Zweimal "Muspilli" 9783110927771, 9783484102835


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German Pages 84 Year 1977

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Table of contents :
Vorworte
Über das ›Muspilli‹
Das ›Muspilli‹ oder Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung
1. Positionen der Forschung
2. Das ›Muspilli‹ zwischen Geschichte und Individualität
3. Kritik der Textkritik
4. Montage, Interpolation und Aktualisierung
5. Stabreimvers und Endreimvers
6. Die Position des ›Muspilli‹ in der Geschichte der althochdeutschen Literatur
Autorenregister
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Zweimal "Muspilli"
 9783110927771, 9783484102835

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 18

Wolfgang Mohr/Walter Haug

Zweimal »Muspilli«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977

CIP Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zweimal „Muspilli" / Wolfgang Mohr ; Walter Haug. - 1 . Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1977. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 18) ISBN 3-484-10283-7 N E : Mohr, Wolfgang [Mitarb.]; Haug, Walter [Mitarb.]

ISBN 3-484-10283-7 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanisihem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

Vorworte

3

WOLFGANG M O H R

Über das >Muspilli
Muspilli< oder Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Positionen der Forschung Das >Muspilli< zwischen Geschichte und Individualität Kritik der Textkritik Montage, Interpolation und Aktualisierung Stabreimvers und Endreimvers Die Position des >Muspilli< in der Geschichte der althochdeutschen Literatur

Autorenregister

.

24 30 34 55 59 70 79

Vorworte

Der Verfasser des ersten Beitrags hätte sich nicht träumen lassen, daß er jemals eine Zeile über das althochdeutsche >Muspilli< veröffentlichen werde. Schon in seiner Studentenzeit war das Denkmal von einer solchen Mauer von Gelehrsamkeit umgeben, daß er nicht hoffen durfte, jemals ein Törlein zu finden, das ihn ins Innere f ü h r e ; er meinte, er müsse zeitlebens staunend draußenvor stehen bleiben. Was später an Gelehrtem hinzukam, trug nicht dazu bei, ihm mehr Mut zu machen. So lange er über »Althochdeutsche Literatur« oder »Die Anfänge der deutschen Literatur« Vorlesungen hielt, widmete er dem >Muspilli< eine Stunde, in der er begründete, warum er sich nicht heran- und hineintraute, und erwähnte pflichtgemäß, was ihm an Forschungsliteratur begegnet und im Gedächtnis haften geblieben war. Daß er bei dieser Gelegenheit anscheinend doch zu einer eigenen Ansicht über das Denkmal selbst gelangt war, ist ihm erst bewußt geworden, als ihm sein Freund und Nachfolger Walter Haug den Entwurf der Abhandlung zu lesen gab, deren endgültige Form hier an zweiter Stelle zu lesen ist. Diese Untersuchung setzte bei einem erheblich späteren Stand der Forschung an und verfolgte zudem höhere und grundsätzlichere Ziele als die einer teils verlegenen, teils pflichtbewußten Information über ein Denkmal, welches ich mir aus schlechtem Gewissen vom Leibe gehalten hatte. Um so mehr wunderte und freute es mich, daß ich in der Abhandlung des Freundes vieles zu lesen bekam, was mich an meine fast vergessene, alte Vorlesung erinnerte. Um das Gespräch weiterzuführen, suchte ich meine alten Aufzeichnungen (aus der Mitte der fünfziger Jahre) hervor und schrieb etwa den Wortlaut nieder, den ich damals vorgetragen haben mag. Uns beide überraschte, daß wir auf verschiedenen Wegen einem ähnlichen Ziel zugewandert waren. Der ältere Partner sah dabei die Wege auch noch ein Stück nach rückwärts verlängert. 3

Im Jahre 1931 oder 1932 hielt Hermann Schneider in Tübingen ein Oberseminar über »Altgermanische Dichtungen«, zu dessen Teilnehmern unter andern Hugo Kuhn und Wolfgang Mohr gehörten. Der Lektüre lag H A N S N A U M A N N S »Frühgermanisches Dichterbuch« zugrunde, und der Inhalt dieser Anthologie bestimmte die Auswahl der Denkmäler mit, die der Seminarleiter mit uns besprach. Dem letztgenannten Seminarteilnehmer paßte es wenig, daß sich das Gewicht des Seminars immer stärker auf ein Stabreimdenkmal verschob, von dem er nicht viel verstand und das ihn nicht ansprach, da es den Ehrentitel »altgermanisch« kaum zu verdienen schien. War er doch eben aus Island, dem klassischen Land der Germania, zurückgekehrt und brachte das ganze Hochgefühl - hohen muot und hochvart in einem! - mit heim, das damals einen jungen Germanisten beseelte, der eineinhalb Jahre lang die Sprache der Edda und der Saga hatte sprechen dürfen. Daß Hermann Schneider uns die Ehre antat, die Forschungsschritte seines >MuspilliMuspilli< datiert jedenfalls aus dieser Zeit, und wenn ich nicht irre, habe ich schon damals meinem Herzen in ähnlicher Weise Luft gemacht wie später in meinen Vorlesungen: Mit germanischer Mythologie habe das Gedicht so gut wie nichts zu tun, doch sei es ebenso verkehrt, es als christliches mythologisches Erzähllied anzusehen. Es sei eine Predigt, und am eindrucksvollsten predige der Verfasser, wenn er den Stabreimversen rechthaberisch seine »Reim«-Verse entgegensetzte. Ich glaube mich zu erinnern, daß wir gerade darüber gründlich gestritten haben, denn Hermann Schneider hörte und wertete den Otfrid-Vers mit Heuslers Ohren. So nahm das >MuspilliMuspilli< nebeneinandergestellt, deren Entstehung fast ein Vierteljahrhundert auseinanderliegt. Wie es dazu gekommen ist, daß wir sie hier gemeinsam veröffentlichen, das hat Wolfgang Mohr oben in seiner liebenswürdigen Art dargetan. Ich möchte meinerseits ein persönliches Wort hinzufügen. Es ist überraschend, wenn man sich über die Generationsgrenze hinweg im selben Gedanken begegnet, und es mag nicht ohne Reiz sein zu beobachten, wie er sich in der Differenz der Zeiten und der wissenschaftlichen Temperamente bricht - ein Beispiel für die Wiederkehr im Wandel, für die Veränderung im Bleibenden, für die Kontinuität im Diskontinuierlichen. Ich habe Wolfgang M o h r anläßlich eines Gastvortrags in Regensburg kennengelernt. Und an diese Begegnung hat sich ein neugieriger Briefwechsel angeschlossen. Als ich dann auf seinen Lehrstuhl nach Tübingen berufen wurde und ich im ersten Jahr unseßhaft hinundherpendelte, da kam es bei vielen Frühstücksgesprächen

im

Mohrschen Hause zu einem engen, freundschaftlichen Austausch von Erfahrungen und Ideen. Dem Verständnis wie dem Widerspruch, denen ich dabei begegnete, verdanke ich menschlich und wissenschaftlich viel. So spielte denn bei mir, als ich diese >MuspilliMuspilli
Muspilli< genannt hat, ist das Schicksal der Seele nach dem Tode. Zu Anfang sind einige, aber doch nur wenige Zeilen verloren. Der Text setzt ein, wo den Menschen der Tod antritt, die Seele sich auf den Weg macht und den Körper hinter sich liegen läßt. Zwei Geisterheere, das eine von den Himmelsgestirnen, das andre aus dem Pech der Hölle, kämpfen um sie . . . Deshalb soll man sein Leben in der Welt so führen, daß einen das Gesinde des Satans nicht holen wird. Auf diesen Teil folgt ein zweiter, und zwar mit einem Zeitsprung von der Gegenwart, die der Sterbende jetzt erlebt und in der jetzt um seine Seele gekämpft wird, zu dem künftigen Zeitpunkt, »wo der mächtige König das Gericht beruft«; gemeint ist das Jüngste Gericht. Der Sprung ist »geschichtlich« und theologisch nicht zu beanstanden. Die christliche Mythologie verbindet beide Vorstellungen miteinander: sofort in die Hölle (wie der Reiche im Gleichnis von Lazarus) oder in das Paradies (wie der gute Schächer am Kreuz); oder Auferstehung des Fleisches und das Jüngste Gericht. Eine Weile scheint nun das Thema, die Geschichte der Seele, vergessen, und die Geschehnisse, die dem Jüngsten Tage unmittelbar vorausgehen, drängen in den Vordergrund. Elias muß mit dem Antichrist kämpfen. »Elias streitet für das ewige Leben mit Gottes Hilfe. Der Antichrist steht auf der Seite des Satanas, der ihn vernichten wird. Er wird auf dem Kampffeld wund fallen und sieglos werden. Doch mancher Diener Gottes glaubt, daß Elias in dem Kampf vernichtet wird.« Aber: 6

(so daz E)liases pluot in erda kitriufit, so inprinnan(t) die perga, poum ni kistentit enihc in erdu verit denne stuatago in lant, verit mit diu vuiru (viri)ho uuison. dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille.

Hier wendet sich das Gedicht wieder dem Menschen zu. »Deshalb soll der Mensch auf Erden recht handeln.« In zehn Langzeilen wird diese Mahnung eindringlich gemacht. - Das himmliche Horn tönt, der Richter mit seinem Heer kommt zur Mahlstätte, die Toten stehen auf. Gericht wird gehalten, und keiner kann da seine Taten abstreiten oder verbergen. Das Kreuz wird vorangetragen, Christus (zeigt) die Wundmale, die er zur Sühne für das Menschengeschlecht . . . Damit schließt die Handschrift - wohl nicht mit dem letzten Wort des Gedichts, aber nicht weit vom Ende. Die Überlieferung ist für einen deutschsprachigen Text jener Zeit nicht ungewöhnlich, aber doch ein wenig bemerkenswert. Daß man Deutsches auf freie Seiten oder Ränder von kirchlichen lateinischen Handschriften eingetragen hat, kommt auch sonst öfters vor. So ist uns zum Beispiel auch das >Hildebrandslied< überkommen. Aber die Handschrift, in die das >Muspilli< auf diese Weise eingeschrieben ist, hat besonderen Rang. Es ist eine ziemlich nobel geschriebene Abschrift einer pseudoaugustinischen Predigt, die von dem Bischof Adalramm von Salzburg dem »erlauchten Knaben Ludwig« dediziert worden ist, und dieser Knabe Ludwig ist der spätere König Ludwig der Deutsche, der im Jahre 825, einundzwanzigjährig, als Herzog von Baiern nach Regensburg kam. Auf leere Seiten und Ränder dieser schönen Handschrift aus königlichem Besitz ist das deutsche Gedicht unordentlich, in schlechter Orthographie, lückenhaft und in ungewöhnlich unbeholfener Schrift eingetragen. Es ist keine Original-Niederschrift, wahrscheinlich auch nicht aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, sondern, wie Abschreibfehler, die allerdings nicht ganz unbestritten sind, zu beweisen scheinen, die Abschrift einer schriftlichen Vorlage. Schon JOHANN ANDREAS SCHMELLER, der 1832 das Gedicht zuerst herausgab, hat sich überlegt: Wer anders kann der Schmierfink gewesen sein, der diese Handschrift aus königlichem Besitz so verunziert hat, als der Besitzer selbst, der »Knabe 7

Ludwig«? Der Gedanke ist auch später wieder aufgegriffen worden von R U D O L F VAN D E L D E N (>Die sprachliche Gestalt des Muspilli und ihre Vorgeschichte im Zusammenhang mit der AbschreiberfrageWessobrunner Gebets< zu sein. Man hat auch Spuren aufgezeigt, daß hinter dem bairischen Text ein älterer fränkischer oder gar niederdeutscher gestanden habe; eindeutig sind sie nicht. Darüber hinaus hat G E O R G BAESECKE auf ein paar Wörter hingewiesen, die auf angelsächsischen Sprachgebrauch weisen könnten. Aber leider sind auch diese Spuren nicht einmal so deutlich wie beim >Wessobrunner GebetEine Quelle des MuspilliMuspilli< 8

sich an nicht wenigen Stellen berührt mit einer der großen angelsächsischen geistlichen Stabreimdichtungen, dem III. Teil des >ChristMuspilli< und >Christ IIIMuspilliMuspilli I< ist das Gedicht vom Schicksal der Seele, zuerst unmittelbar nach dem Tode, dann beim Jüngsten Gericht, wenn der mächtige König das Ding beruft und jeden zur Verantwortung zieht. Dieses Lied stand, wenn ich BAESECKE recht verstanden habe, unter unmittelbarem Einfluß des ags. >Christ IIIChrist 111 < gekannt und unter dessen Eindruck seine moralische Verspredigt vom Gericht über die Seele gedichtet. In deren Mitte aber ist eine andere Dichtung eingefügt, die ursprünglich nichts mit ihr zu tun hatte und sich auch metrisch, sprachlich und orthographisch von dem übrigen unterscheidet. Es ist die Strecke Vers 37 bis 62, die Darstellung des Weltuntergangs mit dem Zweikampf des Elias gegen den Antichrist und seinen Folgen: >Muspilli< II< nach BAESECKE. Auch dieses Stück zeigt Anklänge an den ags. >Christ IIIChrist III< und der Mittelteil des >Muspilli< sollen auf eine (verlorene) ags. Weltuntergangsdichtung zurückgehen, die, ähnlich 9

wie die ags. Weltschöpfungsdichtung, die nach BAESECKE Vorbild des >Wessobrunner Gebets< war, an heidnisch-germanische mythische Dichtung anklinge. Als Zwischenglied zwischen Heidnischem und Christlichem stellt sich für BAESECKE hier wie dort der Name Caedmon - als Realität oder als Symbol - ein. Ein erfreulich übersichtliches Schema, das aber auch im Falle des >Wessobrunner Gebets< wohl nicht stimmt. - Die nächste Stufe von BAESECKES Forschungen findet sich in seiner Untersuchung zum Vocabularius Sancti Galli (>Der Vocabularius Sancti Galli in der angelsächsischen MissionChrist IIIMuspilli< und >HeliandMuspilli IIMuspilli< steht wegen seiner vermeintlichen (?) Anklänge an germanische Weltuntergangsdichtungen und -Vorstellungen seit JACOB GRIMMS >Deutscher Mythologie< im Mittelpunkt der >MuspilliHeliandHeliand< ist die abstrakte Bedeutung wahrscheinlicher. Wenn an der einen Stelle Mutspelli durch the dag, an der andern mudspelles megin durch endi thesaro uueroldes variiert wird, liegt es nicht nahe, an den Namen einer Person zu denken. Im Altnordischen bietet die Dichtung zwei Belege. Erstens V9luspa Str. 51: Kioll ferr austan, koma muno Muspellz um 19g lyöir, enn Loki styrir, »ein Schiff fährt von Osten, kommen werden Muspells Leute über See, und Loki steuert.« - Zweitens >Locasenna< Str. 42: Loki wirft dem Gotte Frey vor, er habe sein Schwert bei einem Liebesabenteuer versetzt; enn er Muspellz synir

riöa Myrcviö yfir,

»doch wenn Muspells Söhne über den Schwarzwald reiten, dann weißt du nicht, womit du zuschlagen sollst.« - In der Prosa, bei Snorri, kommt vor: Muspells megir, Muspells heimr. Im Altnordischen erscheint das Wort eindeutig als Eigenname einer dämonischen Gestalt, die über eine Sippschaft (lyöir, synir, megir) gebietet. Nun ist der Anklang unüberhörbar, der zwischen Muspells megir bei Snorri (dem die Varianten synir und lyöir zur Seite stehen) und mudspelles megin im >Heliand< besteht. Entweder muß das Abstraktum als Personenname mißverstanden worden sein oder umgekehrt. Wahrscheinlich ist der Eigenname, den die altnordischen Zeugnisse insgesamt belegen und durch den Zusatz lyöir, synir, megir stützen, das Ursprüngliche. Denn wenn umgekehrt hinter altnord. megir (»Söhne«, »Leute«) ein mißverstandenes megin (»Gewalt«, »Macht«) stünde, dann müßten die in der Dichtung belegten lyöir und synir auch auf dies eine Mißverständnis zurückgehen. Damit aber schlägt auch die Waage zugunsten der germanisch11

heidnischen Herkunft der Vorstellung aus. »Muspells Söhne (Gesippen, Leute) fahren übers Land«, das gehörte in die altgermanischen Weltuntergangsvorstellungen. Im >Heliand< schimmert noch etwas davon durch, aber indem Muspells megir als mudspelles megin übernommen wurde, kam man dazu, das Wort als Abstraktum zu verstehen. Man hatte läuten hören, wußte aber nicht mehr genau, wo die Glocken hingen. Ich habe hier in der Hauptsache die Erklärung referiert, die GUSTAV N E C K E L (>Studien zu den germanischen Dichtungen vom Weltuntergangs Sitzungsberichte Heidelberg, Phil.-hist.Kl., 1918, 7.Abh.) gegeben hat. Ich bin so ausführlich geworden, weil durch sie alle Etymologien, die einen christlichen Ursprung der Vorstellung voraussetzen - z.B. die oft und energisch vorgetragene und erfolgreiche von W I L L Y K R O G M A N N - ausscheiden. Was Muspilli etymologisch bedeutet, weiß ich nicht, und ich habe wenig Hoffnung, daß von der Etymologie her einmal die Erleuchtung kommen wird. Aber mit dem Wort und Namen Muspilli ragt immerhin heidnisch Germanisches in das althochdeutsche Gedicht hinein. Doch scheint der Mittelteil mit dem Kampf des Elias mit dem Antichrist darüber hinaus auch motivisch bemerkenswert zu sein. Die traditionelle christliche Vorstellung ist diese: Gegen den Antichrist kämpfen jene beiden Menschen, die Gott lebendig von der Erde in den Himmel entrückt hat, Elias (der Prophet in dem feurigen Wagen) und Enoch (der Vater Methusalems, den Gott lebend zu sich nahm, 1. Mos. 5). Sie fallen gegen den Antichrist, und dann bricht das Weltende herein. Der Erzengel Michael oder Christus selbst vernichtet den Antichrist, und dann hebt das letzte Gericht an. Von dieser Vulgat-Auffassung scheint das >Muspilli< abzuweichen. G U S T A V E H R I S M A N N (>Zur althochdeutschen Literatur^ Paul u. Braunes Beitr. 32, 1907, S. 266f., und in seiner >Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des MittelaltersMuspilli< eine zwiefache Überlieferung genannt und gegeneinander abgewogen werde: Die uuerottrehtuuison, die Rechtskundigen der Erde, sind der Meinung, daß Elias den Antichrist vernichtet. Aber viele der gotmanno, der Theologen, meinen, daß Elias in dem Zweikampf etwas abkriegt oder gar, daß er vernichtet wird. Einer mehr weltlichen Auffassung werde eine

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theologisch verbürgte gegenübergestellt, und die letztere stimmt mit der im Christentum traditionellen Vorstellung überein. Für die »weltliche« Fassung, die im Gegensatz zur kirchlichen stehen soll, hat man sich denn auch um außerchristliche Vorbilder bemüht: Thor = Elias und die Midgardschlange (von JACOB G R I M M bis G E O R G BAESECKE); Frey = Elias und der Feuerriese Surtr ( G U S T A V N E C K E L ) ; Thor = Elias und der Riese Hrungnir ( W E R N E R K O H L S C H M I D T , >Zur religionsgeschichtlichen Stellung des MuspilliMuspilliMuspilli< zu bemühen braucht, daß man vielmehr mit christlicher Überlieferung auskommt. Auch hier aber geraten wir wie es einem mit der Mythologie zu gehen pflegt - in einen embarras de richesse von Entsprechungen, heidnisch wie christlich, und wissen schließlich gar nicht mehr aus oder ein. Immerhin scheint das Wort Muspilli selbst doch heidnisch zu sein und zu bleiben, und wo eines ist, könnte auch mehr sein. Vielleicht hat man aber doch mehr in den Text hineingelesen als wirklich darinsteht, und man hat vor allem nicht genügend den Zusammenhang beachtet, in welchem von Elias' Kampf und dem Weltuntergang erzählt wird. Werden denn wirklich zwei einander widerstreitende Darstellungen gegeben: Erstens, Elias siegt und überlebt - und das widerstreitet der landläufigen christlichen Vorstellung; zweitens, Elias kämpft gegen den Antichrist und kommt dabei zu Schaden - und das ist traditionelle christliche Mythologie? Ich glaube, man kann das Gedicht auch verstehen, wenn man bei der christlichen Vulgatmeinung bleibt, und alle Bemühungen, den »Sieg« oder das »Davonkommen« des Elias entweder als heidnisch oder aus obskuren christlichen Vorstellungen zu motivieren, sind ein Schlag ins Wasser. 13

Ich umschreibe den Inhalt von Vers 37 an. »Die Rechtskundigen der Welt erzählen, daß der Antichrist mit Elias kämpfen wird.« (Die Rechtskundigen sind zuständig, denn von einem gerichtlichen Zweikampf ist die Rede, wie schon das Wort khenfun zeigt.) - Die Zweikämpfer waffnen sich und treten an. »Elias kämpft für das ewige Leben, er will das Reich der Rechtschaffenen bei der Macht halten. Darum wird ihm auch helfen, der im Himmel herrscht.« (Natürlich steht Elias bei der Partei Gottes und der Seligen, und Gott hilft ihm. Daß Gott ihn mit dem Leben davonkommen läßt, steht nicht da.) »Der Antichrist steht auf Seiten des Teufels, und der wird ihn holen. Er wird auf dem Kampfplatz verwundet niederstürzen und den Sieg verlieren.« (Auch das ist in Ordnung. Wie sollte der Antichrist als Sieger aus dem letzten Kampf hervorgehen!) - »Freilich erwarten das viele Gottesmannen, daß Elias in diesem Kampf zu Fall komme.« (Mit Recht, denn das entspricht dem christlichen Mythos.) Und jetzt erst kommen die Zeilen, um derentwillen der Zweikampf erzählt wird. Man muß nur einen genügend langen Atem beim Zuhören haben! Denn das Thema des Gedichts ist ja nicht »Der Mythos vom Weltuntergang« sondern: das Schicksal von u n s Menschen im Weltuntergang. »Wenn des Elias' Blut auf die Erde tropft, dann erbrennen die Berge . . . Das Gericht kommt ins Land, kommt mit Feuer die Menschen besuchen: Da kann dann kein Bruder dem andern mehr helfen vor dem Muspelle!« - D i e s e Linie verfolgt die Verspredigt. Der Kampf des Elias ist nur erzählt um des einen Motivs willen: Sein Blut entzündet die Erde vor dem Weltuntergang, und wenn die Welt erst brennt, dann ist es für den Menschen zu spät zu überlegen, wie er sich oder seinen Bruder retten will. Er hätte vorher für sich, für seine Seele, sorgen sollen. - (Ich habe hier in der Hauptsache die Interpretation von G U S T A V G R A U wieder aufgenommen: >Quellen und Verwandtschaften der älteren germanischen Darstellungen des Jüngsten Gerichtesvieler< Gottesmänner, sondern d e r Gottesmänner«. Vgl. auch M I N I S (Anm. 3), S. 59. Die Literatur dazu: K U N S T M A N N (Anm. 4), S. 13ff.; KOLB (Anm. 38), S. 18f.

42

KOLB, e b d . , S . 1 7 f .

43

M I N I S (Anm..3),

44

S. 66ff.

in der Regel stenni statt denni zu lesen und den Vers folgendermaßen aufzufassen: sten ni kistentit = >da bleibt kein Stein mehr stehenwenn diese Zeichen auf der Erde erscheinen, so kommt der Gerichtstag ins Land.< Es werde hier auf die bekannten Zeichen Bezug genommen, die das Jüngste Gericht ankündigen. 44 Gegen diese These bestehen Bedenken. Abgesehen davon, daß die Annahme einer niederfränkischen Vorstufe an sich schon problematisch ist, ist kaum einzusehen, weshalb der oberdeutsche Übersetzer diese eine Zeile nicht umgeschrieben haben sollte. Man wird also zur traditionellen Konjektur zurückkehren müssen, die thematisch ansprechend ist, aber relativ stark von der Handschrift abweicht,45 es sei denn, es würde gelingen, dem überlieferten Wortlaut einen Sinn abzugewinnen. Dies ist unter gewissen Vorbehalten möglich, wenn man den Text folgendermaßen versteht: denni kistentit eik in erdu = >dann steht keine Eiche mehr auf der Erde.< Eine solche Feststellung erhält dann einen guten Sinn, wenn man bedenkt, daß unter der Eiche vorzugsweise Gericht gehalten wurde.46 Es würde damit in Übereinstimmung mit den Versen 57 und 60 zum Ausdruck gebracht, daß beim Endgericht die Bedingungen irdischen Richtens außer Geltung und damit Rechtshilfe durch Verwandte und andere Formen der Rechtsbeugung ausgeschaltet sind. In Hinblick auf eine solche Symbolik der Eiche sei auch an die juristische Formel: >solange Eich und Erde steht< erinnert. 47 Eine Schwierigkeit bietet freilich die Vertretung der Spirans h durch k in eik. eik mit unverschobenem k ist im hochdeutschen Gebiet nur 44 45 44

47

Ebd., S. 73f. Zuletzt wieder: BERGMANN (Anm. 6), S. 306ff. JACOB GRIMM, Deutsche Rechtsalterthümer II, Leipzig 1899, Nachdr. Darmstadt 1955, S. 414f. JACOB GRIMM, Weisthümer II, 1840, Nachdr. Darmstadt 1957, S. 225. Es handelt sich um einen Schöffeneid aus dem >Rothen Buche zu Bacharachc die Schöffen sollen einen Eid schwören, gut scheffen zu sin als lange eich vnd erde stet, recht urtel zu sprechen dem armen als dem riehen usw.

45

noch mittelfränkisch nachzuweisen. 4 8 Wenngleich nun im >Muspilli< gerade auch bei den Gutturalen ein auffälliges Schwanken zwischen oberdeutschen und fränkischen Formen festzustellen ist, 49 so wird man doch zögern, diesen besonderen Fall hier einzureihen - nach Vokal ist germ, k sonst konsequent verschoben - ; es wäre also eher mit einem Schreiberversehen zu rechnen. Man wird diese kleine Textbesserung gegen den schweren Eingriff der üblichen Konjektur abwägen müssen. Eine völlig zweifelsfreie Entscheidung dürfte kaum möglich sein. 50 In der Versgruppe 4 8 - 6 2 gibt es wiederum eine Reihe von stabreimtechnisch problematischen Zeilen. Verstöße gegen die strenge Regel sind in 49, 53, 57, 58 und 59 zu notieren. Die Endreimverse 61 und 62 fallen völlig aus dem Rahmen. MINIS weist die Versgruppe trotzdem dem Original zu. Wie schon SCHNEIDER schaltet er hingegen die Endreimverse 61 und 62 aus: es handle sich um eine völlig überflüssige, predigerhafte Replik auf die rhetorische Frage von Vers 60. 51 IIc 63 Pidiu ist demanne so guot, denner ze demo mahale quimit, 64 daz er rahono ueliha re[h]to arteile. 48

Vgl. WOLFGANG HAUBRICHS, Rez. JOACHIM W I R T Z , Die Verschiebung der germ, ρ, t und k in den vor dem Jahre 1200 überlieferten Ortsnamen der Rheinlande, Heidelberg 1972, Zs. f. d. Geschichte der Saargegend 22 (1974), S. 420. Den Hinweis verdanke ich Klaus Matzel, Regensburg. 49 Vgl. BERGMANN (Anm. 6), S. 309f. 50 An weiteren Überlegungen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnten, seien noch folgende angeführt: Man könnte sich an der Kontraktion von denne ni zu denni stoßen. Doch ist zu bedenken, daß sich im >MuspilIiMuspilli< erscheint denne im selbständigen Hauptsatz immer in Spitzenstellung. Anders verhält es sich bei nachgestellten Hauptsätzen: so M I N I S (Anm. 3), S. 66, 70. Wenn sich dies auf breiterer Grundlage erhärten ließe, müßte dies die Lesung denni in 55a stützen. Vgl. dazu UTE SCHWAB, Rez. C. MINIS, Handschrift, Form und Sprache des Muspilli, Berlin 1966, Annali dell'Istituto Orientale di Napoli, Sez. Linguistica, 10 (1968), S. 6f. In diesem Fall wäre noch pointierter zu übersetzen: >Wenn keine (Gerichts)-Eiche mehr auf der Erde steht, dann fährt der Gerichtstag ins Land.< 51

46

M I N I S ( A n m . 3 ) , S. 7 6 .

65 66 67 68 69 70 71 72

Dene ni darf er sorgen, dene er ze deru suonu qui(mit). niueiz der uuenago man, uuielihan uu(art)il er habet, denner mit den miaton marrit d[a]z re[h]ta, Daz der tiuual dar pi kit(arnit stentit). (d)er hapet in ruouu rahono ueliha, daz der man {er enti sid) upiles kifrumita, daz er iz allaz kisaget, denne er (ze) deru suonu quimit; Ni scolta sid mannohhein miatun intfahan."

63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Wohl deshalb dem Menschen - kommt er zum Gericht wenn er jede Sache nach dem Recht entscheidet: Er braucht nicht zu sorgen, wenn er vor dem Gericht erscheint. Doch der Verworfene weiß nicht, was für einen Wächter er hat, wenn er mit Bestechung die Gerechtigkeit hindert, daß nämlich der Teufel verborgen bei ihm steht: Der hat festgehalten, was immer ein Mensch früh oder spät Böses getan hat, und alles sagt er, wenn er vor dem Gericht erscheint. Darum sollte niemand Bestechungsgeld nehmen.

D i e Versgruppe 63-72 nimmt - hierin wird man -

MINIS

zustimmen 5 3

eine gewisse Sonderstellung ein. Dadurch, daß v o m Jüngsten

Gericht aus das Unrechte Richten auf der Erde zur Sprache kommt, ergibt sich eine auffällige thematische Pointierung. Dabei wirkt stilistisch manches unbeholfen, so die Wiederholungen in 63b, 65b und 71b. Zudem verschränkt der Text die Thematik des irdischen Gerichts und des Endgerichts, ohne daß die verschiedenen Zeitebenen klar voneinander abgehoben würden. Die G e d a n k e n f o l g e ist teilweise nur mit M ü h e durchschaubar. Meint mahal in 63 das irdische oder das göttliche Gericht? 5 4 In den Versen 63/64 ist offensichtlich v o m irdischen Richter die Rede, in 66/67 jedoch von denjenigen, die Zeugen oder Richter bestechen. Vers 72 schließlich spricht von jenen, die bestochen werden - ein verwirrender Wechsel der Aspekte.

Die Verszeile erscheint in der Hs. am unteren Rand einer Seite und ist ζ. T. am oberen Rand der nächsten wiederholt. Der Text ist schwer zu entziffern, vgl. STEINMEYER (Anm. 1), S. 70, Fn. 11. 53 MINIS (Anm. 3), S. 8Iff. 54 FRIEDRICH KLAEBER, Einige Randbemerkungen zum Muspilli, ZfdA 75 (1938), S. 189ff., sieht in mahal hier das Jüngste Gericht, MINIS (Anm. 3), S. 87, dagegen das weltliche Gericht. 52

47

Wie immer man diese Probleme im einzelnen lösen mag, die Gruppe 63-72 (IIc) bildet einen Komplex für sich. Es stellt sich die Frage, wie er sich zu den ersten sechs Versen dieses Teils (IIa) und zum Elias-Antichrist-Kampf (IIb) verhält. IIc ist zweifellos auf IIa bezogen, rahha, v. 35, wird abgewandelt in 64 und 69 wiederaufgenommen. Der Ansatz mit dem Jüngsten Gericht in den Versen 3Iff. stellt die Perspektive, in die schließlich der Kontrast zwischen dem ungerechten Richten auf Erden und der unausweichlichen Gerechtigkeit Gottes eingebaut wird. Der zwischen IIa und IIc eingefügte geschlossene Komplex des Elias-Antichrist-Kampfes ist thematisch mehrfach auf diesen Kontrast bezogen: die Zeilen 57 und 60 nehmen das Motiv der Rechtsbeugung auf Erden vorweg. Wenn die Lesung: denni kistentit eik in erdu (v. 55) richtig ist, dann ist schon hier darauf hingewiesen, daß beim Endgericht die Bedingungen irdischen Richtens aufgehoben sind. Und in diese Perspektive gehören schließlich die beiden binnengereimten Langzeilen 61 und 62. Man sollte sie nicht einfach als billige Predigerverse ausscheiden, denn gerade sie tragen, zusammen mit 57, 60 und evtl. 55, maßgeblich zum Verständnis des Elias-Antichrist-Komplexes und seiner Funktion im Zusammenhang von Teil II bei. Der Sinn dieses Komplexes besteht darin klarzumachen, daß die Erde vor dem Jüngsten Gericht zerstört wird und man unter völlig veränderten Voraussetzungen vor den göttlichen Richter treten muß:es gibt keinen Gerichtsort mehr, wo man sich unter Verwandten Rechtshilfe leisten könnte; der Boden, auf dem man zusammen mit seinen Verwandten zum Kampf angetreten ist, ist verbrannt; jeder steht allein, man ist der göttlichen Gerechtigkeit ausgeliefert. Gerade dies ist es, was die beiden Reimverse nochmals betonen. Es handelt sich also keineswegs um eine sinnlose Replik auf einer rhetorische Frage. In dieser Perspektive ist nun das umstrittene Problem der tatsächlichen oder scheinbar widersprüchlichen Meinungen der uuerohrehtuuison und der gotman über den Endgerichtskampf zwischen Elias und dem Antichrist nochmals aufzugreifen und, wenn möglich, einer Klärung zuzuführen. Wenn von IIc aus gesehen dieser Kampf darauf zielt, daß die Erde zerstört wird, so daß es buchstäblich keinen Boden mehr gibt, auf dem man sich gegenseitig beistehen könnte, dann müß48

te man eine Argumentationslinie etwa folgender Art erwarten: Es wird am Ende der Zeiten zu einer Auseinandersetzung zwischen Elias und dem Antichrist kommen. Da Gott auf der Seite des Propheten steht, wird dieser über den Vorkämpfer des Teufels siegen. Zugleich jedoch wird Elias verwundet werden. Sein Blut setzt die Erde in Brand. Durch die Zerstörung der Welt ist für das Jüngste Gericht eine Situation geschaffen, die alle Bedingungen irdischen Richtens aufhebt. Das würde bedeuten: Der Untergang des Antichrist und der Tod des Elias schließen sich nicht aus. Wenn es in Vers 43 heißt, daß der Herrscher im Himmel dem Elias beistehen werde, so kann das nicht dadurch in Frage gestellt werden, daß Elias fällt, denn die Vernichtung des Antichrist bleibt als Ergebnis bestehen, und Elias wird nach der Tradition - vom Tod auferweckt. Es wäre demnach der Gerichtskampf zwischen dem Antichrist und Elias mit seinem endgültigen Ergebnis - die Aussage der uueroltrehtuuison - als Rahmen zu nehmen für die Erwähnung einer differenzierenden Überlieferung bezüglich der Entstehung des Weltbrandes - die Aussage der gotman. Die beiden Darstellungen des Endkampfes wären also nicht gegensätzlich zu verstehen, sondern sie könnten sich so verhalten wie die Skizze einer allgemeinen Situation zur detaillierten Ausarbeitung eines Einzelaspektes. Dann erschiene auch vilo, an dem man meinte zweifeln zu müssen, weil es einem grundsätzlichen Kontrast zwischen den Ansichten der >Rechtskundigen< und der >Gottesmänner< widerspricht, wieder als eine akzeptable Konjektur. Könnte man überdies bei der Interpretation von uueroltrehtuuison von rehtwisic ausgehen, dann dürfte man wohl uuerolt als weniger gewichtig in die Vorsenkung verweisen. Jedenfalls wäre für rehtuuison eine Bedeutung zu fordern, die den Begriff nicht auf >Rechtskundige< festlegt oder einengt: es ist möglicherweise an Leute zu denken, die in sehr viel weiterem Sinne über die Gesetzlichkeit dieser Welt und insbesondere ihres Endes Bescheid wissen. Was die gesamte Anlage des Abschnitts II betrifft, so hätte der Einschub IIb unter dem skizzierten Aspekt seinen guten Sinn: Christus hat zum Gericht gerufen, und nun wird nachgetragen, daß in diesem Augenblick das Widergöttliche schon entmachtet ist. Zugleich ist durch das Blut des Elias die Welt in Flammen aufgegangen, 49

die irdischen Möglichkeiten, das Recht zu beugen, sind zerstört. Man hat sich dem Urteil Christi vorbehaltlos und offen zu stellen. Wenn sich aber eine solche Interpretationslinie vom Ende des Abschnitts II aus auch nahelegt, so wird man doch andererseits nicht übersehen können, daß sich ihr im einzelnen nicht alles mühelos fügt. Die Auseinandersetzung zwischen Elias und dem Antichrist ist offensichtlich als Gerichtskampf stilisiert, doch in diesen Vorstellungszusammenhang lassen sich Verwundung und Tod des Elias nicht ohne weiteres einbeziehen. Die Entstehung des Weltbrandes aus dem Blut des Elias scheint einen Komplex für sich darzustellen. Es fragt sich, ob hier nur ungeschickt geklittert worden ist oder ob tatsächlich eine pointierte Gegenüberstellung intendiert war. Es ist nicht auszuschließen, daß auf irgendeiner Überarbeitungsstufe ein Gegensatz anvisiert worden ist, vielleicht verdanken wir ihr sogar die Einfügung von uuero/t in Vers 37. Besonders sinnvoll ist der Gegensatz der Meinungen nicht: wenn man ihn interpretatorisch ausformulieren will, muß man den Text zwingen. Man kann ihn ja nicht so verstehen, als ob die Kundigen weltlichen Rechts eine eigene Version des Elias-Antichrist-Kampfes propagiert hätten - es sei denn, man wollte auf die überholte These germanisch-mythologischer Hintergründe zurückgreifen sondern man kann bestenfalls sagen: nach den gängigen Vorstellungen der Rechtskundigen von einem Gottesgericht hätte eigentlich Elias der Sieg zufallen müssen, die >Gottesmänner< wissen es aber besser. Doch der Text bietet keine derart relativierende Formulierung, sondern er stellt beides, Sieg und Verwundung des Elias, nebeneinander und entwickelt aus letzterer den Weltuntergang." Was sich widersprüchlich gibt, sind deshalb von der überkommenen Redaktion aus gesehen doch wohl am ehesten Schlacken des Klitterungsprozesses. ( A n m . 3 8 ) hat diese Schwierigkeiten klar gesehen und trotzdem auf einen Gegensatz hin interpretiert. Er spricht, S. 11, von einer »fiktive(n) Vorstellung«, und er schließt, S. 1 2 : . . . »gemeint ist doch wohl eigentlich: die Weltrechtweisen könnten oder müßten (nach den Voraussetzungen ihres D e n k e n s ) so reden«. Es handle sich um ein »konstruiertes Beispiel«, für das, der »Eigenart des lehrhaften Vortragsstils« (ebd.) entsprechend, eine »objektive Form« (S. 13) gewählt worden sei. Ebenso: DERS., H i m m lisches und irdisches Gericht in karolingischer Theologie und althochdeutscher Dichtung, Frühmittelalterl. Studien 5 (1971), S. 296ff. So deutlich hier das Problem erkannt ist, so forciert erscheint der Ausweg.

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Der III. Teil, vv. 73-103, setzt nochmals mit dem Endgericht ein. Dabei ist die Zielthematik des I. wie des II. Teils überhöhend einbezogen: Vor der Allmacht Gottes enthüllt sich von selbst, was der Mensch an Untaten begangen hat. Am Ende aber erscheint das Kreuz; Christus weist auf das, was er aus Liebe für die Menschen zu leiden bereit war. Das ist H o f f n u n g auf Rettung für jene, die Buße getan haben, und es bedeutet zugleich Verdammnis für diejenigen, die an der Möglichkeit der Gnade vorbeigegangen sind. Der III. Teil ist so angelegt, daß das Thema der Gnadenlosigkeit gerade angesichts der Erlösungstat Christi in letzter Radikalität zum Ausdruck kommt. III 73 So (daz hi)milisc horn kilutit uuirdit, 74 enti sih der ana (den) sind arheuit, der dar (s)uannan seal toten enti lepen(ten), 75 Denne heuit sih mit imo herio meista, 76 daz ist allaz so pa(ld), Daz imo nioman kip[a]gan ni mak. 77 Denne uerit er (ze d)er(u) mahalsteti, deru dar kimarchot ist: 78 dar uuirdit di(u suo)na, dia man dar hio sageta. 79 Denne uu[a]rant engila uper (dio) marha, 80 uuechant deota, uuissant ze dinge. 81 denne (seal) mano gilih fona deru moltu arsten, 82 lossan sih ar deru le(uuo) uazzon: (sca)l imo hauarsin lip piqueman, 83 daz er sin reMuspilliMuspilliMuspilli< besteht somit nicht darin, daß ein Bearbeiter eine kunstvolle Vorlage

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predigerhaft verwässert hätte, wobei diesen Eingriffen textkritisch nachzuspüren wäre, sondern es besteht in der Erkenntnis, daß dieses Gedicht einem spezifischen literarischen Typus zugehört, dessen Überlieferungsform als interpolierende Umgestaltung zu kennzeichnen ist. Im einzelnen sind die Interpolationen, wie nicht anders zu erwarten, von unterschiedlicher Qualität; nur das Stümperhafte können wir sicher greifen. Damit ist aber nichts gewonnen, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, daß man im Bemühen, zu reinigen und zu korrigieren, den literarhistorischen Typus verfehlt. Im Mittelteil des >Muspilli< sind die interpolierenden Eingriffe am offenkundigsten. Die Thematik spitzt sich hier in ganz bestimmter Weise zu. Man wird deshalb hier das spezifische Aktualitätsmoment des auf uns gekommenen Überarbeitungsstadiums vermuten dürfen. Hier findet sich im Zusammenspiel von irdischer Gerechtigkeit, irdischem Gericht und Gottesgericht eine eigentümliche Akzentuierung, die in der Generalthematik zwar angelegt ist, aber doch nur eine unter mehreren möglichen Perspektivierungen darstellt. Wenn es einen konkreten historischen Anlaß für unsere Fassung gegeben hat, über diese Thematik wäre er zu suchen. Das ist keine Aufforderung zu einem zweifellos vergeblichen Unterfangen; es geht allein um die prinzipielle Feststellung, daß der beschriebene Typus über seine Interpolierbarkeit der Aktualisierung offensteht und zuneigt. Zusammenfassend ist also zu sagen: es ergeben sich vom >Muspilli< aus eine Vielzahl möglicher thematischer und formaler literarhistorischer Zusammenhänge; doch sie sind nicht konkret zu fixieren, sondern sie bleiben Hypothesen von zweifelhafter Verbindlichkeit. Es versagt dadurch die Einordnung des Werkes in ein entwicklungsgeschichtliches Modell. Zugleich scheitert auch der Versuch, das Gedicht im Blick auf eine individuelle künstlerische Konzeption immanent-ästhetisch zu fassen. Ein Original, eine ursprüngliche Form und Intention sind nicht greifbar. Anstelle einer festen Individualität zeigt sich eine Textkonstellation von einer gewissen Zufälligkeit. Gerade im Scheitern der gewohnten interpretatorischen Ansätze aber erschließt sich der Zugang zum besonderen Charakter des Textes und der ihm korrespondierenden literarhistorischen Situation. Nochmals in Stichworten: Verfügbarkeit über einen thematischen Komplex, Brechung und Montage, Interpolierbarkeit im Blick auf sich wandelnde Möglichkeiten der Aktualisierung. 56

Damit sind anhand eines einzelnen Werkes, d.h. eines bestimmten thematischen Komplexes in einer ungefähr umgrenzbaren historischen Situation, Kriterien der Analyse und Darstellung gewonnen, die auf ihre Gültigkeit unter einem breiteren Blickwinkel zu überprüfen wären. Es ist zu fragen, ob literarische Interpretation nicht prinzipiell einen Zielpunkt jenseits von Entwicklungsmodell und Individualität anzusteuern hätte. Man wird die Frage dann bejahen müssen, wenn man davon ausgeht, daß ein Einzelwerk nicht nur als individuelle Variante in einer Tradition steht, sondern eine Position und Funktion in einem synchronen literarischen Horizont besitzt. Für den Zugang zu diesem synchronen Zusammenhang kann die >MuspilliMuspilli< unter diesem Blickwinkel ins Grundsätzliche zu transponieren. Literarische Tradition läßt sich als Bündel von literarischen Konstanten fassen und beschreiben. Literaturgeschichte ist damit immer insoweit Geschichte, als sie es mit solchen Konstanten zu tun hat. Auch literarischer Wandel ist nur faßbar als Veränderung auf der Basis von etwas, was sich gleich bleibt. Der literarische Horizont zu einem bestimmten Zeitpunkt versteht sich als Schnitt durch ein Konstantenbündel, oder anders ausgedrückt: der literarische Horizont ist traditionsbezogen, er bedeutet Verfügbarkeit über eine bestimmte Gruppierung von Überlieferungen. Verfügbarkeit setzt aber Ablösung aus der Individualität des Ursprungs, Einordnung in Traditionsformen, Zuordnung zu einzelnen Typen voraus. Und eine solche Ordnung zwingt immer zu einer gewissen Nivellierung, sie zwingt zur Rezeption des Individuellen im Rahmen eines harmonisierenden Feldes, das sich als literarischer Kanon von Typen, Themen, Strukturen, inhaltlich-formalen Korrespondenzen usw. versteht. Verfügbarkeit impliziert aber zugleich auch die Möglichkeit der Brechung, d.h. es öffnet sich die Chance, die Verfügbarkeit thematisch werden zu lassen, das Ungenügen der typisierenden Einordnung und des Verkürzens zur Erscheinung zu bringen. In dem Maße, in dem es zur Traditionsbildung kommt, in dem Maße zeigen sich also gegenläufige Tendenzen, Tendenzen, in der Nivellierung des Horizontes Dissonanzen aufscheinen zu lassen. Jeder Kanon ist potentiell dissonant, und zwar dadurch, daß er der sich wandelnden 57

Situation zunehmend weniger gerecht wird. Der harmonisierende Kanon der literaturgeschichtlichen Überlieferung zeigt sich von seiner ahistorischen Rückseite als dissonante Montage. Einzelwerke, die in dieser Situation entstehen, fügen sich entweder den Erwartungen des Horizontes, oder sie werden in die Erwartungen rezeptiv eingepaßt, oder sie bringen eine Variation der Konstellation zustande. Dabei können die potentiellen Dissonanzen des Horizontes mehr oder weniger bewußt ausgenützt werden. Durch die Dissonanz wird der Bezug zur Aktualität der Situation wiederhergestellt, der durch den Aufbau des Horizontes verlorengegangen ist, d.h. in der Dissonanz tritt das Ungenügen der Tradition gegenüber der veränderten historischen Stunde unmittelbar zutage. Denn jenes Moment, in dem die eigentliche Individualität von Literatur besteht, der aktuelle historische Bezug, ist nicht tradierbar; die Verkürzung um die Dimension der Aktualität ist der Preis, den die Literatur an die Geschichte bezahlt. Will sie sich nicht zunehmend weiter entleeren, so muß sie diese Dimension immer wieder neu herstellen, d.h. die Tradition durchbrechen. Es handelt sich hierbei übrigens um eine Problematik, die sich in ihrer ganzen Radikalität erst beim schriftlich fixierten Text ergibt. Mündliche Dichtung ist aufgrund der Möglichkeit zur Improvisation in sehr viel höherem Maße und sehr viel selbstverständlicher aktualisierbar. Es gibt also ein literarhistorisches Verständnis nur insofern, als man sich auf Traditionen einläßt. Zugleich verfehlt man ihre Geschichtlichkeit, wenn man auf ihre lineare Kontinuität fixiert bleibt. In jedem Punkt der Geschichte erscheint die literarische Tradition als ein Bündel von Konstanten, das zum einen als Überlieferungsbesitz rezipiert und weitergegeben werden kann, das aber andererseits als synchrone Konstellation offen und damit potentiell dissonant ist. In diese Dissonanz kann die Aktualität der Stunde einschießen und dialektisch in ihr ihren Ausdruck finden. Es ist von grundlegender Bedeutung, diesen unauflösbaren Widerspruch zwischen geschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität zu sehen und ihm bei der literaturgeschichtlichen Darstellung Rechnung zu tragen. Am relativ leichtesten ist die Aufgabe dort, wo die Möglichkeit zur Traditionsbrechung in markanter Weise objektiv ergriffen worden ist, wo Traditionen umbrechen oder abbrechen. 60 Doch sollte man sich dabei 60

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Vgl. VERF., Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten, G R M 54 (1973), S. 129-152.

nicht darüber hinwegtäuschen, daß solche Extremsituationen nur etwas Grundsätzliches im geschichtlichen Verlauf einseitig verdeutlichen. Eine Geschichte der althochdeutschen Literatur müßte das >Muspilli< in Übereinstimmung mit diesem theoretischen Entwurf in seine Literatursituation hineinzustellen bzw. diese von ihm her aufzurollen versuchen, und d.h., es ginge darum, sich zu bemühen, die an ihm aufgewiesenen technischen, strukturellen und thematischen Eigentümlichkeiten im Zusammenhang von Stand und Funktion der deutschsprachigen Literatur im späteren 9. Jahrhundert zu verstehen.

5. Stabreimvers und Endreimvers Der Überarbeitungsprozeß, der im überlieferten >MuspilliWessobrunner Gebet< und das >HildebrandsliedMuspilliEvangelienbuch< entscheidend z u m Sieg des Endreimverses über d e n Stabreimvers in der Epik beigetragen hat. Eine je größere Bedeutung man aber Otfrid für diese literarische Wende zubilligt, u m so größer erscheint der Einfluß, den sein >Evangelienbuch< direkt oder indirekt auf das >Muspilli< gehabt haben muß. Otfrids Bibelepos ist zwischen 863 und 871 abgeschlossen und sogleich in einer Reihe v o n Abschriften verbreitet worden. D i e Einwirkung auf das >Muspilli< setzt voraus, daß man das Werk relativ rasch zur Kenntnis g e n o m m e n hat und daß sich unter seinem Einfluß im 61

Dem Endreim in den lateinischen und in den vulgärsprachlichen Dichtungen vor und neben Otfrid hat R A I N E R PATZLAFF zuletzt eine grundlegende und im Prinzip überzeugende Untersuchung gewidmet: Otfrid von Weißenburg und die mittelalterliche versus-Tradition. Untersuchungen zur formgeschichtlichen Stellung der Otfridstrophe, Tübingen 1975 (Hermaea N.F. 35). Er rechnet mit einer breiten Übernahme des Endreims in die volkssprachlichen Literaturen aufgrund von vor allem irischen und angelsächsischen Mustern. 62 Was das Verhältnis des >Evangelienbuches< zu den kleineren ahd. Reimgedichten betrifft, so vertritt PATZLAFF (ebd.), S. 230, die Ansicht, daß im Blick auf die verschiedentlich auftauchenden dreizeiligen Strophen - die bei Otfrid fehlen - eine vor-Otfridsche deutsche Reimdichtung anzunehmen sei, wobei er mit der Möglichkeit rechnet, daß von den erhaltenen Gedichten das >Petruslied< vor das >Evangelienbuch< zurückgehen könnte. Das Argument der Dreizeilenstrophen ist keine sehr starke Stütze für diesen Gedanken - warum könnte man nicht unabhängig an mehreren Orten die Otfridsche Zweizeilenstrophe zur drei- und mehrzelligen Strophe weitergebildet haben? -, doch wird man ihn nicht grundsätzlich verwerfen wollen. Wenn aber auch die Übernahme des Reimverses in die Volkssprache sozusagen »in der Luft lag« - PATZLAFF, S. 231 - und ein Übergang da und dort erfolgt sein dürfte, so ist doch festzuhalten, daß Otfrid als erster die binnengereimte Langzeile als großepische Versform verwendet hat eine Pioniertat, deren Bedeutung PATZLAFF sichtlich unterschätzt. Das >Revolutionäre< an Otfrids neuer formaler Konzeption hat U L R I C H ERNST, Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weißenburg. Literarästhetik und Verstechnik im Lichte der Tradition, Köln/Wien 1975, dagegen nachdrücklich herausgestellt.

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späteren 9. Jahrhundert die neue Form durchzusetzen beginnt. Die Datierung des überlieferten >MuspilliMuspilliHildebrandsliedMuspilliMuspilli< sieben binnengereimte Endreimver64 se: 28 37 61 62 78 79 87

uuanit sih kinada diu uuenaga sela Daz hortih rahhon dia uueroltrehtuuison diu marha ist farprunnan, diu sela stet pidungan ni uueiz mit uuiu puaze: so verit si za uuize dar uuirdit diu suona, die man dar io sageta denne varant engila uper dio marha denne stet dar umpi engilo menigi

Mit Ausnahme von 61 sind bei allen diesen Versen Stabreim und Endreim kombiniert, wobei im übrigen fast durchwegs mehr oder weniger hart gegen die strenge Stabreimregel verstoßen wird. Trotz dieser Unkorrektheiten kann man aber die sechs Verse, die beide Formen verbinden, durchaus als Stabreimverse rhythmisieren. Sie bleiben also dem traditionellen metrischen Konzept im Prinzip eingepaßt. Nur Vers 61, dem der Stabreim fehlt, widersteht einer solchen Rhythmisierung. Hier ist es nicht möglich, der Schematik der achthebigen binnengereimten Langzeile auszuweichen; das hat jedoch zur Folge, daß man Vers 62 rhythmisch anschließen muß. Dies kann nur bedeuten, daß die Zeilen 61/62 in ihrer neuen metrischrhythmischen Form bewußt gegen die,vorausgehenden Stabreimverse gesetzt worden sind, insbesondere gegen Vers 60, auf den Bezug genommen wird. ten Langzeile, in: Werk - Typ - Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 20ff. 64

ANDREAS HEUSLER, D e u t s c h e Versgeschichte II, Berlin 2 1956, § 435. BAE-

SECKE (Anm. 33), S. 112 fügt vier weitere Endreimverse hinzu: 7, 49, 96 und die ohnehin problematische Zeile 48; doch ist es schwer zu sagen, ob es sich hierbei nicht um zufällige Gleichklänge handelt.

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Wenn man aber mit der Möglichkeit rechnen muß, daß es nicht nur zu mehr oder weniger unwillkürlich-zufälligen Einzeleinwirkungen der Endreimdichtung auf die Stabreimfassung des >Muspilli< gekommen ist, sondern daß absichtsvoll mit der neuen Form gearbeitet wurde, um die Rhythmik des Gedichtes zu brechen, so ist zu überprüfen, ob sich nicht auch die übrigen Stellen, wo Endreime verwendet werden, in analoger Weise auffassen lassen. So mag es insbesondere nahe liegen, den Schluß von Teil I entsprechend zu rhythmisieren: 28 uuänit sih kinadä diu uuenäga selä: 29 ni ist in kihüctin himiliskin gote, 30 uuänta hiar in uuerolti äfter ni uuerkotä.

Die Verse 28 und 30 bieten einer solchen Rhythmisierung offenkundig keine Schwierigkeiten, während 29b sich nur mit Mühe einfügt. Je mehr dabei die drei Verse durch Gleichklänge - man beachte das Vokalspiel mit α und i - kunstvoll ineinandergebunden werden, um so auffälliger wird das Schwanken in der rhythmischen Realisierung - gerade mit gote wird auch das Spiel der Vokalkorrespondenzen durchbrochen. Es scheint, daß man am Schluß des Abschnitts I die alte und die neue Rhythmisierung in eigentümlicher Weise hat ineinander fließen lassen. Die nächste Zeile mit Endreim, Vers 37, setzt einer Rhythmisierung als Stabreimvers einen gewissen Widerstand entgegen. Es ist, wie dargelegt, nicht eindeutig zu entscheiden, ob man uuerolt in die Vorsenkung zu verweisen hat oder nicht. Man könnte den Vers aber ohne weiteres als binnengereimte Langzeile auffassen: Däz hortih rähhön

dia uueroltrehtuuisön,

Es korrespondiert damit der Beginn des Teiles IIb formal mit den Endreimzeilen 61/62 am Schluß. Die neue Form grenzt den EliasAntichrist-Komplex als Einblendung deutlich heraus. Man könnte vermuten, daß uuerolt in eine alte Stabreimzeile eingefügt worden ist, um die Wendung zur binnengereimten Langzeile zu ermöglichen und damit einen formalen Rahmen für den Weltbrandabschnitt zu schaffen. Das ergäbe einen zusätzlichen Gesichtspunkt für die Interpretation des umstrittenen uueroltrehtuuison. 63

Die Zeilen 78/79 bilden wiederum ein zusammengehöriges Paar, der Endreim auf α geht durch. Dazu stellt sich noch deota in Vers 80, - ein Vers, der im übrigen mit Reimen überladen ist: durch doppelten Stabreim uuechant - uuisant, deota - dinge, und den Gleichklang in der Endsilbe bei uuechant - uuissant. Alle drei Verse fügen sich in das Schema der achthebigen Langzeile: 78 dar uuirdit diu süona, dia man dar ίο sägetä. 79 denne värant engilä üper dio märhä, so uuechant deota, uuissant ze dinge.

Hier zeigt sich im Vergleich mit den Versen 28-30 ein anderes metrisches Bild. Es wird hier nicht wie dort mit dem rhythmischen Wechsel zwischen dem Stabreimvers und der binnengereimten Langzeile gespielt, sondern es wird in der Weise rhythmisiert, daß die beiden Formen sich in eigentümlicher Weise annähern. Bei Vers 78 drängt sich eine Realisierung als binnengereimte Langzeile auf, insbesondere, wenn man die auftaktreichen vorhergehenden Zeilen daneben stellt. 79a lehnt sich an den Rhythmus von 78 an, doch schon in 79b beginnt jenes Einschrumpfen des Verses, das für 80 dann charakteristisch ist und durch das eine Reduktion auf die Betonungsgipfel geschaffen wird, die Stabreimvers und Endreimvers ineinanderfallen läßt. Mit 81 erfolgt dann wiederum der Wechsel zu einem eindeutigtypischen Stabreimvers. Auch die anschließenden Zeilen fügen sich diesem Rhythmus. Doch mit 85 werden die Verse erneut gedrängter, die Auftakte treten zurück. 86 kann man schon so rhythmisieren wie die binnengereimte Langzeile 87. Auch der folgende Vers schließt sich an: 86 enti arteillan scäl 87 denne stet dar limpi 88 guötero gomono:

toten enti quekkhen engilo menigi gärt ist so mihil:

Mit Vers 89 bricht dann der Rhythmus wieder um. Man gewinnt also bei dieser wie bei der Versgruppe 78-80 den Eindruck, daß die eingefügten Endreimverse nicht isoliert stehen, sondern rhythmisch vorbereitet werden bzw. die Umgebung in der Weise affizieren, daß es zu einem gleitenden Übergang kommt. 64

Es ist nun zu beachten, an welcher Stelle die rhythmisch herausfallenden beiden Versgruppen mit den Endreimen in den Komplex des Jüngsten Gerichts eingesetzt sind. Die Schilderung beginnt mit dem Aufbruch des Richters. Er begibt sich mit einem mächtigen Heer zur mahalsteti. Dann folgt der rhythmische Wechsel. Es wird gesagt, daß nun das verkündete Gericht stattfinden wird, die Engel fahren über das Land und wecken die Toten. Die Auferstehung der Toten, also die Gegenbewegung, folgt dann wiederum dem Stabreimrhythmus. Wenn die Schilderung sich zur Richtstätte zurückwendet, schwenkt sie wieder in den Rhythmus der binnengereimten Langzeile ein: der Richter und die Engel treten erneut ins Zentrum. Dann wendet sich der Blick zum zweitenmal den Auferstehenden zu, es wird - wieder im Stabreimrhythmus - noch einmal gesagt, daß sie sich erheben und zum Gericht kommen. Es schließen sich jene Passagen an, die davon handeln, daß keiner seine Untaten verleugnen kann. Wenn uns die stark verderbten Verse gegen das Ende nicht täuschen, so erfolgt kein weiterer rhythmischer Wechsel mehr. Es ergibt sich somit, daß die ins >Muspilli< eingesetzten Endreimverse in ihrem Verhältnis zur stabenden Langzeile unterschiedlich zu beurteilen sind. Das Verspaar 61/62 ist bewußt kontrastiv gegen den Langzeilenrhythmus gesetzt. Die Zeile 37 ist vielleicht in Korrespondenz dazu zu sehen. Bei den Schlußversen von I wird im Wechsel mit den beiden rhythmischen Formen gespielt, wobei die Gleichklänge in geradezu manieristischer Weise eingesetzt erscheinen. Die rhythmischen Wechsel in III werden in fließendem Übergang herbeigeführt. Es kann eine Annäherung dadurch erreicht werden, daß man die Verse einschrumpfen läßt. Doch der Wiedereinsatz des charakteristischen Stabreimrhythmus (v. 82 und v. 89) erfolgt dann abrupt. So wie das Verhältnis der Endreimverse zu den Stabreimversen wechselt und wie die Funktion des rhythmischen Umbruchs eine je andere ist, so gibt es auch Unterschiede hinsichtlich der Formen des Endreims. In den Versen 28, 78, 79 und 87 sind ungedeckte vokalische Endsilbenreime verwendet. Dagegen beziehen die Endsilbenreime in 37, 61 und 62 Konsonanten mit ein. Vers 62 ist konsonantisch gedeckt, 61 greift auf die Stammsilbe zurück. Bekanntlich entwickelt 65

sich die Reimkunst Otfrids im Laufe der Arbeit am >Evangelienbuch< zusehends mehr zum konsonantisch gedeckten Endsilbenreim hin, auch die Einbeziehung der Stammsilbe wird häufiger. 65 Man kann also sagen: da wo Stabreimvers und Endreimvers nachdrücklich gegeneinandergesetzt sind, in 61 und 62, wird der entwickeltere Typus verwendet. Da hingegen, wo man die Formen ineinanderspielt, begnügt man sich mit dem einfacheren Typus. Damit dürfte sich von der Position und Funktion der Endreimverse im >Muspilli< aus bestätigen, was generell zum Charakter der Überarbeitung gesagt worden ist. Es zeigt sich auch hier, daß wir es eher mit einem Umformungsprozeß in immer neuen Ansätzen als mit einer einmaligen, in ihrem Konzept klar faßbaren Neugestaltung zu tun haben. Jedenfalls ist der Endreim in verschiedenen Entwicklungsformen und unter wechselnden Aspekten eingebaut worden. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß wir hier ein Zeugnis für einen kontinuierlichen Übergang von der traditionellen epischen Stabreimform zur binnengereimten Langzeile vor uns hätten. 66 Einzelreime in der Stabreimdichtung bedeuten ja zunächst nichts weiter, als daß man den Reim als zusätzliches poetisches Mittel zu verwenden wußte, wie andererseits auch Otfrid ohne Schaden mit Alliterationen gearbeitet hat. 67 Der Typus der Stabreimdichtung als solche konnte von da aus nicht in Frage gestellt und in die neue Form der Endreimdichtung übergeführt werden. Es bedurfte dazu eines die gesamte metrisch-rhythmische Konzeption umfassenden Gegenentwurfs. Die teils spielerischen und teils absichtsvollen Kombinationen und Mischformen im >Muspilli< sind also weniger Ausdruck eines fließenden Wandels als Zeugen einer Konfrontation; und das 65

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Zur Entwicklung des Endsilbenreims bei Otfrid vgl. H. BORK, Chronologische Studien zu Otfrids Evangelienbuch, Leipzig 1927 (Palaestra 157). Zur Diskussion um den Begriff des Endsilbenreims siehe E R N S T (Anm. 62), S. 232f. Dies im Gegensatz zu GEORG BAESECKE, der nicht kontrastiv von den beiden Versformen ausgeht, sondern die Lizenzen in der Stabreimtechnik, insb. die häufige Verlegung des Hauptstabes auf den zweiten Betonungsgipfel des Abverses, als Übergang zum Endreimrhythmus versteht: St. Emmeramer Studien, PBB 46 (1922), S. 431-494, = DERS., Kleinere Schriften zur althochdeutschen Sprache und Literatur, Bern/München 1966, S. 38-85, hier S. 39f. Zum Einfluß der Stabreimdichtung auf Otfrid: E R N S T (Anm. 62), S. 363f.

heißt, sie setzen die Existenz einer eigenständigen Endreimdichtung, konkret: die strenge Architektonik der Otfridschen Langzeile voraus. Erst als man die alte und die neue Form als kontrastive Möglichkeiten zur Verfügung hatte, konnte man beginnen, sie in der beschriebenen Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Durch den prinzipiellen Gegenentwurf gewann man Distanz zur Stabreimtradition. Man stand nicht mehr in ihren Regeln, sondern bis zu einem gewissen Grade über ihnen, man konnte sich an Zwischen- und Zwitterformen versuchen. Die Verbindlichkeit der poetischen Tradition trat zurück gegenüber der Möglichkeit zu neuen dichterischen Effekten. Das >Muspilli< dokumentiert uns in vorzüglicher Weise diese Situation. Wenn man die formale Entwicklung insgesamt betrachtet, so sollte man jedoch nicht übersehen, daß sichidie Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen abspielte. Die Stabreimdichtung war ursprünglich ja eine mündlich-profane literarische Form. Sie wurde dann von der frühen christlich-schriftlichen Dichtung übernommen; der Anstoß dazu dürfte von den Angelsachsen ausgegangen sein. Die geistliche Epik wiederum war die Einbruchsteile des neuen Endreimverses; und von hier aus erfolgte ein Traditionswandel, der auch die profane Dichtung mit ergriffen hat. Wie ist es möglich, daß es zu einem solchen totalen Umbruch kommen konnte? Die Frage läuft auf das Problem hinaus, in welchem Zeitraum und unter welchen literarischen Bedingungen man sich den Übergang vorzustellen hat. Es ist noch einmal festzuhalten, daß der Stabreimvers als epische Form bis ins späte 9. Jahrhundert hinein lebendig war: unser >MuspilliHildebrandslied< und das >Wessobrunner Gebet< können die Tradition zum Beginn des Jahrhunderts hin abstützen. In der frühen deutschen Hymnik sind Einflüsse der Stabreimdichtung nicht zu verkennen. Kurz vor Otfrids >Evangelienbuch< sind der >Heliand< und die >Altsächsische Genesis< entstanden. Dazu kommt, daß wir im 9. Jahrhundert mit den Vorstufen der älteren eddischen Lieder im niederdeutschen Raum rechnen müssen. Die Form der nordischen Zeugnisse darf - im Prinzip jedenfalls - für die deutschen Vorlagen in Anspruch genommen werden. 68 Demgegenüber sind uns aus der 68

HANS KUHN, Zur Wortstellung und -betonung im Altgermanischen, PBB

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Zeit um 900 an vulgärsprachlichen Zeugnissen in gebundener Form wenn man von den Zaubersprüchen absieht - nur noch Endreimgedichte erhalten. Es sind geistliche Stücke, Profan-Literarisches fehlt. Zugleich versickert damit die vulgärsprachliche Tradition überhaupt. Es gibt aus den nächsten eineinhalb Jahrhunderten keinen einzigen direkten Beleg mehr für die Existenz einer weltlichen oder geistlichen Dichtung in der Volkssprache. Eine Ausnahme bilden einige wenige Verse in Notkers Rhetorik, in denen die binnengereimte Langzeile souverän gehandhabt wird.69 Damit steht man vor einem überraschenden Sachverhalt: die Tradition der althochdeutschen binnengereimten Langzeile hat zu Beginn des 11. Jahrhunderts noch auf dem Niveau Otfrids weitergelebt - wenn wir auch nichts über die Breite dieser Tradition zu sagen vermögen - ; 50 Jahre später jedoch, als die Überlieferung deutschsprachiger Literatur wieder einsetzt, ist das Bild vollkommen verändert: die strenge Form ist aufgegeben, Reimkunst und Rhythmik erscheinen überaus frei, um nicht zu sagen verwildert. Man wird diesen Formenzerfall nicht in das halbe Jahrhundert zwischen Notker und der frühmittelhochdeutschen Dichtung legen wollen. Wir bewegen uns auf unterschiedlichen Ebenen. Notker ist der Endpunkt einer schriftlich-literarischen Tradition, die von Otfrid geprägt worden ist. Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung setzt neu an; und es gibt nur einen Ort, von wo aus ein solcher Neuansatz möglich war, nämlich die mündlich-profane Epik. Das heißt, die einzig überzeugende Erklärung für die Niveaudifferenz zwischen Notkers Langzeilen und der frühmittelhochdeutschen Literatur besteht in der Hypothese, daß die letztere nicht direkt an der Tradition der althochdeutschen geistlichen Endreimdichtung hängt, sondern diese in der Form weiterführt, die sie inzwischen in der profanen Epik angenommen hat. Das impliziert, daß die binnengereimte Langzeile bei der Weiterentwicklung in der profanen Li57 (1933), S. 1-109 = in: DERS., Kleine Schriften I, Berlin 1969, S. 18-103, hier S. 4 6 f f , 100. " Wenn man das lateinisch-deutsche Mischgedicht >De Heinrico< mitberücksichtigen darf, so gewinnt man neben Notker noch ein zweites Zeugnis aus ottonischer Zeit. Zur Datierung siehe W I L L Y S A N D E R S , Imperator ore iucundo saxonizans. Die altsächsischen Begrüßungsworte des Kaisers Otto in >De HeinricoMuspilli< steht also eine formengeschichtlich revolutionäre Situation. Und was sich dabei abspielt, ist selbstverständlich mehr als nur eine Veränderung der Form: die Tradition der mündlichprofanen Epik wird radikal umgebrochen. Es zeugt von ihrer Vitalität, daß sie dabei nicht zugrunde ging, sondern sich zu verwandeln und - jedenfalls in wesentlichen Stücken - zu überleben vermochte. Die Dissonanzen dieser Literatursituation sind offenkundig. Das >Muspilli< dokumentiert sie in Spannung und Spiel zwischen Otfrid und der sich auflösenden Stabreimtradition. Die divergierenden Kräfte vermochten aber nicht durch die Krise hindurch auf eine Neuorganisation des literarischen Gesamthorizontes hinzuwirken, der dissonante Horizont sollte vielmehr binnen kurzem zerfallen, das Neue wird - abgesehen von einer klösterlich-isolierten Überlieferungslinie, die mit Notker ausläuft - untergründig weitergetragen. Der Stabreimvers auf der andern Seite hat keine Chance mehr. Das >Muspilli< repräsentiert einen Horizont ohne Zukunft.

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6.Die Position des >Muspilli< in der Geschichte der althochdeutschen Literatur Als Datum für den Beginn einer schriftlichen deutschsprachigen Literatur gilt das Jahr 789, das Jahr der >Admonitio generalis< Karls des Großen. Man wird diesen Ansatz W I L H E L M S C H E R E R S wieder in den Vordergrund stellen, nachdem B A E S E C K E S groß angelegter Versuch, die althochdeutsche Literaturgeschichte in die Vorgeschichte der Glossen und Glossare hineinzuverlängern, gescheitert ist. Die >Admonitio< ist die erste in einer Reihe von Verordnungen Karls, die darauf abzielten, einen allgemeinen christlichen Elementarunterricht zu gewährleisten. Die Voraussetzung dafür war, daß die grundlegenden katechetischen Texte in der Volkssprache zur Verfügung standen. Es gestattet sich deshalb, die in karlischer Zeit einsetzende vulgärsprachliche religiöse Gebrauchsliteratur wie Unservater, Taufgelöbnisse, Glaubensbekenntnisse, Beichten usw. mit den kaiserlichen Kapitularien in Zusammenhang zu bringen. 70 Diese Übersetzungsbemühungen, die wohl auch ältere Versuche aufgriffen, sind, wenngleich zusammenhängende Textgruppen deutlich werden, disparat. Sie erfolgten in mehreren Schüben. Das Niveau der Ergebnisse ist unterschiedlich. Es gibt jedenfalls keine zentral gelenkte Redaktion. Im Gegensatz dazu stehen die kunstvollen Prosaübersetzungen der >IsidorÜber den Ursprung der deutschen Litteratur< (in: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 71-100) dezidiert die These vertreten, daß der Anstoß zu einer deutschsprachigen Schriftliteratur von Karl dem Großen ausgegangen sei. JOHANN KELLE und G U S T A V E H R I S M A N N haben die These in ihren Literaturgeschichten ausgearbeitet und ihr dadurch weite Geltung verschafft. Vgl. dazu W E R N E R SCHRÖDER, Grenzen und Möglichkeiten einer althochdeutschen Literaturgeschichte, Ber. über d. Verhandlungen d. sächs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Philol.-hist. Kl. 105/2 (1959), S. 9f. 71 Dazu grundlegend: K L A U S MATZEL, Untersuchungen zur Verfasserschaft, Sprache und Herkunft der althochdeutschen Übersetzungen der IsidorSippe, Bonn 1970 (Rheinisches Archiv 75).

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So bedeutsam diese Impulse aber auch sind, sowohl was die breite Streuung deutschsprachiger katechetischer Elementartexte, wie auch, was die normative Übersetzungskunst am Hofe betrifft, so wird man doch die Entwicklungslinien von hier aus nicht überziehen dürfen. B A E S E C K E hatte versucht, von Karl dem Großen über Alkuin eine Brücke zu Hrabanus Maurus zu schlagen und Fulda als literarischen Schnittpunkt herauszustellen, über den die Intentionen Karls in einer zweiten Phase weitergewirkt hätten: unter Hrabans Aufsicht ist die Gemeinschaftsübersetzung des >Tatian< zustandegekommen. Der >Heliand< gehört zumindest in die Nähe. Otfrid von Weißenburg hat in Fulda studiert. 72 Die neue von Otfrid geschaffene Endreimdichtung wirkt dann in den kleineren althochdeutschen Literaturdenkmälern weiter. Und als letzter Ausläufer der pädagogisch auf die Vulgärsprache gerichteten Initiative erscheint schließlich das Prosa-Übersetzungswerk Notkers des Deutschen. B A E S E C K E hat diese Generallinie der Entwicklung mit einem kunstreich verästelten literarischen Beziehungsgeflecht umgeben, das zunehmend differenzierter und kühner geworden ist. Daß die Konstruktion letztlich nicht trägt, hat insbesondere W E R N E R S C H R Ö D E R nachdrücklich dargetan. 73 Nicht diese forciert durchgezogene Kontinuität gibt das Wesen der althochdeutschen literarischen Entwicklung wieder, es ist im Gegenteil gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie immer wieder abbricht und immer wieder neu begründet werden muß. Die Bemühungen um eine deutschsprachige Literatur lassen mit Karls des Großen Tod sogleich nach. Es fragt sich, ob Hrabanus über Alkuin überhaupt von ihnen berührt worden ist. Die Niveaudifferenz zwischen dem deutschen >Tatian< und der Übersetzungskunst der >IsidorHeliand< gekannt hat. 74 Aber auch der Neueinsatz 72

Zu Otfrids Studienaufenthalt bei Hraban in Fulda vgl. W O L F G A N G HAUBRICHS, Otfrids St. Galler >StudienfreundeHeliandSprache der Fischer und Bauern< wurde das literarische Trotzdem des mangelhaft Gebildeten. Man tat nun den Sprung von der Form zur Sache, von der Ästhetik zur Ethik unter neuer Perspektive: auch wer unfähig war, sich korrekt auszudrücken, durfte und sollte das Wort Gottes verkündigen. 77 Otfrid steht in eigentümlicher Weise im Konflikt dieser literarästhetischen Diskussion, wobei als Besonderheit hinzukommt, daß er nicht von der Basis einer romanischen Vulgärsprache aus argumentiert, sondern das Fränkische dem Lateinischen gegenüberstellt. Otfrid zielt mit seiner neuen Versform einerseits auf den hohen Stil. Er bezieht sich ausdrücklich auf die großen lateinischen Bibelepiker. 78 Auf der anderen Seite stößt er sich an der tatsächlichen oder scheinbaren Defizienz seiner fränkischen Vulgärsprache. Sie vermag nicht nur einem Vergleich mit dem Lateinischen nicht standzuhalten, sondern sie gilt ihm überhaupt als unkultiviert, d. h. als nicht gewohnt, sich einer hohen Form zu fügen. 79 Das impliziert zum ei77

Zum Wandel der Idee und der Wirklichkeit der Rusticitas im Frühmittelalter vgl. H E L M U T B E U M A N N , Gregor von Tours und der Sermo Rusticus, in: Spiegel der Geschichte, Fg. f. M. Braubach, Münster 1964, S. 69-98. Grundlegend zur Stilproblematik in der christlichen Ästhetik: E R I C H A U ERBACH, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, insb. I. Sermo humilis, S. 25ff. 78 Im Liutbertbrief, Z. 17f., erwähnt Otfrid Iuvencus, Arator und Prudentius als musterhafte christlich-lateinische Autoren (Otfrids Evangelienbuch, hrsg. v. O. E R D M A N N / L. W O L F F , Tübingen 4 1 9 6 2 [ATB 4 9 ] ) . 79 Ebd. Z. 58f.: Hujus enim linguae barbaries ut est inculta et indisciplinabilis 73

nen, daß sie geschliffen werden kann, daß also eine gewisse Chance besteht, mit der Zeit eine hohe Form zu erreichen, zum andern aber, daß der deutschen Sprache wesensmäßig eine tormale Defizienz zukommt, die letztlich nicht zu überwinden ist. Das erstere legitimiert den Entwurf eines dem Hexameter adäquaten vulgärsprachlichen Verses, das letztere veranlaßt die traditionelle Wende von der Form zur Sache, und das heißt nun: Legitimation der vulgärsprachlichen Literatur aus dem Selbstbewußtsein des fränkischen Stammes, aus der historischen Stellung des neuen Gottesvolkes der Franken heraus. Otfrid richtet sein erstes Widmungsschreiben an Ludwig den Deutschen, sein zweites an Liutbert, den Erzbischof von Mainz, der 870 auch Erzkaplan des Königs wird und in dessen Umkreis die Reichsannalen redigiert werden. 80 Möglicherweise ging der Anstoß zu Otfrids Dichtung vom König selbst aus.81 Jedenfalls ist sein Werk vor dem Hintergrund der Kulturpolitik Ludwigs des Deutschen zu sehen; es ist, wie das Cur scriptor-Kapitel insbesondere deutlich macht, insofern Programmdichtung, als es vom Stammesbewußtsein, das sich im Ostreich herausbildet, getragen wird bzw. dieses Bewußtsein weitertragen soll.82 Im Zusammenhang dieser Kulturpolitik kam es im übrigen nicht auf eine bestimmte literarische Norm an, es ging aHein um einen hohen Stil als Ausdruck kultureller Gleichberechtigung. Dieselbe Funktion vermochte auch die stabende Langzeile zu erfüllen, wie der >Heliand< beweist, dessen Beziehung zu Ludwig dem Deutschen W O L F G A N G H A U B R I C H S sehr wahrscheinlich gemacht hat. 83 atque insueta capi regulari freno grammaticae artis; vgl. 1,1,35: Νist si (die fränkische Sprache) so gisungan, mit regulu bithuungan. Es geht dabei, wie die rhetorische Kritik, die vorausgeht, zeigt, um sehr viel mehr als nur um grammatische Regeln. 80 Dazu und allgemein zur politischen und kulturellen Situation in der späteren Karolingerzeit: H E I N Z LÖWE, Geschichtsschreibung der ausgehenden Karolingerzeit, Deutsches Archiv z. Erforschung d. Mittelalters 23 (1967), S. 1-30, zu Liutbert: S. 6. 81 VOLLMANN-PROFE (Anm. 74) hat diese kulturpolitischen Hintergründe überzeugend herausgearbeitet, siehe insb. S. 4ff. 82 Vgl. ebd. den Kommentar zum Cur scriptor-Kapitel, S. 85ff. 83 WOLFGANG HAUBRICHS, Die Praefatio des Heliand. Ein Zeugnis der Religions- und Bildungspolitik Ludwigs des Deutschen, Niederdt. Jahrb. 89 (1966), S. 2-12, = in: Der Heliand, hrsg. v. JÜRGEN EICHHOFFU. IRMENGARD R A U C H , Darmstadt 1973 (Wege der Forschung Bd. C C C X X I ) , S. 400-435. 74

Nach Ludwigs des Deutschen Tod folgt eine Zeit des politischen Zerfalls und des kulturellen und moralischen Niedergangs. Als sich das Reich unter den sächsischen Kaisern im 10. Jahrhundert schließlich wieder konsolidiert, hat sich die Situation entscheidend gewandelt. Die Politik der Ottonen zielt wieder über das Ostreich hinaus auf ein universales christliches Imperium. Es besteht kein Interesse mehr an einer deutschsprachigen, d. h.regional gebundenen Literatur. Man ist ausschließlich auf das Lateinische, die Sprache der neuen Universalität, ausgerichtet. Zur Zeit Karls konnte die deutsche Sprache, weil das Gesamtreich eine Realität war, fraglos neben das Lateinische treten. Der ottonische Vorstoß auf das Universalreich von einem Teilgebiet aus mußte die überregionale lateinische Sprache zum Vehikel dieser Tendenz machen. Notkers des Deutschen Werk steht deshalb in dieser Zeit isoliert. Es bleibt kommentierende Übersetzungsliteratur im Dienste klösterlichen Unterrichts. Ein kulturpolitisch ausgreifendes Programm steht nicht dahinter. Im Gegenteil: wenn der Prolog zur >Boethius