten leitet die Pfarrperson das gemeinsame Unser Vater ein, im zweiten teilt eine andere Pfarrperson der Gemeinde mit, wie diese ein Lied zu singen bzw. zu lesen hat: GD-Zitat 28. lass uns glauben und erfahren | dass du selbst eingegangen bist | (0.7) | in unseren zerbrechlichen leib | (2.3) | und zäme bäte mer | (0.8) | unser vater im himmel | geheiligt werde dein name | dein reich komme [Fürbitte > Einleitung Unser Vater > Unser Vater, GD r0506fetgs]313 GD-Zitat 29. und nun sind wir eingeladen zur feier des heiligen mahles | wir singen und lesen bei nummer dreihundertzwanzig | (0.6) | di uugraade tömer singe di graade läse | [Abendmahl Einleitung Lied, GD r0101fe04tgs]314
Die Regieanweisung in GD-Zitat 29 erfährt durch den Varietätenwechsel einen spontanen Charakter: Es ist an dieser Stelle bereits klar, welches Lied gesungen bzw. gelesen wird, die Pfarrperson muss nun aber noch ergänzen, welche Strophen denn nun gelesen und welche gesungen werden sollen. Das macht sie im Dialekt und verwendet dafür wiederum die 1. Person Plural. Ob es sich hier wirklich um eine spontane Ansage handelt, darf bezweifelt werden – die Ansage ist nämlich nötig für das Gelingen des anschliessenden Liedes. Warum die Pfarrperson genau an dieser Stelle wechselt und so diese (inszenierte) Spontaneität (vgl. dazu auch PAUL 1990, 160–165) gewissermassen markiert, muss offen bleiben. Es handelt sich aber um ein Muster, das diese Pfarrperson auch anderswo einsetzt. Wiederum wird ersichtlich, dass ein einzelnes Code-Switching mehrere Funktionen ausdrücken kann (wie hier Regieanweisung und inszenierte Spontaneität) bzw. sich mehrere Funktionen in einem Varietätenwechsel überlagern können. Dies ist auch bei GD-Zitat 30 der Fall: GD-Zitat 30. amen | (0.8) | wir sitzen | (17.0) | im anschluss | a de gottesdienscht simer alli iiglade zum | chirchekafi dobe | im saal | (0.7) [Unser Vater > Mitteilungen, GD r0101pr02tgi]315
Dieses Code-Switching findet beim Übergang vom Unser Vater zu den Mitteilungen statt, der Wechsel wird aber erst beim dritten Wort der Mitteilungen vollzogen, die ersten beiden (im Anschluss) sind noch in Standarddeutsch gesprochen. Bei diesem CS handelt es sich am ehesten um einen Wechsel der Kommunikationsperspektive durch die Pfarrperson. In der gottesdienstlichen Kommunikation kann gemäss PAUL (1990, 34–35) zwischen vertikaler und horizontaler Kommunikation unterschieden werden. Dabei wird „[d]ie Kommunikation mit Gott als vertikale Kommunikation bezeichnet, alle anderen kommunikativen Handlungen sind horizontal ausgerichtet“ (PAUL 1990, 34). Er unterscheidet drei Konstellationen von 313 „Und zusammen beten wir: […].“ 314 „Die ungeraden tun wir singen, die geraden lesen.“ 315 „Im Anschluss an den Gottesdienst sind wir eingeladen zum Kirchenkaffee oben im Saal.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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Kommunikationssituationen im Gottesdienst: 1) „Die Gemeinde kommuniziert mit Gott“, kommuniziert also vertikal. Dabei kann das Gebet als „eindeutigste[r] Fall vertikaler Kommunikation“ bezeichnet werden (PAUL 1990, 35). 2) „Der Pastor kommuniziert mit der Gemeinde.“ Diese Art von Kommunikation ist „[w]esentlich stärker an die Alltagskommunikation angeglichen“, einen typischen Fall für diese Art von Kommunikation stellt die Predigt dar (PAUL 1990, 35). 3) „Die Gemeinde kommuniziert während des Gottesdienstes untereinander.“ PAUL (1990, 36) merkt an, dass diese „Konstellation […] zwar in der Agende nicht vorgesehen [ist], aber […] der Vollständigkeit halber aufgeführt werden“ soll. Es können aber auch Mischformen vorkommen, z. B. „weil die Äußerungen des Pastors in der Predigtsituation zugleich Verkündigung von Gottes Wort sind“ (PAUL 1990, 36).316 Zusätzlich verwendet PAUL den Begriff Autokommunikation „[z]ur Beschreibung bestimmter Eigenschaften vertikaler Kommunikation“, so z. B. von Gebeten (PAUL 1990, 37).317 Die Pfarrperson r01 wechselt also zu Beginn der Mitteilungen in den Dialekt und begibt sich damit von der klar vertikalen Perspektive des Unser-Vater-Gebets hin zu einer horizontalen Perspektive, wo sie das Personalpronomen in der 1. Person Plural verwendet und somit den Gemeinschaftsaspekt betont. Sie befindet sich nun also auf einer Ebene mit der Gemeinde und sieht sich in dieser konkreten Situation wohl sogar als Teil der Gemeinde und nicht mehr primär als Vorsteherin des Gottesdienstes.
316 PAUL (1990, 37) weist darauf hin, dass die „Verwendung vorformulierter Texte […] die Komplexität der Kommunikationssituation erheblich“ erhöht. „Nicht selten ist in den liturgischen Texten bereits eine Kommunikationssituation angelegt“. 317 Wechsel der Kommunikationsperspektiven können auch durch den sogenannten „pastoralen Ton“, eine spezifische Art der Intonation, signalisiert werden: „Der pastorale Ton kann […] wichtige Hinweise für das Überschreiten von Formalisierungsgrenzen oder für den Wechsel von horizontaler zu vertikaler Kommunikation geben.“ Dabei gibt es aber in der Realisierung dieses pastoralen Tons „Schwankungen von Sprecher zu Sprecher, auch bedingt durch den persönlichen Hintergrund, etwa die Möglichkeit, in eine dialektale Färbung umzuschalten“ (PAUL 1990, 178; Hervorhebung S.O.).
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Abb. 32: Visualisierung der möglichen Kommunikationsperspektiven im Gottesdienst (vgl. PAUL 1990, 34–35)
Als Fall von gleichzeitiger Regieanweisung und Wechsel der Kommunikationsperspektive kann der folgende Varietätenwechsel in einem Festgottesdienst mit Abendmahl interpretiert werden: GD-Zitat 31. christus hat zu seinen freunden gesagt | frieden | (0.4) | gebe ich euch | (0.8) | nicht wie die welt ihn gibt | (1.0) | meinen frieden | (0.4) | gebe ich euch | (0.8) | vilicht dass au miir denand es zaiche vo dem shalom jetzt wiitergänd | (30.4) | lied dreihundertsechsunddreissig [Abendmahl Friedensgruss > Abendmahl Lied Einleitung, GD r0101fe04tgs]318
Der Wechsel erfolgt hier an der Stelle, wo der gesprochene Friedensgruss in den getätigten Friedensgruss übergeht. Was in katholischen Gottesdiensten fester Teil der Eucharistie ist, ist in reformierten Gottesdiensten mit Abendmahl eine Möglichkeit, wird aber nicht immer genutzt: den Friedensgruss auszuführen. Die Pfarrperson gibt also an dieser Stelle eine Regieanweisung, sie sagt der Gemeinde, dass der Friedensgruss mit gegenseitigem Händereichen tatsächlich ausgeführt wird. Gleichzeitig ändert sie die Perspektive und wechselt auf die horizontale Kommunikationsebene, sieht sich also als Teil der Gemeinde, was durch die Verwendung des Personalpronomens wir betont wird. Man könnte den Eindruck bekommen, die reale Ausführung des Friedensgrusses stelle eine spontane, im Moment entstandene Idee der Pfarrperson dar. Der Eindruck entsteht einerseits durch das CS, andererseits durch die Verwendung des Adverbs vilicht. Dass sich in diesem Beispiel aber eine dritte Funktion des Varietätenwechsels zeigt, geht aus einem zweiten Festgottesdienst dieser Pfarrperson hervor. In diesem wechselt Pfarrperson r01 nur an einer einzigen Stelle die Varietät: bei der Anweisung zur Ausführung des Friedensgrusses. Sie tut dies mit fast den identischen Worten wie in GD r0101fe04tgs: 318 „Vielleicht dass auch wir einander ein Zeichen von diesem Shalom jetzt weitergeben.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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GD-Zitat 32. christus hat zu seinen aposteln gesagt | frieden hinterlasse ich euch | meinen frieden gebe ich euch vilicht das au miir denand | (0.6) | es spüürbaars zaiche vo dem fride | jetzt wiitergänd | (32.5) | kommt es ist alles bereit [Abendmahl Friedensgruss, GD r0101fe05tgi]319
Es fällt auf, dass das CS hier ohne Pause erfolgt, während im anderen GD eine minimale Pause zwischen den Passagen in Standarddeutsch und Dialekt vorkommt (0.8 Sekunden). Offensichtlich handelt es sich aber hier nicht um ein spontanes, ungeplantes Code-Switching der Pfarrperson, wie es der Varietätenwechsel und wiederum vor allem der Gebrauch des Adverbs vilicht denken lassen könnten, vielmehr dürfte es sich hierbei um eine Form von inszenierter Spontaneität handeln. Die Pfarrperson wählt hier den Dialekt, um einen Perspektivenwechsel zu markieren, begibt sich auf eine Ebene mit ihrer Gemeinde und gibt eine Regieanweisung im Dialekt. Es handelt sich also eindeutig um eine funktionale Verwendung der Alltagsvarietät vonseiten der Pfarrperson, und zwar mit dreifacher Funktion: zur Markierung der Regieanweisung, zur Markierung des Perspektivenwechsels sowie zur Markierung der (inszenierten) Spontaneität. In mehreren Gottesdiensten finden sich Code-Switchings am Ende der Feier, wie die folgenden Beispiele zeigen: GD-Zitat 33. wir erheben uns zum segen | (5.0) | gott segne dich und behüte dich | (2.1) | gott lasse sein angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig | (1.5) | gott wende dir sein angesicht zu | (0.8) | und schenke dir frieden | (1.1) | amen | (3.7) | guet nacht mitenand [Einleitung Segen > Segen, GD r0101fe04tgs]320 GD-Zitat 34. er helfe dir schweres zu tragen | und dankbar zu sein für alles gute | (0.8) | gott sei deine hoffnung und dein leben | (0.8) | amen | (0.8) | wünsch alne en schööne suntig | (1.6) | [Segen, GD r0102pr03tgi]321 GD-Zitat 35. (0.7) | gott sei deine hoffnung und dein leben | (0.7) | amen | (0.9) | alne en schöne sunntig | (1.0) | [Segen, GD r0102pr05tgi]322
Diese drei CS dienen alle als Schlusssignal. Grundsätzlich markiert das Sprechen des Segens in einem reformierten Gottesdienst dessen Ende. Der Segen ist ein stark ritualisiertes Element. Viele reformierte Pfarrpersonen tendieren dazu, in ihren Gottesdiensten stets denselben Segensspruch zu verwenden. Dies kann zur Folge haben, dass der Segen die Funktion als Marker des Gottesdienstendes einbüsst. Dadurch kann ein neues Schlusssignal nötig werden, das hier durch einen persön319 „Vielleicht, dass auch wir einander ein spürbares Zeichen von diesem Frieden jetzt weitergeben.“ 320 „ Gute Nacht miteinander.“ 321 „[Ich] wünsche allen einen schönen Sonntag.“ 322 „Allen einen schönen Sonntag.“
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
lichen Abschiedsgruss und ein CS in den Dialekt gesetzt wird. Es kann darüber hinaus sein, dass diese persönlichen Grüsse der Pfarrperson dazu dienen, aus ihrer Rolle als Gottesdienstvorsteherin in den Alltag hinüberzuwechseln, indem sie in die Sprache ihres Alltags (und des Alltags der Gemeinde) switcht (zu den verschiedenen Rollen einer Pfarrperson im Gottesdienst vgl. auch Kap. 9.7.3). Eine weitere Funktion von Code-Switchings in Richtung Dialekt ist jene, Zitate zu markieren: Es kann dabei sowohl aus der Schriftlichkeit (Liedtitel) als auch aus der Mündlichkeit (Veranstaltungstitel, alltagssprachliche Weisheit) zitiert werden. Im Gegensatz zu den Wechseln ins Standarddeutsche für Zitate sind jene in den Dialekt ein eher marginales Phänomen im Korpus. In GD-Zitat 36 wird ein Dialektlied angesagt und für den Titel dieses Liedes geswitcht: GD-Zitat 36. (1.7) | nehmen sie wieder platz | (6.1) | in dieser osterzeit singen wir | das quartalslied vierhundertachtundachtzig | am morge früe am ooschtertaag | wir singen | die beiden strophen des liedes vierhundertachtundachtzig | (1.6) [Einleitung Lied, GD r0102pr03tgi]323
In einem ansonsten komplett in Standarddeutsch gehaltenen Gottesdienst im Kanton Bern kommen zwei Varietätenwechsel zum Dialekt bei den Mitteilungen vor: Der Dialekt wird hier verwendet, um Veranstaltungstitel (vgl. GD-Zitat 37) zu nennen. Diese bezeichnen traditionelle Anlässe in diesem Ort, die demnach einen traditionellen schweizerdeutschen Namen tragen, der auch dann im Dialekt bleibt, wenn er in einem sonst Standarddeutsch gehaltenen Gottesdienst zitiert wird. GD-Zitat 37. wie immer lädt der frauenverein dazu ein | bitte melden sie sich bis montagmittag an | (1.8) | am Donnerstag ist ja ein grosser tag in %Name% | herbschtmärit | und wie immer haben wir da auch | das kirchgemeindehaus offen laden ein in der kaffeestube | etwas zu trinken eben auch zu sitzen zwischendurch dass man nicht | den ganzen tag auf den beinen sein muss | dass man auch sich etwas erholen kann vom märit | wenn sie gerne backen dürfen sie sehr gern auch wieder gebäck mitbringen [Mitteilungen, GD r1618pr01bes]324
Ein weiteres solches Beispiel ist das aus einem einzigen Wort bestehende CodeSwitching im Gottesdienst von Pfarrperson r13: Sie lädt die Gemeinde bei den Mitteilungen zum chilekafi (‘Kirchenkaffee’) im Anschluss an den Gottesdienst ein. Ebenfalls als Zitat einer (mündlichen) alltagssprachlichen Weisheit kann folgende Dialektpassage aus einer in Standarddeutsch gesprochenen Predigt interpretiert werden: GD-Zitat 38. ich glaube dass | (0.6) | der grund | dafür in einem | grundvertrauen der witwe liegt | (0.9) | dass es scho irgendwie | guet chunt | (1.1) | und ich glaube, dass es auch kein zufall ist dass jesus diese
323 Übersetzung des Liedtitels: „Am Morgen früh am Ostertag“. 324 „Herbstmarkt. […] Markt.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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geschichte im zusammenhang mit dem gebet erzählt [Predigt, GD r0304pr01tgs]325
Hier begibt sich die Pfarrperson auf eine persönliche Ebene mit der Gemeinde, indem sie einen geläufigen schweizerdeutschen Satz – es chunt scho guet – in ihre Predigt einbaut. Dieses CS kann wohl als eine Annäherung an die Lebenswelt der Gemeinde verstanden werden; gleichzeitig stellt es auch eine Art Zitat dieser alltagssprachlichen Weisheit dar. Andere Code-Switchings können als spontansprachliche Äusserungen eingeschätzt werden: GD-Zitat 39. der herr kommt | und drittens | das grosse fest | (1.5) | aso zum ersten | vor der hochzeit | (2.0) | eine orientalische hochzeit | lief nach einem bestimmten drehbuch ab | ein bisschen anders als bei uns heute [Predigt, GD r0102pr02tgi] GD-Zitat 40. es geht | um ein selbstbestimmtes leben in würde | für alle menschen | der referent | (0.8) | (0.5) | tschuldigung | der referent ist %Name% %Name% | (0.4) [Mitteilungen, GD r0102pr03tgi] GD-Zitat 41. so müsste aus nichts | nichts ent/ äh aus nichts | (1.0) | so müsste aus nichts nichts entstehen können | (0.5) | nei stimmt nicht | (4.7) | ich muss es anders formulieren wenn es | vor der entstehung des universums nichts gab | so müsste aus nichts etwas entstehen können | (1.0) [Predigt, GD r0102pr05tgi]
Auch solchen dialektalen Interjektionen in standarddeutschen Kontexten können Funktionen326 zugerechnet werden: KROPF (1986, 128–130) nennt beispielsweise „Zögern, Verzögerung“ und „Selbstkorrektur“ als mögliche Funktionen, CHRISTEN et al. (2010, 127, Hervorhebung im Original) gehen davon aus, dass Wechsel von Standarddeutsch in den Dialekt (also nicht nur im Falle von Interjektionen) „eine Art persönlichen Kommentar zum Gesprächsinhalt dar[stellen] oder helfen, Pausen zu überbrücken“, in denen die Personen (im konkreten Fall die Polizist/ -innen) „wie zu sich selbst“ sprechen. Der Wechsel für die Interjektion aso ‘also’ (in GD-Zitat 39) könnte als eine Art Korrektur bzw. als Einleitung eines (standardsprachlichen) Kommentars verstanden werden. PETKOVA (2016, 283–284) geht allerdings davon aus, dass diese spezifische Diskurspartikel möglicherweise nicht bloss als Insertion zu interpretieren ist. Sie ist vermutlich den Weg durch den „Kontinuumskreislauf“ [= Modell eines kontinuumartigen Kreislaufs von Sprachkontakt325 „Dass es schon irgendwie gut kommt.“ 326 KROPF (1986, 126) spricht Interjektionen „[e]ine Sonderstellung innerhalb der absoluten Dialektreviere“ zu. In den von ihm untersuchten Schullektionen sind alle Interjektionen, „deren Sprachform entscheidbar ist, dem Dialekt zuzurechnen“. Die unentscheidbaren betrachtet KROPF (1986, 127) aus diesem Grund „generell als dialektal realisiert“. Er geht davon aus, dass den „Interjektionen spezifische kommunikative Funktionen zukommen können“ (KROPF 1986, 127). KROPF (1986, 128–139) zählt für verschiedene Interjektionen mögliche, im Schulunterricht gültige Funktionen auf.
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst prozessen, vgl. AUER 1999] so weit gegangen, dass sie auf einer der Konvergenzstufen zum Eingang in die (Schweizer) Standardsprache hin stehen könnte. […] Die Partikel aso könnte also als ein Informalitätsmarker eingesetzt werden, der nun das standardsprachliche Repertoire ergänzt und in den entsprechenden Kontexten gewissermassen als gesprochensprachliche Allegroform eine Alternative zur formelleren Variante also darstellt. […] Die Gesprächspartikel aso könnte also trotz dialektalen Ursprungs als Bestandteil eines informellen standardsprachlichen Registers betrachtet werden.327
Es stellt sich hier die Frage, ob die Interjektion aso aufgrund der Frequenz des Auftretens in dieser dialektalen Form in anderen Korpora (CHRISTEN et al. 2010, PETKOVA 2016) anders interpretiert werden soll als andere dialektale Interjektionen im vorliegenden Korpus. Denn ähnliche Beispiele finden sich in GD-Zitat 40 und GD-Zitat 41: Die erste Interjektion dient der Entschuldigung des (störenden) Hustens, die zweite ebenfalls der Einleitung eines Kommentars. Die Pfarrperson zeigt durch das nei ‘nein’ an, dass sie das vorher Gesagte korrigieren muss, weil sie sich versprochen hat. Es dient also der Autokorrektur, einer Funktion, die auch KROPF (1986) erwähnt. Ebenfalls sich selbst korrigieren muss die Lektorin in einem Gottesdienst (GD-Zitat 42): Während der Lesung verliest sich diese Person; diesen Versprecher kommentiert sie im Dialekt, der Varietät, die ihr für spontan Gesprochenes im Alltag ebenfalls zur Verfügung steht. GD-Zitat 42. im gegenteil | (5.2) | nicht weil ihr zahlreicher seid | (2.5) | während a tschuldigung | jetzt gseen is besser | nicht weil ihr zahlreicher wäret als alle andern völker | hat sich der herr euch zugewandt | und euch erwählt [Lesung, von Lektorin gelesen, GD r0607pr01sgs]328
Schliesslich fällt auch Pfarrperson r15 für einen spontanen Kommentar in den Dialekt; sie reagiert damit auf Geräusche von Kindern, wohl einem der Täuflinge im entsprechenden Gottesdienst, und spricht dieses Kind mit dem jo waas denn (‘ja was denn?’) direkt an und wechselt dafür in den Dialekt, fährt danach aber nahtlos in Standarddeutsch weiter.
327 Gerade die Partikel aso wird auch im Polizeinotruf-Korpus von CHRISTEN et al. in standardsprachlichen Gesprächen häufig dialektal realisiert (in rund einem Drittel der Fälle): Den Grund für diese Realisierungen im Gespräch mit Allochthonen vermuten CHRISTEN et al. in den „limitierten Fertigkeiten der Polizisten […], Standardsprache als mündliche Sprachform spontan zu realisieren“. Sie gehen davon aus, dass „[m]angelnde Routine – so eine mögliche Interpretation des Phänomens – […] bei hochfrequenten, aber inhaltsarmen Grössen deren dialektgeprägten Realisierungen förderlich sein“ könnte (CHRISTEN et al. 2010, 131). Gleichzeitig könne es sich auch um einen diskursinduzierten Wechsel handeln, der als Informalitätsmarker dient. Beide Erklärungsversuche scheinen für dieses spezifische aso-Code-Switching der Pfarrperson r02 nicht tauglich. Die Pfarrperson verwendet für ihren Gottesdienst sonst keinerlei dialektale Realisierungen und predigt in vier der fünf untersuchten Aufnahmen in Standarddeutsch, sodass mangelnde Routine beim Standardsprechen wohl kaum der Grund für diesen Wechsel sein dürfte. Zudem gibt es keinen Grund, an dieser spezifischen Stelle inmitten der Predigt einen Informalitätsmarker einzusetzen. 328 „Ah, Entschuldigung. Jetzt sehe ich es besser.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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GD-Zitat 43. unseren verstand übersteigt | (1.1) | und die seele nur noch in sich ruhend seufzen kann | | jo waas denn | gott sei dank | dass es gibt einen [unverständlich] in unseren kirchen | darf ich euch jetzt bitten | nach vorne zu kommen [Taufbesinnung, GD r1315pr01zhs]
Dieser Wechsel zeigt ebenfalls auf, welche Varietät für (tendenziell) spontane Äusserungen offensichtlich eher für Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher verfügbar ist. Ob zusätzlich die Tatsache, dass die Pfarrperson in diesem Beispiel ein Kind anspricht, zum CS geführt hat und hier der Wechsel hier die Funktion Adressatengerechtigkeit erfüllt, muss offen bleiben. Es zeigt sich aber in verschiedenen Gottesdiensten mit Taufe, dass die Pfarrpersonen für die Taufe bzw. Teile davon in den Dialekt wechseln. Teils werden solche Varietätenwechsel von den Pfarrpersonen explizit angesprochen: GD-Zitat 44. wir singen vom lied neununddreissig die ersten drei und die sechste strophe | (4.3) | | (7.9) | ich schaalt etz uf mundart wel mer zur taufi chömed | (0.8) | miir begrüessed hüt also i üsere mitti | d familie %Name% | wo iren soon %Name% | zur taufi bringed [Einleitung Lied > Lied > Einleitung Taufe, GD r0102pr02tgi]329 GD-Zitat 45. ich darf euch jetzt bitten | nach vorne zu kommen | mit der taufkerze | die kerze anzuzünden und zum taufstein zu kommen | (17.1) | mir zünded d taufcheerze bim oschterliecht aa | (10.6) | ali chind chönd au herechoo | jo chum nu wenn er nööcher wänd luege | chömed iir nööcher zum taufschtai here | (11.0) | iich erlaub mer jetzt uf mundaart wiiterzfaare | chömed iir nur a füre vo det hine gseend er nüüt [Taufbesinnung > Taufhandlung, GD r1315pr01zhs]330 GD-Zitat 46. wil mer hüt | chliini und | groosi daa versamlet sind | zum mitenand | gott loobe und | s läbe fiire | (1.0) | und wil nöd ali | daa i de schwiiz ufgwachse sind | (0.9) | drum tuen i chli wächsle zwüsched | mundart und hoochdüütsch | isch en kompromiss maal verschtönd di ainte mee | mal di andere | (2.5) [Gruss, GD r1011pr03sgi]331
Diese Erklärungen legen die Interpretation nahe, dass diese Code-Switchings für die Taufe der Adressatengerechtigkeit dienen. Pfarrperson r11 thematisiert die Verständnisfrage eigens. In diesem Predigtgottesdienst finden drei Taufen statt. Der dritte Täufling ist bereits 13 Jahre alt und in Südkorea aufgewachsen, sodass damit 329 „Ich schalte jetzt um auf Mundart, weil wir zur Taufe kommen. Wir begrüssen heute also in unserer Mitte die Familie %Name%, die ihren Sohn %Name% zur Taufe bringen.“ 330 „Wir zünden die Taufkerze beim Osterlicht an. Alle Kinder können auch herkommen. Ja, komm nur. Wenn ihr näher schauen wollt, kommt ihr näher zum Taufstein hin. Ich erlaube mir, jetzt auf Mundart weiterzufahren. Kommt ihr nur auch nach vorne, von dort hinten seht ihr nichts.“ 331 „Weil wir heute Kleine und Grosse hier versammelt sind, um miteinander Gott zu loben und das Leben zu feiern, und weil nicht alle hier in der Schweiz aufgewachsen sind, darum tue ich ein bisschen wechseln zwischen Mundart und Hochdeutsch. Ist ein Kompromiss. Mal verstehen die einen mehr, mal die anderen.“
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Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
gerechnet werden kann, dass ein Teil seiner Verwandtschaft wohl besser Standarddeutsch als Dialekt versteht. Die Pfarrperson nimmt aber auch an, dass gewisse Personen mehr verstehen, wenn sie Dialekt spricht – hier geht sie wohl von den „Chliine“, also den Kindern, aus, die am Taufgottesdienst teilnehmen. Ob diese Art der Annahme berechtigt ist und man davon ausgehen kann, dass kleine Kinder in der Deutschschweiz kein Standarddeutsch verstehen, darf aber bezweifelt werden (vgl. z. B. LANDERT 2007, 335). In zwölf der 40 untersuchten reformierten Gottesdienste finden Taufen statt. Davon werden nur zwei in Standarddeutsch gehalten, für alle anderen setzen die Pfarrpersonen in erster Linie den Dialekt ein (mit CS für Taufsprüche, teils auch für Taufformeln). Da vier dieser zehn Taufen in standardgeprägten Gottesdiensten stattfinden, kann hier davon ausgegangen werden, dass die Varietätenwahl in diesen Fällen adressateninduziert ist. Abschliessend werden hier noch ausgewählte Codewechsel von Pfarrperson r15 und Pfarrperson r12 präsentiert. Diese haben als einzelne Code-Switchings keine Bedeutung, wie im Folgenden gezeigt wird, dies aber aus unterschiedlichen Gründen. Pfarrperson r15 switcht an zwei Stellen in der Predigt: GD-Zitat 47. als zehnjähriges kind | (0.9) | habe ich in der mittagszeit in der stube | (0.8) | von den feinen schokoladeguetzli vom migros uf em tisch | alle ausser eines genommen und in den mund gestopft | (1.2) | und in diesem augenblick kam meine mutter herein | (1.2) | mit rotem kopf und vollem mund stand ich da [Predigt, GD r1315pr01zhs]332 GD-Zitat 48. wir übernachten draussen unter dem sternenzelt | (1.0) | und wir lehren sie dass mit dem diebstahl der schokolade in der stube mehr im haus auf dem spiel steht | als nur das kleine süsse stuck | (2.0) | was steht auf dem spiel | (1.5) | das haus mit all seinen schätzen gehört nicht uns [Predigt, r1315pr01zhs]333
In GD-Zitat 47 switcht die Pfarrperson nach dem Wort schokoladeguetzli, einem Helvetismus, der jedoch durch das Diminutivsuffix -li klar seine ursprünglich dialektale Herkunft erkennen lässt. Der anschliessende Wechsel in den Dialekt könnte allenfalls durch dieses Wort getriggert sein. Im zweiten Beispiel ist ein einziges Wort – stuck – im Dialekt, wiederum in diesem Kontext mit der Schokolade, die gestohlen wird. Auffällig ist auch der zweifache Gebrauch von stube (‘Wohnzimmer’) in diesen zwei Beispielen, einem Helvetismus. Die Pfarrperson scheint sich also um ein klar schweizerisch geprägtes Standarddeutsch zu bemühen (vgl. Kap. 10.2.2, insbesondere Int-Zitat 34, zur eigenen Einschätzung von Pfarrperson r15 ihr Hochdeutsch betreffend). Es ist also die Integration von dialektalen Elementen und Helvetismen als Ganzes, die die Ausprägung des gesprochenen Hochdeutschen dieser Pfarrperson prägen. Diese Mischung kreiert einen Effekt, aber das jeweilige
332 „Vom Migros [= Schweizer Supermarktkette; S.O.] auf dem Tisch […].“ 333 „Stück.“
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
255
einzelne CS hat selbst keine spezifische Bedeutung; hier handelt es sich also um eine Form von language mixing gemäss AUER (1999)334. Keine eigene Funktion erfüllen auch die einzelnen Dialektwörter, die in einem standardsprachlichen Gottesdienst von Pfarrperson r12 an verschiedenen Stellen vorkommen. Diese Pfarrperson benutzt für ihre Gottesdienste (wie die anderen vier für diese Studie analysierten Gottesdienste zeigen) in der Regel sehr viel Dialekt. Die folgenden Dialektwörter haben alle ein standardsprachliches Pendant, werden aber in standardsprachlichem Kontext allesamt dialektal ausgesprochen. Es ist unklar, was der Grund für diese CS ist und ob lediglich die fehlende Kontrolle über die standardsprachliche Aussprache hier zu Dialektrealisierungen führt. Die Pfarrperson spricht auch sonst mit einer sehr stark schweizerisch geprägten Aussprache Standarddeutsch (z. B. [six]). GD-Zitat 49. wir hören etzt das nächste lied in deinem reich | (3.0) [Einleitung Lied, GD r1012pr01sgi]335 GD-Zitat 50. und ein frommer samaritaner hätte sich niemals | mit einem juden unterhalten | (1.4) | aber hier | passiert etzt etwas besonderes | (1.0) | eines tages | ging ein jude | der alles andere als streng erschien | auf eine samaritanerin zu [Predigt, GD r1012pr01sgi] GD-Zitat 51. wir dürfen dort wo wir gott begegnen | auch unsere prioritäten verändern lassen | unser leben verändern lassen | (0.7) | was vilecht für uns vorher wichtig war | wird plötzlich nebensächlich | (1.2) | das hat diese frau da auch am brunnen in der begegnung mit jesus erlebt [Predigt, GD r1012pr01sgi] GD-Zitat 52. leider ist es auch heute immer noch so | dass menschen wegen ihrer religion | verfolgt werden | (0.8) | ganz starch | ist diese verfolgung zum beispiel im südsudan auch heute noch [Mitteilungen, GD r1012pr01sgi] GD-Zitat 53. ich danke ihnen ganz herzlech für | ihre spenden | (2.9) | dann noch ein paar veranstaltungen | der kommenden woche [Mitteilungen, GD r1012pr01sgi]
Für diese Pfarrperson könnte allenfalls das von CHRISTEN et al. (2010) ins Feld geführte Argument der mangelnden Routine beim Standarddeutschsprechen (vgl. Fussnote 327) eine gewisse Gültigkeit haben, weil diese Person offensichtlich in ihren Gottesdiensten üblicherweise eine klare Präferenz für den Dialekt zeigt. Zudem sind die dialektal realisierten Wörter nicht ausschliesslich Funktionswörter – solche sind aber im Korpus von CHRISTEN et al. „eher von normwidrigen dialektalen Interferenzen betroffen als Inhaltswörter“ (CHRISTEN et al. 2010, 223). Ein
334 AUER (1999, 310) benutzt den Terminus language mixing für die Fälle „of the juxtaposition of two languages in which the use of two languages is meaningful (to participants) not in a local but only in a more global sense, that is, when seen as a recurrent pattern“. 335 „Im Polizeinotrufkorpus werden 25 von 39 Belegen von jetzt dialektal ausgesprochen (vgl. CHRISTEN et al. 2010, 203).“
256
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
intendiertes Verwenden von Dialekt vonseiten dieser Pfarrperson scheint hier jedenfalls nicht vorzuliegen. 8.1.8 Funktionen von Code-Switching Wie in den beiden vorangehenden Kapiteln gezeigt, werden mittels den insertionalen CS in den reformierten Gottesdiensten verschiedene Funktionen ausgedrückt. Auch beim monologischen Sprechen kommen also solche Varietätenwechsel als Kontextualisierungshinweise vor. Dabei muss nach Funktionen für Sprachformenwechsel vom Dialekt zum Standarddeutschen und nach solchen in die umgekehrte Richtung unterschieden werden. Bei Wechseln vom Dialekt zum Standarddeutschen werden im Gottesdienst folgende Funktionen aktiviert: – –
–
– –
Zitieren bzw. Pseudozitieren aus der Schriftlichkeit Bibelverse – Liedtitel – idiomatische Ausdrücke/Redewendungen – Gedichttitel – Zeitungsschlagzeilen/Zeitungsartikel – Übersetzungen fremdsprachlicher Passagen/Originale Vorlesen/Ablesen von schriftlichen Vorlagen336 – Bibelverse/Bibeltexte – liturgische Texte (Taufversprechen) – literarische Texte (Gedichte, Literatur) Propria erkennbar machen – Veranstaltungstitel Gewicht verleihen (durch Wiederholung)
Bei Wechseln vom Dialekt ins Standarddeutsche wird der „sozialsymbolische Wert“ von Standarddeutsch „als authentischer […] Grösse (® Verweis auf das sprachliche Original)“ (CHRISTEN et al. 2010, 95) aktiviert: Standarddeutsch kommt also in der Domäne der Schriftlichkeit zum Einsatz, in der Domäne, in der es seine Stellung in der Deutschschweiz relativ unangefochten hält (Zitieren, Vorlesen/Ablesen, Propria erkennbar machen). Daneben wird der „sozialsymbolische Wert“ von Standarddeutsch „als kodifizierte Referenzgrösse für das Deutsche ( ® ‚varietätsinhärente‘ Bedeutung)“ (CHRISTEN et al. 2010, 95) aktiviert (Vorlesen, Propria erkennbar machen, Gewicht verleihen): Diese Wechsel haben gemäss CHRISTEN et al. stärkeres pragmatisches Gewicht. Keine Rolle spielen in den Gottesdiensten Code-Switchings, bei denen die „Bedeutung durch Kontrast“ (CHRISTEN et al. 2010, 95) hergestellt wird, also jene Wechsel, deren pragmatisches Gewicht am grössten ist. 336 Zwischen der ersten und der zweiten Funktion gibt es teils Überlagerungen bzw. Überschneidungen; diese Funktionen können nicht immer klar getrennt werden.
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
257
Von den zwölf Funktionen, die CHRISTEN et al. für die Varietätenwechsel herausgearbeitet haben (vgl. Kap. 4.3.3), lassen sich im Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen also nur deren vier finden (vgl. Tab. 29). Die Funktionen der Wechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche in den Gottesdiensten sind demnach stark beschränkt. Die klar primäre und vorherrschende Funktion ist jene des Zitates: In Dialektgottesdiensten dienen die diskursbezogenen insertionalen CS ins Standarddeutsche in erster Linie dem Zitieren schriftlicher Vorlagen, im Wesentlichen von solchen aus der Bibel.
1. Standarddeutsch als „situativ unzulässige“ Grösse (® „nicht varietäts-inhärente“ Bedeutung: Bedeutung durch Kontrast)
X X
X X
X
3. Standarddeutsch als authentische Grösse ( ® Verweis auf das sprachliche Original)
X
2. Standarddeutsch als kodifizierte Referenzgrösse für das Deutsche (® „varietäts-inhärente“ Bedeutung)
Abnahme an pragmatischem Gewicht des Sprachformenwechsels
Tab. 29: Die Nutzung von Standarddeutsch im Deutschschweizer Kontext; für Gottesdienste adaptierte Tabelle gemäss CHRISTEN et al. (2010, 95)
Wechsel ins Standarddeutsche mit pragmatischer Bedeutung
Zitieren/Pseudozitieren aus der Schriftlichkeit Vorlesen/Ablesen von schriftlichen Vorlagen Propria erkennbar machen Gewicht verleihen
Gebrauch von Standarddeutsch für:
Aktivierter sozialsymbolischer Wert von Standarddeutsch beim insertionalen Code-Switching
258 Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
259
Demgegenüber sind die Funktionen, die ein Wechsel von Standarddeutsch zum Dialekt erfüllen kann, zahlreicher und vielfältiger: – – – – – – – –
–
Regieanweisung Perspektivenwechsel Schlusssignal inszenierte Spontaneität Adressatengerechtigkeit (z. B. bei Taufen)337 Zitieren aus der Schriftlichkeit – Liedtitel Zitieren aus der Mündlichkeit – Veranstaltungstitel – alltagssprachliche Weisheit spontansprachliche Äusserungen – Autokorrektur – Kommentar – Entschuldigung Propria erkennbar machen – Namen von Räumlichkeiten338
Das CS vom Standarddeutschen in den Dialekt aktiviert einerseits Funktionen, die an die Mündlichkeit, also die Domäne des Schweizerdeutschen in der Deutschschweiz, gebunden sind. Hier wird also der sozialsymbolische Wert von Dialekt als authentische Grösse aktiviert und auf das sprachliche Original verwiesen. Dies gilt für Zitate aus der Mündlichkeit und das Erkennbarmachen von Propria. Daneben wird bei einer Vielzahl von Code-Switchings auf den Dialekt als unmarkierte (mündliche) Alltagssprache in der Deutschschweiz verwiesen; hier könnte man analog zum Modell von CHRISTEN et al. (2010) von der varietäts-inhärenten Bedeutung des Dialekts sprechen. Diesen Wechseln kann etwas höheres pragmatisches Gewicht zugemessen werden. Es handelt sich hierbei zum Beispiel um die Funktionen Adressatengerechtigkeit, Schlusssignal sowie um die spontansprachlichen Äusserungen (wie Autokorrektur, Kommentare und Entschuldigungen). Ein höheres pragmatisches Gewicht haben die Code-Switchings, in denen der Dialekt als Varietät für dramaturgische Elemente eingesetzt wird. Hier fällt der Gebrauch des Dialekts stärker auf; dies gilt besonders für solche Codewechsel in stark standardsprachlich geprägten Gottesdiensten. Darunter fallen die Wechsel für Regieanweisungen, Perspektivenwechsel, Schlusssignale und inszenierte Spontaneität. Es kann also mithilfe der in dieser Untersuchung festgestellten Code-Switchings von der Ausgangsvarietät Standarddeutsch in die Zielvarietät Dialekt eine Klassifizierung analog jener von CHRISTEN et al. (2010) erstellt werden, die das 337 Bei CS mit dieser Funktion handelt es sich um teilnehmerbezogene Varietätenwechsel. 338 Auf ein entsprechendes Beispiel in Kap. 8.1.7 musste verzichtet werden, weil durch die Nennung solcher Namen die jeweilige Kirchgemeinde identifizierbar wäre.
260
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Potential von solchen Wechseln, die in Kontexten für situationsinduzierten Standardgebrauch vorkommen können, illustriert (vgl. Tab. 30). Den Wechseln zwischen den beiden Varietäten kommt demnach zweifellos eine Funktion zu.339 Teils überlagern sich auch mehrere Funktionen bei einem Wechsel, sodass die einzelnen Code-Switchings auch multifunktional sein können. Das bewusste Spiel mit den Sprachformen Dialekt und Standarddeutsch ist folglich in der Deutschschweiz nicht nur theoretisch möglich, sondern wird in der Praxis gezielt als kommunikative Ressource (auch) im reformierten (und katholischen, vgl. Kap. 8.2.4) Gottesdienst genutzt.340
339 Von den von STEINER (2008) genannten Funktionen für Wechsel vom Standarddeutschen in den Dialekt bei Lehrpersonen (vgl. Kap. 4.3.3) lässt sich im Gottesdienst nur jene des Schlusssignals finden. 340 Einige der von GUMPERZ bereits 1982 genannten gebräuchlichsten Funktionen von CS als Kontextualisierungshinweis finden sich also auch in reformierten Gottesdiensten im monologischen Sprachgebrauch von Pfarrpersonen wieder, darunter Zitate (sowohl „direct quotations“ als auch „reported speech“), Adressatenspezifikation, Interjektionen, Wiederholungen (um die Botschaft zu betonen).
Regieanweisung Perspektivenwechsel Schlusssignal Inszenierte Spontaneität Adressatengerechtigkeit Zitieren aus der Schriftlichkeit Zitieren aus der Mündlichkeit Spontansprachliche Äusserungen Propria erkennbar machen
1. Dialekt als Varietät für dramaturgische Elemente/Effekte/inszenierende Elemente (® „nicht varietäts-inhärente“ Bedeutung ® Bedeutung durch Kontrast) X X X X
X X
X (X) X
2. Dialekt als unmarkierte Alltagssprache (® „varietäts-inhärente“ Bedeutung)
X
X X
3. Dialekt als authentische Grösse ( ® Verweis auf das sprachliche Original)
Abnahme an pragmatischem Gewicht des Sprachformenwechsels
Tab. 30: Die Nutzung von Dialekt im Deutschschweizer Kontext innerhalb Standarddeutsch gesprochener Passagen im Gottesdienst (in Anlehnung an die Tabelle für Standarddeutsch in CHRISTEN et al. 2010, 95)
Wechsel in den Dialekt mit pragmatischer Bedeutung
Gebrauch des Dialekts für:
Aktivierter sozialsymbolischer Wert des Dialekts beim insertionalen Code-Switching
Sprachgebrauch im reformierten Gottesdienst
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262
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
8.2 SPRACHGEBRAUCH IM KATHOLISCHEN GOTTESDIENST Ähnlich wie bei den reformierten Pfarrpersonen lassen sich auch bei den katholischen – trotz sehr kleiner Stichprobe – gewisse Muster im Varietätengebrauch erkennen. In allen sechs aufgezeichneten Gottesdiensten kommen Code-Switchings vor. Es findet sich also in diesem kleinen Sample kein rein standarddeutscher Gottesdienst. Die dominierende Varietät in den Gottesdiensten ist aber klar Standarddeutsch. Dennoch können teils grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Gottesdiensten bzw. dem Sprachverhalten der sechs katholischen Pfarrer festgestellt werden (vgl. Kap. 8.2.2). Nur in Standarddeutsch gehalten werden in allen sechs Gottesdiensten die meisten Teile des Hochgebets. Der Dialekt dringt nur in Form von Einleitungen für Lieder oder des Vaterunser in die Eucharistiefeier ein. Eine grössere Rolle spielt er für die Einführung und die Verabschiedung sowie für die Einleitungen von Liedern oder anderen Teilen der Liturgie. Eine Ausnahme bilden jedoch die Einleitungen zu den Lesungen und Gebeten, weil für diese im katholischen Gottesdienst formelhafte Einleitungen zur Verfügung stehen (z. B. „Lasset uns beten“ bzw. „Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes“). Es lässt sich feststellen, dass insbesondere die Übergänge innerhalb Ordinarium und Proprium (vgl. Kap. 3.3.2) anfällig für Code-Switchings in den Dialekt sind. Das Ordinarium und das Proprium selbst werden aber – mit einigen wenigen Ausnahmen (z. B. teilweise das Kyrie bei Pfarrer k04) – in Standarddeutsch gesprochen. Im Folgenden werden die Unterschiede nach Gottesdienstteil und Priester dargestellt, bevor auf Code-Switchings in den sechs katholischen Gottesdiensten eingegangen wird. 8.2.1 Unterschiede nach Gottesdienstteil Für die Gottesdienstteile, die in mindestens einem der sechs Gottesdienste im Dialekt gehalten werden bzw. in denen Code-Switching vorkommt, wird in Tab. 31 die Verteilung der Varietäten aufgezeigt:
263
Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst
Gottesdienstteil Begrüssung Einführung Einleitung Kyrie Kyrie Einleitung Lied Einleitung Antwortpsalm Predigt Einleitung Glaubensbekenntnis Einleitung Fürbitten Fürbitten Ankündigung Opfer Einleitung Präfation Einleitung Vaterunser Einleitung Friedensgruss Friedensgruss Kommunion: Einladung Mitteilungen Einleitung Segen Einleitung Entlassungsruf
Dialekt 4
1
Dialekt mit CS
Standarddeutsch mit CS
1 1 1 1 3 1 3
2 2 1 2 2 3 1 1 1 1 3 2
1
Standarddeutsch
GD-Teil fehlt
4 1
1
3 1 1
5 2 1 4
2 2
1 2
4 5 3 3 2
3
4 4
1
2 1
1 4
3 2 4
Tab. 31: Varietät nach Gottesdienstteil für die sechs untersuchten katholischen Gottesdienste
Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass insbesondere die Einleitungen zu verschiedenen Gottesdienstteilen im Dialekt gehalten werden. Es fällt auf, dass diverse solcher Einleitungen, für die gewisse Priester den Dialekt wählen, im Gottesdienst anderer Priester nicht einfach in Standarddeutsch gehalten werden, sondern als eigenes Gottesdienstelement fehlen (z. B. Einleitung Segen, Einleitung Entlassungsruf, Einleitung Präfation). Der Dialekt überwiegt für die Einführung, die Liedeinleitungen und die Segenseinleitung. Auch für die Predigt wählen ihn drei der sechs Pfarrer (in einem der drei übrigen Gottesdienste gibt es keine eigentliche Predigt). Keine wirkliche Option scheint der Gebrauch von Standarddeutsch mit CS zum Dialekt für Teile des Gottesdienstes zu sein; wird Standarddeutsch für einen Gottesdienstteil gewählt, wird diese Varietät tendenziell beibehalten. Umgekehrt stellt die Wahl von Dialekt mit CS eine Möglichkeit dar, dies insbesondere dann, wenn innerhalb dieser Gottesdienstteile Zitate in Standarddeutsch vorkommen (vgl. Kap. 8.2.3).
264
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
8.2.2 Unterschiede nach Priester Die sechs Priester, deren Gottesdienste aufgezeichnet wurden, verhalten sich in Bezug auf die Varietätenwahl unterschiedlich. Priester k01, im Bistum St. Gallen tätig, verwendet in seinem Gottesdienst sehr viel Standarddeutsch. Den Dialekt gebraucht er lediglich für die Einführung, Begrüssung und eine Liedeinleitung sowie die Einleitung des Segens. Der Gottesdienst zeichnet sich dadurch aus, dass viele verschiedene Sprecher/-innen, darunter auch eine allochthone Person, beteiligt sind. Sein Kollege k02 aus dem Bistum St. Gallen wechselt hingegen konsequent für alle frei formulierten Gottesdienstteile vom Standarddeutschen in den Dialekt: für die Einführung und die Predigt sowie für verschiedene Einleitungen (Einleitung der Fürbitten, des Vaterunser, des Lieds, des Segens sowie des Entlassungsrufs). Für katholische Verhältnisse spricht k02 relativ viel Dialekt. Pfarrer k03 aus dem Bistum Basel bleibt hingegen äusserst konsequent beim Standarddeutschen für seinen gesamten Gottesdienst. Er wechselt lediglich an zwei sehr kurzen Stellen in den Dialekt, nämlich für die Opferankündigung sowie die Einleitung des Segens. Von den sechs untersuchten Gottesdiensten ist dieser von Pfarrer k03 derjenige, in dem am wenigsten Dialekt verwendet wird. Der zweite Pfarrer aus dem Bistum Basel, Pfarrer k04, tendiert hingegen stark zur Dialektverwendung: Er nützt jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, um Schweizerdeutsch zu sprechen.341 Er setzt es für die Einführung und das Kyrie (mit Ausnahme des Rufs „Herr, erbarme dich“) ein. Zudem hält er die Predigt im Dialekt. Pfarrer k04 wählt den Dialekt auch für die Einleitungen zu vorformulierten Texten, wie die Einleitungen zum Glaubensbekenntnis und zu den Fürbitten, zur Präfation, zum Vaterunser und zum letzten Lied. Zusätzlich kommt bei den Fürbitten und dem Friedensgruss ein CS in den Dialekt vor. Die beiden im Bistum Chur tätigen Priester verwenden beide verhältnismässig viel Dialekt. Pfarrer k05 verwendet den Dialekt für die Einführung, die Opferankündigung, den Friedensgruss, einen Teil der Einladung zur Kommunion sowie die Mitteilungen und verschiedene Einleitungen (Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Friedensgruss, Entlassungsruf). Darüber hinaus predigt er im Dialekt. Pfarrer k05 spricht also immer dann Dialekt, wenn sich ihm im sprachlich stark reglementierten katholischen Gottesdienst die Möglichkeit bietet. Sein Kollege k06 wählt den Dialekt für die Einführung sowie für die Einleitungen von Kyrie, Liedern, Antwortpsalm, Präfation und Segen. Der Dialektanteil in seinem Gottesdienst ist zwar etwas tiefer als bei seinen Kollegen k04 und k05, was vor allem an der standarddeutschen Predigt liegt. Dennoch zeigt sich auch bei k06 eine klare Präferenz für den Dialekt für die informelleren und nicht rituellen Gottesdienstteile.
341 Die Gottesdienstteile, die darüber hinaus noch in Dialekt gesprochen werden könnten, aber in Standarddeutsch gehalten sind (Mitteilungen, Opferankündigung), werden nicht vom Pfarrer, sondern von einem Gemeindeglied gesprochen.
Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst
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Während also Priester k01 aus dem Bistum St. Gallen sowie Priester k03 aus dem Bistum Basel den Dialekt in ihren Gottesdiensten nur marginal einsetzen, nützen ihn Priester k02 aus dem Bistum St. Gallen, k04 aus dem Bistum Basel sowie die beiden Priester k05 und k06 aus dem Bistum Chur an verschiedenen Stellen in ihren Gottesdiensten. 8.2.3 Code-Switchings in katholischen Gottesdiensten Auch in den katholischen Gottesdiensten lassen sich einige funktionale Code-Switchings feststellen. Aufgrund der Tatsache, dass viele der katholischen Priester für die Einleitung eines Gottesdienstteils den Dialekt verwenden, für den jeweiligen Gottesdienstteil dann jedoch Standarddeutsch, finden viele Code-Switchings an den Übergängen (situationsinduzierte CS) statt. Dabei zeigen die ersten beiden Beispiele die verschiedenen Möglichkeiten auf, wie der Beginn des Gottesdienstes gestaltet wird. In GD-Zitat 54 wird die standarddeutsche Begrüssung durch die dialektale Einführung zweigeteilt, in GD-Zitat 55 folgt die dialektale Einführung der standarddeutschen Begrüssung. GD-Zitat 54. im namen des vaters und des sohnes und des heiligen geistes | amen | (1.8) | liebi mitchrischte dass sii doo sind und dass miir soo mitenand chönd fiire | froit mii seer | für üses gmainsaame bäte | (1.0) | und nootenke | (0.5) | wünsch iich ine alne | der herr sei mit euch | und mit deinem geiste | stime mer üüs ii mit em lied bi de numere drüüevierzg | mer singeds im wäggsel [Begrüssung > Einführung > Begrüssung > Einleitung Lied, GD k0101eu01sgs]342 GD-Zitat 55. im namen des vaters | und des sohnes und des heiligen geistes | (0.6) | amen | (2.0) | jesus christus unser herr und gott | er sei mit euch | und mit deinem geiste | ich haisse sii häärzlich willkomme | zu üsere gmainsaame öicharischtiifiir [Begrüssung > Einführung, GD k0505eu01chs]343
Möglich ist ein solcher Wechsel aber auch mitten im Eucharistieteil der Messe, wenn beispielsweise das Vaterunser im Dialekt eingeleitet oder vor der Präfation das nachfolgende Lied im Dialekt angekündigt wird: GD-Zitat 56. ist dir gott allmächtiger vater | in der einheit des heiligen geistes | alle herrlichkeit und ehre | jetzt | und in ewigkeit | (1.2) | amen | (1.6) | verbunde mit alne chrischte uf de ganze wält | törfe mer mit dene woort bäte | wo jesus üüs gschenkt und gee hät | (1.3) | vater unser im himmel [Schlusslobpreis > Einleitung Vaterunser > Vaterunser, GD k0202eu01sgs]344 342 „Liebe Mitchristen! Dass Sie alle hier sind und dass wir so zusammen feiern können, freut mich sehr. Für unser gemeinsames Beten und Nachdenken wünsche ich Ihnen allen […]. Stimmen wir uns ein mit dem Lied bei der Nummer 43. Wir singen es im Wechsel.“ 343 „Ich heisse Sie herzlich willkommen zu unserer gemeinsamen Eucharistiefeier.“ 344 „Verbunden mit allen Christen auf der ganzen Welt dürfen wir mit den Worten beten, die Jesus uns geschenkt und gegeben hat.“ In diesem Beispiel fällt der Wechsel der Varietät einerseits
266
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst GD-Zitat 57. unseren herrn | amen | (4.0) | mer singed nach de präfation s sanctuslied bi de numere hundertacht | (6.7) | der herr sei mit euch | und mit deinem geiste | erhebet die herzen [Einleitung Präfation > Präfation, GD k0606eu01sgs]345
Daneben nehmen auch die Priester die Möglichkeiten, die ihnen die Diglossie bietet, wahr und gestalten ihre Gottesdienste durch diskursinduzierte Code-Switchings innerhalb einzelner Gottesdienstteile. Dabei nutzen verschiedene Priester das Potential von Standarddeutsch als Varietät der Schriftlichkeit und insbesondere die Zitatfunktion von Varietätenwechseln vom Dialekt ins Standarddeutsche. Dies zeigt das Beispiel von Priester k02, der in seiner Predigt für ein Zitat aus dem Lesungstext, einen Bibelvers, an verschiedenen Stellen switcht: GD-Zitat 58. man muss gott mehr gehorchen als den menschen | (1.6) | wa haisst daas für sii | (1.5) | wenn bruuche mer | die argumentatsioon | (2.0) | man muss gott mehr gehorchen | als den menschen | imer wider im verlauf vo de lange chirchegschicht [Predigt, GD k0202eu01sgs]346
Diesen Bibelvers zitiert er als ganzen insgesamt fünf Mal und wechselt dafür jeweils ins Standarddeutsche. Ein weiteres Mal zitiert er nur ein Wort aus dem Vers und wechselt auch dafür: GD-Zitat 59. bruuch ich de satz | um vilicht mini überlegige z feschtige welle | (0.9) | oder stolper i nu drüber | gehorchen | horchen | lose | (1.0) | ich tenk natürlich au a de jetzig paapscht [Predigt, GD k0202eu01sgs]347
Auch Priester k05 benutzt in seiner Dialektpredigt Standarddeutsch zum Zitieren eines Bibelverses und markiert dieses Zitat allein durch den Wechsel. GD-Zitat 60. biischpilhaft für das inträssi isch ebe | d gschtaalt vom thomas | (1.0) | wenn ich meine finger nicht | in die male der hände und meine hand nicht in seine seite lege | glaube ich nicht | (1.7) | warum sind iim grad d wunde so wichtig | (1.7) [Predigt]348
345 346 347 348
mit dem Wechsel des Gottesdienstteils zusammen, andererseits auch mit Sprecherwechseln (amen von der gesamten Gemeinde gemeinsam mit dem Pfarrer gesprochen – freier Text vom Pfarrer gesprochen – „Vaterunser“ von der gesamten Gemeinde mit dem Pfarrer gesprochen) und einem Wechsel von zitiertem (vorgegebenen) Text zu freiem Text (Gebet – freier Text – Gebet). „Wir singen nach der Präfation das Sanctuslied bei der Nummer 108.“ „Was heisst das für Sie? Wann brauchen wir die Argumentation? […]. Immer wieder im Verlauf der langen Kirchengeschichte.“ „Brauche ich den Satz, um vielleicht meine Überlegungen festigen zu wollen oder stolpere ich nur darüber? […] hören. Ich denke natürlich auch an den jetzigen Papst.“ „Beispielhaft für das Interesse ist eben die Gestalt vom Thomas. […]. Warum sind ihm gerade die Wunden so wichtig?“
Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst
267
Für die Kyrie-Rufe und die Vergebungsbitte innerhalb des Kyrie wechselt Pfarrer k04 ins Standarddeutsche: GD-Zitat 61. herr jesus christus | du hilfsch öis uufschtaa wenn mir gfalle sind | herr erbarme dich | herr erbarme dich | herr jesus christus du rüefsch öis i diini naachfolg | christus erbarme dich | christus erbarme dich | herr jesus christus | du schänksch öis de hailigi gaischt wo öis stärcht und öis chraft git | herr erbarme dich | herr erbarme dich | der allmächtige gott erbarme sich unser er lasse uns die sünden nach und führe uns zum ewigen leben | amen [Kyrie, GD k0404eu01bss]349
Es werden aber nicht nur Bibelverse und Teile des Messbuchs in Standarddeutsch zitiert. Pfarrperson k05 „zitiert“ beispielsweise die mögliche Überschrift des im Gottesdienst verwendeten Evangeliums in Standarddeutsch. Es handelt sich hier also um ein Pseudozitat aus der Schriftlichkeit: GD-Zitat 62. jesus privat | (1.1) | daas chönti | d überschrift zum hütige evangeelium sii | (1.3) | der uuferschtandeni hinter verschlossne tüüre | im chliine chrais | vo de jünger [Einführung, GD k0505eu01chs]350
Das Standarddeutsche für das Zitat einer Aussage von Papst Franziskus, die jener aber in Italienisch getätigt hat, verwendet Pfarrer k03 in der Segenseinleitung: GD-Zitat 63. | (3.8) | de paapscht franziskus hät letschte ziischtig i de predigt gsait | die wahre macht | zeigt sich im dienen | das erläbä mer die komendi wuche | dass | jesus üüs | liebt durch siis liide | idem er siis läbe hiigit für üüs [Lied > Einleitung zum Segen, GD k0303eu01bss]351
Durch den Varietätenwechsel wird hier deutlich markiert, dass es sich um fremde Worte handelt; die ursprüngliche Sprache dieses Zitates ist in jenem Moment nicht relevant, sondern nur dass es sich dabei um ein Zitat handelt. Das CS hat eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem in GD-Zitat 19 (wie die neugeborenen kinder, S. 243). Für eine Art Übersetzung wechselt Pfarrer k04 ins Standarddeutsche während seiner Predigt und wiederholt anschliessend das standarddeutsche Zitat im Dialekt, übersetzt dieses ins Schweizerdeutsche und erklärt es so. GD-Zitat 64. wär hät nid mängisch s gfüül | soo groossartig sind mini frücht won ich bringen au nid | aber grad denn wemer daas gfüül händ | simiir berait | gottes gägäwaart
349 „Herr Jesus Christus, du hilfst uns aufzustehen, wenn wir gefallen sind […]. Herr Jesus Christus, du rufst uns in deine Nachfolge […]. Herr Jesus Christus, du schenkst uns den Heiligen Geist, der uns stärkt und uns Kraft gibt.“ 350 „Das könnte die Überschrift zum heutigen Evangelium sein. Der Auferstandene hinter verschlossenen Türen im kleinen Kreis von den Jüngern.“ 351 „Der Papst Franziskus hat letzten Dienstag in der Predigt gesagt […]. Das erleben wir die kommende Woche, dass Jesus uns liebt durch sein Leiden, indem er sein Leben hingibt für uns.“
268
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst in öis lebändig loo z loo | gott offebaart sich als de gott ich-bin-da ich bi für diich für | öi doo [Predigt, GD k0404eu01bss]352
Auch in den untersuchten katholischen Gottesdiensten stellen die Code-Switchings vom Dialekt ins Standarddeutsche, die als Zitate fungieren, die häufigste Kategorie dar. Die Code-Switchings von Standarddeutsch in Richtung Dialekt dienen insbesondere als Regieanweisungen und markieren zudem häufig Perspektivenwechsel in den katholischen Gottesdiensten. Pfarrer k04 wechselt bei der Regieanweisung für die physische Ausführung des Friedensgrusses in den Dialekt (und verhält sich so wie die reformierte Pfarrperson r01): GD-Zitat 65. christus ist unser friede und unsere versöhnung deshalb bitten wir | (1.6) | herr jesus christus | (1.2) | schau nicht auf unsere sünden | sondern auf den glauben deiner kirche | und schenke nach deinem willen | einheit und frieden | der friede des herrn sei allezeit mit euch | und mit deinem geiste | gämer enand es zaiche vom fride und vo de versöönig | (23.4) [Einleitung Friedensgruss > Friedensgruss, GD k0404eu01bss]353
Es handelt sich hier ebenfalls gleichzeitig um einen Perspektivenwechsel von der vertikalen zur horizontalen Kommunikationsperspektive. In der Hälfte der untersuchten katholischen Gottesdienste wird die Einleitung zum Vaterunser (mitten im Eucharistieteil) im Dialekt gesprochen. Dasselbe geschieht beim Wechsel in den Dialekt für die Einleitung des Glaubensbekenntnisses in zwei Fällen. So verwendet beispielsweise Pfarrperson k05 für beide Einleitungen den Dialekt: GD-Zitat 66. zu gott wo üüs nööch isch | törfe mer voll vertruue mitenand bätte | (1.0) | vater unser im himmel | geheiligt werde dein name [Einleitung zum Vaterunser > Vaterunser, GD k0505eu01chs]354 GD-Zitat 67. bekäne mer mitenand dankbaar | üsere glaube | (2.8) | ich glaube an gott | den vater den allmächtigen [Einleitung zum Glaubensbekenntnis > Glaubensbekenntnis, GD k0505eu01chs]355
An beiden Stellen betont der Pfarrer das gemeinschaftliche Handeln, bewegt sich also durch diese Einleitung bewusst auf eine gemeinsame Ebene mit seiner Gemeinde und wechselt von einer vertikalen Kommunikationsperspektive auf eine horizontale. Der Pfarrer macht sich in diesem Moment zum Teil seiner Gemeinde, 352 „Wer hat nicht manchmal das Gefühl, so grossartig sind meine Früchte, die ich bringe, auch nicht. Aber gerade dann, wenn wir dieses Gefühl haben, sind wir bereit, Gottes Gegenwart in uns lebendig lassen zu lassen. Gott offenbart sich als der Gott […] ich bin für dich, für euch hier.“ 353 „Geben wir einander ein Zeichen vom Frieden und von der Versöhnung.“ 354 „Zu Gott, der uns nah ist, dürfen wir voller Vertrauen miteinander beten.“ 355 „Bekennen wir miteinander dankbar unseren Glauben.“
Sprachgebrauch im katholischen Gottesdienst
269
was durch den Gebrauch des mitenand an beiden Stellen zusätzlich hervorgehoben wird. Dasselbe geschieht auch bei der Aufforderung zum Ausführen des Friedensgrusses – ein Muster, das bereits bei anderen Pfarrpersonen (r01 und k04) festgestellt wurde: GD-Zitat 68. schänk du au üüs | dinere chile | und alne mänsche uf däre wält din wile | ainhait | und fride | (1.3) | der friede des herrn | sei alle zeit mit euch | und mit deinem geiste | gämmer enand es zaiche vo dem fride | (25.2) [Friedensgruss, GD k0505eu01chs]356
Ähnlich wie gewisse reformierte Pfarrpersonen benützen katholische Pfarrer den Dialekt ausserdem am Schluss des Gottesdienstes für eine persönliche Verabschiedung. Offensichtlich markiert der Entlassungsruf im katholischen Gottesdienst den absoluten Schluss aber deutlicher, als dies der Segen im reformierten tut, da diese persönliche Verabschiedung im katholischen Gottesdienst nicht nach dem Entlassungsruf, sondern zwischen dem Segen und dem Entlassungsruf zu stehen kommt (bzw. wie in GD-Zitat 70 sogar vor dem Segen). Dies hängt wohl damit zusammen, dass der Entlassungsruf zwar wie der Segen im reformierten Gottesdienst ritualisiert ist, das Ritual aber im katholischen Gottesdienst durch seine starre Form stärker wirksam ist. GD-Zitat 69. der vater | der sohn und der heilige geist | amen | ich wünsch ine no e ganz en schöönen oobig | en gruesaame suntig | (1.1) | bhüet üüch gott und | gehet hin in frieden halleluja [Segen > Einleitung Entlassungsruf > Entlassungsruf, GD k0505eu01chs]357 GD-Zitat 70. | (3.7) | ich wünsche alne en schööne suntig und en gueti wuche | (0.5) | der herr sei mit euch | und mit deinem geiste [Lied > Einleitung Segen > Segen, GD k0606eu01chs]358
Wie auch bei den reformierten Pfarrpersonen könnte diese persönliche Verabschiedung am Schluss des Gottesdienstes dem Rollenwechsel der Priester geschuldet sein: Sie zeigen durch den Gebrauch des Dialekts, ihrer Alltagssprache, an, dass sie die Rolle des Gottesdienstvorstehers nun ablegen und in den Alltag übergehen werden. 8.2.4 Funktionen von Code-Switching Die Funktionen der CS in den untersuchten katholischen Gottesdiensten entsprechen jenen der reformierten – es konnten keine zusätzlichen Funktionen ermittelt 356 „Schenk auch du uns, deiner Kirche und allen Menschen auf dieser Welt deinen Willen, Einheit und Friede. […]. Geben wir einander ein Zeichen von diesem Frieden.“ 357 „Ich wünsche Ihnen noch einen ganz schönen Abend, einen geruhsamen Sonntag. Behüte euch Gott und […].“ 358 „Ich wünsche allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche.“
270
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
werden. So switchen reformierte und katholische Pfarrpersonen teilweise bei der Regieanweisung zum Ausführen des Friedensgrusses. Auch katholische Pfarrpersonen nutzen zudem das Potential von Standarddeutsch als schriftliche Varietät für CS innerhalb von Dialektpredigten, um Bibelstellen als Zitate zu markieren. Der Schluss des Gottesdienstes wird teilweise im Dialekt markiert bzw. erfolgen in einigen Gottesdiensten persönlichere Mitteilungen in Schweizerdeutsch. Schliesslich lassen sich auch bei den Katholiken Perspektivenwechsel erkennen, die durch ein CS (zusätzlich) markiert werden. 8.3 DISKUSSION DER RESULTATE Die Analyse der reformierten und katholischen Gottesdienste zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Sprachgebrauch der Pfarrpersonen der beiden grossen Landeskirchen. Die reformierten Gottesdienste lassen sich sechs verschiedenen Varietätenmustern zuteilen. Rund die Hälfte der Aufnahmen werden ausschliesslich oder grossmehrheitlich in Standarddeutsch gehalten, wobei dieses Resultat etwas relativiert wird, wenn nur die von der Autorin selbst hergestellten Aufnahmen in Betracht gezogen werden: Mit über 38 % ist der Anteil jener Gottesdienste, die den standardgeprägten Gottesdienstmustern zugerechnet werden, aber immer noch sehr hoch. Rund 40 % der Gottesdienste lassen sich dem Muster zuteilen, bei dem alle von der Pfarrperson formulierten Texte im Dialekt gesprochen werden und für alle übernommenen Texte Standarddeutsch verwendet wird, bzw. diesem Muster mit kleinen Abweichungen (z. B. standarddeutsche Predigt). Standarddeutsch wird in diesen Gottesdiensten also primär als Varietät der Schriftlichkeit (aus der zitiert wird) verwendet. Unterschiede lassen sich bei den reformierten Pfarrpersonen zwischen den verschiedenen Gottesdienstarten feststellen: Familiengottesdienste sind klar vom Dialekt geprägt. Bei den Festgottesdiensten kann eine leichte Tendenz zu dialektaleren Formen festgestellt werden, was angesichts der zitierten Forschungsliteratur eher überrascht. Die Predigtgottesdienste verteilen sich auf fünf der sechs festgestellten Muster: Bei den Vergleichsaufnahmen dominieren die standarddeutschgeprägten Gottesdienste, bei den eigenen Aufnahmen gibt es eine leichte Dominanz der dialektaleren Gottesdienstformen. Die Auswahl der Untersuchungskantone war vom Gedanken geleitet, dass sich der Varietätengebrauch im Osten und Westen der Deutschschweiz unterscheidet. Im Untersuchungskorpus können keinerlei solche Unterschiede beobachtet werden: In keinem der fünf Kantone ist eine Tendenz zu klar standarddeutschen Gottesdiensten feststellbar. Die Verwendung von Standarddeutsch für die Gottesdienste ist nicht vom Kanton abhängig, sondern von der Grösse der Kirchgemeinde (Stadt) bzw. der Zusammensetzung der Gottesdienstgemeinde (allochthone Gottesdienstbesucher/-innen). Bei den Vergleichsaufnahmen zeigt sich, dass bei drei der untersuchten vier Pfarrpersonen intraindividuelle Konstanz festgestellt werden kann, wobei sich hier
Diskussion der Resultate
271
mit r01, die in ihren Gottesdiensten fast ausschliesslich Standarddeutsch spricht, und r12, die sehr viel Dialekt für die eigenen Gottesdienste verwendet, zwei Extreme des gesamten Untersuchungskorpus finden. Eine Pfarrperson verwendet verschiedene Gottesdienstmuster und bewegt sich auf dem gesamten Spektrum der verfügbaren Varietätenverteilung, zwischen ausschliesslichem Standarddeutschgebrauch und Dialektgottesdiensten. Keine statistisch aussagekräftigen Resultate lassen sich aufgrund der geringen Anzahl von Aufnahmen zur Verteilung nach Geschlecht, Alter oder Gemeindegrösse gewinnen. Weder lässt sich eine generelle Präferenz der jüngeren Pfarrpersonen für Dialekt feststellen noch ein grundsätzlich anderes Verhalten der Pfarrerinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen. Beim Faktor „Anzahl Gemeindeglieder“ kann man eine leichte Tendenz zu mehr Standarddeutsch bei grösseren Gemeinden erkennen, die aber aufgrund der kleinen Stichprobe ebenfalls nicht aussagekräftig ist. Letztlich würde hier nur eine Studie mit mehr Daten zu statistisch relevanten Resultaten führen. Eine Analyse der reformierten Gottesdienste nach Gottesdienstteilen zeigt eine tendenzielle Zweiteilung: Den Dialekt verwenden die Pfarrpersonen für Gruss, die Einleitungen zum Gebet, der Fürbitte, zum Unser Vater sowie für die Abkündigungen und die Mitteilungen. Für die übrigen Teile wird in der Tendenz bzw. fast ausschliesslich (Unser Vater, Segen) Standarddeutsch verwendet. Dies führt dazu, dass sich Code-Switchings an den Übergängen zwischen zwei Gottesdienstteilen für gewisse Stellen im Gottesdienst tendenziell vorhersagen lassen. Während in rund der Hälfte der reformierten Gottesdienste der Dialekt eine sehr wichtige Rolle spielt und teils sogar mehr Raum als Standarddeutsch einnimmt, dominiert die Standardsprache in den katholischen Gottesdiensten klar. Zwar hält kein einziger der sechs katholischen Pfarrer seinen Gottesdienst zur Gänze in Standarddeutsch, der Dialekt spielt in allen Gottesdiensten aber eine doch eher marginale Rolle, weil gewisse Messteile eine Art dialektfreie Zone bilden: die Lesungen, der Segen, der Entlassungsruf sowie der überwiegende Teil des Eucharistieteils der Messe (mit Ausnahme von Einleitungen zu Liedern und zum Vaterunser, Teilen des Friedensgrusses sowie bei einem Pfarrer der Einladung zur Kommunion). Je höher die Ritualität des Gottesdienstteils bzw. der jeweiligen Formel ist, desto stärker scheint er bzw. sie mit Standarddeutsch verknüpft. Wo die Pfarrpersonen jedoch selbst formulieren und die Ritualität tendenziell tief(er) ist, hat der Dialekt seinen Weg auch in katholische Kirchen gefunden.359 Der Dialekt stellt also eine mögliche Varietät für die nicht rituellen Teile im katholischen Gottesdienst dar. Dabei lassen sich aber durchaus auch Unterschiede zwischen den untersuchten katholischen Pfarrpersonen beobachten: Zwei der sechs untersuchten Priester halten ihren Gottesdienst grossmehrheitlich in Standarddeutsch mit marginalem
359 Jedoch keinesfalls in dem Masse, wie LÖTSCHER sich das anfangs der Achtzigerjahre vorgestellt hat: dass ein direkter Wechsel von Latein zur Mundart stattgefunden hätte (vgl. LÖTSCHER 1983, 130).
272
Sprachgebrauch der Deutschschweizer Pfarrpersonen im Gottesdienst
Dialektanteil. Die übrigen vier setzen den Dialekt an verschiedenen Stellen, insbesondere für die informelleren und nicht rituellen Passagen in ihren Gottesdiensten, ein. Ein wichtiges Kriterium für die Sprachformenwahl in den katholischen Gottesdiensten sind sicherlich auch die allochthonen Zuhörerinnen und Zuhörer. Die Gefahr, diese auszuschliessen, ist bei dialektalen Äusserungen, die Gottesdienstteile einleiten, aber nicht stark formelhaft bzw. ritualisiert sind, gering(er), da die darauffolgenden stark ritualisierten Teile in Standarddeutsch wieder von allen anwesenden Gläubigen verstanden bzw. erkannt werden und ihnen so das Gefühl der Zugehörigkeit zur (standarddeutsch) gesprochenen Messe vermitteln, auch wenn sie zwischendurch gewisse Teile des Gottesdienstes nicht oder nur schlecht verstehen. Das verbindende Element und den eigentlichen Kern der katholischen Messe stellen ebendiese rituellen, gemeinsam gesprochenen Texte dar: Würden diese im Dialekt gesprochen, würden also die allochthonen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher von dieser gemeinsamen Feier, die auch durch das gemeinsame Sprechen von Formeln ausgemacht wird, ausgeschlossen. Gemeinsam ist den Pfarrpersonen beider Landeskirchen, dass sie die Möglichkeiten, die ihnen die Verfügbarkeit zweier Varietäten bietet, aktiv nutzen, um ihre Gottesdienste sprachlich zu gestalten: Sie setzen Code-Switchings vom Dialekt ins Standarddeutsche und in die umgekehrte Richtung funktional ein. Wie gezeigt, lassen sich für diese monologische Gesprächssituation Funktionen feststellen, die das Code-Switching auch bei Gesprächen zwischen autochthonen Personen erfüllt. Die Varietätenwechsel dienen also auch in Gottesdiensten als Kontextualisierungshinweis. Dies ist durch den sozialsymbolischen Wert der jeweiligen Varietät bedingt, der bei den Wechseln aktiviert wird. Die insertionalen Codewechsel vom Dialekt ins Standarddeutsche haben vor allem Funktionen, die den sozialsymbolischen Wert von Standarddeutsch als authentische Grösse bzw. als kodifizierte Referenzgrösse aktivieren. Es wird dabei in erster Linie auf das sprachliche Original verwiesen, indem aus der Schriftlichkeit (pseudo-)zitiert bzw. vor-/abgelesen wird sowie Propria erkennbar gemacht werden. Die häufigste Funktion ist jene des Zitats, die insbesondere von den reformierten Pfarrpersonen intensiv genutzt wird. Es finden sich jedoch keine Wechsel mit grossem pragmatischen Gewicht vom Dialekt ins Standarddeutsche. Auch die Wechsel in die umgekehrte Richtung, hin zum Dialekt, werden funktional eingesetzt: Sie dienen vielfältigeren Funktionen. Ein Versuch eines Modells für die Einteilung solcher Wechsel in Abhängigkeit ihres pragmatischen Gewichts bzw. des aktivierten sozialsymbolischen Werts wurde in Kap. 8.1.8 vorgeschlagen. In reformierten und katholischen Gottesdiensten finden sich Wechsel, in denen auf den Dialekt als authentische Grösse und somit auf das sprachliche Original verwiesen wird. Grösseres pragmatisches Gewicht haben aber die Code-Switchings, die auf den Dialekt als unmarkierte Alltagssprache in der Deutschschweiz verweisen, sowie insbesondere jene, in denen der Dialekt dazu dient, inszenierende Elemente zu markieren und den Gottesdienst dramaturgisch (mit) zu gestalten. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich Funktionen von CS vom Dialekt ins Standarddeutsche aus Gesprächssituationen zwischen Autochthonen
Diskussion der Resultate
273
auch auf die monologisch geprägte Sprachverwendung im Deutschschweizer Gottesdienst übertragen lassen. Für CHRISTEN et al. (2010, 97) sind solche Code-Switchings in den Gesprächen zwischen autochthonen Personen bzw. die Verwendung der Standardsprache ein „effizientes Mittel zur Gesprächsorganisation“. Analog dazu können Code-Switchings in reformierten und katholischen Gottesdiensten als effizientes Mittel zur Gottesdienstgestaltung bezeichnet werden – und zwar in beide Richtungen. Gerade dieser funktionale Einsatz der beiden Varietäten als Kontextualisierungshinweis durch die Pfarrpersonen (sowie deren funktionale Verteilung in den einzelnen Gottesdiensten) legt die Interpretation der Sprachsituation als Diglossie nahe: Das Spiel mit den beiden Varietäten ist gerade durch die diglossische Sprachsituation erst möglich. Inwiefern die Pfarrpersonen Dialekt und Standarddeutsch in ihrem Berufsalltag bewusst (unterschiedlich) einsetzen, wird im nächsten Kapitel behandelt. Ob auch die (insbesondere evaluativen) Spracheinstellungen die Interpretation der Sprachsituation als diglossisch stützen, wird anschliessend in Kap. 10 gezeigt.
9 VARIETÄTENWAHL UND EINFLUSSFAKTOREN AUS SICHT VON DEUTSCHSCHWEIZER PFARRPERSONEN Nach der Analyse der objektiven Daten in Kapitel 8 soll es in diesem und dem folgenden Kapitel um die Analyse der subjektiven Daten gehen. Die Daten aus den Interviews und der Fragebogenerhebung dienen einerseits dazu, die Spracheinstellungen der Pfarrpersonen zu Dialekt und Hochdeutsch360 zu eruieren, andererseits wird anhand dieser Daten der intendierte Varietätengebrauch der Pfarrerinnen und Pfarrer aufgezeigt. Im vorliegenden Kapitel werden die subjektiven Einschätzungen der Pfarrpersonen ihren eigenen Sprachgebrauch im beruflichen Alltag betreffend untersucht. Andererseits werden die Ergebnisse aus Interviews und Fragebogen herangezogen, um mögliche Einflussfaktoren für die Varietätenwahl zu diskutieren. Schliesslich werden mit der schriftlichen Gottesdienst- und Predigtvorbereitung sowie den Dialektvorlagen Themenbereiche dargestellt, in denen der Dialekt als Varietät der Schriftlichkeit relevant ist bzw. sein kann. Die Analyse der Einstellungen zu den beiden Varietäten wird in Kapitel 10 vorgenommen. Zunächst steht der intendierte Sprachgebrauch der reformierten und katholischen Pfarrpersonen im Sonntagsgottesdienst (Kap. 9.1 und 9.2), weiteren Gottesdienstarten (Kap. 9.3) sowie anderen kirchlichen Kontexten (Kap. 9.4) im Zentrum. Anschliessend wird diskutiert, wie die Pfarrpersonen ihren Gottesdienst hinsichtlich der Verschriftung vorbereiten – ausformuliert oder in Stichworten und in welcher Varietät – und wie viel Zeit sie je nach gewählter Varietät benötigen (Kap. 9.5). Der Frage, welche Rolle Dialektbibeln und -lieder für die untersuchten Pfarrpersonen spielen, wird in Kap. 9.6 nachgegangen. Verschiedene mögliche Einflussfaktoren für die Varietätenwahl der Pfarrpersonen (Komplexität der vermittelten Inhalte, Gefahr des Plauderns im Dialekt, verschiedene Rollen der Pfarrperson im Gottesdienst, Vorlieben der Gemeinde) werden in Kap. 9.7 thematisiert. Im Anschluss wird ein ausführlicher Blick auf die Relevanz der Sprachformenfrage in der Ausbildung der Pfarrpersonen geworfen (Kap. 9.8); dies geschieht unter anderem anhand von Daten aus einem Interview mit einem Professor für Praktische Theologie der Universität Bern, aber auch auf der Basis der Aussagen der Pfarrpersonen aus Interviews und Fragebögen. Eine abschliessende Aussage über eine allfällige Veränderung im Varietätengebrauch im kirchlichen Kontext lässt die vorliegende Untersuchung nicht zu – möglich ist aber ein (subjektiver) Blick auf individuelle und institutionelle Entwicklungstendenzen. Dieser wird in Kap. 9.9 präsentiert. Als Kapitelabschluss werden schliesslich als Exkurs Daten aus der Fragebogenerhebung präsentiert, die von allochthonen Pfarrpersonen stammen (Kap. 9.10). So wird
360 Wie in Fussnote 10 erwähnt, wird im Kontext der subjektiven Daten der Terminus Hochdeutsch verwendet.
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
275
ein kurzer Einblick in den intendierten Sprachgebrauch dieser Personengruppe ermöglicht. 9.1 INTENDIERTER VARIETÄTENGEBRAUCH IM REFORMIERTEN SONNTAGSGOTTESDIENST Um den intendierten Varietätengebrauch für den gewöhnlichen reformierten Sonntagsgottesdienst festzustellen, wurde den Pfarrpersonen im Interview und im Fragebogen eine Tabelle vorgelegt. Die einleitende Frage lautete wie folgt: In gewöhnlichen Sonntagsgottesdiensten benutze ich momentan und über die letzten Jahre gesehen ... Bitte wählen Sie für jedes Gottesdienstelement die entsprechende Antwort.361
Die Pfarrpersonen mussten in der Tabelle für jedes Gottesdienstelement eine Wahl treffen. Im Fragebogen war diese Frage eine Pflichtfrage, d. h. um die nächste Frage zu erhalten, musste diese Frage vollständig beantwortet werden. Die Tabelle sah für die reformierten Pfarrpersonen wie folgt aus:362
Eingangswort Begrüssung Gebete (ohne Fürbitte) Einleitung und Ausgang der Lesung Lesung Liedansagen (inkl. der Aufforderung, sich zu erheben, etc.) Predigt Abkündigungen Fürbittegebet Unser Vater Mitteilungen/ Kollekte Sendungswort Segen
Immer Dialekt
Meist Dialekt
Eher Dialekt
Eher Hochdeutsch
Meist Hochdeutsch
Immer Hochdeutsch
Unsicher
Element fällt meistens weg
Tab. 32: Tabelle aus dem Fragebogen Version 1, Frage 9
361 Diese Frage wurde von KAMM (2007) übernommen. 362 Im Interview fehlte die Spalte „Element fällt meistens weg“.
276 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Es kann also für jedes Element ermittelt werden, welche Varietät die Pfarrerinnen und Pfarrer zu verwenden angeben. Sowohl die Antworten aus den Interviews wie jene aus den Fragebögen363 lassen klare Unterschiede bei der Varietätenwahl nach einzelnen Gottesdienstelementen erkennen, wie die nachfolgenden Diagramme zeigen. Beim Eingangswort zeigt sich eine klare Bevorzugung des Hochdeutschen (73.8 % bzw. 76.7 % für die drei „Hochdeutsch-Werte“ zusammengefasst). Dies überrascht nicht, handelt es sich doch beim Eingangswort sehr häufig um ein Bibelzitat. Nur rund ein Viertel in beiden Erhebungen gibt an, dass sie „immer“, „meist“ oder „eher“ den Dialekt für das Eingangswort verwenden. Eingangswort
2
Immer Dialekt
3
Meist Dialekt 1 1
13
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
3
Immer Hochdeutsch
Abb. 33: Gottesdienstteil „Eingangswort“ nach Sprachform; Interview (n=23)364
363 Im Folgenden werden die Antworten für Fragebogenversion 1 präsentiert. Die Daten für Fragebogenversion 2 unterscheiden sich zumindest bei dieser Frage klar von denjenigen der autochthonen Pfarrpersonen: Nur beim Gottesdienstteil „Mitteilungen“ erreichen die drei „Dialekt“-Antworten einen Wert von über 50 %, bei allen anderen Gottesdienstteilen gibt die (klare) Mehrheit an, „immer/mehr/eher Hochdeutsch“ zu verwenden. Die Zahlen weisen also darauf hin, dass diese Gruppe tatsächlich als eigene, separat zu untersuchende Stichprobe angesehen werden muss. Da die Arbeit hauptsächlich auf autochthone Dialektsprecherinnen und -sprecher fokussiert, müssen die Daten an anderer Stelle analysiert und mit denjenigen der Autochthonen verglichen werden. 364 In einem Interview wurde die entsprechende Tabelle nicht ausgefüllt, dadurch ergibt sich die Gesamtanzahl von 23 an dieser Stelle.
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
277
Eingangswort 0.4% 7.5% 10.6%
Immer Dialekt Meist Dialekt
4.8%
41.4%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
8.6%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher
26.7%
Abb. 34: Gottesdienstteil „Eingangswort“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Ein ganz anderes Bild zeigt sich für die darauffolgende Begrüssung, die von zwei Dritteln (Interview) bis über drei Vierteln (Fragebogen) der Befragten im Dialekt realisiert wird: Gruss
5
Immer Dialekt Meist Dialekt 11 2
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
1
Immer Hochdeutsch
1 3
Abb. 35: Gottesdienstteil „Gruss“ nach Sprachform; Interview (n=23)
278 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen
0.2%
Gruss
11.2%
Immer Dialekt
6.8%
Meist Dialekt 3.7%
39.9%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
9.5%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher 28.6%
Abb. 36: Gottesdienstteil „Gruss“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Beim Gruss wird der Dialekt klar bevorzugt. Die Begrüssung ist ein frei formuliertes Element im Gottesdienst, hier ist es der Pfarrperson überlassen, wie sie die Gemeinde zum Gottesdienst willkommen heissen will. Bei den frei formulierten Gebeten zeigt sich ein ähnliches Bild: Auch hier dominiert der Dialekt. Gebete (ohne Fürbitte)
5
5
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt 4
5
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch
4
Abb. 37: Gottesdienstteil „Gebete (ohne Fürbitte)“ nach Sprachform; Interview (n=23)
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
279
Gebete (ohne Fürbitte)
0.4% 13.4%
19.2%
Immer Dialekt Meist Dialekt
11.2%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
8.6% 29.1%
Immer Hochdeutsch Unsicher
18.1%
Abb. 38: Gottesdienstteil „Gebete (ohne Fürbitte)“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Immerhin ein Drittel der Befragten im Fragebogen gibt aber an, bei Gebeten Hochdeutsch zu bevorzugen; bei den Interviewten sind es über 40 %. Ausserdem verteilen sich auch die Anteile beim Dialekt anders als bei der Begrüssung: So sind es bei der Begrüssung zwei Fünftel bis fast die Hälfte, die „immer“ den Dialekt wählen, gegenüber einem Fünftel bei den Gebeten. Ein ähnlich geringer Anteil an Hochdeutsch kommt bei der Einleitung und dem Ausgang der Lesung bei der Fragebogenerhebung zutage: Auch hier zeigt sich eine klare Mehrheit, die den Dialekt bevorzugt, rund ein Drittel wählt „immer“ den Dialekt. Demgegenüber wählt nur ein Viertel der Befragten auch für diesen frei formulierten Gottesdienstteil das Hochdeutsche. Für die Interviews sieht die Verteilung leicht anders aus, hier entscheidet sich aber auch knapp über die Hälfte der Befragten für den Dialekt in Bezug auf diesen Gottesdienstteil.
280 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Einleitung und Ausgang der Lesung
6
Immer Dialekt 10
Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
3
Immer Hochdeutsch 1
1
2
Abb. 39: Gottesdienstteil „Einleitung und Ausgang der Lesung“ nach Sprachform; Interview (n=23)
Einleitung und Ausgang der Lesung 0.4%
1.5%
12.3%
Immer Dialekt 33.7%
8.6%
Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
5.5%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher
11.2%
Element fällt meist weg 26.7%
Abb. 40: Gottesdienstteil „Einleitung und Ausgang der Lesung“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Beim Übergang von der Einleitung zur Lesung (und wohl auch von der Lesung zum Ausgang der Lesung) kommt es offenbar vermehrt zu CS: Schliesslich wählen bei den Interviewten alle ausnahmslos „immer“ oder „meist“ Hochdeutsch, bei den Befragten im Fragebogen über 50 % „immer Hochdeutsch“ für die Bibellesung, weitere 34.8 bzw. 8.4 % entscheiden sich „meist“ bzw. „eher“ für das Hochdeutsche. Die Lesung erfolgt in der Regel aus der Bibel – hier zeigt sich also ein ähnliches Bild wie beim Eingangswort, wenn auch noch deutlicher: Wenn aus der Bibel zitiert
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
281
wird, ist Hochdeutsch die klar bevorzugte Varietät. Nur bei 4.5 % der Pfarrpersonen, die den Fragebogen ausgefüllt haben, kommt hier der Dialekt als bevorzugte Varietät zum Einsatz: Diese Pfarrpersonen wohnen und arbeiten grösstenteils (17 Personen) im Kanton BE.365 Lesung
4
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch
19
Abb. 41: Gottesdienstteil „Lesung“ nach Sprachform; Interview (n=23)
2.4% 0.2% 0.7%
Lesung 1.5% 8.4%
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
52.0% 34.8%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher
Abb. 42: Gottesdienstteil „Lesung“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
365 Eine Person arbeitet im Kanton TG, zwei im Kanton ZH, eine in einem anderen Kanton.
282 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Ähnlich wie die Einleitung zur Lesung werden auch die Liedansagen grossmehrheitlich im Dialekt realisiert: Liedansagen
5
Immer Dialekt 10
Meist Dialekt Eher Dialekt
2
Meist Hochdeutsch 1
Immer Hochdeutsch 5
Abb. 43: Gottesdienstteil „Liedansagen (inkl. der Aufforderung, sich zu erheben etc.)“ nach Sprachform; Interview (n=23)
0.4%
0.2%
Liedansagen
10.6%
Immer Dialekt 7.3%
Meist Dialekt
3.5%
40.3%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
10.4%
Immer Hochdeutsch Unsicher Element fällt meist weg 27.3%
Abb. 44: Gottesdienstteil „Liedansagen (inkl. der Aufforderung, sich zu erheben etc.)“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
283
Knapp drei Viertel der Befragten in der Fragebogenerhebung geben an, für die Predigt den Dialekt zu verwenden.366 Trotzdem zeigen noch über 30 % der Gewährspersonen eine Präferenz für Hochdeutsch. Die Daten aus Interview und Fragebogen unterscheiden sich bei diesem Gottesdienstelement erstaunlicherweise. Für die Gewährspersonen aus der Fragebogenerhebung zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den frei formulierten Gottesdienstelementen (Begrüssung, Gebete, Einleitung/Ausgang der Lesung, Liedansagen): Rund ein Viertel der Befragten zeigt eine klare Präferenz für Hochdeutsch; bei den Interviewten ist es nur die Hälfte. Die Predigt scheint also für einen Teil der interviewten Pfarrpersonen einen anderen Stellenwert als die übrigen frei formulierten Gottesdienstteile zu haben. Darüber hinaus sind im Sample der Interviewten verschiedene Pfarrpersonen enthalten, die in Kirchen arbeiten, wo Standarddeutsch für die Predigt durch eine explizite oder implizite Sprachregelung vorgegeben ist, was dieses „abweichende“ Resultat zusätzlich erklärt. Predigt
6
6
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch 3
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch
5 1
2
Abb. 45: Gottesdienstteil „Predigt“ nach Sprachform; Interview (n=23)
366 Es zeigt sich, dass über 10 % der Personen, die den Fragebogen ausgefüllt haben, auch für diesen Gottesdienstteil – wie für die vorangehenden – beim Hochdeutschen bleiben. Es sind denn auch 8.8 %, die für jeden Gottesdienstteil „immer Hochdeutsch“ angeben, 40 Personen verwenden also für ihre regulären Sonntagsgottesdienste durchgehend Hochdeutsch, unabhängig vom Gottesdienstelement.
284 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Predigt 13.4%
0.4% 25.8%
Immer Dialekt Meist Dialekt
12.1%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
4.6%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher
11.7% 31.9%
Abb. 46: Gottesdienstteil „Predigt“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Die Abkündigungen reihen sich in das Bild der frei formulierten Gottesdienstteile ein, was die Verteilung von Dialekt und Hochdeutsch angeht, wobei die interviewten Personen eine leicht schwächere Tendenz zum Dialekt zeigen: Abkündigungen
7
8
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt Meist Hochdeutsch
1
Immer Hochdeutsch 1 6
Abb. 47: Gottesdienstteil „Abkündigungen“ nach Sprachform; Interview (n=23)
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
0.2%
0.2%
285
Abkündigungen
13.2%
Immer Dialekt Meist Dialekt
7.5%
36.1%
3.7%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
10.8%
Immer Hochdeutsch Unsicher Element fällt meist weg 28.2%
Abb. 48: Gottesdienstteil „Abkündigungen“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Bei den Fürbitten unterscheiden sich die Antworten der Gewährspersonen aus Interviews und Fragebogenerhebung: Während die Interviewten eine leichte Tendenz hin zum Hochdeutschen aufzeigen, ziehen die Pfarrpersonen der Fragebogenerhebung zu zwei Dritteln den Dialekt vor. Dies könnte wiederum in der Tatsache begründet sein, dass im ersten Sample die Pfarrpersonen, die in Stadtkirchen bzw. Kirchen mit Sprachformenregelung arbeiten, überrepräsentiert sind. Fürbittegebet
6
6
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch 2
4
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch
3 2
Abb. 49: Gottesdienstteil „Fürbittegebet“ nach Sprachform; Interview (n=23)
286 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen
0.7%
Fürbittegebet
13.4% 21.4%
Immer Dialekt Meist Dialekt 12.6%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
7.5%
Immer Hochdeutsch 29.3%
Unsicher
15.2%
Abb. 50: Gottesdienstteil „Fürbittegebet“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Der Übergang von der Fürbitte hin zum Unser Vater ist eine weitere Nahtstelle für Code-Switching: Wie für die Lesung wird auch für das Unser Vater nach Angaben aller Befragten grossmehrheitlich (Fragebogen) bzw. ausschliesslich (Interviews) Hochdeutsch verwendet. Für das Unser Vater ist das Bild sehr klar: Die Interviewten geben ausnahmslos an, „immer Hochdeutsch“ zu brauchen (weswegen auf die entsprechende graphische Darstellung des Resultats per Diagramm an dieser Stelle verzichtet wird). Die Gewährspersonen der Fragebogenerhebung verwenden zu 94.1 % „immer Hochdeutsch“, weitere 4.0 % „meist Hochdeutsch“. Keine Person gibt an, „immer Dialekt“ zu verwenden. 0.2%
0.2%
1.1%
Unser Vater
4.0%
0.4%
Immer Dialekt Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher 94.1%
Abb. 51: Gottesdienstteil „Unser Vater“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
287
Nach dem Unser Vater folgen in der Regel die Mitteilungen sowie die Kollektenansage: Hier wird wiederum in Richtung Dialekt geswitcht. Die Mitteilungen gehören sowohl für die interviewten Pfarrpersonen wie auch für die Gewährspersonen aus der Fragebogenerhebung zu den Gottesdienstteilen, bei denen sie am häufigsten „immer Dialekt“ ankreuzen. Mitteilungen/Kollekte
3
Immer Dialekt 3 11
Meist Dialekt Eher Dialekt
1
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch 5
Abb. 52: Gottesdienstteil „Mitteilungen/Kollekte“ nach Sprachform; Interview (n=23)
0.2%
Mitteilungen/Kollekte
10.1% 7.3%
Immer Dialekt Meist Dialekt
3.7%
40.1%
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
10.1%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch Unsicher 28.4%
Abb. 53: Gottesdienstteil „Mitteilungen/Kollekte“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
288 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Für den Schluss des Gottesdienstes ändert sich die Situation nochmals: Sowohl für das Sendungswort wie auch für den Segen überwiegt der Hochdeutschgebrauch. Diese beiden Elemente des Gottesdienstes bestehen wiederum häufig aus Bibelversen und sind somit vorformulierte Texte: Es zeigt sich also auch hier ein klares Bild. Sendungswort
3
Immer Dialekt Meist Dialekt
2
9
Eher Dialekt 1 1
Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch
5
Abb. 54: Gottesdienstteil „Sendungswort“ nach Sprachform; Interview (n=21)
Sendungswort 13.0%
10.6%
Immer Dialekt
0.7%
8.8%
Meist Dialekt Eher Dialekt
7.5%
Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
32.4%
7.3%
Immer Hochdeutsch Unsicher Element fällt meist weg
19.8%
Abb. 55: Gottesdienstteil „Sendungswort“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Bei den Pfarrpersonen aus den Interviews verwendet nur ein knapper Viertel mehrheitlich den Dialekt. Die Pfarrpersonen aus der Fragebogenerhebung lassen das
Intendierter Varietätengebrauch im reformierten Sonntagsgottesdienst
289
Sendungswort häufig weg367, 13 % verzichten (meistens) darauf. Rund 60 % wählen Hochdeutsch für das Sendungswort, ein Drittel gibt an, „immer Hochdeutsch“ zu verwenden. Beim Segen ist die Präferenz für Hochdeutsch noch klarer. Ein Grossteil verwendet diese Varietät: von den interviewten Gewährspersonen über 90 %, bei den Personen der Fragebogenerhebung rund 84 %. Segen
1
1 1
Meist Dialekt 4
Eher Dialekt Eher Hochdeutsch Meist Hochdeutsch
16
Immer Hochdeutsch
Abb. 56: Gottesdienstteil „Segen“ nach Sprachform; Interview (n=23)
367 Im Fragebogen gab es die Kategorie „Element fällt meistens weg“; in den Interviews liessen die zwei Pfarrpersonen die Zeile „Sendungswort“ einfach leer.
290 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen
0.2%
4.2%
Segen 7.5%
4.0%
Immer Dialekt 8.1%
Meist Dialekt Eher Dialekt Eher Hochdeutsch
50.7%
Meist Hochdeutsch Immer Hochdeutsch 25.3%
Unsicher
Abb. 57: Gottesdienstteil „Segen“ nach Sprachform; Fragebogen (n=454)
Zusammenfassend zeigt sich also eine klare Zweiteilung zwischen Gottesdienstteilen, die sich an vorformulierten Texten, insbesondere der Bibel, orientieren, und solchen, die vom Pfarrer bzw. der Pfarrerin selbst formuliert werden: Auf der einen Seite Eingangswort, Lesung, Unser Vater, Sendungswort sowie Segen, auf der anderen Seite Begrüssung, Gebete, Einleitung/Ausgang der Lesung, Liedansagen, Predigt, Abkündigungen, Fürbittegebet, Mitteilungen/Kollekte. Erstere werden gemäss den Angaben der Pfarrpersonen (gross-)mehrheitlich in Hochdeutsch realisiert, Letztere zu mindestens zwei Dritteln im Dialekt (Ausnahme: Fürbittegebet bei den Interviewten). Die interviewten und die schriftlich befragten Pfarrpersonen füllen die Tabelle in ähnlicher Weise aus; ausser bei den Fürbitten und der Predigt lassen sich keine grossen Unterschiede feststellen. Mit Ausnahme der Begrüssung zeigen die interviewten 23 Gewährspersonen aber eine etwas stärkere Tendenz, die drei Hochdeutschwerte anzukreuzen. Wie der Vergleich zwischen den hier präsentierten subjektiven Daten und den in Kap. 8.1.5 gezeigten objektiven Daten ausfällt, wird in Kap. 11.1 gezeigt. 9.2 INTENDIERTER VARIETÄTENGEBRAUCH IM KATHOLISCHEN SONNTAGSGOTTESDIENST Den sechs katholischen Priestern wurde ebenfalls eine Tabelle mit den verschiedenen Gottesdienstteilen zum Ankreuzen vorgelegt. Sie hatten dabei die Auswahl zwischen sieben Antwortmöglichkeiten: „Immer Dialekt“, „Meist Dialekt“, „Eher Dialekt“, „Eher Hochdeutsch“, „Meist Hochdeutsch“, „Immer Hochdeutsch“, „Unsicher“. Das Ergebnis präsentiert sich wie folgt (die grau hinterlegten Zellen dienen
291
Intendierter Varietätengebrauch im katholischen Sonntagsgottesdienst
dabei der Orientierung, ob sich die sechs Priester nach eigenen Angaben eher des Dialekts oder eher des Hochdeutschen bedienen): Gottesdienstteil Begrüssung Liedansagen Kyrie Gloria Tagesgebet Einleitung Lesungen Lesung Psalm Evangelium Predigt Credo Fürbitten Opferankündigung Gabenbereitung Gabengebet Präfation Sanctus Hochgebet Vaterunser Friedensgruss Agnus Dei Kommunioneinladung Kommuniongang Mitteilungen Schlussgebet Segen
1 1 – – –
Eher Hochdeutsch – – – – –
Meist Hochdeutsch 1 1 2 1368 4
Immer Hochdeutsch – – 3 4 2
–
1
–
–
2
2
– – – 1 – –
– – – 3 – 1
– – – – – –
– – – – – –
– – – 1 1 –
6 6 6 1 5369 5
– – – – – –
2
1
–
–
–
2
1
– – – – – – – –
– – – – – – 1 –
– – – – – – – –
– – – – – – – –
– 1 1 1 1 – 2 –
5 5 5 5370 5 6 3 5
1 – – – – – – 1
–
2
–
–
–
4
–
–
–
–
–
–
4
2
2 – –
1 – –
– – –
1 – –
2 1 1
– 5 5
– – –
Immer Dialekt
Meist Dialekt
Eher Dialekt
3 2 1 – –
1 2 – – –
1
Fehlend – – – 1 –
Tab. 33: Angekreuzte Varietät pro Gottesdienstteil für die katholischen Priester (n=6)
Es zeigt sich bei den meisten Gottesdienstteilen eine klare Präferenz für Hochdeutsch, insbesondere beim Ordinarium (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei) und Proprium (Tagesgebet, Lesungen, Psalm, Evangelium, Gabenbereitung, Gabengebet, Präfation, Schlussgebet) sowie zusätzlich bei den Fürbitten und der Kommunioneinladung. Der Dialekt spielt eine Rolle für die von den Pfarrpersonen selbst 368 Diese Person gibt an, in gewissen Gottesdiensten anstelle von Hochdeutsch Latein für diesen Gottesdienstteil zu verwenden. 369 Vgl. Fussnote 368. 370 Eine Person gibt an, für das Sanctus allenfalls Latein zu verwenden.
292 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen formulierten Teile, insbesondere für die Begrüssung, die Liedansagen und die Predigt, in etwas geringerem Masse für die Mitteilungen und die Opferankündigung. Innerhalb des Eucharistieteils wird nur für den Friedensgruss und die Einladung zur Kommunion nicht von allen Priestern klar das Hochdeutsche präferiert: Immerhin zwei Priester laden die Gemeinde „meist“ im Dialekt zur Kommunion ein, ein Priester verwendet „meist“ Dialekt für den Friedensgruss. Inwiefern die hier präsentierten subjektiven Daten mit den objektiven aus Kap. 8.2.1 übereinstimmen, wird in Kap. 11.2 gezeigt. 9.3 INTENDIERTER VARIETÄTENGEBRAUCH IN KASUALGOTTESDIENSTEN SCHWARZENBACH (1969, 225) stellte bereits Ende der 1960er Jahre fest, dass sich der Dialekt in Form von Dialektpredigten in Kasualgottesdiensten „einen bestimmten festen Platz erworben“ hat (vgl. Kap. 3.4.2). Dass sich diese Tendenz seither noch verstärkt hat, lässt sich sowohl aus weiteren Aussagen in der Literatur (z. B. KAMM 2007, KOCH 1990, vgl. Kap. 3.4.2 und 3.4.3) als auch aus einigen Antworten auf die schriftliche Umfrage bei den Kirchen (vgl. Kap. 7.3 und 7.4) ableiten. Wie die Pfarrpersonen selbst die Verwendung der Varietäten in ihren Kasualgottesdiensten einschätzen, wird im Folgenden am Beispiel von zwei Kasualien gezeigt, Abdankungen einerseits und Taufen andererseits. 9.3.1 Abdankungen Um den intendierten Sprachgebrauch für Abdankungsgottesdienste zu eruieren, wurden in den Interviews und Fragebögen unterschiedliche Methoden angewendet. In den Interviews wurde danach gefragt, inwiefern das für die regulären Sonntagsgottesdienste ausgefüllte Schema auch für Beerdigungen Gültigkeit habe. Ausserdem wurden die Pfarrpersonen gefragt, ob sie die Trauerfamilie nach deren bevorzugter Varietät für den Abdankungsgottesdienst fragen. Bei den reformierten Pfarrpersonen geben 79.2 % eine grundsätzliche Präferenz für den Dialekt für Abdankungsgottesdienste an; bei einem Teil der Personen entspricht dies demselben intendierten Sprachgebrauch wie für den Sonntagsgottesdienst. Lediglich zwei Personen tendieren zu Hochdeutsch für Abdankungen. Bei zwei reformierten Pfarrpersonen ist beides möglich. Zwei Drittel der reformierten Pfarrpersonen fragen die Trauerfamilie, welche Varietät diese für den Abdankungsgottesdienst vorziehen. Nur zwei Personen verzichten grundsätzlich auf diese Frage. Vier Pfarrpersonen fragen die Trauerfamilie lediglich bezüglich der Varietät für den Abdankungsgottesdienst, wenn sie wissen, dass allochthone Personen dabei sind. Eine weitere Person fragt die Trauerfamilien jeweils, ob Allochthone bei der Abdankung dabei sind. Von den katholischen Pfarrpersonen gibt eine Person an, es sei sowohl ein rein in Hochdeutsch gehaltener Gottesdienst möglich als auch einer, in dem mehr
293
Intendierter Varietätengebrauch in Kasualgottesdiensten
Dialekt vorkomme. Die restlichen fünf folgen für Abdankungen dem Schema, das sie auch im Sonntagsgottesdienst verwenden. Nur eine katholische Pfarrperson fragt die Trauerfamilie nach ihren Vorlieben bezüglich Varietät, drei Personen fragen, wenn sie wissen, dass dialektunkundige Personen zur Trauergemeinde gehören, eine fragt gelegentlich und eine fragt nicht nach der bevorzugten Varietät. Den Gewährspersonen in der Fragebogenerhebung wurde eine Tabelle mit den Gottesdienstteilen einer Abdankung mit denselben Ankreuzmöglichkeiten wie für den Sonntagsgottesdienst vorgelegt (vgl. Tab. 32): Immer Dialekt
Meist Dialekt
Eher Dialekt
Eher Hochdeutsch
Meist Hochdeutsch
Immer Hochdeutsch
Unsicher
Element fällt meistens weg
Trostwort/ Gebet Liedansagen (inkl. der Aufforderung sich zu erheben, etc.)
Lebenslauf
Einleitung und Ausgang der Lesung
Gebete (ohne Unser Vater/ Fürbitte)
Unser Vater
Mitteilungen/ Kollekte
Sendungswort
Eingangswort Begrüssung Abkündigung
Lesung Predigt
Segen
Tab. 34: Tabelle aus dem Fragebogen Version 1, Frage 11
Die Resultate der Fragebogenerhebung zeigen für alle Gottesdienstteile eine stärkere Tendenz zum Dialekt bei Abdankungen als bei Sonntagsgottesdiensten. Vergleicht man die zusammengezählten Werte für Dialekt („immer Dialekt“, „meist Dialekt“, „eher Dialekt“) für die beiden Gottesdienstarten pro Gottesdienstteil, ergibt sich folgendes Bild:
294 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Gottesdienstteil Eingangswort Begrüssung Liedansagen Eingang/Ausgang Lesung Lesung Predigt Gebete (ohne Unser Vater und Fürbitte) Unser Vater Mitteilungen/Kollekte Sendungswort Segen
Abdankung371 35.8 89.9 90.5 84.4 8.1 87.2
Sonntagsgottesdienst 22.9 78.0 78.0 71.6 4.6 69.4
79.5
66.3
1.6 90.4 37.9 22.5
0.4 78.6 26.9372 15.6
Tab. 35: Gottesdienstteile im Dialekt für Abdankungs- und Sonntagsgottesdienst im Vergleich in Prozent
Für die Abkündigung im Abdankungsgottesdienst verwenden 85.0 % den Dialekt (n=441), für das Trostwort/Gebet immerhin 73.0 %. Beim Lebenslauf brauchen 44.2 % den Dialekt (6.3 % „immer“, 20.8 % „meist“, 17.2 % „eher“), nur 10.6 % geben an, immer Hochdeutsch zu verwenden. Aufgrund der eigenen Angaben der Pfarrpersonen kann also davon ausgegangen werden, dass bei Beerdigungen weit mehr Dialekt eingesetzt wird als im durchschnittlichen Sonntagsgottesdienst. Offensichtlich wird die Varietätenwahl für Abdankungen auf die Bedürfnisse der Trauerfamilie ausgerichtet, schliesslich kreuzen 82.6 % der Pfarrpersonen373 bei der Aussage „Ich frage die Trauerfamilie vorher nach ihrer bevorzugten Sprachform“ die Antwort „Ja“ an. 9.3.2 Taufen Taufen werden gemäss den Aussagen im Interview von 17 der 24 reformierten Pfarrpersonen im Dialekt gehalten (die Taufverse teils explizit ausgenommen). Immerhin vier Personen verwenden auch hier Hochdeutsch. Eine Person wechselt zwischen den Sprachformen ab.374 Auch die katholischen Pfarrpersonen ziehen den Dialekt für Taufgottesdienste vor; zwei halten sich an das Schema des Sonntagsgottesdienstes (vgl. Kap. 9.2), das in ihrem Fall für die frei formulierten Passagen einen hohen Dialektanteil enthält. Die übrigen vier geben an, sehr viel Dialekt für Taufgottesdienste zu verwenden. 371 Anzahl der fehlenden Werte für die einzelnen Gottesdienstteile: Eingangswort 7, Begrüssung 10, Liedansagen 14, Eingang/Ausgang Lesung 17, Lesung 12, Predigt 16, Gebete 10, Unser Vater 10, Mitteilungen/Kollekte 17, Sendungswort 13 (plus 59 „Element fällt meistens weg“), Segen 10. 372 „Element fällt meistens weg“: 59 Personen. 373 Fehlende Werte: 10. 374 Von zwei Personen fehlt die Antwort auf diese Frage.
Intendierter Varietätengebrauch in Kasualgottesdiensten
295
9.3.3 Fazit In den Kasualgottesdiensten scheint sich der Platz des Dialekts weiter verfestigt zu haben. Der Dialekt hat in diesen Gottesdiensten eine Vormachtstellung gegenüber dem Hochdeutschen. Auch Pfarrpersonen, die ihre Sonntagsgottesdienste tendenziell in Hochdeutsch halten, wählen für die Kasualien eher den Dialekt; dies zeigt sich besonders klar an den Vergleichswerten der Gottesdienstteile aus der Fragebogenerhebung unter reformierten Pfarrpersonen. Die Pfarrpersonen fragen bei Kasualien die involvierten Familien häufig nach der bevorzugten Sprachform oder thematisieren die Sprachformenwahl zumindest. Da diese Gottesdienste für ein spezifisches Publikum, mit dem man zudem vorgängig zum Teil in Gesprächen Kontakt hatte, gestaltet werden, könnte die Bevorzugung des Dialekts darauf hindeuten, dass diese Varietät hier eine grössere Nähe herstellen kann. Wie bei der Analyse des intendierten Sprachgebrauchs im regulären Sonntagsgottesdienst stützen die Ergebnisse aus der Fragebogenerhebung die Resultate aus den Interviews. 9.4 INTENDIERTER VARIETÄTENGEBRAUCH IN WEITEREN KIRCHLICHEN KONTEXTEN Die Pfarrerinnen und Pfarrer sind in ihrem beruflichen Alltag nicht nur im regulären Sonntagsgottesdienst und bei den Kasualien mit der Varietätenwahl konfrontiert, sondern begegnen der Frage auch in anderen Kontexten immer wieder. Vier wichtige solche Kontexte wurden in den Interviews und der Fragebogenerhebung abgefragt, nämlich Religions- und Konfirmationsunterricht (bzw. Firmunterricht), Jugendgottesdienste sowie Andachten/Besinnungen/Gottesdienste in Altersheimen. Die katholischen Pfarrpersonen wurden im Interview zudem nach der Sprachform für die Beichte gefragt. Im Folgenden werden die entsprechenden Daten aus den Fragebögen vorgestellt, die in ihrer Breite einen Eindruck über die Situation in diesen Gebrauchskontexten vermitteln. Die Pfarrpersonen wurden zuerst danach gefragt, ob sich ihnen diese Situation überhaupt stellt, z. B. „Erteilen Sie Konfirmationsunterricht?“. Falls die Antwort „Ja“ lautete, wurden sie nach der Wahl der Varietät („Dialekt“, „Hochdeutsch“, „beide, nämlich wie folgt“) gefragt und konnten diese fakultativ begründen. Im letzten Unterkapitel wird schliesslich die Varietätenwahl für die Beichte anhand der Antworten aus den Interviews mit den katholischen Priestern thematisiert. 9.4.1 Jugendgottesdienst 50.9 % der Pfarrpersonen (231 Personen) aus der Onlinebefragung erteilen Jugendgottesdienste. Davon verwenden 77.2 % (179 Personen) ausschliesslich den Dialekt. Rund ein Fünftel (22.4 %) braucht beide Sprachformen im Jugendgottesdienst. Ein Blick auf die Daten nach Kantonen gruppiert zeigt folgendes Bild:
296 Varietätenwahl und Einflussfaktoren aus Sicht von Deutschschweizer Pfarrpersonen Im Jugendgottesdienst verwendete Varietät Dialekt Hochdeutsch beide
BL
BE
SG
TG
ZH
Anderer
83.3 0 16.7
72.6 0 27.4
76.9 0 23.1
82.4 0 17.6
79.0 0 21.0
100 0 0
Tab. 36: Im Jugendgottesdienst verwendete Varietät nach Kanton in Prozent (n=231)
Am meisten Dialekt wird mit 83.3 % im Jugendgottesdienst im Kanton BL gesprochen, fast gleich hoch ist der Anteil im TG. Erstaunlicherweise schert der Kanton BE mit „nur“ 72.6 % Dialektgebrauch etwas aus – ein unerwarteter Befund, zeigen sich die Pfarrpersonen bei anderen Gebrauchskontexten doch sehr dialektaffin und verwenden häufig mehr Dialekt als ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen vier untersuchten Kantonen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass bei den Berner Pfarrpersonen das Bewusstsein dafür, dass im Jugendgottesdienst auch schriftliche Bibeltexte eingesetzt und diese in Hochdeutsch verwendet werden, hoch ist; daher wurde „beide“ angekreuzt, weil der Gebrauch von Hochdeutsch etwas Auffälliges ist, während in anderen Kantonen dieses Bewusstsein aufgrund des tieferen Dialektanteils für andere Gebrauchskontexte allenfalls etwas geringer ist. 9.4.2 Religionsunterricht Religionsunterricht erteilt über die Hälfte der Gewährspersonen der Fragebogenerhebung (56.8 %). Von diesen unterrichten 85.4 % im Dialekt, nur 3.9 % (12 Personen) benützen ausschliesslich Hochdeutsch für den Religionsunterricht. Immerhin 10.7 % (33 Personen) verwenden beide Sprachformen im Religionsunterricht.375 Der Unterricht findet in drei Vierteln der Fälle ausserhalb der schulischen Räumlichkeiten376 statt, lediglich 24.4 % der Pfarrpersonen unterrichten in Schulräumen. Wenig erstaunlich ist der Zusammenhang zwischen dem Ort des Unterrichts und der verwendeten Sprachform: Keine Pfarrperson unterrichtet ausserhalb des Schulraumes in Hochdeutsch. Lediglich 16.7 % der Personen, die in der Schule unterrichten, tun dies auf Hochdeutsch. Der Zusammenhang zwischen dem Ort, an dem der Unterricht stattfindet, und der für den Unterricht gewählten Varietät ist signifikant (p