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German Pages [171] Year 2005
Zivilgesellschaft
Campus Studium
Frank Adloff, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Göttingen.
Frank Adloff
Zivilgesellschaft Theorie und politische Praxis
Campus Verlag Frankfurt / New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37398-X Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielf ältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Satz-Studio Rolfs, Dreis-Brück Druck und Bindung: Prisma Verlagsdruckerei GmbH Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Theorien der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Von der Antike bis zur Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zivilgesellschaft, Staat und Markt: Von Hobbes zu Tocqueville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Gramsci, Dewey und die Begründung der Soziologie . . . . . . . 41 Parsons und Shils: Integration und Wertbindung . . . . . . . . . . 55 Hannah Arendt und libertäre Demokraten . . . . . . . . . . . . . . . 58 Kommunitarier, Republikaner und andere Liberale . . . . . . . . 63 Diskurstheorien und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Das Reine und das Unreine: Jeffrey Alexanders kultursoziologische Wende . . . . . . . . . . . . 86 2. Zivile Gesellschaft, Staat und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Bürgersinn und gespaltene Zivilgesellschaft in Deutschland bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4. Organisationen: Nonprofit-Sektor, Zivilgesellschaft und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5. Interaktionen: Sozialkapital und bürgerschaftliches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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6. Soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 7. Europäische und transnationale Zivilgesellschaft? . . . . . . . . . . 137 8. Zivilgesellschaft, sozial oder politisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Websites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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Einleitung
Vor etwa 15 Jahren wurde das Konzept der »Zivilgesellschaft« wiederbelebt und erfreut sich nun allgemeiner Beliebtheit. Von vielen politisch oder sozial Engagierten wird die Stärkung der Zivilgesellschaft als Allheilmittel gegen die Verwerfungen in der sozialen Welt angesehen, während einige Wissenschaftler zunehmend skeptischer werden, ob der Begriff überhaupt noch irgendetwas exakt zu bezeichnen vermag. In politischen Theorien und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird er analytisch und normativ verwendet: Man untersucht zum Beispiel, inwiefern eine lebendige Zivilgesellschaft für das Funktionieren von Demokratien notwendig ist; oder man fragt nach der Rolle, die Zivilgesellschaften im Übergang von autoritären Regimes zu demokratischen Regierungen gespielt haben. Politiker und Bürgerbewegungen jeglicher politischer Richtung nutzen »Zivilgesellschaft« momentan als politischen Signalbegriff. Gilt er den einen als ein radikales Reformkonzept, das demokratische Selbstregierung stärken und sowohl Übergriffe des Staates als auch der Marktwirtschaft bändigen soll, verbinden andere mit ihm die Vorstellung, dass die Bürger sich nicht länger auf den Sozialstaat verlassen, sondern die Dinge eigenverantwortlich selbst regeln sollten. In jedem Fall möchten diejenigen, die den Begriff der Zivilgesellschaft für politische Zwecke nutzen, damit eine »gute« Form der gesellschaftlichen Organisation bezeichnen, die von einer »schlechten« abgegrenzt werden soll. Die Frage, was die Merkmale einer »schlechten« Gesellschaft seien, wird wiederum vielfältig beantwortet: pur egoistische Interessenverfolgung auf kapitalistischen Märkten, Obrigkeitsstaatlichkeit, politische Apathie, Sozialstaatsabhängigkeit oder Ähnliches. Es zeigt sich hier, dass in dem Begriff Zivilgesellschaft Zustandsbeschreibungen, normative Wertungen und Zukunftsentwürfe ver-
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schmelzen. Diese Ambiguität macht den Begriff so schwer in der Handhabung und übt zugleich eine starke Faszination aus. Wissenschaftlichkeit und politische Ideale scheinen sich in ihm zu verbinden. Dieses Einführungsbuch will die Ambiguität des Begriffs verständlich machen, zum Teil auch auflösen und vor allem die von ihm aufgerufenen sozialen und politischen Phänomene darstellen und analysieren, die von großer Bedeutung für das Funktionieren von Demokratien und das solidarische Zusammenleben zu sein scheinen. Dies gelingt allerdings nur, wenn man sich der wechselhaften Geschichte des Begriffs vergewissert – eine Geschichte, die schon vor 2 500 Jahren mit Aristoteles begann – und sich in einem zweiten Schritt genauer fragt, was in einem empirisch-konkreten Sinne unter Zivilgesellschaft verstanden werden kann. Denn nur über eine solche semantische Schärfung vermeidet man den Gebrauch von »Zivilgesellschaft« als einen catch all-Begriff, der für jeden politischen wie wissenschaftlichen Zweck eingesetzt werden kann. Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht. Die meisten Autoren, die sich mit Zivilgesellschaft beschäftigen, grenzen diesen Raum darüber hinaus von der Privatsphäre, zum Beispiel von der Familie, ab und betonen, dass zur Zivilgesellschaft Öffentlichkeit gehört. Die Zivilgesellschaft ist auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten angewiesen, also auf einen staatlichen Schutz der Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit. In der Regel zählen außerdem bestimmte zivile Verhaltensstandards wie Toleranz, Verständigung, Gewaltfreiheit, aber auch Gemeinsinn zur Zivilgesellschaft. Schließlich beinhaltet das Zivilgesellschaftskonzept auch ein utopisches Moment: das selbstregierte demokratische Zusammenleben. Summa summarum umfasst der Begriff Zivilgesellschaft also dreierlei:
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einen gesellschaftlichen Bereich von Organisationen und Institutionen, zivile Umgangsformen und ein utopisches Projekt. Zivilgesellschaft vermittelt zwischen Staat und Gesellschaft, ist also ein Konzept, das den Politikbegriff weit fasst und nicht nur auf staatliches Handeln festlegt, gleichzeitig aber durch ein schärferes und konturiertes Verständnis von Gesellschaft gekennzeichnet ist. Denn während üblicherweise unter Gesellschaft im Grunde alles verstanden wird, was sich innerhalb von Nationalstaaten abspielt: Familien, Wirtschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit, Wissenschaft usw., meint Zivilgesellschaft allein die freiwilligen und öffentlichen Vereinigungen von Bürgern und Bürgerinnen. Schon Aristoteles spricht von der Zivilgesellschaft und bezeichnet damit in einem umfassenden Sinn das politische Gemeinwesen. Diese Begriffsbestimmung hält sich lange Zeit, und erst zwischen 1750 und 1850 setzt sich eine moderne alternative Lesart durch, die sich mit Autoren wie Locke, Montesquieu, Ferguson, Hegel und Tocqueville verbindet. Diese grenzt die Zivilgesellschaft deutlich vom Staat, aber noch nicht besonders scharf von der entstehenden Marktwirtschaft ab. Zivilgesellschaft stand zu dieser Zeit für einen Entwurf des friedlichen, zivilisierten Zusammenlebens freier Bürger, unter der Herrschaft des Rechts, aber ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung (Kocka 2003, S. 30). Nachdem Marx den Begriff der Zivilgesellschaft auf die bürgerliche Gesellschaft der Warenproduktion reduzierte und damit deformierte, wurde es still um das Konzept. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte es einen nochmaligen Aufschwung in der marxistischen Interpretation Antonio Gramscis und der pragmatistischen Theorie John Deweys. Bei ihnen deutet sich bereits eine weitere Abgrenzung an, nämlich gegenüber der Wirtschaft. Freie nicht-staatliche und nicht-kapitalistische Assoziationen rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit. In einem völlig anderen Kontext tauchte der Begriff der civil society in den späten 1970er Jahren wieder auf, und zwar in den Debatten von Dissidenten in Ostmitteleuropa. Von dort aus erreichte er den Westen und erlebte sein Comeback. Ein Rückgriff auf den älteren Begriff der bürgerlichen Gesellschaft war in Deutschland unmöglich, da Marx die bürgerliche Gesellschaft als Ort der individualistisch-kapitalistischen Interessenverfolgung definiert hatte, sodass civil society fortan mit Zivil-
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gesellschaft oder Bürgergesellschaft übersetzt wurde. Im Folgenden werde ich den Begriff »Zivilgesellschaft« gebrauchen, weil er einen stärkeren Anschluss an die internationalen Debatten hält und sich – verglichen mit »Bürgergesellschaft« – zudem stärker in Deutschland etabliert hat. Nachdem der Begriff also für lange Zeit vergessen war, waren es vor allem politische Akteure und weniger die Wissenschaft, die ihn wiederbelebten. So spielte der Begriff unter polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Dissidenten und Bürgerrechtlern in ihrem anti-totalitären Kampf gegen kommunistische Regimes eine große Rolle. Nach dem Scheitern von Reformversuchen in Ungarn und Polen 1956 und dem Prager Frühling in der Tschechoslowakei 1968 setzten die ostmitteleuropäischen Dissidenten ab den 1970er Jahren verstärkt auf eine Reform von unten (Klein 2001, S. 36). Über den schrittweisen Ausbau kultureller Freiheiten und selbst organisierter Öffentlichkeiten strebten sie eine wachsende Autonomie gesellschaftlicher Handlungsräume an. Es ging nicht länger um eine Eroberung der politischen Macht, sondern um eine Begrenzung derselben von innen heraus. Eine Zivilgesellschaft in Form von freien Assoziationen der Bürger und autonomer Öffentlichkeiten sollte dem totalitären Staat gegenübergestellt werden. Diese versuchte man schrittweise über einen »neuen Evolutionismus« (so die Kennzeichnung Adam Michniks) zu erreichen: Indem Familien- oder Freundesnetzwerke zu größeren Assoziationen ausgebaut wurden, strebte man eine »zweite Gesellschaft« oder »parallele Polis« an. Autonome Kultur- und Bildungseinrichtungen, unabhängige Kommunikationsnetzwerke wurden geschaffen, Literatur verbreitet und diskutiert (Samisdat) sowie unabhängige Gewerkschaften gegründet. Diesen Strategien lag eine spezifische Diagnose des Totalitarismus zugrunde (ebd., S. 37): Die Dissidenten sahen das Zusammenspiel von politischem Macht- und ideologischem Wahrheitsmonopol als Grundlage totalitärer Herrschaft und versuchten, den ideologischen Wahrheitsanspruch der kommunistischen Parteien von unten durch zivilgesellschaftliche Räume und Öffentlichkeiten zu delegitimieren. Um dies zu erreichen, versuchten sie moralische Autonomie und rechtlich geschützte Freiheitsräume auf der Basis der Menschen- und Bürgerrechte durchzusetzen. Dabei bezogen sie sich
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auf die Vereinbarungen der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, in denen die Souveränität und die Grenzen der osteuropäischen Staaten anerkannt wurden, wofür sich diese aber zugleich auf die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte verpflichten mussten. In Polen gründete sich daraufhin 1976 »KOR«, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, und bereits im Danziger Abkommen von 1980 wurde die Gewerkschaft Solidarnos´c´ zugelassen, was das Ende der Parteikontrolle über die Öffentlichkeit bedeutete. Auch das sich anschließende Kriegsrecht konnte die Gewerkschaft nicht zerschlagen. In der Tschechoslowakei wurde die »Charta 77« gegründet, die sich ebenfalls auf die Schlussakte von Helsinki berief. Václav Havel prägte den Diskurs der tschechischen Dissidenten durch die Formel »Leben in der Wahrheit«, womit ein autonomes, moralisches und authentisches Leben jenseits des Staates und seiner Ideologie ermöglicht werden sollte. Auch im wirtschaftlich liberalisierten Ungarn entstand eine zweite, unabhängige Öffentlichkeit, die maßgeblich von György Konrads Formel einer »Antipolitik« geprägt wurde (Luks 1987, S. 585). Festzuhalten ist, dass es in allen drei Ländern zivilgesellschaftliche Bestrebungen gab, die auf den Aufbau staatsunabhängiger Vereinigungen und die Einforderung grundlegender Bürger- und Menschenrechte zielten. Aus den Debatten zivilgesellschaftlicher Akteure Ostmitteleuropas, aber auch Lateinamerikas, wanderte der Begriff in den 1980er Jahren in die politikwissenschaftliche Transformationsforschung. Dort wurde ein Konzept entwickelt, das der Zivilgesellschaft in den drei Phasen des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie – Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung – verschiedene Rollen zuweist (vgl. Lauth 2003). Doch auch in den etablierten Demokratien wurde der Begriff der Zivilgesellschaft schon vor 1989 diskutiert, etwa in den post-marxistischen Debatten in Frankreich, die sich mit den Namen Claude Lefort, Alain Touraine und Pierre Rosanvallon verbinden, oder im angelsächsischen Raum maßgeblich befördert von Jean Cohen, Andrew Arato und John Keane. Dort wie auch in der Bundesrepublik, wo man die Arbeiten dieser Autoren rezipierte, waren es die neuen sozialen Bewegungen, die mit dem Begriff der Zivilgesellschaft als ein Modell radikaldemokratischer Reformpolitik in Verbindung gebracht wurden (Klein 2001, S. 33). In den westlich-demokratischen
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Ländern ging es in den 1980er Jahren um eine Alternative zum Staatsinterventionismus einerseits und zur reinen Marktwirtschaft andererseits. Darüber hinaus verband man mit den sozialen Bewegungen und dem Konzept der Zivilgesellschaft die Hoffnung auf eine Selbststeuerung der Gesellschaft. Während es im Osten und im Süden um die Überwindung totalitärer und autoritärer Regime ging, verknüpfte sich im Westen in jenen Jahren mit der Zivilgesellschaft das Projekt, die Demokratien demokratisieren zu wollen. Nichtsdestotrotz machen Jean Cohen und Andrew Arato (1992, S. 70 f.) einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen unterschiedlichen Diskussionskontexten aus: Die in den 1980er Jahren in verschiedenen Ländern geführten Debatten hatten einen post-marxistischen Charakter; es ging zum einen um eine Kritik des Staates, zum anderen um eine Alternative zu Reform und Revolution, die in ein Projekt der Transformation bestehender Zivilgesellschaften münden sollte. Bedeutsam war in diesem Zusammenhang auch, dass Marx’ pejorativer und verkürzter Begriff von Zivilbeziehungsweise bürgerlicher Gesellschaft kritisiert und überwunden wurde. Zivilgesellschaft konnte dadurch als Begriff, der etwas Wünschenswertes ausdrückt, wiederentdeckt werden. Nach dieser Wiederentdeckung und Rückverwandlung von Zivilgesellschaft in ein positives Zukunftsprojekt dauerte es nicht mehr lange, bis seine Erfolgsgeschichte dem Höhepunkt zustrebte. In den USA wurde der Begriff zu Beginn der 1990er Jahre in breiteren Kreisen diskutiert, als nach den exzessiven Jahren von Individualismus und Reaganomics die Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft wuchs. Die so genannten Kommunitarier, die sich seit Mitte der 1980er Jahre für stärkere Gemeinschaftsbindungen in der amerikanischen Gesellschaft einsetzen, griffen ihn auf und setzten ihn teilweise mit dem Begriff der Community gleich. Ab Mitte der 1990er Jahre ist die Verwendungsweise des Begriffs kaum noch überschaubar. Immer mehr Wissenschaftler, Aktivisten und Politiker weltweit bezogen sich auf ihn und gaben ihm immer wieder neue Wendungen. Ein paar wenige Stichworte müssen genügen, um dies zu umreißen: Momentan wird die Debatte um wirtschaftliche Globalisierung von der Frage begleitet, inwieweit eine neue Form von Global Governance, an der die transnationale Zivilgesellschaft beteiligt werden soll (z.B.
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Edwards 2000), dem global ungebändigten Kapitalismus Fesseln anlegen kann. In der Bundesrepublik stellte im Jahr 2002 die EnqueteKommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« ihren Abschlussbericht vor. Das freiwillige Engagement in der Zivilgesellschaft wird als Bedingung für eine lebendige Demokratie genannt und als zentral für die Zukunft der Arbeit und des Wohlfahrtsstaates bezeichnet (Enquete 2002). Freiwilliges Engagement – das Spenden von Zeit und Geld – gilt mittlerweile als Kennzeichen einer lebendigen Zivilgesellschaft und als Garant dafür, dass in einer Gesellschaft genügend »Sozialkapital« vorhanden ist, um sie vor dem Auseinanderdriften zu bewahren. Bürger- beziehungsweise Gemeinsinn wird als eine Ressource betrachtet, die für das Funktionieren von demokratischen Gesellschaften bedeutsam ist und nicht versiegen darf. Manche identifizieren den so genannten Nonprofit- oder Dritten Sektor mit der Zivilgesellschaft, andere weisen in den Debatten um den Umbau des Sozialstaates regelmäßig auf die Eigenverantwortung des Bürgers und das bürgerschaftliche Engagement hin. Denn die Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft wird sogar als »Heilmittel gegen die krankhafte Ausdehnung staatlichen Handelns« gesehen (Adenauer Stift. 2003, S. 6). Die Zivilgesellschaft wird also nicht nur für verschiedene politische Projekte bemüht, der Begriff meint auch jeweils sehr Unterschiedliches. Dabei bleiben viele Fragen offen. So ist zum Beispiel unklar, ob die Wirtschaft beziehungsweise wirtschaftliche Organisationen in das Konzept der Zivilgesellschaft aufgenommen werden sollten. Wirtschaftsliberale und Konservative tendieren dazu, wirtschaftliche Eigenverantwortlichkeit in das Konzept zu integrieren, während Linksliberale zumeist eine klare Trennlinie zwischen Ökonomie und Zivilgesellschaft ziehen. Sodann stellt sich die Frage des Verhältnisses der Zivilgesellschaft zum Staat. Liberale und Konservative erkennen an, dass die Zivilgesellschaft den demokratischen Prozess belebt, plädieren aber für eine klare Trennung von Staat und Gesellschaft. Der Staat habe sich aus der gesellschaftlichen Sphäre herauszuhalten. Damit ist die Zivilgesellschaft aus dieser Sicht eher ein unpolitischer Schutzraum gegenüber dem Staat – als intellektuelle Gewährsperson wäre hier John Locke anzuführen. Vom Republikanismus oder Post-
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marxismus inspirierte Theoretiker und Praktiker der Zivilgesellschaft sehen sie als Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Gesellschaft, betonen ihren genuin politischen Charakter und streben Formen zivilgesellschaftlicher Selbstregierung an – Bezüge zu Tocqueville oder Dewey lassen sich hier finden. Schließlich spielt in aktuellen Debatten die Frage nach dem sozialen oder politischen Zusammenhalt moderner Gesellschaften eine große Rolle. Kommunitarier betonen, dass es starker gemeinschaftlicher Bindungen bedarf, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten; andere sehen darin eher Gefahren für eine liberale Gesellschaft und betonen die Wichtigkeit einer wechselseitigen Anerkennung als Staatsbürger – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Analog zu den unterschiedlichen Bestimmungen dessen, was man sich unter Zivilgesellschaft vorstellt und was an ihr wünschenswert ist, gibt es zu ihr auch unterschiedliche Gegenbegriffe. Diese weisen darauf hin, wogegen sich der Zivilgesellschaftsbegriff in verschiedenen historischen Konstellationen richtet und können auch jetzt helfen, Klarheit in den verwirrenden Debatten zu gewinnen. Der Politikwissenschaftler Volker Heins (2002, S. 11) nennt drei solcher Gegenbegriffe: 1. das Fanatische und Barbarische, 2. das Staatlich-Militärische, 3. den Produzenten. Bevor der Begriff der Zivilgesellschaft sich gegen einen übermächtigen, absolutistischen Staat wandte, richtete er sich gegen die Abwesenheit staatlicher Ordnung. So beschreibt Heins etwa Jean Calvin als Pionier der Kritik des Barbarischen und Fanatischen: Er setzte sich für einen modernen Staat und ein ziviles Miteinander ein (ebd., S. 25). Auch viel später noch – z.B. bei Hannah Arendt – findet sich das Bild von Barbarei und einem wütenden Mob als Gegenbild zur Zivilgesellschaft, und noch die heutigen Debatten um ziviles Handeln sind davon bestimmt. Der zweite, spätere Gegenbegriff bezieht sich auf die Furcht vor einer umfassenden und unterdrückenden Ordnung, einer überbordenden Bürokratie, die Max Weber als ein »stahlhartes Gehäuse« bezeichnete, oder man denke an George Orwells Kontrollstaat in 1984, der je nach politischer Einstellung mit den »spätkapitalistischen« oder den totalitären Staaten des »Ostblocks« identifiziert wurde. Im Unterschied dazu ist der »Produzent« beziehungsweise der kapitalistische Bourgeois kein so eindeutiger Gegenbegriff zur Zivilgesellschaft: Wird er in liberalen Konzeptionen der Zivilgesell-
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schaft zugeschlagen, bildet er in anderen – wie der Gramscis – einen Gegenbegriff zu ihr. Allen Abgrenzungen ist jedoch gemein, dass zum Kern der Zivilgesellschaft die Sozialfigur des zivilisierten Citoyen als ihr Träger gezählt wird. Der gesellschaftliche Diskurs um Zivilgesellschaft beinhaltet also immer Ein- und Ausgrenzungen, kultursoziologisch gesprochen: Der Zivilgesellschaftsbegriff verfügt über Kategorien des »Reinen« und »Unreinen«, das heißt es wird implizit ausgehandelt, was und wer aus dem Bereich des gesellschaftlich Akzeptablen ausgeschlossen wird beziehungsweise mit wem man solidarisch ist (ebd., S. 82). Solidarität in realen Zivilgesellschaften bildet sich mithin durch Grenzziehung gegenüber einem »Anderen« der Zivilgesellschaft, sei es gegenüber dem Barbaren, dem Staat oder dem rein eigennützigen Wirtschaftssubjekt. Zivilgesellschaft ist demnach sowohl ein normativ aufgeladener Begriff als auch einer, der reale Phänomene kennzeichnen will. Das heißt: Zivilgesellschaft bezeichnet zugleich ein Ideal und eine spezifische Verfasstheit von Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Staat. Die Fruchtbarkeit des Konzeptes muss sich darin beweisen, dass diese Ambiguität sinnvoll und produktiv nutzbar gemacht wird – für politische wie vor allem auch für wissenschaftliche Zwecke. Bisher klafft noch eine Lücke zwischen theoriegeschichtlichen Arbeiten zum Zivilgesellschaftsbegriff und empirischen Untersuchungen zu Nonprofit-Organisationen, Sozialkapital und freiwilligem Engagement. Diese Lücke soll hier geschlossen werden, indem beide Dimensionen Berücksichtigung finden. Das erste Kapitel geht der Ideengeschichte des Begriffs Zivilgesellschaft nach – von der Antike bis hin zu aktuellsten Verwendungsweisen. Hier werden wir es hauptsächlich mit Theorien aus der politischen Philosophie zu tun haben, aber auch Soziologen haben im 20. Jahrhundert zur Weiterentwicklung von Theorien zur Zivilgesellschaft beigetragen. Das zweite Kaptitel richtet den Blick auf den historischen Prozess der Staatsbildung, da diese für die Herausbildung europäischer Zivilgesellschaften und ziviler Umgangsformen zentral war. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der »unzivilen Zivilgesellschaft« Deutschlands im Kaiserreich und der Weimarer Republik, das vierte mit den Organisationen des so genannten Nonprofit-Sektors, die viele als zivilgesellschaftliche Akteure ansehen.
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Im fünften Kapitel wird es um das freiwillige Engagement von Bürgern und Bürgerinnen gehen, welches häufig unter dem Stichwort »Sozialkapital« verhandelt wird. Soziale Bewegungen werden im sechsten Kapitel als typische Akteure moderner Zivilgesellschaften vorgestellt. Anschließend wird geprüft, ob es mittlerweile transnationale Zivilgesellschaften gibt, auf europäischer oder globaler Ebene. Im letzten Kapitel werden einige noch offene Problemkreise angeschnitten. Ergänzt werden die Kapitel durch die Beschreibung einiger praktischer Initiativen zivilgesellschaftlichen Engagements. Danken möchte ich Jens Ehrhardt und Sabine Boshamer, der ich dieses Buch auch widme, für ihre konstruktive Kritik und wertvollen Hilfestellungen.
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1. Theorien der Zivilgesellschaft
Von der Antike zur Neuzeit Aristoteles’ Bürgergemeinde – Tugend und politisches Handeln – Ciceros societas civilis – Civitas und ecclesia bei Augustin und Thomas von Aquin Zivilgesellschaft oder bürgerliche Gesellschaft ist ein klassischer Begriff der europäischen politischen Philosophie, der auf Aristoteles’ (384/3 bis 322/1) Begriff der politike koinonia (lat. societas civilis) zurückgeht und wörtlich übersetzt soviel wie Bürgervereinigung oder Bürgergemeinde bedeutet (Riedel 1975, S. 720). Die Zivilgesellschaft ist hier synonym mit dem Herrschaftsverband der athenischen Bürgergemeinde (Polis). Der Begriff der Zivilgesellschaft beziehungsweise Bürgergemeinde in der wörtlichen Übersetzung illustriert, was die Polis ihrem Wesen nach ist: eine Gemeinschaft von Bürgern, die sich zum Zwecke des »guten«, das heißt des tugendhaften und glücklichen Lebens zusammenschließen. In seinem Buch Politik (1989) führt Aristoteles aus, dass Menschen in verschiedenen gemeinschaftlichen Sphären leben: Zum einen setzt sich der Staat (die Polis) aus Familien und Häusern beziehungsweise Dörfern zusammen; zum anderen werden die Polisbewohner nach freien Bürgern und Unfreien (Nicht-Bürger, Knechte, Sklaven) klassifiziert. Nur die Freien partizipieren an der Sphäre des Politischen, während die Unfreien an den privaten Haushalt beziehungsweise die Sphäre des Ökonomischen (den oikos) gebunden bleiben (Riedel 1975, S. 723). Die politische Herrschaft in Athen ist eine Herrschaft von Freien über Freie auf der Grundlage des Rechts, während die gleichsam private, ökonomische Herrschaft über Unfreie
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(Sklaven) und Freie minderen Rechts (Frauen) ausgeübt wird. Aristoteles’ Verständnis der Polis beziehungsweise der Zivilgesellschaft beruht also auf einem aristokratischen Republikanismus, der auf tugendhafte, männliche und freie Bürger setzt, die über genügend Eigentum und freie Zeit verfügen, um sich um die politischen, also öffentlichen Belange zu kümmern. Dieses Demokratieideal hallt in der Geschichte des politischen Denkens bis heute nach. Reinhart Koselleck (1991) hat darauf hingewiesen, dass trotz der enormen Bedeutungsverschiebungen der Begriff Zivilgesellschaft nie die inhaltliche Bestimmung verloren hat, dass die Bürger sich selbst bestimmen, dass sie sich frei und politisch selbst organisieren sollen. Im griechischen politischen Diskurs diente die Selbstbeschreibung als Polis auch dazu, eine scharfe Trennungslinie nach außen gegenüber denen zu ziehen, die nicht zivilgesellschaftlich in einer Polis vergesellschaftet waren, nämlich die so genannten Barbaren. Nach innen wurde das private, individuelle Interesse abgewertet: Ihr »natürliches« Potential können Menschen nur als tugendhafte Bürger durch politisches Handeln entfalten. Dies ist auch ein Grund dafür, dass Aristoteles ökonomische Tätigkeiten nicht deutlich von anderen Tätigkeiten innerhalb des privaten Haushalts (oikos) unterschied. Solange das ökonomische Handeln solchermaßen eingebettet blieb, war es kein Gegenstand der politischen Philosophie. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft – wie sie für uns selbstverständlich ist – wird im antiken politischen Denken nicht vorgenommen. In der römischen Philosophie wird zwar auch stellenweise von der Zivilgesellschaft gesprochen – Cicero (106–42) gibt den griechischen Begriff mit societas civilis wieder –, doch hat er längst nicht den systematischen Stellenwert wie in der griechischen Antike. Eine Erweiterung erfährt der Begriff der Zivilgesellschaft allerdings darüber, dass seit dem ersten Jahrhundert vor Christus das römische Stadtbürgerrecht ausgeweitet wurde, bis es 212 n. Chr. schließlich allen freien Bewohnern des Imperiums zukam. Seitdem kann sich der Begriff Bürgerschaft sowohl auf die Heimatgemeinde als auch auf den politischen Großverband beziehen (Koselleck 1991, S. 120). Der Zusammenbruch des römischen Imperiums markiert das Ende der klassischen Konzeption von Zivilgesellschaft als einer politisch
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organisierten Bürgerschaft. Mit der Ausbreitung des Christentums treten sich Polis beziehungsweise civitas und Kirche beziehungsweise ecclesia gegenüber. So wertet Augustinus (354–430) die Zivilgesellschaft aufgrund seiner Interpretation der Erbsünde ab: Civitas terrena – das weltliche Reich – beruht auf Konflikt, Kampf und Krieg. Der Staat ist daher ein notwendiges Übel zur Eindämmung dieser gewalttätigen Tendenzen; Gutes kann dagegen nur aus Gottes Gnade herrühren, nicht aus dem politischen Miteinanderhandeln (Ehrenberg 1999, S. 30 ff.). Die civitas dei (der Gottesstaat), Glaube und Gnade sind nun wichtiger als Vernunft und politisches Handeln. Damit wurde ein entscheidender Bedeutungswandel eingeleitet, denn der Gottesstaat vermochte jeden zu umfassen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Alter usw. »Die Teilhabe am Gottesstaat verlieh einem Christen spirituelle Bürgerqualitäten ohne Rücksicht auf seine weltliche Lage«, betont Koselleck (1991, S. 120). Mit der Übersetzung der Schriften Aristoteles’ ins Lateinische während des 13. und 14. Jahrhunderts nimmt die Interpretation des Begriffs Zivilgesellschaft einen neuen Aufschwung. Bei Thomas von Aquin (1225–1274) kreist die politische Philosophie um die beiden Pole Zivilgesellschaft (communitas civilis) und die überweltliche Gemeinschaft in Gott (communitas divina). Zivilgesellschaft steht im stufenförmigen Aufbau der Gesellschaftsformen (Riedel 1975, S. 728) in der Mitte zwischen der häuslichen Gemeinschaft (Aristoteles’ oikos) und der göttlichen Gemeinschaft (Augustinus’ civitas dei). Der Begriff erfährt eine bedeutsame Aufwertung, da der Staat als notwendiges Mittel zur Eindämmung der Sünde begriffen wird. Zivilgesellschaft und Staat werden bei Thomas weiterhin synonym gebraucht (societas civilis sive res publica) und bezeichnen die Vielzahl politischer Herrschaftsverbände – Herrscher und Vasallen, Dörfer, Städte, Stände usw. Jeder Hausherr, der über Haus und Hof, Frau, Kinder und Gesinde verfügen konnte, war im Mittelalter der politischen Herrschaft fähig: partizipierend an der Rechtsprechung oder Verwaltung einer Gemeinde, »als Mitglied oder Repräsentant von Ständen, schließlich und vor allem als fürstlicher Herr über ein Territorium. Im Sinne dieser überkommenen, der ständischen Erfahrung angepaßten Theorie«, resümiert Koselleck (1991, S. 120) »waren freie Bauern, Stadtbürger oder Mitglie-
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der des niederen oder hohen Adels immer cives der societas civilis«. Die Vielfältigkeit der Herrschaftsverbände im Mittelalter unterscheidet sich mithin deutlich von der griechischen Polis, sodass man sagen kann, dass der Begriff der Zivilgesellschaft nun eine größere Pluralität an Vergesellschaftungs- und Herrschaftsformen bezeichnet. Auch wenn die Reformation den scholastischen Aristotelismus kritisierte, behielt sie die Terminologie zur Beschreibung der Gesellschaftsstruktur bei. So formuliert beispielsweise auch Martin Luther eine Lehre von den zwei Reichen, dem geistlichen und dem weltlichen. Eine wesentliche Veränderung, die für das politische Denken und Handeln von Bedeutung ist, ist allerdings mit der Reformation verbunden: Individueller Glauben und Gewissen werden einerseits gegenüber dem kirchlich-hierarchischen Einfluss aufgewertet, andererseits aber auch dem Privatbereich zugeordnet und aus der öffentlichen Sphäre des Staates verdrängt (Ehrenberg 1999, S. 69). Eine Säkularisierung staatlichen und zivilgesellschaftlichen Handelns ist hier gewissermaßen schon angedeutet.
Zivilgesellschaft, Staat und Markt: Von Hobbes zu Tocqueville Thomas Hobbes und der Absolutismus – Entpolitisierung der Gesellschaft – John Locke und der Schutz des Privatraums – Zivilgesellschaft versus Staat – Zivilgesellschaft und Märkte: Ferguson und Smith – Montesquieu und Rousseau – Zwei Linien der politischen Theorie – Hegels integrative Theorie der bürgerlichen Gesellschaft – Tocqueville und die amerikanische Demokratie Die Entwicklung hin zu absolutistischen Regimes in Europa repräsentiert die Scheidelinie zwischen den traditionellen und den modernen Bedeutungen von »Zivilgesellschaft« (Cohen/Arato 1992, S. 86) aufgrund von zwei grundlegenden Veränderungen. Erstens ist der Fürst nicht länger primus inter pares einer Pluralität von Herrschaftsverbänden wie während der Zeit des Feudalismus, sondern der Souverän, der
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über das physische Machtmonopol des Staates verfügt. Weiterhin werden die früher an der Herrschaft partizipierenden Verbände (Gilden, Zünfte usw.) entpolitisiert, als der fürstliche Souverän alle politische Entscheidungsgewalt an sich zieht. Und schließlich verlieren die privilegierten Stände (Adel und Klerus) ihre Vorrechte und treten in Konkurrenz zum sich formierenden Bürgertum. Der große Denker des Absolutismus, der mit allen traditionellen Voraussetzungen bricht, ist Thomas Hobbes (1588–1679), dessen Theorie bis heute einen wichtigen Referenzpunkt jeglicher politischer Theorie bildet, hat er doch eine radikale Lösung des Problems präsentiert, wie ein Zusammenleben möglich ist, obwohl »der Mensch des Menschen Wolf ist«. Die souveräne Herrschergewalt – der Staat – steht bei Hobbes in keinem politischen Verhältnis mehr zur Zivilgesellschaft beziehungsweise societas civilis. In seinem Hauptwerk Leviathan (1651) nimmt Hobbes denn auch die societas civilis ganz aus der Definition des Staates aus. Für Hobbes hat die Idee vom Bürger als eines Menschen, der sein eigener Herr ist, keine Bedeutung mehr. Dem Souverän – dem alleinigen Inhaber der Gewalt – stehen alle Bürger als Untertanen gegenüber. Die Bürgerschaft ist damit apolitisch geworden. Ausgangspunkt der Epoche des Absolutismus war der religiöse Bürgerkrieg. Auf die epochale Frage des europäischen Kontinents: »Wie kann Frieden hergestellt werden?«, bildete der Absolutismus die geschichtliche Antwort (Koselleck 1973, S. 13). Die Fürsten setzten sich gegen die religiösen Parteien durch und brachen damit das Primat des Religiösen. Auf Beamte und das Militär gestützt bildete der Fürstenstaat einen überreligiösen Handlungsbereich heraus, der sich von moralischen Beschränkungen befreite und danach trachtete, alle eigenständigen gesellschaftlichen Institutionen auszuschalten. Nur wenn alle Untertanen absolut dem Herrscher unterworfen seien, könne dieser die Verantwortung für Frieden und Ordnung übernehmen, so lautete die Logik des Absolutismus. Hobbes hatte die Ausformung des absolutistischen Staates in Frankreich miterlebt und hoffte, eine Umsetzung seiner Ideen könne den drohenden Bürgerkrieg in England verhindern beziehungsweise ihn nach Ausbruch schleunigst beenden. Die nach Macht strebenden Menschen können Hobbes zufolge von sich aus keinen Frieden herstellen; es herrscht, durch die divergierenden
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Gesinnungen und Gewissen angeheizt, ein Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes). Die Lösung liegt für Hobbes darin, den privaten Gesinnungen und Gewissen keinen Einfluss auf die Gesetzgebung zukommen zu lassen. Der Staat ist die Sphäre, in der den privaten Gesinnungen ihre politische Wirkung genommen wird (ebd., 23). Der souveräne Fürst steht über den Gewissen und dem Recht beziehungsweise ist die Quelle desselben. Seine Autorität – und nicht die Moral – entscheidet und spricht Recht: Auctoritas, non veritas facit legem. Akzeptiert wird die vom Staat ausgeübte Macht, weil die Menschen seine Gewalt fürchten. Der Staat stellt für seine Bürger und Bürgerinnen Ordnung und Frieden her und verlangt im Gegenzug Gehorsam. Die Staatsräson schafft mit dieser Konstruktion zwei Räume: zum einen Gesetze, die Ausfluss des fürstlichen Willens und formal rechtens sind, aber inhaltlich nicht durch Moral kontrolliert werden. Auf der anderen Seite interessiert den Staat die Sphäre der Gesinnungen nicht länger, diese werden in den privaten Raum verschoben. Diesen privaten Raum wollte dann später John Locke (1632–1704) rechtlich schützen und dem Staat Grenzen seiner legitimen Aktivität aufzeigen. Locke lebte in einer Zeit, in der sich immer dringlicher die Frage stellte, wie gesellschaftliche beziehungsweise staatliche Ordnung aus sich selbst – ohne Rekurs auf Gott als höchste Instanz – begründet werden konnte. Das moderne Individuum tauchte damit langsam am geistesgeschichtlichen Horizont auf, und John Locke trug dieser Reorientierung in seiner politischen Theorie als einer der ersten Rechnung. Locke rückt das naturrechtlich begründete Recht auf Eigentum in das Zentrum seiner Überlegungen. Die private Aneignung der Natur und der Produkte der Arbeit ist für Locke ein natürlicher Prozess (Locke 1977 [1690], S. 215 ff.), da der Mensch im Naturzustand ebenfalls diese Rechte kenne. Die mit dem menschlichen Handeln verbundene Aneignung von Eigentum gab es für Locke also schon vor der Existenz des Staates – Staat und Zivilgesellschaft sind demgegenüber abgeleitete und nicht ursprüngliche Phänomene. Die politische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch den staatlichen Schutz des Eigentums, eine staatliche Gesetzgebung und ein Gerichtswesen, das bei Streitigkeiten angerufen werden kann. Missbraucht eine Regierung das Vertrauen ihrer Untertanen und schützt das Eigentum
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derselben nicht, wird das Volk nach Locke »von jedem weiteren Gehorsam befreit« (ebd., S. 338). Im Gegensatz zu Hobbes geht es ihm darum, den Handlungsmöglichkeiten absoluter Herrscher Schranken aufzuerlegen. Darüber hinaus wird der Gemeinschaft der Untertanen beziehungsweise Bürger auch durch die öffentliche Meinung ein gewisser Einfluss auf den Herrscher eröffnet. Damit tritt der private Innenraum der gesellschaftlichen Moral den staatlichen Gesetzen potentiell antagonistisch gegenüber (Koselleck 1973, S. 46 ff.) – ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Scheidung von autonomer Zivilgesellschaft und Staat. Auch wenn Lockes Theorie praktisch schon die Unterscheidung von Staat und (Zivil-)Gesellschaft vollzieht, spiegelt sich diese Trennung nicht in seiner Terminologie wider. Eine begrifflich konsequente Separierung von Staat und Zivilgesellschaft findet sich erst bei Autoren des 18. Jahrhunderts, insbesondere bei den schottischen Aufklärern. In den Jahren 1750 bis 1850 wird die Austauschbarkeit der Begriffe »Staat« und »Zivilgesellschaft« einer radikalen Kritik unterzogen, und schrittweise setzt sich unser heutiges Verständnis von Zivilgesellschaft durch, nach dem die Zivilgesellschaft nicht mit dem Staat identisch ist, sondern ihm – gewissermaßen autonom – gegenüber steht. Was über diese Abgrenzung hinaus jedoch das positive Kennzeichen von Zivilgesellschaft ist, darüber herrscht keine Einigkeit. In der Nachfolge Lockes wird zunächst eine Variante vertreten, die die entstehende Zivilgesellschaft mit der aufkommenden kapitalistischen Ökonomie gleichsetzt. Der Wirtschaftsbürger wird zum Träger des zivilgesellschaftlichen Projekts. Dies ist in dem wohl berühmtesten Werk der Ökonomie – The Wealth of Nations (1776) von Adam Smith – herausgearbeitet worden. Doch für die Konturierung des neuen Verständnisses von Zivilgesellschaft ist Adam Ferguson (1723–1816), ein anderer Vertreter der schottischen Aufklärung, und sein Essay Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1986 [1767]) mindestens genauso wichtig, auch wenn er lange Zeit in Vergessenheit geraten war und ihm nicht die Aufmerksamkeit entgegenbracht wurde, die sein Werk verdient (vgl. Kalyvas/Katznelson 1998; Batscha/Medick 1986). Ferguson warnt vor despotischer Macht – also willkürlicher Gewaltherrschaft – und einer zu starken Verfolgung von Privatinteressen in
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der Marktökonomie. Er erkennt deutlich, wie die kapitalistische Ökonomie Eigennutz freisetzt und prämiert. Dem hält er jedoch entgegen, dass dem Menschen ebenfalls eine »freundschaftliche Veranlagung«, eine »Regung der Menschlichkeit und Unparteilichkeit« zu eigen ist (Ferguson 1986, S. 141), die zum Eigennutz ein Gegengewicht darstellt. In der Zivilgesellschaft geht es Ferguson nun genau darum, dass politisch engagierte Bürger ihre nicht-kommerziellen ethischen Ambitionen verwirklichen: »Erst in der Führung der Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft finden die Menschen Gelegenheit zur Betätigung ihrer besten Fähigkeiten wie auch den Gegenstand ihrer besten Regungen« (ebd., S. 301) – und damit meint Ferguson gerade nicht kommerzielle Geschäfte. Die zeitgenössische Zivilgesellschaft nimmt er ambivalent wahr: Er sieht sie einerseits als gefährdet durch Markt und staatlichen Despotismus beziehungsweise durch die menschliche Korruption, andererseits sieht er in der zeitgenössischen – civilized oder polished – Zivilgesellschaft durchaus einen Fortschritt gegenüber früheren »barbarischen« Zuständen bei den »rohen Völkern«. Allerdings ist der moralische Fortschritt von einer zunehmenden sozialen Ungleichheit gefährdet, die auf das eigennützige Streben der Menschen in einer Marktökonomie zurückgeht. Aus diesem Grund betrachtet er auch die zunehmende Arbeitsteilung als ein zweischneidiges Schwert, das einerseits höhere Effizienz und gewachsenen Wohlstand bedeutet, andererseits aber politische Apathie und Korruption (vgl. Keane 1988, S. 41) sowie menschliche Verkümmerung mit sich bringt: »Das Verlangen nach Gewinn erstickt die Liebe zur Vollkommenheit. Interesse ernüchtert die Einbildungskraft und verhärtet das Herz« (Ferguson 1986, S. 388). Wie kann der Verfall des öffentlichen Lebens gestoppt werden? Hier setzt Ferguson ganz auf den aristokratischen Geist und fordert, dass die (männlichen, Eigentum besitzenden) Bürger beziehungsweise die »Gentry« sich nicht dem Eigennutz hingeben, sondern ihren Gemeinsinn ( public-spiritedness) erhalten und die unteren Schichten gleichsam mitziehen sollten. Nur ein »Mehr« an aristokratisch-republikanischer Zivilgesellschaft könne die Zivilgesellschaft vor einem »Zuviel« an Kommerzialisierung und Despotismus schützen. Adam Smith (1723–1790) dagegen entwickelte eine »bürgerliche« Konzeption der Zivilgesellschaft. Als erster stellte er die Aktivität des
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Wirtschaftsbürgers (des bourgeois) ins Zentrum seiner Theorie. Smith schrieb zu einer Zeit des Zusammenbruchs des Merkantilismus, der Entstehung erster industrieller Produktion und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft. Die Zivilgesellschaft ist für Smith in etwa deckungsgleich mit der neuen Marktökonomie, und eine moralische Regulierung scheint nicht länger notwendig, da die Zivilgesellschaft für ihn eine Sphäre von autonomisierten, von staatlicher Regulierung freigesetzten, wirtschaftlichen Aktivitäten ist, die auf einem marktorganisierten Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten beruht. Nicht das tugendhafte Verhalten aller ist Garantie für das Gemeinwohl, sondern die marktmäßige Koordination von Handlungen, die auf Eigennutz beruhen, führt letztlich zum Wohle aller. Auch wenn Smith seiner politischen Ökonomie eine Theorie der ethischen Gefühle (1759) zur Seite stellte und somit die Moralphilosophie für alles andere als überflüssig erklärte, ging die Rezeption Smiths in eine andere – radikalere – Richtung. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert verbindet man mit Smith die Idee, dass das wirtschaftliche Eigeninteresse unter Marktbedingungen allen nutze. Eine Gemeinwohlorientierung der Handelnden ist aus dieser Perspektive nicht länger nötig, da sich das Gemeinwohl auch von alleine aufgrund funktionierender Marktmechanismen durchsetzt (Münkler/Bluhm 2001, S. 22). Aus diesem Grund wurde die im Konzept der »unsichtbaren Hand« liegende Umkehrung von Privat- und Gemeinwohl auch als »semantischer Coup des Liberalismus« (Münkler/Fischer 1999) bezeichnet, einfach deshalb, weil das Problem der Spannung zwischen Privatinteresse und Gemeinwohl fortdefiniert wurde. Mit Smith verbindet sich heute also ein wirtschaftszentriertes Modell von Zivilgesellschaft, das seine Ursprünge deutlich im Lockeschen Eigentumsschutz aufweist. Der Staat ist gehalten, zwar Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Aktivitäten zu schaffen und zu schützen, aber darüber hinaus soll er der sich selbst organisierenden Wirtschaftsbürgerschaft einen möglichst großen Handlungsspielraum überlassen. Eine ebenso wichtige, allerdings anders ausgerichtete Variante des politischen Denkens über Zivilgesellschaft findet sich in den Schriften Montesquieus (1689–1755). In seinem Werk Vom Geist der Gesetze (1748) entwirft Montesquieu eine Version von Zivilgesellschaft, die in manchen Zügen der heutigen Auffassung sehr nahe kommt. Obwohl
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er kein Demokrat war und an der Monarchie festhielt, geht auf Montesquieu das heute weit verbreitete Konzept von Zivilgesellschaft als einer intermediären Sphäre zwischen Staat und den einzelnen Bürgern und Bürgerinnen zurück. Montesquieu vollzieht ebenfalls eine Trennung zwischen dem Staat – das heißt der politischen Herrschaftsgewalt in der Hand des absolutistischen Herrschers sowie seiner Bürokratie – und der zivilen Gesellschaft (Riedel 1975, S. 746). Die Sphäre der Zivilgesellschaft ist jedoch nicht eine ausschließlich unpolitische und schon gar nicht als nur ökonomisch definiert zu denken, sondern wird von Montesquieu als eine vermittelnde Sphäre von großer politischer Bedeutung angelegt, soll sie doch den absolutistischen Herrscher daran hindern, despotisch zu regieren. Der französische Staatsbürger Montesquieu fürchtete die zentralisierenden Tendenzen der Monarchie seines Heimatlandes und blickte mit Bewunderung nach England, weil er dort eine soziale Ordnung errichtet sah, die weder auf Despotismus noch auf Anarchie beruhte. Die Aristokratie hatte dort zwar ihre zentrale Stellung verloren, war aber nicht völlig zerstört und fungierte als Puffer zwischen Krone und Volk (Ehrenberg 1999, S. 145). Die französische Monarchie betrachtete dagegen alle lokalen Privilegien des Adels mit Misstrauen und versuchte diese zu minimieren. Montesquieu verfolgte diese Entwicklung mit Sorge und warnte den König vor den Gefahren der Herrschaft des »Mobs« und das Volk vor der Gefahr des monarchischen Despotismus. Letzteren sah Montesquieu angesichts einer gesetzlosen Monarchie herannahen, in der der König allein regiert, während in einer ausgewogenen Monarchie intermediäre Gruppen des Adels die Geschicke des Landes mitbestimmen. Ohne diese steht der Untertan dem Staat als Einzelner schutzlos gegenüber – ganz so wie das Hobbes gefordert hatte. Die Bürgertugenden der klassischen Republik wollte Montesquieu mit der französischen Monarchie versöhnen; dazu dienten ihm die intermediären Institutionen der Zivilgesellschaft. In einer Zeit der Bedrohung genau dieser Körper schuf Montesquieu das erste Konzept von Zivilgesellschaft, das den Raum des Intermediären zwischen Bürger und Staat ins Zentrum der Betrachtung rückte. Montesquieus antiabsolutistischer Impuls verband sich bei JeanJacques Rousseau (1712–1778) mit radikal-republikanischen Gedan-
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ken der Selbstgesetzgebung. Die Konstitution der Volkssouveränität stellt sich Rousseau in seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag (1762) als einen Akt vor, der die eigennützig handelnden Individuen in gemeinwohlorientierte politische Bürger verwandelt. Die politischen Tugenden der Bürger garantieren den Ausdruck eines Gemeinwillens, der nicht die Summe aller individuellen Willen ist. Montesquieu strich heraus, dass die Gesetzgeber selbst den Gesetzen unterworfen sein sollten. Rousseau geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: »Das den Gesetzen unterworfene Volk muß auch der Urheber derselben sein« (Rousseau 1975 [1762], S. 71). Doch wie kann der »empirische«, also eigennützige und kurzfristige Wille des Volkes in den Gemeinwillen transformiert werden? Dies ist die zentrale Rousseausche Frage, auf die er nur unzureichende Antworten findet. Rousseau muss immer schon den ethischen Konsens der Bürger voraussetzen, um diesen Übergang vom Privatinteresse zum Gemeinwillen erklären zu können. Klaffen Einzelinteressen und der normativ unterstellte Gemeinwille auseinander, ist bei Rousseau nicht klar, wie diese Diskrepanz behoben werden kann, ohne Repression ausüben zu müssen. Rousseau steht geistesgeschichtlich für ein radikaldemokratisches und republikanisches Konzept von Zivilgesellschaft, das allerdings nicht wie Montesquieu den intermediären vermittelnden Raum zwischen Staat und Bürger kennt. Der souveräne Wille des Hobbesschen Herrschers wird von Rousseau der Gesellschaft zugesprochen. Ergebnis ist der Gemeinwille, die volonté générale, von der nicht klar ist, wie sie ohne Vermittlungsinstanzen ermittelt werden kann. Hier ist denn auch das Einfallstor für einen demokratischen Despotismus angelegt, wie viele Kommentatoren Rousseaus – Koselleck (1973, S. 137) spricht von einem Konzept der Volkssouveränität als einer »permanenten Diktatur« – herausgearbeitet haben. Doch obwohl Rousseaus Antwort auf seine aufgeworfenen Fragen unbefriedigend bleibt, begleiten diese Fragen die politische Theorie bis heute. In jeder republikanisch orientierten Theorie stellt sich nämlich die Frage, wie Einzelinteressen »geläutert« und mit dem Gemeinwillen zusammengeführt werden können. Sollten Demokratien, so lautet zugespitzt die entscheidende Frage, auf dem »empirischen« oder auf dem »vernünftigen« Willen der Bürger beruhen (Offe/Preuß 2003, S. 195)? Rousseaus republikanischer Ansatz
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formuliert hohe Anforderungen an die Bürger, indem er fordert, dass sie am Gemeinwohl orientiert sein sollten, während der liberale Strang des politischen Denkens die Anforderungen an die Einzelnen absenkt, indem das Gemeinwohl oder der Gemeinwille einfach als Aggregation der individuellen Präferenzen angesehen wird. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hat vor einigen Jahren (1991) herausgestellt, dass man die Geschichte des Zivilgesellschaftskonzeptes als eine Geschichte zweier Stränge des politischen Denkens rekonstruieren kann: den auf Locke zurückgehenden »LStrang« und den auf Montesquieu zurückgehenden »M-Strang«. Seine Unterscheidung soll uns dazu dienen, den bisherigen Argumentationsgang zu ordnen und auch den noch folgenden zu strukturieren. Locke bereitet Taylor (1991, S. 65) zufolge der Auffassung den Boden, dass die Gesellschaft ein vorpolitisch konstituierter Raum mit eigenen, von der Politik unabhängigen Rechten ist. Die (Zivil-)Gesellschaft ist in erster Linie eine Wirtschaftsgesellschaft, die sich in Akten der Produktion, des Tauschs und der Konsumtion konstituiert. Dieses Bild wird am deutlichsten von Smith gezeichnet. Taylor stellt heraus, dass die eigentlich revolutionäre Idee daran die Vorstellung ist, dass sich die Sphäre der Ökonomie selbst organisiert und ihren eigenen Gesetzen folgt. Die ökonomisch definierte Zivilgesellschaft emanzipiert sich auf diese Weise von der Politik. Doch der »L-Strang« kennt neben der Ökonomie noch eine weitere zivilgesellschaftliche Komponente. Während der Aufklärung bildet sich deutlich eine eigenständige Sphäre der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung heraus, die sich durch Assoziationen von Bürgern und die Verbreitung von Zeitungen und Büchern konstituiert. Der öffentliche Raum emanzipiert sich von den offiziellen Kanälen und Strukturen des Staates und der Kirchen. Das politische Credo des »L-Strangs« lautet daher, dass die Politik die Autonomie der Zivilgesellschaft in diesen zwar öffentlichen, aber nicht politisch strukturierten Bereichen zu respektieren hat. In diesen Kontext lässt sich die radikale Lehre Thomas Paines einordnen, der in seinem Werk Rights of Man (1791/92) betont, dass die Gesellschaft dem Staat vorausgeht. Der Staat ist nur ein notwendiges Übel, das auf der Übertragung von Macht zum Wohle der Gesellschaft beruht (Keane 1988, S. 45). Je mehr die Zivilgesellschaft ihre Anliegen
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selbst regelt, umso weniger Staat ist erforderlich, und der Souverän in Staat und Gesellschaft ist und bleibt der Bürger (ebd., S. 47). Diese Idee erfuhr nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung noch einige Transformationen und wurde später mit dem wirkmächtigen Konzept der »Nation« in Verbindung gebracht– heute würde kaum noch jemand der Vorstellung einer vorpolitischen Identität eines Volkes beziehungsweise dem Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes widersprechen. Eine andere, eher paradoxe wirkmächtige Transformation des »LStranges« findet sich in der Vision einer radikalen Selbstbestimmung der Gesellschaft, wie sie von Rousseau (vgl. oben) vertreten wurde. Der Staat verschwindet in dem angenommenen Gemeinwillen der Gesellschaft, der unabhängig von jeder politischen Struktur zu sein scheint. Rousseaus Beschwörung des Vorpolitischen liefert auf diese Weise die – wenn auch pervertierte – Vorlage für die »Diktaturen des Proletariats« des 20. Jahrhunderts (Taylor 1991, S. 75). Für Montesquieu ist – wie oben gezeigt – nicht das Recht einer vorpolitischen Gesellschaft der Ausgangspunkt, sondern eine monarchische Regierung, die durch Recht begrenzt werden soll. Eine Begrenzung kann jedoch nur gelingen, wenn unabhängige Körperschaften – corps intermédiaires – vorhanden sind, die vom Recht garantiert werden, dieses schützen und verteidigen. Zivilgesellschaft im »MStrang« ist also definiert durch ihre genuin politische Organisation und als Träger einer unabhängigen politischen Macht. Natürlich gibt es auch unpolitische Vereinigungsformen – private Vereine etwa –, doch ihre demokratietheoretische Bedeutung liegt nicht darin, dass sie eine unpolitische Sphäre konstituieren, sondern »daß sie die Grundlage für die Fragmentierung und Diversifizierung der Macht innerhalb des politischen Systems darstellen« (ebd., S. 77). Wie wir noch sehen werden, wird diese Linie des politischen und zivilgesellschaftlichen Denkens später von Tocqueville aufgenommen, dem größten Schüler Montesquieus im 19. Jahrhunderts – so Charles Taylor. Die im »L-Strang« angelegte Reduktion der Zivilgesellschaft auf eine vorpolitische Sphäre der Ökonomie zeigt sich dagegen in aller Deutlichkeit bei Karl Marx, der dieser Sphäre der »bürgerlichen Gesellschaft« als kapitalistische Gesellschaft als ihr schärfster Kritiker entgegentrat. Die nicht auf den Bourgeois und den Kapitalismus zurück-
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führbaren Komponenten des Zivilgesellschaftsbegriffs sah er nicht mehr. Hegel ist dagegen der Denker des frühen 19. Jahrhunderts, der die vielleicht komplexeste Integration des »L-« und des »M-Strangs« in seinem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft vornimmt. Die sich selbst regulierende Unternehmer-Ökonomie findet bei ihm genauso ihren Platz wie Körperschaften der Selbstverwaltung. Auch in Deutschland wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr die Zivil- beziehungsweise bürgerliche Gesellschaft (societas civilis) mit dem Staat (civitas, res publica) gleichgesetzt. In den Freimaurerlogen und insbesondere im Illuminatenorden wurde die neue Begrifflichkeit von Zivil- beziehungsweise bürgerlicher Gesellschaft rezipiert und diskutiert. Die Freimaurerei – so interpretiert sie Lessing beispielsweise – tritt dem »unvermeidlichen Übel«, dem Staat, entgegen. Das Geheimnis, das die Orden zu schützen trachten und das ihre politische Aktion zu verschleiern sucht, konstituiert einen moralischen Gegenraum zum Staat, in den dieser nicht einzudringen vermag. Immanuel Kants (1724–1804) Auseinandersetzung mit dem Begriff der bürgerlichen beziehungsweise Zivilgesellschaft war wirkungsgeschichtlich von nur geringem Einfluss, ging aber als Komponente in Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft ein. Kant definiert die bürgerliche Gesellschaft im Lichte universaler Menschenrechte unabhängig von allen partikularen juristischen und politischen Ordnungen (Cohen/ Arato 1992, S. 90). Als Ziel der menschlichen Entwicklung sieht Kant in seiner Geschichtsphilosophie eine universalistische bürgerliche Zivilgesellschaft an, die auf der Herrschaft des Rechts beruht. Ganz im Geiste der Französischen Revolution lehnt er denn auch alle intermediären Gewalten – Körperschaften und Stände – ab und fordert deren Auflösung. Ähnlich wie Rousseau setzt Kant Freiheit und Zwang nicht einander entgegen, sondern visiert eine rechtmäßige Zwangsgewalt an, die dem vereinigten Willen aller (volonté générale) entspringt. Von einer bürgerlichen Gesellschaft möchte Kant nur dann sprechen, wenn eine gesellschaftlich und geschichtlich konkrete Verfassung dem normativen Maßstab der Menschenrechte entspricht (Riedel 1975, S. 758). Damit bricht Kant mit allen bisherigen partikularen Herrschafts- und Rechtssystemen und setzt ein liberales Konzept von universalen Menschenrechten an deren Stelle. Vernünftig und damit legitim sind für
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Kant nur die Gesetze, die die Freiheit des einen mit der Freiheit aller anderen verträglich sein lassen – dies zeichnet die Menschenrechte respektierende bürgerliche Gesellschaft aus. Den synthetisierenden Höhepunkt dieser Denkbewegung der Auflösung der Identitätsformel von Staat und Zivilgesellschaft bilden G. W. F. Hegels (1770–1831) Grundlinien der Philosophie des Rechts aus dem Jahr 1821. In Hegels Rechtsphilosophie geht es um eine Vereinigung des antiken Ethos mit der modernen Freiheit des Einzelnen, für die Kant exemplarisch steht. Hinzu tritt eine Wertschätzung der intermediären Körperschaften, die aus der Rezeption Montesquieus herrührt, doch ebenso fließen Überlegungen der neu entstandenen Politischen Ökonomie – von Smith und Ferguson – in Hegels Synthese ein. Hegel unterscheidet drei Stufen des »an und für sich freien Willens«, die entsprechend drei Stufen der moralischen Argumentation repräsentieren: a) das abstrakte oder formelle Recht, dem das Naturrecht entspricht, b) die Sphäre der (Kantischen) Moralität und schließlich c) die Sittlichkeit. Die Sittlichkeit ist anders als Kants praktische Vernunft in konkreten sozialen und historischen Praktiken und Institutionen verkörpert. Die Sittlichkeit unterteilt Hegel in drei Bereiche, die auf der doppelten Dualität von Oikos/Polis und Staat/Gesellschaft beruhen, nämlich die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat. In seiner Rechtsphilosophie definiert Hegel (1986 [1821], § 33, S. 87) die bürgerliche Gesellschaft als »Entzweiung und Erscheinung«. Weiter unten heißt es bezüglich der Abgrenzung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat und von der Familie: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen« (ebd., § 182, S. 339).
Den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft gliedert Hegel in drei Unterbereiche: das ökonomische »System der Bedürfnisse« (§§ 189 ff.), die »Rechtspflege« (§§ 209 ff.) und den Bereich »Polizei und Korporationen« (§§ 230 ff.). Cohen und Arato (1992, S. 95 ff.) interpretieren den Aufbau der Rechtsphilosophie und den Argumentationsgang Hegels in dem Sinne, dass in der bürgerlichen Gesellschaft ein Widerstreit von Sittlich-
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keit und »Antisittlichkeit« vorliegt: Das heißt sie kennt beides, sowohl Entfremdung und Entzweiung als auch soziale Integration. Hegel sieht nämlich die bürgerliche Gesellschaft als eine Sphäre an, in der der homo oeconomicus die dominante Sozialfigur ist. Die bürgerliche Gesellschaft wird regelmäßig von Hegel als die Gesellschaft des Wirtschaftsbürgers, des bourgeois, bezeichnet, der seinen privaten Interessen, Neigungen und Bedürfnissen willkürlich nachgeht. Diese Sphäre des freien wirtschaftlichen Verkehrs ist von Antagonismen und Konkurrenz geprägt, weshalb Cohen und Arato davon sprechen, dass hier die »Antisittlichkeit« am stärksten ausgeprägt ist. Das »System der Bedürfnisse« wird von drei »Ständen« getragen: dem substantiellen, dem formellen und dem allgemeinen Stand (§ 202). Übersetzt man dieses Schichtungsmodell in unsere heutige Sprache, dann beschreibt Hegel, wie die Wirtschaftsgesellschaft sozialstrukturell von der Landwirtschaft, den Gewerbetreibenden, den Handwerkern und Händlern sowie den Beamten als dem »allgemeinen Stand« getragen wird. Eine Klasse der Arbeiter ist in diesem Modell nicht vorgesehen, wobei es jedoch ein leichtes wäre, diese in das Schema einzuführen und mit den sozialen Ungleichheiten, die die kapitalistische Marktgesellschaft hervorbringt, in Zusammenhang zu setzen. So sah Hegel durchaus die mit dem Kapitalismus verbundene Gefahr einer wachsenden sozialen Ungleichheit und Verarmung der unteren Klassen. Erst auf den nächsten beiden Ebenen der bürgerlichen Gesellschaft – der Rechtspflege sowie der Polizei und Korporationen – kommen Elemente sozialer Integration ins Spiel. Unter der Rechtspflege versteht Hegel die rechtlich verbürgte Sicherheit der Person und des Eigentums, die von allgemeinen Gesetzen geschützt und vor Gerichten eingeklagt werden können. »Polizei« hat bei Hegel noch eine etwas andere Bedeutung als im zeitgenössischen Gebrauch des Wortes. Es meint mehr als die Verhinderung von Verbrechen und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, nämlich öffentliche Interventionen in die Wirtschaft in Form von Regulierungen oder Preiskontrollen, öffentliche Wohlfahrt in Form von Bildung oder Sozialpolitik sowie die Gründung von Kolonien. Offenbar geht es um staatliche Interventionen in das zivile Leben. Den Kern seiner sozialintegrativen Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft bildet jedoch die Korporation, die zwar feu-
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dalen Vorbildern entstammt, von Hegel aber durchaus in einem modernen Sinne gedeutet wird, da er betont, dass sie offen für Zu- und Abgänge sein und die Mitgliedschaft nicht auf askriptiven oder erblichen Kennzeichen, sondern auf Freiwilligkeit beruhen solle. Wirtschaftsverbände, in denen Arbeitgeber und -nehmer Mitglieder sind, stellen für Hegel ein Paradebeispiel für Korporationen dar, Bildungseinrichtungen, Kirchen und lokale Gemeinderäte zählen ebenfalls dazu. Neben Sozialisierung und Erziehung kommt den Korporationen eine politische Funktion zu (Cohen/Arato 1992, S, 106 ff.). Die Mitgliedschaft in Korporationen trägt dazu bei, eine Brücke zwischen dem bourgeois und dem citoyen zu schlagen, das heißt es geht um die Transformation des Eigennutzes in eine stärker gemeinwohlorientierte Perspektive. Die Zusammenkunft in Korporationen erfordert, dass die Mitglieder ihren rein individuellen Standpunkt aufgeben und eine allgemeinere, die Einzelinteressen überwölbende Perspektive einnehmen. Das gemeinsame korporative Interesse unterscheidet sich in seiner Allgemeinheit schon von den Einzelinteressen der Mitglieder, doch sind die Interessen der verschiedenen Korporationen in Bezug auf das Gemeinwohl der Gesamtgesellschaft natürlich immer noch partikular. Nichtsdestotrotz schaffen Korporationen bei ihren Mitgliedern Motive und Dispositionen, ihre Einzelperspektiven zugunsten eines übergeordneten Ganzen zu erweitern. Die Korporationen, die Rousseau und seine revolutionären Nachfolger abschaffen wollten, spielen bei Hegel – genauso wie bei Montesquieu und später bei Tocqueville – eine entscheidende Rolle als Vermittler zwischen den Individuen und dem Staat. Der Machtlosigkeit atomisierter Individuen kann durch Korporationen genauso begegnet werden wie der willkürlichen Despotie staatlicher Bürokratien. Die Einzelinteressen der Wirtschaftsbürger werden in einem ersten Schritt durch die Beteiligung an Korporationen »geläutert«. Die Korporationen wiederum münden ein in ständische Vertretungen, die beratend an der Legislative des Staates partizipieren (§§ 300 ff.). »Als vermittelndes Organ betrachtet, stehen die Stände zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits« (Hegel 1986, § 302, S. 471). Auf dieser Ebene erlangt der private Bürger unmittelbar politische Bedeutung. Nach Hegels Theoriekon-
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struktion steht den Bürgern noch ein weiterer Kanal der politischen Artikulation offen: die öffentliche Meinung (§§ 316 ff.). Er fasst den Begriff nicht systematisch und ordnet ihn eigentümlicherweise der Ebene des Staates zu. Die öffentliche Meinung wird beispielsweise von der Presse repräsentiert und steht unmittelbar mit den Beratschlagungen innerhalb der Legislative in Verbindung. Sie trägt partikulare wie auch universalistische Momente in sich, wobei es Hegel darauf ankommt, die universalistischen Aspekte zu stärken. Für Hegel besteht die bürgerliche Gesellschaft also durchaus nicht nur aus wirtschaftlicher Konkurrenz und Antagonismus, es gibt auch Kanäle der Interessenläuterung und der politischen Partizipation. Doch erst auf der Ebene des staatlichen Handelns werden die widersprüchlichen Interessen aufgelöst. Zivilgesellschaft hat mithin ein unentrinnbar partikulares Moment, das erst auf der Ebene des Staates in Universalität überführt werden kann. Für Hegel ist es die staatliche Bürokratie, die den Garant für die Sittlichkeit, das heißt die Auflösung der gesellschaftlichen Partikularismen und Antagonismen, liefert. Verkörpert in den Beamten soll das staatliche Handeln den Pathologien der Moderne (extremer Reichtum, Armut, Luxusstreben, Neid, Konkurrenz usw.) entgegenwirken. Der »allgemeine Stand« soll also den Antagonismus der anderen Stände vermittels staatlicher, »polizeilicher« Interventionen auflösen. Die vom Staat unterschiedene bürgerliche Gesellschaft bekommt bei Hegel also zunächst eine »soziale«, weniger eine »politische« Bedeutung: Der privatisierte Bürger Hegels ist vor allem ein Wirtschaftsbürger, ein bourgeois. Durch den Zusammenschluss zu Korporationen werden allerdings zum einen die Kalküle des Eigennutzes in Richtung einer größeren Gemeinwohlkompatibilität transformiert, zum anderen kommt hier die politische Komponente durch Ständevertretung und öffentliche Meinungsbildung stärker ins Spiel. Auf der Ebene der Korporationen und der Stände, die an der Legislative beratend partizipieren, wird dem Bürger eine stärker politische Rolle zugesprochen. Smith, Montesquieu und Aristoteles scheinen sich hier zu vereinen. Hinzu kommt das »preußische« Moment des überwölbenden, bürokratischen Staates, der Garant des Gemeinwohls sein soll. Man kann dieses Modell so interpretieren, dass Hegel zum einen ein »bottom up«-Modell der Interessenformierung und -artikulation ent-
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wirft und diesem ein »top down«-Modell des staatlichen, gemeinwohlgarantierenden Handelns zur Seite stellt. Die Richtung von »unten nach oben« beinhaltet: Wirtschaftsbürger und antagonistische Interessen → Korporationen → Ständevertretung → Öffentliche Meinung. Die »top down«-Perspektive wäre: König → Exekutive → Beamte → »Polizei« beziehungsweise Staatsintervention. Hegel geht es also erstens darum zu zeigen, wie die Bürger vermittelt über die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in den Bereich des politischen Handelns integriert werden können, ohne von einer Identität von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ausgehen zu müssen. Zweitens versucht er eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie der grundlegende Antagonismus des Wirtschaftsbürgertums wenn zwar nicht überwunden, so doch eingedämmt werden kann, das heißt, es geht um Alternativen und Ergänzungen zur marktförmigen Integration. Deshalb (vgl. auch Klein 2001, S. 302) geht es in Hegels Philosophie des Rechts sowohl um Fragen der politischen als auch der sozialen Integration. Insofern ist Cohen und Arato (1992, S. 116) zuzustimmen, nach denen Hegel der erste war, der eine moderne und komplexe Version einer Theorie der Zivilgesellschaft als Ort sozialer Integration und öffentlicher Freiheit vorgelegt hat.1 »Bürgerliche Gesellschaft« bezeichnete in Deutschland während des 19. Jahrhunderts bald nicht mehr den komplexen Sachverhalt, den Hegel vor Augen hatte, sondern gleichsam nur noch das »System der Bedürfnisse«, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Bei Karl Marx (1818–1883) wird die bürgerliche Gesellschaft zur »Klassengesellschaft« oder »Bourgeoisgesellschaft«. Der Begriff erfüllt nun polemi1
Es muss darauf verwiesen werden, dass es auch eine andere, liberale Lesart der Hegelschen Theorie gibt, die stärker auf Hegels Staatszentrismus abhebt. Ralf Dahrendorf (1963) bringt beispielsweise dieses Verständnis auf den Punkt, wenn er sagt, dass bei Hegel Familie und bürgerliche Gesellschaft (These und Antithese) erst im Staat aufgehoben werden. Erst im Staat vollendet sich die Sittlichkeit. Auf dieser Hegelschen Lesart beruht Dahrendorf zufolge zu weiten Teilen die politische Organisation Deutschlands: Verkörpert im preußischen Beamten ist es der Staat, der das letzte Wort bezüglich des Gemeinwohls hat und autoritär seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzt. Diese Komponente spielt sehr wohl bei Hegel eine Rolle, doch übersieht Dahrendorf, dass Hegels bürgerliche Gesellschaft nicht nur das »System der Bedürfnisse« ist, sondern auch intermediäre, »interessenläuternde« Funktionen hat.
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sche Funktionen und grenzt die bürgerliche Gesellschaft nicht nur vom Staat ab, sondern auch von der zukünftigen »sozialistischen« und »kommunistischen« Gesellschaft (Riedel 1975, S. 784). Marx schränkt den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft auf die moderne, vom Bürgertum beherrschte Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts ein und bezeichnet damit die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende Wirtschafts- und Gesellschaftsform. In der Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in der sich Marx mit Hegel auseinandersetzt, führt er seine Vorstellung aus, dass die materiellen Lebensverhältnisse entscheidend die Rechts- und Staatsverhältnisse prägen, und stellt heraus, »daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei« (Marx 1961 [1859], S. 8). Die Idee der Bürgerschaft tritt bei Marx damit völlig hinter die sozialstrukturelle Kategorie des Bürgertums zurück. Für viele Jahre ist damit in Deutschland der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft abgeschnitten von der bis zu Hegel vollzogenen Rezeption des klassischen Begriffs der societas civilis. »Bürgerliche Gesellschaft« bleibt fortan ein kritischer und polemischer Begriff, der vor allem in marxistischen Theorietraditionen weiterhin von Bedeutung blieb (vgl. Haltern 1985), womit aber eine krude Verengung auf die »Bourgeoisgesellschaft« verbunden war. Wer wissen will, was aus den Ideen geworden ist, die bis Marx auch in der deutschen Begrifflichkeit von bürgerlicher Gesellschaft oder der societas civilis anklangen, müsste eher die Verwendungsweise des Begriffs »Gesellschaft« zwischen den Jahren 1850 und 1980 rekonstruieren (Kocka 2000, S. 17 f., Nolte 2000). In diesen Jahren wurde der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft entweder dem der »Gesellschaft« oder dem der »bürgerlichen Klassengesellschaft« assimiliert. Dies war in dieser Extremform in anderen Ländern nicht der Fall, sodass man auf der Suche nach theoretischen Fortentwicklungen des Begriffs der Zivilgesellschaft den Blick auf Frankreich, die USA und Italien werfen muss. Will man heute beim Entwurf einer Theorie der zivilen Gesellschaft auch die Theorietradition berücksichtigen, dann führt zum einen, wie wir gesehen haben, an Hegel kein Weg vorbei. Der zweite Denker des 19. Jahrhunderts, dessen Vernachlässigung in unserem Zusammenhang sträflich wäre, ist der Franzose Alexis de
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Tocqueville (1805–1859). Zwar wird Tocqueville schon lange als Klassiker der politischen Philosophie, der Politikwissenschaft und eines amerikanischen Selbstverständigungsdiskurses angesehen, doch viel zu selten auch als Klassiker der Soziologie – zumal in Deutschland (vgl. Müller 2000). Sein Werk Über die Demokratie in den USA gilt als erste tiefschürfende Analyse der amerikanischen Demokratie und ist darin bis heute unübertroffen. Das Buch erschien im Jahre 1835, drei Jahre zuvor war der französische Aristokrat Tocqueville aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wo er fast ein Jahr verbracht hatte. Dem ersten Band, der sich der Analyse der amerikanischen Gesellschaft und des amerikanischen Staates widmet, folgte 1840 ein zweiter Band, der die Frage nach dem Idealtyp einer Demokratie überhaupt stellt. Im Zentrum von Tocquevilles sozialwissenschaftlicher Analyse steht das Verhältnis dreier moderner Konzepte, die ihm in den USA begegneten: Demokratie, Gleichheit und Individualismus (Müller 2000). Im Gegensatz zu Marx ging es Tocqueville nicht um den Übergang zum Kapitalismus, sondern zur Demokratie als moderner Regierungs- und Lebensform. Die USA schienen ihm dabei wegweisend die Zukunft auch der europäischen Nationen vorzuspiegeln. Die Grundlage der Demokratie erblickte Tocqueville in der »Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen«, die einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben schlechthin hat: »[S]ie erzeugt Meinungen, lässt Gefühle entstehen, weckt Gewohnheiten und verwandelt alles, was sie nicht hervorbringt« (Tocqueville 1985 [1835/40], S.15). Die Gleichheit bildet die Grundlage für Demokratie und Individualismus. Mit dieser Perspektive erweist sich Tocqueville als »Analytiker unter den geschichtlichen Forschern seiner Zeit« (Wilhelm Dilthey), der eine soziologische Strukturgeschichte mit einer feinsinnigen Kultur- und sozialpsychologischen Analyse verbindet. Wie Montesquieu hebt auch Tocqueville die Bedeutung intermediärer Institutionen hervor, diesmal allerdings nicht unter den Bedingungen einer Monarchie, sondern der Demokratie. So sehr Tocqueville die amerikanische Demokratie auch bewundert, so skeptisch ist er, ob das demokratische Experiment auch langfristig erfolgreich sein werde. Doch zunächst zu Tocquevilles Überlegung zur Genese der Demokratie in den USA, die in aller Kürze lautet: »In den Vereinigten
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Staaten dienen die Gesetze mehr als die physischen Umstände, und die Sitten mehr als die Gesetze der Erhaltung des demokratischen Staatswesens« (ebd., S. 183). Zu den physischen Umständen, die der Demokratie förderlich waren, zählt er den weiten Raum, die geringe Bevölkerungsdichte, die fehlende Aristokratie sowie das weitgehende Fehlen von Grenzen und äußeren Feinden. Die »Gesetze«, die er für wichtiger hält, fasst Tocqueville sehr weit und versteht darunter den Aufbau des politisch-administrativen Systems. Die vertikale Auffächerung der Macht zwischen der Bundesregierung, den Einzelstaaten und der kommunalen Ebene kommt der Demokratieerhaltung genauso entgegen wie die horizontale Gewaltenteilung zwischen dem Präsidenten, dem Senat und dem Repräsentantenhaus sowie dem obersten Gericht. Doch am wichtigsten scheint ihm die kommunale Ebene der Selbstverwaltung zu sein, auf der die Demokratie »im Kleinen« stattfindet. Wichtiger noch als die »Gesetze« sind ihm die »Sitten«, die er wiederum sehr weit fast: »Ich nehme hier den Ausdruck Sitten in dem Sinne, den die Alten dem Wort mores geben; ich wende ihn nicht nur auf die eigentlichen Sitten an, die man Gewohnheiten des Herzens nennen könnte, sondern auf die verschiedenen Vorstellungen, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, aus denen die geistigen Gewohnheiten sich bilden« (ebd., S. 183).
In einer neueren Sprache ausgedrückt, geht es Tocqueville offenbar darum, dass die politische Kultur Amerikas von immenser Bedeutung für die Erhaltung der Demokratie ist. In den USA ist die Religion – so beobachtet es Tocqueville – eine Symbiose mit der Freiheit eingegangen: Religiöse und republikanische Traditionen der Selbstregierung und Tugendhaftigkeit stehen im Zentrum der amerikanischen Sitten. Die politische Freiheit der Amerikaner stellt sich nur über ein gemeinsames öffentliches Leben her: Fehlt diese öffentliche Praxis, droht die Demokratie zur Despotie zu verkommen, da aus dem Individualismus der Bürger schnell ein politisch apathischer und egoistischer Eigennutz wird, der sich nicht mehr um die öffentlichen Belange kümmert. Unter formal-demokratischen Bedingungen nimmt aus der Sicht Tocquevilles der Despotismus die Form der Tyrannei der Mehrheit an.
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Doch wie können die demokratischen Sitten erhalten beziehungsweise wie kann ein demokratischer Despotismus verhindert werden? Hier kommt das für die Diskussion der Zivilgesellschaft wohl bekannteste Argument Tocquevilles ins Spiel: Freie Zusammenschlüsse – Assoziationen oder Vereine – sind es, die die Demokratie mit Leben erfüllen und erhalten. Dazu Tocqueville im zweiten Band von Über die Demokratie in Amerika: »Amerikaner jeden Alters, jeden Ranges, jeder Geistesrichtung schließen sich fortwährend zusammen. […] Überall, wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden« (ebd., S. 248). Die Assoziationen beziehungsweise Vereine scheinen sich für Tocqueville an der Schnittstelle zwischen den »Gesetzen« und den »Sitten« zu befinden. Zumindest lassen sie sich interpretieren als eine Institution und Praxis, die einerseits zwischen Staat und den Individuen und andererseits zwischen politischer Struktur und Kultur (den Sitten) vermitteln. Gesellige Vereinigungen sind für Tocqueville die Grundlage der amerikanischen Demokratie – ganz so wie für Montesquieu intermediäre Körperschaften die Monarchie vor der Despotie bewahren sollten. Während der stark zentralisierte französische Staat in seiner vor- wie auch in seiner nachrevolutionären Form keine intermediären Kräfte duldete – und deshalb die Demokratie auch nicht wirklich Fuß fassen konnte, so Tocqueville –, ruht das amerikanische Gemeinwesen auf einer Vielzahl an politischen wie auch an geselligen, unpolitischen Vereinen. Im ersten Teil seines Buches wendet sich Tocqueville den politischen Vereinigungen (association politique) in den USA zu. Verfolgt man bestimmte soziale oder politische Zwecke, schließt man sich, so Tocquevilles Beobachtung, in den USA zu einer Vereinigung zusammen und löst das zu behandelnde Problem selbst oder nimmt Einfluss auf die Politik. Doch nicht nur das direkte politische Handeln von Bürgern, die sich zu diesem Zwecke zusammenschließen, sondern auch die »bloß« geselligen Vereine, denen er sich im zweiten Teil des Buches widmet, sind von hohem demokratischen Wert. Der kulturellen Wirkung des freiwilligen Zusammenschlusses auf das »Seelen- und Gefühlsleben« der Amerikaner wollte Tocqueville nachgehen, denn
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offenbar fördern auch die rein geselligen Vereine die Tugend und »Demokratiefähigkeit« der Bürger und Bürgerinnen, wobei das »Miteinander-Handeln« entscheidend ist: »Nur durch die gegenseitige Wirkung der Menschen aufeinander erneuern sich die Gefühle und die Ideen, weitet sich das Herz und entfaltet sich der Geist des Menschen« (ebd., S. 251). Die Menschen werden also durch den Zusammenschluss, durch die Auseinandersetzung miteinander, aus ihrer Egozentrik gerissen und neue Bande werden zwischen ihnen geknüpft (Hoffmann 2001, S. 306). Gerade unter egalitären und individualistischen Bedingungen müssen sich die Menschen zusammenschließen, die »Kunst der Vereinigung« entwickeln, um dem drohenden Despotismus zu entrinnen. Sind nämlich die traditionalen Bande einer Gesellschaft nicht mehr vorhanden, oder müssen sie wie in den USA überhaupt erst einmal hergestellt werden, kommt dieser »Kunst« eine indirekt wirkende, aber dennoch massive politische Bedeutung zu, wird durch sie doch so etwas wie Gemeinsinn und Bürgertugend vermittelt (ebd., S. 308). Politische wie auch rein gesellige Vereinigungen stellen für Tocqueville mithin den entscheidenden Unterbau einer Demokratie dar und konstituieren die Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaft wird von Tocqueville als eine intermediäre Ebene zwischen vereinzelten Individuen und dem Staat aufgefasst, sie wird nicht ökonomisch interpretiert, sondern genuin sozial und politisch, und ist bezogen auf die Demokratie als Regierungs- und Lebensform. Tocqueville steht somit für eine Theorietradition der Zivilgesellschaft, die Fragen der sozialen und politischen Integration miteinander verknüpft, sich dem Problem der Überlebensfähigkeit von Demokratie, Gleichheit und Individualität stellt und politische Apathie, Egozentrik und Massengesellschaft sowie die Despotie der Mehrheitsmeinung am Horizont heraufziehen sieht.
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Gramsci, Dewey und die Begründung der Soziologie Zivilgesellschaft und der Kampf um kulturelle Hegemonie – John Dewey: Öffentlichkeit und Demokratie als Lebensform – Community versus Gemeinschaft – Durkheims Kooperationsmoral – Der Skeptiker Max Weber – Soziologie ohne Zivilgesellschaft Da ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum noch wegweisende Entwürfe zur Theorie der Zivilgesellschaft vorgelegt wurden, führt uns die nächste Theorie mit einem Sprung in das Italien des frühen 20. Jahrhundert. Der bedeutendste Theoretiker der Zivilgesellschaft, der in einer marxistisch revolutionären Tradition steht, ist Antonio Gramsci (1891–1937), dessen Gefängnishefte erst zehn Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Er war sowohl marxistisch-leninistischer Theoretiker als auch ein politischer Führer, der als Chef der italienischen Kommunistischen Partei jahrelang von den italienischen Faschisten gefangen gehalten wurde. Innerhalb der marxistischen Tradition war er wohl der erste, der die Autonomie der kulturellen Dimension sozialer und politischer Konflikte erkannte (Kallscheuer 1987, S. 588) und sich strikt gegen die Reduktion dieser kulturellen Ebene auf rein ökonomische Verhältnisse stellte. Ausgangspunkt seiner politischen und theoretischen Analysen ist die Frage, wieso in der Sowjetunion eine kommunistische Revolution gelang, während sie im Westen scheiterte. Offenbar konnte dies nicht damit erklärt werden, dass die ökonomische Entwicklung des Westens noch nicht in die Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit gemündet war, die letztlich zur Überwindung des Kapitalismus führen musste. Vielmehr war die westliche Gesellschaft besser gegen Revolutionen abgesichert, als der Marxismus lange annahm. Gramsci führt die Stabilität des westlichen Kapitalismus darauf zurück, dass er nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Hegemonie innehatte. Das bisherige System verfügte offenbar über eine starke Legitimation und war kulturell hegemonial, das heißt führend und dominant. Die Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie wird nach Gramsci auf dem Boden der Zivilgesellschaft, der società civile, geführt. Während das russische Regime durch die Revolution direkt angegriffen werden konnte, war der kapi-
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talistische Westen von zivilgesellschaftlichen Organisationen umlagert und geschützt, die die kapitalistische Ideologie verteidigten und in der Bevölkerung verankerten: Dazu zählt Gramsci etwa die Kirchen, Schulen, Parteien, die Presse, Nachbarschaften und Verbände, sprich all die intermediären Organisationen, die schon bei Hegel und Tocqueville Erwähnung fanden. Hegel, und weniger Marx, ist denn auch für Gramsci der intellektuelle Bezugspunkt seines Konzeptes von Zivilgesellschaft. Anders als Marx bezieht er sich in seiner Diskussion von Hegels bürgerlicher Gesellschaft nicht auf das »System der Bedürfnisse«, sondern auf die Korporationen (Cohen/Arato 1992, S. 142). Die Familie, Korporationen und Kultur beziehungsweise Ideologie ordnet er der Zivilgesellschaft zu, im Unterschied zu Hegel und Marx nicht jedoch die Wirtschaft. Unklar bleibt in den zum Teil widersprüchlichen Äußerungen Gramscis, wo er den Staat einordnet: Lokalisiert man die Zivilgesellschaft außerhalb des Staates, wie dies etwa Cohen und Arato tun (1992, S. 145), ergibt sich ein trichotomisches Modell von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft als drei voneinander getrennten Sphären. Das Terrain der Zivilgesellschaft galt es nach Gramsci jedenfalls zu erobern, nur dann könne eine Revolution glücken. Der Kampf der Arbeiterklasse muss sich also auf die Erlangung der Hegemonie in der Zivilgesellschaft verlegen. Konkret müsste die Arbeiterschaft Gramsci zufolge in Konkurrenz zur Kirche und zum Bürgertum eine Art Gegenhegemonie aufbauen, indem sie ihre eigenen Organisationen errichtet und stärkt: Arbeitervereine und -parteien, intellektuelle und kulturelle Institutionen, die die proletarischen Werte stützen und verbreiten. Eine besondere Rolle bekommen die Intellektuellen in Gramscis kulturellen Klassenkampf zugewiesen; jede um gesellschaftliche Hegemonie kämpfende Klasse muss ihre eigenen »organischen Intellektuellen« hervorbringen (Kallscheuer 1987, S. 597). Den langwierigen Kampf um die Deutungshoheit kleidet Gramsci in die militärische Metapher von der Notwendigkeit des Stellungskrieges. Der Umsturz der Klassenverhältnisse ist erst in der »organischen Krise« möglich, in einer Situation also, in der auch die kulturellen Leitvorstellungen der Herrschaft und deren Legitimität in Frage gestellt werden.
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Die Zivilgesellschaft ist bei Gramsci, wie gesagt, nicht mehr der Ebene der wirtschaftlichen Basis wie noch bei Marx zugeordnet, sondern der des Überbaus – alle ideologischen und kulturellen Verhältnisse und nicht die materiellen Bedingungen gehören ihr an (Bobbio 1988, S. 82 f.). Nicht die ökonomischen Bedingungen determinieren das politische Handeln, sondern die Interpretationen derselben bestimmen es. Diese Aufwertung der Kultur und Ideologie macht zum einen deutlich, wie viel Gramsci von Marx und Lenin trennt, zum anderen wurde der Marxismus damit für die »lebendigen und widersprüchlichen Erfahrungen der Individuen« geöffnet (Lohmann 2001, S. 126). In mancherlei Hinsicht blieb Gramsci jedoch orthodoxer Marxist und gibt für eine zeitgenössische liberal-demokratische Theorie der Zivilgesellschaft keinen guten Gewährsmann ab. Seine Theorie ist revolutionär ausgerichtet: Der Aufbau von eigenen Institutionen der Arbeiterschaft zur Erlangung einer Gegenhegemonie hat für ihn einen rein instrumentellen Charakter. Nach der Revolution sind diese nicht mehr notwendig, denn die nachrevolutionäre »regulierte« Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Staat und Institutionen, die rein auf der Akzeptanz der Moral beruht. Gramscis Ziel ist eine Situation, in der der Staat sich in der Gesellschaft auflöst. Dies bietet freilich ein Einfallstor für den Totalitarismus (vgl. Klein 2001, S. 112 ff.). Gramsci hätte sowohl der Zivilgesellschaft als auch dem Staat ein Eigenrecht in Form von Menschen- und Bürgerrechten, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit geben müssen. Denn erst die Anerkennung des Staates und der unaufhebbaren Konflikthaftigkeit der in der Zivilgesellschaft geführten Auseinandersetzungen kann die Anfälligkeit für totalitäre Versuchungen vermeiden – doch dies bedeutet gleichzeitig den völligen Bruch mit der revolutionären marxistischen Tradition. Was bleibt also von Gramscis Zivilgesellschaftskonzept erhalten? Zunächst ist die Dimension des Konfliktes um kulturelle Deutungsmacht in modernen Zivilgesellschaften nicht zu unterschätzen. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist ein bleibendes Verdienst Gramscis. Heutige internationale Nichtregierungsorganisationen, die sich für globale Gerechtigkeit und neue Global Governance-Strukturen einsetzen, haben Gramscis Begrifflichkeit aufgegriffen und sehen sich im Kampf mit einer weltweiten neoliberalen Hegemonie, die es
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zu brechen gelte. Zielte Gramscis Anliegen zunächst also auf eine Erweiterung der Marxschen Theorie um kulturelle Aspekte und auf die Analyse des Hegemoniekampfes in der Zivilgesellschaft ab, so ist ein weiteres bleibendes Erbe ein Begriff von Zivilgesellschaft, der Wirtschaftsakteure aus der Zivilgesellschaft ausschließt und diese als einen autonomen Raum nicht-staatlicher Organisationen kennzeichnet. Letzteres ist zwar kein Punkt, der Gramsci selbst stark am Herzen lag, doch ging die Rezeptionsgeschichte in diese Richtung (vgl. Keane 1998, S. 16 f.). Gramsci kann also im Rahmen einer Theorie der Zivilgesellschaft als Theoretiker des Kampfes um kulturelle Hegemonie gelten. Über die Bedeutung von »Öffentlichkeit« und der Idee, dass »Demokratie« nicht nur Mittel zum Zweck, sondern eine Lebensform ist, klärt uns ein amerikanischer Philosoph auf: der Pragmatist John Dewey (1859– 1952), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der wichtigste Philosoph der Vereinigten Staaten galt und den man heute als den Philosophen der Demokratie überhaupt bezeichnen kann (Joas 2000, S. 7). Er war Teil der als Pragmatismus bezeichneten Theoriebewegung, der außer ihm Charles Sanders Peirce, William James und George Herbert Mead zuzuordnen sind, und die in den Jahren von 1890 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs die bestimmende intellektuelle Kraft in den USA war. Ihr Wirken fiel in eine Periode heftiger Umbrüche in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik Amerikas: Prozesse der Urbanisierung, Industrialisierung, Bürokratisierung und eine neue Welle nichtprotestantischer Einwanderung setzten ein und leiteten damit das Ende der Überschaubarkeit und der agrarischen Prägung Amerikas ein. Diese Entwicklungen wurden begleitet von vielfältigen politischen Reformanstrengungen, die sich unter dem Dach des Progressive Movement versammelten. Der Historiker Friedrich Jaeger hat jüngst herausgearbeitet (Jaeger 2001), dass sich die heterogenen Reformmodelle politischer, gesellschaftlicher und kultureller Erneuerung unter einem Konzept von Zivilgesellschaft vereinigen und beschreiben lassen. Eine besondere Rolle kam dabei der politischen Theorie und Sozialphilosophie John Deweys zu, konnte er doch die Problemlagen seiner Zeit theoretisch angemessen und kohärent beschreiben. Den amerikanischen Intellektuellen ging es also um eine Neujustierung des Verhältnisses
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von Eigennutz – der durch die freigesetzte Marktökonomie zu überborden schien – und Gemeinwohl sowie um die Einführung sozialstaatlicher Interventionen. Der Professionalisierungsschub, der in der amerikanischen Mittelschicht einsetzte, wurde einerseits im Reformeifer begrüßt, von anderen – insbesondere von Dewey – jedoch sehr kritisch gesehen, ging es den Reformern doch auch um ein partizipatorisches Politikverständnis. John Deweys politische Philosophie war getragen von der pragmatistischen Vorstellung, dass nicht die rein individuelle geistige Konfrontation eines Subjekts mit einem Objekt zum Erkennen der Wahrheit führt, sondern dass Wahrheitssuche kooperativ zur Bewältigung realer Handlungsprobleme zu vollziehen sei (Joas 1987, S. 613). Die uneingeschränkte Kommunikation von Wissenschaftlern, die sich kooperativ auf die Wahrheitssuche begeben, dient Dewey als Modell für die Lösung von sozialen und politischen Problemen. Dieses Modell kam auch in seinen pädagogischen Schriften zum Tragen, und vor dem Ersten Weltkrieg avancierte Dewey zum führenden Reformpädagogen der USA (ebd., S. 615). Er kritisierte an den klassischen Lehr- und Lernkonzepten, dass sie nicht zu einer demokratischen und komplexen Gesellschaft passen würden. Aktiver Handlungsvollzug und die Reflexion auf diesen waren für ihn die leitenden Kategorien, die ein optimales Lernen ermöglichen sollten. Dewey forderte aus diesem Grund nicht nur neue Lernformen wie Projektunterricht, sondern sehr viel weiter gehende Reformen: Die Schüler sollten die Möglichkeit erhalten, außerhalb der schulischen Unterrichtssituation aktiv an der Lösung sozialer Probleme mitzuwirken. So groß der Einfluss Deweys auf die Reformdebatten seiner Zeit auch war, diese konkreten Ideen wurden nicht umgesetzt. Sie gerieten zum Teil in Vergessenheit und wurden erst in den 1970er Jahren wiederentdeckt. Heute firmieren sie zumeist unter dem Begriff Service Learning. Eine junge Studentin der Indiana University geht zweimal in der Woche in die Grundschule, um den Kindern von Immigrantenfamilien Englisch beizubringen. Zehn Personen mit niedrigem Einkommen lernen an der Ohio State University, Konstruktionsund Bauarbeiten auszuführen. Einmal in der Woche lesen Grund-
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schüler den Pflegeheimbewohnern in Hebbsville Geschichten vor. Studierende der University of Wisconsin-Parkside erstellen Kontaminationsberichte und Entwicklungspläne für verseuchte Industriegelände. Die Immigrantenkinder, die zukünftigen Bauarbeiter, die Gemeinde in Wisconsin und die pflegebedürftigen Senioren müssen nicht für ihre Helfer und Helferinnen bezahlen, denn die Studierenden und Schüler engagieren sich freiwillig in ihrer Nachbarschaft: Sie leisten Community Service. Seit den 1980er Jahren haben amerikanische Universitäten, Colleges und Schulen vermehrt Anstrengungen unternommen, Schüler, Schülerinnen und Studierende zu freiwilligem Engagement zu motivieren. Der so genannte Community Service richtet sich auf die angrenzende Nachbarschaft der Schule oder Universität. Eine Unterform, das Service Learning, integriert das freiwillige Engagement in den Unterricht beziehungsweise die Seminare. Viele Colleges und Universitäten schaffen Anreize für das studentische Engagement, indem die freiwillige Arbeit als Studienleistung anerkannt wird. In den letzten Jahren boten über 80 Prozent der High Schools Möglichkeiten für ein freiwilliges Engagement an, 46 Prozent offerierten Service Learning Programme. Weit über 50 Prozent der Studierenden an amerikanischen Colleges und Universitäten engagieren sich freiwillig. Der Aufbau sozialer Kompetenzen und die Einübung bürgerschaftlichen Engagements sind die erhofften Effekte dieser Programme. Forschungsberichte bestätigen diese Erwartungen: Oft arbeiten die Studierenden und Schüler später weiter ehrenamtlich und sind politisch engagierter als inaktive Schüler und Studenten. Ihr Bewusstsein für soziale Probleme wächst, nicht zuletzt, weil sie enge persönliche Beziehungen zu den Menschen in der Community aufbauen. Nicht nur die Communities, auch die Schüler und Studenten profitieren vom Service Learning: Es mehren sich die Indizien, dass Service Learning die Lernleistungen verbessert, wenn die Praxis eng an das Curriculum gekoppelt ist. Inzwischen haben viele Universitäten so genannte Community Partnership Outreach Center, Zentren für die Zusammen-
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arbeit mit der Kommune, eingerichtet. Diese Service Center geben den Lehrenden Rat, wie sie Service Learning in ihre Kurse integrieren können, ermitteln Partner in der Community, machen bei den Studierenden die Programme bekannt und stimmen die verschiedenen Aktivitäten aufeinander ab. Service Learning Programme werden zudem von der amerikanischen Bundesregierung gefördert. Viele amerikanische Universitäten nutzen deshalb die Chance, Lehre und Forschung mit dem Blick auf die Community stärker an der Praxis zu orientieren, schaffen mit der Institutionalisierung des Engagements ein festes Fundament für den Bürgersinn und übernehmen als zivilgesellschaftliche Akteure Verantwortung für die Belange der Community. Weitere Informationen: www.verantwortung-lernen.de / www.servicelearning.org /Adloff 2001. Die Betonung von Sozialität liegt auch Deweys Theorie der Demokratie und Zivilgesellschaft zu Grunde, die er in ausgereifter Form in dem Buch Die Öffentlichkeit und ihre Probleme (2001 [1927]) entwickelte. Er reagierte mit diesem Werk auf die Bücher Public Opinion und The Phantom Public des Publizisten Walter Lippmann aus den Jahren 1922 und 1925, in denen dieser die These aufstellte, dass in einer Demokratie Eliten und Experten den größten Einfluss haben sollten. Dewey geht in seiner Demokratietheorie nicht vom Staat aus, sondern von den Akteuren und ihrem Handeln. Der Staat ist ein Bereich, in dem Akteure in Interaktion treten und Probleme gemeinsam gelöst werden (Honneth 2000, S. 300). Dabei ist die Öffentlichkeit das Medium der gemeinsamen und demokratischen Suche nach Problemlösungen (Dewey 2001, Kap. I). Hat das Zusammenhandeln von zwei oder mehr Akteuren keine Auswirkungen auf Dritte, ist diese Interaktion als privat anzusehen. Sind jedoch von der Interaktion auch unbeteiligte Dritte in Mitleidenschaft gezogen, besteht aus deren Sicht die Notwendigkeit, auf die Handlung Einfluss zu nehmen, sie vielleicht ganz zu unterbinden. In diesem Fall entsteht für Dewey Öffentlichkeit: Sie besteht aus Bürgern und Bürgerinnen, die aus einer gemeinsam erlebten Betroffenheit zu dem Schluss kommen, dass die fraglichen Interaktionen kontrolliert werden müssen. Es geht also um
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die Kommunikation aller von spezifischen Handlungsfolgen Betroffenen mit dem Ziel, diese »wahrzunehmen, zu interpretieren, zu bewerten, und bei der Vorbereitung künftiger Handlungen zu berücksichtigen« (Joas 1987, S. 616). Aus dieser kollektiven Folgeninterpretation und Selbstverwaltung erwächst schließlich der Staat als eine sekundäre Assoziationsform, mit deren Hilfe die Teilöffentlichkeiten übergreifende Probleme der sozialen Handlungskoordination zu lösen trachten. Man sieht, welche große Bedeutung der Begriff der Öffentlichkeit in Deweys Theoriegebäude einnimmt: Er zielt auf eine kommunikativ vermittelte, kollektive Selbstverwaltung als Prinzip sozialer Ordnung ab (ebd., S. 617). Dieses Öffentlichkeitsideal gilt es für Dewey gegen die Tendenzen der Bürokratisierung und Professionalisierung des sozialen Lebens zu verteidigen. Dazu bedarf es als Unterbau einer Revitalisierung des Gemeindelebens und eines Zusammenschlusses der kleinen Gemeinden Amerikas zu einer Great Community (Dewey 2001, Kap. V). Die bisherige Form der Vergesellschaftung soll also in Richtung einer größeren, die Nation umspannenden Gemeinschaft transformiert werden. Die Wiederbelebung demokratischer Öffentlichkeiten, in denen die sozialen Probleme der Vereinigten Staaten diskutiert und einer Lösung zugeführt werden sollen, bedarf der Verankerung in einer vorpolitischen Assoziation aller Bürger und Bürgerinnen (Honneth 2000, S. 303). Das Bewusstsein und die Erfahrung, Teil einer größeren sozialen Gemeinschaft zu sein und arbeitsteilig mit allen Gemeinschaftsmitgliedern zu kooperieren, sollen die vorpolitischen Bedingungen dafür liefern, sich am kollektiven Problemlösungsprozess zu beteiligen und dabei gewissermaßen Gemeinsinn vor Eigennutz rangieren zu lassen. Soziale Integration, eine faire Ressourcenverteilung und das Gefühl, einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwesen liefern zu können, sind die sozialen Bedingungen einer Vertiefung der politischen Partizipation. Kern der Demokratie ist für Dewey nicht wie später für Arendt und Habermas die Diskussion als solche, sondern das kommunikative Problemlösen, die praxisorientierte kollektive Folgenabschätzung. Deweys Redeweise von einer Great Community mag uns heute irritieren, denn wie kann sich eine moderne Gesellschaft von der Größe der Vereinigten Staaten als Gemeinschaft verstehen? Ist dies nicht mit
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einer Regression verbunden, die der Freiheit des Einzelnen, seiner Individualität entgegensteht? Gerade in Deutschland war zur gleichen Zeit, als Dewey Die Öffentlichkeit und ihre Probleme veröffentlichte, der Begriff der Volksgemeinschaft in aller Munde. Er drückte den Wunsch nach Überwindung einer gespaltenen Gesellschaft, nach einer geschlossenen Gemeinschaft, einer gesinnungs- und gefühlsmäßigen Integration auf einer höheren Ebene aus (Nolte 2000, S. 165). Überhaupt wurde der Begriff der Gemeinschaft in den 1920er Jahren in Deutschland idealisiert, und Ferdinand Tönnies’ Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft, die zuerst 1887 erschien, erfuhr ihre eigentliche Rezeption erst in jenen Jahren. Wenig später avancierte der Begriff »Volksgemeinschaft« zur leitenden Kategorie des Nationalsozialismus, während er in den Jahren zuvor eine unspezifische Sehnsucht nach der Überwindung einer fragmentierten Gesellschaft ausdrückte. Der Soziologe Tönnies (1855–1936) hatte selbst eine solche Begriffsverwendung mit seinen soziologischen Grundbegriffen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« in keiner Weise intendiert. Mit diesen Begriffen grenzt er organisch gewachsene Sozialbeziehungen, in der die Mitglieder selbstzweckhaft miteinander verbunden sind, von zweckrational hergestellten, vertraglich individualistisch geregelten Sozialbeziehungen ab. Auf dem Weg vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog sich Tönnies zufolge der Wandel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft (vgl. Bickel 1987). Erstere scheint Tönnies unwiederbringlich verloren zu sein, und unter den Bedingungen der »Gesellschaft« hofft er allenfalls auf eine Stärkung genossenschaftlicher Prinzipien (ebd., S. 143). In den USA hat der Begriff Community beziehungsweise Gemeinschaft eine andere Bedeutung als in Deutschland (vgl. Joas 1993). Nichtindividualistische Bindungen und nicht-zweckrationale Handlungsweisen werden vage mit ihm verbunden, aber keine antidemokratischen und antimodernen Ressentiments (ebd., S. 51). Während man in Europa den Verlust der Gemeinschaft und das Heraufziehen der Gesellschaft beklagte, lag dem amerikanischen Verständnis ein dreiphasiges Schema zu Grunde: Nach dem Verlust von Gemeinschaftlichkeit ist durchaus mit der Entstehung neuer freiwilliger Gemeinschaften zu rechnen. Die moderne Gesellschaft reproduziert sich dieser Sicht zu-
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folge permanent über Prozesse sowohl der Vergesellschaftung als auch der Vergemeinschaftung und wird über zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse sozial integriert. Darüber hinaus findet sich bei Dewey der Gedanke, dass das Bewusstsein, mit allen anderen Gesellschaftsmitgliedern kooperativ gemeinsame Ziel zu verwirklichen, auf einer fairen und gerechten Arbeitsteilung beruhen muss. Das Bewusstsein gesellschaftlicher Kooperation stellt sich nur ein, wenn alle Gesellschaftsmitglieder erfahren, dass sie einen Beitrag zur Gesamtgesellschaft beisteuern, dass alle anderen dies auch tun und dass man hierfür eine Form der Anerkennung bezieht. Gesellschaftliche Verbundenheit stellt sich also darüber her, dass alle Gesellschaftsmitglieder kooperative Beiträge zur gesellschaftlichen Reproduktion leisten und dies wechselseitig anerkennen. Dieser Mechanismus der Ausbildung von sozialer Integration (als Voraussetzung der Stärkung politischer Partizipation) ist vor Dewey – wie Axel Honneth (2000, S. 303) betont – schon ausführlich von Durkheim, dem Begründer der französischen Soziologie, beschrieben und analysiert worden. Emile Durkheim (1858–1917) verfolgte zeitlebens zwei große Projekte: Zum einen versuchte er, einen Begriff des Sozialen zu entwikkeln, der scharf vom Begriff des Psychischen abgrenzbar ist. Zum anderen beschäftigte ihn die Frage, wie unter den Bedingungen der alle herkömmlichen Sozialbeziehungen auflösenden Moderne sozialer Zusammenhalt, wie eine neue Moral möglich ist (Joas 1992, S. 77). In seinem Buch Über soziale Arbeitsteilung aus dem Jahr 1893 geht Durkheim (1988 [1893]) der Frage nach, wie eine moderne Moral der Kooperation aussehen kann und prüft, ob die moderne Arbeitsteilung eine neue Form der Solidarität hervorbringen kann (vgl. Müller/Schmid 1988). Mit der sich verändernden Struktur der Gesellschaft entstehen verschiedene Formen von Solidarität: Frühere Gesellschaften sind für Durkheim von einer mechanischen Solidarität gekennzeichnet, die auf einem gemeinsamen Wert- und Regelsystem, einem Kollektivbewusstsein, beruht; die moderne Form der Solidarität unter den Bedingungen der Arbeitsteilung nennt er dagegen organisch. Hier gehen die Individuen nicht mehr in einem gemeinsamen moralischen Bewusstsein auf, sondern sind funktional integriert aufeinander bezogen – wie die Organe innerhalb eines Organismus. Ein Netz wechselseitiger Abhän-
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gigkeiten, das auf der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft beruht, schafft die organische Solidarität. Die gesellschaftliche Zusammenarbeit stellt eine eigene Form der Moralität dar (Durkheim 1988, S. 493), die nicht bloß auf der wechselseitigen Koordination von Eigeninteressen beruht – hier grenzt sich Durkheim eindeutig von wirtschaftsliberalen und utilitaristischen Theorien ab. Ein starker Staat ist nicht notwendig, um diese neue Form der Solidarität herzustellen. Die organische Form der Solidarität stellt sich spontan von selbst her und wird zu einer festen Gewohnheit, die sich einschleift: »Er [der regelmäßige Austausch, FA] regelt sich von selbst, und mit der Zeit konsolidiert er sich vollends« (ebd., S. 437). Die Kooperation selbst, ihre wechselseitigen Abhängigkeiten und Erfordernisse werden für Durkheim zur Gewohnheit, die sich zu normativen Regeln verfestigt, welche wiederum von den Beteiligten anerkannt werden; also generiert die Reflexion auf wechselseitige Abhängigkeiten und Austauschbeziehungen die moderne Form der Solidarität. Durkheim verankert die neue Moral mithin weniger im kollektiven Bewusstsein eines gemeinsamen Horizontes geteilter Werte, sondern in der Norm der Reziprozität, das heißt der Wechselseitigkeit. Allerdings zeigt Durkheims Arbeitsteilung einen individualistischen bias, der die Gruppen- und Schichtungsstruktur moderner Gesellschaften unterschlägt (Müller/Schmid 1988, S. 517) und kollektive Akteure (Organisationen etwa) ausblendet. Auf diese Weise wird unklar, wie die Individuen in den Prozess wechselseitiger Abhängigkeit integriert werden und die Reziprozitätsnorm anerkennen. Aus diesem Grund hat Durkheim zur zweiten Auflage seines Buches ein Vorwort geschrieben, welches auf die besondere Rolle der Berufsgruppen hinweist, die eine intermediäre Ebene zwischen dem Staat und den Individuen bilden. Zunächst findet eine Integration der Individuen in die Berufsgruppen statt, sodann stehen diese in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und reziproker Anerkennung zueinander. Dieser stark an Montesquieu erinnernde Vorschlag zeichnet das Bild einer Zivilgesellschaft, Durkheim nennt sie »politische Gesellschaft«, auf der Basis von korporativen Zusammenschlüssen, »Chancengleichheit, individueller Selbstentfaltung und fairem Austausch« (ebd., S. 518). Auf diese Weise rückt Durkheim intermediäre Vereinigungen ins Zentrum sei-
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ner Analyse einer sozialintegrativen Moral beziehungsweise Solidarität unter modernen Bedingungen. Während Durkheim in der Moderne noch die Chance einer neuen Form der sozialen Solidarität auf Grundlage von Arbeitsteilung und Korporationen sah, waren andere europäische Soziologen in jenen Tagen wesentlich skeptischer, so zum Beispiel Max Weber, einer der Begründer der Soziologie in Deutschland. Max Webers (1864–1920) Werk kann hier nur angerissen werden, zu umfangreich und komplex sind seine Untersuchungen zu den soziologischen Grundkategorien und zur Entstehung der modernen Gesellschaft. Auf einer im Jahr 1904 durchgeführten Reise lernte Weber die USA kennen und kam genau wie Dewey zu dem Schluss, dass die amerikanische Demokratie einzigartig erfolgreich sei. Auch über die Gründe des Erfolgs waren sie sich einig, wie James Kloppenberg (2000, S. 60 ff.) hervorhebt: Die USA hatten keine feudale Vergangenheit, verfügten über freies Land und sichere Grenzen, und die Partizipation aller in den egalitären Zusammenschlüssen – den Vereinen – förderte die demokratischen Werte und Institutionen. Zwar stand Weber natürlich auch die Vielzahl der Vereine in Deutschland vor Augen, doch waren diese seiner Meinung nach sehr den autoritären Traditionen verhaftet. Aber auch gegenüber der Zukunft der amerikanischen Demokratie blieb er skeptisch, denn er sah einen unauflöslichen Konflikt zwischen der immer weiter vordringenden Logik der Zweckrationalität, Rationalisierung, Wissenschaftlichkeit und Bürokratie auf der einen und den Prinzipien einer Massendemokratie auf der anderen Seite. Auch Amerika würde der Wandel zu einer stärkeren Bürokratisierung des sozialen Lebens noch bevorstehen (ebd., S. 61), da war er sich sicher. Dewey war an diesem Punkt, wie wir gesehen haben, gänzlich unterschiedlicher Auffassung: So wie Wissenschaft nur rational und weiterführend ist, wenn man gemeinschaftlich Hypothesen prüft, diskutiert, verwirft oder stützt, so beruht auch die Demokratie auf dem Prinzip der gemeinschaftlichen Kooperation; einen Konflikt zwischen Rationalisierung und Demokratie im Sinne von Partizipation und Kommunikation sah er deshalb nicht. Weber dagegen, und damit repräsentierte er die politische Situation in Deutschland, bestritt, dass der Demokratie die Zukunft gehörte. In seiner Theorie, die die Entwicklung zur modernen Gesellschaft
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als einen Prozess der Rationalisierung beschreibt, setzt er Bürokratisierung mit dem übergeordneten Prozess der Rationalisierung gleich und bestreitet die Möglichkeit, dass die Demokratie in der Lage sei, die Bürokratie zu kontrollieren (ebd., S. 64). Die Bürokratie sah er unaufhaltsam auf dem Vormarsch mit dem Effekt, dass die Autonomie der Individuen auf dem Spiel stehe und ein »Gehäuse der Hörigkeit« bereitet werde. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung zu einer erstickenden, alles regulierenden Bürokratie hielt Weber die Bildung eines Gegengewichts für unabdingbar. Dieses sah er aber weniger in den Prinzipien der Demokratie, die vor allem zu einer Emotionalisierung der Politik führe (Weber 1972, S. 868), als in einem charismatischen Führer begründet. Ein starker charismatischer Führer, gewählt in einer »plebiszitären Führerdemokratie«, sollte die Folgen der gesellschaftlichen Erstarrung durch die Bürokratie abwenden – eine Vision, die wir mit unserem heutigen historischen Wissen natürlich äußerst unheimlich finden. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, den Zusammenhängen zwischen Demokratieskepsis, der Verabschiedung des Begriffs der Zivilbeziehungsweise bürgerlichen Gesellschaft und dem Aufschwung der Dichotomie von Staat und Gesellschaft in der frühen, insbesondere der frühen deutschen Soziologie nachzugehen. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, nur so viel sei dazu gesagt: Die deutsche Soziologie riss grundbegrifflich auseinander, was im Diskurs um Zivilgesellschaft und insbesondere in der amerikanischen Tradition von Community und Civil Society nicht auseinander dividiert, sondern als vermittelt angesehen wurde (Jaeger 2001, S. 300 f.). Einerseits wurden Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies) beziehungsweise Wert- und Zweckrationalität (Weber) voneinander gelöst, andererseits wurden Staat und Gesellschaft streng dichotom betrachtet, mit dem Ergebnis, dass Gesellschaft nur noch als Zusammenhang zweckrational kalkulierender Individuen betrachtet werden konnte, die einem bürokratischen, übermächtigen Staat gegenüberstehen. Wie wir gesehen haben, macht Dewey diese Oppositionen nicht mit, sondern sieht diese Aspekte als in zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen und demokratischen Öffentlichkeiten vermittelbar an. Integration braucht in diesem Modell weder über staatlichen Zwang noch durch vormoderne roman-
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tisierte Gemeinschaften hergestellt zu werden. Die Zivil- beziehungsweise bürgerliche Gesellschaft verkam in Deutschland dagegen zur Sphäre der zweckrationalen Verfolgung des Eigennutzes, zum reinen »System der Bedürfnisse«, und wurde nicht mehr als politisch konstituierte und vermittelnde Sphäre gedacht. Der Historiker Paul Nolte (2000, S. 26 ff.) hat diese Entwicklungen auf den Punkt gebracht, indem er drei für unseren Zusammenhang wesentliche Strukturmerkmale der frühen deutschen Soziologie benennt: Erstens konzentrierte sich die soziologische Wahrnehmung der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert auf sozialökonomische Deutungsschemata. Unter dem Eindruck der Industriellen Revolution und der Klassenbildung ging es vornehmlich um die Erfassung der ökonomisch induzierten Klassen- und Schichtenbildung sowie der damit verbundenen Fragmentierung der Gesellschaft. Zweitens: »Ein Grundzug und Grundproblem der Selbstbeschreibung von Gesellschaft in Deutschland lag in der Schwierigkeit, die soziale Ordnung zugleich einheitlich und vielfältig, als zugleich integriert und pluralistisch zu begreifen« (ebd., S. 26). Die Suche nach gemeinschaftlicher Einheit und Homogenität ging Hand in Hand mit den in der deutschen Sozialstruktur wahrgenommenen Spannungen; zwischen Staat und Gesellschaft, Staat und Volk, Gesellschaft und Gemeinschaft schien man sich entscheiden zu müssen. Damit hing drittens das speziellere Problem der Vermittlung von Staat und Gesellschaft zusammen. Es fehlte ein Konzept von Zivil- oder politischer Gesellschaft, deren Mitglieder dem Staat nicht entpolitisiert gegenüberstehen, sondern das politische Gemeinwesen konstituieren. Die sozialökonomische Betrachtungsweise überwog also im Vergleich zu Analysen, die den politischen Charakter von Gesellschaft hätten hervorheben können.
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Parsons und Shils: Integration und Wertbindung Talcott Parsons’ Konzept der societal community – Integration – Politische Kultur – Edward Shils: Bürgersinn und das Heilige Einer der wichtigsten und einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts ist Talcott Parsons (1902–1979), der eine umfangreiche antiutilitaristische Sozialtheorie entwickelte, die den Anspruch erhob, das Erbe der soziologischen Klassiker in sich aufzunehmen. Gemeinhin unterteilt man Talcott Parsons’ systematische Konstruktion von Gesellschaftstheorie in drei Phasen. Zunächst entwickelt er die Theorie voluntaristischen Handelns, die darlegt, dass soziale Ordnung sich nur über das sozialintegrative Element gemeinsam geteilter Wertorientierungen herstellt. Hieran schließt die Werkperiode des Strukturfunktionalismus an, der die Phase des Systemfunktionalismus folgt, welcher im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Dem Systemfunktionalismus liegt ein Vier-Funktionen-Schema zugrunde, das Parsons zur analytischen Differenzierung von Handlungssystemen entwirft. Vier Funktionsimperative nennt er: Anpassung (adaptation), Zielerreichung (goal-attainment), Integration und die Erhaltung latenter Strukturmuster (latent pattern maintenance) – das so genannte A-G-I-L-Schema. Das soziale System – »Gesellschaft« im uns vertrauten Sinne – ist ein Subsystem des allgemeinen Handlungssystems und bildet intern wiederum Subsysteme aus, nämlich das ökonomische System (A), das politische System (G), die gesellschaftliche Gemeinschaft (societal community) (I) und das Treuhändersystem (fiduciary system) (L). Im Folgenden soll die gesellschaftliche Gemeinschaft, die man auch das System der Zivilgesellschaft nennen kann, im Vordergrund stehen. Die societal community erfüllt die Funktion der Integration der Gesellschaft über Normen und die Inklusion von Individuen und Gruppen in die Gesellschaft. Parsons greift auf Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft zurück und sieht die gesellschaftliche Gemeinschaft als ein Subsystem an, das sowohl historisch gewachsene gemeinschaftliche Komponenten als auch vertragliche Momente des freiwilligen Zusammenschlusses von Individuen enthält. Die wesentliche Leistung der gesellschaftlichen Gemeinschaft ist für Parsons, dass
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sie die Loyalität der Gesellschaftsmitglieder aus den Fesseln nur partikularer Bindungen befreit und auf übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge ausdehnt (Münch 2002, S. 446) – hierin ähnelt sie Deweys Great Community. Voraussetzung für diese grundlegende Veränderung ist eine dreifache Ausweitung von Rechten, wobei sich Parsons (1985) hier an dem berühmten Modell von T. H. Marshall orientiert: Im Verlauf der Durchsetzung der modernen Gesellschaft haben sich zivile Abwehrechte gegenüber dem Staat, politische Partizipationsrechte sowie soziale Teilhaberechte durchgesetzt. Das Organisationsprinzip der societal community ist die Vereinigung (association); sie ist durch drei Merkmale gekennzeichnet (ebd., S. 37 ff.): Vereinigungen beruhen erstens auf dem Prinzip der Gleichheit der Individuen, das seinen wichtigsten Ausdruck in den drei schon erwähnten Rechten findet. Zweitens ist das Prinzip der Freiwilligkeit zentral: Die Menschen entscheiden selbst, ob sie einer Vereinigung beitreten oder diese verlassen. Und das dritte Merkmal schließlich ist die Entscheidungsfindung durch Diskussion und Abstimmung. Die USA sind für Parsons dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Vereinigungsprinzip einen großen Stellenwert beimessen, sie haben für Parsons eine Zivilgesellschaft par excellence kreiert, die sowohl der Bürokratie als auch dem Markt Grenzen aufzeigt und die amerikanische Gesellschaft integriert. Weil Parsons den Vereinigten Staaten diese Vorbildfunktion einräumt und nicht die gleichzeitige Dominanz des Marktprinzips erfasst, sprechen Cohen und Arato (1992, S. 142) in ihrer Parsons-Interpretation von einer Apologie der amerikanischen Zivilgesellschaft. Doch entscheidender ist, dass nie völlig klar wird, wie die analytisch gewonnenen Systeme mit empirischen gesellschaftlichen Handlungssphären und Entwicklungen zusammenhängen. Zeitlich parallel zu Parsons’ Entwurf interessierte die amerikanische Soziologie der Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften im internationalen und historischen Vergleich. Die sich Mitte der 1950er Jahre in den USA etablierende Modernisierungstheorie (vgl. Knöbl 2001) warf die Frage auf, ob ein erfolgreicher Übergang zur Demokratie nicht auch eine bestimmte in der Bevölkerung verankerte politische Kultur erfordere. Gabriel Almond und Sidney Verba (1963) stellten in einer vergleichenden Untersuchung heraus, dass die USA
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und Großbritannien eher eine demokratische Kultur aufwiesen als Deutschland, Mexiko und Italien. Die civic culture vermittelt zwischen den politischen Eliten und der allgemeinen Bevölkerung und zeichnet sich vor allem durch ein gewisses Niveau an Partizipation aus: Menschen interessieren sich für Politik, sind Mitglieder in sozialen und politischen Vereinigungen und haben das Gefühl, etwas bewirken zu können. Dennoch, so betonen Almond und Verba, sollten diese Merkmale durch traditionalere und passivere Einstellungsmuster abgefedert werden: Demokratie erfordert dieser Perspektive zufolge gerade auch Apathie und Nicht-Partizipation. Dahinter steht eine zu jener Zeit weit verbreitete Einstellung in der politikwissenschaftlichen Pluralismustheorie, die aus der Anschauung des sowjetischen Totalitarismus den Schluss zog, dass zu viel Politik gefährlich sei. Plurale Interessengruppen wurden stattdessen unter dem Vorzeichen betrachtet, inwieweit sie Klassenspaltungen überwinden, »politische Leidenschaften« mäßigen und die Interessen der Einzelnen gegenüber dem politischen System bündeln und »aggregieren« können. Der Soziologe Edward Shils (1910–1995), der in jüngeren Jahren mit Talcott Parsons zusammengearbeitet hatte, jedoch eine eigenständige Theorie der Gesellschaft schuf, verfasste gegen Ende seines Lebens mehrere Aufsätze, die sich direkt mit den Begriffen der Zivilgesellschaft und Zivilität beschäftigen (Shils 1997). Shils führt die Vorstellung des späten Durkheims, dass in jeder Gesellschaft ein Heiliges existiert, mit Webers Begriff des Charismatischen zusammen (Knöbl 2001, S. 228 ff.) und stellt die These auf, dass man in allen Gesellschaften Dinge, Personen oder Institutionen findet, denen charismatische beziehungsweise heilige Qualitäten zugesprochen werden. Diese Institutionen und Symbole haben eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, weil sie die Bindung an bestimmte gemeinsam geteilte Werte ausdrücken; sie konstituieren das Zentrum einer Gesellschaft. Nur durch die Bindung an dieses Zentrum und die dort vorfindbaren Werte lässt sich für Shils eine moderne, demokratische und pluralistische Gesellschaft integrieren, da ihr prinzipiell die Tendenz zu unabschließbaren Interessen- und ideologischen Konflikten innewohnt. Die Mitglieder einer Zivilgesellschaft gehören sehr unterschiedlichen sozialen Bereichen an, betrachten sich jedoch wechselseitig als Mitbürger und
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beziehen sich auf das Zentrum der Gesamtgesellschaft. Zivilität beziehungsweise Bürgersinn ist die typische Denk- und Verhaltensweise in einer Zivilgesellschaft, die sich durch die Bindung des Einzelnen an die Gesamtgesellschaft ausdrückt. Die zentralen – heiligen beziehungsweise mit Charisma aufgeladenen – Institutionen werden geschätzt, unterstützt und man erkennt an, dass man in seinem Handeln auch die Gesamtgesellschaft und das Gemeinwohl zu berücksichtigen hat (ebd., S. 15) – eine liberale Demokratie ist darauf angewiesen und kann nur so überleben, lautet Shils’ Überzeugung.
Hannah Arendt und libertäre Demokraten Hannah Arendts Theorie des Politischen – Die Amerikanische Revolution als Vorbild – Libertäre Demokratie, deutsch und französisch – Der leere Ort der Macht – Castoriadis, Touraine und soziale Bewegungen Will man zeitgenössische politische Theorien zur Zivilgesellschaft in ihren Bezügen verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Theorie des Politischen unumgänglich. Arendt (1906–1975) hat in ihren Studien das klassische Denken der Polis wiederbelebt und das politische Handeln und Sprechen als Ort der höchsten Freiheit ausgezeichnet, den sie allerdings in der Moderne als äußerst bedroht ansah. Seyla Benhabib hat in ihrer kongenialen Rekonstruktion des Arendtschen Denkens herausgestellt, dass wir Arendt die Erinnerung daran verdanken, dass das regulative Prinzip der Demokratie auf die Idee einer »autonomen Öffentlichkeit, definiert als ein Prozeß, in dem vermittels der kollektiven Deliberation die Selbstverwaltung erfolgen kann«, verweist (Benhabib 1998, S. 319). Auf den Begriff des öffentlichen Raums und Arendts Idee, dass menschliches Handeln eine sprachliche Struktur aufweist, konnte dann Habermas in seinem Projekt zu einer Theorie des kommunikativen Handelns aufbauen (ebd., S. 310 f.). In ihrem Buch Vita Activa (1981 [1958]) zeichnet Arendt das Handeln von Mensch zu Mensch gegenüber den Tätigkeiten der Arbeit und des Herstellens normativ aus: Handeln und speziell das politische
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Handeln hat mit der Fähigkeit des Menschen zu tun, etwas Neues zu kreieren und Initiative zu ergreifen (ebd., S. 18). Gleichzeitig ist das Handeln konstitutiv auf andere bezogen und kommunikativ (ebd., S. 218): »Es gibt keine menschliche Verrichtung, welche des Wortes in dem gleichen Maße bedarf wie das Handeln.« Politische Macht ergibt sich für Arendt aus dem Zusammen-Handeln der Menschen, die sich versammeln. Das, was die Versammelten über die Zeit der Zusammenkunft hinaus zu vereinen vermag, ist die Fähigkeit des Menschen, Versprechen zu geben, aus denen sich wiederum politische Verträge und Bündnisse ableiten (ebd., S. 312). Doch verdrängt der Aufstieg des »Sozialen« zunehmend das »Politische«, so Arendts bekannte und missverständliche These. Das, was zu Zeiten der griechischen Polis noch dem privaten Haushalt, dem oikos, angehörte, steigt im Laufe der Jahrhunderte aus dem Dunkel des Hauses an das Licht der Öffentlichkeit: nämlich das Ökonomische und Monetäre. Dies ist Arendts erstes Verständnis des Sozialen: Die kapitalistische Warenwirtschaft wird entfesselt und trägt zum Aufstieg des Sozialen bei, weil der Warentausch nun zur dominanten Sozialbeziehung wird. Die zweite Bedeutung des Sozialen liegt im Aufstieg der Massengesellschaft begründet, in der die Individuen den Disziplinierungs- (Foucault) beziehungsweise Rationalisierungstechniken (Weber) der modernen Gesellschaft schutzlos ausgesetzt sind. Schließlich bedeutet der Aufstieg des Sozialen bei Hannah Arendt auch das Aufkommen von »Geselligkeit«. Das Gesellschaftliche beziehungsweise Soziale ist in diesem Zusammenhang eher mit kultiviertem Geschmack und zivilisierten Umgangsformen in den bürgerlichen Salons während der spätabsolutistischen Aufklärung gleichzusetzen (Benhabib 1998, S. 65). Die moderne Gesellschaft bringt also nicht nur den Aufstieg des Warentausches und der Massengesellschaft mit sich, sondern auch neue Formen der Interaktion, Vergesellschaftung und der Sitten hervor. Diese spielen jedoch im melancholisch-pessimistisch getönten Gesamtwerk Arendts eine nur untergeordnete Rolle. Benhabib arbeitet heraus, dass eine konsistente Unterscheidung des Sozialen vom Politischen nur darin bestehen könne, den Unterschied in der Einstellung der Handelnden zu lokalisieren. Politisches Handeln und Reden überführt ein individuelles oder ein Gruppeninteresse in ein ge-
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meinsames Interesse, indem man bereit ist, öffentlich nachvollziehbare Gründe für seine Interessen vorzubringen und die Interessen anderer in Erwägung zu ziehen. In Über die Revolution (1994 [1963]) macht Arendt diesen Unterschied in der Perspektive anhand des Vergleichs der Französischen mit der Amerikanischen Revolution deutlich. Die Französische Revolution war eine soziale Revolution und scheiterte in einer Spirale des Terrors – die Amerikanische dagegen gelang und war eine genuin politische Revolution, so lautet Arendts Diktum. Arendt fragt, wie sich öffentliche Freiheit institutionalisieren lässt, denn die Französische Revolution ging offenbar dieser Freiheit verlustig. In ihrer Darstellung führte das Bündnis der Jakobiner mit dem Volk zu einer Ideologie der Homogenisierung; das Volk wurde zu einer geradezu mythischen Instanz, auf die es sich zu berufen galt. Die Amerikanische Revolution vermied dies und verlagerte die Souveränität dezentral immer weiter in Länderparlamente, Volksversammlungen, Länderverfassungen, Provinzen, Distrikte, Stadt- und Dorfgemeinden (Arendt 1994, S. 214). Das föderative System war also in der Lage, die politische Freiheit institutionell am Leben zu erhalten, und Arendt schließt sich explizit der Tocquevilleschen These an, dass die Amerikanische Revolution mit ihrer Lehre von der Volkssouveränität in den townships ausbrach (ebd., S. 215). Die amerikanischen Revolutionäre, die sich in der Tradition des Bundes sahen, den die Mayflower-Auswanderer miteinander begründeten, schlossen einen wechselseitigen Gesellschaftsvertrag, der auf der Gleichheit aller beruhte, der die letzte Quelle der Macht offen hielt und den Einzelnen ihre Macht nicht entriss. Der hierarchische Gesellschaftsvertrag der Französischen Revolution verlangte dagegen von den Einzelnen, ihre Macht zugunsten eines Herrschers aufzugeben. Das Prinzip des Bündnisses der Amerikanischen Revolution »versammelt die isolierten Kräfte der Bündnispartner und bindet sie in eine Machtstruktur, die auf dem gegenseitigen Vertrauen in die ›freien und aufrichtigen Versprechungen‹ basiert. Dieser Vertragsakt ist so wenig fiktiv, daß er sich im Grunde in jeder freien Vereinsbildung und jeder Organisation wiederholt« (ebd., S. 221). So wie sich das Bündnis und das gegenseitige bindende Versprechen Arendt zufolge in jedem amerikanischen Verein wiederholt, so kann es sich auch in jedem anderen
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Verein wiederholen, legt er dem gemeinsamen Handeln diesen Bündnischarakter zugrunde – emphatischer kann man das Prinzip zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und -ermächtigung kaum formulieren. An Hannah Arendts Überlegungen zur politischen Macht haben drei deutsche Autoren mit ihrem Konzept einer libertären Demokratie oder – wie es auch genannt wird – eines zivilgesellschaftlichen Republikanismus direkt angeknüpft. Der 1989 erschienene Essay Die demokratische Frage von Ulrich Rödel, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel formuliert ein neorepublikanisches Projekt der Selbstregierung, das um die Frage kreist, wie Arendts emphatisches Projekt des Politischen auf Dauer gestellt und veralltäglicht werden kann. Die Zivilgesellschaft ist für sie der Träger demokratischer Selbstregierung. Sie wird konstituiert durch das wechselseitige Versprechen – im Sinne Arendts – der Bürger und Bürgerinnen, sich gegenseitig als politisch Gleiche anzuerkennen, die Integrität aller Bürger zu respektieren, keine Gewalt anzuwenden und für die Prinzipien einer demokratischen Streitkultur einzustehen (Frankenberg 1994, S. 218). Auf dieser Grundlage konstituiert sich die Zivilgesellschaft im eigentlichen Sinne als Konfliktgesellschaft: Radikale Interessendifferenzen und Konflikte werden hier ausgetragen und die Lebendigkeit der Streitkultur beweist die Lebendigkeit der Zivilgesellschaft. Die Pluralität der Gesellschaft und damit verbunden die Notwendigkeit von Konflikten wird normativ verteidigt gegenüber der im Republikanismus weit verbreiteten Unterstellung der Einheitlichkeit des Volkes oder einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft (Klein 2001, S. 357). Rödel, Frankenberg und Dubiel beziehen sich in ihrem Zivilgesellschaftsentwurf neben Arendt direkt auf die Schriften der französischen Demokratietheoretiker Claude Lefort, Marcel Gauchet und Cornelius Castoriadis (1922–1997), die in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus sowjetischen Typs zu Theorien libertärer Demokratie beziehungsweise einer autonomen Gesellschaft gelangten. Seit Ende der 1940er Jahre arbeiteten Castoriadis und Lefort an einer eigenen Kritik des Totalitarismus und der Marxschen Theorie (Rödel 1990, S. 8 ff.) und kamen dabei zu der Vorstellung einer autonomen, sich selbst erzeugenden Zivilgesellschaft, die sich von der Unterwerfung unter eine Macht zu emanzipieren vermag. Bedingung dafür ist die radikale
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Säkularisierung der Macht: Sowohl Demokratie als auch Totalitarismus sind auf der Grundlage fehlender übergesellschaftlicher oder transzendenter Legitimationsgrundlagen der Machtausübung möglich geworden. Für Lefort besteht Castoriadis’ Fehler allerdings darin, weiterhin an der Möglichkeit einer Revolution festzuhalten, die zu einer sich selbst einsetzenden autonomen Gesellschaft und zum Sozialismus führen soll (Castoriadis 1990). Beiden Autoren gemein ist die Kritik eines staatszentrierten Politikverständnisses, das Zivilgesellschaft als eine entpolitisierte Sphäre betrachtet. Die Macht verbleibt in der Zivilgesellschaft, sie geht nicht in den verselbstständigten Institutionen des Staates auf, und demokratische Verfahren und Institutionen regeln, wie die Zivilgesellschaft auf der Grundlage von Konflikten Macht über sich selbst ausüben kann. Außerdem muss in der Demokratie, so die eigentümliche Formulierung Leforts (1990, S. 293), der Ort der Macht leer bleiben. Im Fürsten verkörperte sich wortwörtlich die politische Macht in seiner Person. Eine Demokratie darf nicht versuchen, den ehemaligen Platz des Fürsten mit neuen symbolischen Instanzen wie »Volk«, »Klasse« oder »Nation« zu besetzen; denn dann droht die Gefahr einer antidemokratischen Totalitätsfiktion. Die Überwindung von Klassengegensätzen, wie sie Marx vorschwebte und wie totalitäre Gesellschaften sie für sich reklamierten, bedeutet faktisch die Eliminierung von Demokratie. Castoriadis’ Entwurf (1984) zu einer eigenständigen Theorie der Institution besagt, dass Gesellschaft das Ergebnis von Institutionalisierungsprozessen ist, die immer auch auf kulturellen Neuschöpfungen beruhen. Denn Gesellschaft bezieht sich in ihren Entwürfen immer auch auf Bilder von der Zukunft, auf Vorstellungen, die Castoriadis das »Imaginäre« nennt. Diese Neuschöpfungen und Sinnentwürfe reichen über die bestehende Gesellschaftsformen hinaus und können zum Gegenstand kollektiven Handelns gemacht werden. Das kollektive Handeln von sozialen Bewegungen, die radikal auf die Veränderung von Institutionen abzielen, untersuchte allerdings nicht Castoriadis, sondern der Soziologe Alain Touraine, der sich von Castoriadis’ Theorie kulturell-imaginärer Entwürfe, aber auch von Sartre inspirieren ließ (Knöbl 2001, S. 395). Touraine analysierte vornehmlich soziale Bewegungen, von denen er sich er sich die Steigerung der Einwirkungs-
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möglichkeiten der Gesellschaft auf sich selbst erhoffte – er spricht dabei von der Selbstproduktion der Gesellschaft (Touraine 1977 [1973]). Die sozialen Bewegungen wenden sich ihm zufolge mit zivilgesellschaftlicher Macht gegen die Verselbständigung von Bürokratien und wirtschaftlicher Macht, wobei diese Euphorie mittlerweile weitgehend verflogen ist. Leforts Projekt einer Zivilgesellschaft, die unentrinnbar mit Konflikten behaftet ist und im Wechselspiel mit den demokratischen Institutionen den Ort der Macht leer hält, erscheint vielen realistischer und wünschenswerter als die Suche nach den gesellschaftlichen Akteuren, die die autonome Gesellschaft konstituieren – auch Touraine ist deshalb seit den 1990er Jahren zurückhaltender in seiner Einschätzung sozialer Bewegungen (Knöbl 2001, S. 414 ff.).
Kommunitarier, Republikaner und andere Liberale Rawls und seine Kritiker – Die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, von MacIntyre bis Walzer – Neo-Tocquevilleans: Bellah und Putnam – Gemeinsinn und Gemeinwohl – Dahrendorfs liberale Bürgergesellschaft In den 1980er und -90er Jahren wurde in Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften die so genannte Kommunitarismusdebatte geführt, die um die Frage kreist, wie viel Gemeinschaft liberale Gesellschaften zu ihrem Zusammenhalt benötigen. Es geht dabei in keiner Weise um die Formulierung einer Alternative zur liberalen Demokratie, sondern um die kommunitären und normativen Grundlagen innerhalb moderner liberal-demokratischer Gesellschaften. Die zunächst amerikanische Debatte zwischen Liberalen und Kommunitariern nahm ihren Anfang in der Diskussion der anthropologischen Prämissen, die der Philosoph John Rawls seiner 1971 erschienenen Theorie der Gerechtigkeit (dt. 1975) zugrunde gelegt hatte. Rawls’ mittlerweile schon klassische Vertragstheorie formuliert als entscheidenden Gedanken, dass man nur zu akzeptablen Gerechtigkeitsprinzipien kommen kann, wenn in dem Diskussions- und Entscheidungsprozess über diese Prinzipien
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Unparteilichkeit gesichert ist. In einer ursprünglichen Situation der Gleichheit, in der niemand seine zukünftige Stellung in der Gesellschaft, noch seine Gaben und Neigungen kennt, sollen die Gerechtigkeitsgrundsätze in einer fairen Übereinkunft gefunden werden (Rawls 1975, S. 29). Unter diesem »Schleier der Unwissenheit« würden die Menschen Rawls zufolge genau zwei Gerechtigkeitsgrundsätze aufstellen: die Gleichheit der Grundrechte und Grundpflichten und den Grundsatz, dass soziale Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für alle ergeben, insbesondere für die Schwächsten in der Gesellschaft (ebd., S. 32). Unter den modernen Bedingungen eines Wertepluralismus ließe sich eine Einigung über diese beiden Grundsätze erzielen, aber keine über eine bestimmte Konzeption des »guten Lebens«, sodass die Subjekte eine Gesellschaftsordnung konstituieren würden, die gegenüber solchen Fragen neutral bleibt. Das meint die liberale Formel vom »Vorrang der Gerechtigkeit vor dem Guten«. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption sah sich bald starken Einwänden ausgesetzt. Die Kommunitarismusdiskussion setzte mit Michael Sandels Buch Liberalism and the Limits of Justice von 1982 ein, welches vor allem eine ausführliche Kritik von Rawls’ individualistischer Personenkonzeption darstellt. Auf der Ebene der Gerechtigkeitsprinzipien versucht Sandel zu zeigen, dass erst gemeinschaftliche Bindungen die Loyalitäten und Bindungen der Menschen untereinander schaffen, die in der Lage wären, Rawls’ egalitäre Gerechtigkeitsprinzipen motivational zu unterfüttern. In späteren Werken gibt Rawls dem »Urzustand« in seiner Theorie eine stärker historische Deutung und anerkennt die ethische Identität von Personen in Gemeinschaften, doch besteht er weiterhin auf dem Vorrang des Rechten vor dem Guten. Damit verstummte die kommunitaristische Kritik allerdings nicht, denn die Frage bleibt, ob nicht die liberale Gesellschaft systematisch Gemeinschaftssinn zerstört, auf den sie eigentlich angewiesen ist (Honneth 1993b, S. 13). Ohne ein größeres Maß an Gemeinschaftsbindung ist aus kommunitaristischer Sicht die Lebensfähigkeit liberal-demokratischer Gesellschaften bedroht. Aus diesem Grund fordert der Philosoph Alasdair MacIntyre (2001) eine Wiederbelebung des aristotelischen Tugendbegriffs und
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knüpft dabei auch an Thomas von Aquin an. In einem sozialen Netz aus Beziehungen des Gebens und Nehmens üben wir die Tugend ein, unabhängige und rationale Subjekte zu sein, aber ebenso die Tugend, unsere Abhängigkeit von anderen zu erkennen. Gerade der intermediäre Bereich freiwilliger Vereinigungen ist für ihn geeignet, diese Tugenden einzuüben (ebd., S. 155). MacIntyre (1993) macht sich darüber hinaus für einen Patriotismus stark, der auf der Verehrung der besonderen Merkmale und Errungenschaften der eigenen Nation beruht. Da man ohne eine Gemeinschaft nicht zum moralisch Handelnden gedeihen könne, plädiert MacIntyre für eine gemeinschaftsbezogene Ethik: »Daher kann mein Eintreten für diese Gemeinschaft und das, was sie von mir verlangt – sogar bis zu dem Punkt, an dem mein Leben gefordert ist, um das ihre zu erhalten –, nicht sinnvollerweise mit dem verglichen oder dem gegenübergestellt werden, was die Moral von mir verlangt« (ebd., S. 93). Eine universalistische Moral scheint ihm also zu sehr die eingelebten gemeinschaftlichen Bindungen und Moralvorstellungen – die »Sitten« – zu verleugnen. Während MacIntyre unter Kommunitarismus eine an Aristoteles anknüpfende, starke Identifikation mit dem Gemeinwesen versteht, bezieht sich Charles Taylor stärker auf republikanische und partizipative Traditionen in der Nachfolge Aristoteles’, Hegels, Tocquevilles und Arendts. Bezüglich der Frage, wie die »Lebensfähigkeit« liberaldemokratischer Gesellschaften zu erhalten sei, führt er die moralische Ressource einer partizipatorischen Selbstregierung an. Die Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit ihrer Republik als ein gemeinsames Unternehmen schafft ein solidarisches Band, das die vitale Quelle für den Erhalt von Freiheit und Gerechtigkeit darstellt (Taylor 1993, S. 117). Die Möglichkeit, sich selbst als Autor oder Autorin der Gesetze begreifen zu können, schafft die Motivation, sich selbst einer gewissen Disziplin zu unterziehen, die beispielsweise im Despotismus nur durch Zwang hergestellt werden kann. Auch Taylor betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Patriotismus als eine Treue zu einer bestimmten historischen und politischen Gemeinschaft, die im Extremfall auch verlangt, für sie zu sterben (Taylor 2001, S. 16). Damit wendet sich Taylor gegen die auf Hobbes und Locke zurückgehende Tradition, die sich in neueren pluralistischen, elitetheoretischen oder
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ökonomischen Theorien der Politik wiederfindet, der zufolge ein Gemeinwesen nur dazu dient, auf die Zielsetzungen ihrer individuellen Mitglieder einzugehen. Dem hält er eine bürgerlich-humanistische Tradition der Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit ihrem Gemeinwesen entgegen, ohne jedoch zu leugnen, dass Menschen und Gruppen die meiste Zeit unterschiedliche Ziele verfolgen oder in Rivalität zueinander stehen (ebd., S. 18). Die Voraussetzungen zur lebendigen Erhaltung solch eines Demokratiemodells sind nach Taylor die Anerkennung der Würde aller, gegenseitiger Respekt, die Partizipation an der Demokratie über zivilgesellschaftliche Vereinigungen, die Dezentralisierung der politischen Gewalt und die Bändigung der Macht großer Privatunternehmen. Der Kommunitarismus ist nicht nur ein sozialphilosophisches Projekt, sondern auch ein sozialwissenschaftliches, das sich die empirische Erforschung dieses Themenkomplexes zur Aufgabe gemacht hat, sowie ein politisch-praktisches, das konkrete Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft anmahnt. Amitai Etzioni, der hier stellvertretend für viele andere behandelt wird, hat sowohl die soziologische Diskussion zum Thema befruchtet als auch politisch zu intervenieren versucht. So gründete er zum Beispiel 1990 zusammen mit anderen Sozialwissenschaftlern und Philosophen das Communitarian Network und die Zeitschrift The Responsive Community mit dem Ziel, die kommunitaristischen Ideen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen. Etzionis theoretisches Hauptwerk ist The Active Society aus dem Jahre 1968 (dt. 1975), in den 1980er Jahren schuf er mit einer Kritik der neoklassischen Wirtschaftstheorie die Grundlagen für die Theoriebewegung der Socio-Economics, aber am bekanntesten machte ihn während des letzten Jahrzehnts sein theoretischer und praktischer Einsatz für den Kommunitarismus (vgl. Etzioni 1997). Sein Engagement richtet sich hier vor allem auf sozialwissenschaftlich informierte und normative Vorschläge zur Wiederbelebung gemeinschaftlicher Bindungen, um einem exzessiven Individualismus Einhalt gebieten zu können. Da moralische Konflikte prinzipiell alles in einen Strudel sich verschärfender Kämpfe ziehen können, benötigen demokratische Gesellschaften einen Kern gemeinsam geteilter Werte, so Etzioni. Gemeinschaften (communities) stellen diese Werte bereit und verhindern, dass
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Konflikte den konsensualen Rahmen sprengen. Eine Einigung auf ein Set von gemeinsam geteilten Werten möchte Etzioni mit dem Begriff der guten Gesellschaft (good society) auszeichnen – der Begriff der Zivilgesellschaft drückt dagegen seines Erachtens nicht klar genug aus, dass es immer auch um die Bindung an bestimmte Werte und nicht nur an Prozeduren gehen muss. Bindungen und Werte können sich auf verschiedene soziale Institutionen stützen (Etzioni 1999, S. 90): zum einen auf Sozialisationsinstitutionen wie Familien, Schulen, Peergruppen und freiwillige Vereinigungen. Zum anderen hebt Etzioni die Bedeutung öffentlicher moralischer Dialoge hervor, die aber nicht als leidenschaftsloses, rationales Debattieren über reine Fakten verstanden werden dürfen. Sie lassen sich somit nicht dem Modell der rationalen Deliberation subsumieren, wie dies etwa Habermas vorschwebt. Moralische Dialoge kreisen hingegen um die inhaltliche Substanz spezifischer Werte und Geschichten der Gesellschaftsmitglieder. Gemeinschaftliche Bindungen und Werte können durch solche gesellschaftsweiten Dialoge, die die Dialoge der verschiedenen Gemeinschaften in einen umfassenden überführen, bekräftigt oder geschaffen werden. Wichtig ist Etzioni in jedem Fall eine Restrukturierung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, denn erst wenn alle Bürger und Bürgerinnen gleichermaßen über die sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen verfügen, die eine Teilnahme an den Dialogen ermöglichen, kann von authentischen Dialogen gesprochen werden (Etzioni 2000, S. 193). Interessant wäre es, Etzionis älteres, aus dem Jahr 1968 stammendes Konzept einer aktiven Gesellschaft und kollektiver Akteure in Zusammenhang mit den aktuellen Diskussionen um Zivilgesellschaft zu setzen. Denn eine aktivierte Gesellschaft meint zwar einerseits aktive individuelle – »bürgerschaftlich engagierte« – Akteure, aber vor allem auch aktive Zusammenschlüsse von Menschen, deren Eigenschaften und Handlungsfähigkeiten auch begrifflich-theoretisch eingefangen werden müssten. Etzionis handlungstheoretische Makrosoziologie hat ihren Ausgangspunkt in der Analyse kollektiver Akteure, wobei sein Interesse sowohl den internen Konstitutionsbedingungen als auch den Interaktionsformen zwischen diesen Akteuren gilt (vgl. Adloff 2004b). Etzionis Hauptproblem in Die aktive Gesellschaft ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, dass eine Gesellschaft den sozialen
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Wandel eher steuert, als dass dieser ungesteuert abläuft. Von einer Aktivierung (möglichst aller) gesellschaftlicher Akteure erwartet Etzioni eine Verbesserung der gesellschaftlichen Selbststeuerung. Gesamtgesellschaftliche Steuerung meint somit die dezentrale und plurale Aktivierung (zivil-)gesellschaftlicher Akteure. Zu den Bedingungen einer aktiven Gesellschaft zählt Etzioni die Existenz handlungsfähiger Kollektive, die über Wissen und Macht, also Kontrollfähigkeiten, und über eine erhöhte Fähigkeit zur internen Konsensbildung verfügen. Dieser Theorieentwurf rückt Etzioni in die Nähe von Castoriadis und Touraine, die ebenfalls der Frage nachgehen, wie eine Selbststeuerung und Selbstkonstitution von Gesellschaft auf der Basis kollektiver Akteure aussehen kann. Der Sozialphilosoph Michael Walzer, der fünfte der hier vorgestellten Kommunitarier, ist eher dem liberalen Rand des Kommunitarismus zuzuordnen. Er selbst sieht sich allerdings gar nicht als Teil der Bewegung. In seinen Schriften sympathisiert er zwar mit dem republikanischen Modell des politisch aktiven Bürgers (Walzer 1992), jedoch hält er es für unrealistisch: Die meisten Bürger wollen sich nicht der Politik widmen, sondern ihre privaten Interessen verfolgen. Doch ebenso kritisiert er das Modell des autonomen Konsumenten, desjenigen, der autonom seine Entscheidung trifft, ohne seine Interessen zugunsten des Gemeinwohls zu zügeln. Das »gute Leben« findet nach Walzer genauso wenig allein in der Arbeit noch im Rahmen einer Nation, der man sich loyal verbunden fühlt, statt. Die Theorie der Zivilgesellschaft ist für Walzer ein Korrektiv gegen die Verabsolutierung eines dieser Modelle (ebd., S. 79). Das gute Leben findet ihm zufolge überwiegend in freiwilligen Vereinigungen statt, weil Menschen primär soziale und dann erst politische oder ökonomische Wesen sind. Im Idealfall ist die Zivilgesellschaft ein »Handlungsraum von Handlungsräumen: alle sind aufgenommen, keiner bevorzugt« (ebd., S. 79). Für Walzer geht es in diesem Sinne vornehmlich um die Anerkennung der gesellschaftlichen Vielfalt. Für ihn lässt sich beispielsweise die USamerikanische Staatsbürgerschaft nur politisch und nicht kulturell definieren (ebd., S. 197 ff.). Doch die Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft ist selbst ein exklusives Gut, das es zu »verteilen« gilt: Man gehört zur politischen Gemeinschaft oder nicht; sprich: Man hat
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staatsbürgerliche Rechte oder nicht. Die Staatsbürgerschaft (citizenship) ist daher das zentrale politische Gut, aus der sich auch wechselseitige politische Verpflichtungen ergeben. Erst die Mitglieder einer solchen politischen Gemeinschaft schulden Walzer zufolge einander »die wechselseitige Versorgung mit all jenen Dingen, derentwegen sie sich von der Menschheit als Ganzem separiert und zu einer speziellen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben« (Walzer 1998, S. 109). Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in den Vereinigten Staaten eine sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung und Theoriebewegung, die mit der Kommunitarismusdebatte eng verzahnt ist, deren Vertreter man aber auch als »Neo-Tocquevilleans« bezeichnen könnte, sehen sie sich doch in der Tradition Tocquevilles und seiner Untersuchung zur amerikanischen Demokratie, ihrer Assoziationen und »Sitten«. Beide im Folgenden vorgestellten Sozialwissenschaftler, Robert Bellah und Robert Putnam, waren Gründungsmitglieder von Etzionis Communitarian Network. Der neuerlichen Erforschung der amerikanischen »Sitten« widmete sich Mitte der 1980er Jahre ein Forscherteam rund um den Religionssoziologen Robert Bellah. Die Schrift Habits of the Heart (1987 [1985]) greift eine Formulierung Tocquevilles im Titel auf und fragt, was aus dem amerikanischen Individualismus seit Tocqueville geworden ist, denn dieser scheint den Autoren eine Gefahr für die Demokratie mit sich zu bringen. Robert Bellah hatte schon in früheren Publikationen darauf aufmerksam gemacht, dass es in den USA von Anfang an neben einer liberal-individualistischen auch eine republikanische Tradition gab, die auf gemeinsamen, nicht-individualistischen Werten und Tugenden gründet. Habits of the Heart zeigt, dass auch weiterhin gemeinschaftliche Traditionen in den USA vorhanden sind, die ein Gegengewicht zum Individualismus bilden. Aus einer Reihe narrativer Interviews bilden sie vier Identitätstypen: erstens die biblische Tradition, zweitens die republikanische Tradition, drittens den utilitaristischen Individualismus und viertens den expressiven Individualismus. Alle vier Typen haben weit zurückreichende geistige Traditionen. Die biblische Tradition wurzelt im amerikanischen Puritanismus, der zwar durchaus am materiellen Wohlstand interessiert war, in dessen
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Mittelpunkt aber das ethische und geistige Leben der religiösen Gemeinschaft stand (Bellah u.a. 1987, S. 52). Die republikanische Tradition beruht auf der Vorstellung einer sich selbst regierenden Gesellschaft relativ Gleicher mit Partizipationschancen aller (ebd., S. 54). Der utilitaristische Individualismus ist geprägt von der Idee des sozialen Aufstiegs durch Eigeninitiative, die verbunden ist mit der These, dass die Verfolgung der je eigenen Interessen zum gesellschaftlichen Wohl führt (ebd., S. 57). Die Tradition des expressiven Individualismus hat ihre Ursprünge in der Romantik, nach der ein Leben in starken Gefühlen ein gelungenes Leben ist. Es kommt in dieser Tradition darauf an, sein Selbst zu suchen, es zu kultivieren und auszudrücken (ebd., S. 58). Alle vier Traditionen sind in einem tieferen Sinne individualistisch: Ihnen ist der Glaube an die Würde des Menschen, die Wertschätzung selbständigen Denkens und Urteilens sowie der Wunsch, ein Leben zu führen, wie der oder die Einzelne es zu führen gedenkt, gemeinsam. Der Unterschied liegt für Bellah darin, dass Vertreter der republikanischen und biblischen Traditionen ihre individuelle Autonomie in ein Verhältnis zu moralischen und religiösen Verpflichtungen setzen. Dagegen fußt der utilitaristische Individualismus auf einem »ontologischen Atomismus«: Das Individuum ist vor der Gesellschaft da, und die Gesellschaft beruht gleichsam auf einem freiwilligen Vertrag ihrer Mitglieder – Lockes Einfluss ist hier offensichtlich. Die Gesellschaftsmitglieder verfolgen jeweils nur ihr rationales Eigeninteresse und versuchen dieses zu maximieren. Obwohl der expressive Individualismus zunächst in Opposition zum Utilitarismus entstand, leitet er sich direkt aus jenem ab. Denn nur unter Berücksichtigung der eigenen Wünsche und Empfindungen (also durch Introspektion) ist es dem Individuum möglich, das für ihn oder sie Nützliche zu erkennen (ebd., S. 175). Beide Individualismus-Typen unterstellen dem Individuum die Fähigkeit, es könne seine Rollen und seine Bindungen frei nach dem Kriterium der Lebenseffektivität wählen. Dabei ist das Ziel die Steigerung des individuellen Wohlgefühls; normative Bindungen werden dem untergeordnet, erscheinen als beliebig verfügbar und dienen letztlich nur der Selbstverwirklichung (ebd., S. 73). Demgegenüber machen Bellah und seine Mitarbeiter die These stark, dass das Individuum erst durch die Einbettung in eine Gemeinschaft
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in der Lage ist, die eigene Individualität zu entwickeln und zu sichern. Diese Auffassung sehen sie empirisch bei den Interviewpartnern verwirklicht, die in der republikanischen oder biblischen Tradition verankert sind. Sie führen ein stark gemeinschaftliches Leben, das in hohem Maße durch die Vergangenheit konstituiert ist, denn die Geschichten der kollektiven Vergangenheit stiften einen Bedeutungszusammenhang für ihre Mitglieder. Die Gemeinschaften der biblischen und republikanischen Traditionen sind für Bellah diejenigen kulturell-moralischen Ressourcen, auf die die US-amerikanische Gesellschaft vital angewiesen ist, denn sonst würde die »Kultur der Vereinzelung« – der 1980er Yuppie-Jahre, könnte man hinzufügen – weiter Überhand gewinnen und die »Überlebensfähigkeit« der liberaldemokratischen Gesellschaft dadurch fraglich werden. Die biblische und die republikanische Tradition sind auch weiterhin in der Kultur Amerikas verwurzelt, nur, so beobachtet Bellah, sind sie zunehmend verdeckt worden. Utilitaristischer und expressiver Individualismus haben sich zu den »Erstsprachen« Amerikas entwickelt, während den beiden gemeinschaftlichen Traditionen nur noch der Status einer »Zweitsprache« zukommt. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Befürchtung, dass die moderne Gesellschaft ihren Zusammenhalt verlieren könnte, neuen Nährboden und einen neuen Namen erhalten: Denn seitdem spricht man in den USA, aber auch in Deutschland von einem Schwund des Sozialkapitals. Der Begriff wurde in der Soziologie zuvor schon lange verwendet (in jüngster Zeit etwa von James Coleman und Pierre Bourdieu), verbindet sich jedoch im Zuge der Debatte um den schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft mit dem Namen Robert Putnams, der in einer viel beachteten Serie von Aufsätzen und dann in dem Buch Bowling Alone den Verlust an Sozialkapital analysierte und beklagte (Putnam 1995; 2000). Der Politikwissenschaftler entwickelte sein Konzept von Sozialkapital zunächst in einer Studie über Italien (Putnam 1993) und konnte dabei zeigen, dass der italienische Norden ökonomisch und politisch erfolgreicher arbeitet als der Süden, weil die norditalienische Bevölkerung über mehr Sozialkapital verfügt. Dabei bezeichnet Sozialkapital soziale Tatbestände wie Vertrauen, Normen und soziale Netzwerke, die Handlungskoordination ermöglichen und damit in der Lage sind, Gesellschaft gewissermaßen »erfolgreicher« zu
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machen. Dahinter steht die Vorstellung, dass Assoziations- und Kooperationsformen, wie man sie in Vereinen und Initiativen antrifft, bei den Mitgliedern Kommunikations-, Kooperations- und Hilfsbereitschaft generieren können. Soziales Kapital hat sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Seite. Individuen gehen zum einen Verbindungen ein, die ihre Interessen befördern – ein bewährtes Mittel bei der Jobsuche ist schließlich das Networking –, auf der anderen Seite kann das soziale Kapital auch externe Effekte auf die größere Gemeinschaft ausüben. Weder alle Kosten noch alle Nutzen fallen den Individuen zu, die sich vernetzen. Aus diesem Grund betrachtet Putnam soziales Kapital zugleich als privates wie als öffentliches Gut. »For example, service clubs, like Rotary or Lions, mobilize local energies to raise scholarships or fight disease at the same time that they provide members with friendships and business connections that pay off personally« (Putnam 2000, S. 20). Soziale Netzwerke produzieren und reproduzieren gegenseitige Verpflichtungen und die Norm der Reziprozität. Reziprozitätsnormen lassen sich nach ihrer Reichweite unterscheiden: Liegt eine spezifische Reziprozität vor, kann man den Personenkreis genau angeben, auf den sie sich bezieht: »Ich tue das für dich, wenn du jenes für mich tust.« Eine generalisierte Reziprozitätsnorm geht ganz abstrakt davon aus, dass mir irgendjemand irgendwann auch etwas zurückgeben wird, wenn ich jetzt einer konkreten Person etwas gebe (ebd., S. 21). Die so genannte goldene Regel – »was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu« – ist zum Beispiel eine Ausformulierung generalisierter Reziprozität. Putnam behauptet nun, dass eine Gesellschaft, die eher von generalisierter Reziprozität gekennzeichnet ist, effektiver ist als eine Gesellschaft, in der sich Reziprozität nur in spezifischen Subgruppen findet. Ebenso kann soziales Kapital schädliche antisoziale Effekte für die größere Gemeinschaft haben, denn auch die Mafia verfügt über Sozialkapital. Um diese Differenz darstellen zu können, unterscheidet Putnam in neueren Publikationen (Putnam 2000, S. 22) zwischen zwei Formen von Sozialkapital: bridging und bonding. Bonding ist Sozialkapital, wenn es nur intern eine Gruppe verbindet und dieser eine exklusive Identität und eine gewisse Homogenisierung verschafft. Sozialkapital ist dagegen bridging, wenn es Personen über soziale
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Unterschiede hinweg verbindet. Negative externe Effekte verbinden sich eher mit dem bonding Sozialkapital, positive mit dem bridging. In Bowling Alone stellt Putnam enorm viele Daten vor, die den Verlust des Sozialkapitals in den USA in den letzten Jahrzehnten belegen sollen. Er führt aus, dass trotz des gestiegenen Bildungsniveaus seit Mitte der 1960er Jahre die Partizipation in politisch aktiven Organisationen deutlich abgenommen hat (ebd., S. 31 ff.). Zwar sind die Mitgliedschaftsraten in nicht-politischen Assoziationen weiterhin sehr hoch, doch die aktive Beteiligung ist zurückgegangen (ebd., S. 48 ff.). Ähnliches gilt für die Partizipation an Religionsgemeinschaften – insbesondere bei den jüngeren Generationen. Im Bereich des Arbeitslebens verzeichnen die Gewerkschaften einen gravierenden Mitgliederschwund, und freiwilliges philanthropisches Engagement ging Putnam zufolge ebenso zurück (ebd., S. 116 ff.) wie das Vertrauen der Bürger untereinander (ebd., S. 137 ff.). Die Liste der Indikatoren, die einen Schwund des Sozialkapitals anzeigen, ließe sich weiter fortsetzen. Was sind die Gründe für diesen Verlust? Während Putnam in seinen früheren Publikationen (z.B. Putnam 1995) den gestiegenen Fernsehkonsum als »Haupttäter« identifizierte, ist diese Ursache in seinem Buch Bowling Alone auf Rang zwei gerückt. Die Hauptursache liegt für ihn nun im generationellen Wandel begründet. Die sogenannte civic generation der zwischen 1910 und 1940 Geborenen, die besonders stark zivilgesellschaftlich aktiv war, wurde abgelöst von ihren weniger stark engagierten Kindern und Enkelkindern (Putnam 2000, S. 283). Diesem Faktor spricht er einen Anteil von etwa 50 Prozent am gesamten Ursachenbündel zu, der Privatisierung des Freizeitverhaltens über den verstärkten Fernsehkonsum ordnet er 25 Prozent zu. Suburbanisierungsprozesse und das Pendeln zum Arbeitsplatz bekommen einen Anteil von 10 Prozent, ebenso macht der gewachsene berufliche und zeitliche Druck nur 10 Prozent der Gesamtsumme aus. Bei den Effekten des Fernsehkonsums gibt es Putnam zufolge schwer zu identifizierende Überlappungseffekte mit dem generationellen Wandel (ebd., S. 284). Dieses die amerikanische Öffentlichkeit alarmierende Bild des Verfalls des Sozialkapitals ist in der sozialwissenschaftlichen Diskussion nicht unwidersprochen geblieben und die Debatte um Soziakapital ist
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noch keineswegs abgeschlossen. Kritisiert wurde, dass Putnam die civic generation der zwischen 1910 und 1940 Geborenen zum impliziten normativen Maßstab erhebt (Galston 1999, S. 68). Das macht die Ausnahme zur Norm: Diese Generation erlebte die Depression, die Massenmobilisierung des Zweiten Weltkriegs und die Jahre der Nachkriegsprosperität und zeigte hierdurch bedingt hohe Partizipationsund Mitgliedschaftsraten. In der Diskussion weist man momentan auf einen ungleichen Schwund des Sozialkapitals hin (Wuthnow 2001): Unterprivilegierte soziale Gruppen verloren viel dramatischer an Sozialkapital als die privilegierten Mittelschichten. Auf die Verknüpfung freiwilligen Engagements mit spezifischen Institutionen und Organisationen hat die Sozialwissenschaftlerin Theda Skocpol in ihren historischen Untersuchungen zum amerikanischen Sozialkapital hingewiesen (Skocpol/Fiorina 1999). Der Sozialkapitalansatz unterstellt, dass faceto-face-Interaktionen soziales Vertrauen produzieren, das wiederum auf Institutionen übertragen wird, speziell auf Politik und Verwaltung. Wie man sich allerdings den Transfer der zivilgesellschaftlich erworbenen Tugenden auf die Ebene der Politik vorstellen soll, bleibt unklar. Skocpol weist auf die Rolle von heftigen Konflikten bei der Herausbildung von Demokratien hin sowie auf die Bedeutung, die staatliche Institutionen bei der Generierung von Sozialkapital spielen. Alle größeren Kriege in der amerikanischen Geschichte – von der Revolution im späten 18. Jahrhundert über den Bürgerkrieg 1861–1865 und den Ersten Weltkrieg bis zum Zweiten Weltkrieg – hatten den Effekt, dass sie sich positiv auf die Prosperität freiwilliger Vereinigungen auswirkten (Skocpol 1999a, S. 33). Im Zuge der Kriegsmobilisierung wurden neue freiwillige Vereinigungen gegründet oder bestehende reaktiviert. Mit dem Versuch, neorepublikanische Ideen in Politikwissenschaft und breiterer Öffentlichkeit wiederzubeleben, verbindet sich in Deutschland der Name Herfried Münkler. Der Politikwissenschaftler stellt das Konzept des Bürger- oder Gemeinsinns in das Zentrum seiner Analysen und verknüpft dieses mit der Frage nach dem Gemeinwohl – ein Begriff mit Tradition, der lange Zeit in Vergessenheit geraten war, seit einiger Zeit aber wieder intensiver diskutiert wird. Münkler greift in seinen Überlegungen auf antike Ideen der Bürgerschaft und auf den frühneuzeitlichen Republikanismus zurück, in
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denen herausgestellt wurde, dass Republiken beziehungsweise Demokratien nur erfolgreich funktionieren, wenn ihre Bürger eine hohe Partizipationsbereitschaft zeigen (Münkler 2000, S. 23). Münkler weist alle die Demokratietheorien zurück, die für die Moderne diesen Bedarf an bürgerschaftlichem Engagement nicht mehr sehen oder als unrealistisch zurückweisen. Weder ökonomisch-individualistisch argumentierende noch verfassungszentrierte Theorien erkennen ihm zufolge, dass Demokratien auf das bürgerschaftliche Engagement angewiesen sind: Wenn die knappe Ressource Bürger- beziehungsweise Gemeinsinn versiegt, ist auch die Demokratie gefährdet, so seine These (ebd., S. 29). Ähnlich wie Walzer will Münkler allerdings von einem realistischen Modell des aktiven Bürgers ausgehen und kritisiert, dass man den Bürger lange Zeit nur für aktiv und gemeinwohlorientiert hielt, wenn er den Raum des Politischen betritt (Münkler/Krause 2001, S. 312). Dieses Bild überfordert jedoch Bürger und Bürgerinnen und führt eher zum Rückzug aus dem politischen Raum. Deshalb plädiert Münkler dafür, auch den Bereich gemeinschaftsbezogener Handlungen, also soziales Engagement, als Aktivität anzuerkennen. Motivational hat solch ein realistisches Modell auch den Vorteil, so Münkler (ebd., S. 314), dass die Betätigung für das Gemeinwesen und Selbstverwirklichung hier ganz selbstverständlich zusammen gehen. Die Stärkung der Ressource Gemeinsinn soll in ein Modell von Staatlichkeit eingebettet werden, das den heutigen Bedingungen neu angepasst wird. Aus der Krise des Wohlfahrtsstaates leitet er die Forderung nach einem schlanken Staat bei gleichzeitiger Stärkung der Zivilgesellschaft ab (Münkler 2002a, S. 30). Der Staat müsse zu einem das politische Interesse und soziale Engagement der Bürger aktivierenden Staat werden. Mehr Eigenverantwortung und die Übernahme von bürgerschaftlichen Pflichten sind Münkler zufolge zu stärken und die Mentalität zurückzudrängen, dass aus allem, was man tut, ein unmittelbarer persönlicher Nutzen resultieren muss. Der schlanke Staat soll diesem Modell zufolge nur noch begrenzt Regelungsansprüche erheben und stattdessen »Impulse zur Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements« setzen (ebd., S. 33). Im Rahmen der Arbeitsgruppe »Gemeinwohl und Gemeinsinn« an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (1998-
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2002) ist nicht nur der Begriff des Gemeinsinns einer genaueren Prüfung unterzogen worden, sondern auch der des Gemeinwohls. Kaum eine politische Debatte der letzten Jahre hat auf diesen Signalbegriff verzichtet, der an das Wohl aller appelliert und gleichzeitig doch so unbestimmt bleibt. Der Staat des 19. Jahrhunderts reklamierte für sich die Definitionsmacht über das Gemeinwohl und dies bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Im Zuge der Debatten um die Krise des Sozialstaates, um die Bestandsvoraussetzungen der Demokratie und die Frage, wie eine politische Steuerung überhaupt noch möglich ist, verlor der Staat gegenüber der Gesellschaft zunehmend das Deutungsmonopol über die Frage, was als Gemeinwohl zu gelten hat. Während Gemeinsinn als die subjektive Seite des Verhältnisses von Gemeinsinn und Gemeinwohl angesehen werden kann und die motivationale Handlungsdisposition von Bürgern und Bürgerinnen meint (Münkler/Bluhm 2001, S. 13), zielt der Begriff Gemeinwohl eher auf die positiven Resultate des Handelns für ein Gemeinwesen ab. Während der Gemeinwohlbegriff schon in der Antike gebraucht wurde, ist das 20. Jahrhundert von der Dominanz des Gerechtigkeitsbegriffes gekennzeichnet, der erst in jüngster Zeit wieder mit einer Renaissance des Gemeinwohlkonzeptes konfrontiert wurde. Die Übergänge zwischen beiden Begrifflichkeiten sind fließend und die Unterschiede schwer zu markieren. Bluhm und Münkler (ebd., S. 15) halten allerdings fest, dass der Gemeinwohlbegriff von der Tendenz her partikularistischer ist: Er meint das Wohl einer bestimmten, angebbaren Gemeinschaft und umfasst selten das Wohl der gesamten Welt. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Claus Offe (2002) hat herausgearbeitet, mit welchen Problemen es die Gemeinwohldefinition zu tun hat. Erstens muss angegeben werden können, wer die Gemeinschaft ist, deren Wohl gesteigert werden soll – zwischen Familie und Weltgesellschaft ist hier alles möglich. Zweitens gibt es das Problem des zeitlichen Handlungshorizontes, da man in der Gegenwart etwas tut, was in der Zukunft realisiert werden soll, wobei man nicht weiß, ob man die gegenwärtigen Handlungen in der Zukunft – also in der »vergangenen Zukunft« – auch noch befürworten wird. Drittens muss man sich darüber klar sein, um welche sachliche Komponente es beim Anvisieren des Gemeinwohls gehen soll: Prosperität, Vollbeschäftigung,
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Bildung, Gesundheit, Frieden sind Ziele, denen man sich gemeinwohlorientiert verschreiben kann, doch ist nicht ersichtlich, in welche Hierarchie man sie bringen soll (ebd., S. 71). Schließlich fragt Offe nach dem sozialen Ort der Gemeinwohldefinition: Wer in Staat und Gesellschaft soll über all die angesprochenen Fragen entscheiden? In der Debatte um das Gemeinwohl haben sich verschiedene Alternativen herausgeschält, die prinzipiell bei der Bestimmung des Gemeinwohls in Frage kommen. Allerdings geht es weniger um die Frage nach der Identifizierung eines Personenkreises als um das Problem der Benennung eines Verfahrens der Gemeinwohlbestimmung. Hubertus Buchstein (2002) unterscheidet drei Grundmodelle der Bestimmung des Gemeinwohls. Das objektivistische Modell ist historisch überholt und längst nicht mehr tragfähig, denn es gibt keinen objektiven Standpunkt, von dem aus das Gemeinwohl erkennbar wäre. Das Schnittmengenmodell versucht die Überlappungen aller vorfindbaren individuellen Interessenlagen zu ermitteln (ebd., S. 218). Problematisch hieran ist, dass die Schnittmenge aller Interessen nicht unbedingt im Interesse aller sein muss und dass es zudem sein kann, dass die divergenten Interessen keine Schnittmenge zulassen. Das dritte Modell ist das deliberative oder prozeduralistische Modell. Hier werden die Interessen und Werte in ein Verfahren der argumentativen Auseinandersetzung »eingespeist« und können während der Diskussion transformiert werden, sodass man sich am Ende auf das Gemeinwohl verständigt. Dem ließe sich noch ein viertes Modell hinzufügen, dass in der Denktradition Etzionis und Shils’ liegt. Das Gemeinwohl kann auch darüber erzielt werden, dass es einen vorgängigen Wertekonsens in einer Gesellschaft gibt, der die Handlungsoptionen von vornherein einschränkt beziehungsweise in bestimmte Richtungen weist. Blickt man nochmals auf diese Schwierigkeiten mit dem Gemeinwohl, dann scheint es etwas zu sein, was man kaum exakt benennen oder erreichen kann, das nichtsdestotrotz aber ein regulativer Begriff bleibt, der nicht fallen gelassen werden darf. Weniger Ansprüche an das »Niveau« des Gemein- beziehungsweise Bürgersinns stellt Ralf Dahrendorf. Der deutsch-britische Soziologe gilt als klassischer Liberaler, der seit Jahrzehnten die Bedeutung von Bürgerrechten herausstellt und den Liberalismus nicht auf einen rei-
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nen Wirtschaftsliberalismus verkürzt. Sein Verständnis von Zivilgesellschaft, beziehungsweise wie er vorzieht: Bürgergesellschaft, ist mit der Zentralität der Bürgerrechte verwoben. Er wehrt sich gegen die Zumutungen republikanischer Ideen von tugendhaften Bürgern und einer gesellschaftlichen Selbstregierung. Zu sehr ist er als Konfliktsoziologe davon überzeugt, dass das soziale Leben von Interessenkonflikten und Herrschaft durchtränkt ist: »Gesellschaft heißt Herrschaft, und Herrschaft heißt Ungleichheit« (Dahrendorf 1992, S. 47). Die moderne Gesellschaft braucht allerdings tiefe Bindungen, Ligaturen nennt er sie, die zwischen staatlichen Institutionen und den atomisierten Einzelnen treten, Strukturen aufbauen und dem »Zusammenleben der Menschen Sinn geben« (ebd., S. 44). Freiheit ruht Dahrendorf zufolge auf drei Säulen: dem Verfassungsstaat beziehungsweise der Demokratie, der Marktwirtschaft und der Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft. Der Bürgerstatus (citizenship oder Staatsbürgerrechte) ist notwendige Voraussetzung einer Zivilgesellschaft: Er besteht aus bürgerlichen Freiheitsrechten (Schutz des Eigentums, Gleichheit vor dem Gesetz usw.), politischen Rechten (Wahlrecht z.B.) und sozialen Rechten (auf eine soziale Mindestsicherung z.B.). Diese unveräußerlichen Rechte, so betont Dahrendorf (1991, S. 259) sind unabdingbar für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung, aber noch nicht hinreichend für eine Zivilgesellschaft, denn staatliche Institutionen und Rechte müssen mit den gesellschaftlichen Institutionen zusammen gehen, die die autonome Äußerung von Werten und Interessen erst ermöglichen. Ihm geht es um den liberalen Schutz der Gesellschaft vor dem Staat, um die Konstitution einer Sphäre, die sich freiheitlich vom staatlichen Handeln absetzt – damit kann er nach Taylors Unterteilung als Repräsentant des Lockeschen Theoriestranges gelten. Atomisierte Individuen sind nicht in der Lage, diesen freiheitlichen Raum aufrechtzuerhalten, sondern nur das »schöpferische Chaos« vieler Institutionen und Organisationen ermöglicht dies. Das erste Merkmal der Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft ist daher die Vielfalt ihrer Elemente (Dahrendorf 1992, S. 69) oder Organisationen, die die Lebensinteressen der Gesellschaftsmitglieder realisieren können – gesellschaftliche Monopole (eine Staatskirche etwa) haben mithin nichts mit Zivilgesellschaft zu tun. Zum zweiten zeichnet zivilgesellschaftliche Organisationen und Institu-
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tionen ihre Autonomie aus, das heißt ihre Unabhängigkeit von einem Machtzentrum (ebd.): »Wo die Gemeindeautonomie ernst genommen wird, kann die kommunale (Selbst-)Verwaltung zum Teil der bürgerlichen Gesellschaft werden. […] Kleine und mittlere Unternehmen sind ebenso Bestandteile der Bürgergesellschaft wie Stiftungen, Vereine und Verbände« (ebd.). Drittens verhält man sich in der Zivilgesellschaft zivil, nämlich höflich, tolerant und gewaltlos, und entwickelt einen Bürgersinn: »Der Bürger in diesem Sinn fragt nicht, was andere, insbesondere der Staat, für ihn tun können, sondern tut selbst etwas« (ebd., S. 70). Zivilgesellschaften mit diesen Kennzeichen sind für Dahrendorf der vielleicht einzige Schutz vor autoritärer oder totalitärer Herrschaft.
Diskurstheorien und Zivilgesellschaft Habermas: Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und die kommunikative Macht der Sprache – Privatheit und Öffentlichkeit: die feministische Kritik Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seiner Diskurstheorie des Rechts (1992) wesentliche Aspekte der Kommunitarismusdebatte aufgegriffen und reformuliert, woraus sich ein Modell ergibt, das quasi zwischen den kommunitaristischen und liberalen Modellen des demokratischen Rechtsstaats angesiedelt ist. Die Diskurstheorie verbindet mit der Demokratie stärkere normative Konnotationen als der Liberalismus, aber schwächere als der Republikanismus beziehungsweise Kommunitarismus. Habermas zufolge konstituiert sich die politische Gemeinschaft erst im Diskurs und in Verfahren der Partizipation. Habermas’ Argumentation zum Thema Zivilgesellschaft beruht auf gesellschaftstheoretischen Überlegungen, die er 1981 in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt hat – etwa das Konzept des kommunikativen Handelns und die Dichotomie von System und Lebenswelt. Sie geben den Hintergrund für seine Ausführungen über den demokratischen Rechtsstaat ab. In Habermas’ Fortentwicklung der kritischen Theorie (vgl. Giegel 1991) kommt der Sprache eine ganz
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besondere Bedeutung zu. Die Sprache dient über Verständigungsprozesse auch als Quelle sozialer Integration. Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus in der Weise, dass die Interaktionsteilnehmer Geltungsansprüche, die sie wechselseitig erheben, intersubjektiv anerkennen. Die Sprecher und Sprecherinnen beanspruchen mit ihren Äußerungen Wahrheit für Aussagen, Richtigkeit für legitim geregelte Handlungen und Wahrhaftigkeit für die Kundgabe subjektiver Äußerungen. Dieser Begriff des kommunikativen Handelns stützt sich auf den in der Sprache gegebenen Zusammenhang von Bedeutung und Geltung. Der Begriff der Lebenswelt, den Habermas der phänomenologischen Tradition entnimmt, ist dem des kommunikativen Handelns komplementär (Habermas 1981, Bd. 2, S. 182 ff.): Die Lebenswelt reproduziert sich über das Netzwerk kommunikativer Handlungen. Mit der Moderne entstanden ausdifferenzierte und verselbständigte Subsysteme des ökonomischen und administrativen Handelns – hier folgt Habermas Parsons und Luhmann –, die von den Medien Geld und Macht gesteuert werden. In den Subsystemen erfolgt die Integration über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen, während die Lebenswelt ihnen als Sphäre des potentiell kommunikativen, verständigungsorientierten Handelns gegenübersteht. Die Systembildung von Wirtschaft und Politik erscheint Habermas nicht prinzipiell kritikwürdig, da ihre Leistungsfähigkeit ja gerade auf ihrer Systemhaftigkeit beruht. Eine innere Demokratisierung der Wirtschaft beispielsweise wäre nur unter der Inkaufnahme großer Effizienzverluste und der Störung ihrer Funktionsfähigkeit möglich. Allerdings diagnostiziert Habermas das Problem, dass die beiden Subsysteme mit ihrer Logik auf die Sphäre der Lebenswelt übergreifen und diese »kolonialisieren« können. Die Lebenswelt wird von systemischen Imperativen zunehmend durchdrungen und auf diese Weise fremden Prinzipien unterworfen. So kritisiert Habermas denn auch Prozesse der Monetarisierung und Bürokratisierung der symbolischen Reproduktion – das heißt, dort wo man sich früher noch sprachlich-argumentativ verständigte, herrscht nun die Logik des Geldes und der bürokratischen Regelung vor (Habermas 1981, Bd. 2, S. 480). Die Theorie des kommunikativen Handelns endet mit dem Versuch, ein Widerstandspotential gegen die Kolonialisierung der Lebens-
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welt zu identifizieren. Zwei Aspekte sind in unserem Zusammenhang erwähnenswert: Habermas betont zum einen (ebd., S. 571), dass die Massenmedien ein ambivalentes Potential in sich tragen. Es wäre verfehlt, kulturkritisch zu behaupten – wie es die ältere kritische Theorie tat –, dass die Massenmedien jegliche kritische Öffentlichkeit zerstören. Ihnen kann im Gegenteil durchaus ein emanzipatorisches Potential zukommen. Zum anderen stößt Habermas’ Suche nach Widerständigkeit in der Lebenswelt auf neue Protestpotentiale in der Form neuer sozialer Bewegungen (ebd., S. 576 ff.). Die neuen sozialen Bewegungen – zum Beispiel die Ökologie-, die Friedens-, die Alternativ- und die Bürgerinitiativbewegung – agieren an den Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt und richten sich gegen die Übergriffe des ersteren auf die letztere. Dabei geht es nicht mehr primär um Verteilungsfragen wie noch bei der »alten« Arbeiterbewegung, sondern um einen kulturellen Kampf um die »Grammatik von Lebensformen«. Kritik an der kapitalistischen Wachstumslogik ist Habermas zufolge das einigende Band dieser Protestgruppen; dabei geht es um die Rückeroberung von kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen und die Eindämmung des Übergriffs der Systeme von Wirtschaft und Politik auf diese. Soziale Bewegungen und kritische Öffentlichkeiten werden von Habermas etwa zehn Jahre später in »Faktizität und Geltung« (1992) unter dem Begriff der Zivilgesellschaft zusammengefasst und diskutiert. Habermas’ Ausführungen zum Thema Zivilgesellschaft können in weiten Teilen auf die Vorarbeiten der beiden amerikanischen Sozialwissenschaftler Jean Cohen und Andrew Arato aus den 1980er Jahren zurückgreifen, die in eine umfassende Rekonstruktion der Zivilgesellschaftsdebatte in ihrem Buch Civil Society and Political Theory von 1992 mündeten. Insbesondere Habermas’ Diskussion der sozialen Bewegungen und die Idee, dass die Zivilgesellschaft zwischen dem politischen System und der Lebenswelt vermitteln könne, gehen auf ihren Einfluss zurück. Wie Habermas schon in seiner Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990, [1962]) zeigen konnte, hatte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine kleine kritische Öffentlichkeit auch in Deutschland etablieren können, die eine neue Lesekultur mit sich
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brachte und auf bürgerlichen Aufklärungsgesellschaften, Bildungsvereinigungen, Geheimbünden und anderen Assoziationen beruhte (ebd., S. 14). Hier zeigt sich erstmals die Idee einer (zivil-)gesellschaftlichen Selbstorganisation, die über öffentliche Kommunikation vermittelt wird. Doch wer sind heute die Träger einer kritischen Öffentlichkeit? Das kommunikative Vernunftpotential der modernen Gesellschaft wohnt Habermas zufolge zunächst einmal in den überschaubaren Lebensformen und Lebenswelten, doch übertragen sich deren kommunikative und solidarische Potentiale nicht unvermittelt auf die Ebene des Politischen (ebd., S. 36 f.). Es bedarf mithin einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung innerhalb einer politischen Öffentlichkeit als Vermittlungsinstanz. Die diskursive oder »deliberative« (von lat. deliberare: erwägen, überlegen) Demokratie verlässt sich auf die »politische Mobilisierung und Nutzung der Produktivkraft Kommunikation« (ebd., S. 39). Politische Fragen werden am besten in einer öffentlichen Argumentation geklärt, das heißt auch, dass man weder einfach alle Einzelwillen aufsummieren noch einen »allgemeinen Volkswillen« unterstellen sollte. In diese Diskurse sollten möglichst alle Personen einbezogen werden, die von bestimmten Regelungen betroffen sind. Die Gleichberechtigung der diskutierenden Parteien, die Zwanglosigkeit des Diskurses und die Offenheit für vielfältige Themen und Beiträge müssen dabei gesichert sein (ebd., S. 41). Dies gilt im Idealfall sowohl für die organisierte Öffentlichkeit der Körperschaften und Verbände als auch für eine weniger stark institutionalisierte nicht-organisierte Öffentlichkeit. Ziel der geführten Diskurse ist es, eine kommunikative Macht zu erzeugen, die Einfluss auf das politische System zu nehmen vermag. Gerade die spontanen, weniger stark institutionalisierten Formen der öffentlichen Kommunikation brauchen organisatorische Träger und sie stützende Assoziationsverhältnisse. Unter zivilgesellschaftlichen Assoziationsverhältnissen versteht Habermas hauptsächlich das Vereinswesen der bürgerlichen Öffentlichkeit, das – anders als bei Hegel und Marx – die Ökonomie nicht einschließt. »Den institutionellen Kern der ›Zivilgesellschaft‹ bilden jedenfalls nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse auf freiwilliger Basis, die […] von Kirchen, kulturellen Vereinigungen und Akademien über unabhängige Medien,
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Sport- und Freizeitvereine, Debattierclubs, Bürgerforen und Bürgerinitiativen bis zu Berufsverbänden, politischen Parteien, Gewerkschaften und alternativen Einrichtungen reichen« (Habermas 1990, S. 46).
Habermas geht es also in seinem Verständnis von Zivilgesellschaft um den publizistischen Einfluss meinungsbildender Assoziationen, die mit den Massenmedien um Öffentlichkeit konkurrieren und auf die Politik Einfluss nehmen wollen. Aus dem Zusammenspiel einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit mit dem Meinungs- und Willensbildungsprozess in der parlamentarischen Politik ergibt sich für Habermas die Möglichkeit einer deliberativen Politik (Habermas 1992, S. 448). Der publizistisch-politische Einfluss muss die Filter der parlamentarischen Verfahren passieren, um in formellen Beschlüssen eine autorisierte Gestalt anzunehmen und politische Macht zu erzeugen. Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft bezeichnen für Habermas eine intermediäre Struktur, »die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt« (ebd., S. 451). Wesentlich für die Legitimität politischer Entscheidungen ist die Idee, dass die Adressaten des Rechts sich zugleich als dessen Urheber begreifen können. Habermas sieht in der lebensweltlich strukturierten, öffentlichen Kommunikation, die zivilgesellschaftlich vermittelt wird, die Quelle kommunikativer Macht, die als Gerechtigkeitsressource und Garant für eine legitime Rechtssetzung fungiert. Wie wir gesehen haben, beruht fast jedes Konzept von Zivilgesellschaft auf einer vorgängigen Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum. Zivilgesellschaft hebt sich ab vom Privaten und bezeichnet einen öffentlichen Raum der Vergesellschaftung, des Debattierens, des Protests usw. Wer aber legt fest, was zu welcher Sphäre gehört? Wieso ist die Hausarbeit eigentlich privat und die Geselligkeit im Verein öffentlich? An dieser Problematik, nämlich der Frage, wer die Macht hat zu definieren, was als öffentlich gilt und was im Bereich der privaten »Dunkelheit« (Arendt) verbleibt, entzündet sich die feministische Kritik am Zivilgesellschaftsbegriff. »War die frühe Zivilgesellschaft ein Männerprojekt?«, fragt etwa die Historikerin Gunilla-Friederike Budde (2003, S. 57): Je mehr die Frauen »seit dem
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18. Jahrhundert ideologisch in die Privatsphäre der Familie eingeschlossen wurden, desto deutlicher blieben sie von der Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft ausgeschlossen.« Typisch für die Konstruktion des privaten weiblichen Raums und des öffentlichen männlichen war die Begründung mit Hilfe einer »Naturalisierungsstrategie«, das heißt: Frauen hatten sich »natürlicherweise« um die Familie und den Haushalt zu kümmern, während Männer die »Pflicht« auf sich nahmen, im öffentlichen Raum beruflich, kulturell und politisch zu wirken. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit diese Dichotomisierungen dem Konzept der Zivilgesellschaft gewissermaßen äußerlich bleiben, das heißt zwar zu verurteilen sind, aber auf kontingenten historischen Entwicklungen beruhen. Oder ist die Kategorisierung von öffentlich und privat und damit auch eine Exklusion von Frauen aus der Zivilgesellschaft struktureller Bestandteil des Konzepts? Es setzt offenbar immer schon ein Verständnis von Menschen als autonomen unabhängigen Subjekten voraus, während mit gleicher Selbstverständlichkeit das Gebären und Aufziehen von Kindern aus dem öffentlichen Raum der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden. Die politische Philosophin Iris Marion Young etwa weist darauf hin, wie die frühe Bürger- beziehungsweise Zivilgesellschaft begrifflich und konzeptionell Mechanismen der Exklusion schuf. Die öffentliche Sphäre der Bürgerschaft wurde als Raum der Vernunft und des Gemeinsinns definiert, während der private Raum von weiblicher Partikularität und Leidenschaft geschaffen wurde. Männlichkeit galt als Vernunft, Weiblichkeit als Gefühl, Begehren und Körperlichkeit, alles Eigenschaften, die im öffentlichen Raum keinen Platz fanden. Denn dieser erfordert Unabhängigkeit, Allgemeinheit und leidenschaftslose Vernunft (Young 1993, S. 272). Die Öffentlichkeit musste von Leidenschaften genauso frei gehalten werden wie von der »wilden Natur«, repräsentiert etwa von den Schwarzen in den USA. Nicht nur Frauen, auch andere Gruppen (etwa Arbeiter, Juden, Indianer) wurden regelmäßig ausgeschlossen auf Grund vorgängig getroffener Entscheidungen darüber, was für die Teilnahme an dem öffentlichen Gespräch qualifiziert. Die gesamte politische Philosophie ist durchtränkt von solchen implizit bleibenden Annahmen über den Status derer, die befähigt sind, einen Gesellschaftsvertrag zu schließen: Immer ist es der ökonomisch
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autonome, öffentlich agierende Mann (Pateman 1988). Anders dagegen das Verhältnis von Frauen zu den nicht genuin politischen »Ämtern«: In den Bereichen der so genannten Wohltätigkeit, in Philanthropie und Armenfürsorge engagierten sich im 19. Jahrhundert verstärkt Frauen, was wiederum für den Feminismus des 19. Jahrhunderts bedeutsam wurde (Phillips 2002, S. 73). Die Affinität des Feminismus als soziale Bewegung zu Formen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation kann hier nur erwähnt werden. Was jedoch auffällt – darauf hat die Gender-Theoretikerin Anne Phillips (2002) hingewiesen – ist, dass die feministische Kritik an der Unterscheidung öffentlich/privat zu einer gewissen Blindheit gegenüber dem Konzept der Zivilgesellschaft geführt hat, indem unter das Öffentliche sowohl der Staat als auch die Zivilgesellschaft subsumiert wurden. An der Unterscheidung von Staat und Zivilgesellschaft war man deshalb weniger interessiert (ebd., S. 74). Folge dieser Unterscheidung ist außerdem der Versuch, das vormals Private an das Licht der Öffentlichkeit zu holen und den Bereich der Zivilgesellschaft auf den bisherigen Privatraum auszudehnen: So wird nun betont, wie wichtig die Kindererziehung für den zivilisierten Umgang in der Öffentlichkeit ist. Schließlich gibt es innerhalb der feministischen Diskussion eine gewisse Konzentration auf das staatliche Handeln. Dieses wird als durchaus ambivalent wahrgenommen: Einerseits gilt es als Ort verfestigter männlicher Machtstrukturen und als exklusiver Raum, andererseits ist die Gewinnung von Einfluss auf das staatliche Handeln die Bedingung für eine Erneuerung der Geschlechterpolitik. Zivilgesellschaft als pluralistisches Konzept und als Chance zur Vermittlung spezifischer Werte und Interessen in den politischen Raum hinein scheint dagegen zwar durchgängige feministische Praxis zu sein, wird aber weniger mit dem Begriff »Zivilgesellschaft« belegt. Festzuhalten bleibt, dass die feministische Kritik analysiert, mit welchen implizit bleibenden Unterstellungen operiert wird, wenn von zivilgesellschaftlichen Akteuren gesprochen wird. Daher muss sich jedes Konzept von Zivilgesellschaft über solche Mechanismen der Exklusion bestimmter sozialer Gruppen selbstreflexiv klar werden. Wichtig ist ein Verständnis von Zivilgesellschaft, das nicht vorgängig entscheidet, welches Anliegen, welcher Handlungsmodus als privat oder öffentlich zu gelten hat. Im
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Prozess des Öffentlichmachens selbst, in der praktischen Transformation bisher privater Themen in öffentliche, liegt das Besondere der intermediären Sphäre der Zivilgesellschaft, sofern sie nicht bestimmte Gruppen systematisch ausschließt. Zivilgesellschaft kann man sich als Ort für die Transformation von privaten zu öffentlichen Themen vorstellen (man denke zum Beispiel an den Tatbestand Vergewaltigung in der Ehe, der vor einigen Jahren nichts mit der Sphäre der Öffentlichkeit zu tun hatte), und umgekehrt können auch öffentliche Diskussionsthemen nach ihrer »Durcharbeitung« wieder in den Privatbereich absinken.
Das Reine und das Unreine: Jeffrey Alexanders kultursoziologische Wende Zivilgesellschaft als societal community und Ort kultureller Grenzziehungen – Normative Projekte und die Forschungspraxis Kompatibel mit einem kritisch-diskursiven Ansatz des Feminismus ist Jeffrey Alexanders Theorie der Zivilgesellschaft. Der amerikanische Soziologe hat in den letzten Jahren dem Zivilgesellschaftskonzept eine originelle Wendung gegeben, indem er seinen Analysen eine »duale« Perspektive zugrunde legt. Zum einen bezeichnet er mit »Zivilgesellschaft« in enger Anlehnung an Parsons’ Begriff der societal community etwas sehr Reales, nämlich eine ausdifferenzierte Handlungs- und institutionelle Sphäre moderner Gesellschaften. Zum anderen ist Zivilgesellschaft eine Art Selbstbeschreibungssymbolik moderner Gesellschaften: Sie kennzeichnen damit bestimmte Institutionen und Handlungsweisen als normativ wünschenswert und »zivil« und werten dagegen andere ab, sie definieren, wer zur Zivilgesellschaft gehört und wer ausgeschlossen bleibt. Diesen kulturellen Definitionsprozessen will Alexander ebenfalls nachgehen, um ein Verständnis davon zu entwickeln, welches Selbstbild moderne Gesellschaften von sich selbst produzieren. Er greift dabei auf Überlegungen Durkheims und auf zeichen- sowie symboltheoretische Ansätze zurück und befindet sich in einer gewissen Nähe zu Shils’ Konzepten.
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Statt einer Zusammenfassung der bisherigen Diskussion zu den Theorien von Zivilgesellschaft sei kurz nachgezeichnet, wie Alexander (1998a) die Entwicklungslinien des Nachdenkens über Zivilgesellschaft beschreibt, da sie der hier vorgelegten Rekonstruktion sehr nahe kommen. Das erste moderne Konzept von Zivilgesellschaft, das sowohl die mittelalterliche als auch die Hobbessche Perspektive hinter sich lässt, findet sich bei Locke, den schottischen Aufklärern wie Ferguson und Smith und schließlich auch bei Hegel und Tocqueville. Sie hatten alle ein umfassendes und positives Verständnis von Zivilgesellschaft, das den Staat ausschloss, aber alle anderen Institutionen weitgehend einschloss, auch Unternehmen und kapitalistische Märkte. Denn sie wurden in dieser frühen Traditionslinie als zivilisierendes Gut eingeschätzt, da sie einen zivilen Umgang miteinander, Selbstverantwortung und -disziplin förderten. Diese positive Einschätzung wurde jedoch angesichts der sozialen Folgewirkungen des Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vehement in Frage gestellt, sodass Zivil- mit Marktgesellschaft gleichgesetzt wurde und zum Negativbegriff verkam. Der schlechten, Egoismus fördernden Marktgesellschaft wurde dagegen zum einen eine moralische Gesellschaft gegenübergestellt, die sich einen Sinn für das Verbindende und Solidarische erhalten hatte – so zum Beispiel in den Anfängen der Soziologie und besonders sichtbar bei Durkheim. Zum anderen erlebte die Fokussierung auf den Staat eine Hochphase: »Strong state theories emerged, among radicals and conservatives, and bureaucratic regulation appeared as the only counterbalance to the instabilities and inhumanities of market life« (ebd., S. 5). Diese zweite Phase fand jedoch in den 1970er Jahren ihr Ende: Die Suche nach einer zivilgesellschaftlichen Alternative in den osteuropäischen und lateinamerikanischen Ländern und die Krise der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung trugen dazu bei, sich praktisch und konzeptionell auf die Suche nach einer Alternative zu begeben. »Zivilgesellschaft« war eine solche, die nun regelmäßig sowohl vom Staat als auch vom Markt abgesetzt wurde.2 Alexander sieht Zivilgesellschaft 2
Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. John Keane, einer der aktuell prominentesten Vertreter eines Konzeptes von Zivilgesellschaft, schließt Wirtschaftsunternehmen in die Zivilgesellschaft ein. Vgl. Keane 2003, S. 57 ff.
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deshalb als eine analytisch von anderen gesellschaftlichen Bereichen zu trennende Sphäre an, die auch empirisch in unterschiedlichen Graden vom Staat und vom Markt geschieden ist. Sie stellt die nun ausdifferenzierte Sphäre der Solidarität dar, die sowohl normativ universalistische als auch partikularistische Bindungen aufweist – Parsons’ societal community. Diese Sphäre der Solidarität ist abhängig von den anderen gesellschaftlichen Sphären, kann von diesen gefördert oder auch gefährdet werden – man denke hier an die Kolonialisierung (Habermas) der Zivilgesellschaft durch immer weiter vordringende Marktverhältnisse. Die Zivilgesellschaft verfügt aber auch über eigene kulturelle Codes und »Erzählungen« und wird von spezifischen Institutionen gebildet, hauptsächlich rechtlichen und journalistischen: »the courts, institutions of mass communication, and public opinion polls are all significant examples« (Alexander 1998b, S. 97). Es handelt es sich hier in Alexanders Verständnis – Shils folgend – um eine genuin kulturell-symbolische Sphäre, eine Sphäre kollektiven Bewusstseins. Diese ist strukturiert entlang der Dichotomie rein/unrein beziehungsweise heilig/profan – der Einfluss von Durkheims Religionstheorie ist hier unverkennbar. Diese kulturellen Raster liegen jeder Gesellschaft zugrunde: »Just as there is no developed religion that does not divide the world into the saved and the damned, there is no civil discourse that does not conceptualize the world into those who deserve inclusion and those who do not« (ebd., S. 98).
Eine Gesellschaft klassifiziert mithin entlang dichotomer Codes, was für sie als »gute« Zivilgesellschaft gilt und was als »unrein«, »verschmutzt« und »unzivil« ausgegrenzt wird. Dies ist in jeder Gesellschaft etwas unterschiedlich, doch – so behauptet Alexander – erfolgt die binäre Klassifizierung immer auf drei Niveaus. Erstens können Handlungsmotive klassifiziert werden: demokratische Selbstkontrolle, Autonomie und Aktivität gegen »unzivile« Irrationalität, Hysterie und Phantasterei (ebd., S. 99). Zweitens findet sich ein ähnliches Muster auf der Ebene sozialer Beziehungen: offene und vertrauensvolle gegen geschlossene, geheime, eigennützige und damit vom zivilgesellschaftlichen Code ausgeschlossene Beziehungen. Und schließlich gilt der Code auch für die Ebene von politischen und gesellschaftlichen
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Institutionen: nachvollziehbar geregelte, horizontal organisierte gegen willkürliche, auf Macht und Gewalt beruhende, hierarchisch organisierte Institutionen. Alle drei Ebenen gehören natürlich zusammen und konstituieren den kulturellen Code, auf dem Demokratien und Zivilgesellschaften ganz selbstverständlich, häufig unhinterfragt und vorbewusst aufliegen. Nach diesem Code werden Einschließungen (Inklusion) und Solidaritäten produziert, gleichzeitig aber auch immer etwas oder jemand ausgeschlossen (Exklusion). Mit diesem Instrumentarium lassen sich nach Alexander kulturelle Hintergrundannahmen und normative Selbstverständlichkeiten ganzer Gesellschaften aufhellen. So rekurriert beispielsweise das amerikanische demokratische und zivilgesellschaftliche Selbstverständnis auf die Gründungsphase der Republik – auf ihre Gründungsväter, die Verfassung, die Unabhängigkeitserklärung. Hier ist gleichsam die immer noch wirksame normative Selbstbeschreibung schriftlich fixiert, die in Streitfragen angerufen und beschworen werden kann. In Deutschland übernimmt das Grundgesetz zwar eine ähnliche Funktion, doch ist diese nicht ohne die Distanzierung vom Nationalsozialismus und dem Holocaust zu verstehen – der demokratische und zivilgesellschaftliche Code ist hier um das »Nie wieder!« konstituiert. Alexander (2000) weist auch darauf hin, dass ein zivilgesellschaftlicher Code extrem starke Ausschließungs- und Gewaltmomente in sich tragen kann: So kann er zwar eine Gesellschaft intern befrieden, aber mit einem extremen Nationalismus Hand in Hand gehen, der, wie beispielsweise in Europa geschehen, andere Völker abwertet und Kriege legitimiert. Der Politikwissenschaftler Volker Heins (2002, S. 82) schließt sich diesem kultursoziologischen Ansatz Alexanders an und beharrt darauf, dass der soziologische Diskurs über Zivilgesellschaft sich nicht an den »Klassifikationskämpfen«, die innerhalb der Zivilgesellschaft ausgetragen werden, beteiligen sollte. Sozialwissenschaftler sollten sich an der Definition derer, die dazugehören oder ausgeschlossen werden sollen, nicht beteiligen. Doch irgendwie muss sich der Soziologe oder die Politikwissenschaftlerin zum zivilgesellschaftlichen Diskurs verhalten, und es ist bislang nicht klar, auf welche Weise. Zu den normativen Komponenten realer Zivilgesellschaften verhalten sich Sozialforscher jedenfalls sehr unterschiedlich.
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Eine Soziologin kann erstens versucht sein, nur zu rekonstruieren, was in einer Gesellschaft als zivil oder unzivil gilt und sich jeglicher persönlicher Bewertung enthalten; dies wäre eine Form der Diskursanalyse. Für solch eine relativistische Analyse plädiert der Historiker Dieter Gosewinkel. Er (2003, S. 6) schlägt vor, in der Untersuchung von Diskursen historisierend vorzugehen und selbst kein normatives Modell von Zivilgesellschaft zu vertreten. Wie wurden Diskurse über Zivilgesellschaft geführt – so ließe sich fragen –, wer waren die entscheidenden »Redner«, die das Konzept prägen konnten, worum ging es ihnen? Eine zweite mögliche Untersuchungsstrategie, die sich ebenfalls weitgehend aus normativen Debatten heraushält, nimmt eine bereichsbezogene Definition von Zivilgesellschaft vor (ebd., S. 3; Heins 2002, S. 84). Hier wird Zivilgesellschaft als eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre verstanden, die sich von der Familie, dem Staat und der Wirtschaft abgrenzen lässt. Häufig werden freie Assoziationen als die typische Organisationsform dieser Sphäre angesehen – so bei Tocqueville, Putnam, Dahrendorf und vielen anderen. Eine dritte Definition ist interaktionsbezogen und selbst hochgradig normativ: Es wird weniger auf eine ausdifferenzierte zivilgesellschaftliche Sphäre rekurriert als darauf verwiesen, dass aus einer republikanischen Perspektive bestimmte Motive und Handlungsweisen normativ wünschenswert sind. Zivilität, Gemein- oder Bürgersinn werden hier als »tugendhaft« normativ ausgezeichnet und zum Inbegriff zivilgesellschaftlichen Handelns (so bei Shils, kommunitaristischen Autoren und bei Münkler). Am häufigsten findet sich in der aktuellen Literatur eine Kombination von bereichs- und interaktionsbezogenen Definitionen von Zivilgesellschaft. Explizit verschreibt sich der Historiker Jürgen Kocka dieser Kombination, betont ihre Stärken und stellt heraus, dass man die normative Seite des Zivilgesellschaftsbegriffs auf keinen Fall eliminieren sollte. Für ihn meint Zivilgesellschaft erstens einen Interaktionstyp, der auf Kompromiss und Verständigung in der Öffentlichkeit ausgerichtet ist, den Gewaltfreiheit kennzeichnet, der Pluralität und Differenzen anerkennt und zumindest auch am Gemeinwohl orientiert ist (Kocka 2003, S. 32 f.). Zweitens findet diese Interaktionsweise hauptsächlich in einem bestimmten sozialen Raum statt, »der in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften ›zwischen‹ Staat, Wirtschaft
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und Privatsphäre zu lokalisieren ist, in dem Raum der Vereine, Assoziationen, sozialen Bewegungen und Non-Governmental Organizations (NGOs)« (ebd.). Drittens meint Zivilgesellschaft für Kocka auch die Bezeichnung eines Projekts, das bis heute uneingelöste utopische Züge trägt. Zivilgesellschaft in »Reinform« ist somit niemals identisch mit real existierenden Gesellschaften. Folgt man als Forscher solch einer normativ aufgeladeneren Untersuchungsstrategie, muss man sich selbst zu den Codierungen, die in der Zivilgesellschaft vorgenommen werden, verhalten, indem man darauf hinweist, dass bestimmte Verhaltensweisen oder Institutionenkomplexe in einem genau definierten Sinne wirklich zivilisierende Effekte haben oder der Demokratie förderlich sind. Oder man kann bestimmte exkludierende Mechanismen kritisieren, die möglicherweise dem Ideal von Zivilgesellschaft zuwiderlaufen – dabei kann der sozialwissenschaftliche Beobachter sich in seiner Kritik auf die »eigentliche« Tradition der Zivilgesellschaft selbst berufen oder externe moral- oder sozialphilosophische Kriterien anlegen. Oder man weist auf die nichtintendierten und nicht wahrgenommenen Konsequenzen einer bestimmten zivilgesellschaftlichen Organisationsweise hin. Wie auch immer: Als Beobachter der Zivilgesellschaft muss man sich immer darüber im Klaren sein, dass es einer Reflexion über die normativen Selbstbeschreibungen von Gesellschaften bedarf, um die gesellschaftlichen Codierungen nicht unreflexiv anzunehmen und zu reproduzieren.
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2. Zivile Gesellschaft, Staat und Gewalt
Staatsbildungsprozesse und Zivilgesellschaft – Von mittelalterlichen Interaktionsnetzwerken zum modernen Nationalstaat – Michael Manns Geschichte der Macht – Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation – Zivilisation und staatliche Gewalt Wie wir im Kapitel zur Ideengeschichte des Begriffs Zivilgesellschaft gesehen haben, wandelte er sich in der Neuzeit und verlor die umfassende aristotelische Bedeutung mehr und mehr. Ab etwa 1750 tauchten dann Begriffsbestimmungen auf, die ihn deutlich vom Staat abgrenzten, stattdessen die zivilgesellschaftliche Eigenlogik herausstellten und darauf pochten, dass die societas civilis mit zivilem Handeln beziehungsweise mit einem zivilisiertem Umgang zu tun hat. Um herauszufinden, welche gesellschaftlichen Veränderungen diesem Bedeutungswandel zugrunde lagen, ist es wichtig, die besondere Rolle der Staatsbildung in diesem Prozess zu berücksichtigen. Staatsbildungsprozesse werden im Folgenden im Vordergrund stehen, um zu verstehen, welche tiefgreifenden sozialen und politischen Veränderungen dem semantischen Bedeutungswandel hin zum modernen Zivilgesellschaftsbegriff Vorschub leisteten. Denn weder »Gesellschaften« noch »Zivilgesellschaften« im modernen Sinne der Bedeutung gab es immer schon. Zivilgesellschaft und Zivilität sind historisch eng mit der Herausbildung eines nationalen Territorialstaates verknüpft, der über ein Militärmachtmonopol verfügt (Mann 1991, S. 423). Wenn man in der Soziologie den Begriff »Gesellschaft« gebraucht, dann meint man damit in der Regel eine relativ klar umgrenzte Sozialordnung, der häufig Systemeigenschaften zugesprochen werden. Diese in der Soziologie weit verbreitete Vorstellung von Gesellschaft
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als Einheit, in der soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen räumlich zur Deckung kommen und ein homogenes Gebilde konstituieren, ist allerdings auch kritisiert worden – am deutlichsten von dem britisch-amerikanischen Soziologen Michael Mann. Denn bei näherer Betrachtung erweist sich diese Vorstellung von Gesellschaft als einer klar umgrenzten Sozialordnung als eine Verabsolutierung eines historisch recht jungen Phänomens, nämlich der nationalstaatlich verfassten Gesellschaft (Haferkamp/Knöbl 2001, S. 311). Michael Mann unterscheidet zwischen vier Netzwerken sozialer Macht, die im Nationalstaat zur sozialräumlichen Deckung kamen: ideologische Macht, ökonomische Macht, militärische Macht und politische Macht (Mann 1998, S. 18 ff.). Diese vier Netzwerke können sich ineinander verschlingen, sich wieder lösen, können divergieren oder sich überlappen. Dass sich alle vier Machtnetzwerke decken und eine integrierte Sozialordnung konstituieren, ist dagegen eine historische Besonderheit. Im Gegensatz zum Römischen Reich existierte im mittelalterlichen Europa kein Territorialreich mehr: Das Europa in der Zeit nach der Völkerwanderung kannte kein Zentrum oder Oberhaupt, bestand aber aus einer Vielzahl kleiner sich überlagernder Interaktionsgeflechte (Mann 1991, S. 206). Die meisten sozialen Beziehungen waren lokal sehr beschränkt und konzentrierten sich zum Beispiel auf das Kloster, das Dorf, das Gut, die Stadt oder die Gilde. Was jedoch die lokalen Gemeinschaften über große Räume miteinander verband, war das Christentum als ein normativ integrierendes und pazifizierendes ideologisches Netzwerk. Zwischen weltlichen Herrschern und der katholischen Kirche bestand allerdings ein unablässiger Machtkampf. Der mittelalterliche Feudalstaat war zudem schwach: Zwar lag die oberste Gewalt bei einem aus dem Hochadel stammenden Herrscher, doch hatte er keinen direkten Zugang zur Bevölkerung. Dieser war nur mittelbar über ihm untergebene, aber zugleich autonome Machtträger, die Vasallen, gegeben. Auch die Wirtschaft bestand aus vielfältigen Komponenten – der Subsistenzwirtschaft, verzweigten Handelsnetzwerken, der Stadt und der Kaufmannsgilde, dem Dorf und dem Lehnsgut. Am Ende des Mittelalters gab es deshalb keine wirklichen territorialen Einheiten, und die Vielzahl autonomer Herrschaften bildeten keine
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»Gesellschaft«, sondern ein Durcheinander von schwerlich einander angepassten Netzwerken. Die später einsetzende Dynamik im Bereich der Staatsbildung erklärt Mann, indem er seinen Untersuchungen die Einsicht zugrunde legt, dass Staaten nicht nur innenpolitische, sondern auch geopolitische Funktionen erfüllen. Eine Analyse der Staatsfinanzen macht deutlich, dass die mittelalterlichen Staaten zumeist militärische Funktionen wahrnahmen; diese wuchsen angesichts wachsender Kriegslasten, doch eine militärische Revolution fand erst in den Jahren zwischen 1540 und 1660 statt. In den kriegerischen Auseinandersetzungen überlebten nur relativ stark zentralisierte Territorialreiche, während lockere feudale Zusammenschlüsse, einige Städte und kleine Fürstentümer als Opfer von Kriegen ihren Niedergang erlebten. Über die militärischtechnologische Revolution des 16. Jahrhunderts kam es mithin zu deutlichen Zentralisierungstendenzen in Europa (Knöbl 2001, S. 306). Es entstanden konstitutionelle und absolutistische Regimes, die Gesellschaften immer mehr zusammenwachsen ließen. Die staatlichen Prozesse der Machtkonzentration induzierten etwa ab dem 17. Jahrhundert eine Neuorientierung von kollektiven Akteuren wie dem Adel oder der Großbourgeoisie, die sich in ihren Aktionen zunehmend auf den Staat ausrichteten und gleichsam den Hof oder das Parlament »umlagerten«. Der moderne Staat war geboren – und dies in erster Linie in Reaktion auf geopolitische und militärische Interessen und Auseinandersetzungen –, stand aber noch nicht einer organisierten Zivilgesellschaft gegenüber. Zumindest die Oberschichten waren zu diesem Zeitpunkt allerdings schon in einem territorial-staatlichen »Käfig« gefangen und in ein gemeinsames politisch konstituiertes Feld eingebunden. Wie wir gesehen haben, war für die Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts der Begriff der Zivilgesellschaft zunächst im Kontrast zum Naturzustand definiert. Im Absolutismus und im Übergang zum modernen Staat erlangte der Begriff der Zivilität (civilité, civility) eine zunehmende Prominenz. Eine zivile Gesellschaft meinte eine Gesellschaft mit Respekt vor der Autonomie des Individuums, basierend auf Sicherheit und Vertrauen selbst zwischen Fremden, verlangte eine Regulierung des Verhaltens, Achtung des Rechts sowie eine Kontrolle und Eindämmung von Gewalt. Höflichkeit, Toleranz und Vertrauen
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wurden zum Charakteristikum von Zivilität. Norbert Elias (1897– 1980) analysierte in seinem klassischen Beitrag zur soziologischen Theorie Über den Prozeß der Zivilisation aus dem Jahr 1939 den Prozess der Verdrängung der Gewalt – also der »Natur« – aus dem täglichen Leben. Elias geht von der Beobachtung aus, dass der moderne im Vergleich zum mittelalterlichen Menschen wesentlich »zivilisierter« sei. Das heißt, er kontrolliert sich stärker, reguliert seine Affekte, kennt niedrigere Scham- und Peinlichkeitsschwellen etwa in Bezug auf Nacktheit, Sexualität und Tischsitten. Der mittelalterliche Mensch dagegen lebte Elias zufolge (Elias 1997, Bd. 1, S. 390) seine Triebe und Empfindungen offen und spontan aus, was sich unter anderem in einer größeren Gewalttätigkeit der mittelalterlichen Gesellschaft – er verweist hier auf die häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen rivalisierender Ritterverbände – zeigte, aber auch in einer größeren Lust an Quälerei (ebd., S. 374 ff.). Elias behauptet nun, dass der Zivilisationsprozess des Abendlandes – also die Veränderung individueller Affekthaushalte – mit der spezifischen Organisation von Gesellschaften zusammenhängt. Genauer: Die Herausbildung des modernen Staates, der die Mittel der körperlichen Gewaltausübung zentralisiert und monopolisiert, korrespondiert mit der Veränderung des psychischen Habitus (ebd., S. 82). Um diesen Zusammenhang deutlicher zu machen, diskutiert Elias – so wie auch Mann – Staatsbildungsprozesse im Zeitalter des Absolutismus. Mit der zunehmenden »Herrschaft des Einen«, die sich deutlich von der mittelalterlichen Feudalherrschaft absetzt, geht eine Affektmäßigung einher. Die Ge- und Verbote der höfisch-aristokratischen Gesellschaft formten den Triebhaushalt um, so Elias (1997, Bd. 2, S. 15). Schrittweise verwandelten sich zwischenmenschliche Fremdzwänge in einzelmenschliche Selbstzwänge, denn mit Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols setzt eine Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Recht und Politik ein. Diese wiederum beförderte eine stärkere Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen, machte mehr Abstimmungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern notwendig, sodass der Einzelne gezwungen war, sein Verhalten differenzierter, gleichmäßiger und stabiler zu regulieren (ebd., S. 327). Das staatliche Gewaltmonopol schafft demnach innergesellschaftliche Räume, die frei von Gewalt sind und verlängerte Handlungsketten verlangen, sodass die Individuen
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ihre Leidenschaftsausbrüche zurückdrängen und der Kontrolle eines starken Über-Ichs unterwerfen (ebd.: 331 ff.). Zivilisationsprozesse im Sinne von Zivilität des Umgangs, Affektbändigung und Gewaltbefriedung spielen sich also Elias zufolge immer dort ab, wo sich Arbeitsteilung und ein Gewaltmonopol durchsetzen – dies war in Europa besonders ausgeprägt der Fall. Erst seit dem 19. Jahrhundert sind nicht mehr nur die nun »zivilisierten« Oberschichten, sondern auch die Mittel- und Unterschichten über steuerpolitische Maßnahmen in ihrem Handeln auf ein nationales Zentrum ausgerichtet (Knöbl 2001, S. 309). Ein kontinuierliches Wachstum der Staatsausgaben, und zwar nicht mehr länger nur im militärischen, sondern vor allem auch im zivilen Bereich, kennzeichnet das Jahrhundert: Insbesondere die nationalen Verkehrs- und Erziehungswesen wurden staatlich durch Steuermittel finanziert und aufgebaut. Über die Zunahme der sozialen Interaktionsdichte wurden die Herrschenden und das Volk tatsächlich Teil derselben »Gesellschaft«, eingesperrt im nationalen Hoheitsgebiets (Mann 1998, S. 34). Die aufkommende Zivilgesellschaft wandte sich praktisch wie intellektuell gegen staatlichen Despotismus, war aber aufs Engste mit der Entstehung des modernen Staates verbunden. Sie war in den Augen Manns im 19. Jahrhunderts zu einer »Provinz« des Nationalstaats geworden. Moderne Staaten und Zivilgesellschaften durchdringen sich seitdem wechselseitig, was dazu führt, dass auch die Zivilgesellschaft sehr viel stärker politisiert ist als je zuvor. Interessenverbände, Assoziationen und politische Parteien treten dem Staat gegenüber – »Macht« findet sich nun im nationalstaatlichen Zwischenraum der Verknüpfung von Staat und Gesellschaft. Der moderne Nationalstaat zeichnet sich durch die Deckungsgleichheit der vier von Mann beschriebenen Machtnetzwerke aus und produziert somit erst das, was uns heute als »Gesellschaft« normal erscheint. Die Expansion der Staatstätigkeit nach innen wie nach außen ist für Mann der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung: »Während des größten Teils der Geschichte standen untergeordnete Klassen dem Staat entweder gleichgültig gegenüber, oder sie versuchten, sich ihm zu entziehen, ihm auszuweichen. Nun wurden sie mit einemmal in den Käfig einer nationalen Organisation und deren Politik gesperrt – einem Käfig, vor dem zwei Gruppen
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von hauptamtlich beschäftigten Zoowärtern Wache standen: Steuereinnehmer und Rekrutierungsoffiziere« (ebd., S. 149).
In der Konsequenz sieht sich der Staat heute kollektiven Akteuren wie Klassen, Assoziationen, Bewegungen und nationalen Verbänden gegenüber, die er selbst hervorbrachte und die nun seine Vorrangstellung in Frage stellen und mit ihm um Macht und Einfluss konkurrieren. Die Herausbildung von Zivilgesellschaften beruht also zum einen auf der Zentralisierung von Macht in staatlichen Institutionen und zum anderen auf dem in Folge einsetzenden Prozess der Konkurrenz um die Macht zwischen Staat und Gesellschaft: Macht migriert seit dem 19. Jahrhundert in die Zivilgesellschaft – was mit heftigsten Gegenbewegungen verbunden ist, wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigen. Das extrem gewalttätige Zeitalter der Moderne des 20. Jahrhunderts passt denn auch gar nicht zu dem Eliasschen Bild einer zivilisierten und pazifizierten modernen Gesellschaft. Vielmehr beschreibt sein Zivilisationskonzept im Grunde einen zutiefst ambivalenten Prozess (vgl. Burkitt 1996). Die Monopolisierung der Gewalt beim Staat führt zwar zu einer inneren Pazifizierung, doch wird die Gewalt ja nicht abgeschafft, sondern sie befindet sich »stored behind the scenes« (ebd., S. 138). Gewalt wird der alltäglichen Auseinandersetzung entzogen und in die Kontrolle des Staates gegeben, der damit drohen beziehungsweise sie nach innen wie außen einsetzen kann. Zwischenstaatliche Gewalt wurde Elias zufolge nicht dem gleichen Zivilisationsprozess unterworfen wie die innergesellschaftliche Gewalt. Der Krieg zwischen Staaten ist eine bleibende Gefahr, solange sich kein weltweites Gewaltmonopol durchsetzt (Elias 1988, S. 181). Elias sieht allerdings noch einen weiteren Aspekt des zweischneidigen Zivilisationsprozesses: Die Monopolisierung der Gewalt befriedet normalerweise die Gesellschaft im Inneren, andererseits ist es denkbar (und immer wieder vorgekommen), dass die Inhaber des Gewaltmonopols dieses in ihrem eigenen Interesse nutzen (ebd., S. 179). Auf diese Weise erklärt Elias auch die von den Nationalsozialisten ausgeübte Gewalt. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass es eine schrittweise, Jahrzehnte dauernde Dehumanisierung der deutschen Gesellschaft gab, dass also der Pfad Richtung Terror und Mord schon älteren Ursprungs ist. Ein längerer Vorlauf von sozialer Desintegration machte Elias zufolge das so genannte
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Dritte Reich und den Holocaust erst möglich und führte in die Barbarei (ebd., S. 197). Diese nicht ungewöhnliche These ist jedoch im Kontext einer Auseinandersetzung um den modernen Charakter des Holocaust kritisiert worden, die maßgeblich von Zygmunt Baumans Buch Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust (1992) angestoßen wurde. Das Problem des Eliasschen Erklärungsansatzes liegt gerade darin, die Barbarei als das ganz »Andere« der Zivilisation gegenüberzustellen. Der Soziologe Bauman betont dagegen, dass die NS-Gewalt innerhalb des Prozesses der Zivilisation stattfand. Die Ambivalenz des Zivilisatorischen im modernen Staat liegt darin, dass neben der Toleranz und dem Respekt zugleich auch der technisch kalkulierte maschinelle Mord möglich wurde.3 Den Holocaust als barbarisch und damit als Rückfall in vormoderne Zeiten darzustellen, verkennt gerade den janusköpfigen Prozess der Zivilisation und eliminiert jegliche Ambivalenz. Denn die Monopolisierung der Gewalt im NS-Staat war prinzipiell die Voraussetzung für den Holocaust (vgl. Burkitt 1996, S. 144), auch wenn die Konkurrenz verschiedener Machtzentren zu einer sich kumulativ aufbauenden Zerstörungskraft führte. Das Verschieben der Gewalt »hinter verschlossene Türen« (Elias 1997, Bd. 1, S. 354) bedeutet jedoch nicht, dass die Gewalt den Kollaps der Zivilisation beziehungsweise die Barbarei zur Voraussetzung hat – im Gegenteil. Zentralisierung von Gewalt und die Verlängerung der Handlungsketten in einer differenzierten Gesellschaft allein vermögen physische Gewalt nicht zu verhindern, können stattdessen sogar die Voraussetzung bürokratisch arrangierten Tötens sein. Diese Doppelgesichtigkeit oder »Dialektik« der Zivilisation sollte nicht verdrängt werden, doch stellt sich die Frage, welches Mittel die Gefahr der Gewalt reduzieren kann, wenn es der Zivilisierung allein nicht gelingt. Nur mehr Demokratie und Pluralismus – so lautet die Antwort von Elias, über Bauman bis Keane – können diejenigen effektiv kontrollieren, die über die Mittel der physi3
John Keane (1998, S. 128) über Zygmunt Bauman: »His thesis also helpfully points to one of the most disturbing enigmas that the friends of civil society must confront: that there are times and places when civilized manners can and do peacefully cohabit with mass murder.«
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schen Gewalt verfügen. So zerstörte beispielsweise der NS-Staat zunächst einmal alle unabhängigen intermediären Organisationen, die eine Autonomie der Gesellschaft gegenüber dem Staat hätten bewahren können, oder schaltete diese gleich. Nur öffentliche Räume der Kontroverse, die von zivilen, nicht-gewalttätigen Standards geprägt sind, aber gleichwohl den Konflikt zulassen, scheinen in der Lage zu sein, unziviles und gewalttätiges Staatshandeln zu kontrollieren und zu reduzieren (Keane 1998, S. 156) – dies gilt auch und gerade für zeitgenössische Demokratien.
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3. Bürgersinn und gespaltene Zivilgesellschaft in Deutschland bis 1945
Vereine im 19. Jahrhundert in Deutschland – Sozialmilieus und versäulte Gesellschaft – Gemeinschaftssehnsucht und Spaltungen in der Weimarer Republik – Zivilgesellschaft und Nationalsozialismus – Der bundesdeutsche Neuanfang Die deutsche Zivilgesellschaft hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert; in dieser Zeit entstand ein vielfältiges Vereins- und Assoziationswesen. Dennoch geht niemand davon aus, dass in der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland die Zivilgesellschaft in einem positiven Sinne besonders lebendig gewesen wäre. Max Weber beispielsweise sprach auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahr 1910 davon, dass der »heutige Mensch« ein »Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Ausmaße« sei. Warum dieser abwertende Tonfall? Im Folgenden soll das Vereinswesen des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1945 in seinen Entwicklungslinien grob dargestellt werden, um zu fragen, was die Bedingungen dafür sind, dass eine Zivilgesellschaft – im Sinne eines gesellschaftlichen Bereiches von freiwilligen Vereinigungen – wirklich zivil ist – und zwar im Sinne ziviler Verhaltensstandards. Das Vereinswesen in Deutschland hat frühbürgerliche Wurzeln und ist in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus zu verorten. Angehörige des gehobenen Bürgertums, Verwaltungsbeamte, Professoren, aber auch aufgeklärte Adelige schlossen sich in »Vereinen« zusammen: Geheimbünde, Akademien, Lesegesellschaften und Diskussionszirkel bildeten die ersten Orte bürgerlicher Geselligkeit, die die Distanz zum und den Schutz vor dem Staat suchten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten neue Vereinsformen mit einer veränderten Mitglieder-
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struktur auf, so zum Beispiel studentische Burschenschaften, Gesangsund Turnvereine, die häufig nationalpolitische Zielstellungen verfolgten. Verbindungsnamen wie »Teutonia« (Heidelberg 1814) oder »Germania« (Gießen 1815) belegen den Bezug auf die Nation (Hardtwig 1990, S. 805). Die Verbreitung von Vereinen in Deutschland und anderen europäischen Ländern unterschied sich nicht wesentlich von der in den Vereinigten Staaten. Tocquevilles Zeitgenossen in Deutschland waren sowohl mit der Institution des Vereins als auch mit der These eines Zusammenhangs von Assoziation, Gemeinsinn und Bürgertugend wohlvertraut (Hoffmann 2001, S. 308). Insbesondere die Logen sahen sich als Schulen der Bürgertugend, und dies in einem »transnationalen Raum von Boston bis St. Petersburg, von Kopenhagen bis Neapel« (ebd., S. 312). In Deutschland blieb bis zum Jahr 1848 der rechtliche Charakter von Vereinen teilweise ungeklärt, und es wurden auf der Grundlage des Einzelfalls öffentlich-rechtliche Konzessionen oder Genehmigungen erteilt (Hardtwig 1990, S. 794). Neben dieser Traditionslinie des – wie man heute sagen würde – freiwilligen Engagements in Vereinen gibt es noch eine weitere in der deutschen Geschichte: das Ehrenamt in der kommunalen Selbstverwaltung (Sachße 2002, S. 24 f.). Die Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführte kommunale Selbstverwaltung zielte auf die Integration des aufstrebenden Bürgertums in den Staat durch das Angebot an die Bürger, die lokalen Angelegenheiten selbst zu verwalten. Mit diesem Recht korrespondierte allerdings auch die Pflicht zur Übernahme der »öffentlichen Stadtämter«. Das soziale Ehrenamt wurde im Jahr 1853 durch das »Elberfelder System« eingeführt, »das die Durchführung der öffentlichen Armenpflege […] auf der Grundlage der Preußischen Städteordnung zur ehrenamtlichen Aufgabe der (männlichen) Bürger machte« (ebd., S. 24). Die Organisation städtischer Armenfürsorge wurde mit dem Elberfelder System auf Jahrzehnte bestimmt, bis die ehrenamtlichen Aufgaben in der Weimarer Republik durch professionalisierte Tätigkeiten ergänzt und überlagert wurden. In den 1860er und -70er Jahren erlebten die USA und die europäischen Gesellschaften im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung ein regelrechtes take off im Bereich der Vereinsgründungen, und
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der Verein setzte sich als die typische Vergesellschaftungsweise der industriellen Gesellschaft durch. Sozial weniger exklusive Vereine wie die der Turner gewannen an Zulauf; viele Vereinsgründungen hatten mit der aufkommenden »sozialen Frage« zu tun, standen jedoch zumeist unter der Leitung bürgerlicher Schichten. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Deutschland vor allem in den Städten genuine Arbeitervereine. Zwar hatte es schon lange vor Anbruch der Moderne solidarische Strukturen vor allem in Form von Zünften, Gesellenbruderschaften und Unterstützungskassen handwerklicher und unterer städtischer Schichten gegeben, doch war die neue Vereinsstruktur weitaus umfassender (Tenfelde 1998). Neben den Gewerkschaften, Genossenschaften und den politischen Parteibildungen gab es Vereine, die sich auf Bildung und Kultur, Unterhaltung und Freizeitgestaltung konzentrierten. Ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland wie viele andere europäische Länder keine Demokratie darstellte, waren bis 1914 alle Bereiche des städtischen Lebens vereinsmäßig organisiert. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland eigene Geselligkeitskulturen, die sich voneinander abschotteten. Katholizismus und Arbeiterbewegung bildeten eigene sozial-moralische Geselligkeitskulturen beziehungsweise Milieus heraus, die sich von konservativen und liberalen Kreisen abgrenzten. Der Erfolg der geselligen Gesellschaft, des Vereinswesens, resultierte nun in Fragmentierung und scharfen Konflikten zwischen sich abgrenzenden Gruppen. Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat in einem Aufsatz von 1966 die kontinuierliche Entwicklung des Parteiensystems im Kaiserreich, die sich über den Ersten Weltkrieg bis in die Weimarer Republik fortsetzte, untersucht (Lepsius 1993). Das Parteiensystem ruhte Lepsius zufolge auf relativ geschlossenen Sozialmilieus. Er verwendet den Begriff des Milieus »als Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen, gebildet werden« (ebd., S. 38). Der Begriff des Milieus bezeichnet damit sowohl Praktiken der Vergemein- und Vergesellschaftung als auch eine gruppenspezifische Kultur.
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Im deutschen Kaiserreich gab es vier Sozialmilieus: das sozialdemokratische, das katholische, das konservative und das bürgerlich-protestantische. Die Parteien des Kaiserreichs und der Weimarer Republik fungierten gleichsam als Aktionsausschüsse dieser geschlossenen Milieus. Die SPD mobilisierte im Wesentlichen die neu entstandene moderne Lohnarbeiterschaft, die nicht an konfessionelle und regionale Traditionen gebunden war. Insbesondere die Sozialistengesetze hatten innerhalb der Arbeiterbewegung den Prozess der subkulturellen Fixierung verstärkt. Die Arbeiterbewegung war »negativ« in die deutsche Gesellschaft integriert, das heißt sie war intern sozial integriert, aber nicht in die Gesamtgesellschaft. Partei, Gewerkschaften, Bildungs-, Wohlfahrts-, Sport- und Geselligkeitsvereine banden die Arbeiterschaft in eine politische Subkultur ein. Ebenso konstituierte sich das katholische Sozialmilieu als politischsoziale Einheit über den Konflikt der Kirche mit dem Staat und setzte auf die Erhaltung der inneren Autonomie. Der Protestantismus hatte sich dagegen seit der Reformation in weiten Gebieten Deutschlands zu einem integralen Bestandteil der staatlichen Ordnung entwickelt. Die Minoritätsstellung des Katholizismus nach der Reichsgründung distanzierte die Katholiken weiter vom protestantisch dominierten Staat und war die eigentliche Geburtsstunde des katholischen Milieus und seines politischen Arms, des Zentrums. Die Parallele zwischen Kulturkampf und Sozialistengesetz liegt auf der Hand: Beide bewirkten, dass sich politisch aktive Sozialmilieus herausbildeten, die – beruhend auf einem vorpolitischen Netz von Organisationen – kohäsiv nach innen und abgrenzend nach außen verfasst waren. Die Isolierung der Katholiken grenzte zwar den Protestantismus insgesamt ab, doch verliefen die politischen Konfliktlinien nicht zwischen den Konfessionen, sondern innerhalb des evangelischen Bevölkerungsteils (Oberndörfer u.a. 1985, S. 23). So lagen innerhalb des Protestantismus im Kaiserreich drei politische Strömungen und sozial-moralische Milieus vor: Konservative, Liberale und Sozialdemokraten. Im katholischen Milieu fiel dagegen die Konfessionsgrenze mit der Milieugrenze zusammen. Das deutsche Kaiserreich und ebenso die Jahre der Weimarer Republik werden aus diesen Gründen auch zu Recht als »versäult« beschrieben. An die Stelle von spezifischen politischen Einzelkonflikten
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traten diffuse und wertgeladene Grundsatz- und Verfassungsfragen (Schwinn 2001, S. 220). Das politische System war auf die vier Sozialmilieus fixiert, die sich entlang symbolisch dramatisierter Moralinhalte scharf abgrenzten, sodass Konflikte keiner konstruktiven Austragung zugeführt werden konnten (Lepsius 1993, S. 49). Soziale Integration fand innerhalb der Milieus statt – das Sozialkapital war mit Putnam gesprochen bonding, nicht bridging –, denn die Milieus standen in Frontstellung zueinander und waren nicht durch Vertrauensnetzwerke und kooperative Beziehungen miteinander verbunden. Die politische Integrationskraft der Parteien und des politischen Systems insgesamt war in der Weimarer Republik offenkundig zu schwach, um die Spaltungen in der Zivilgesellschaft zu überwinden. Daraus hat Sheri Berman (1997) in einem viel beachteten Aufsatz geschlossen, dass das Tocquevillesche Argument, dass eine robuste Zivilgesellschaft die Demokratie stärkt und schützt, längst nicht immer und überall gilt. Insbesondere in der Weimarer Republik korrespondierte das starke Vereinsleben Deutschlands mit einer ausgeprägten Frustration über die nationale Politik und die Parteien. In den 1920er Jahren erreichte das Vereinsleben sogar seine größte Dichte. Allerdings gelang es den Parteien angesichts ökonomischer, politischer und sozialer Konflikte immer weniger, ihre Wählergruppen an sich zu binden. Die Schwäche der Politik und der Parteien trieb viele Bürger und Bürgerinnen in das Vereinswesen, in die Zivilgesellschaft. Verstärkt durch die krisenhaften Inflationsjahre 1922/23 gelang es kaum noch, die parteipolitischen Bindungen aufrechtzuerhalten. Hinzu kam angesichts der vielfältigen Konfliktlagen, dass viele Deutsche sich eine Idealvorstellung ihrer Gesellschaft als einer Art Gemeinschaft machten, der die parlamentarische Politik rein gar nicht entsprach. Der Begriff der Volksgemeinschaft und die Suche nach einem charismatischen Führer symbolisieren denn auch diese Suche nach einer »Einheit des Volkes«. Von dieser Krise profitierte die nationalsozialistische Bewegung. Als die Depression Europa erfasste, zeichnete sich Deutschland durch schwache politische Institutionen und eine hochorganisierte Zivilgesellschaft aus, auf die die nationalsozialistische Bewegung zurückgriff. Zivilgesellschaftliche Aktivisten und Vereinskader wurden von den Nazis »angeworben« und rekrutiert. Berman (ebd., S. 420 f.) schlussfol-
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gert: »Without the opportunity to exploit Weimar’s rich associational network, in short, the Nazis would not have been able to capture important sectors of the German electorate so quickly and efficiently.« Quasi durch Infiltration und Anwerbung »kaperten« die Nazis eine Vielzahl von Assoziationen und überbrückten die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Parteipolitik. Sie bedienten antidemokratische Ressentiments und den Wunsch vieler Deutscher nach einer effizienten politischen Maschinerie und einer klassenübergreifenden Koalition. Anstatt die sozialen und politischen Spaltungen zu mindern, verhärtete die politische Struktur der Weimarer Jahre diese und war nicht in der Lage, eine hochgradig mobilisierte Bevölkerung politisch einzubinden und an der Politik partizipieren zu lassen. Nicht eine anonyme Massengesellschaft, nicht ein zu schwach ausgeprägtes Assoziationswesen bereiteten der NSDAP den Weg zur Macht, sondern ganz im Gegenteil eine in sich gespaltene Zivilgesellschaft ohne übergreifende zivile und demokratische Verhaltensstandards. Ist die Zivilgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland auch heute noch eine potentielle Gefahr für die Demokratie? Und wenn nicht, warum nicht? Mit der Bundesrepublik entstand eine neue staatliche Formation, die sich in vielfacher Hinsicht vom Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem unterschied.4 Die Bundesrepublik ist schon territorial nicht identisch mit den deutschen Vorläuferstaaten. Dadurch wurden spezifische Regionalstrukturen, die zuvor Konfliktstoff beinhalteten, ausgegliedert: die protestantische ostdeutsche Landwirtschaft, das katholische schlesische Industriegebiet, die sozialdemokratischen Industrie- und Gewerbegebiete Sachsens und Thüringens, die mecklenburgischen Agrarregionen und Berlin in seiner Funktion als Reichshauptstadt. Auch die im westdeutschen Gebiet verbliebenen Milieus haben sich erheblich verändert: Flüchtlinge und Vertriebene durchdrangen die ehemals kulturell und konfessionell homogenen Regionen und durchmischten die 4
In der DDR kam es zu einem sehr viel radikaleren Bruch mit der Vergangenheit. Dies wird hier jedoch nicht weiter verfolgt, da es um die Frage geht, aus welchen Strukturbedingungen sich eine funktionierende Demokratie und eine »zivile Zivilgesellschaft« speisen.
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soziale und konfessionelle Binnenstruktur des neu entstandenen Staates. Die Eliten des Kaiserreichs waren protestantisch dominiert, dies gilt für die Bundesrepublik nicht mehr, und die Ablehnung einer konfessionell geschlossenen politischen Partei (Zentrum) war entscheidend für die Integration des katholischen Bevölkerungsteils in die politische Struktur der BRD. Auch die Auflösung Preußens beendete dessen Strukturdominanz zugunsten einer ausgewogeneren föderalistischen Ordnung. Schließlich ist es gelungen, die in der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie organisierte Arbeiterschaft in die westdeutsche Politik und Gesellschaft zu integrieren. Der Ausbau des Sozialstaates, die Betriebsverfassung und insbesondere die Reorganisation der Gewerkschaften als Einheitsgewerkschaften nach dem Industrieprinzip haben hierzu entscheidend beigetragen. Dies lässt erkennen, wie der erfolgreiche Übergang der Bundesrepublik zu Demokratie und einer Zivilgesellschaft, die von Zivilität gekennzeichnet ist, mit – neben anderen hier nicht genannten politischen Faktoren – einem handfesten Sozialstrukturwandel zu tun hat, der die herkömmlichen Milieus und ihre Frontstellungen auflöste. Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Zivilgesellschaft, ihre Integration in national überwölbende, legitime Institutionen und die Schaffung von Institutionen der Konfliktaustragung sind mithin entscheidende Faktoren bei der Beantwortung der Frage, wie Zivilität und Demokratie gesichert werden können. Betrachtet man diese gravierenden strukturellen Veränderungen, kann man der These der Nachkriegssoziologie nur zustimmen, dass sich die vier beschriebenen Sozialmilieus spätestens in den 1960er Jahren vollständig auflösten. Die Menschen sind durch Wohlstandssteigerung, Bildungsexpansion und einen kulturellen Wandel aus den tradierten Milieubindungen herausgelöst worden (Beck 1986). Die klassischen politischen Milieus beziehungsweise Lager des Kaiserreichs und der Weimarer Republik haben sich tatsächlich in den Jahren nach 1945 in der Bundesrepublik und in der DDR aufgelöst. Für die Ebene der lebensweltlichen Sozialmilieus gilt dies nicht umstandslos: Es lassen sich weiterhin lebensweltliche Milieus der Arbeiterschaft, des Konservatismus, ein neues grün-alternatives Milieu sowie einige christliche Milieuzusammenhänge ausmachen (Joas/Adloff 2002), doch konstituie-
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ren diese keine politisch verhärteten Lager mehr (Vester u.a. 2001). Mit Auflösung der Lagerzusammenhänge wurden die politischen Werte der verschiedenen Lager gleichsam »befreit« und gesellschaftlich verbreitet, indem sie aus der subkulturellen Fixierung gehoben wurden – was im Übrigen entscheidend mit dem Traditionsbruch durch die soziale Revolution des Nationalsozialismus zu tun hat. Die Milieus des Kaiserreichs und der Weimarer Republik beschränkten die Interaktionsbeziehungen auf das eigene Milieu und schlossen die politischen Werte in die Milieus ein. Politische Konflikte verloren dagegen in der Bundesrepublik ihre weltanschaulichen Bindungen, wurden dadurch handhabbarer und konnten politisch in Kompromissen kleingearbeitet werden.
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4. Organisationen: Nonprofit-Sektor, Zivilgesellschaft und Staat
Der Nonprofit- oder Dritte Sektor: USA und Deutschland im Vergleich – Vereine, Stiftungen und Wohlfahrtsverbände – Kirchen und Zivilgesellschaft – Fragen der Gemeinnützigkeit In den amerikanischen Sozialwissenschaften wurde vor einigen Jahrzehnten erstmalig davon gesprochen, dass es in der modernen Gesellschaft ein drittes Prinzip der Vergesellschaftung und Ressourcenbereitstellung neben der des Staates und des Markts gibt. Einige Jahre nachdem er eine Theorie einer »aktiven Gesellschaft« entworfen hatte, brachte Amitai Etzioni den Begriff »Dritter Sektor« in die Sozialwissenschaften ein (Etzioni 1972). Dieser Sektor stellt für ihn neben Markt und Staat einen eigenen unabhängigen gesellschaftlichen Bereich dar, der die Vorteile von Wirtschaftsunternehmen und staatlicher Koordination miteinander vereinige. Als Beispiele für solche Organisationen führt er das Rote Kreuz oder Nonprofit-Organisationen wie die Ford Foundation an. Etzioni entwickelte diesen Forschungsansatz selbst nicht weiter, aber andere Sozialwissenschaftler griffen diese Perspektive auf, und seitdem etablierte sich langsam eine Forschung zum Dritten beziehungsweise Nonprofit-Sektor – oder Independent beziehungsweise Voluntary Sector, wie er auch genannt wird – in den amerikanischen Sozialwissenschaften: in der Geschichtswissenschaft, Soziologie, der Politikwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft. Es dauerte jedoch einige Jahre, bis sich ein kohärentes und einigermaßen unverzerrtes Bild des amerikanischen Nonprofit-Sektors herausschälte. Mittlerweile wird dieser Sektor häufig als der gesellschaftliche Bereich definiert, in dem sich zivilgesellschaftliche Akteure tummeln – eine Vielzahl der den Nonprofit-Sektor konstituierenden
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Organisationen, so wird behauptet, korrespondieren mit der Idee der Zivilgesellschaft (Zimmer 2003). Zunächst unterstellte die in den USA beginnende Forschung, dass der Nonprofit-Sektor ein amerikanisches Phänomen sei. Man glaubte, dass die spezielle zivilgesellschaftliche amerikanische Tradition mit ihrer Betonung der Selbstverwaltung und Staatsferne zur Herausbildung eines solchen Sektors maßgeblich beigetragen habe. Was man bis in die 1980er Jahre kaum bemerkte, war, dass man den Sektor in allen modernen Gesellschaften vorfinden kann – zwar in verschiedenen Ausprägungen und Umfängen, aber durchaus deutlich sichtbar. Damit hing eine zweite Fehleinschätzung zusammen: Eine weit verbreitete Vorstellung in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion war – und ist teilweise immer noch –, dass der Sektor am besten in Unabhängigkeit vom Staat gedeiht und dass die Expansion wohlfahrtspolitischer Programme während der 1930er und der 1960er Jahre die NonprofitOrganisationen ersetzt beziehungsweise ihren Niedergang herbeigeführt habe (Salamon 1995). Man stellte sich das Ganze als ein Nullsummenspiel vor: Je weniger Staat, umso mehr Nonprofit-Organisationen und umgekehrt. Das Gegenteil ist jedoch richtig: Der Nonprofit-Sektor hat seine zunehmende Bedeutung innerhalb des amerikanischen Wohlfahrtsstaats gewonnen, weil der Staat Nonprofit-Organisationen damit beauftragte, öffentlich finanzierte Dienstleistungen anzubieten. Dadurch entstand ein weit verzweigtes Netzwerk kooperativer Arrangements zwischen Staat und Nonprofit-Organisationen. Diesen Verschränkungen geht die sozialwissenschaftliche Forschung erst seit Ende der 1980er Jahre intensiver nach, vorangetrieben vom Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project unter der Leitung von Lester M. Salamon und Helmut K. Anheier (vgl. Salamon 1992). Die neu etablierte Forschung konnte zeigen, dass der Nonprofitbeziehungsweise Dritte Sektor sich aus einer Vielzahl verschiedener Nonprofit-Organisationen zusammen setzt, die in den USA üblicherweise definiert werden als »independent, self-governing corporations that employ people to provide certain health care, educational, social, cultural, religious, and advocacy purposes and that do not distribute profits to investors« (Hammack 2000, S. 3). Zu einem bedeutenden Faktor in der amerikanischen Gesellschaft wurden Religionsgemein-
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schaften und andere Nonprofit-Organisationen im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Um 1900 waren religiöse Institutionen und Privatschulen die größten Nonprofit-Arbeitgeber. Zwischen 1900 und 1960 erreichten die Beschäftigten im Nonprofit-Sektor einen Anteil von ca. 3,7 Prozent an der Gesamtbeschäftigung, im Jahr 2000 lag der Anteil bereits bei knapp unter 10 Prozent (Hammack 2000, S. 7). Dem Historiker David C. Hammack zufolge ist die Expansion des Sektors seit den 60ern vor allem auf den gestiegenen Wohlstand der Amerikaner und die Sozialprogramme der Great Society zurückzuführen. Während das Spendenvolumen seit 1960 nur unwesentlich schwankte (zwischen 1,75 und 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts), vervierfachte sich die Nachfrage nach Dienstleistungen in den Jahren 1945 bis 1990 (ebd., S. 7). Die Sozialprogramme der 1960er Jahre (etwa Medicare und Medicaid im Gesundheitsbereich) weiteten die öffentliche Finanzierung des Nonprofit-Sektors über die direkte Finanzierung von Nonprofit-Organisationen durch bundesstaatliche Mittel aus. Seit den frühen 1980er Jahren beziehen Nonprofit-Organisationen rund ein Drittel ihrer Einnahmen aus bundesstaatlichen Mitteln (ebd., S. 8), und die sozialen Dienstleister unter den Nonprofit-Organisationen beziehen nun 50 Prozent ihrer Einnahmen aus staatlichen Quellen (Lipsky/Smith 1990, S. 625). Allerdings ist seit den 1980er Jahren eine »Vermarktlichung« des Sektors durch einen gestiegenen Wettbewerb zu beobachten, denn die Kürzung bundesstaatlicher Mittel im Sozialbereich hat den Konkurrenzdruck unter den Organisationen verschärft. An diesen amerikanischen Entwicklungen lässt sich ablesen, dass das Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Nonprofit-Organisationen von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Die Linien zwischen privat und öffentlich sind von vornherein nicht klar zu ziehen: Auf der einen Seite gibt der Staat Handlungsvollmacht durch die Delegation von Aufgaben an Privatorganisationen ab, auf der anderen Seite führt die öffentliche Finanzierung der Organisationen zu einer verstärkten staatlichen Einmischung in deren innere Strukturen (Lipsky/Smith 1990, S. 627). Auch die Übergänge zwischen Profit- und not-for-profit-Aktivitäten können fließend sein. Das Wissen um den Nonprofit-Sektor in Deutschland beziehungsweise außerhalb der USA insgesamt verdankt man hauptsächlich dem
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schon erwähnten international vergleichenden Johns Hopkins Comparative Non-Profit Sector Project. Die erste Projektphase fiel in die Jahre 1990 bis 1995, die zweite, in der mehr als 20 Länder untersucht wurden, in die Jahre von 1995 bis 1999. Zum Dritten beziehungsweise Nonprofit-Sektor zählen die Organisationen, die nicht eindeutig dem Markt oder dem Staat zuzuordnen sind, das heißt solche Organisationen, die formell strukturiert, organisatorisch unabhängig vom Staat, nicht gewinnorientiert, eigenständig verwaltet sind und zu einem gewissen Anteil von freiwilligen Beiträgen leben (Priller/Zimmer 2001, S. 11). Organisationen wie Vereine, Stiftungen, Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, Krankenhäuser, gemeinnützige GmbHs, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen zählt man zum Nonprofit-Sektor. Während in den USA die Religionsgemeinschaften dem Sektor zugerechnet wurden, schloss man sie in Deutschland aus den Statistiken aus, da das Kirchensteuersystem in Deutschland den Forschern eine zu große Nähe zum Staat indizierte. Dadurch, dass man der Forschung Organisationen mit spezifisch definierten Eigenschaften zugrunde legte, war man in der Lage, Nonprofit-Sektoren auch dort zu entdecken, wo es keine kulturelle, politische oder juristische Tradition gab, diese Organisationen zu einem Sektor zusammenzuschließen. In Deutschland (Priller/Zimmer 2001) haben die Beschäftigten des Nonprofit-Sektors im Jahr 1995 einen Anteil von 4,9 Prozent an der Gesamtbeschäftigung eingenommen, dies entspricht etwa 2,1 Millionen Beschäftigten. Im 22-Länder-Durchschnitt bewegt sich Deutschland damit auf Platz 10. In den Niederlanden (Platz 1) beträgt der Anteil an der Gesamtbeschäftigung 12,6 Prozent, in den USA (Platz 5) 7,8 Prozent und in Japan (Platz 13) 3,5 Prozent. Die deutschen Organisationen des Dritten Sektors sind zu einem hohen Anteil im Gesundheitswesen und im Bereich der Sozialen Dienste tätig, dagegen kaum im Bildungswesen – im Gegensatz zu anderen Ländern wie Großbritannien, den USA, aber auch Frankreich. In Deutschland sind 38,8 Prozent der Beschäftigten des Dritten Sektors im Bereich Soziale Dienste
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tätig und 30,6 Prozent im Gesundheitsbereich. Das heißt, dass ein großer Anteil von wohlfahrtsrelevanten Gütern und Dienstleistungen von Nonprofit-Organisationen angeboten wird. Die Einnahmen des Sektors setzen sich aus Gebühren, öffentlichen Zuschüssen und Spenden zusammen. Der Nonprofit-Sektor finanziert sich zu 64,3 Prozent aus Geldern der öffentlichen Hand, zu 32,3 Prozent aus Gebühren und zu 3,4 Prozent aus Spenden. Rechnet man die ehrenamtliche Tätigkeit ein, erhöht sich der Anteil der »Spenden« – nämlich durch die Spende unentgeltlicher Arbeitskraft – auf 36,3 Prozent. Entsprechend verringert sich der Anteil von Gebühren und Geldern der Öffentlichen Hand (ebd., S. 28 ff.).5 In den Nonprofit-Organisationen wird demnach zu einem großen Teil auch ehrenamtliche Arbeit geleistet. Auf drei hauptamtliche Vollzeitkräfte im Dritten Sektor fällt der Arbeitsaufwand von zwei Ehrenamtlichen. Besonders im Bereich Kultur, Freizeit und Erholung wird freiwillig und unbezahlt gearbeitet. Die Bereiche Soziale Dienste und Gesundheitswesen, die vor allem von den Wohlfahrtsverbänden dominiert werden, sowie Bildung und Forschung sind dagegen hauptsächlich auf bezahlte Arbeit angewiesen. Betrachtet man die Organisationsformen des Dritten Sektors, dann ist die quantitativ wichtigste Säule in Deutschland das Vereinswesen (vgl. Klein 1998). Da es kein zentrales Vereinsregister gibt, ist die Erfassung der vorhandenen Vereine kaum möglich. Schätzungen geben einen Wert von etwa 300 000 bis 500 000 eingetragenen Vereinen an. Die meisten Vereine – etwa 70 Prozent – stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sodass man für Deutschland sagen kann, dass sich seit 1960 die Vereinsdichte verdreifacht hat – die Vereine sind dabei zum größten Teil in den Bereichen Sport und Kultur (Gesangsvereine etwa) aktiv. Eine weitere Organisationsform und gern genannte institutionelle Säule des Nonprofit-Sektors und der Zivilgesellschaft ist das Stiftungs5
Das monetäre Spendenaufkommen lag im Jahr 2002 in den USA bei etwa 241 Milliarden Dollar. 35 Prozent der Spenden fließen dabei an Religionsgemeinschaften. Das jährliche Spendenaufkommen in Deutschland wird – je nach Berechnungsweise – auf fünf bis 15 Milliarden DM für die 1990er Jahre geschätzt (siehe Bundesverband Sozialmarketing).
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wesen. Nicht selten wird in den aktuellen Debatten über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf die Philanthropie in den Vereinigten Staaten hingewiesen, wo die private Initiative blühe und staatliches Handeln durch privates Engagement entlastet werde. Die verbreitete Ansicht, dass die amerikanischen Stiftungen durchweg groß und einflussreich seien, liegt in einem institutionellen Mythos begründet. Das Bild der modernen philanthropischen Stiftung, wie es etwa von Carnegie, Rockefeller und Ford Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, liefert bis heute das legitimatorische Paradigma für den amerikanischen Stiftungssektor (Toepler 1998, S 165). Doch dieses Paradigma bezieht sich eigentlich nur auf einige Dutzend Großstiftungen; die meisten amerikanischen Stiftungen sind organisatorisch nicht in der Lage, eine systematische und strategische Philanthropie zu entwickeln. Für das Jahr 2002 werden vom New Yorker »Foundation Center« fast 62 000 Förderstiftungen verzeichnet, deren Vermögen mit 480 Milliarden Dollar beziffert wird; ihre Ausgaben betrugen 30,3 Milliarden Dollar im Jahr 2002. Die fünf größten Stiftungen – allen voran die »Bill & Melinda Gates Foundation« – vereinigen ca. 15 Prozent des gesamten Stiftungsvermögens auf sich. Demgegenüber verfügt der überwiegende Teil der amerikanischen Stiftungen nur über kleine Vermögen und schüttet dementsprechend relativ geringe Summen aus. In Deutschland finden sich mindestens 12 500 Stiftungen (Enquete 2002, S. 246). Dazu werden rechtsfähige wie auch nicht-rechtsfähige Stiftungen gezählt, Stiftungen in Körperschaftsform, Stiftungen, die von Privatleuten, von Unternehmen oder Vereinen gegründet oder von der öffentlichen Hand ins Leben gerufen wurden (Strachwitz 2001).6 Rankings, die den Umfang des Vermögens des deutschen Stiftungswesens angeben, erfreuen sich einer gewissen Beliebtheit, doch sind sie aus verschiedenen Gründen problematisch: Nur etwa ein Drittel aller erfassten Stiftungen macht Angaben zum Vermögen oder zur Ausgabenhöhe. Des Weiteren fehlen einheitliche Bewertungsvorschriften für die verschiedenen Vermögensarten, so dass es keinen Vergleichsmaßstab gibt. Der Buchwert der »Bertelsmann Stiftung«, deren Ver6
Von der Gesamtzahl ausgenommen werden Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen.
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mögen im Wesentlichen aus der stimmrechtslosen Haupteigentümerschaft an der Bertelsmann AG besteht, liegt beispielsweise bei etwa 660 Millionen Euro, marktorientierte Berechnungen geben jedoch einen Wert von knapp 18 Milliarden Euro an, teilweise sogar mehr (Sprengel 2001, S. 35). Wie in den USA stehen auch hier die großen Stiftungen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, doch setzt sich das Stiftungswesen hauptsächlich aus Stiftungen mit kleinen Vermögen zusammen. 2001 lag bei knapp 50 Prozent der Stiftungen das Vermögen unter 250 000 Euro (ebd., S. 38). Der Beitrag von Stiftungen zum Finanzvolumen des deutschen Nonprofit-Sektors wird insgesamt auf etwa 0,3 Prozent geschätzt (Enquete 2002, S. 246). Eine Reduktion der staatlichen Finanzierung von gesellschaftlichen Aufgaben wäre also sicher nicht von Stiftungen kompensierbar – abgesehen davon, dass sie auch kaum gewillt wären, eine »Lückenbüßerfunktion« zu übernehmen. Die politischen Akteure haben denn auch zunehmend davon Abstand genommen, von Stiftungen den Ausgleich leerer Staatskassen zu erwarten. Stattdessen wird heute das Stiftungswesen mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der Demokratie und der Bürgergesellschaft diskutiert. Stimmen wie von Antje Vollmer – »Stiftungen sind im Dritten Sektor ein wichtiger Impulsgeber für Innovationen« – sind mittlerweile die Regel. Dies kann man mit guten Gründen bezweifeln (vgl. Adloff 2004a): Die meisten Stiftungen sind in einen staatsnahen »korporatistischen« Sektor eingebunden und erfüllen hauptsächlich soziale Aufgaben. Daneben findet sich zwar ein »liberal« verfasster Teilbereich im Stiftungssektor, doch nur wenige der hier vorfindbaren Stiftungen sind »innovative Ideenagenturen« und begreifen sich selbst als zivilgesellschaftliche Akteure. Vielen geht es dagegen eher um die Erlangung von symbolischen Kapital, sprich: Prestige, oder sie dienen dem Stifter zur Vergewisserung seiner Identität (ebd., S. 279 ff.). Anders sind die meisten der so genannten Bürgerstiftungen einzuschätzen, die nach dem angloamerikanischen Vorbild der Community Foundations seit 1996 auch in Deutschland gegründet werden. Sie beziehen sich in ihrer Arbeit zumeist auf das Wohl ihrer lokalen Gemeinde und »poolen« Ressourcen möglichst vieler Bürger der Gemeinde. Nicht ein einzelner wohlhabender Stifter stattet die Stiftung mit Vermögen aus,
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sondern idealerweise eine Vielzahl engagierter Bürger der Gemeinde. Die Förderzwecke der Bürgerstiftungen sind im Allgemeinen recht weit gefasst.7 Die Robert Bosch Stiftung ist nicht nur eine der größten privaten deutschen Stiftungen, sondern auch eine der bekanntesten. Dazu trägt nicht nur die jährliche Fördersumme bei (48,7 Mio. Euro in 2003), sondern auch die Breite und die auf den unmittelbaren Nutzen orientierten Förderprogramme. Sie ist von der Rechtsform her keine Stiftung des privaten Rechts, sondern eine GmbH. Die Robert Bosch Stiftung wurde 1964, 20 Jahre nach dem Tod Robert Boschs, gegründet. Vorläuferin der Stiftung war die »Vermögensverwaltung Bosch GmbH«, die Bosch schon 1921 ins Leben gerufen hatte, um nicht nur die Kontinuität seines Unternehmens und dessen Führung in seinem Sinne über seinen Tod hinaus zu sichern, sondern auch seine gemeinnützigen Tätigkeiten finanziell und organisatorisch auf eine dauerhafte Basis zu stellen. Die Stiftung finanziert ihre Tätigkeit durch Dividenden aus ihrem 92-prozentigen Anteil am Stammkapital der Robert Bosch GmbH. Bosch selber formulierte seine gesellschaftlichen Ambitionen 1935 in den Richtlinien für die »Vermögensverwaltung Bosch GmbH«: »Meine Absicht geht dahin, neben der Linderung von allerhand Not, vor allem auf Hebung der sittlichen, gesundheitlichen und geistigen Kräfte des Volkes hinzuwirken.« Die Beispiele, die Bosch als mögliche Betätigungsfelder angibt – »Gesundheit, Erziehung, Bildung, Förderung Begabter, Völkerversöhnung und dergleichen« – finden sich als Schwerpunkte in der Stiftungsarbeit wieder: • • • •
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Wissenschaft in der Gesellschaft Gesundheit und Humanitäre Hilfe Völkerverständigung Jugend / Bildung / Bürgergesellschaft
Momentan gibt es etwa 70 Bürgerstiftungen in Deutschland. Vgl. www.bürgerstiftungen.de.
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Die Bosch Stiftung arbeitet operativ mit wechselnden Schwerpunkten und betreibt darüber hinaus mehrere Einrichtungen wie das Robert Bosch Krankenhaus. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat die Stiftung die Förderung bürgerschaftlichen Engagements als Querschnittsaufgabe entwickelt. Bürgerschaftliches Engagement stellt sich in den Augen der Stiftung als »Lebenselixier einer offenen Bürgergesellschaft in der Demokratie« dar und ist die »praktizierte Mitverantwortung der Bürger für die öffentlichen Dinge«. Weitere Informationen: www.bosch-stiftung.de. Der Nonprofit-Sektor wird in den Diskussionen um eine lebendige Zivilgesellschaft zunehmend als Garant für sozialen Zusammenhalt wahrgenommen, weil in ihm auf einer intermediären Ebene soziale Netzwerke entstehen und Vertrauen gebildet wird. In NonprofitOrganisationen wie den Vereinen wird bürgerschaftliches Engagement aus- und Gemeinsinn eingeübt, kann man den Untersuchungen entnehmen. Zudem gilt die teilweise ethisch fundierte Wirtschaftsweise von Nonprofit-Organisationen als Alternative zur rein profitorientierten, aber auch zur staatlich-direktiven Wirtschaftsweise – im besten Fall gehen Werteorientierung und wirtschaftliche Effizienz eine tragfähige Verbindung ein. Eckhard Priller und Annette Zimmer (2001, S. 33) resümieren deshalb: »Vereinigungen, wie sie Nonprofit-Organisationen darstellen, bringen die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Ausdruck, sich innerhalb gesetzter Rahmenbedingungen, jedoch außerhalb der staatlichen Hoheitsverwaltung, selbst zu organisieren.« In der Zivilgesellschaftsdiskussion ist der Nonprofit-Sektor vor allem deshalb bedeutsam, weil er die Organisationen empirisch benennen kann, die die Träger von Zivilgesellschaft sind oder sein können. Aus diesem Grund wird der Sektor nicht selten als die organisatorische Infrastruktur von Zivilgesellschaft beschrieben. Dennoch sind »Nonprofit-Sektor« und »Zivilgesellschaft« nicht deckungsgleich. Obwohl die Überschneidungen und Differenzen zwischen beiden Konzepten nicht leicht zu definieren sind, gibt es doch einige Bereiche des Nonprofit-Sektors, die eindeutig staatlich (mit-) organisiert und dominiert sind. Insofern könnte man auch von einer
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»staatlich organisierten Zivilgesellschaft« sprechen.8 Die Organisationen des deutschen Nonprofit-Sektors, die in den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheitswesen tätig sind, kann man aber treffender als Teil des deutschen Sozial-Korporatismus bezeichnen (vgl. Zimmer 1997, S. 75). Denn die Zusammenarbeit von Nonprofit-Organisationen und Staat blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück, die vor allem durch eine spezifische Interpretation des Subsidiaritätsprinzips9 befördert wurde. Nonprofit-Organisationen aus den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheitswesen hatten bis vor kurzem eine privilegierte Position gegenüber kommerziellen und staatlichen Anbietern (ebd., S. 76). Vor allem die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege (Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) sind durch öffentliche Mittelzuweisungen begünstigt. Die Wohlfahrtsverbände hatten historisch ebenfalls Momente der Selbstorganisation aufzuweisen. Sie sind in der Zeit des deutschen Kaiserreichs entstanden und entstammen der Vereinskultur der sozialmoralischen Milieus der Kirchen und der Arbeiterbewegung. 1897 wurde der Caritasverband für das katholische Deutschland gegründet, um die Einrichtungen der katholischen Fürsorge zusammenzufassen. Die protestantische Innere Mission, der Vorläufer des heutigen Diakonischen Werks, ist schon älter, begann aber erst in den 1890er Jahren, ein zentralisierter Wohlfahrtsverband zu werden (Olk u.a. 1995, S. 20). Die christlichen Wohlfahrtsverbände wurden im Wesentlichen durch die freiwilligen Aktivitäten und Beiträge ihrer Sozialmilieus getragen 8
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Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, welche Bereiche des NonprofitSektors besonders wirtschaftsnah operieren. Manche Nonprofit-Organisation wird nach einer Anfangsphase der Erprobung und staatlicher Unterstützung in eine For-Profit-Organisation umgewandelt. Das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip besagt: Wo die eigenverantwortlichen Kräfte des Individuums oder kleiner Gemeinschaften überfordert werden, ist die Tätigkeit der übergeordneten Gemeinschaft als ergänzende gefordert und zulässig. Die übergeordnete Gemeinschaft kann der Staat sein, muss es aber nicht. In Europa gibt es natürlich noch andere strukturbildende Konzepte des »Dritten Sektors«: die Tradition der Charity in Großbritannien, die Economie Sociale in Frankreich oder den Assozianismus in Italien (Anheier 2001, S. 63).
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und waren auch auf diese begrenzt. In der Weimarer Republik änderte sich dies. Mit dem Aufbau des Weimarer Sozialstaates ging ein Prozess der Zentralisierung der Wohlfahrtsverbände und ihrer Inkorporierung in den Sozialstaat einher. Die Verbände begannen, sich zu einflussreichen Anbietern sozialer Dienstleistungen zu entwickeln, die zwar noch in ihren Entstehungsmilieus verankert waren, aber zunehmend eigene professionelle und politische Interessen herausbildeten. Die sozialpolitische Entwicklung der Bundesrepublik führte zu einer weiteren wohlfahrtsstaatlichen Inkorporierung der Freien Wohlfahrtspflege (ebd., S. 22), und die Verbände wurden zunehmend in ein staatlich reguliertes Gesamtsystem eingebunden. Die Professionalisierung der Dienstleistungen gewann gegenüber dem ehrenamtlichen Engagement einen höheren Stellenwert, und damit wuchs auch die Bedeutung fachlicher Standards gegenüber traditionellen Wertbindungen. Zeitgleich verloren die traditionellen christlichen Milieus in den 1960er Jahren an Bindekraft, sodass seitdem die Legitimierung über fachliche Standards gegenüber weltanschaulichen Wertbindungen ganz in den Vordergrund getreten ist (ebd.). Dennoch haben Zentralisierung, Bürokratisierung und Professionalisierung die traditionellen Elemente der wohlfahrtsverbandlichen Arbeit keineswegs zum Verschwinden gebracht: Es expandierten in den letzten Jahren allerdings eher neue Formen der Selbsthilfe. Beispielsweise verdankt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Bedeutungszuwachs dem Aufstieg der Selbsthilfebewegung seit dem Ende der 70er Jahre (Sachße 1995, S. 145) – zwischen 1985 und 1995 ist die Anzahl der Selbsthilfegruppen und Initiativen von 25 000 auf 60 000 angestiegen (Priller/Zimmer 2001, S. 34). In Ostdeutschland hat sich nach der Wende die Transformation der Wohlfahrtsverbände zu Dienstleistungsunternehmen noch beschleunigt (Olk u.a. 1995, S. 24). Die Wohlfahrtsverbände hatten in der zentralistisch organisierten DDR keine vergleichbaren Geschwisterorganisationen, sodass die westdeutschen Verbände einfach auf Ostdeutschland übertragen wurden. Sie konnten dort allerdings nicht in sozialmoralische Milieus oder deren lebensweltliche Restbestände integriert werden. Die ostdeutschen Wohlfahrtsverbände arbeiten nun nahezu ausschließlich auf der Grundlage von öffentlichen Subventionen und unter Hinzuziehung hauptamtlichen Personals (ebd., S. 25). In jüngster Zeit
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mehren sich die Anzeichen, dass das korporatistisch-wohlfahrtsstaatliche Arrangement aus dem bisherigen Gleichgewicht und in Bewegung gerät. Der Wohlfahrtsstaat scheint immer weniger finanzierbar zu sein, und ein Trend zur Ökonomisierung der Gesellschaft ist allenthalben zu beobachten. Das spezifisch deutsche Subsidiaritätsprinzip wird von Seiten der EU-Kommission aus wettbewerbsrechtlichen Gründen angegriffen. So ist auch die Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände im Pflegeversicherungsgesetz nicht mehr enthalten (vgl. Backhaus-Maul/Olk 1995). Ein weiterer staatsnaher Bereich wird in Deutschland von den Kirchen gebildet. Bislang ist die Frage, wie sie sich zum Konzept der Zivilgesellschaft verhalten, ungeklärt.10 Dabei gilt es allerdings strikt zwischen der sozialwissenschaftlichen Beobachter- und der Teilnehmerperspektive der Kirchen selbst zu unterscheiden. Diese Diskussion steht noch ganz am Anfang, doch gibt es Anzeichen für einen beginnenden Selbstverständigungsdiskurs innerhalb der katholischen und evangelischen Kirchen in Deutschland über die Frage, ob man sich als Teil der Zivilgesellschaft begreift (vgl. Strachwitz u.a. 2002). Zwei Fragen scheinen dabei aus der kirchlichen Binnenperspektive von Bedeutung zu sein: Erstens stellt sich die Frage, inwieweit sich Religionsgemeinschaften »in der Welt« platzieren oder sich auf ihre religiöse »Kernfunktion« beschränken, die rituelle Heilsvermittlung vorzunehmen (Pollack 2002). Auch wenn Systemtheoretiker die christlichen Kirchen auf diese Funktion einschränken wollen, betonen diese jedoch selbst, dass religiöses Handeln gesellschaftliches Handeln ist. Der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohl (2002) spricht von einer zivilgesellschaftlichen Diakonie: Aufgabe der Kirche sei es, Diakonie im Sinne eines Anwalts der Schwachen in der Zivilgesellschaft und Diakonie im Dienst der Zivilgesellschaft zu betreiben, also als Schützer einer kommunikativ strukturierten Sphäre der Öffentlichkeit zu fungieren. Ebenso geht die evangelische Theologie von einem Glauben aus, der in den praktischen Lebensvollzug eingelassen ist. Der 10 In den USA zählt man die Religionsgemeinschaften nicht nur zum Nonprofit-Sektor, sondern betrachtet sie ganz selbstverständlich als konstitutiven Teil der Zivilgesellschaft.
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Historiker Paul Nolte (2003a) rückt denn auch den Begriff der christlichen Verantwortung in die Nähe des Konzeptes von Zivilgesellschaft. Zweitens ist die Frage zu stellen, wie sich die Religionsgemeinschaften zu Staat und Zivilgesellschaft ins Verhältnis setzen – vertikal oder horizontal? Im 19. Jahrhundert war das Gemeinwohl aus katholischer Sicht ein den Einzelnen vorgegebener Zweck, über den der Staat zu hüten hatte, während die Kirche als Interpretin des Gemeinwohls und Kritikerin des Staates auftrat, da sie sich des besonderen göttlichen Beistands gewiss war (Möhring-Hesse 2001, S. 264). In den USA konnte sich unter den Katholiken auf Grund der Akzeptanz liberal-demokratischer politischer Prinzipien nie dieses Ordnungsmodell durchsetzen (vgl. Adloff 2003a, S. 70 ff.) – in Europa schon viel eher. Das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) gab schließlich diese überkommene Staatsauffassung auf. Der Staat erscheint seitdem in der katholischen Lehre als öffentliche Gewalt in der Gesellschaft. Nun sollen sich auch nach offizieller päpstlicher Lehre die Katholiken als gesellschaftliche Akteure in den zivilgesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess begeben, in dem das Gemeinwohl nicht entdeckt, sondern diskursiv erzeugt wird. Politisch hat die Veränderung der katholischen Lehre ihren Ausdruck in einer »katholischen Welle der Demokratisierung« gefunden, wie der Soziologe José Casanova (2001) herausstellt. In einer Vielzahl von Ländern waren Religionsgemeinschaften und besonders die katholische Kirche beteiligt an einem »Wiedererwachen« der Zivilgesellschaft und der dritten, weltweiten Demokratisierungswelle – zum Beispiel in Spanien, Brasilien, Polen, den Philippinen, Süd-Korea und Südafrika. Ungefähr zwei Drittel der Länder, die sich seit den 1970er Jahren demokratisierten, waren katholisch. Die Transition zur Demokratie war nur möglich, so betont Casanova (ebd., S. 1042 ff.), weil die katholische Kirche selbst eine Transformation vollzogen hatte: Erst die Anerkennung der religiösen Freiheit, der Gewissensfreiheit und der unveräußerlichen Menschenrechte durch das II. Vatikanische Konzil machte die Kirche zum aktiven Akteur der Zivilgesellschaft und zu einer »öffentlichen Religion«. Manchmal wird der Nonprofit-Sektor auch der »Gemeinnützige Sektor« genannt – tatsächlich sind viele der hier verhandelten Organisa-
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tionen steuerbegünstigte Körperschaften und im umgangssprachlichen Sinne gemeinnützig. Mit der Steuerbefreiung beziehungsweise Gemeinnützigkeit ist eine ganz bestimmte juristische Definition verbunden, die weitgehend unabhängig ist von der Frage nach einer politischen Theorie des Gemeinwohls (vgl. Schwertmann 2004). Aber tatsächlich muss der Staat im Falle der Steuerbefreiung von Organisationen unterstellen, dass sie einen irgendwie positiv gearteten Beitrag zur Gesellschaft beisteuern. Warum sollte man sie sonst steuerlich bevorzugen? Die Organisationen des Nonprofit-Sektors haben in der Regel eine bestimmte Rechtsform: In Deutschland überwiegt dabei der Verein, aber auch Stiftungen, GmbHs und Genossenschaften werden in diesem Bereich gegründet – die öffentlich-rechtliche Körperschaft soll an dieser Stelle aus Gründen der Vereinfachung ausgeblendet werden. Vereins- und Stiftungsrecht11 sind im BGB geregelt, wobei es hier aber auch Ausnahmen gibt, wie die nicht-rechtsfähige Stiftung. In den USA gibt es die Rechtsform der Nonprofit Corporation, die vornehmlich durch ein Gewinnausschüttungsverbot gekennzeichnet ist, das sie von der gewinnorientierten Business Corporation unterscheidet. Auch in Deutschland gibt es Rechtsformen, die für gewinnorientierte Organisationen konzipiert sind (Aktiengesellschaft, GmbH), sowie »ideelle« Organisationen (Verein, Stiftung), die keine Gewinne an ihre Mitglieder, Stifter oder den Vorstand ausschütten dürfen. Grundsätzlich jedoch liegt die Steuerbegünstigung – also die Gemeinnützigkeit – im deutschen Steuerrecht begründet. Daher sind beide Dimensionen auch voneinander entkoppelbar: Es gibt nicht-gemeinnützige Stiftungen (zum Bespiel so genannte Familienstiftungen) ebenso, wie es gemeinnützige GmbHs (z.B. Altenheime, die von einem Wohlfahrtsverband getragen werden) gibt. Unter das Gemeinnützigkeitsrecht fallen zwei Bereiche, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben (vgl. Strachwitz 2004, S. 139 ff.): erstens die Steuerbegünstigung, die einer Kör-
11 Das Stiftungsrecht ist in den letzten Jahren in zweifacher Hinsicht reformiert worden. Im Jahr 2000 sind die steuerlichen Absetzmöglichkeiten für Stifter vergrößert worden, im Jahr 2002 wurden die Rahmenbedingungen des Stiftens durch eine Reform der einschlägigen Abschnitte des Bürgerlichen Gesetzbuches verbessert.
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perschaft vom Finanzamt erteilt wird, wenn sie gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgt. Sie wird dann im Wesentlichen von Ertragssteuern freigestellt. Sodann können zweitens steuerpflichtige natürliche und juristische Personen bei einer Zuwendung an steuerbefreite Körperschaften die Möglichkeit der Minderung ihrer Steuerpflicht geltend machen. Es handelt sich hier um den so genannten Spendenabzug, das heißt, eine Spende an eine gemeinnützige Organisation kann vom Spender steuerlich »abgesetzt« werden. Seit etwa 100 Jahren können privatrechtliche Körperschaften von wesentlichen Steuerpflichten freigestellt werden, sofern sie gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen. Hierzu bedarf es zum einen der förmlichen Anerkennung als gemeinnützige oder mildtätige Organisation, aber auch der Einhaltung weiterer Bedingungen wie das Verbot, Gewinne an Mitglieder oder Eigentümer auszuschütten oder eine unmittelbare und zeitnahe Mittelverwendung. Im Laufe der Jahre wurde die Liste der gemeinwohlorientierten Zwecke immer länger und entbehrt mittlerweile einer Systematik – so gilt das »Schachspielen im Schachclub als gemeinnütziger Sport, Theaterspielen im Theaterclub dagegen überwiegend als nicht gemeinnützige Freizeitbeschäftigung« (ebd., S. 140). Merkwürdig ist auch, dass der Spendenabzug in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Organisationen selbst eine herausragende Rolle spielt, obwohl nur wenig mehr als drei Prozent der Einnahmen deutscher Nonprofit-Organisationen auf Spenden beruhen (ebd., S. 143). Man geht offensichtlich davon aus, dass umfangreichere Spenden für Nonprofit-Organisationen nur zu erzielen sind, wenn diese vom Spender steuerlich geltend gemacht werden können. Inwieweit auch ökonomische Anreize in Form von Steuerabzugsmöglichkeiten ein Grund dafür sind, Geld an gemeinwohlorientierte Organisationen zu spenden, ist in der Literatur allerdings noch umstritten (vgl. Steinberg 1990; Auten u.a. 2002).12
12 Im Übrigen finden sich innerhalb der EU sehr unterschiedliche Regeln: In Österreich gibt es keinen Spendenabzug, in Großbritannien bekommt die Empfängerorganisation eine Gutschrift zusätzlich zur Spende, Italien, Ungarn, Polen und die Slowakei kennen die Zweckbestimmung eines Steueranteils.
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5. Interaktionen: Sozialkapital und bürgerschaftliches Engagement
Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland: Daten und Interpretationen – Sozialkapital und soziale Ungleichheit Auch in Deutschland werden Robert Putnams (2000) Thesen (s.o. S. 71 ff.) eines Verlustes an Sozialkapital aufmerksam rezipiert, insbesondere im Kontext von Diskussionen über die Möglichkeit, freiwilliges beziehungsweise bürgerschaftliches Engagement zu aktivieren. Putnam folgend wird auch in der aktuellen deutschen Diskussion um freiwilliges Engagement und Sozialkapital davon ausgegangen, dass Gesellschaften sozial und politisch besser »funktionieren«, wenn sie über ausreichende Mengen an Sozialkapital verfügen. Freiwilliges Engagement soll als sozialer Kitt fungieren, Gemeinsinn generieren, soziale Integration bewirken und Verantwortung an die Bürger und Bürgerinnen selbst delegieren. Das Thema fand hierzulande so viel Aufmerksamkeit, dass sogar eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags eingerichtet wurde, die sich mit diesen Fragen beschäftigte. Die Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« konstituierte sich im Februar 2000 und legte 2002 ihren Abschlussbericht vor. Dieser umfasst insgesamt mehr als 800 Seiten, die von theoretischen Überlegungen, historischen und empirischen Beschreibungen bis zu Empfehlungen an die Politik und Administration reichen. Das von der Kommission zugrunde gelegte Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement ist bewusst weit gespannt. Es geht nicht nur um die Mitwirkung in Parteien und Verbänden und um die Beteiligung in Organisationen mit sozialen oder politischen Zwecken; auch Tätigkeiten im Bereich Freizeit, Sport und Geselligkeit werden hinzugezählt. Qualifizieren-
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des Merkmal dieser verschiedensten Tätigkeiten ist ihr Bezug auf das Gemeinwohl und – neben der individuellen Interessenverfolgung – ihre Verpflichtung gegenüber der Bürgerschaft (Enquete 2002, S. 15). Das Leitbild der Kommission ist eine Bürgergesellschaft – der Begriff wird synonym zu dem der Zivilgesellschaft gebraucht –, in der sich die Bürger und Bürgerinnen nach demokratischen Regeln selbst organisieren und auf die Geschicke des Gemeinwesens einwirken. Der sich selbst organisierenden Bürgerschaft ist ein »ermöglichender Staat« gegenübergestellt, der die Bürger und ihre Organisationen von staatlicher Gängelung befreit und die Rahmenbedingungen für eine eigenverantwortliche Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben verbessert, also Gelegenheitsstrukturen für Engagement schafft. Der Sozialstaat wird in dieser Konzeption idealiter zum kooperativen Partner der Bürger. Ziel müsse es sein, so die Kommission, die sozialen Dienste für das Engagement stärker zu öffnen und es gezielt in den Bereichen Gesundheit, Altenhilfe und -pflege, aber auch in der Schule sowie in der Kinder- und Jugendhilfe einzubetten. Ausführlich berichtet die Enquete-Kommission über das Engagement von Unternehmen in Form von Corporate Social Responsibility (CSR) (ebd., S. 456 ff.). Das CSR-Konzept beruht auf der Vorstellung einer nachhaltigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Entwicklung, und als Teilkonzept ist das Corporate Citizenship mittlerweile in aller Munde – wenn auch die Umsetzung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern deutlich hinterherhinkt. Das Corporate Citizenship umfasst die relativ weit verbreitete Tätigkeit des Corporate Giving in Form von Spendenzahlungen sowie das Corporate Volunteerism, in dem Unternehmen das bürgerschaftliche Engagement ihrer Mitarbeiter unterstützen und anregen. Auf diese Weise sollen Unternehmen dazu beitragen, eine Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen (vgl. Mutz 2000). In dem Kapitel zu den Handlungsempfehlungen an Staat, Politik und Gesellschaft werden einige abstraktere Schlussfolgerungen für den anvisierten Wandel zur Bürgergesellschaft gezogen, ebenso aber auch sehr konkrete Gesetzesänderungen angeregt, die die Förderung des Engagements betreffen. Die Kommissionsmitglieder betonen, dass der Gesetzgebungsprozess in Anlehnung an Habermas deliberativere Züge
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annehmen sollte (Enquete 2002, S. 586); auch müsse das Recht sich wandeln, wenn es nicht mehr Ausdruck allein eines hoheitlichen Aktes sein solle. Entsprechend fordert die Enquete-Kommission neue Beteiligungsformen ein, nämlich die direkte Demokratie auf Bundesebene, ausgebaute Beteiligungsformen auf kommunaler Ebene sowie eine Erweiterung des Kreises der Beteiligten in Verwaltungsverfahren. Darüber hinaus legt der Bericht die bisher umfassendste empirische Bestandsaufnahme zum bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland vor. Zwar sind die Ergebnisse im Einzelnen nicht neu, sondern in den letzten Jahren schon publiziert worden, doch ist bislang kein so vollständiges Bild der deutschen Zivilgesellschaft in all seinen Facetten gezeichnet worden. Zur Verbreitung des Sozialkapitals in Deutschland als ein Indiz für Strukturen sozialer Integration gibt es mittlerweile umfangreiche Forschungen, die sich auf die Frage konzentrieren, wie viele und welche Personen sich freiwillig engagieren und Mitglied in Vereinen und Verbänden sind. Das Ergebnis ist relativ eindeutig: Die Daten zum sozialen Kapital belegen zwar einen gravierenden Wandel des freiwilligen Engagements und der Mitgliedschaften, aber keinen generellen Rückgang. Zunächst zu den Mitgliedschaften in Assoziationen als Indikator für soziales Kapital: Zwar hat sich zwischen 1960 und 1990 die Anzahl der eingetragenen Vereine pro 100 000 Einwohner mehr als verdreifacht (Anheier 1997, S. 33), doch sind untere Einkommensklassen, insbesondere Arbeiter, in Vereinen und Verbänden insgesamt unterrepräsentiert. In den Jahren 1956 bis 1998 nimmt bei den Arbeitern der Anteil der Vereins- oder Verbandsmitglieder um 20 Prozentpunkte ab (Brömme/ Strasser 2001, S. 12), nicht jedoch beim Bevölkerungsdurchschnitt. Deutlich zurückgegangen sind dagegen die Mitgliedschaften in Gewerkschaften und politischen Parteien: Von 1984 bis 1993 sind in der BRD Mitgliederrückgänge von 6 Prozent bei den Gewerkschaften und von 17 Prozent bei den Parteien zu verzeichnen. Seit Mitte der 90er Jahre liegt der jährliche Mitgliederschwund der Gewerkschaften bei ca. 3,5 Prozent.13
13 Vgl. die Angaben der Hans Böckler Stiftung (www.boeckler.de/datenkarte).
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Die Daten zum freiwilligen Engagement der Bürger und Bürgerinnen zeigen den Befund eines Zuwachses für die letzten 30 Jahre. Etwa ein Fünftel bis ein Drittel – die Einschätzungen schwanken stark – der westdeutschen erwachsenen Bevölkerung ist – in irgendeiner Form – ehrenamtlich tätig (Offe/Fuchs 2001, S. 434; v. Rosenbladt 2000, S. 18). Der Freiwilligensurvey beobachtet eine Zunahme des durchschnittlichen Engagements im Verlauf der letzten Jahre: Waren 1999 noch 34 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert, sind es nach neusten Ergebnissen 2004 schon 36 Prozent.14 Den größten Zuwachs zeigt dabei das Engagement älterer Menschen ab 56 Jahren, das seit 1999 um fünf bis sechs Prozentpunkte zugenommen hat. Die Beteiligung der Ostdeutschen an ehrenamtlichen Tätigkeiten ist niedriger als die der Westdeutschen: Nach dem Freiwilligensurvey von 1999 engagierten sich in Westdeutschland 36 Prozent der Personen ab 14 Jahren freiwillig, in den neuen Länder waren es 28 Prozent 1999 beziehungsweise 31 Prozent im Jahr 2004 (vgl. Gensicke 2000, S. 176). Mit der Zunahme des Engagements verbindet sich ein Formwandel im Verlauf der letzten Jahrzehnte: Freiwilliges Engagement wird immer weniger als eine dauerhafte Pflichterfüllung verstanden, sondern ist zunehmend an persönlichen Interessen und Neigungen orientiert. Gerade bei den jüngeren Generationen nimmt die feste Einbindung in traditionelle Organisationen ab, hingegen nimmt das freiwillige Engagement in der »Neuen Ehrenamtlichkeit«, das situativer ist und den Engagierten größere Autonomie einräumt, stark zu (Heinze/Strünck 2001: 236). Schon dieser erste Blick auf das Sozialkapital in Deutschland zeigt, dass es einerseits Wandlungsprozessen unterliegt und andererseits offenkundig nicht über alle sozialen Gruppen gleich verteilt ist. Claus Offe und Susanne Fuchs (2001) weisen in ihrer Analyse des sozialen Kapitals darauf hin, dass ungleichheitsrelevante Faktoren Einfluss auf das Niveau des assoziativen Verhaltens haben. Assoziative Aktivitäten sind, so ihr Befund, erstens von der Einkommenshöhe abhängig. Zweitens haben religiöse Bindungen und drittens das Bildungsniveau einen positiven Einfluss auf das soziale Kapital. Viertens nimmt das 14 Vgl. die ersten Erklärungen von tns infratest und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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Engagement in Assoziationen die Form eines umgekehrten ›U‹ im Lebensverlauf an, das heißt die meisten Mitgliedschaften haben Menschen im Alter von 30 bis 59 Jahren. Fünftens ist seit der Wiedervereinigung in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland sowohl die Mitgliedschaftsrate in Assoziationen niedriger als auch das Niveau des freiwilligen Engagements. Diese »Partizipationslücke« führen Offe und Fuchs vor allem auf die hohe Arbeitslosenrate, die niedrigere Anzahl an selbstständigen Unternehmern und die geringe konfessionelle Bindung der Ostdeutschen zurück. Sechstens ist die Kluft in den Partizipationsraten zwischen Männern und Frauen in den letzten 40 Jahren in der Bundesrepublik zwar schmaler geworden, aber die Frauen haben die Männer immer noch nicht ganz eingeholt (ebd. S. 478; Beher u.a. 2001, S. 255 ff.). Untere Einkommensgruppen und Personen mit niedrigem Bildungsniveau sind in zivilen Assoziationen unterrepräsentiert und damit schlechter mit sozialem Kapital ausgestattet. Eine Ungleichverteilung von sozialem Kapital zwischen verschiedenen sozialen Gruppen ist mit dem Rückgang an »alten« Assoziationsformen verbunden (vgl. Brömme/Strasser 2001). Der vermutliche Effekt ist eine geringere soziale Integration derjenigen, die mit weniger Sozialkapital ausgestattet sind (Offe/Fuchs 2001, S. 502). Dies war, wie wir schon gesehen haben, nicht immer so: Diese sozialen Gruppen waren früher häufig in die Assoziationen der klassischen sozialmoralischen Milieus eingebunden: in die Organisationen der Arbeiterbewegung oder in das organisatorische Umfeld der katholischen Kirche. Dieser organisatorische Unterbau und Halt ist diesen Gruppen heute weitgehend verloren gegangen, ohne dass sie in die neu entstandenen Assoziationen – etwa Selbsthilfegruppen und neue soziale Bewegungen – hinüberwechselten. Die neuen Assoziationsformen verlangen von den Mitgliedern typische Mittelschichtskompetenzen – gefragt ist der selbstreflexive und selbstverwirklichungsorientierte »Konsument«, der autonom sein zeitweiliges Engagement gestaltet (Brömme/Strasser 2001, S. 13). Gerade für die ressourcenschwachen Bevölkerungsgruppen stellten die klassischen Milieus mit ihren Geselligkeitsformen niedrigschwellige Angebote für Partizipation dar. Die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildung schlägt offenbar auf die Fähigkeit durch,
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sich sozial zu vernetzen, sich zu binden, sich sozial oder politisch zu engagieren, »also ›Zivilgesellschaft‹ zu betreiben und zu stärken« (Nolte 2003b, S. 43). Unzählige Initiativen beruhen auf bürgerschaftlichem Engagement – hier ein Beispiel aus dem Bereich der Kulturpflege, das in den 1990er Jahren den Beweis antrat, dass Ost und West im gemeinsamen Handeln zusammenwachsen können. Der gemeinnützige »Förderverein zur Erhaltung und Pflege der KarlingOrgel in St. Laurentius zu Loburg e.V.« wurde im Oktober 1998 von der »Loburginitiative des Ruhrgebietes« im Verbund mit dem damaligen Pfarrer und Mitgliedern der Ev. Gemeinde von Loburg (Sachsen-Anhalt) gegründet. Die »Loburginitiative« geht auf eine Gruppe von ca. 20 Laienmusikern aus dem Ruhrgebiet zurück, die sich als Ausdruck kultureller Verbundenheit erstmals zu Silvester 1990 für ein Konzert in der St. Laurentius-Kirche zusammenfanden – der Impuls hierfür ging von einem ursprünglich in Loburg geborenen Westdeutschen aus. Dieses Konzert war der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Benefizkonzerten der »Loburginitiative«, die jeweils im Ruhrgebiet und in Loburg gegeben wurden und deren Erlöse der Loburger Kirchgemeinde zur Instandsetzung ihrer im Jahre 1705 von Andreas Karling erbauten Orgel zugute kamen. Auf der Basis persönlicher Kontakte zwischen West und Ost wurde nach dem 10. Jahreskonzert in der Loburger Stadtkirche der Förderverein mit der Zielsetzung ins Leben gerufen, für die Beschaffung von Mitteln zur Restaurierung der wertvollen Barockorgel in St. Laurentius zu sorgen. Darüber hinaus sind Pflegemaßnahmen, die Unterstützung des konzertanten Einsatzes der Orgel sowie eine Mitverantwortung für die Restaurierung des Innenraumes der Kirche in der Satzung festgehalten. Dem Förderverein gehören derzeit 47 Mitglieder an, wovon 22 aus den ostdeutschen und 25 aus den westdeutschen Bundesländern stammen. Die Grundinstandsetzung der Karling-Orgel kostet rund 350 000 Euro, hinzu kommen noch 110 000 Euro
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für die Restaurierung des barocken Orgelprospekts. Bis zum Jahre 2003 wurden rund 270 000 Euro Spenden eingeworben, die im Verbund mit öffentlichen Fördergeldern die Inangriffnahme des letzten Bauabschnitts ermöglichten. Daneben konnten auf der Basis von Rücklagen und einer Darlehensaufnahme des Fördervereins die notwendigen Komplementärmittel bereit gestellt werden, um Gelder aus dem Städtebausonderprogramm für die Innenrenovierung des Kirchenraums zu erhalten. Für den 11. September 2005 ist die Wiedereinweihung des dann 300jährigen Instruments geplant. Auch Putnam (2001) konzediert in einer von ihm herausgegebenen Studie zum internationalen Vergleich die zunehmende Ungleichverteilung von Sozialkapital. So weisen gerade neuere Untersuchungen zur Verteilung von Engagement und Sozialkapital unter der amerikanischen Bevölkerung in die gleiche Richtung. Theda Skocpol (1999; 2003) hat in jüngster Zeit herausgestellt, dass die amerikanische Demokratie seit den 1960er Jahren durch die Zunahme von politischen Advokatenorganisationen ohne Mitgliederbasis gekennzeichnet ist. Bis zu den 60er Jahren hatten nahezu alle national agierenden Organisationen lokal verankerte und aktive Mitglieder (Skocpol 1999, S. 461). Seitdem werden die Organisationen hauptsächlich von hochgebildeten Experten und Professionals aus der oberen Mittelschicht geführt (ebd., S. 494). Die Advokatengruppen betreiben Lobbyarbeit und Forschung und wenden sich an die mediale Öffentlichkeit, haben aber entweder kaum Mitglieder oder aber Mitglieder aus demselben Bildungsmilieu. Um die Dominanz der Oligarchie der Professionals, die eine Abkopplung weiter Teile der Bevölkerung von politisch relevanten Fragen bewirkt, zu beenden, fordert Skocpol die Wiederbelebung der Tradition von »multiplexen Assoziationen« (ebd., S. 504), die soziale und politische Aktivitäten verknüpfen, damit auch Durchschnittsleute wieder die Möglichkeit bekommen, Mitglied in einer Assoziation mit politischer Durchsetzungskraft zu sein. Auch Robert Wuthnow (2001) kommt in seiner vorsichtigen Einschätzung der Frage, wie sich das Sozialkapital der Amerikaner seit den 1970er Jahren entwickelt hat, zu dem gleichen Schluss: Es ist nicht eine gleichmäßige Erosion
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des Sozialkapitals zu konstatieren, sondern die Entwicklung zu einer ungleichen Verteilung von Sozialkapital – Exklusion statt Erosion also (ebd., S. 693). »Der Rückgang der Mitgliedschaft in Vereinigungen war immer bei den sozial-ökonomisch geringer Privilegierten stärker ausgeprägt als bei den Personen, die bereits über größere Privilegien verfügten« (ebd., S. 695). Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen dem Strukturwandel der Zivilgesellschaft und dem Wirtschaftswandel der letzten Jahrzehnte herzustellen. Letzterer, der mit einer Auflösung der klassischen sozialmoralischen Milieus Hand in Hand ging, hat wahrscheinlich auch zu einer zunehmenden Exklusion der zuvor wohlfahrtsstaatlich und arbeitspolitisch stärker eingebundenen unteren Schichten aus den zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen mit sich gebracht. Nicht nur schärfere ökonomische Ungleichheiten und Unsicherheiten stehen seit Ende der 1970er Jahre auf der Tagesordnung aller westlichen Gesellschaften (Bergmann 2004), diese scheinen auch auf die Ebene der Sozialintegration durchzuschlagen. Wird Zivilgesellschaft damit wieder – so könnte man zugespitzt fragen – zu einem bürgerlichen Projekt, in dem Sinne, dass nur das etablierte Bürgertum – die Mittelschicht – sich zivilgesellschaftlich engagiert? Ist damit die Idee einer klassenübergreifenden egalitären Zivilgesellschaft nach einer kurzen Blütezeit der »Verallgemeinerung nach unten« (Nolte 2003b, S. 44) Mitte des 20. Jahrhunderts an ihr Ende gelangt?
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6. Soziale Bewegungen
Soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft – Neue soziale Bewegungen nach 1968 – Das Selbstverwirklichungsmilieu – Bewegungen, Verbände und Demokratie Der neuere Diskurs um Zivilgesellschaft ist in hohem Maße von den politischen Erfahrungen und Selbstbeschreibungen sozialer Bewegungen gekennzeichnet (Klein 2001, S. 30). Zivilgesellschaft ist hier zentraler Bestandteil des Selbstverständigungsdiskurses, der auf das normative Projekt einer weitergehenden Demokratisierung abzielt. Anders als bei einem »gesellschaftszentrierten« Konzept von Zivilgesellschaft geht es sozialen Bewegungen häufig um genuin politische Anliegen, die sie im Medium des Protestes vortragen. Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt (2001, S. 540) definieren sie wie folgt: »Soziale Bewegungen stellen soziale Gebilde aus miteinander vernetzten Personen, Gruppen und Organisationen dar, die mit kollektiven Aktionen Protest ausdrücken, um soziale beziehungsweise politische Verhältnisse zu verändern oder um sich vollziehenden Veränderungen entgegenzuwirken.«
Der Begriff und die moderne Erscheinungsform »soziale Bewegung« entstand erstmals im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung und ist eng mit der Vorstellung verbunden, dass die Menschen selbst Geschichte machen und dass sie die Zukunft der Gesellschaft gestalten können (Rucht 2001, S. 322). Die Entstehung der westlichen Demokratien ist also aufs Engste mit sozialen Bewegungen verknüpft. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Arbeiterbewegung – nach dem Bürgertum – zum wichtigsten Verfechter des zivilgesellschaftlichen Programms, allerdings ohne es so zu nennen, und in der Weimarer Republik zum entschiedenen Verteidiger gegen seinen Abbruch (Kocka 2000, S. 32).
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Die infrastrukturelle Basis der Arbeiterbewegung wurde mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten dennoch entweder einverleibt oder zerschlagen. An der Geschichte der Bundesrepublik lässt sich dann der Weg von der Bewegung zu stärker organisierten und institutionalisierten Formen der Interessenvertretung studieren. Auch wenn es weiterhin Proteste und Konflikte gab, von einer Arbeiterbewegung im engeren Sinne kann man seit den 1960er Jahren sicher nicht mehr sprechen. Stattdessen traten wenig später neue Akteure auf den Plan, die man auch als »Neue Soziale Bewegungen« bezeichnet. Zu den wichtigsten sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren zählen die Studentenbewegung und der antiautoritäre Protest, die Frauenbewegung, die Umwelt- und die Friedensbewegung. Auffällig ist, dass alle diese Bewegungen in gewissem Sinne »links« sind. Was die neuen Formen des Protests seit den 1960er Jahren sicher von all ihren Vorgängern unterscheidet, lässt sich vielleicht als der »Einbruch von Subjektivität« in die politische Praxis des Protests beschreiben (Roth 1987, S. 498). Ein expressiver Individualismus hielt Einzug in die Politik – seitdem haben Erotik und Ästhetik mit Politik zu tun und muss Protest auch »Spaß machen«. Soziologen (z.B. Schulze 1992) sprechen von einem Selbstverwirklichungsmilieu, das sich seit den 1960er Jahren sukzessive, vor allem aufgrund der massiven Bildungsexpansion, vergrößert hat, das aber intern auch stark segmentiert ist: Es schließt Alternative und Yuppies, Auf- und Aussteiger, Konsumsüchtige und neue soziale Bewegungen ein. Geeint wird das Milieu durch das Interesse an der eigenen inneren Wirklichkeit: Alle Lebensziele – sowohl der Wunsch nach einem einflussreichen Beruf und viel Geld als auch politisches Engagement – werden dem Ziel der Selbstverwirklichung unterworfen. Das Selbstverwirklichungsmilieu ist das Kernmilieu der neuen sozialen Bewegungen. Dennoch knüpfen die neuen sozialen Bewegungen häufig an ältere Traditionen an: So reichen die Wurzeln der Frauen- und der Umweltbewegung ins 19. Jahrhundert zurück. Die neue Frauenbewegung konzentrierte sich bekanntlich in ihren massenwirksamen Protesten seit den 1970er Jahren hauptsächlich auf die Abschaffung des Abtreibungsverbots. Hand in Hand ging damit »der Ausbau einer Bewegungsinfrastruktur in Form eigener Zeitschriften und Verlage, Zentren, Cafés,
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Häuser für geschlagene Frauen, Notrufeinrichtungen, Therapiegruppen, Sommeruniversitäten für Frauen usw.« (Rucht/Neidhardt 2001, S. 545). Auch wenn die Frauenbewegung den Eindruck erweckt, mittlerweile versiegt zu sein, und es weiterhin offenkundige Diskriminierungen von Frauen gibt, ist ihr Erfolg doch unübersehbar, wenn man die verstärkte Präsenz von Frauen in Politik, Öffentlichkeit, Wirtschaft und Wissenschaft mit der Situation von vor 30 Jahren vergleicht. Zugleich hat sich das Feld eher institutionalisiert und ist abgerückt vom Bewegungsprotest – Frauenpolitik ist mittlerweile ein etabliertes Politikfeld. Ähnlich ist die Umweltbewegung einzuschätzen, die in Deutschland eine Partei gründete, die nun Regierungsmitverantwortung trägt (Die Grünen beziehungsweise Bündnis 90 / Die Grünen). Seit den späten 1970er Jahren avancierte »Zivilgesellschaft« zu einem Ordnungsmodell für eine radikaldemokratische Reformpolitik und weckte viele Hoffnungen, wie wir etwa bei Alain Touraine (siehe S. 62 f.) schon sahen. Die neuen sozialen Bewegungen agieren in einem Feld selbstbestimmter Aktivität, die sich radikal gegen etablierte Großorganisationen und Akteure (Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Experten) richtet (Klein 2001, S. 144 ff.). Diese zielt einerseits auf gesellschaftsweite Veränderungen ab: Dabei richtet sich der Protest zumeist an Adressaten im politischen System, wird jedoch immer mehr über die Massenmedien transportiert, sodass es zu einem »Dreieckshandeln« zwischen Bewegung, Adressat des Protests und den Medien kommt (Therborn 2000, S. 323), perfektioniert etwa von Greenpeace. Andererseits geht es auch um eine alternative Lebensweise, die sich in Opposition zum staatlich oder kapitalistisch überformten »Mainstream« versteht. Schon seit den 1960er Jahren – hervorgegangen aus den APO-Zusammenhängen – bildeten die neuen sozialen Bewegungen eigene Netzwerke und Infrastrukturen aus. Jean Cohen und Andrew Arato räumen den sozialen Bewegungen – wie wir gesehen haben – einen prominenten Platz in ihrer Theorie von Zivilgesellschaft ein und betonen, dass es im Feld der Bewegungen häufig um eine »duale Politik« – Identitätspolitik einerseits, politischer Protest andererseits – geht (Cohen/Arato 1992, S. 548 ff.). Am Beispiel der Frauenbewegungen verdeutlichen sie, dass der kulturorientierte Aufbau eigener Netzwerke als eine diskursive Identitätspolitik zu verste-
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hen ist. Diese wird begleitet von Protestformen, die sich mit konkreten Anliegen an das politische System wenden. Die beiden Autoren machen deutlich, dass für eine Demokratisierung von Institutionen, Lebensformen, Werten und Normen beide Seiten – eben auch die defensivere lebensformbezogene Seite – wichtig sind und dass Bewegungen nicht allein daran gemessen werden sollten, inwiefern es ihnen gelingt, bestimmte politische Forderungen durchzusetzen. Neben einer Verbreiterung des Institutionennetzes führte der Protest der Bewegungen zu wichtigen Impulsen für den Verbands- und Parteiensektor (Die Grünen). So haben die neuen sozialen Bewegungen dazu beigetragen, das institutionelle Gefüge der Bundesrepublik zu pluralisieren (ebd.: 148). Wenn die Übergänge zwischen losen Bewegungsnetzwerken und sich institutionalisierenden Verbänden und Parteien auch fließend sein mögen, ist es doch wichtig, auf die Unterschiede zwischen ihnen hinzuweisen. Verbände und Parteien haben soziale Bewegungen bislang nicht ersetzt und werden es aller Voraussicht nach auch in Zukunft nicht tun. Sie und der von ihnen formulierte politische Protest gehören damit zum normalen extrainstitutionellen Aufbau zeitgenössischer Demokratien und Zivilgesellschaften. Im Gegensatz zu Parteien und Verbänden sind sie netzwerkförmiger organisiert, häufig spontaner und kurzfristiger orientiert, kennen keine festen Organisationsmitglieder und Führungsorgane. Sie sind, da sie ihren Aktivisten weder Geld anbieten noch diese zur Teilnahme zwingen können, auf ein starkes commitment und auf Motive freiwilligen Engagements angewiesen – ein Wir-Gefühl ist deshalb zur Stabilisierung einer Bewegung äußerst wichtig. Dies bewirkt aber auch, dass sich die Motive der Teilnehmer und Teilnehmerinnen emphatischer, stimmungsgeladener und drangvoller in Taten umsetzen wollen (Rucht 2001, S. 324). Parteien sind dagegen stärker formal organisiert und zielen auf Machterwerb und die Besetzung politischer Ämter – zumindest in den meisten politischen Systemen. Verbände sind ebenfalls stärker organisiert und formalisiert und vertreten zumeist spezifische Mitgliederinteressen. Hierzu nutzen sie häufig – insbesondere in korporatistisch verfassten Gesellschaften – institutionalisierte Kanäle zu politischen Verfahren und Entscheidungen (ebd., S. 323). Gerade Verbände und soziale Bewegungen sind in einem Zusammenhang zu sehen, da Be-
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wegungen häufig die Interessen artikulieren, die im Bereich der etablierten Verbände nicht repräsentiert werden. Der Bewegungsforscher Dieter Rucht (ebd., S. 326 ff.) hat deshalb herausgearbeitet, welche positiven Funktionen soziale Bewegungen als zivilgesellschaftliche Akteure in der Demokratie ausüben. Erstens zeigen soziale Bewegungen ungelöste gesellschaftliche Probleme an, da offensichtlich bestimmte Interessen innerhalb der bestehenden und etablierten Kanäle keine Berücksichtigung fanden. Zweitens werden von sozialen Bewegungen häufig schwer zu organisierende und nur »schwache« Interessen artikuliert, was nicht selten anwaltschaftlich geschieht, das heißt, die Bewegung spricht für andere, zum Beispiel für Asylbewerber oder den Tierschutz. Damit ergänzen sie das herkömmliche Interessenvertretungssystem um solche Interessen, die sonst wenig vertreten werden. Drittens sind soziale Bewegungen manchmal in der Lage, gegenüber den von Staat und Markt dominierten Interessen eine zivilgesellschaftliche – Habermas würde sagen: lebensweltliche – Perspektive stark zu machen. Viertens können soziale Bewegungen kreative Lösungen für bestehende Problemlagen anbieten und fünftens »ein Übungs- und Lernfeld für praktizierte Demokratie darstellen« (ebd., S. 329). Innerhalb der Bewegungen kann es darum gehen, alle Teilnehmer gleichmäßig einzubinden und Entscheidungen möglichst zwanglos ohne Status- und Hierarchieunterschiede herbeizuführen. In der Darstellung nach außen muss es gelingen, Glaubwürdigkeit aufzubauen und eine Argumentationsmacht gegenüber der Öffentlichkeit zu entfalten, denn diese soll ja schließlich von den Anliegen der Bewegung überzeugt werden. Dies sind, wie Rucht zu Recht betont, allerdings nur Möglichkeiten sozialer Bewegungen. Sie können den aufgeführten Prinzipien natürlich auch zuwider handeln und undemokratische und »unzivile« Formen annehmen. Schnell können Formen des kollektiven Protests die Grenze zur Illegalität überschreiten, und das dann oftmals für sich in Anspruch genommene Recht auf zivilen Ungehorsam ist häufig nicht weiterführend bei der Frage, welche Protestformen unter welchen Umständen als legitim erscheinen können. Im Unterschied zur gelegentlichen Regelverletzung werfen genuin antidemokratische Bewegungen viel radikaler die Frage auf, was solche Bewegungen mit Zivilgesell-
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schaft zu tun haben. Schließlich gab es und gibt es immer wieder Bewegungen gegen Menschen- und Bürgerrechte und gegen Demokratie. Diese hinfort zu definieren wäre normativ der einfachste, doch sozialwissenschaftlich nicht der befriedigendste Weg. Auch die Nazis begannen als soziale Bewegung, und der zeitgenössische Rechtsextremismus hat häufig ebenfalls einen bewegungsförmigen Charakter, wenngleich er nicht in das normative Konzept von Zivilgesellschaft und »guten neuen sozialen Bewegungen« passen will. Dies verweist erneut auf das Problem, dass eine zivile Gesellschaft auf einen demokratischen Rechtsstaat angewiesen ist, der Zivilität nach innen durchsetzen kann. Nur im Zusammenspiel von demokratischen Verfahren, der Institutionalisierung von Bürger- und Menschenrechten und einer Zivilgesellschaft, die tatsächlich zivile Standards kennt und sich gegen unzivile Übergriffe zu verteidigen mag, vermögen Demokratie und Zivilgesellschaft lebendig zu bleiben. Aus diesem Zirkel von wechselseitigen empirischen Voraussetzungen vermag man nicht auszubrechen: Zivilgesellschaft als Tatsache und Utopie meint genau dies.
EINLEITUNG
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7. Europäische und transnationale Zivilgesellschaft?
Demokratiedefizite in der EU – Europäische Identität und Handlungsfähigkeit – Europäische Zivilgesellschaft – Internationale NGOs – Globalisierung, Protest und Global Governance – Gespaltene transnationale Zivilgesellschaft? In den letzten Jahren wurde zunehmend ein Demokratiedefizit in der EU diagnostiziert. Als Gegenmittel wird neben einem Ausbau partizipativer Institutionen häufig die Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft empfohlen, denn nur im Rahmen einer europäisch-transnationalen Zivilgesellschaft könne sich eine europäische Identität herausbilden, die Mehrheitsentscheidungen innerhalb der EU akzeptabel mache. Die Zivilgesellschaften Europas seien immer noch zu sehr auf die Nationalstaaten bezogen; was jedoch nun benötigt würde, sei ein Netzwerk an explizit europäischen Organisationen und Öffentlichkeiten. Die bestehenden nicht-staatlichen Institutionen werden dagegen als abgehobene Expertengruppen und spezialisierte Interessengruppen wahrgenommen und keinesfalls als bürgernahe zivilgesellschaftliche Organisationen (vgl. Kaelble 2001, S. 192). Eine europäische Zivilgesellschaft würde mithin die Demokratisierung der EU vorantreiben und hätte darüber hinaus den Effekt, eine europäische Solidargemeinschaft mit gemeinsamen Rechten und Pflichten sowie eine europäische Identität der Bürger und Bürgerinnen Europas anzustoßen und aufzubauen. Diese Forderungen und Ideen sind gegenwärtig mit zwei weiteren Problemstellungen verbunden. Da eine »Weltinnenpolitik« oder eine kosmopolitische Global Governance-Struktur gegenwärtig nicht in Reichweite erscheint, wird die Demokratisierung der EU durch eine lebendige assoziative Infrastruktur als ein Zwischen-
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schritt auf dem Weg dorthin betrachtet. Ein demokratisiertes, zivilgesellschaftlich formiertes und soziales Europa könne dann »sein Gewicht in die kosmopolitische Waagschale werfen« (Habermas 1998, S. 169). In diesem Projekt ginge es zum einen um die Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit im Bereich der ökonomischen Globalisierung sowie zum anderen um ein politisches Gegengewicht zu den unilateralen geopolitischen Bestrebungen der USA. Jürgen Habermas etwa fordert schon seit Jahren eine vertiefte europäische Demokratie, die dem gemeinsamen Wirtschaftsraum und der europäischen Geldpolitik zur Seite gestellt werden sollte. »Die bislang auf den Nationalstaat beschränkte staatsbürgerliche Solidarität muß sich auf die Bürger der Union derart ausdehnen, dass beispielsweise Schweden und Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen« (ebd., S. 150). Eine solche postnationale Identität und Demokratie benötigt allerdings eine gemeinsame Praxis der Meinungs- und Willensbildung, die sich aus der Infrastruktur einer europäischen Zivilgesellschaft speist. Dem Einwand, dass es kein europäisches Volk gebe, begegnet Habermas mit dem Hinweis, dass auch im nationalen Kontext »Volk« keine ursprüngliche und vorpolitische, sondern eine hergestellte und artifizielle Kategorie ist. Schließlich gibt es für Habermas genügend gemeinsame europäische Erfahrungen, die in einer europäischen Öffentlichkeit aktualisiert werden und vermittelt über eine europäische Zivilgesellschaft in den Bevölkerungen Fuß fassen könnten. Seit dem ausgehenden Mittelalter, so Habermas (ebd., S. 155), ist Europa durch Kriege, religiöse Differenzen und politisch-nationale Spaltungen gekennzeichnet. Aus diesen Spannungen ist allerdings eine gewisse Dezentrierung der eigenen Perspektive erwachsen, eine Reflexion auf und die Institutionalisierung von Auseinandersetzungen. Das normative Selbstverständnis der europäischen Moderne sei Toleranz, die Überwindung von Partikularismus und ein egalitärer Universalismus, so Habermas emphatisch (ebd., S. 156). Sechs Jahre später hat Habermas diese Forderungen angesichts des Irak-Kriegs nochmals zugespitzt vertreten. In einem gemeinsam mit Jacques Derrida veröffentlichten Text bezeichnet Habermas den 15. Februar 2003, an dem in London, Rom, Madrid, Barcelona, Berlin und Paris gegen den Irakkrieg demonstriert wurde, als Signal einer euro-
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päischen Öffentlichkeit. Europa müsse allerdings noch viel handlungsfähiger werden, um sein »Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UNO in die Waagschale werfen« zu können und »um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren« (Habermas 2004, S. 45). Die nationalen Identitäten sollten hierfür »aufgestockt« und um eine europäische Dimension erweitert werden. Das Bewusstsein, ein gemeinsam zu gestaltendes politisches Schicksal zu teilen, kann nicht allein auf Werten wie Demokratie, Menschenrechte, Individualismus und Rationalismus beruhen, da diese insgesamt westliche und nicht nur europäische Werte sind (ebd., S. 47). Identitätsstiftend seien eher Werte und Erfahrungen wie Säkularisierung, Technikskepsis, Solidarität, Friedensorientierung, Domestizierung staatlicher Gewaltausübung und ein Vertrauen in die Steuerungskapazität des Staates, speziell des Wohlfahrtsstaates. Diese historischen Erfahrungen kandidieren Habermas zufolge für eine bewusste europaweite Aneignung. Der Wunsch nach einer stärkeren Zivilgesellschaft ist in diesen Analysen offenkundig funktionalistischer Natur. Eine europäische Zivilgesellschaft wird in diesen Argumentationskontexten also für globale wirtschaftspolitische und – moralisch motivierte – geopolitische Zielsetzungen in Anspruch genommen. Wie steht es nun empirisch um die Frage, ob es kulturelle und sozioökonomische Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen europäischen Ländern gibt, die eine Ausgangsbasis für eine europäische Zivilgesellschaft bilden könnten? Eine gewisse Konvergenz zwischen den europäischen Gesellschaften stellt der Soziologe Göran Therborn fest. Zwar liegt keine im ökonomischen Bereich zwischen den europäischen Ländern vor (ganz im Gegenteil), dennoch lassen sich für Therborn spezifisch europäische Werte diagnostizieren: »So scheint es in Europa eine weitverbreitete Skepsis gegenüber Gott, der Wissenschaft und der Nation zu geben, die sich kaum irgendwo anders finden läßt. Die Europäer haben eine eher kollektivistische Sicht der gesellschaftlichen Intervention von seiten des Staates und der staatlichen Institutionen, gepaart mit einer ausgeprägten Neigung zu einer individualistischen Sichtweise der persönlichen Sozialbeziehungen« (Therborn 2000, S. 373).
Diese empirische Einschätzung scheint Habermas Recht zu geben, und auch die Debatte um die Frage, ob es ein europäisches Wirtschafts-,
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sozialpolitisches und Gesellschaftsmodell gibt, stützt Therborns These eines spezifisch europäischen, politischen Regulierungsmodus (Aust u.a. 2000, S. 14 ff.). Eine »institutionalisierte Beteiligung organisierter Interessen« der Zivilgesellschaft ist durchschnittlich typisch für die europäischen Gesellschaften (ebd., S. 15). Insofern kann man von gewissen Gemeinsamkeiten der europäischen Gesellschaften im Bereich der politischen Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der politischen Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure ausgehen. Doch gibt es auch eine europäische Zivilgesellschaft oberhalb der Ebene der einzelnen Nationalstaaten? Intellektuelle schaffen schon seit Jahrhunderten in transnationalen Öffentlichkeiten eine kollektive Identität Europas (Giesen 2002). In allen einheitsstiftenden Diskursen wurde Europa als eine kulturelle Einheit begriffen, so etwa im Mittelalter, wo ein einheitlich christliches Europa konstruiert wurde, oder in den Bewegungen der Renaissance, die sich an antiken ästhetischen Formen orientierten. In der Zeit der Kolonialisierung hob ein missionarischer und zivilisatorischer Diskurs der Überlegenheit gegenüber den nicht-europäischen Ländern an. Besonders deutlich formierte sich jedoch eine europäische Öffentlichkeit in den Diskursen der Aufklärungsbewegung, die von Intellektuellen und ihrem gebildeten Publikum getragen wurden. »In ihrem Mittelpunkt steht die Vorstellung einer europäischen Öffentlichkeit, die Hegemonialstreben, religiösen Fanatismus wie lokale Borniertheiten hinter sich gelassen hat und ein zentrumsloses Gleichgewichtssystem der Einzelstaaten entstehen lässt, das dauerhaften inneren Frieden zur Folge hat« (ebd., S. 77). Auch im Rahmen der Bürgerbewegungen der Revolutionen von 1789 und 1848 konstituierten sich transnationale Öffentlichkeiten; später zeigten dann auch die Arbeiter- und Frauenbewegungen internationalistische Organisationsbemühungen. Nach 1945 richtete sich die Konstruktion einer kollektiven europäischen Identität weniger auf Triumphe, erfolgreiche oder tragisch gescheiterte Revolutionen, sondern es konstituierte sich, so Giesen (ebd., S. 79 ff.), eine Erinnerungsgemeinschaft der Opfer und Täter. Die Traumata des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts stehen nun im Vordergrund des öffentlichen Gedenkens, sodass die Erinnerung an kollektive Schuld und Verantwortung zu einer europäischen Gemeinsamkeit geworden
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ist. Das moderne europäische Selbstverständnis ist mithin zutiefst auf eine Reflexion der Weltkriege bezogen und richtet sich auf die Vermeidung weiterer Kriege unter Europäern. An den Debatten um eine europäische Identität beteiligten sich neben Intellektuellen nur sehr wenige europaweite Organisationen, Verbände und Bewegungen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich dies mit der zunehmenden Bedeutung der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas. Die Zivilgesellschaften Europas folgten der zunehmenden Bedeutung der EG beziehungsweise EU als Institutionenkomplex und bilden schrittweise eine europäische Zivilgesellschaft heraus. Mit der Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Gerichtshof, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Zentralbank besteht ein ganzes Ensemble politischer Institutionen, das oberhalb der Mitgliedsstaaten steht und eigene suprastaatliche Aktivitäten entfalten kann (Müller 2002, S. 154). Staatlichkeit – in ihren vielfältigen Formen – und damit die Fähigkeit, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, bilden offenbar einen zentralen Fokus (europäischer) zivilgesellschaftlicher Aktivität. Die entstehende europäische Zivilgesellschaft war eng mit dem ökonomischen Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts verknüpft: Erste transnationale Konzerne entdeckten im Zuge des Freihandelsprinzips die zwischenstaatliche Ebene, und vor dem Hintergrund neuer Kommunikations- und Verkehrsmittel wie Eisenbahn und Telegraph entstand eine Vielzahl internationaler Nichtregierungsorganisationen, die sich zum Beispiel mit der Standardisierung technischer Normen befassten (Fetzer 2002, S. 361). Zwar gab es also schon früh nichtstaatliche Organisationen, die zwischen Nationalstaat und Weltgesellschaft agierten, doch setzte der eigentliche Gründungsboom Mitte der 1950er Jahre ein, wobei es Höhepunkte um 1960 und Mitte der 70er Jahre gab (ebd., S. 362). Während in den 50er und 60er Jahren eindeutig die wirtschaftlichen Interessenverbände auf der europäischen Ebene dominierten, kamen ab den 70er Jahren auch Organisationen und Netzwerke aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Religion hinzu. Ein Großteil der auf europäischer Ebene agierenden Akteure sind Föderationen, die nationale Verbände und nicht Individuen als Mit-
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glieder haben. Früher als die meisten anderen zivilgesellschaftlichen Akteure schlossen sich Unternehmer und Industrielle auf europäischer Ebene zusammen und gründeten branchenspezifische Verbände. Die Gewerkschaften organisierten sich erst später ab den 1970er Jahren international-europäisch; 1973 wurde etwa der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) gegründet. Die europäische Gewerkschaftsbewegung reagierte auf die europäisch schon länger tätigen Unternehmerverbände sowohl mit der Internationalisierung der Dachverbände als auch dem Aufbau branchenspezifischer europäischer Strukturen. Die christlichen Kirchen zeigten sich bislang sehr zögerlich im Aufbau europäischer Netzwerke, die zumeist ökumenische Zielsetzungen verfolgen. Weniger zurückhaltend verhielten sich dagegen die Umweltverbände, die nicht selten für Gutachten herangezogen werden und mithelfen, EU-Direktiven zu implementieren. Thomas Fetzer betont, dass die europäischen zivilgesellschaftlichen Bemühungen von einer Spannung zwischen zwei Bestrebungen gekennzeichnet sind (ebd., S. 375): Zum einen richten sich die Aktivitäten der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure häufig auf die Abwehr europapolitischer Interventionen und versuchen ihre Autonomie zu schützen. Auf der anderen Seite geht es immer auch um die verbandspolitische Einflussnahme auf anstehende europapolitische Entscheidungen. Neben dem Bestreben der Akteure, auf einer europäischen Ebene Gehör zu finden, gibt es auch auf der Seite der EU ein Interesse daran, die europäische Zivilgesellschaft in die Debatten um die Neugestaltung des Regierens mit einzubeziehen. Im Juli 2001 veröffentlichte die Europäische Kommission das »White Paper on European Governance«, in dem die Zivilgesellschaft als der Bereich angesehen wird, der das Demokratiedefizit der EU beheben könnte (vgl. Frankenberg 2003). Geregelte und systematische Konsultationen sollen nun mit den Akteuren der Zivilgesellschaft gesucht und diese als Gesprächspartner akkreditiert und integriert werden. Fest eingebunden sind bereits die etablierten Sozialpartner, also die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände (ebd., S. 13), hinzu kommen weitere gut organisierte NGOs (Nongovernmental Organizations), die zumeist den Bereichen Umwelt, Soziales und Menschenrechte zuzuordnen sind. Je weniger gut allerdings zivilgesellschaftliche Akteure organisiert und transnational
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orientiert sind, umso geringer wird ihre Chance, als Konsultationspartner der Kommission und ihrer Ausschüsse zu fungieren. Der Verfassungsrechtler Günter Frankenberg spricht aus diesem Grund von einer Marginalisierung eines Großteils zivilgesellschaftlicher Akteure. Solch eine Marginalisierung »lässt daher die Beschwörung einer europäischen Zivilgesellschaft als fragwürdig erscheinen, wenn nur transnationale Strukturen und repräsentative Organisationen – und diese wiederum auch nur selektiv – erfasst oder gefördert werden« (ebd., S. 14). Ob also aus diesen zivilgesellschaftlichen Lobbyaktivitäten eine europäische Öffentlichkeit und Identität erwächst, sei dahingestellt, zumal auch bedacht werden muss, dass eine Vielzahl der in Brüssel oder Straßburg tätigen Organisationen eigentlich die Büros nationaler Verbände sind. Des Weiteren fehlt der europäischen Zivilgesellschaft zumeist die Bürgernähe und die lokale Verankerung (Kaelble 2001, S. 197). Für die breitere Öffentlichkeit ist selten wahrnehmbar, was die Funktionäre, Experten und Repräsentanten der europäischen Zivilgesellschaft von der Europäischen Kommission, dem Rat oder dem Parlament fordern. Kaelble spricht aus diesem Grund auch von der »geräuschlosen Zivilgesellschaft« der Europäischen Union. Nicht ganz so geräuschlos, sondern im Gegenteil laut vernehmbar wird in den letzten Jahren vor allem von Globalisierungskritikern eine Debatte um eine transnationale oder globale Zivilgesellschaft geführt, die angeblich im Entstehen begriffen sei. Angeführt wird der Begriff der transnationalen Zivilgesellschaft in Diskussionen um die Zähmung und demokratische Einhegung der wirtschaftlichen Globalisierung wie auch im Zusammenhang mit neuen Formen des Regierens, des Global Governance. Die nach 1989 intensiver gewordene Diskussion um internationale Nichtregierungs-Organisationen (INGOs) und eine transnationale Zivilgesellschaft hat einerseits mit dem Ende des kalten Kriegs, der Auflösung der bipolaren Weltordnung und dem weltweiten Demokratisierungsschub zu tun, andererseits mit den Prozessen wirtschaftlicher Globalisierung, denen eine internationale »Governance-Struktur« entgegengehalten werden soll (Müller 2002, S. 133 ff.). Denn die seit etwa 1980 forcierte Ausweitung von wirtschaftlichen Praktiken über territorial definierte Räume hinaus, die vor allem durch liberalisierte
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Finanzmärkte gekennzeichnet ist, evozierte eine Globalisierungskritik, die an den »Kehrseiten der Globalisierung ansetzt: an den gehäuften Finanzkrisen, dem Abstieg vieler Länder in eine perspektivlose ›Vierte Welt‹ und den Gefahren der Demokratie« (ebd., S. 176). Das Problem besteht vor allem darin, dass Demokratie, also eine effektive Selbstbestimmung, die Kongruenz von Regierenden und Regierten voraussetzt, diese faktisch aber immer weniger gegeben ist. Im Zuge der Transnationalisierung wirtschaftlicher und kultureller Praktiken sind die Menschen immer mehr von Entscheidungen betroffen, die woanders gefällt werden, ohne dass sie ein Mitspracherecht wahrnehmen könnten (Zürn 2001, S. 433). Die spektakuläre Seite des Protestes gegen diese Form der Globalisierung verbindet sich mit den Demonstrationen während der Treffen internationaler Regierungsorganisationen (Weltbank und Internationaler Währungsfonds, WTO, G-7 und G-8 Gipfel) etwa in Seattle 1999, Prag 2000 und Genua 2001 oder auch mit den Sozialforen in Porto Allegre. Bewegungen wie ATTAC, das in Deutschland vielleicht bekannteste Netzwerk von Globalisierungskritikern, zogen eine Medienöffentlichkeit auf sich, wie sie den spektakulären Aktionen von Greenpeace – einer hochgradig professionellen Organisation – gegen Regierungen oder transnationale Konzerne seit Jahren zuteil wird. Doch schon lange vor der Globalisierungsdebatte vernetzten sich zivilgesellschaftliche Akteure transnational. Die Anti-Sklavereibewegung gründete im Jahr 1839 in Großbritannien die »British and Foreign Anti-Slavery Society«. 1864 schuf Henri Dunant das »Internationale Komitee des Roten Kreuzes«. Die entstehende Arbeiterbewegung folgte ebenfalls bald dem Impuls, sich international zu vernetzen – auch wenn dieses Bestreben nur mäßig erfolgreich war. Anders dagegen die Frauenbewegungen: Sie gründeten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl internationaler Vereinigungen. Zum zweiten Treffen des »International Council of Women« kamen im Jahr 1899 schon 5 000 Frauen zusammen – stellvertretend für mehrere Millionen Mitglieder (Rucht 2003, S. 376). Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch für die frühe Friedensbewegung und die Vereine der Tier- und Naturschützer feststellen. Transnationale Vereinigungen waren demnach im ausgehenden 19. Jahrhundert keine Seltenheit mehr. Den ers-
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ten Höhepunkt von internationalen Nichtregierungsorganisationen kann man um das Jahr 1910 ansiedeln, mit Gründung des Völkerbundes setzte zwischen 1920 und 1937 eine zweite Gründungswelle ein, eine dritte dann in den Jahren von 1945 bis 1950. Doch mit Ende des kalten Krieges vervielfachten sich die Aktivitäten auf der transnationalen Ebene nochmals. Seit den 1990er Jahren kann man von einem regelrechten Boom an NGO-Neugründungen sprechen: Etwa ein Viertel aller 35 000 bis 60 000 NGOs (die Zählweise schwankt beträchtlich je nach Informationsquelle), die in mehr als einem Land operieren, wurden nach 1990 gegründet (Müller 2002, S. 142 f.). Schließt man nationale NGOs mit internationaler Orientierung aus diesem Kreis aus, dann gibt es in einem enger definierten Sinne wesentlich weniger internationale NGOs – etwa nur die Hälfte der oben genannten Anzahl (vgl. Kaldor u.a. 2003).15 Diese Organisationen sind in der Regel nicht gewinnorientiert, nicht Teil der staatlichen Verwaltung, obwohl sie häufig staatliche Unterstützung erhalten, und verfügen oft über professionelles Personal. Häufig arbeiten NGOs gemeinsam in Zusammenschlüssen und Bündnissen oder bilden thematische Arbeitsgruppen oder Netzwerke. Dieser neue Typus von NGOs konnte sich im Verlauf der letzten Jahre vor allem durch die Senkung der Mobilisierungskosten und die leichtere Koordination der Aktivitäten etwa durch das Internet herausbilden (Rucht 2003, S. 381). Das höhere Bildungsniveau und größere Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere des Englischen, spielen für die Erleichterung transnationaler zivilgesellschaftlicher Aktivität ebenfalls keine unwesentliche Rolle. Festzuhalten ist eine räumliche Diskrepanz: Die transnationale Zivilgesellschaft verteilt sich äußerst ungleichmäßig über den Globus. Zentren der wirtschaftlichen Globalisierung ziehen offenbar auch transnational ausgerichtete Akteure der Zivilgesellschaft an. Demnach finden sich die »Zentren der transnationalen Zivilgesellschaft« in Skandina15 Die seit 2001 jährlich erscheinenden Jahrbücher Global Civil Society vom »Centre for the Study of Global Governance« an der London School of Economics bilden die neusten Trends und Entwicklungen in diesem Bereich ab, informieren ausführlich über empirische Befunde und sind erfreulicherweise von der Website herunterzuladen, und zwar unter www.lse.ac.uk/Depts/global/Publications.htm.
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vien, den Benelux-Ländern, Österreich, der Schweiz, Großbritannien und in Deutschland. Etwa 60 Prozent aller internationalen NGOs haben ihre Sekretariate in der Europäischen Union (Anheier 2002, S. 6). Die internationalen NGOs operieren keinesfalls in einem institutionenfreien Raum, sondern müssen sich in ihren Aktionen auf staatliche beziehungsweise internationale Institutionen verlassen (Frankenberg 2003, S. 18) und auf der Basis des internationalen Rechts agieren, um ihre Forderungen überhaupt durchzusetzen. Dabei bedienen sie sich in ihren Protesten und Forderungen vor allem der Sprache der Menschenrechte. Transparency International (TI) ist eine weltweit agierende Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich als Anwalt im Kampf gegen die Korruption versteht. Die Gründungsinitiative ging 1993 von Peter Eigen aus, der als Direktor der Weltbank für Afrika und Lateinamerika von 1975 bis 1993 die Bagatellisierung und Leugnung der weltweiten Korruptions-Problematik von offizieller Seite kennen gelernt hatte und nicht länger mehr dulden wollte: »Die Beschäftigung mit dem Thema Korruption war strikt untersagt, sowohl von der Führung der Weltbank wie auch von den sie tragenden nationalen Regierungen. Mehr noch: Korruption war in vielen Ländern wie auch in Deutschland bis Ende der 90er Jahre sogar steuerlich gefördert.« TI verfolgt eine Doppelstrategie: Auf internationaler Ebene zielt die NGO darauf ab, ein Bewusstsein für die verheerenden Folgen von Korruption zu schaffen und die öffentliche Meinung durch Bekanntmachung von Korruptionsfällen zu mobilisieren; auf nationaler Ebene versucht sie auf Regierung, Politik und Wirtschaft einzuwirken, indem sie für die Umsetzung von multilateralen Anti-Korruptions-Abkommen in nationales Recht eintritt und deren Einhaltung seitens der Firmen, Banken und Staaten kontrolliert zugleich aber auch das Gespräch sucht, um konstruktive Lösungen im Kampf gegen die Korruption wie die Verabschiedung gemeinsamer Standards großer Unternehmen zu erwirken. Die Organisation agiert auf nationalem wie internationalem Niveau: 87 Sektionen arbeiten parteipolitisch und vom über-
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greifenden Internationalen Sekretariat in Berlin unabhängig auf nationaler Ebene. TI betätigt sich heute weltweit in 122 Ländern. Finanziert wird die Arbeit aus Mitteln der Außenministerien der Länder, von Stiftungen und Unternehmen, Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit sowie der EU. 76 Prozent der im Jahr 2002 eingenommenen 5,884 Mio. Euro stammen von staatlichen Institutionen, 16 Prozent von Stiftungen, 2 Prozent aus dem Privatsektor sowie 6 Prozent aus sonstigen Einnahmen. Angestoßen werden konnte die Arbeit Mitte der 90er Jahre durch eine Förderung der Ford Foundation. Um die Öffentlichkeit für das Thema Korruption zu sensibilisieren, setzt TI auf eine umfassende Informationsstrategie: Von großer Medienwirkung ist dabei der Corruption Perceptions Index (CPI), ein jährliches Länder-Ranking entsprechend der wahrgenommenen Korruption, neben der ebenfalls jährlichen Verleihung von TI Integrity Awards an Anti-KorruptionsInitiativen sowie der ständig aktualisierten und online verfügbaren Datenbank CORIS, dem Corruption Online Research and Information System. Darüber hinaus sucht TI den engen Kontakt zu Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat mit dem Ziel, einflussreiche Koalitionen gegen Korruption aufzubauen. Vier Prioritäten werden dabei von TI verfolgt: 1. Reduzierung von Korruption in der Politik, 2. Minderung von Korruption bei öffentlichen Vertragsabschlüssen, 3. Steigerung von Anti-Korruptions-Standards im privatwirtschaftlichen Bereich, 4. Beförderung von internationalen Übereinkommen gegen Korruption. Weitere Informationen unter: www.transparency.org. So unterschiedlich der Begriff »NGO« auch gebraucht wird, insgesamt gesehen ist der Kontext der Vereinten Nationen entscheidend: In ihrem Umfeld agieren die internationalen NGOs in multilateralen Entwicklungsprogrammen, betreiben Lobbying, erstellen professionelle Expertise und beteiligen sich an Protestaktionen auf internationaler Ebene. Rucht (2003, S. 382) hebt hervor, dass sich eine Art Arbeitsteilung zwischen Gruppen, die eine öffentliche Protestpolitik
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betreiben, und denen, die sich auf die Kommunikation mit politischen Entscheidungsträgern spezialisiert haben, eingespielt hat. Während manche NGOs die internationalen Institutionen wie den IWF oder die Weltbank quasi mit Protesten »belagern«, sind andere Organisationen viel stärker in bestimmte Politikfelder eingebunden. Seit dem 1992er »Weltgipfel« in Rio de Janeiro werden etwa verstärkt Vertreter von Umweltorganisationen in offizielle Delegationen integriert. Einzelne Organisationen weisen eine spezifische Kompetenz in ökologischen Teilfeldern auf, so zum Beispiel der »World Wide Fund for Nature« (WWF) für den Artenschutz oder das »Climate Action Network« (CAN) für Fragen des Klimaschutzes (Rucht 2002, S. 339). NGOs spielen insbesondere im Bereich der Entwicklungspolitik, in der Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik eine große Rolle, da sie mit der Durchführung von Projekten betraut werden. Im Unterschied zu staatlichen Bürokratien verfügen sie zumeist auch über gute Kenntnisse der örtlichen Bedingungen und sind im besten Fall lokal integriert (vgl. Kuhn 2003). Ähnlich wie auf der Ebene der EU kann man unterscheiden zwischen akkreditierten Dialogpartnern für die internationalen Institutionen und nichtakkreditierten Gruppierungen; es gibt also eine gewisse Spaltung zwischen den Akteursgruppen. Frankenberg (2003, S. 20) weist darauf hin, dass zur Spaltung der transnationalen Zivilgesellschaft noch die Spaltung in Nationengruppen hinzukommt: Ein Großteil der Mitgliedsstaaten ist bei den internationalen Institutionen – OECD, G-8, WTO, Weltbank und IWF – entweder nicht vertreten oder unterliegt den Interessen der westlichen Länder. Zivilgesellschaftlich verbindet sich dennoch mit den NGOs die Hoffnung, das Demokratiedefizit der internationalen Institutionen zu mildern und die multinationalen Konzerne einem wachsamen Blick der Öffentlichkeit auszusetzen. Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich denn auch auf die Parallelgipfel der NGOs, auf beeindruckende Erfolge in der Klimapolitik oder wegweisende Entwicklungspolitik. Doch ihr demokratisches Mandat ist mehr als umstritten. Es scheint sich in den Diskussionen um Global Governance als Konsens herauszukristallisieren, dass ihnen zwar eine voice-, aber keine vote-Funktion zukommen soll (vgl. Edwards 2000). Das heißt, dass NGOs in die Netzwerke globaler Politik als Stichwortgeber, Protest-
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gruppen oder Experten eingebunden werden, dass sie aber wegen mangelnder demokratischer Legitimation nicht mitentscheiden dürfen. Eine »globale« Zivilgesellschaft ist trotz der vielfältigen Aktivitäten der INGOs nicht in Sicht. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass ihre Aktivitäten »Nebenprodukte« der Transnationalisierung der Ökonomie und des zwischenstaatlichen Handelns sind (Keane 2003). Sie laufen den Transnationalisierungen der global players hinterher, die sich immer mehr dem Zugriff der Nationalstaaten entzogen haben. Eine Vielzahl dieser »nacheilenden« NGOs werden staatlich unterstützt und gefördert, ja sie benötigen darüber hinaus den Schutz der westlichen Staaten und sind ohne sie nicht überlebensfähig. Die Problematik der »neuen Kriege« (Münkler 2002b; Kaldor 2003, S. 119 ff.), die nicht mehr an den Staat als Kriegsmonopolisten, sondern an private warlords gebunden sind, die Auflösung von Staatlichkeit sowie das Problem des internationalen Terrorismus und dessen Bekämpfung sind nur einige Beispiele für die Grenzen des Zivilen im internationalen Kontext. Zudem sind weite Teile der Weltbevölkerung nicht nur von der »Weltzivilgesellschaft« ausgeschlossen, sie partizipieren auch nicht an Wohlstand und basaler Zivilität. In den Zonen der »Vierten Welt« hat – so Volker Heins (2002b, S. 209) – die globale (De-) Regulierung von Waren- oder Kapitalströmen »auf dem Umweg über die Schwächung der Zentralstaaten zu einer Ermächtigung substaatlicher, lokaler Gruppen geführt, die das Gewaltmonopol aufbrechen, eine eigenmächtige Kontrolle über Territorien ausüben und die Produkte der Buschökonomie in die globalen Güterströme einspeisen«. Globale Infrastrukturen ermöglichen paradoxerweise zugleich sowohl extreme Formen der Exklusion, Bürgerkriege und Menschenrechtsverletzungen als auch die rasche Veröffentlichung und Kritik eben dieser Menschenrechtsverletzungen. All dies sollte man nicht aus den Augen verlieren, bevor man sich dem Euphemismus der globalen oder transnationalen Zivilgesellschaft anschließt. So folgert John Keane berechtigterweise (2001, S. 39): »Understood normatively as a transnational system of social networks of non-violent polyarchy, global civil society is a wish that has not been granted to the world.« Eine Alternative zu diesem Wunsch, die Herrschaft der Zivilität auszudehnen, existiert freilich nicht.
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8. Zivilgesellschaft, sozial oder politisch?
Statt einer Zusammenfassung möchte ich abschließend einige Fragen aufwerfen, Problemkreise ansprechen und Thesen zur Diskussion stellen, die für den sozialwissenschaftlichen Gebrauch und die Weiterentwicklung des Konzeptes von Zivilgesellschaft von Belang sind. Wie wir gesehen haben, ist Zivilgesellschaft genauso wenig ein soziales Allheilmittel wie Staat und Markt. Zuviel oder zuwenig Staat, Markt oder Zivilgesellschaft ist schädlich – es kommt auf die Balance an. Staat und Zivilgesellschaft sind wechselseitig aufeinander angewiesen und garantieren sich gegenseitig als »Ausfallbürgen«. Zivilität muss staatlich durch Recht und die Monopolisierung der Gewaltmittel hergestellt werden, zugleich bedarf es der Zivilgesellschaft, die den Staat in seiner Verwendung der Gewaltmittel kontrolliert. Eine andere Garantie für Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte als diesen wechselseitigen Begründungszirkel gibt es mithin nicht. Zwischen Markt und Zivilgesellschaft besteht sowohl eine Affinität als auch eine Spannung, denn die Zivilgesellschaft ist auf die Dezentralisierung ökonomischer Macht und Entscheidungen angewiesen (Kocka 2003) wie durch übermächtige ökonomische Imperative bedroht. Empirisch wäre in diesem Bereich eine international vergleichende Forschung anzustreben, die historisch stabile Pfade des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft rekonstruiert – man denke nur an die unterschiedlichen Wege der USA, Frankreichs und Deutschlands in die Zivilgesellschaft. In der Erforschung solcher zivilgesellschaftlichen Muster (Varieties of Civil Society) im Verhältnis zu Staat und Markt stehen die Sozial- und Geschichtswissenschaften allerdings noch ganz am Anfang. Unsere Vorstellung, dass dem Staat eine (Zivil-)Gesellschaft gegenübersteht, ist durch das 19. Jahrhundert geprägt, in dem alle Macht-
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netzwerke im Nationalstaat zur Deckung kamen (Michael Mann). Allerdings leben wir heute in einer Zeit der Auflösung der Deckungsgleichheit von Staat, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Die Gesellschaften organisierten sich in der Hochphase der Nationalstaaten zur Zivilgesellschaft, um mit den Staaten um Macht zu konkurrieren. Heute sind wir angesichts wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse Zeuge der Auflösung dieses »Käfigs« und der Überlappung von Interaktionsnetzen, sodass sich die Frage stellt, ob sich Staaten und Zivilgesellschaften gegenüber einer wachsenden Macht der transnationalen Wirtschaft neu organisieren können beziehungsweise müssen. Damit ist die Frage verbunden, was die Zivilgesellschaft an organisatorischer und kultureller Macht aufzubieten hat. Doch zivilgesellschaftliche Akteure können nicht nur mit staatlichen oder wirtschaftlichen Akteuren in Auseinandersetzung stehen, es kann ebenso ein scharfer Konflikt zwischen ihnen bestehen. In der Öffentlichkeit wird allzu leicht dieser konflikthafte Charakter von Zivilgesellschaft verkannt. Schon Hegel sah in der Welt der bürgerlichen Gesellschaft die Entzweiung am Werke, und Theoretiker wie Lefort betonen die Unaufhebbarkeit von Konflikten, deren Unterdrückung zum Totalitarismus führe. Nach jahrelangen Debatten bleibt es auch weiter eine offene Frage, ob moderne Gesellschaften allein über die Anerkennung des Konfliktes zwischen Staatsbürgern integriert werden können oder ob es einen stärkeren Wertekonsens geben muss, der Konflikte einzuhegen vermag, wie beispielsweise Shils und Etzioni betonen. Zivilgesellschaft ist in beiden Fällen nicht nur ein Ort der Assoziation, sondern auch ein kultureller Raum. In ihm manifestieren sich, wie Robert Bellah zeigen konnte, kulturelle Traditionen des Gemeinsinns, der Einbindung in überindividuelle Milieuzusammenhänge und des politischen Protestes. Dagegen weisen die Arbeiten von Gramsci und Alexander darauf hin, dass kulturelle Traditionen und Deutungen aktiv hergestellt und durchgesetzt werden, Zivilgesellschaft auch der Ort kultureller Selbstverständigung und Grenzziehungen ist, in dem ausgehandelt wird, wer zur Demokratie beziehungsweise zum gesellschaftlichen Zentrum zählt und wer nicht. Momentan wird offensichtlich der gesellschaftspolitische Diskurs auf die Sozialfigur des aktiven, eigenverantwortlichen und gemeinsinni-
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gen Bürgers eingeschworen – das Gegenbild ist der passive, sich auf den Sozialstaat verlassende und egoistische Besitzstandswahrer. Greift man Taylors Unterscheidung eines Locke- und Montesquieu-Strangs auf, lässt sich zeigen, dass trotz einer Renaissance republikanischer Ideen momentan das Zivilgesellschaftsverständnis des Locke-Strangs die Debatten in Politik und Feuilletons dominiert. Die Soziologin Margaret Somers (2001) hat jüngst dargelegt, wie das angloamerikanische kulturelle Selbstverständnis auf der Lockeschen Vorstellung einer »natürlichen« Gesellschaftsordnung beruht, die vornehmlich auf rationaler und autonomer Interessenverfolgung basiert und immer schon vor dem Staat existiert. Dieser Gesellschaftsordnung wird ein Staat gegenübergestellt, der auf dem negativen Code von Zwang, Bürokratie, Überregulierung und Willkür beruht. Die schroffe Gegenüberstellung übersieht, dass Gesellschaft sich nur im Medium des politischen Gesprächs und öffentlichen Diskurses selbst konstituiert, ermächtigt und zur Zivilgesellschaft wird. Die Entpolitisierung und Entmächtigung des Gesellschaftsbegriffs sowie die Vernachlässigung des Begriffs der Zivilgesellschaft hat auch in der Soziologie seltsame Blüten getrieben, wie man an den Versuchen der nachträglichen Re-Politisierung von Gesellschaft mit Hilfe individualistischer Begriffe wie Subpolitik, Mikropolitik, Politik der Lebensstile usw. sehen kann. Stellvertretend für viele andere, gerade auch in Deutschland vertretene Positionen kann dies an Putnams Thesen belegt werden. Der aktuelle Diskurs um Zivilgesellschaft dreht sich hauptsächlich um die Frage sozialer Integration – nichts anderes drückt der Terminus »Sozialkapital« aus. Die Sozialintegration soll wiederum ausstrahlen auf die Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Demokratie – wie dies genau geschehen soll, ist jedoch weitgehend ungeklärt. Kritiker bemängeln denn auch, dass Putnams Sozialkapitalansatz, der sich in der Tradition Tocquevilles sieht, zu unpolitisch sei. Wie wir sahen, beschäftigte sich Tocqueville sowohl mit rein sozialen als auch mit genuin politischen Assoziationen. Die Besonderheit der amerikanischen Vereinigungen zu Tocquevilles Zeit war, dass lokale Gruppen zu überregionalen Netzwerken verbunden und klassenübergreifend zusammengesetzt waren. Nur wegen ihres klassenübergreifenden Charakters und ihres der amerikanischen Union ähnelnden Aufbaus (von der lokalen bis zur nationalen Ebene) konn-
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ten sie zu »Schulen der Demokratie« und politisch wirksam werden (Skocpol 2003). In einem weiteren Sinne ist Putnams Konzept von Sozialkapital und Zivilgesellschaft unpolitisch, da er die Ebenen der Deliberation und Öffentlichkeit völlig ausblendet. Zivilgesellschaft wird bei Putnam stillschweigend mit freiwilligem Engagement in überschaubaren lokalen Gemeinschaften gleichgesetzt; damit spielt er, so Jean Cohen (1999), den Konservativen in den USA in die Hände, die eine Gemeinschaftsstärkung bei gleichzeitigem Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Programme anvisieren. Dagegen ist zu betonen, dass Zivilgesellschaft immer beides meint: Ebenen der sozialen Integration und der politischen Integration beziehungsweise Artikulation, worauf insbesondere Ansgar Klein (2001) in seiner Rekonstruktion des Diskurses um Zivilgesellschaft aufmerksam gemacht hat. Zivilgesellschaft ist zum einen eine Sphäre gesellschaftlicher Selbstorganisation, die integrative Funktionen hat, da in ihr Konflikte zivil ausgetragen (Rödel/Frankenberg) und Solidaritäten hergestellt (Alexander) werden. Zum anderen beinhaltet sie ein politisch-praktisches Moment der Einflussnahme auf politische Diskurse und Entscheidungen sowie ein politisch-utopisches Moment der Selbstregierung einer Bürgerschaft. Erst soziale und politische Dimensionen zusammen genommen erlauben eine differenziertere Analyse von (Des-)Integrationsprozessen in modernen Gesellschaften (Adloff 2003b). Die moderne Gesellschaft ist eine politische Gesellschaft (Greven 2000), da es in ihr keinen Bereich gibt, der prinzipiell der Politisierung entzogen wäre. Zivilgesellschaft ist nun jener außerstaatliche Bereich, in dem dies reflektiert werden kann. Denn nur im Medium der Öffentlichkeit, dem Gespräch unter Bürgern (Arendt, Habermas), kann die politische Durchdringung der Gesellschaft thematisiert und einer Reflexion zugänglich gemacht werden. Aus dem Privaten steigen Themen in die Zivilgesellschaft auf und sinken unter Umständen nach einer Weile wieder ab. Zivilgesellschaft bezeichnet aber auch eine soziale Sphäre und Praxis von integrativen Vergesellschaftungsprozessen. Allerdings besteht hier noch dringender Forschungsbedarf, die Mechanismen der sozialen Integration genauer herauszuarbeiten. Die herkömmlichen Debatten in den Sozialwissenschaften verlaufen in der Regel entlang einer un-
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fruchtbaren Gegenüberstellung von individualistischen und normativistischen Ansätzen. Während ökonomisch inspirierte Theorien das Handeln und den Zusammenschluss von Menschen nur dadurch zu erklären vermögen, dass diese ihre individuellen Interessen verfolgen, betont der soziologisch-normativistische Strang die Bedeutung von Normen und gemeinsam geteilten Werten. Eine dritte Position, die noch einer genaueren Ausarbeitung harrt (vgl. Adloff/Mau 2005), betont dagegen, dass freiwillige Zusammenschlüsse und Assoziationen der Logik des Gabentauschs beziehungsweise der Reziprozität folgen, die nicht auf eine der beiden vorherrschenden Perspektiven zu reduzieren ist. Wenn mehrere Personen eine Vereinigung gründen und ihre Ressourcen (Zeit, Geld, Ideen) für einen anderen Zweck als Gewinnerzielung »poolen«, dann ist dies eine »Gabe« (Mauss 1968 [1925]), die »Gegengaben« evoziert und Beziehungen von Reziprozität herstellt. Wenn jemand einen Beitrag zum Sportverein liefert und weiß, dass andere dies auch tun, verwandeln sich freiwillige Beiträge in sich stabilisierende Muster von Freiwilligkeit und sozialer Verpflichtung. Diese Form der Solidarität, die auf einem reziproken Muster von Geben und Nehmen beruht, ist von enormer Bedeutung für die soziale Komponente zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. Zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse konstituieren sich weder über Hierarchie (wie staatliche Organisationen) noch über marktmäßige Koordinationen: Ihre Logik beruht auf einem dritten Prinzip von gleichzeitiger Freiwilligkeit und Verpflichtung, Spontaneität und Bindung. Im Anschluss an den französischen Soziologen Alain Caillé (2005) lassen sich zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und Solidarbeziehungen als geleistete Hilfe ohne Erwartung einer bestimmten Erwiderung und mit der Absicht, eine soziale Beziehung aufzubauen, auffassen – und dies ist etwas fundamental anderes als ein ökonomischer Tausch, der der Logik des do ut des (»ich gebe dir, damit du mir auch etwas gibst«) folgt. Dies zeigt, dass Theorien der Zivilgesellschaft zukünftig enger mit soziologischen Handlungstheorien verzahnt werden müssten. So bedürfte es beispielsweise einer Diskussion, wie sich kollektive Akteure konstituieren und handlungsfähig werden. Zivilgesellschaft ist ja gerade kein Ort, wo Individuen als Individuen handeln, sondern diese schließen sich zu handlungsfähigen kollektiven Akteuren zusammen (Adloff 2004b).
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Von John Dewey und Charles Taylor ließe sich lernen, dass es eine enge Verbindung zwischen der sozialen und der politischen Komponente von Zivilgesellschaft gibt: Eine demokratische Selbstregierung ist auf eine starke Form der Reziprozität und Solidarität angewiesen. Nur starke soziale Verbindungen auf der Basis wechselseitiger Verpflichtung sind in der Lage, die sozialen Voraussetzungen politischer Selbstbestimmung zu schaffen. Den Ausführungen Durkheims kann man darüber hinaus entnehmen, dass es nicht reicht, ein Sphäre assoziativer Vergesellschaftung mit dieser Aufgabe zu betrauen: Die gesellschaftliche Arbeitsteilung an sich muss Reziprozität und Solidarität evozieren können. Werden beispielsweise im Bereich der Arbeitswelt grundlegende Reziprozitätsvorstellungen – also Vorstellungen dessen, was man sich legitimerweise wechselseitig schuldet – verletzt, kann dies schwerlich in zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen repariert werden. Als Schluss aus dem Gesagten könnte man eine sehr kurze Definition von Zivilgesellschaft ziehen: Zivilgesellschaft bezeichnet die sozialen Beziehungen zwischen Bürgern und Bürgerinnen (vgl. Bryant 1993). Zivilgesellschaft meint den Raum, wo sich Bürger und Bürgerinnen in ihrer Rolle als Bürger treffen und solidarisch oder konflikthaft handeln – sie können sich horizontal vernetzen, solidarisch handeln und sich bürgerschaftlich selbst organisieren, oder sie beziehen sich zustimmend oder protestierend auf den Raum des Politischen und verstehen sich als die Urheber der Gesetze. Sie handeln in diesem öffentlichen Raum nicht als Familienmitglieder, Bürokraten oder Wirtschaftsbürger, sondern in der Rolle des Citoyen.
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Websites
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Personenregister
Adloff, Frank 47, 67, 107, 114, 120, 153–156, 158, 161 Alexander, Jeffrey 5, 86–89, 151, 153, 156 Almond, Gabriel 56 f., 156 Anheier, Helmut K. 109, 117, 125, 146, 156, 161, 166 Arato, Andrew 11 f., 20, 30–33, 35, 42, 56, 81, 133, 158 Arendt, Hannah 5, 14, 48, 58–61, 65, 83, 153, 157 Aristoteles 8 f., 17 ff., 34, 65, 157 Augustinus 19 Bauman, Zygmunt 98 f., 157 Bellah, Robert 63, 69 ff., 151, 157 Benhabib, Seyla 58 f., 157 Berman, Sheri 104 f., 157 Bluhm, Harald 25, 76, 158, 160 f., 163 Bobbio, Norberto 43, 157 Bourdieu, Pierre 71 Brömme, Norbert 125, 127, 157 Bryant, Christopher A. 155, 158 Buchstein, Hubertus 77, 158 Budde, Gunilla-Friederike 84, 158 Caillé, Alain 154, 158 Casanova, José 120, 158 Castoriadis, Cornelius 58, 61 f., 68, 158 Cicero 17 f. Cohen, Jean 11 f., 20, 30, 31 ff., 35, 42, 56, 81, 133, 153, 158
Coleman, James 71 Dahrendorf, Ralf 35, 63, 77 ff., 90, 158 Derrida, Jacques 138 Dewey, John 5, 9, 14, 41, 44 f., 47–50, 52 f., 56, 155, 158, 160 f. Dubiel, Helmut 61, 164 Durkheim, Emile 41, 50 ff., 57, 86 ff., 155, 158, 163 Ehrenberg, John 19, 20, 26, 158 Elias, Norbert 92, 95–99, 158 Enquete-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« 13, 114, 123 ff., 159, 163, 165 Etzioni, Amitai 66–69, 77, 108, 151, 159 Ferguson, Adam 9, 20, 23 f., 31, 87, 157, 159, 161 Fetzer, Thomas 141 f., 159 Foucault, Michel 59 Frankenberg, Günter 61, 142 f., 146, 148, 153, 159, 164 Fuchs, Susanne 126 f., 163 Gauchet, Marcel 61 Giesen, Bernhard 140, 159 Gosewinkel, Dieter 90, 159 Gramsci, Antonio 5, 9, 15, 41–44, 151, 157, 161
P ERSONENREG ISTER
Habermas, Jürgen 48, 58, 67, 79, 80– 83, 88, 125, 135, 138 ff., 153, 159 ff. Hammack, David C. 110, 160 Havel, Václav 11 Hegel, G. W. F. 9, 20, 30–36, 42, 65, 82, 87, 151, 160 Heins, Volker 14, 89 f., 149, 160 Hobbes, Thomas 5, 20–23, 26 f., 65, 87 Honneth, Axel 47 f., 50, 64, 160, 162, 166 Jaeger, Friedrich 44, 53, 156, 160 James, William 44 Joas, Hans 44 f., 48 ff., 107, 160 f., 165 Kaelble, Hartmut 137, 143,159, 161, 165 Kaldor, Mary 145, 149, 161 Kant, Immanuel 30 f. Keane, John 11, 24, 28, 44, 87, 98 f., 149, 157 f., 161, 164 Klein, Ansgar 10 f., 35, 43, 61, 131, 143, 155, 161 Klein, Hans Joachim 112, 161 Kloppenberg, James 52, 161 Knöbl, Wolfgang 56 f., 62 f., 93 f., 96, 160 f. Kocka, Jürgen 9, 36, 90 f., 132, 150, 161 f. Konrad, György 11 Koselleck, Reinhart 18 f., 21, 23, 27, 160, 162, 164 Lefort, Claude 11, 61 ff., 151, 162 Lepsius, M. Rainer 102, 104, 162 Lippmann, Walter 47 Lipsky, Michael 110, 162 Lob-Hüdepohl, Andreas 119, 162 Locke, John 9, 13, 20, 22 f., 25, 28, 65, 70, 78, 87, 155, 162 Luther, Martin 20 MacIntyre, Alasdair 63 ff., 162 Mann, Michael 92–96, 151, 160, 162 Marshall, T. H. 56
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Marx, Karl 9, 12, 29, 35 ff., 42 f., 62, 82, 162 Mauss, Marcel 154, 162 Mead, George Herbert 44 Michnik, Adam 10 Montesquieu 9, 20, 25–29, 31, 33 f., 37, 42, 54, 154 Müller, Hans-Peter 37, 50 f., 163 Müller, Klaus 141, 143, 145, 163 Münkler, Herfried 25, 74 ff., 90, 149, 157, 158, 160 f., 163 f. Neidhardt, Friedhelm 131, 133, 165 Nolte, Paul 36, 49, 54, 120, 128, 130, 163 Offe, Claus 27, 76 f., 126 f., 163 f. Olk, Thomas 118 f., 157, 160, 164 f. Orwell, George 14 Paine, Thomas 28 Parsons, Talcott 5, 55 ff., 80, 86, 88, 164 Peirce, Charles Sanders 44 Phillips, Anne 85, 164 Priller, Eckhard 111, 116, 118, 156, 164 Putnam, Robert 63, 69, 71–74, 90, 104, 123, 129, 152 f., 163 f., 166 Rawls, John 63 f., 164 Riedel, Manfred 17, 19, 26, 30, 36, 164 Rödel, Ulrich 61, 153, 158, 162, 164 Rosanvallon, Pierre 11 Rousseau, Jean-Jacques 20, 26 f., 29 f., 33, 165 Rucht, Dieter 131, 133 ff., 144 f., 148, 165 Sachße, Christoph 101, 118, 164 f. Salamon, Lester M. 109, 165 Sandel, Michael 64, 165 Sartre, Jean-Paul 62 Shils, Edward 5, 55, 57 f., 77, 87 f., 90, 151, 165 Skocpol, Theda 74, 129, 153, 165
170
Z I V I LG E S E L L S C H A F T
Smith, Adam 20, 23 ff., 28, 31, 34, 87 Smith, Steven Rathgeb 110, 162 Somers, Margaret 152, 165 Strachwitz, Rupert Graf 113, 119, 122, 162, 164 ff. Strasser, Hermann 125, 127, 157 Taylor, Charles 28 f., 65 f., 78, 152, 155, 166 Therborn, Göran 133, 139 f., 166 Thomas von Aquin 17, 19, 65 Tocqueville, Alexis de 5, 9, 14, 20, 29, 33, 36–40, 42, 60, 63, 66, 69 f., 87, 91, 101, 112, 152, 160, 163, 166
Tönnies, Ferdinand 49, 53, 55, 157 Touraine, Alain 11, 58, 62 f., 68, 133 Verba, Sidney 56 f., 156 Walzer, Michael 63, 68 f., 75, 166 Weber, Max 14, 41, 52 f., 57, 59, 100, 161, 166 Wuthnow, Robert 74, 129, 166 Young, Iris Marion 84, 166 Zimmer, Annette 109, 111, 116 ff., 156, 164, 166