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German Pages [385] Year 2016
David Gern
Wo ich ende und du beginnst Getrenntheit und Andersheit bei Stanley Cavell
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808245
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B
David Gern Wo ich ende und du beginnst
VERLAG KARL ALBER
A
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Cary Grant reicht die Scheidung ein, Othello trachtet seiner Frau nach dem Leben, Wittgenstein fragt sich, wie er vom Schmerz der anderen wissen kann, während Descartes fürchtet, ganz allein zu sein. Erkenntnistheorie und Ethik, Shakespeare und Hollywood: In allen Ecken unserer Kultur findet der amerikanische Philosoph Stanley Cavell Zeugnisse seines philosophischen Lebensthemas: dem Problem der Getrenntheit und Andersheit. Wir sind voneinander unendlich getrennt und gleichzeitig unerhört verbunden – so beschreibt Cavell unser Menschsein. Er interessiert sich aber gerade für die Momente, in denen uns unser Menschsein unerträglich wird und unsere Gemeinschaft mit anderen bedroht ist. Unsere Getrenntheit von anderen müssen wir anerkennen, sagt Cavell, aber unsere Verantwortung für andere dürfen wir deswegen nicht ignorieren. Dieses Buch stellt Cavells Philosophie als eine Ethik des Alltags und als Lebenskunst dar. Es zeigt, dass einige der drängendsten Fragen der Philosophie auch drängende Fragen des gewöhnlichen Lebens sind. Wer noch nicht mit dem Werk Cavells vertraut ist, der findet hier außerdem eine zugängliche und verständliche Einführung.
Der Autor: David Gern studierte in Mainz und Darmstadt Philosophie, Englische Literatur und Soziologie. Promotion in Darmstadt. Er arbeitet als Journalist in Frankfurt.
https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
David Gern
Wo ich ende und du beginnst Getrenntheit und Andersheit bei Stanley Cavell
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Lear and Cordelia in Prison, c. 1779, William Blake (1757–1827), © Tate, London 2015 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48757-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80824-5
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Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I.
29
Die Urszene des Skeptizismus
. . . . . . . . . . . . . Eine »allgemeine« Definition des Skeptizismus . . . . . . . Der Verlauf des Skeptizismus in Descartes’ Meditationen . . Humes Reaktion und die Instabilität des Skeptizismus . . .
. . . .
31 35 40
Kants Reaktion auf den Skeptizismus und die menschliche Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 1: Philosophie und Literarizität . . . . . . . . . . . . . . .
59
Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 2: Der Skeptizismus beginnt mit einem Gefühl . . . . . . .
63
Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen . . . . . .
66
Freuds Urszene und der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
II.
73
Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
. . . . . . . II.1 Sprache als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . Was wir lernen wenn wir Sprache lernen . . . . . . . Kinder lernen »Kürbis«, Erwachsene lernen »Liebe« . . Verantwortung für unsere Sprache . . . . . . . . . . II.2 Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel . . . . . . . Was sind Kriterien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wittgensteins Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
73 75 82 85 89 90 93 5
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Inhalt
Übereinstimmung in der Lebensform . . . . . . . . Das Projizieren von Wörtern in neue Kontexte . . . Was Wittgenstein mit Grammatik meint . . . . . . Cavells »Wahrheit des Skeptizismus« . . . . . . . .
. . . .
. 96 . 99 . 101 . 104
II.3 Anerkennung – unsere Beziehung zur Welt und zu anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jemanden anerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anerkennung des Gewöhnlichen . . . . . . . . . .
112 116 123
III.
Skeptizismus und Popmusik . . . . . . . . . . . . . . . .
127
III.1 Die Rationalität ästhetischer Urteile . . . . . . . . . . .
127
III.2 Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache . . . . . . Der Ort der Popmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederbelebung durch Popmusik . . . . . . . . . . . .
134 136 143
III.3 Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin« . . . . . . . . . . . . Unser Angewiesensein auf Ausdruck und Äußerung Bilder und Vorstellungen – Wittgensteins Parabel des kochenden Topfes . . . . . . . . . . . . . . . . Phantasien und Vorstellungen . . . . . . . . . . . . Phantasie des Unvermögens zur Äußerung – das Privatsprachenargument . . . . . . . . . . Getrenntheit als Schicksal . . . . . . . . . . . . . . Von Phantasien zur Gewalt . . . . . . . . . . . . . Der Körper als Schleier – Der Körper als Bild der Seele Kannibalismus als skeptizistische Phantasie . . . . .
. . 148 . . 150 . . 155 . . 161 . . 166 . . 173 . . 175 . 177 . . 184
IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
188
IV.1 Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear« . . . . . . Skeptizismus als die Vermeidung von Liebe . . . . . . . Wir in diesem Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 196 210
IV.2 Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello« . . . . . . . . .
219
. . . .
231 232 237 248
IV.3 Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen« Versteinerte Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Skeptiker als Nihilist . . . . . . . . . . . . . . . Vergebung als Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
V.
Die Ehe als Bund mit der Welt . . . . . . . . . . . . . .
V.1 Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen Trauern lernen . . . . . . . . . . Ein Gast und ein Nachbar sein . . Stimmungen . . . . . . . . . . .
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. . . . V.2 Die Komödie der Wiederverheiratung .
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. . . . . Die Struktur der Wiederverheiratungskomödie . Ehe als Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Körper und Vorstellung zusammenbringen – »Es geschah in einer Nacht« . . . . . . . . . . Mensch werden heißt schwach werden – »Die Nacht vor der Hochzeit« . . . . . . . . . . Fremd und anders sein – »Die schreckliche Wahrheit« Komödie als Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
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258 263 264 269 275 277 279 282
. . 285 . . . . . . . .
. . . . V.3 Ehe als Weltdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Legitimität einer Ehe . . . . . . . . . . . . . . . Scheinwünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konformismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ehe als eine bedeutungskonstitutive Gemeinschaft . Die Notwendigkeit des Ausschließens . . . . . . . . . . Das Ende einer Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glück nur in Gemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . .
290 295 306 313 314 315 318 320 323 329 331 335
Autonomie und Anerkennung – Getrenntheit und Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338
VI. Verantwortung wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . .
342
VI.1 Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas . . . . . . . .
342
. . . . . . . . . . . . . . 350
VI.2 Sich dem Anderen aussetzen
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
362
Quellenverzeichnis
376
. Literatur . . . . . . Filme . . . . . . . . Musik . . . . . . .
. . . . Abbildungsnachweise .
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376 383 384 384 7
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Dank
Diese Arbeit wurde im April 2013 am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt als Dissertation angenommen. Eigentlich müsste ich mich ja bei jedem bedanken, der mir in der Zeit des Schreibens begegnet ist. Ganz besonders danken möchte ich aber: Meinen Doktormüttern Petra Gehring und Julika Griem, dafür, dass sie alle schnellen Einfälle und Eigensinnigkeiten mitgetragen haben. Evelies Mayer, für ihre Wohnung am Ende der zivilisierten Welt. Ulrich Sulzmann, für das Korrekturlesen und für seinen Sohn. Meiner Mutter, für viel Geduld, Apfelkuchen und unbändige Neugier. Meinem Vater, für Sanftheit und Wut. Und Irene und nochmal Irene.
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Einleitung
Auch wenn wir zusammen sind, wir beieinander stehen, sitzen oder liegen, auch wenn wir uns verbunden fühlen, wir etwas oder alles teilen, wir uns nahe sind wie nie, so sind wir doch auch immer voneinander getrennt. Und wir können nichts tun oder sagen, um diese Trennung jemals zu überwinden. Jeder weiß, dass wir voneinander getrennt sind. Wären wir es nicht, dann müssten wir nicht miteinander sprechen, sondern wir könnten unsere Gedanken und alles, was in uns vorgeht, direkt in die Köpfe und Herzen der anderen schicken. Doch so sind wir auf Worte, Zeichen und Gesten angewiesen, um uns anderen mitzuteilen und um uns verständlich zu machen. Unsere Getrenntheit hält uns nicht davon ab, Erfahrungen von größtmöglicher Gemeinsamkeit zu haben. Momente, in denen wir gar nicht mehr aufhören können, über die gleichen Dinge zu lachen, oder in denen wir wissen, dass jedes Wort, das wir äußern, verstanden wird. Das sind Augenblicke, aus denen wir die Gewissheit ziehen, dass wir bei einem anderen Menschen eine Heimat gefunden haben. Was aber geschieht, wenn sich ein Mensch, den ich mein Zuhause nenne, plötzlich ganz anders verhält als zuvor, anders, als ich es jemals von ihm angenommen habe? Und zwar auf eine Weise anders, die ich nicht mehr verstehen kann? Was passiert, wenn er mich nicht mehr verstehen kann? Wenn er mich zu anders findet? So ein Moment wird irgendwann unweigerlich eintreten, weil wir nicht nur getrennt voneinander, sondern auch anders sind. Wir unterscheiden uns von anderen, wir sind anders als sie. Wir sind aber auch anders als wir selbst. Ich kann kalt und gleichzeitig liebebedürftig sein und dabei doch ein Mensch bleiben. Bei vielen Gelegenheiten werden wir solche Andersheiten aushalten oder übergehen können und zu unserer vorherigen Übereinstimmung zurückkehren können. Zu anderen Zeiten aber werden wir das Gefühl haben, unserer Heimat beraubt zu wer11 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Einleitung
den. Wo wir gerade noch jeden Winkel zu kennen glaubten, sind wir auf einmal fremd. Aber auch nach solchen Fremdheitserlebnissen haben wir immer noch unsere Sprache, unsere Worte, mit denen wir uns einander wieder annähern können. Doch wo wir uns einmal getäuscht haben, können wir uns wieder täuschen. Worte können trügen. Wir können andere falsch verstehen und falsch verstanden werden. Andere können sich weigern uns zu verstehen. Andere können uns belügen. Sie müssen uns nicht mitteilen, was in ihnen vorgeht. Oft genug machen wir auch die Erfahrung, dass es uns nicht gelingt, mit unseren Worten zu sagen, was wir wirklich ausdrücken wollen. Oder dass wir, so sehr wir es auch versuchen, den anderen nicht erreichen. Wir merken dann, dass unsere Sprache uns nicht absolute Sicherheit gibt. Die Mittel unserer Kommunikation können nicht sicherstellen, dass wir andere wirklich erkennen und dass wir von anderen erkannt werden. Und so kann sich uns plötzlich die Frage stellen, wie viel wir wirklich über andere wissen können. Was ist alles »in« ihnen, das ihre Worte uns nicht mitteilen, was verstecken sie? Welchen Bestand haben unsere Annahmen über andere Menschen? Wie viel können wir uns überhaupt sagen? Wie sehr können wir gekannt werden? Muss ein Teil von uns auf ewig versteckt bleiben? Der amerikanische Philosoph Stanley Cavell hat sich sein ganzes philosophisches Schaffen hindurch mit diesem Moment beschäftigt, in dem unsere Getrenntheit plötzlich zum Problem wird. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er zu beschreiben versucht, welche Verantwortungen und Bürden für uns aus unserer menschlichen Getrenntheit und Andersheit folgen und warum sie für uns so unerträglich werden können, dass wir es vorziehen, sie in unseren Worten und unseren Taten zu leugnen – bewusst oder unbewusst. Wenn der Zweifel in uns reift, kann unsere Getrenntheit, die zuvor einfach normal und gewöhnlich war, für uns schmerzhaft werden. Wir fühlen uns abgeschnitten von der Welt und von anderen. Die Natur dieses Schmerzes und dieser Leugnung zu ergründen ist Cavells erstes Anliegen. Für Cavell entsteht der Schmerz über unsere Getrenntheit und Andersheit – und der Wunsch beides zu leugnen – aus einer Enttäuschung über unsere Möglichkeiten der Kommunikation, unsere Möglichkeiten, über und von anderen zu wissen. Es ist also eine Enttäuschung über unsere Sprache. Sprache scheint ein zu spezialisiertes Feld zu sein, um so etwas Grundlegendes und Entscheidendes wie 12 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Einleitung
menschliche Getrenntheit und Andersheit zu verhandeln. Doch so wie Cavell Sprache versteht, wovon er spricht, wenn er von Sprache spricht, besteht Sprache nicht aus Vokabeln und grammatischen Regeln. Sprache ist für ihn alles, was wir mit Worten tun. Wir sprechen miteinander, aber auch wenn wir denken, denken wir vornehmlich in Worten. Wir geben allem, was wir sehen und was wir erleben, Namen. Wir nennen etwas »grün«, etwas anderes »Zuneigung« und etwas drittes »gelungen« – und wir wissen, was diese Dinge sind, weil wir diese Worte und ihre Verwendung kennen. Andere können uns verstehen, weil sie ebenfalls wissen, wann man diese Worte benutzt. Wir ordnen unsere Welt mit Worten. Und wir verstehen sie durch Worte. Wir ordnen und verstehen aber auch unsere Seele mit Worten. Wenn wir beginnen, an unseren Worten zu zweifeln, zweifeln wir damit auch an unserer Welt und an unseren Seelen. Zweifele ich an dem Wort »Zuneigung«, dann weiß ich nicht mehr, was Zuneigung für mich und mein Leben ist. Wenn unsere Worte auf dem Spiel stehen, steht für uns die Bedeutung von allem auf dem Spiel. Darum geht es, wenn Cavell von Sprache spricht. Den Menschen über seine Sprache zu beschreiben heißt, ihn als ein in erster Linie kommunizierendes Wesen zu begreifen, heißt, ihn vor allem anderen als sozial zu begreifen. Cavell nähert sich dem Problem der Getrenntheit und Andersheit über eine Denkrichtung, die Philosophen »Skeptizismus« nennen. Mit Skeptizismus bezeichnet man den methodischen Zweifel an allem. Das berühmteste Beispiel dafür sind sicher die Meditationen René Descartes (1596–1650), in denen dieser beweist, dass die Existenz der Welt, von allem um mich herum, grundsätzlich zweifelhaft ist. Er zeigt, dass wir meistens annehmen, dass alles um uns herum existiert, wir uns aber dennoch nicht mit Absolutheit sicher sein können. Diesen methodischen Zweifel Descartes’ interpretiert Cavell als den philosophischen Ausdruck des lebensweltlichen Zweifels, der uns im Angesicht der von uns getrennten anderen und der mit unserer Getrenntheit verbundenen Unsicherheit überkommen kann. Genauso wenig, wie wir mit Absolutheit wissen können, ob die Welt um uns herum existiert, können wir mit Sicherheit wissen, was in anderen vorgeht. Durch diese Verbindung versucht Cavell die philosophischen Debatten und unsere Lebenswelt wieder näher zusammenzurücken. Auf der einen Seite nimmt er Descartes’ Ausführungen als »Blaupause« des Zweifels, der uns in unserem Alltag befallen kann. Auf der anderen Seite werden durch dieses Näherrücken an die Lebenswelt 13 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Einleitung
auch die Motivationen des philosophischen Zweifels hinterfragt. Zwar behauptet jemand wie Descartes, dass wissenschaftliche Redlichkeit sein einziger Antrieb sei. Doch wenn man wie Cavell annimmt, dass das, worüber wir in der Philosophie nachdenken, eine Entfaltung unserer alltäglichen Gedanken und Schwierigkeiten ist, dann muss man auch fragen, ob die Beweggründe für den philosophischen Zweifel nicht den Beweggründen für den alltäglichen Zweifel gleichen – ob also der philosophische Zweifel an den Möglichkeiten unseres Wissens nicht vielleicht aus den gleichen Gründen entsteht, wie mein persönlicher Zweifel an meinen Möglichkeiten, etwas über einen anderen Menschen zu wissen. Für Cavell entsteht der skeptizistische Zweifel – im Alltag und in der Philosophie – immer aus der Enttäuschung über unsere Getrenntheit und dem Unvermögen, die mit unserer Getrenntheit verbundenen Verantwortlichkeiten anzunehmen. Die menschliche Begrenzung und Partikularität zu akzeptieren ist Cavell zufolge etwas, das wir jeden Tag neu lernen müssen. Es gibt einen Ort an dem ich ende und der andere beginnt. Dies zu akzeptieren und die damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen hält Cavell für so grundlegend für unser Glück wie unsere Getrenntheit grundlegend für unsere Existenz ist. Dementsprechend heißt es in einem Satz, mit dem er sein ganzes Werk zusammenfasst: »Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, dass die Anerkennung der Andersheit der anderen, der unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.« 1
Das Ziel meiner Arbeit ist es, diese für Cavell so zentralen Worte mit Bedeutung und Sinn zu füllen. Was bedeutet es, dass Getrenntheit und Andersheit unausweichlich sind? Was heißt es, Getrenntheit und Andersheit anzuerkennen? Warum ist das die Bedingung für menschliches Glück? Was verlangt Anerkennung mir ab? Warum ist das furchteinflößend und ehrfürchtig? Dass Gleichgültigkeit von Cavell als die Verleugnung dieser Bedingung bezeichnet wird, macht klar, dass es sich bei einer Anerkennung der Getrenntheit und Andersheit anderer nicht einfach um eine Resignation ob dieser Tatsachen handeln kann, sondern dass, ganz im Gegenteil, die Anerken1 Cavell, Stanley: Cities of Words. Zürich 2010, S. 413. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: Cities of Words. Cambridge 2004.
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Einleitung
nung von Getrenntheit und Andersheit in Kümmern, in Sorge um einander besteht. An Cavells Philosophie wird häufig die Vielfalt und das Nebeneinander der Themen hervorgehoben, doch Getrenntheit und Andersheit sind für Cavell nicht einfach ein Thema unter vielen. Sie bilden das Zentrum all seines Denkens. Wie wir später noch sehen werden, stellt es sich für ihn sogar so dar, als sei die gesamte Philosophiegeschichte davon beherrscht. Und das ist so, weil seiner Ansicht nach auch unser Alltag von dem Problem der Getrenntheit und Andersheit beherrscht wird. Die Bedeutung von Getrenntheit und Andersheit im Werk Cavells herauszuarbeiten und dabei einen Bezug zu unserer Lebenswelt herzustellen, wie ich es hier tun werde, bedeutet also, das Wesentliche an Cavells Philosophie herauszuarbeiten. Stanley Cavell wurde 1926 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in Atlanta, Georgia geboren. Die Mutter war eine regional bekannte Vaudeville-Pianistin, sein Vater ein glückloser Ladenbesitzer. So waren Cavells Kindheitsjahre von unzähligen Umzügen zwischen seiner Geburtsstadt und Sacramento geprägt. Cavell, ein Philosoph, der zeitlebens auf den autobiographischen Impuls zum Philosophieren hinwies, berichtet von Fremdheitsgefühlen und Isolation in seiner Kindheit, von der Sprachlosigkeit seiner Eltern, den Zornesausbrüchen seines Vaters und dem tagelangen Schweigen seiner Mutter. 2 Cavells späteres Interesse an Sprache, nicht gelingender Kommunikation und Skeptizismus ist wohl diesen Erfahrungen geschuldet. Aber auch andere Leidenschaften Cavells haben hier ihren Ursprung. So war der wöchentliche Kinobesuch ein unumstößliches Ritual in seiner Familie. Der junge Cavell wollte zunächst seiner Mutter folgen und ebenfalls Musiker werden. In den vierziger Jahren spielte er als einziger Weißer in einer schwarzen Swing-Band. 3 Spät in seiner musikalischen Ausbildung, die ihn von Berkeley an das renommierte Julliard Konservatorium in New York geführt hatte, musste er schließlich feststellen, dass die Musik nicht länger sein Leben war. Auf diese schwere persönliche Krise reagierte er, indem er fast ununterbrochen
2 Cavell, Stanley: Die andere Stimme. Berlin 2002, S. 48. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley. A Pitch of Philosophy. Cambridge 1996. 3 Colapietro, Vincent: »Voice and the Interrogation of Philosophy: Inheritance, Abandonment, and Jazz«, in: Saito, Naoko/Standish, Paul (Hrsg.): Stanley Cavell and the Education of Grownups. New York 2012, S. 145.
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Einleitung
las. Erst Freud und dann alles, wo Philosophie drauf stand. 4 Zwischendurch ging er noch ins Kino, ins Theater und in die Oper. Bald entschied er sich für das Studium der Philosophie. Seine Promotion legte er in Harvard ab, wo er, nur unterbrochen von einer kurzen Zeit in Berkeley, für immer bleiben sollte und wo er von 1963 an bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997 Professor für Ästhetik und allgemeine Werttheorie war. 5 Als der vor allem für seine Theorie der Sprechakte berühmte John Langshaw Austin (1911–1960) 1955 für einige Vorlesungen 6 von Oxford nach Harvard kam, beeindruckte er Cavell so sehr, dass dieser seine bereits begonnene Dissertation verwarf und zu einem Anhänger der von Austin vertretenen Philosophie der normalen Sprache wurde. Mit Austin sind wir bei dem ersten der vier »Heiligen« Cavells angelangt. Die Philosophie der normalen Sprache war fortan die Grundlage für Cavells ganzes Schaffen. Auch wenn Austin, den Cavell ja persönlich gekannt hat und den er als seinen Lehrer bezeichnet, für Cavell immer sehr wichtig bleiben sollte, bewegte sich Cavell bald immer mehr in die Richtung Ludwig Wittgensteins (1889–1951). Es ist ausschließlich der späte Wittgenstein, der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen, an dem Cavell sich abarbeitete und der zum entscheidenden Bezugspunkt seiner Philosophie wurde. Dabei versteht Cavell Wittgenstein konsequent als einen Philosophen der normalen Sprache, obwohl dieser strenggenommen nicht diesem Kreis zuzuordnen ist. Cavell schreibt, ihm sei das »Bewusstsein, man könne offen und philosophisch über alles sprechen, was einem zustößt, zuerst im Werk des späten Wittgenstein und dem von J. Austin als eine Möglichkeit vor Augen getreten.« 7
Die zwei anderen wichtigsten Fixpunkte Cavells sind die sogenannten Amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson (1803– 1882) und Henry David Thoreau (1817–1862). In der Hinwendung der Transzendentalisten zum Gewöhnlichen erkennt Cavell eine Vorläuferschaft der Philosophie der normalen Sprache, deren Anliegen es Cavell: Cities of Words S. 315. Cavell gibt genauestens Auskunft über sein Leben in seiner – philosophischen – Biographie: Cavell, Stanley: Little Did I Know. Stanford 2010. 6 Das Thema der Vorlesungen waren »Entschuldigungen« und sie resultierten in dem Aufsatz »A Plea for Excuses«. Austin, John Langshaw: »A Plea for Excuses«, in: Austin, John Langshaw: Philosophical Papers. Oxford 1961, S. 175–204 7 Cavell: Cities of Words S. 11. 4 5
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Einleitung
ja ist, unser Vertrauen in unseren gewöhnlichen Sprachgebrauch zu stärken. 8 Beide Denkrichtungen, der Amerikanische Transzendentalismus und die Philosophie der normalen Sprache, sind für Cavell veritable Antworten auf den Skeptizismus. Sie sind damit Antworten auf das lebensweltliche Problem der Getrenntheit und Andersheit. Tatsächlich glaubt Cavell, dass diese Philosophien nur dann im vollen Maße und Ausmaße zu verstehen sind, wenn sie als Reaktionen auf das hier behandelte Themenfeld begriffen werden. Ich spreche hier von den Heiligen oder den Fixpunkten Cavells – er selbst benutzt einmal in einem ähnlichen Zusammenhang den Ausdruck »Schutzengel« 9 –, weil sich sein gesamtes philosophisches Leben hindurch an diesen Denkern orientiert, er in fast jedem Text zu ihnen zurückkehrt, sich in hohem Maße mit ihnen identifiziert und seine Auseinandersetzung mit ihnen als niemals abgeschlossen sieht. Oftmals hält er sich so eng an ihre Worte, dass es für den Leser schwer zu erkennen ist, wo zwischen Emerson, Thoreau, Wittgenstein und Austin eigentlich Cavell zu finden ist. Doch man darf sich nicht täuschen lassen. Cavells Deutung dieser Denker ist eigen bis zur Exzentrik. Meist konzentriert er sich auf einzelne Äußerungen, die er isoliert betrachtet und von denen aus er beginnt, recht frei zu assoziieren. So verhandelt er beispielsweise nur recht wenige Paragraphen aus den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins und seine Interpretation dieses Buches ist dementsprechend kontrovers – auch wenn sich der philosophische Mainstream Cavell in den letzten Jahrzehnten immer mehr angenähert hat. Viel ist geschrieben worden über die besondere Denk- und Arbeitsweise Cavells. 10 Auch er selbst hat viel darüber geschrieben – was sowohl der Rechtfertigung als auch der eigenen Legendenbildung diente. 11 Meiner Ansicht nach liegt das Exzeptionelle an Cavells Texten aber nicht in einem speziellen Ansatz oder einer speziellen Methode. Was Cavell tut, ist durchaus kanonisiert und kann als genaues Interpretieren oder »close reading« beschrieben werden. Nein, das Besondere von Cavells Texten besteht eher in der Inbrunst, mit der Cavell, Stanley: In Quest of the Ordinary, Chicago 1988, S. 4. Cavell: Cities of Words, S. 31. 10 Zum Beispiel bei: Bronfen, Elisabeth: Stanley Cavell zur Einführung. Hamburg 2009./Elridge, Richard/Rhie, Bernhard: Cavell, Literary Studies, and the Human Subject: Consequences of Skepticism, in: Elridge, Richard/Rhie, Bernard (Hrsg.): Stanley Cavell and Literary Studies. New York 2011, S. 1–13. 11 Cavell: In Quest for the Ordinary, S. 14 ff. 8 9
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Einleitung
er in seinen Interpretationen versucht, so weit wie möglich zu gehen, in der großen Ernsthaftigkeit, mit der er den Objekten seiner Aufmerksamkeit Bedeutung zuspricht. Und in dem Vertrauen, dass alles, was uns geschieht, uns auch etwas sagen kann. Hieraus lässt sich auch seine Bereitschaft ableiten, zunächst abwegig erscheinenden Assoziationen zu folgen. Für ihn ist es eben von Bedeutung, dass er – der Mensch Cavell – diese Assoziationen hat. Natürlich sieht es manchmal so aus, als würde Cavell die Dinge überstrapazieren. Er selbst hat aber den Eindruck, die meisten Texte seien, genau wie die meisten Leben, eher unter- als überinterpretiert. 12 Wenn Cavell selbst über sein Vorgehen spricht, dann nennt er es für gewöhnlich »lesen«. Einen Text zu lesen ist für ihn »ein Prozess des gelesen Werdens.« 13 Damit meint er, dass man sich beim Lesen eines Textes von diesem herausfordern und interpretieren lassen muss. Dass man sich also fragen muss, inwiefern man vom Text selbst gemeint ist und was einem hier – als Person – gesagt wird. Dieses Programm des Selbstprüfens zeugt vom therapeutischen Philosophieverständnis Cavells. Nicht ohne Grund wird er zu der Gruppe von Neu-Wittgensteinianern 14 gezählt – und er zählt sich auch selbst zu ihnen 15 –, die das Werk des späten Wittgensteins als vor allem therapeutisch motiviert verstehen. Von Thoreau, der Cavells Begriff des Lesens maßgeblich geprägt hat, übernimmt Cavell die Vorstellung, dass wir nicht vornehmlich Bücher lesen sollten, sondern dass die ganze Welt ein Text ist, den es zu lesen gilt. In Thoreaus Buch Walden heißt es: »Was ist ein Kurs über Geschichte, Philosophie oder Poesie, wie vortrefflich auch alles gewählt sei, was ist die beste Gesellschaft oder die bewunderungswürdigste Lebensroutine, verglichen mit der Disziplin, immer das zu sehen, was zu sehen ist? Willst du nur ein Leser sein, ein Lernender oder ein Seher? Lies dein Schicksal, sieh was vor dir liegt, und schreite vorwärts in die Zukunft hinein!« 16
In Cavells Definition des Lesens drückt sich das Bestreben aus, über alles, was man erlebt, mag es einem auch noch so gewöhnlich und Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. Cambridge 1981, S. 35. Cavell: In Quest for the Ordinary, S. 16. 14 Crary, Alice: »Introduction«, in: Crary, Alice (Hrsg.): The New Wittgenstein. New York 2000, S. 1. 15 Cavell: Cities of Words, S. 34. 16 Cavell, Stanley: Senses of Walden. Cambridge 1981, S. 117. 12 13
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Einleitung
alltäglich vorkommen, philosophisch nachzudenken und zu sprechen. 17 Das ist ein Weg, um sich selbst zu verändern und um, wie Thoreau sagt, in die eigene Zukunft hinein zu schreiten. 18 Aus der Überzeugung, dass alles, was vor einem liegt, zu »lesen« ist und dass über alles, was einem zustößt, philosophisch gesprochen werden kann, folgt zwangsläufig, dass Cavell sich nicht ausschließlich mit philosophischen Texten beschäftigt, sondern sich auch mit Literatur, Filmen, Theater, Opern und Biographischem auseinandersetzt. Nun gehört es zum Standard philosophischen Arbeitens, die eigenen Argumente oder Gedanken mit Beispielen aus dem Bereich des Ästhetischen anzureichern. Ich sprach zuvor von der Inbrunst und der Ernsthaftigkeit Cavells – und auch hier unterscheidet ihn beides von vielen anderen Philosophen. Für Cavell ist ein Buch oder ein Film aber nicht einfach ein Steinbruch, bei dem er sich seinen philosophischen Zwecken gemäß bedient. Die große Ernsthaftigkeit, mit der er Kunstwerken begegnet besteht darin, dass sie für ihn potentiell eine ebenso große Autorität haben, uns philosophisch etwas zu sagen wie philosophische Texte. Zumindest steht für ihn nie im Vorhinein fest, wer oder was die größere philosophische Autorität für sich beanspruchen darf – das muss stets im Einzelfall ausgemacht werden. So kann ein Dialog zwischen Katherine Hepburn und Cary Grant in dem Film Die schreckliche Wahrheit für Cavell genauso gewichtig sein wie ein Dialog Platons. 19 Und Shakespeares Tragödien sind für ihn, was den Skeptizismus angeht, genauso aufschlussreich wie Descartes’ Meditationen. Man tut sich mit dem Werk Cavells leichter, wenn man von Anfang an versteht, dass Shakespeare und einige der Hollywood-Komödien der dreißiger und vierziger Jahre bei ihm eine ebenso starke Stimme haben wie Austin, Wittgenstein, Emerson und Thoreau. Weiterhin wichtig für Cavell sind natürlich Descartes, der mit seinen Meditationen die Beschreibung des Skeptizismus liefert, auf die Cavell sich beruft, Immanuel Kant (1724–1804), der genau wie Cavell ein Philosoph der menschlichen Endlichkeit ist und Sigmund Freud (1856–1939), den Cavell nur selten direkt erwähnt, der, wie dem Kenner nicht entgehen wird, Cavells Denken entscheidend beeinflusst hat. Um das Namedropping abzuschließen müssen noch Martin Heidegger 17 18 19
Cavell: Cities of Words, S. 11. Cavell: In Quest for the Ordinary, S. 16. Cavell: Cities of Words, S. 409 f.
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Einleitung
(1889–1976), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Søren Kierkegaard (1813–1855) genannt werden, die alle immer wieder durch Cavells Texte geistern. Dabei erweist sich Cavell als ein reger »Verknüpfer«, denn in all diesen Quellen sucht er nach Verbindungen, Verwandtschaften, Übereinstimmungen und Gegensätzlichkeiten. Diese Arbeit ist eher von Nähe als von Distanz zu Cavell geprägt. Mir geht es darum, mir das Denken Cavells so weit wie möglich anzueignen, um aus dieser Position zu prüfen, welchen Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen ist. Dabei interessiere ich mich ausschließlich für einen Erkenntnisgewinn, der sich ganz deutlich auf unsere Lebenswirklichkeiten, auf alltägliche Lebenssituationen beziehen lässt. Ich werde Cavells Philosophie beschreiben und sie dabei in konkrete Kontexte einordnen, um sie dann an jeder Stelle so weit zu treiben, wie es geht. Stets möchte ich fragen, wie viel aus dieser Philosophie »zu machen« ist. Auf diese Weise erhoffe ich ein möglichst genaues Bild ihres Ausmaßes und ihrer lebensweltlichen Relevanz zu erhalten. Für eine Philosophie, die wie die Cavells, sowieso schon lebensweltlich orientiert ist, handelt es sich hierbei sozusagen um eine Probe aufs Exempel. Für die Leser entsteht daraus der Vorteil, dass sie einerseits einen tiefen Einblick in die wichtigsten Bereiche Cavellschen Denkens bekommen, andererseits einen umfassenden Eindruck davon mitnehmen, was dieses Denken für sie selbst bedeuten könnte. Ich habe mich in dieser Arbeit für einen bestimmten Kontext entschieden, in dem ich die Philosophie Cavells zu betrachten gedenke. Und zwar ist das der Bereich der Liebesbeziehung. Die Konzentration auf diesen Bereich ist in Cavells Philosophie so angelegt. Schließlich interessiert er sich exzessiv für das Thema Ehe. In den Shakespeare-Tragödien und den Filmkomödien, die er bespricht, geht es jeweils um Ehepaare. Es ist aber auch im Thema selbst so angelegt. Wenn wir lieben, müssen wir uns der Getrenntheit und Andersheit aussetzen, müssen uns allem aussetzen, was uns daran ängstigt. Denn während wir bei anderen Menschen einfach weitergehen können, müssen wir hier bleiben – denn wir wollen ja mit dem, den wir lieben, zusammen sein. Und wir können den Körper eines anderen noch so eng umschlingen – unsere Getrenntheit können wir nicht aufheben. Damit sind unsere Liebesbeziehungen unsere »ersten« Beziehungen, in denen unsere allgemeine Fähigkeit zur Anerkennung von Getrenntheit und Andersheit getestet wird, die grundlegende Fähigkeit, um mit anderen glücklich zu werden. Wenn ich schreibe, dass Cavells Philosophie selbst schon lebens20 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Einleitung
weltlich orientiert ist, und dass ich sie nun noch stärker in lebensweltliche Bezüge einordnen möchte, dann könnte man mein Vorhaben als eine Weiterverfolgung des Cavellschen Projektes verstehen. Das ist zwar wahr, doch ist meine »Stoßrichtung« eine andere als Cavells. Cavell richtet sich an ein philosophisch gebildetes Publikum, das er fortwährend daran erinnern will, dass die Begriffe, mit denen es operiert, eine Bedeutung über die philosophische Debatte hinaus haben. Er geht nämlich davon aus, dass mit jedem Impuls zur Philosophie die gewöhnliche Welt verloren geht, weswegen sie auch ständig wiedergewonnen werden muss. 20 Trotz Cavells Hingabe zum Gewöhnlichen und zur populären Kultur ist ihm bedauerlicherweise nie ein gefälligerer Einstieg in sein Werk gelungen. Es ist wohl das Schicksal des allzu Klugen, dass wirklich jeder Text von ihm ziemlich kompliziert geraten ist und die genaue Kenntnis vieler anderer philosophischer Texte voraussetzt. Meist setzt Cavell, der sehr selbstreferenziell vorgeht, auch die Kenntnis seiner eigenen Veröffentlichungen voraus. Im Vergleich zu Cavell habe ich nicht zuallererst philosophische Profis im Blick, sondern vertrete die Auffassung, dass die Philosophie wieder mehr zu einem Schreiben werden muss, das fähig ist, allen interessierten Lesern zu zeigen, dass es hier etwas für sie, für ihr Leben, zu entdecken gibt. Die Philosophie soll hier natürlich nicht als eine Form elaborierter Ratgeberliteratur etabliert werden. Dass ich dem Leser den Einstieg ein wenig bequemer gestalten möchte, heißt nicht, dass die Lektüre für ihn damit bequem werden sollte. Im Gegenteil: Der Leser soll konfrontiert werden. Der leichtere Zugang zu Cavells Denken soll eine echte Konfrontation mit diesem Denken wahrscheinlicher machen. Eine solche Konfrontation, das hat philosophisches Denken so an sich, muss schmerzen, weil wir als Personen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, herausgefordert, hinterfragt werden. Dass die Konfrontation schmerzlich ist, heißt nicht, dass sie nicht auch tröstlich sein kann. Nämlich dann, wenn wir feststellen, dass wir in diesem Denken verstanden werden und dass es wert ist über das, was uns bewegt – philosophisch – zu reden. Um mein Ziel möglichst konzentriert verfolgen zu können, werde ich viele der philosophischen Debatten, die Cavell berührt – gerade was Wittgenstein angeht sind die Veröffentlichungen ja Legion – außen vor lassen. Auch werde ich über die Philosophie der normalen Assheuer, Thomas: Skeptische Heimkehr, in: DIE ZEIT vom 23. 04. 1998. http:// www.zeit.de/2003/02/Portr_8at_Cavell (20. 04. 2013)
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Sprache und den Amerikanischen Transzendentalismus hinaus keine weiteren Verbindungslinien zu anderen philosophischen Strömungen ziehen. Möglich wären hier etwa der Pragmatismus oder die Dekonstruktion gewesen. Diese Arbeit ist kein Beitrag für eine Historisierung Cavells. Vielmehr soll er hier als ein Kritiker seiner Kultur vorgestellt werden. Gegen einen solchen immanenten Ansatz, wie ich ihn hier verfolge, ist stets einzuwenden, dass er, sei es wegen mangelnden Abstands oder zu großer Ehrfurcht, nicht dazu befähigt, ein Werk zu bewerten und etwas Neues aus ihm zu gewinnen. Ich bin mir dieser Gefahren durchaus bewusst. Doch das sind Einwände, die sich auf konkrete Texte beziehen müssen und so wird auch jedes der folgenden Kapitel für sich beweisen müssen, dass ein Vorgehen wie meines immer noch Weiterentwicklung zulässt, und dabei erkennbar bleibt, wie ich die Zukunftsfähigkeit von Cavells Gedanken einschätze. Cavell ist nicht selten Dunkelheit vorgeworfen worden: Er würde sich häufig weigern, klare und präzise Aussagen zu machen und sich stattdessen in literarischen Ausbrüchen ergehen. Er sei ein »verhinderter Poet«. 21 Aufgabe dieser Arbeit wird auch sein, das vermeintlich Unpräzise, das Dunkle an Cavells Denken als eine Präzision anderer Art herauszustellen. Die Philosophie war von jeher von dem Wunsch getragen, Dinge ein für alle Mal mit größter Klarheit und Genauigkeit zu sagen. Cavell gehört jedoch zu den Philosophen, die nicht daran glauben, dass wir die komplizierten Zusammenhänge unseres Lebens mit einer alles zum Verstummen bringenden Eindeutigkeit beschreiben können. Ein Eindruck übrigens, den er aus seiner Beschäftigung mit der Philosophie der normalen Sprache gewonnen hat. Cavells literarische Passagen zeugen davon, dass er sich an den entsprechenden Stellen gar nicht der Illusion hingibt, etwas mit Endgültigkeit sagen zu können, sondern dass für ihn die präziseste Ausdrucksmöglichkeit in einer »atmosphärischen« Sprache liegt, die deswegen mehrdeutig und unabgeschlossen ist, weil unsere Leben mehrdeutig und unabgeschlossen sind. Tatsächlich ist Cavell der Auffassung, dass Philosophie, wenn sie über wirkliche Menschen sprechen will, gelegentlich zu Literatur werden muss. 22 Was ich zeigen Minnes, Mark: »Zwischen Verstand und Verklärung,« in: Potsdamer Neue Nachrichten vom 11. 07. 2007. http://www.pnn.de/campus/39339/ (20. 04. 2013) 22 Cavell, Stanley: Der Anspruch der Vernunft. Frankfurt am Main 2006, S. 786 ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: The Claim of Reason. New York 1979. 21
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Einleitung
möchte ist, dass solche Äußerungen im philosophischen Diskurs nicht weniger wert sind als Gedanken von formaler Strenge. Sie haben ihre eigene Präzision, so wie Musik, ein Lächeln oder das einsetzende Abendlicht manchmal präziser sein können als ein ganzes Buch voller Erklärungen. Weil Cavells philosophische Agenda so sehr von der Sprache, die er verwendet, abhängt, werde ich mich auch einer bestimmten Sprache bedienen, um seine Philosophie abzubilden. Denn mein Eindruck ist, dass die redlichen und teilweise exzellenten Versuche, sich Cavells Denken auf »nüchterne« Weise anzunähern, eine wichtige Dimension dieses gar nicht nüchternen Denkers unweigerlich verpassen müssen. Schließlich möchte ich noch einer weiteren weitverbreiteten Auffassung über Cavell entgegenwirken. Wenn Espen Hammer (* 1966) schreibt, dass diejenigen, die in der Philosophie vor allem nach »Theorien, Thesen und Argumenten, die diese unterstützen« suchen, bei Cavell nicht glücklich werden dürften, dann ist das insofern richtig, als Cavell weder daran interessiert ist, ein philosophisches System zu errichten, noch, wie Hilary Putnam (* 1926) es ausdrückt, »-ismen« formulieren will 23 oder bestimmte Positionen durchsetzen möchte. Auch ist es wahr, dass Cavell große Teile seines Philosophierens als experimentelle Versuchsanordnungen begreift, als ein nicht zielgerichtetes Ausprobieren neuer Denkwege. Darüber hinaus ist Cavell vorsichtig, was Handlungsanweisungen und das Erklären von Pflichten angeht. »Sollen« sei kein Teil seines Vokabulars, sagt er. In seinem Schreiben wolle er trotz der angestrebten Konfrontation die Menschen »intakt« lassen. 24 Allerdings bedeutet das noch lange nicht, dass es bei Cavell an konkreten Aussagen mangeln würde. Was die Grundlagen seines Philosophierens, die Tatsache der Getrenntheit und Andersheit, die Realität des Skeptizismus, die Beschaffenheit der Wittgensteinschen Kriterien, seine Ansichten zur gewöhnlichen Sprache und die Verantwortung, die wir für die von uns getrennten anderen haben, angeht, trifft er sehr eindeutige Aussagen und bringt sie mit wiederholtem Nachdruck vor. Eine letzte Anmerkung, bevor ich mit dem Überblick über die einzelnen Kapitel beginne: In der zweiten Hälfte seiner Karriere hat Hilary Putnam im Nachwort von: Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 265–280. 24 Stanley Cavell taking questions (youtube-link nicht mehr verfügbar) 23
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Cavell in Anklang an Emerson einen moralischen Entwurf namens »moralischer Perfektionismus« formuliert. Die Ideen des moralischen Perfektionismus sind von Anbeginn in Cavells Werk vorhanden, auch wenn er sie nicht gleich unter diesem Namen versammelt hat. Ich werde den moralischen Perfektionismus, so wichtig er auch für das Spätwerk Cavells ist, nur dann erwähnen, wenn er das Thema der Getrenntheit und Andersheit direkt berührt. In Kapitel I wird erst der Verlauf des kartesischen Skeptizismus abgegangen, um dann zu zeigen, wie Cavell ihn als ein ernstzunehmendes, lebensweltliches Problem beschreibt, das aus unserer Getrenntheit und Andersheit entsteht. Dabei wird auch dargelegt werden, warum für Cavell alle Versuche, den Skeptizismus zu widerlegen, ins Leere laufen müssen. Sie werden unser Gefühl des Abgeschnittenseins von der Welt und von anderen nicht lindern können. Cavell setzt sich natürlich vor allem mit den anti- skeptischen Argumenten der Philosophie der normalen Sprache auseinander. Anders als Austin denkt er nicht, dass man mit ihrer Hilfe das Problem des Skeptizismus zum Verschwinden bringen kann. Dennoch erweist sich ihm die Philosophie der normalen Sprache in diesem Kontext als alles andere als nutzlos, weil sie uns neue Zugänge zum Skeptizismus verschaffen kann. Unter anderem werden wir erkennen können, dass der Skeptizismus bezüglich anderer Psychen grundlegender ist als der Skeptizismus bezüglich der Gegenstände in der Welt. In Kapitel II wird dann deutlich, warum der Skeptizismus für Cavell vor allem der Ausdruck einer Enttäuschung über unsere Sprache ist. Zunächst wird das holistische Sprachbild, das Cavell von Wittgenstein geerbt hat, dargelegt. In einem nächsten Schritt wird ausgeführt, warum der Skeptizismus über unsere Sprache Eingang in unser Denken findet. Hier wird vor allem die Wittgensteinsche Kriterien-Diskussion eine Rolle spielen. Schließlich wird erklärt, warum Cavell unser Verhältnis zur Welt nicht als eines des Wissens, sondern der Anerkennung beschreibt. Auch Cavells Begriff des Gewöhnlichen wird hier eingehender betrachtet. Aus der Untersuchung wird hervorgehen, dass jeder Versuch, den Skeptizismus zu widerlegen, uns nur noch mehr von der Welt und von anderen abschneidet. Ich folge hier vor allem Cavells Darstellungen in den ersten Teilen von Der Anspruch der Vernunft und dem frühen Text Wissen und Anerkennen. Kapitel III ist als ein Experiment angelegt. Ich werde den vierten Teil von Der Anspruch der Vernunft, der sich um das Problem 24 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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der anderen dreht, mit dem Lied Where I End and You Begin von Radiohead zusammenbringen. Ich halte dieses Lied, dem ich den Titel meiner Arbeit entlehnt habe, für eine ästhetische Darstellung einiger mit dem Problem der Getrenntheit und Andersheit verbundener Phänomene. Es geht dabei vor allem um Vorstellungen und Phantasien, die ich mir vom anderen und seinem Innenleben mache – etwa die Phantasie, wir müssten enger verbunden sein als wir es sind. Des Weiteren geht es um unsere Angewiesenheit auf kommunikativen Ausdruck und um unsere Verantwortung für unsere Äußerungen. Das Lied beweist auch deswegen eine bemerkenswerte Nähe zu Cavell, weil es zeigt, dass Phantasien bestimmter Art und nicht angenommene Verantwortung in diesem Bereich zu einer Gewalt gegen den anderen werden. Bevor ich mich dem konkreten Lied zuwende, werde ich fragen, welches »Mehr« an Erkenntnis die Verbindung von Philosophie mit Popmusik liefern könnte. Außerdem werde ich mich mit dem Status ästhetischer Urteile bei Cavell auseinandersetzen. Kapitel IV ist Cavells Shakespeare-Interpretationen gewidmet. Cavell versteht die Tragödien William Shakespeares als Fallstudien des Skeptizismus. Er liest sie aber nicht lediglich als Illustrationen dieser Problematik, sondern als eigenständige Beiträge. Philosophen könnten seiner Ansicht nach aus ihnen Aufschluss über die Natur des Skeptizismus gewinnen. Den Zweifel am Wissen über andere stellt Cavell bei den Protagonisten dieser Stücke überraschenderweise als eine Leugnung des eigenen Wissens dar. Die Leugnung soll von dem eigentlichen Problem dieser Charaktere ablenken: Der Angst vor Schwäche und Abhängigkeit. Spätestens bei Shakespeare wird ganz augenscheinlich, dass die Fälle von Skeptizismus in lebensweltlichen Umständen alles Fälle von Liebe sind. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Shakespeare der Schlüssel zu Cavells Verständnis des Skeptizismus ist. Ich werde hier Cavells Lektüren von König Lear, Othello und Das Wintermärchen eingehender betrachten. Schon bei den Tragödien Shakespeares ging es Cavell um Ehepaare, in Kapitel V rückt das Thema Ehe nun ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei ist die Ehe zunächst ein Bild für eine glückliche Verbindung mit der Welt und mit anderen, die eintreten kann, nachdem wir unsere Getrenntheit trauernd anerkannt haben. In seinem Begriff der Trauer stützt sich Cavell auf Thoreaus Walden und einige Essays Emersons. Im zweiten Teil des Kapitels wird Cavells Interesse für die Ehepaare in einigen Filmkomödien der dreißiger 25 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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und vierziger Jahre beleuchtet werden. Cavell betitelt diese Filme selbst mit Komödien der Wiederverheiratung, weil es in ihnen um verheiratete Paare geht, die sich erst trennen und dann wiederfinden. In der Struktur dieser Filme, in der ein verlorener oder nicht möglicher Bund betrauert werden muss, um einen neuen Bund zu ermöglichen, erkennt Cavell eine Wiederkehr der Ideen Emersons und Thoreaus. Auch bei ihnen wurde eine Rückkehr zur Welt erst möglich, nachdem ein imaginierter enger Bund zur Welt betrauert wurde, weil erst dies einen neuen – getrennten – Bund möglich macht. Bei Shakespeare hatte Cavell den Skeptizismus zum ersten Mal als ein Problem beschrieben, das von den mit der Moderne entstandenen Unsicherheiten und Freiheiten hervorgerufen wurde. In seinen Arbeiten zu den Filmkomödien versucht Cavell zu zeigen, dass diese Unsicherheiten auch unsere Ehen und Paarbeziehungen betreffen. Nachdem weder die Gesellschaft noch Gott oder die Kirche uns sagen kann, dass diese Ehe »gut« ist, muss jede Ehe in sich, muss jeder Partner für sich nach Legitimationen der Ehe suchen. Dass dies mit einer immensen ontologischen Verunsicherung verbunden ist, hat die Soziologin Eva Illouz (* 1961) in ihrem Buch Warum Liebe weh tut eindrücklich ausgeführt, weswegen ich ihre Untersuchung mit dem Cavellschen Credo verbinden möchte, dass jede Ehe sich selbst begründen muss. Ich werde dabei weit über das hinausgehen, was Cavell zu diesem Thema gesagt hat und die Ehe als eine bedeutungskonstitutive Gemeinschaft beschreiben. Dabei wird auch das bei Shakespeare und in den Filmkomödien verhandelte Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit, das auch bei Illouz vorkommt, nochmal diskutiert. Die für dieses Kapitel wichtigen Bücher Cavells sind Senses of Walden, Cavells Buch über Thoreaus Walden und die Filmbücher Pursuits of Happiness, Contesting Tears und Cities of Words. Kapitel VI ist in mehrerlei Hinsicht eine Zusammenfassung und nochmalige Verdichtung schon vorher aufgezeigter Grundzüge in Cavells Denken, verweist dann aber besonders auf die Dimension des Ethischen. Zunächst verfolge ich einen von Cavell angestrengten Vergleich zwischen seiner Philosophie und der Philosophie Emmanuel Levinas’ (1906–1995), die ohne Frage deutliche Verwandtschaften aufweisen. Genau wie Levinas beschreibt Cavell ein Trauma, das durch die Begegnung mit einem anderen entstehen kann. Allerdings ist Cavell säkularisierter als Levinas, denn bei ihm entsteht das Trauma nicht durch die Erkenntnis der Existenz eines unendlichen Gottes, 26 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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sondern allein durch die Erkenntnis eines endlichen anderen, der getrennt von mir existiert. Von einem ähnlich traumatischen Gefühl erzählt auch die Geschichte Das Leben der Tiere des südafrikanischen Autors John Maxwell Coetzee (* 1940). Dort ist eine Frau entsetzt von dem, was wir Tieren, diesen Wesen, die uns so ähnlich und doch so anders sind, antun. Die Philosophin Cora Diamond greift diese Geschichte auf und verbindet sie mit Motiven der Andersheit bei Cavell. Sowohl in der Auseinandersetzung mit Levinas als auch mit Coetzee geht es um die Verantwortung, die wir für die von uns getrennte Lebendigkeit haben – mag diese Lebendigkeit auch noch so anders sein als wir.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
Peter Singer (* 1946) hat einmal zu mir gesagt, es sei sicher ein interessantes Gedankenspiel sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Welt um uns herum wirklich existiert, eigentlich habe sich die Philosophie aber mit ernsthafteren, dringenden Problemen zu beschäftigen. 1 Damit meinte er natürlich, dass die Philosophie sich vor allem mit der Ethik beschäftigen sollte. »Was soll ich tun?« – das ist für Singer die entscheidende Frage der Philosophie. Tatsächlich ist der Skeptizismus bezüglich der Außenwelt einer der obskursten Bereiche der Philosophie, gleichzeitig ist er aber auch einer ihrer populärsten und hartnäckigsten. Angesichts der realen Schwierigkeiten, die unsere Leben immer wieder erschüttern oder stumm begleiten, scheint es wirklich ein dekadenter Luxus zu sein, sich zu fragen, ob es die Welt, die wir jeden Tag zu erfahren meinen, die Welt außer uns, wirklich gibt. Ist der Skeptizismus ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die Philosophie immer weiter von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt und sich so zunehmend irrelevanter macht, wenn sie denn jemals relevant war? Singers Aussage belegt, dass die Auseinandersetzung mit dem Außenweltskeptizismus auch innerhalb der Philosophie umstritten ist und häufig als uninteressant oder als Zeitverschwendung empfunden wird. 2 Der Vorwurf der Unwichtigkeit bzw. der Vorwurf, dass es sich beim Skeptizismus um kein echtes Problem handelt, ist dann auch das schlagkräftigste Argument gegen ihn. Der Eindruck der Abstrusität wird noch dadurch verstärkt, dass viele der im Schatten des Skeptizismus angestellten Überlegungen nicht nur von hypothe-
Dieses Gespräch fand im Rahmen eines Zeitungsinterviews statt, dass ich mit Peter Singer führte: Singer, Peter (Interview mit David Gern): »Sind Sie der gefährlichste Mann der Welt?«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. 07. 2011, S. Z6. 2 Stroud, Barry: The Significance of Philosophical Scepticism. New York 1984, S. viii. 1
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I. Die Urszene des Skeptizismus
tischer, sondern seltsamer Natur sind. Da geht es um Gehirne im Tank, Dämonen, die uns täuschen, Roboter, die wie Menschen aussehen oder um die Vorstellung, allein in einer Traumwelt zu leben. Der Skeptizismus ist für Nicht-Philosophen immer das beste Beispiel für die verrückten Sachen, mit denen Philosophen ihre Zeit zubringen. Diese Auflistung beweist aber auch, dass kaum ein philosophisches Thema die Phantasien so beflügelt, wie es der Außenweltskeptizismus tut. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Kulturerzeugnisse, die das Thema aufgreifen, wie die in diesem Zusammenhang immer angeführten Matrix-Filme, in denen die Existenz der Welt, wie wir sie sehen, in Frage gestellt wird, oder der auf einen Roman Philip K. Dicks basierende Film-Klassiker Blade Runner, der mit der Unsicherheit über die »Echtheit« der Mitmenschen spielt. 3 Ohne Frage wird der Skeptizismus als eines der zentralen Probleme der Philosophie wahrgenommen – immerhin war er von der griechischen Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis zu der von der Erkenntnistheorie geprägten Neuzeit in unterschiedlichen Formen stets präsent. Trotz dieses wiederkehrenden Auftretens des Skeptizismus bezüglich der Außenwelt und trotz der Fülle der Schriften, die sich mit ihm auseinandersetzen, stand also von Beginn an in Zweifel, dass er überhaupt wichtig ist – wichtig, über die akademisch-philosophische Debatte hinaus. Ist der Skeptizismus ein reales Problem? Und wenn ja, was beinhaltet es? Stanley Cavells lebenslange Beschäftigung mit dem Skeptizismus hatte immer zum Ziel zu zeigen, warum das, was die Philosophie Skeptizismus nennt, für uns lebensweltlich von Bedeutung ist. Der größte Teil seines philosophischen Schaffens ist der Aufgabe gewidmet zu beschreiben, wie unsere menschlichen Leben vom Skeptizismus durchdrungen sind. Sein Schwerpunkt liegt nicht auf der Frage nach der Existenz der Außenwelt, sondern er untersucht den Skeptizismus hinsichtlich unserer Begegnung mit anderen. Kann ich wissen, was in einem anderen vorgeht? Kann ich ihn wirklich kennen? Kann ich von ihm gekannt werden? Stellt unsere Sprache eine sichere Verbindung zwischen uns her? Oder ist mein Zustand der des ewigen Alleinseins? Sind diese Ängste berechtigt? Woher kommen sie? Wie Blade Runner. R: Ridley Scott. Vereinigte Staaten 1982./Matrix. R: Wachowski, Andrew/Wachowski, Lana. Vereinigte Staaten 1999./Dick, Philip K.: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? Zürich 1993.
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Eine »allgemeine« Definition des Skeptizismus
ist mit ihnen umzugehen? – Das sind die Fragen, die Cavell umtreiben. Dieses erste Kapitel hat die Aufgabe, kurz in das philosophische Problem des Skeptizismus einzuführen, um dann zu zeigen worauf Cavell reagiert und wie er darauf reagiert. Dabei werde ich auch den kartesischen Skeptizismus, Kants Erkenntnistheorie und die Philosophie der normalen Sprache ansprechen. Dieser knappe Überblick ist meiner Ansicht nach notwendig, um auch jene ins Boot zu holen, die nicht schon immer durch die Gewässer der Philosophie segeln. Die Urszene des neuzeitlichen philosophischen Skeptizismus sind Descartes’ Meditationen. Jedwede spätere Erkenntnistheorie reagiert auf die in ihnen aufgeworfenen Fragen. Auch Cavell bezieht sich hauptsächlich auf Descartes, 4 weswegen ich hier auch einen Überblick über den Verlauf der skeptizistischen Untersuchung in den Meditationen geben will. Cavells daran anschließendes eigenes Bild des Skeptizismus zeichnet sich durch Umfangreichtum, Exzentrik und Unabgeschlossenheit aus und es wird dieser ganzen Arbeit bedürfen, um es nachzuzeichnen. Deswegen werden in diesem Kapitel einige Fäden aufgenommen, die erst später weiterverfolgt werden können. Das Hauptanliegen ist hier, einen einführenden Eindruck zu vermitteln, warum Cavell den Skeptizismus für eine echte und ernstzunehmende Bedrohung hält und nicht nur für eine philosophische Gedankenspielerei. In diesem Zuge werde ich mich vom Außenweltskeptizismus zum Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen bewegen, erste lebensweltliche Bezüge herstellen und eine vorläufige Antwort geben, warum der Skeptizismus als Thema in der Literatur oder im Film genauso zuhause ist wie in der Philosophie.
Eine »allgemeine« Definition des Skeptizismus Der »Skeptizismus« ist »eine philosophische Richtung, welche die Skepsis zur Methode erhebt.« 5 Ein unaufhörlicher Zweifel, ein stän-
4 Cavell, Stanley: »Wissen und Anerkennen«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main 2002, S. 78. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »Knowing and Acknowledging«, in: Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say? Cambridge 1976, S. 238–266. 5 »Skeptizismus«, in: Brockhaus Philosophie. Mannheim 2004, S. 315.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
diges Hinterfragen, ist also die oberste Maxime dieser Denkrichtung. Das klingt erst einmal nach einer brauchbaren Anleitung zum (natur-) wissenschaftlichen Arbeiten, doch so wie sich, ausgehend von Descartes und Hume, der Begriff des Skeptizismus in der Neuzeit gewandelt hat, geht es bei ihm um weit mehr als eine kritische Grundeinstellung. Wenn man heute von Skeptizismus spricht, dann meint man eine Geisteshaltung, die nicht nur manches als zweifelhaft befindet, sondern der »nach eingehender Prüfung in mehr oder minder hohem Grade alles als fraglich erscheint.« 6 Der Skeptizismus ist geprägt von einem grundsätzlichen Misstrauen in die menschliche Fähigkeit, Erkenntnis zu erlangen und zu Gewissheit und Wahrheit vorzudringen. 7 Was im Skeptizismus also auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als unsere Möglichkeit, überhaupt Wissen über die Welt zu erlangen. Demnach müssen wir uns einen Skeptiker als jemanden vorstellen, der Aussagen trifft wie »ich kann nicht sicher sein, dass der Stuhl, den ich dort sehe, wirklich da ist«, »ich kann nicht wissen, was du denkst« oder allgemeiner: »wir können nichts wissen«, »wir haben kein empirisches Wissen« oder »wir können nicht wissen, was im Kopf eines anderen vorgeht.« 8 Des Weiteren unterscheidet man zwischen dem sogenannten Außenweltskeptizismus, der die Existenz der mich umgebenden Gegenstände bzw. die Existenz der Welt als Ganze bezweifelt, und dem Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen, der die Möglichkeit, Wissen über das »Innere« von anderen zu erlangen, bezweifelt. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, den Skeptizismus aufzufassen. Man kann ihn entweder als ein philosophieinternes Problem verstehen, dann ist er ein theoretisches Scheinproblem, eine mehr oder weniger interessante Spielerei, die nichts mit dem Leben der Menschen zu tun hat, oder man interpretiert ihn als den philosophischen Ausdruck einer lebensweltlichen Haltung. Cavell plädiert für Letzteres. Wie eingangs beschrieben, ist für Peter Singer die Beschäftigung mit dem Skeptizismus beispielhaft für eine Philosophie, die vor ihrer eigentlichen Aufgabe flieht, die eigentlich darin besteht, sich mit dem menschlichem Handeln auseinanderzusetzen, sozusagen den »echten« Problemen der Lebenswelt. Für Cavell dagegen hat der Skepti-
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Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik. Frankfurt am Main 1976, S. 35. Ebd. Viefhues-Bailey, Ludger H.: Beyond the Philosopher’s Fear. Aldershot 2007, S. 4.
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Eine »allgemeine« Definition des Skeptizismus
zismus entschieden etwas mit dem menschlichen Handeln zu tun, weswegen er für ihn auch von Bedeutung ist. Man könnte sagen, Cavells Schreiben ziele zu allererst darauf ab, das Ethische am Skeptizismus herauszuarbeiten. Das ist nicht falsch, doch würde man damit ignorieren, dass Cavell letztlich an einer Aufhebung der Aufteilung der Philosophie in verschiedene Schulen gelegen ist. Die Philosophie und ihre Geschichte möchte er anders beschreiben, »als sie sich Philosophen darstellt, die unter dem philosophischen Neuanfang in der Moderne die Reaktion Bacons, Descartes’ und Lockes auf das traumatische Ereignis der neuen Wissenschaft von Kopernikus, Galilei und Newton verstehen, in deren Augen sich die Philosophie vor allem mit den Grundlagen der menschlichen Erkenntnis der Welt – nicht des menschlichen Handelns in dieser Welt – befassen sollte. Die Philosophie der Moderne gilt weithin als von der Erkenntnistheorie, der Theorie des Wissens, beherrscht, wodurch die Bereiche der Moralphilosophie, der Ästhetik und der Religionsphilosophie zu etwas Sekundärem, Beliebigem werden. Was mir als Emersons Leistung erscheint, ist eigentlich nicht die Umkehrung dieser Hierarchie, sondern vor allem seine Weigerung, Philosophie in abgegrenzte Bereiche aufzuteilen – eine Möglichkeit, die zur vollen institutionellen Blüte gelangt, sobald die Philosophie sich in einer modernen Universität zu einer Disziplin unter anderen entwickelt.« 9
Typisch für Cavell ist hier, dass er sozusagen durch einen anderen Philosophen spricht. Dennoch ist das, was er für Emerson feststellt, zweifellos programmatisch für sein eigenes Werk. Aber obwohl er die Aufteilung der Philosophie in bestimmte Bereiche ablehnt, positioniert er sich doch klar auf der Seite derjenigen, die glauben, Philosophie solle sich mit den Grundlagen menschlichen Handelns beschäftigen. Somit verortet er sich auf derselben Seite wie Singer. Der Unterschied zwischen beiden liegt also nicht darin, dass sich der eine mit menschlichem Handeln beschäftigt und der andere nicht, sondern darin, dass Singer bezweifelt, der Skeptizismus habe etwas mit realem menschlichen Handeln zu tun. Für Cavell dagegen erhärtet schon die Nachdrücklichkeit, mit der der Skeptizismus in der Philosophie immer wieder auftaucht, den Verdacht, dass es sich bei ihm um ein »echtes« Problem handelt. Dieser Argumentation folgt auch Wilhelm Weischedel, wenn er schreibt:
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Cavell, Stanley: Cities of Words, S. 32.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
»Skeptizismus wie Ethik sind unabdingbare Elemente des gegenwärtigen Philosophierens, und zwar deshalb, weil sie beide notwendige Momente des heutigen Menschseins sind.« 10
Barry Stroud (* 1935), der einen von Cavell sehr verschiedenen Zugang zum Skeptizismus hat, der aber wie er ein Verteidiger der Wichtigkeit des Skeptizismus ist, formuliert dieses Konzept so: »Ich denke, was auch immer wir in der Philosophie suchen, oder was auch immer uns dazu bringt, die Fragen zu stellen, die wir nun auf bestimmte Weise stellen, muss etwas tief in unserer Tradition Verwurzeltes sein.« 11
Diese Zitate drücken die Überzeugung aus, dass die Fragen unserer gewöhnlichen Leben uns zwangsläufig in anderer Form in der Philosophie wieder begegnen, so wie sie auch in der Kunst eine andere Form annehmen. Die Philosophie wird als eine Dimension gewöhnlichen menschlichen Lebens begriffen, weil ihre Probleme genau dort ihren Ursprung haben. Das philosophische Nachdenken ist für Cavell nichts, das abgeschnitten vom restlichen Leben geschieht. Vielmehr beschreibt er es als eine Art natürlichen Impuls vernunftbegabter Wesen. Tatsächlich haben diesem Verständnis alltägliche Gedankengänge oder Gespräche, die einen gewissen Reflexionsgrad erreichen, durchaus philosophischen Charakter. Und weil die Philosophie so sehr zum Menschsein dazugehört, kann sie auch nichts sein, das nur an Universitäten geschieht. Im Alltag entstehen die philosophischen Probleme, auf die sich das ganze folgende Philosophieren bezieht – das Gewöhnliche als Ausgangs- und Endpunkt aller Philosophie, unser philosophisches Denken als Ausdruck unseres Lebens und unser Leben wiederum als geprägt von unserem philosophischen Denken. So offensichtlich dieser Gedanke ist, so schwer scheint es zu sein, ihn so weit wie nötig zu denken und ihn zu verinnerlichen. Cavell möchte die akademische Philosophie fortwährend an den Bezug zum Gewöhnlichen erinnern, da er der Überzeugung ist, dass sie es in ihrem Drang zum Abstrakten und Metaphysischen ebenso fortwährend vergisst. »Cavell meint offensichtlich, dass es keine philosophische Theoriebildung gibt, die sich nicht als Lebensform, d. h. als gelebte Alltäglichkeit, artikuliert.« 12 Entsprechend liest er Descartes’ Meditationen auch nicht als wissenschaftliche Versuchsanordnung, sondern 10 11 12
Weischedel: Skeptische Ethik, S. 13. Stroud: The Significance of Philosophical Scepticism, S. viii. Übersetzung D. G. Gabriel, Markus: Antike und moderne Skepsis. Hamburg 2008, S. 146.
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Der Verlauf des Skeptizismus in Descartes’ Meditationen
eben als Ausdruck einer lebensweltlichen Haltung. Einer Haltung, die ich gegenüber meiner Umwelt einnehmen kann.
Der Verlauf des Skeptizismus in Descartes’ Meditationen In Descartes’ Meditationen können wir verfolgen, wie die skeptizistische Untersuchung ihren Fortgang nimmt, wie der Skeptizismus sich entfaltet und an Macht gewinnt. Bemerkenswerterweise pendelt Descartes schon in der Eröffnung seiner ersten Meditation hin und her, was die Motivation seiner Untersuchung angeht. Einerseits betont er, dass Wissenschaftlichkeit sein Ziel ist, und der Skeptizismus seine Methode, andererseits finden sich hier schon erste biographische Bemerkungen: »Schon vor Jahren bemerkte ich, wie viel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen habe und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete; darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und von den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen, wenn ich später einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften errichten wollte.« 13
Descartes zieht sich in die Einsamkeit seiner Kammer zurück, um, wie er sagt, dort von allen Sorgen losgelöst und in ungestörter Muße alles, was er weiß, in Frage zu stellen. Er möchte so herausfinden, was er denn überhaupt mit Sicherheit wissen kann. Descartes stellt fest, dass es nicht nötig sein wird, allen bisher als wahr angenommenen Ansichten die Falschheit nachzuweisen. Da die Vernunft anraten würde, bei allem Zweifelhaften die Zustimmung zu verweigern, reiche schon aus, wenn er auch nur einen Anlass zum Zweifeln findet um eine vorher sicher geglaubte Überzeugung zu verwerfen. Auch müsse er nicht alle Überzeugungen, die er über die Welt hat, einzeln durchgehen, es genüge, wenn er an den Grundlagen zweifelt, sozusagen das Fundament untergräbt. 14 Dieses Fundament oder diese Grundlagen können nichts anderes als die Sinne sein, denn alles, was er bis heute für wahr hielt, empfing er »unmittelbar oder mittelbar von den Sinnen«. 15 Aber genau diese haben ihn schon oft Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia/Meditationen über die Erste Philosophie. Stuttgart 1986, S. 63. 14 Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, S. 63. 15 Ebd., S. 65. 13
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I. Die Urszene des Skeptizismus
getäuscht und es sei eine »Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben.« 16 Die »Klugheitsregel« kann Descartes noch in keine tiefe Skepsis stürzen. Zwar mögen ihn die Sinne zuweilen täuschen, es kann aber doch kein Zweifel daran bestehen, dass er hier am Ofen sitzt, seinen Winterrock trägt und dieses Blatt Papier in der Hand hält. Eine solche Vorstellung würde ihn in die Nähe von Wahnsinnigen bringen. 17 Doch ist es nicht so, fragt er sich weiter, dass er manchmal im Bett liegt und träumt, dabei aber denkt er sei wach und würde das, was er da träumt, wirklich erleben. Mit dem »Traumargument« entgleitet Descartes schließlich die Welt. Er hat schon so reale Träume gehabt, dass ihn nichts mit Gewissheit davon überzeugen konnte, dass er nur träumt. Und genauso wenig kann ihm jetzt etwas die Sicherheit geben, dass er wirklich wach ist. Dies alles, sein Leben, könnte ein ganz real wirkender Traum sein. Descartes muss sich eingestehen, dass er Wachen nicht vom Träumen unterscheiden kann und so alles um ihn herum unwahr sein könnte: »dass wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken, ja sogar, dass wir solche Hände, überhaupt solch einen Körper haben!« 18 Aber selbst, wenn ich träume, denkt er, muss es doch wenigstens die einfachsten und allgemeinsten Dinge geben, aus denen sich seine Träume zusammensetzen – die Farben, die Größe und die Anzahl der Dinge, die Zeit, während der sie existieren. »Denn ob ich nun schlafe oder wache: zwei und drei geben zusammen fünf, und das Quadrat hat nicht mehr als vier Seiten.« 19 Was aber wäre, wenn es statt eines gütigen Gottes nur einen bösen Geist gibt, der ihn unentwegt täuscht, ihn sich jedes Mal irren lässt, wenn er zwei und drei zusammenrechnet? Dieses so genannte »Genius-Malignus-Argument« entzieht Descartes jegliche Gewissheit. Er kommt zu dem Schluss, dass man an allem, was er »einst für wahr hielt, zweifeln könne, und zwar nicht aus Unbedachtsamkeit und Leichtsinn, sondern aus triftigen, wohlüberlegten Gründen.« 20
16 17 18 19 20
Ebd. Ebd. Ebd., S. 67. Ebd., S. 69. Ebd., S. 71.
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Der Verlauf des Skeptizismus in Descartes’ Meditationen
»Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott, der die Quelle der Wahrheit ist, sondern ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glauben, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von uns nur das Spiel von Träumen sei, durch die er meine Leichtgläubigkeit nachstellt. Mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn, sondern dass ich mir das bloß alles einbildete.« 21
Die Situation, in der sich Descartes am Ende der Ersten Meditation befindet, ist mehr als dramatisch. Er hatte ja begonnen zu zweifeln, um am Ende etwas Festes, Sicheres zu finden. Was aber könnte die Zerstörungskraft eines so totalen Skeptizismus überstehen? In seiner Zweiten Meditation stellt er fest, dass selbst wenn es einen Geist gibt, der ihn täuscht, es auch ein Ich geben muss, das getäuscht werden kann. Und wenn alles nur ein Traum wäre, dann müsste es auch ein Ich geben, das träumt. Außerdem muss ja irgendjemand existieren, der sich all diese Gedanken macht – ein jemand, der zweifelt. »Da es ja immer noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder phantasiert, selber nicht mehr zweifeln.« 22 »Nachdem ich so alles genug und übergenug erwogen habe, muss ich schließlich festhalten, dass der Satz Ich bin, ich existiere, sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei.« 23
Hier formuliert Descartes sein »Ego sum, ego existo – ich bin, ich existiere« 24. Das sehr viel bekanntere »cogito ergo sum – ich denke, also bin ich« wird oftmals fälschlicherweise in den Meditationen verortet, findet sich aber eigentlich im Discours de la méthode und in den Prinzipien der Philosophie. In den letzteren heißt es: »Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: Ich denke, also bin ich (lat.: ego cogito, ergo sum) von allen die
21 22 23 24
Ebd., S. 73. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 78.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt.« 25
Descartes’ Argumentationen eröffnen aber hier wie dort die Möglichkeit eines radikalen Solipsismus. Da er über nichts mit Sicherheit wissen kann außer über seine eigene Existenz, könnte er auch das Einzige sein, das existiert. Die Welt, die er wahrzunehmen meint, wäre dann nichts als seine Vorstellung. Er wäre ganz allein, »metaphysisch einsam«. 26 Wenn es nichts und niemanden mehr gibt außer das eigene Ich, dann ist es natürlich naheliegend zu fragen, wie denn dieses Ich beschaffen ist. Descartes hatte ja zuvor schon bewiesen, dass das tatsächliche Vorliegen seiner Hände, Augen und Glieder äußerst zweifelhaft ist. Übrig bleibt nichts als das Denken – reiner Geist. »Ich bin nun ein wirkliches und wahrhaft seiendes Ding. Was denn für ein Ding? Ich sagte ja: ein denkendes […]. Jener Komplex von Gliedern, den man den menschlichen Leib nennt, bin ich nicht …« 27
Descartes vollzieht hier die folgenschwere Trennung von Körper und eigentlichem Ich. Karl Jaspers (1883–1969) bemerkt, dass sich nach diesem Dualismus der Geist von den Einflüssen des Körpers befreien kann. Ich selbst bin eigentlich nur denkend, mit dem anderen, dem Körper, bin ich zwar verbunden, aber nicht eins. Ich bin schon als Geist ohne Körper eigentlich ganz. 28 Zumindest scheint Descartes sein Selbst als denkendes Wesen gewonnen zu haben. Doch besonders rosige Aussichten verspricht das nicht, denn er hat auf diesem Weg die ganze Welt verloren. Da sein Wissen auf die täuschungsanfälligen Sinneserfahrungen beschränkt ist und es keine Möglichkeit gibt, über diese hinaus zu gelangen, ist er für immer von der Welt abgeschnitten. Was auch immer er für seine Überzeugungen hielt, es kann sich dabei nicht um Wissen handeln. Er ist ein Gefangener seiner eigenen Vorstellungen. 29 Erwartungsgemäß sucht Descartes in der folgenden dritten Meditation einen Ausweg aus dem unerträglichen Zustand, in den ihn der Skeptizismus geführt hat. Da er selbst ja die einzig ihm verblieDescartes, René: Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg 2005, S. 14. u. 15. Eine knappe Definition des Solipsismus findet sich in: Gabriel: Antike und Moderne Skepsis, S. 22. 27 Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, S. 83. 28 Jaspers, Karl: Descartes und die Philosophie. Berlin 1937, S. 79. 29 Stroud, Barry: Das Problem der Außenwelt, S. 96 ff. 25 26
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Der Verlauf des Skeptizismus in Descartes’ Meditationen
bene Sicherheit ist, muss er dabei zwangsläufig von sich selbst ausgehen. Die Hypothese von einem Traum oder einem boshaften Dämon kann Descartes nur entkräften, wenn er beweist, dass es einen allmächtigen, gütigen Gott gibt, der uns nicht täuscht. Alle ihn umgebenden Gegenstände und Körper könnten allein seiner Vorstellungskraft entsprungen sein. Sie sind genauso endlich, wie er es ist. Die Vorstellung eines vollkommenen und unendlichen Gottes dagegen kann nicht in einem unvollkommenen und endlichen Wesen wie ihm entstanden sein. 30 Das heißt, dass sie von einem unendlichen und vollkommenen Wesen, also Gott, in ihn »eingepflanzt« worden sein muss. 31 Daraus folgt für Descartes, dass Gott notwendig existiert. Und dieser Gott kann kein Täuschergott sein, denn dann hätte er ja einen Mangel und wäre nicht mehr vollkommen. 32 Auf diese Weise gewinnt Descartes die Welt zurück. Er kann sich nun sicher sein, dass zwei und drei fünf ergibt und ein Quadrat vier Seiten hat, dass der Tisch oder der Stuhl dort drüben wirklich existiert, dass die Menschen, denen er tagein, tagaus begegnet, wirklich sind. 33 Descartes hätte damit durch den Beweis der Existenz Gottes die Existenz der Welt bewiesen. Er ist jetzt beruhigt, doch es ist ein wenig so wie in einem Horrorfilm, an dessen Ende der Held glücklich davon spaziert und im Gegensatz zum Zuschauer nicht merkt, dass das Monster noch lebt. Denn das Problem ist, dass Descartes’ Gottesund folglich auch sein Weltbeweis in keinster Weise überzeugend sind. Schon vor Erscheinen der Meditationen provozierte beides bei zeitgenössischen Denkern viel Widerspruch 34 und heute wird wohl niemand mehr eine solche theologische Widerlegung des Skeptizismus akzeptieren. Gerade im Vergleich zu den zwingenden Schlussfolgerungen der kartesischen Skepsis wirken diese antiskeptischen Argumente völlig kraftlos. So fühlen wir uns erst angezogen vom kartesischen Denken und dann im Stich gelassen. Descartes hat mit der Verlorenheit begonnen, wie wohl jede Philosophie mit Verlorenheit beginnt, doch anstatt uns aus ihr herauszugeleiten, hat er uns noch viel tiefer in sie hineingeführt und uns dann dort gelassen. »Nicht im Ursprung dieser Philosophie, sondern im Ergebnis ist der Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, S. 121. Ebd., S. 133 f. 32 Ebd., S. 134. 33 Musgrave, Alan: Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus. Tübingen 1993, S. 209 ff. 34 Ebd., S. 212 ff. 30 31
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I. Die Urszene des Skeptizismus
Verlust handgreiflich.« 35 Was bleibt, wenn die Zweifelsgründe unendlich überzeugend, die Argumente, die sie entkräften sollen aber ganz und gar schwach sind? »Weil sein Erkenntnisproblem letztlich ungelöst geblieben ist, befindet sich die Erkenntnistheorie seit Descartes auf der Suche nach einer erfolgreichen antiskeptischen Strategie, die nicht auf eine theologische Begründung angewiesen ist. Denn theologische Fragen sind wohl noch heftiger umstritten als erkenntnistheoretische, so dass man bloß vom erkenntnistheoretischen Regen in die theologische Traufe geriete.« 36
Der nachfolgenden Philosophie bleibt es nun überlassen, das zu erreichen, was Descartes misslang: einen Weg aus dem dunklen Ort zu finden, an den uns der Skeptizismus gebracht hat. Die Philosophen haben diese Aufgabe angenommen und die Erkenntnistheorie, die ganz im Bann des Skeptizismus steht, zu einer so dominanten philosophischen Strömung gemacht. In fast jedem Fall bedeutete das, dass sie versucht haben, einen Beweis für die Existenz der Welt und die Verlässlichkeit unserer Wahrnehmung zu liefern. Es sei unsere einzige Hoffnung, schreibt Stroud, die Thesen des Skeptizismus zu widerlegen, denn ihre Konsequenzen zu akzeptieren wäre verheerend. 37 Eine überzeugende antiskeptische Strategie wurde aber bis heute nicht gefunden, zumindest keine, die auch nur annähernd so überzeugend ist, wie das, was sie entkräften soll. Heißt das, dass ein Schleier bleibt, zwischen unseren Erfahrungen und der Wirklichkeit, eine Kluft zwischen uns und der Welt?
Humes Reaktion und die Instabilität des Skeptizismus David Hume (1711–1776) hat den Skeptizismus ganz ähnlich wie Descartes beschrieben. »Die Sinne liefern nur einzelne Wahrnehmungen ohne den kleinsten Hinweis auf etwas außerhalb und von uns Verschiedenem« 38, heißt es bei ihm. Hume nimmt die Bedrohlichkeit des Skeptizismus durchaus ernst und bezeichnet ihn als eine »Krankheit« und eine »philosophische Melancholie«. 39 Hume räumt 35 36 37 38 39
Jaspers: Descartes und die Philosophie, S. 79. Gabriel, Markus: Antike und Moderne Skepsis, S. 99. Stroud, Barry: Das Problem der Außenwelt, S. 98 f. u. S. 104. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Hamburg 1973, S. 347. Ebd.
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Humes Reaktion und die Instabilität des Skeptizismus
anders als Descartes ein, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, den Skeptizismus zu widerlegen. So versucht er auch nicht ihn argumentativ zu entkräften, sondern sucht nach einer Möglichkeit mit ihm zu leben. Seine Lösung ist so einfach wie naheliegend. Sie heißt Ablenkung: »Der große Überwinder […] der übertriebenen Prinzipien des Skeptizismus sind Handlung, Beschäftigung und die Verrichtungen des täglichen Lebens. Diese Prinzipien mögen in den Schulen blühen und triumphieren, wo es in der Tat schwierig, wenn nicht unmöglich ist, sie zu widerlegen. Sobald sie aber das Dunkel verlassen und durch die Gegenwart der wirklichen Dinge, die unsere Leidenschaften und Gefühle erregen, in Gegensatz zu den mächtigen Prinzipien unserer Natur treten, vergehen sie wie Rauch und lassen den entschiedensten Skeptiker in derselben Lage zurück wie andere Sterbliche.« 40 »[Es ist] ein glücklicher Umstand, dass die Natur selbst dafür Sorge trägt und mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige Überspannung von selbst sich lösen lässt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele Tricktrack, unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden. Wenn ich mich so drei oder vier Stunden vergnügt habe und dann zu jenen Spekulationen zurückkehre, so erscheinen sie mir kalt, überspannt und lächerlich, dass ich mir kein Herz fassen kann, mich weiter in sie einzulassen.« 41
Humes Lösung weist auf zwei zusammenhängende Eigenschaften des Skeptizismus hin. Die erste ist der Umstand, dass der Skeptiker während seiner Überlegung allein ist. 42 Es ist niemand bei ihm, wenn er den Weg des Zweifels geht, er ist einsam, wenn er die Welt verliert. Descartes hatte sich in die Einsamkeit zurückgezogen, war ungestört, von allen praktischen Sorgen befreit. Hume macht uns darauf aufmerksam, was passiert, wenn der Philosoph sein Kämmerlein verlässt und auf die Straße tritt, den harten Stein unter den Füßen spürt, anderen Passanten oder Autos ausweichen muss, ins Café geht und sich dort mit Freunden trifft, wenn er wieder ins Leben zurückkehrt, sich dem Alltag aussetzt und sich in Gesellschaft begibt. Der Skeptiker wird dann nicht anders können, als alles so zu behandeln, als sei es wahr. Er wird erkennen müssen, dass er seinen Skeptizismus schlicht 40 41 42
Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 201 f. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, S. 347. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 368.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
nicht leben kann. Aber noch mehr: Das Gefühl selbst wird sich nicht halten können, die skeptizistische Bedrohung, vorher so mächtig, verliert auf einmal alle Dringlichkeit. Auch Descartes bemerkte, wie mühevoll es sei, an den skeptischen Überzeugungen festzuhalten. Der Skeptizismus kann uns zwar ganz in seinen Bann schlagen, seine Wirkung kann aber auch ganz plötzlich verpuffen. Er ist wesentlich instabil. Und das ist die zweite Eigenschaft, auf die Hume aufmerksam macht. Die Instabilität des Skeptizismus lässt den Eindruck entstehen, dass irgendetwas grundsätzlich mit ihm nicht stimmen kann. Vielleicht gibt es den Skeptizismus gar nicht wirklich. Er könnte einfach nur ein erzwungenes Gedankenkonstrukt von Philosophen sein. Schließlich schrieb schon Descartes, wie mühevoll es sei, an den skeptizistischen Überzeugungen festzuhalten 43, so dass ein echter Zweifel an der Außenwelt in Wirklichkeit nur bei Wahnsinnigen vorkommt. 44 Da der skeptizistische Verdacht sofort von mir abfällt, sobald mich der »Charme der Gesellschaft« ablenkt, bleibe ich im besten Fall jemand, der zwischen zwei Gefühlen oszilliert – ein Oszillieren, das lebensimmanent sein könnte, wie Cavell mutmaßt. 45 Einerseits bleibt der Skeptizismus eine nicht zu leugnende Möglichkeit, die uns die Vernunft gebietet, andererseits würden sich nur Wahnsinnige so verhalten, als existierten die Dinge um sie herum nicht. Für den Nicht-Wahnsinnigen gibt es also immer einen Ausweg aus der Verfassung, in die uns der Skeptizismus bringt. Er kann jederzeit das einsame Zimmer verlassen und sich zurück in den Alltag begeben. 46 Aber genau diese Alternative existiert beim Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen nicht. Ich kann mich nicht einfach unter Leute begeben, um diesen Skeptizismus auszutreiben. In dem Moment, in dem ich beginne, daran zu zweifeln, dass die anderen ein »Innenleben« so wie ich haben, stehe ich vielleicht schon unter Leuten, wenn auch nur ganz am Rande. 47 Es gibt in diesem Moment keinen rettenden Alltag, in dem ich mich einfach zurückfallen lassen könnte, denn der Skeptizismus bezüglich anderer ist tief eingelassen in diesen Alltag. Meine Befürchtung, dass ich nichts über das Innere
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Descartes: Meditationen, S. 75. Ebd., S. 65. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 711. Ebd., S. 709. Ebd.
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Kants Reaktion auf den Skeptizismus und die menschliche Endlichkeit
anderer wissen kann, wird somit zu einer realen Angst, die mich andauernd begleiten könnte. Humes Lösung der Ablenkung greift bei Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen nicht mit der Unbedingtheit, die sie beim Außenweltskeptizismus hat. In einer deprimierenden Passage von Der Anspruch der Vernunft stellt sich Cavell vor, ein Kind würde in sein Studierzimmer platzen. Es würde ihn sicher aus einer Stimmung reißen, in der er meint, sein Wissen über die Welt der materiellen Objekte sei äußerst fraglich. Aber würde das Gleiche passieren, wenn er in einer ähnlichen Stimmung bezogen auf andere Menschen wäre? Natürlich würde er sich wahrscheinlich unterbrechen lassen und sich dem Kind zuwenden, aber käme er wirklich aus seiner Isolation heraus? Das Kind kann ihn nicht heilen von seiner Spekulation über das Fremdpsychische, es kann ihm nur einen gewissen Trost spenden, weil es nicht anders genug ist. Es ist nur, wie er es nennt, die erweiterte Basis für seinen Narzissmus. Was aber wäre, wenn ein wirklich anderer den Raum betritt? Er hätte direkt ein Beispiel für seinen Skeptizismus vor sich. 48
Kants Reaktion auf den Skeptizismus und die menschliche Endlichkeit Bevor ich den gerade eingeschlagenen Weg weiter verfolge, möchte ich noch mit wenigen Worten auf Immanuel Kants (1724–1804) Reaktion auf den Skeptizismus eingehen. Kant hat das Thema von Hume übernommen und begreift es genau wie dieser und Descartes vor ihm vor allem als ein Problem des Wissens von der Außenwelt. Kant nennt es einen »Skandal der Philosophie«, dass wir das Dasein der Dinge außer uns bloß auf Glauben annehmen müssen und dem Zweifel keine genugtuenden Beweise entgegenstellen können. 49 Dementsprechend sucht Kant nach einer vernünftigen Lösung, die über den als philosophisch unbefriedigend empfundenen Vorschlag Humes, sich abzulenken, hinausgeht. Der Skeptiker wird, wie wir bei Descartes gesehen haben, in seiner Untersuchung davon angetrieben, mehr Wissen zu erlangen. Diesem Wunsch, über das menschliche Wissen hinauszugehen, erteilt Kant eine Absage. Er 48 49
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 718 f. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998, S. 36.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
sagt, dass menschliches Wissen auf Erfahrung beschränkt ist. Das heißt, dass Erfahrung unsere einzige Möglichkeit ist, Wissen zu erlangen. Erfahrung besteht aus Erscheinungen. Jede Erscheinung ist die Erscheinung von etwas. Da wir Menschen auf Erfahrungen beschränkt sind, können wir die Erscheinungen der Dinge kennen, aber eben nicht die Dinge-an-sich, von denen die Erscheinungen Erscheinungen sind. Die Dinge-an-sich müssen wir in unserer Vernunft voraussetzen, wissen können wir sie nicht. 50 Der kantische Handel besteht darin, die Möglichkeit sicheres Wissen über die Welt zu erlangen zurückzubekommen, im Gegenzug aber das Wissen von den Dingen-an-sich aufzugeben. Mit dieser Konzeption begreift Kant den Menschen sozusagen als Bewohner zweier Reiche: dem Reich der Natur, das wir durch Erfahrung kennen können, und dem Reich der Freiheit, das unserer Erfahrung nicht zugänglich ist und das wir nur in unserer Vernunft voraussetzen können. Zu diesem Reich gehört zum Beispiel Gott, den wir nie beweisen, sondern an den wir immer nur glauben können. Kants Reaktion auf den Skeptiker und seine Angst, kein sicheres Wissen haben zu können, besagt, dass es einen Bereich gibt, über den wir nichts wissen können, dafür aber einen anderen, in dem wir uns unseres Wissens sicher sein können. Nur wenn wir versuchen, über die Grenzen menschlichen Wissens hinauszugehen, droht uns Verzweiflung in Form des Skeptizismus. Kant will sowohl das menschliche Wissen als auch den Skeptizismus in seine Schranken weisen. Mit dieser systematischen Lösung sieht Kant die skeptizistische Sorge beruhigt, das Problem ad acta gelegt. In Bezug auf den Skeptizismus liegt Kants große Leistung für Cavell darin: Während Kants Vorläufer wie Descartes oder Hume glaubten, dass wir die Dinge nicht wissen können, weil unsere Erfahrung beschränkt ist, sagt Kant, dass wir die Dinge nicht wissen können, weil wir auf Erfahrung beschränkt sind. Die Dinge-an-sich zu kennen, so wie sie sind, würde für Kant bedeuten, Gottes Wissen zu haben. Wir wären dann nicht länger Menschen. Die Erkenntnis dieser Beschränkung, schreibt Cavell, sei eine Erkenntnis der Vernunft über sich selbst. Die Erkenntnis der Beschränkung des eigenen Wissens ist eine Erkenntnis der Bedingungen des eigenen Wissens, und diese zu kennen bedeutet eine enorme Vergrößerung menschlichen Wissens. 51 50 51
Ich folge in dieser Darstellung Cavell. Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 30. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 75 f.
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Kants Reaktion auf den Skeptizismus und die menschliche Endlichkeit
Cavell übernimmt von Kant die Betonung der menschlichen Endlichkeit. Genau wie für Kant bedeutet für ihn der Versuch, über das menschliche Wissen hinauszugehen, einen Schritt in die Unmenschlichkeit. Die positive Lehre des Skeptizismus besteht für Cavell in der Erkenntnis, dass wir begrenzt sind. Der Skeptizismus ist seiner Ansicht nach nicht zu widerlegen, und wir müssen lernen, unsere Begrenzung anzuerkennen. Descartes dagegen hat mit seinem Wunsch, absolute Gewissheit über jeden Bereich der Welt zu erlangen, die menschliche Endlichkeit geleugnet. Cavell ist also wie Kant ein Philosoph der menschlichen Endlichkeit. Es ist aber keineswegs so, dass ihn Kants Konzeption vollständig zufrieden stellen würde. Kant ging davon aus, er habe mit seinem System den Skeptizismus in seine Schranken gewiesen und damit die Angst des Skeptikers beruhigt. Aber der Skeptizismus wurde von Kant ja nicht widerlegt – er kann Cavells und Kants Auffassung nach auch nicht widerlegt werden – und somit wurde auch der Zweifel nicht zum Verstummen gebracht. Der Skeptizismus wird nur in einer anderen Form fortgesetzt. 52 Cavell beruft sich auf Wittgenstein, wenn er schreibt, dass es keine finale systematische Form der Philosophie geben kann, die die metaphysische Spekulation für immer zum Erliegen bringt. Der Wunsch, die Menschlichkeit – das menschliche Wissen – zu überschreiten, ist so menschlich wie die menschliche Endlichkeit. Darüber hinaus ist überhaupt nicht klar, wann wir versuchen unsere Grenzen zu überschreiten. Bei Kant sah das alles so ordentlich strukturiert aus, aber wann gehen wir in unserem Umgang mit anderen Menschen mit einem bestimmten Wissensanspruch über unsere Möglichkeit des Wissens hinaus? Das ist überhaupt nicht einfach zu sagen. Hier herrscht keine Klarheit. Wir müssen es ausprobieren, schreibt Cavell. 53 Die Grenzüberschreitungen geschehen »ganz lässig, nebenbei«. 54 Mit größter Unauffälligkeit bewegen wir uns in den Bereich des Unmenschlichen. Unser Leben, meint Cavell, bleibt für immer ein Ringen mit dieser Versuchung. Keine Philosophie kann das beenden. Des Weiteren ist Cavell unzufrieden oder skeptisch mit Kants Idee eines Dinges-an-sich. Kant glaubte wirklich, es gäbe Dinge hinKorsmeier, Antje: Sprache erfahren. Stanley Cavells Bild der Sprache. Würzburg 2006, S. 70. 53 Cavell: Pursuits of Happiness, S. 77 f. 54 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 72. 52
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I. Die Urszene des Skeptizismus
ter den Dingen, über die wir nichts wissen können, ein Reich, zu dem wir keinen Zugang haben. Für Cavell kann das höchstens eines der Bilder sein, wie Wittgenstein sie gelegentlich entworfen hat. Kant hält mit dem Ding-an-sich die grundsätzliche Voraussetzung des Skeptizismus bei, nämlich dass es etwas gibt, das man wissen kann, wenn man Gott ist, aber das wir als Menschen nicht wissen können. 55 Unsere nicht vorhandene Kenntnis vom Ding-an-sich bleibt weiterhin ein Problem des Wissens. Stellt man sich das Ding-an-sich so vor, wie Kant es tut, dann sind die Dinge wie sie wirklich sind, etwas, von dem wir für immer ausgeschlossen bleiben. Wir können die Dinge-an-sich nicht kennen. Die Konsequenz wäre, dass unsere ganzen Erfahrungen schal werden. Das können wir nicht hinnehmen – so in etwa lautet die Kritik, die Cavell den Romantikern und den Amerikanischen Transzendentalisten Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson entnimmt. Der Schluss, den Cavell aus dem Zusammenbringen von all diesen Denkern ziehen wird, ist, dass unser Verhältnis zur Welt eines des Erfahrens und Erlebens und nicht eines der – sicheren – Erkenntnis ist. Ich habe mit der Kritik, die Cavell über Wittgenstein und über Emerson und Thoreau an Kant formuliert, zugegebenermaßen sehr weit vorgegriffen. Diese komplexen Zusammenhänge werden in den Folgekapiteln eine Rolle spielen. Da Kants Konzeption der menschlichen Endlichkeit durch die Begrenzung auf Erfahrung jedoch konstitutiv für Cavell ist, habe ich sie hier schon angeführt. Ich werde in Kapitel II über Wittgenstein und in Kapitel V über Emerson und Thoreau auf Cavells Beziehung zu Kant zurückkommen.
Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus Seit John Langshaw Austin in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts für einige Vorlesungen von Oxford nach Harvard kam, ist Cavell ein Anhänger der sogenannten »ordinary language philosophy«, die ich ab jetzt mit »die Philosophie der normalen Sprache« oder »die Philosophie der Alltagssprache« übersetzen werde. Da sich Cavell selbst als Vertreter dieser philosophischen Schule versteht, ist es wenig überraschend, dass er sich besonders mit ihrem Zugang zum 55
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 78.
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Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus
Skeptizismus-Problem auseinandersetzt. Dabei entpuppt sich Cavells Anhängerschaft als ambivalent, denn während die meisten Vertreter der Philosophie der normalen Sprache, allen voran Austin, den Skeptizismus zurückweisen, will Cavell zeigen, dass sich Austins Methoden ebenso gut dafür eignen, den Skeptizismus zu unterstützen, wie gegen ihn vorzugehen. 56 Seit ihren Anfängen hegt die Philosophie ein Misstrauen gegenüber unserer gewöhnlichen Sprache. Diese entsteht aus der diffusen Sehnsucht, mit mathematischer Präzision eindeutige und unmissverständliche sprachliche Aussagen machen zu können. Aus diesem Wunsch heraus muss unsere normale Alltagssprache inexakt, fallibel und nicht eindeutig erscheinen. Diese Skepsis gegenüber der gewöhnlichen Sprache finden wir auch in den Meditationen, wenn Descartes schreibt, dass er an den fehlbaren Worten hänge und sich »fast vom Sprachgebrauch irreführen« lasse. 57 Anfang des 20. Jahrhunderts verlegte sich ein ganzer Zweig der Philosophie, der fortan analytische Philosophie genannt wurde, darauf, philosophische Probleme möglichst genau zu formulieren und sie schließlich zu lösen, indem man nachweist, dass sie nur aus einem fehlgeleiteten Sprachgebrauch entstanden sind. Das Misstrauen der Philosophie in die gewöhnliche Sprache erreichte einen Höhepunkt, als verschiedene Vertreter der analytischen Philosophie, wie Bertrand Russel, Rudolf Carnap und der frühe Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus, postulierten, dass man eine ideale Sprache schaffen müsste, die ganz und gar den Gesetzen der Logik untersteht. 58 Nur so könne man philosophischen Fortschritt erreichen. Die Philosophie der normalen Sprache ist das Gegenprogramm zum Wunsch nach einer idealen Sprache. Sie hält unsere ganz normale alltägliche Sprache für keineswegs defizitär, sondern glaubt, dass sich gerade aus ihrer Mehrdeutigkeit und ihrer vermeintlichen Ungenauigkeit Erkenntnisgewinn erzielen lässt. Wenn wir in der Philosophie, so der Grundgedanke, wirklich etwas herausfinden wollen über uns und unser Leben, dann dürfen wir uns nicht aus der Sprache herausbewegen, die wir jeden Tag benutzen, die von unserem Leben geprägt ist und die unser Leben prägt. Diese Sprache ist unsere Umgangssprache, wir gehen in dieser Sprache miteinander um. Wir den56 57 58
Susan Neiman im Vorwort von: Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 22 f. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie S. 93. Von Savigny, Eike: Philosophie der normalen Sprache. Frankfurt am Main 1974.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
ken, sprechen, leben in ihr. Philosophische Probleme entstehen nach Ansicht dieser Denkrichtung nicht deswegen, weil unsere gewöhnliche Sprache nicht funktioniert, sondern dadurch, dass die Philosophen Wörter ihrem gewöhnlichen Sprachgebrauch entreißen und sie isoliert behandeln. Austin ist ohne Frage der bekannteste Vertreter der Philosophie der normalen Sprache, während Wittgenstein eher eine bedeutende Inspirationsquelle darstellt. Cavell kam wie gesagt über Austin zu dieser Philosophie, bewegte sich dann aber in seinen Interessen und Ansichten schon recht früh in seiner Karriere immer mehr in Richtung Wittgenstein. Aus der Tatsache, dass unser Leben untrennbar mit unserer Alltagssprache verwachsen ist, folgern die Philosophen der normalen Sprache, dass uns die Analyse der Sprache etwas über unser Leben verraten kann. Dazu muss die Sprache aber in ihrem gewöhnlichen Zuhause betrachtet werden. Wittgenstein nennt dieses Zuhause »Sprachspiele«. Er meint damit all die möglichen, alltäglichen Formen der Verwendung von Sprache. Beispiele für Sprachspiele sind: einen Befehl geben, einem Befehl folgen, eine Vermutung anstellen, einen Hergang berichten, einen Gegenstand beschreiben, einen Gegenstand nach einer Beschreibung zeichnen, eine Hypothese aufstellen und prüfen, Theater spielen, Rätsel raten, Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Singen, Beten etc. – eben alles was wir täglich mit unserer Sprache so tun. 59 In den Sprachspielen zeigt sich, welche Bedeutung die Worte im Alltagsgebrauch für uns haben. Oder wie Wittgenstein es in den Philosophischen Untersuchungen sagt: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« 60 Wenn wir die Worte in ihr Zuhause zurückführen, in die Sprachspiele, in denen wir sie benutzen, dann werden wir feststellen, dass sie eben mehrdeutig sind. Sie haben verschiedene Bedeutungen, abhängig von dem Kontext, in dem sie im konkreten Fall verwendet werden. Die Philosophen der normalen Sprache wollen also nicht mehr nach einem ominösen »Wesen der Dinge« suchen, sondern prüfen, wie die Worte in alltäglichen Zusammenhängen benutzt werden. Zu glauben, sie würden sich damit nur für Sprache interessieren, wäre aber völlig falsch verstanden. Sprache ist nicht ihr Thema. Sie haben die gleichen Themen, wie die traditionellen Philosophen, auch sie Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 2003, S. 26 (§ 23). 60 Ebd., S. 40 (§ 43). 59
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Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus
wollen etwas über die Natur von Dingen wie Wissen, Freiheit oder Bedeutung herausfinden. Aber anders als ihre Vorgänger fragen sie dabei nicht »Was ist die Natur von X?«, sondern »Wie wird X von uns in der Sprache gebraucht?« 61 Was etwas ist, wird nicht durch theoretische philosophische Abhandlungen definiert, sondern dadurch, wie wir es alltäglich in unserer Sprache benutzen. Die Philosophie, so lautet der Vorwurf, hätte jahrtausendelang über Begriffe wie Wirklichkeit, Wahrheit oder Freiheit nachgedacht, ohne darauf zu achten, wie wir alltäglich Wirklichkeit, Wahrheit und Freiheit anwenden. Worte, die auf diese Weise isoliert werden, befänden sich, wie Wittgenstein sagt, im »Leerlauf« 62, sie »feiern« 63 anstatt zu arbeiten. Was aus einer Philosophie, die auf diese Weise mit Sprache umgeht, entsteht, sei philosophische Nichtigkeit. 64 Eine Sprache, die auf absurde Weise ihrer Heimat beraubt wird, müsse zwangsläufig absurde Ergebnisse hervorbringen. So kommen die Philosophen der Alltagssprache zu dem Schluss, dass ein großer Teil der philosophischen Probleme aus der Verbiegung der natürlichen Ordnung der Sprache entsteht. Die Idee der Philosophen der normalen Sprache ist nun jene: Wenn die philosophischen Probleme durch die Verbiegung der natürlichen Ordnung der Sprache entstanden sind, dann können die Probleme durch das Rückgängigmachen dieser Verbiegung auch zum Verschwinden gebracht werden. Wittgenstein formuliert das Credo der Philosophen der Alltagssprache: »Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – Wissen, Sein, Gegenstand, Ich, Satz, Name – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muss man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.« 65
Das Zurückführen der Wörter in ihre Heimat ist die Kur, die die Philosophen der normalen Sprache der ganzen Philosophie verordnen. Die Worte sollen aus dem umherschweifenden 66, metaphysischen Ebd., S. 4. Ebd., S. 87 (§ 132). 63 Ebd., S. 38 (§ 38). 64 Cavell, Stanley: »Wittgenstein als Philosoph der Kultur«, in: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 97. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »Declining Decline«, in: Cavell, Stanley/Mulhall, Steven (Hrsg.): The Cavell Reader. Cambridge 1996, S. 321–352. 65 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 82 (§ 116). 66 Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 99. 61 62
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I. Die Urszene des Skeptizismus
oder leerlaufenden Zustand wieder in die Zusammenhänge – die Sprachspiele – gestellt werden, in die sie ursprünglich gehören und in denen sie ihre eigentliche Bedeutung haben. Damit wollen sie herausfinden, ob sich die philosophischen Probleme als sinnvoll und berechtigt erweisen, oder eben als absurd und gegenstandslos. Die Methode, derer sich die Philosophen der normalen Sprache bedienen, nennt Cavell »projektive Imagination«. Das ist, wie er zugibt, ein ziemlich hochtrabender Begriff für etwas eigentlich ganz Einfaches, das wir jeden Tag tun. Mit projektiver Imagination meint Cavell nichts anderes, als sich vorzustellen, was man in einer bestimmten Situation tun würde. Es geht also darum, sich auf eine fiktive Situation einzulassen. Genau auf diese Fähigkeit zielen die Philosophen der normalen Sprache ab, wenn sie ihre Beispiele anbringen. Wenn Austin fragt »Was würden wir sagen wenn … ?« dann ist das eine Aufforderung sich vorzustellen, wie wir unter den beschriebenen Umständen handeln würden, was wir sagen würden. 67 Fragen dieser Art können von jedem kompetenten Sprecher einer Sprache beantwortet werden. 68 Um den Skeptizismus zu widerlegen, müsste man ihm an irgendeiner Stelle Unvernünftigkeit nachweisen. Natürlich erheben alle klassischen Erkenntnistheoretiker Anspruch auf Vernünftigkeit. Für Descartes war der skeptizistische Zweifel ja gerade ein Gebot der Vernunft. Die ganze Überzeugungskraft der skeptizistischen Untersuchung hängt davon ab, dass es sich bei ihr um alltägliche Überlegungen handelt, bei denen »jeder, der überhaupt sprechen und wissen kann«, einsehen muss, dass sie für das behandelte Problem von Bedeutung sind. 69 Potentiell jeder kann diese Gedanken nachvollziehen, den Weg des Skeptikers nachgehen, was beileibe nicht von allen philosophischen Überlegungen gesagt werden kann. Es ist also, wie Cavell darlegt, »von entscheidender Bedeutung, dass weder Hume noch der Descartes der Meditationes oder ein anderer aus der Reihe der klassischen Epistemologen von Descartes über Locke und Moore bis Price wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen scheint. Sie stellen keine Sammlung mehr oder weniger verworrener Tatsachen und rätselhafter Phänomene zusammen, um diese dann theoretisch zu erklären. Ihre einheitliche Methode besteht 67 68 69
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 257. Ebd., S. 258. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 232.
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Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus
vielmehr in einer, wie Hume es nennt, gründlichen und intensiven Reflexion, aus der sich, wie er sagt, auf natürliche Weise skeptische Zweifel ergeben. 70
Die Philosophen der Alltagssprache wollen nun anhand der projektiven Imagination, dem Hineinversetzen in fiktive, aber alltägliche Situationen, nachweisen, dass etwas nicht stimmt an der skeptizistischen Überlegung, dass sie unvernünftig ist. In Fremdseelisches (Other Minds) führt Austin, der eine besondere Vorliebe für Vögel hatte, folgendes Beispiel an. Man stelle sich vor, ich sage zu einem Freund: »Im Garten sitzt ein Stieglitz.« Mein Freund kann mich daraufhin fragen: »Woher weißt du das?« Worauf ich wiederum antworten kann, indem ich Dinge sage wie »Wegen seines Verhaltens«, »Durch die Zeichnung seines Gefieders« oder »Wegen seines roten Kopfes«. Das mag den anderen zu der Frage provozieren, ob ich mir ganz sicher sei. Natürlich kann ich mir nicht immer ganz sicher sein. Ich könnte mich überraschenderweise irren und der Vogel könnte davonfliegen, bevor ich meine Behauptung überprüfen kann. Es wäre auch möglich, dass ich anstatt eines lebenden Stieglitzes einen ausgestopften vor mir habe. Aber trotz dieser Einwände kann ich mir schon so sicher sein, um mit völliger Berechtigung sagen zu dürfen, dass das ein Stieglitz ist. 71 Selbst wenn ich mich irre, und das kann diese sehr knappe Darstellung von Austins Argumentation hoffentlich zeigen, wird mein Begriff des Wissens dadurch nicht fragwürdig. Es ist eben die Art und Weise, wie wir »Wissen« im Alltag gebrauchen. Der Begriff lässt eine gewisse Möglichkeit des Irrtums zu, ohne dabei seine Bedeutung zu verlieren. Wir sind uns im Alltag der Möglichkeit, Irrtümer zu begehen, vollkommen bewusst und unsere Sprache schließt diese Möglichkeit mit ein. Der Mensch ist fehlbar und seine Sinne irreführend, das ist aber wie Austin schreibt, keinesfalls gewohnheitsmäßig der Fall. Descartes hatte von der Tatsache, dass uns die Sinne gelegentlich täuschen, darauf geschlossen, dass wir unseren Sinnen ganz und gar nicht trauen dürfen. Eine solche Erkenntnistheorie, die zuerst Cavell, Stanley: »Der Zugang zu Wittgensteins Spätphilosophie«, in: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 86. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »The Availability of Wittgenstein’s Later Philosophy«, in: Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say? Cambridge 1976, S. 44–73. 71 Austin, John L.: »Fremdseelisches«, in: Austin, John L.: Wort und Bedeutung. München 1975, S. 62 ff. 70
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I. Die Urszene des Skeptizismus
die menschliche Möglichkeit zu Irren leugnet, um sie dann doch zuzugeben und daraus die Existenz von Wissen und Erkenntnis in Frage zu stellen, ist laut Austin wertlos oder vergeblich. 72 Weil unser Wissensbegriff ebenso wie von mir beschrieben funktioniert und wir uns dessen auch bewusst sind, versucht Austin zu zeigen, dass sich die Frage des Skeptikers in alltäglichen Zusammenhängen überhaupt nicht stellt. Sie stellt sich nicht, weil es keinen Grund gibt sie zu stellen. »Der Zweifel […] hat immer eine spezielle Grundlage (muss sie haben); es muss einen Grund zu der Annahme geben, dass [etwas] nicht wirklich ist, und zwar im Sinne einer spezifischen Möglichkeit oder begrenzten Anzahl spezifischer Möglichkeiten …« 73
Descartes meinte, er hätte »triftige, wohlüberlegte Gründe« 74 zu zweifeln. Es stellt sich Austin aber so dar, als hätte Descartes nur die grundsätzliche Möglichkeit zu zweifeln ergriffen. Einen Grund diese Möglichkeit zu ergreifen gab es laut Austin aber nicht. Weder Descartes’ Morgenrock, noch das Feuer im Kamin oder der Zettel in seiner Hand haben sich irgendwie komisch verhalten. Alles war wie immer. Um besser zu verstehen, was Austin meint, wenn er sagt, dass die Frage des Skeptikers sich nicht stelle, muss man sich nur einmal die Absurdität der Situation vorstellen, wenn unser Freund mit den ornithologischen Defiziten von »Woher weißt du, dass es ein Stieglitz ist?« und »Bist du dir sicher?« direkt auf »Was wissen wir denn?« und »Wie können wir überhaupt etwas wissen über die Welt?« käme. Wir würden ganz sicher annehmen, dass der Freund nun verrückt geworden ist. Aus all dem folgern Austin und die meisten anderen Philosophen der Alltagssprache, dass der Skeptizismus als ernsthaftes Problem abgetan werden muss, er wird zu einem philosophischen Scheinproblem, das durch einen mangelhaften Sprachgebrauch entstanden ist. Es sei offensichtlich, dass es in alltäglichen Zusammenhängen keinen Grund gäbe, nach der Existenz der Dinge zu fragen und dass der Philosoph, der trotzdem an der Frage festhält, entweder »kapriziös oder blind« ist. 75 72 73 74 75
Ebd., S. 81. Ebd., S. 67 f. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, S. 71. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 123.
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Auf diesen Vorwurf seiner neuen Kritiker kann der traditionelle Erkenntnistheoretiker reagieren, indem er antwortet, es sei doch offensichtlich, dass die Frage gestellt werden muss. Dass sich die Frage normalerweise nicht stellen würde, sei kein Einwand, »im Gegenteil: das enthüllt nur die Selbstzufriedenheit des gesunden Menschenverstandes, die Unzulänglichkeit der Alltagssprache.« 76 Cavell hält sowohl Austins Widerlegungsversuch des Skeptizismus als auch die Antwort des Erkenntnistheoretikers auf diesen Versuch für zutiefst dogmatisch. Die Verteidigung des Erkenntnistheoretikers, die Ablehnung des alltäglichen Verstandes und der alltäglichen Sprache, lässt völlig außer Acht, dass sich seine Frage nach der Existenz der Dinge, die schließlich zum Skeptizismus führt, überhaupt nur stellen muss und kann, weil es eine gewöhnliche Frage ist, die jeder akzeptieren kann. Wie ich weiter oben schon dargelegt habe, hängt die ganze Überzeugungskraft der erkenntnistheoretischen Untersuchung davon ab, dass es eine Überlegung des gewöhnlichen Menschenverstandes ist, eine Möglichkeit, die jedem offen steht und die folglich auch kommuniziert werden kann. Der Erkenntnistheoretiker, der sich derart im Widerspruch zum Gewöhnlichen versteht, macht sich etwas vor. 77 Austins Argumentation wiederum ist für Cavell auf eine Weise dogmatisch, die das eigentliche Anliegen der Philosophie der Alltagssprache geradezu konterkariert. Cavells Einwand gegen die Reaktion des Erkenntnistheoretikers zieht auch bei Austin: Die Frage des Erkenntnistheoretikers kann durchaus in gewöhnlichen Zusammenhängen gestellt werden. »Wissen« kann auch im Alltag so benutzt werden, wie es der Erkenntnistheoretiker tut. Und auch wenn die Frage bleibt, warum der Erkenntnistheoretiker Wissen ausschließlich im Sinne von völliger Gewissheit anwendet, trägt unser Begriff von Wissen beide Bedeutungen, das menschlich fallible Wissen, sowie die völlige Gewissheit. Austins Argument, der Skeptiker habe keine Grundlage für seinen Zweifel, wird, wie Cavell darlegt, dadurch fragwürdig: »Einfach zu sagen, wie es die Philosophen der Alltagssprache tun, diese Frage stelle sich nicht, wäre in den Augen des Erkenntnistheoretikers eine Petitio Principii; denn für ihn hat sie sich ja bereits gestellt (zumindest hat
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Ebd., S. 123. Ebd., S. 123 f.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
ihm niemand das Gegenteil bewiesen), und zwar so, dass er dazu Wörter verwendet, die nicht offenkundig ihrer Bedeutung entfremdet sind (welche Bedeutung haben sie jetzt?).« 78
Der Philosoph der Alltagssprache kreiert eine fiktive alltägliche Situation und fragt dann, welchen Grund der Erkenntnistheoretiker habe, anzunehmen, ein Gegenstand könnte nicht real sein oder er würde sich in einem Traum befinden. Der Erkenntnistheoretiker kann darauf antworten, dass er in dieser Situation vielleicht keinen Grund habe, eine Situation könne aber anders sein, als sie scheint, und das müsse er berücksichtigen. Eine fiktive Situation, wie sie der Philosoph der Alltagssprache beschreibt, kann dagegen nicht anders sein. Es ist unmöglich, sie empirisch zu prüfen. Deswegen sind für Cavell die Methoden des Philosophen der Alltagssprache auch irrelevant für eine direkte Kritik der traditionellen Erkenntnistheorie. 79 Indem Austin die Philosophie der Alltagssprache für einen Versuch benutzt, den Skeptizismus zu entkräften, unterstellt er dem Skeptiker, er wäre der Sprache weniger mächtig. 80 Das impliziert auch, dass der Philosoph der Alltagssprache mehr Wissen habe als der Skeptiker, bzw. mehr Autorität als dieser, um darüber zu entscheiden, was vernünftig ist oder nicht. 81 Laut Cavell müsse das Ziel der Berufung auf die gewöhnliche Sprache aber eigentlich darin bestehen zu zeigen, »was der Skeptiker meint oder meinen muss und sogar: wie er meinen kann, was er sagt.« 82 Die Philosophie der normalen Sprache sollte also dazu beitragen, Klarheit über die Motivation des Skeptikers zu schaffen. Klarheit darüber was er uns eigentlich mitteilen will. Austin dagegen würde dadurch, dass er die Frage des Erkenntnistheoretikers, dessen Zweifel, nicht als Äußerungen eines menschlichen Wesens ernst nimmt, sondern sie als philosophische Spinnerei und damit als irrelevant abtut, sein eigenes philosophisches Vorhaben unterlaufen, nämlich Sprache als Äußerungen von Menschen an andere Menschen zu verstehen. Denn mit der Berufung auf das, »was wir normalerweise sagen«, gehe es nicht in erster Linie darum, bestimmten Aussagen, die sich nicht mit unseren alltäglichen Verständ-
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Ebd., S. 237. Ebd., S. 269. Cavell, Stanley: Wissen und Anerkennen, S. 40. Ebd., S. 41. Ebd.
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Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus
nissen decken, die Falschheit nachzuweisen, 83 sondern darum, bewusst zu machen »dass etwas in kommunikativer Absicht von Menschen gegenüber anderen Menschen gesagt (oder natürlich, geschrieben) wird, in bestimmten Kontexten, in einer gemeinsamen Sprache: daher ihre [Wittgensteins und Austins] Fixiertheit auf den Gebrauch der Ausdrücke. Ihre Bedeutung ist der Gebrauch verlangt Aufmerksamkeit dafür, dass das, was ein Ausdruck bedeutet, eine Funktion seiner Anwendung von Menschen bei bestimmten Gelegenheiten ist.« 84
Mit seinem Versuch, den Skeptizismus als reelles Problem zurückzuweisen, interessiert sich Austin nicht weiter für das Anliegen des Skeptikers. Das unterscheidet ihn Cavells Ansicht nach sehr von Wittgenstein, der wie wir in den folgenden Kapiteln sehr damit beschäftigt ist, was den Skeptiker umtreibt. Anstatt den Skeptizismus mit den Mitteln der Philosophie der normalen Sprache entkräften zu wollen, hält Cavell für viel spannender, herauszufinden warum sich dem Erkenntnistheoretiker die Frage überhaupt gestellt haben könnte. 85 Wenn Sprache zwischen verschiedenen Menschen in bestimmten Kontexten geschieht, dann gilt es zu untersuchen, was der Kontext des Skeptizismus ist. Cavell fordert damit, die ursprüngliche Frage des Erkenntnistheoretikers so ernst zu nehmen, wie der Philosoph der Alltagssprache das von uns in Bezug auf jede von einem Menschen gemachte Aussage verlangt. 86 Der Erkenntnistheoretiker wird damit nicht länger als denkendes Nichts betrachtet, als das er sich meist selbst begreift, sondern als eine Person, deren Philosophie durch die eigene Erlebnis-, Erfahrungs- und Gefühlswelt geprägt ist. Es sind wohlgemerkt auch die Erkenntnistheoretiker, die sich als »denkendes Nichts« begreifen. Deswegen kann die Wieder-Einbettung in einen Kontext vor allem auch ihnen Klarheit über sich selbst verschaffen. Einen Ausdruck, wie es die Philosophen der Alltagssprache vorschlagen, aus dem Exil zurückzuführen und »in seinem gewöhnlichen Zusammenhang zu betrachten, zwingt einen sich zu fragen: Ist es das, was ich an dieser Stelle sagen will?« 87 Die Philosophie
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Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 345. Ebd., S. 346. Ebd., S. 237. Ebd., S. 243. Ebd., S. 240.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
der normalen Sprache liefert damit eine Art Handwerkzeug zur Überprüfung der eigenen Sprache, damit aber vor allem ein Mittel zur Prüfung des Selbst. Wenn wir uns vorstellen, was wir in einer bestimmten Situation sagen oder tun würden bzw. in welchen Situationen wir bestimmte Sachen sagen oder tun würden, dann erlangen wir kein Wissen, das wir normalerweise empirisch nennen würden, sondern ein Wissen über uns selbst. Cavell nennt es ein Leitmotiv seiner Arbeiten, dass das Wissen von sich selbst als Phänomen und Quelle philosophischen Wissens in der modernen Philosophie als Thema verdrängt und verleugnet wird. 88 Uns an unsere Begriffsverwendungen zu erinnern und uns auf eine fiktive Situation einzulassen ist für Cavell die Rückforderung des menschlichen Selbst für die Philosophie. 89 Cavell möchte die Philosophie fortwährend daran erinnern, dass es keinen Gedanken ohne Träger dieses Gedankens gibt. Eine ziemlich präzise und einfache Ausführung dieses Konzepts findet sich in J. M. Coetzees Elizabeth Costello. Dort wird es »Realismus« genannt: »Der Realismus setzt die Idee voraus, dass Ideen keine autonome Existenz haben, nur in Dingen existieren können […] Dabei stellt sich heraus, dass der Begriff des Verkörperns von zentraler Bedeutung ist. In solchen Debatten sind Ideen nicht frei im Umlauf, und sie können es auch nicht sein: Sie sind an den Sprecher gebunden, von denen sie geäußert werden, und entstehen aus dem Nährboden persönlicher Interessen, nach denen die Sprecher in der Welt handeln.« 90
Was können wir aus dieser von Cavell inszenierten ersten Begegnung der Philosophie der normalen Sprache und dem Skeptizismus mitnehmen? Die Philosophen der normalen Sprache können den Skeptizismus nicht widerlegen, indem sie zeigen, dass der Zweifel des Skeptikers in gewöhnlichen Situationen nicht vorkommt. Der Skeptiker weiß selbst, dass sich seine Fragen normalerweise nicht stellen. Er kann aber auch vorführen, dass es durchaus möglich ist, sie mit den Mitteln unserer gewöhnlichen Sprache zu stellen und dass sie dann jedem Sprecher dieser Sprache vernünftig und berechtigt vorkommen werden. Weil dem so ist, nennt Cavell den skeptischen Zweifel natürlich. Gleichzeitig ist der Skeptizismus auch nicht ganz natür-
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Ebd., S. 255. Ebd., S. 267. Coetzee, John Maxwell: Elizabeth Costello. Frankfurt am Main 2006, S. 16 f.
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Die Philosophie der normalen Sprache und die Vernünftigkeit des Skeptizismus
lich, da, wie die Philosophen der normalen Sprache hervorheben, irgendetwas an der Art, wie der Skeptiker seine Fragen stellt, seltsam ist. 91 Um das Unnatürliche der skeptischen Argumente näher zu bestimmen, muss man noch einmal nebeneinanderhalten, wie der Skeptiker mit seinen Gegenständen, über die er etwas wissen will, umgeht und wie Austin nach den Objekten in seinen Beispielen fragt. Wenn Austin einen Vogel im Garten sieht und wissen möchte, ob es ein Stieglitz ist, dann fragt er nach Dingen wie der Größe, der Maske oder dem Gefieder. Nachdem er einige dieser Kriterien abgegangen ist, kann er sich ziemlich sicher sein, dass er einen Stieglitz vor sich hat. Der Erkenntnistheoretiker fragt danach, ob ein Tisch, ein Stuhl, oder wie bei Descartes ein Stück Wachs und ein Zettel in der Hand wirklich existieren, und er muss feststellen, dass er es nicht mit Sicherheit sagen kann. Der Unterschied zwischen Austin und dem klassischen Erkenntnistheoretiker ist: Bei Austin geht es um die Identifizierung bestimmter Dinge, wie zum Beispiel um die Identifizierung eines Vogels als Stieglitz, bei Descartes dagegen um ein Wissen um die Existenz der Dinge. 92 Austin macht aus dem erkenntnistheoretischen Problem eines der Objektidentifizierung. 93 Er sagt: Wir können durchaus etwas wissen, nämlich indem wir die Gegenstände anhand der Dinge, die wir über Gegenstände, zum Beispiel über Vögel, wissen, überprüfen. Austin hat recht, wir können auf diese Weise etwas über die Gegenstände, die wir sehen, wissen. Austin liegt aber falsch, wenn er meint, so den Skeptizismus widerlegen zu können, denn auch wenn ein Vogel richtig als Stieglitz identifiziert wurde, heißt das noch lange nicht, dass dieser Vogel nicht in Wirklichkeit ein Robotervogel oder die Illusion eines bösen Dämons ist. Hieraus können wir aber auch direkt ableiten, was seltsam an dem Beispiel des Erkenntnistheoretikers ist. Wenn Descartes sein Stück Bienenwachs betrachtet 94, dann stellt er die gleichen Fragen wie Austin. Er fragt nach Größe, Farbe, Form etc. Das sind aber, wie wir gerade festgestellt haben, Fragen der Objektidentifizierung und keine, mit denen man nach der Existenz eines Gegenstandes fragen
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Korsmeier: Sprache erfahren, S. 30. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 374. Ebd., S. 398 f. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, S. 89.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
kann. Der Skeptiker versucht anhand von Fragen, mit denen man normalerweise herausfindet, was ein Gegenstand ist, herauszufinden, ob er existiert. Er muss dann feststellen, dass er es nicht herausfinden kann und folgert, dass wir gar nichts wissen können. Dabei können wir etwas wissen, und zwar in Kontexten, wie sie Austin dargestellt hat, in denen es darum geht, einen Gegenstand zu identifizieren. Unsere Sprache gibt uns keine Möglichkeit, die Existenz eines Dinges mit absoluter Gewissheit festzustellen. Über die Frage »Existiert dieser Gegenstand?« hinaus können wir nicht einmal nach der Existenz von Dingen fragen. Der Skeptiker, der nun versucht, sein Problem in die philosophische Sprache zu übersetzen, muss erkennen, dass die Sprache sein Anliegen »ablenkt«. 95 Es wird zu etwas anderem und ist nicht mehr das, was er eigentlich sagen wollte, weswegen der Skeptiker sein Problem selbst immer mehr aus dem Blick verliert. 96 Er kann seine Erfahrung nicht mit Worten einfangen – »als ob Worte zu schwach wären, um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Wenn der Skeptiker«, schreibt Cavell, »dieses Scheitern der (seiner) Worte nicht erkennt, dann ist das an dieser Stelle die angemessene Kritik an ihm.« 97 Aber es wird noch schlimmer: Dadurch dass die Kritiker des Skeptikers, wie zum Beispiel die Philosophen der normalen Sprache, das eigentliche Anliegen des Skeptikers nicht erkennen und auch nicht versuchen es zu erkennen, und ihn stattdessen auf unangemessene Weise kritisieren, wird das eigentliche Anliegen, das, worum es ursprünglich ging, philosophisch noch weiter abgelenkt. Um es zusammenzufassen: Weil der Skeptiker sich nicht im Klaren über die Natur seines Anliegens ist und nicht bemerkt, dass er an sprachliche Grenzen stößt, lenkt er sein Anliegen selbst ab, indem er es versucht philosophisch zu formulieren. Dann greifen es seine Kritiker auf und lenken es noch weiter ab. Das Ergebnis ist philosophische Verwirrung. 98 Cavell findet bei Wittgenstein eine Philosophie, der es gelingt für mehr Klarheit zu sorgen, weil sie einerseits das Problem des Skeptikers ernst nimmt, und andererseits aufzeigt, dass dieses Problem von anderer Gestalt ist, als der Skeptiker selbst angenommen hat.
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Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 66. Ebd. S. 50. Ebd., S. 66. Ebd.
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Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 1
Der hier behandelte Themenkomplex wird noch einmal im zweiten Kapitel auftauchen. Dort wird es heißen, dass wir zwar Kriterien haben, um die Identität von etwas festzustellen, aber keine Kriterien, um die Existenz von etwas herauszufinden. Der Skeptiker erschreckt darüber, dass wir mit der Sprache die Existenz eines Dinges nicht mit absoluter Sicherheit feststellen können. Aber das ist eigentlich keine Neuigkeit. Wie die Philosophie der Alltagssprache uns zeigen kann, setzen wir diesen Umstand normalerweise voraus und akzeptieren ihn. Wir fragen nicht, ob der Stieglitz oder der Tisch dort drüben wirklich existieren. Wir setzen es voraus und haben normalerweise auch keinen Grund zu zweifeln. Wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren, wird es noch offensichtlicher, dass es sich bei der Entdeckung des Skeptikers um ein einfaches Faktum unseres Menschseins handelt. Wenn wir mit Sicherheit wüssten, was in einem anderen vorgeht, dann müssten wir nicht mehr über »innere Vorgänge« mit anderen sprechen. Wir müssten uns nicht erklären oder rechtfertigen. Wir hätten ja so etwas wie eine telepathische Verbindung zueinander. Austin dachte, dass sich die Frage des Skeptikers deswegen nicht stellen würde, weil wir sie normalerweise nicht stellen. Cavell dagegen argumentiert, dass die Philosophie der normalen Sprache keine Verteidigung gewöhnlicher Ansichten sei. Vielmehr sei unsere Aufgabe zu erforschen, warum sich dem Skeptiker die Frage überhaupt gestellt hat. Warum kann er sich mit unseren gewöhnlichen Überzeugungen nicht mehr zufrieden geben? Warum hat er Angst, nichts mehr zu wissen? Warum versucht er etwas zu sagen, dass man offensichtlich nicht sagen kann? Diesen Fragen nicht nachzugehen und zu meinen, man könnte den Skeptizismus einfach widerlegen, würde auch bedeuten, eine menschliche Stimme nicht hören zu wollen.
Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 1: Philosophie und Literarizität Genauer zu beschreiben, was den Skeptiker eigentlich antreibt, wird Aufgabe dieser ganzen Arbeit sein. Was dieses erste Kapitel leisten soll, ist auf die Richtung einzustimmen, in die es gehen wird. Wie gesagt, spielt hier für Cavell die Projektive Imagination eine entscheidende Rolle. Wenn wir uns nun Descartes’ Meditationen ansehen, fällt auf, dass sie auffällig viele Hinweise auf die Situation und die 59 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
I. Die Urszene des Skeptizismus
Stimmung Descartes’ 99 enthalten. Dieser Text kommt dem Vorhaben, sich in den Kontext des Skeptikers hineinzuversetzen, auf halber Strecke entgegen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Descartes mit der wiederholten Betonung seiner rein wissenschaftlichen Motivation diesen Aspekt seines Textes leugnet. Aus einer Cavellschen Perspektive kann man behaupten, Descartes gäbe das klassische Bild des Erkenntnistheoretikers ab, der sich der eigentlichen Natur seines Zweifels nicht bewusst ist. Cavell weist verschiedentlich darauf hin, dass ganze Abschnitte bei Descartes ohne Argumentationen und Schlussfolgerungen auskommen. Stattdessen findet man in diesen Passagen eine Art autobiographische Erzählung. 100 Meine Darstellung des kartesischen Untersuchungsverlaufs sollte auch das illustrieren. Das sicher expliziteste Beispiel für den »erzählenden« Descartes finden wir am Anfang der zweiten Meditation: »Die gestrige Meditation hat mich in so mächtige Zweifel gestürzt, dass ich sie nicht mehr loswerden kann; und doch sehe ich keinen Weg zu ihrer Lösung. Mir ist, als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel geraten und würde so herumgewirbelt, dass ich auf dem Grund nicht Fuß fassen, aber auch nicht zur Oberfläche emporschwimmen kann.« 101
Descartes arbeitet an dieser Stelle sogar mit Zeitlichkeit und schafft dadurch eine Dramaturgie. Voller Grauen erinnert er sich an das Dunkel, in das er sich tags zuvor begeben hat, und er weiß, dass er nun genau dorthin zurück muss. Mit dem tiefen Strudel greift Descartes auf ein starkes, atmosphärisches und düsteres Bild zurück. Wenn das, was Descartes hier tut, »Erzählen« und nicht Argumentieren ist, und wir diesen Text als Philosophie bezeichnen, dann, so folgert Cavell, muss das heißen, »dass sich Philosophie nicht in Argu-
Ich bin mir bewusst, dass das »Ich« der Meditationen nicht mit der realen Person Descartes gleichzusetzen ist. Der Einfachheit halber, will ich mich aber der vom Autor geschaffenen Illusion hingeben und das Ich weiterhin Descartes nennen. 100 Cavell bezieht sich besonders auf die Absätze nach dem »ego sum, ego existo« (Descartes: Meditationen, S. 79). Cavell, Stanley: »Danebenstehen, Gleichziehen«. In: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 203. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »Being Odd, Getting Even«, in: Cavell, Stanley: In Quest of the Ordinary. Chicago 1988, S. 105–129. 101 Descartes: Meditationen, S. 77. 99
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Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 1
mentation erschöpft.« 102 Tatsächlich hält Cavell das Literarische wesentlich für die Kraft der Philosophie. 103 In diesem Sinne ist auch Cavells Mantra, dass Philosophie zur Literatur werden müsse 104 bzw. sich die Philosophie ab einem bestimmten Punkt in Literatur verwandle, 105 zu verstehen. Die Philosophie wird für Cavell zur Literatur, weil philosophische Prosa »notwendigerweise auf die eine oder andere Art gestaltet sein« muss. 106 Cavell spricht deswegen auch von der »literarischen Notwendigkeit« eines philosophischen Textes. 107 »Die Pointe hinsichtlich der Literarizität der Philosophie besteht darin, dass Stilistisches nicht als Ornament, sondern als essentielles Moment des Textes begriffen wird.« 108 Cavell beruft sich auf Emerson und Wittgenstein, wenn er sagt, dass Stil und Rhetorik genauso Teil der philosophischen Botschaft sind, wie das, was wir normalerweise Inhalt nennen würden. 109 Wenn Cavell sich für Stil, Klang und Tonfall eines Textes interessiert, dann geht es ihm dabei um zwei eng zusammenhängende Dinge: Erstens möchte er herausarbeiten, dass die Überzeugungskraft eines Textes weit über die Argumentation hinausgeht. Zweitens will er im Bewusstsein halten, dass Texte stets auf die Erfahrungen von Sprechern bezogen sind. 110 Es gibt für ihn immer einen jemand, um dessen Erfahrungen es geht. Das starke literarische Element der Meditationen ist unter anderen auch Karl Jaspers nicht entgangen. Er hält es ebenfalls für einen elementaren Teil ihrer Überzeugungskraft. Descartes attestiert er deswegen einen »ausgesprochen literarisch-ästhetische[n] Instinkt.« 111 Man muss sich nur einmal bewusst machen, dass in dieser Schrift ein einsames Studierzimmer, ein Lehnstuhl am Kamin, ein Morgenrock, ein Papier in der Hand und viele weitere solcher Be-
Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen, S. 203. Ebd. 104 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 786. 105 Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen, S. 203. 106 Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 113. 107 Cavell, Stanley: »The Investigations Everyday Aesthetics of itself«, in: Mulhall, Steven (Hrsg.): The Cavell Reader. Cambridge 1996, S. 380. Hier zitert nach: Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 113 f. 108 Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 114. 109 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 23. 110 Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 116. 111 Jaspers: Descartes und die Philosophie, S. 89. 102 103
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I. Die Urszene des Skeptizismus
schreibungen vorkommen, um zu erkennen, wie sehr Descartes bemüht war, eine fiktive Situation zu kreieren. Jaspers schreibt: »Eine merkwürdige Spannung liegt in diesen Schriften, die die reinste Wissenschaft überliefern sollen und zugleich Meisterwerke der Form sind. Die literarische Form enthält mehr als die Strenge des Gedankens.« 112
Dieses »Mehr« von dem Jaspers hier spricht, erinnert mich an einen Artikel des Schriftstellers Thomas Glavinic (* 1972), in dem dieser sich mit dem Autorenhandwerk auseinandersetzt. Dort heißt es, die Atmosphäre eines Textes sei »gewissermaßen der Bote dessen, was hinter dem Erzählten liegt«, sie würde vom »Wesentlichen« ausgeschickt. 113 Glavinic schreibt hier über Romane und ein philosophischer Text ist natürlich kein Roman. Doch wenn das Literarische, wie Cavell annimmt, Teil des Philosophischen ist, und die Atmosphäre wiederum essentiell für das Literarische, dann sollten wir die Philosophie auch hinsichtlich der Atmosphäre untersuchen, die sie kreiert. Könnte es nicht sein, dass wir sonst Gefahr laufen, das Geschriebene nicht im vollen Umfang zu erfassen, dass uns tatsächlich etwas vom Wesen des Textes entgeht? Die Atmosphäre oder die Stimmung eines Textes gehören zu seinem Kontext, zu der Situation des Sprechers, zu dem Sprachspiel, aus dem die Worte stammen. Soviel gesagt, sollten wir darüber nachdenken, ob wir die Atmosphäre der Verzweiflung, der Orientierungslosigkeit, der Düsternis und des Abgeschnittenseins nicht als Teil des Wesens der kartesischen Meditationen verstehen können. Cavell selbst vergleicht die Atmosphäre der Meditationen mit der eines »verruchten Tagebuchschreibers«, ähnlich der in Edgar Allen Poes (1809–1849) Die schwarze Katze. 114 Hier wie dort gerät ein einsamer Schreiber zunehmend in einen dunklen Strudel des Misstrauens gegenüber seiner Umgebung. Cavells Vergleich mit Poes Tagebuchschreiber hebt hervor, dass es in den Meditationen ein äußerst präsentes »Ich« gibt, das nach und nach verzweifelt und die Orientierung verliert, bis es schließlich meint sich wieder verorten zu können. Jaspers schreibt, der Leser sehe sich aufgefordert, »der Persönlichkeit des Descartes, diesem einmaligen Indi-
Ebd., S. 89. Glavinic, Thomas: »Das Handwerk des Romans«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 8. 2008, S. Z1. 114 Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen, S. 215. 112 113
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viduum, ins Angesicht zu blicken.« 115 Bei Descartes würden wir »die Darstellung des Denkens als Lebensschicksal« erleben. 116
Der Skeptizismus ist die Folge eines konkreten Erlebnisses 2: Der Skeptizismus beginnt mit einem Gefühl Die ganze Rede über die Relevanz des Skeptizismus, dem Kontext des Skeptikers, der düsteren Atmosphäre in den Meditationen und dem Ich, das dort auf dem Spiel zu stehen scheint, verfolgte den Zweck, sich einer ersten Antwort auf die Frage zu nähern, warum jemand beim geringsten Wissensanspruch, unter idealen Bedingungen, in denen es kein praktisches Problem gibt, zu zweifeln beginnt. 117 Schließlich gab es für Descartes in seinem Morgenrock am Kamin eigentlich keinen Grund, an der Existenz der Dinge zu zweifeln. Die erste Antwort, die Cavell findet und die zu neuen Fragen führen wird, lautet, dass alles mit einem Gefühl beginnt. Es ist ein Gefühl, dass etwas mit dem Wissen an und für sich nicht stimmt oder nicht stimmen könnte, 118 dass etwas an unserem Wissen faul ist und dass dem Rechnung getragen werden muss. »Meine Hauptthese zur originären Frage des Philosophen – z. B. (Wie) können wir irgendetwas über die Welt wissen? oder Was ist Wissen? Worin besteht mein Wissen über die Welt? – ist die, dass diese Frage (in dieser oder jener Form) eine Reaktion auf oder ein Ausdruck für ein konkretes Erlebnis ist, das sich uns Menschen aufdrängt […] Was für ein Erlebnis? Nun, selbstverständlich das Erlebnis oder das Gefühl, dass man auch nichts über die wirkliche Welt wissen könnte. Nur was für eine Art Erlebnis ist das? Wie oder wann taucht es auf?« 119
Für Cavell steht am Anfang der Untersuchung des Erkenntnistheoretikers ein Gefühl, das in lebensweltlichen Umständen, aus Erlebnissen im Alltag, entstanden ist. Der skeptizistische Zweifel ist dann, wie Gabriel bemerkt, »kein philosophisches Artefakt, keine plötzliche Entdeckung eines reinen Denkens, sondern Ausdruck einer Erfah-
115 116 117 118 119
Jaspers: Descartes und die Philosophie, S. 89. Ebd. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 245 f. Ebd., S. 246. Ebd.
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rung mit der auf eine bestimmte Weise gedeuteten Welt.« 120 Kann man dieser These folgen, erkennt man auch, warum Cavell glaubt, dass der Skeptizismus nicht argumentativ widerlegbar ist. Der philosophische Skeptizismus ist ein Ausdruck einer zutiefst menschlichen Regung. Die antiskeptischen Strategien, die versuchen, den Skeptizismus zu widerlegen, leugnen oder ignorieren damit einen Teil dessen, was es heißt ein Mensch zu sein. Den Skeptizismus einfach widerlegen zu wollen ist genauso sinnvoll wie der Versuch, unsere Sehnsüchte, zum Beispiel nach Nähe, oder die Angst vor Tod und Einsamkeit einfach widerlegen zu wollen. Eine Philosophie, die diesen Namen verdient hat, muss auf die Regungen des Menschlichen reagieren. Das heißt, sie muss sich mit dem beschäftigen, wovon der Skeptizismus ein Ausdruck ist. Sie muss versuchen, das Gefühl und die Erlebnisse zu beschreiben, aus denen er entsteht. Ich habe zuvor Descartes’ Meditationen als eine Urszene des Skeptizismus bezeichnet. Das schien insofern richtig zu sein, als dass die Meditationen den zentralen Bezugspunkt bilden, auf den alle folgende Erkenntnistheorie reagieren muss. Jetzt aber stellt sich heraus, dass man den Begriff der Urszene auch für jenes Ursprungserlebnis verwenden könnte, das zu einem grundsätzlichen Misstrauen in die menschliche Fähigkeit des Erkennens führt und auf das die skeptizistische Untersuchung selbst eine Reaktion darstellt. Was sind das für Erlebnisse? Eine Möglichkeit wären Situationen, in denen man sich seiner Sache völlig sicher war, dann aber doch feststellte, dass man sich offensichtlich irrte. 121 In »Der Anspruch der Vernunft« erzählt Cavell von einer Begebenheit, in der ihm genau dies passiert ist. Er fand einen Zettel mit dem Namen eines alten Freundes, der Uhrzeit seines Anrufs, dem Namen des Hotels, in dem er abgestiegen war, einer Telefonnummer und der Bitte um Rückruf. Die Telefonnummer war offenkundig die in seinem Hotel, denn sie stand unmittelbar unter dem Hotelnamen. Also wählte er die Nummer, ohne sich weitere Gedanken zu machen. Am anderen Ende meldete sich die Stimme einer Sekretärin, die sogleich eine typische Begrüßungsformel von Anwaltskanzleien, Anlageberatern, Versicherungs- oder Werbeagenturen herunterratterte. Er entschuldigte sich verwählt zu haben, hängte auf, und wählte die Nummer noch einmal. Doch am anderen Ende war wieder dieselbe Frauenstimme zu hören. 120 121
Gabriel: Antike und moderne Skepsis, S. 15. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 246.
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Wieder legte er auf. Ein Blick ins Telefonbuch zeigte ihm, dass die Nummer des Hotels nicht einmal Ähnlichkeit mit der auf dem Zettel aufwies. Es konnte beim Notieren der Nummer also kein Fehler geschehen sein. Erst jetzt wurde ihm plötzlich klar, dass die Nummer auf dem Zettel gar nicht die Nummer des Hotels war. Also rief er wieder an, bat darum seinen Freund sprechen zu können und ein paar Sekunden später hatte er ihn am Ohr. Tatsächlich war die Nummer auf dem Zettel die einer Werbeagentur. Der Freund war Schriftsteller und hatte für einige Zeit sein Talent verkauft. 122 Ein Erlebnis wie dieses, schreibt Cavell, hat eine Ähnlichkeit mit dem Ausgangserlebnis der klassischen Erkenntnistheorie. Es gibt ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, etwas, das nicht einfach übergangen werden darf. Dann die gedankliche Rekapitulation, um herauszufinden, wo sich ein Fehler eingeschlichen hat, und schließlich gibt es das Gefühl, dass dieses Erlebnis »eine Moral über das Wissen im Ganzen enthält.« 123 Es ist aber eben nicht mehr als eine Ähnlichkeit zu dem Erlebnis, dass am Anfang der cartesischen Untersuchung steht: »Die Moral, die ich aus dem Fall mit der falschen Telefonnummer gezogen habe – genauer gesagt, meine unmittelbare Reaktion darauf –, war die, dass ich aufhören muss, die Dinge so häufig für selbstverständlich zu halten, dass ich vor allem lernen muss, weniger rigide zu sein in meinen Ansprüchen, etwas über die Welt zu wissen. Die Moral […] ist sicherlich die, dass wir Menschen nun einmal fehlbar sind.« 124
Was aber aus dem Erlebnis mit der Telefonnummer auf keinen Fall folgt, ist, »dass wir metaphysisch wissensunfähig wären, d. h. dass wir vielleicht nichts über die wirkliche Welt wissen könnten.« 125 Um zu einem solchen Schluss zu kommen, bedarf es, wie Cavell schreibt, »eines Erlebnisses ganz anderer Ordnung.« 126 Nun ist es sehr auffällig, dass Cavell im Anschluss an seine Hauptthese – dass der Skeptizismus Ergebnis eines konkreten Erlebnisses oder Gefühls ist – kein Beispiel für ein solches Erlebnis nennt. Zwar sagt er, er könne bezeugen solche Erlebnisse gehabt zu haben, aber dann zieht er sich doch auf die alten, allgemeineren Bilder zu122 123 124 125 126
Ebd., S. 247 f. Ebd. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd., S. 251.
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rück. Die Welt sei ihm vorgekommen wie ein Traum oder wie ein unaufhörlicher Kulissenzauber. So als gäbe es eine Kraft, die uns in einer hypnotischen Verzauberung festhält und etwas vorgaukelt. Es stellte sich das Gefühl ein, er sei der Welt abhandengekommen, eingeschlossen in seinem eigenen Bewusstseinsstrom. 127 Dass Cavell hier im Allgemeinen verweilt, könnte ein Indiz für die Privatheit dieser Erlebnisse sein. Die Privatheit oder auch Innerlichkeit des Erlebnisses führt zu einer gewissen Gleichförmigkeit des Äußeren, wodurch die Möglichkeit, es zu beschreiben, erschwert wird und weswegen Cavell wohl auch wieder bei den altbekannten Bildern landet. Alles, was er tun kann, ist seine Situation zu beschreiben – »ich saß alleine in meinem Zimmer, als ich plötzlich das Gefühl hatte, abgeschlossen von der Welt zu sein« – und darauf zu hoffen, dass der andere ähnliche Erlebnisse rekapitulieren kann.
Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen Vielleicht verweist Cavells »Erlebnis ganz anderer Ordnung« aber auch darauf, dass wir, was das Ursprungserlebnis des Skeptizismus angeht, woanders suchen müssen, als im stillen Kämmerlein. Hume hatte uns darauf hingewiesen, dass der Skeptizismus bezüglich der Außenwelt instabil ist, da ich ihn nur so lange aufrechterhalten kann, wie ich nicht nach draußen gehe und mich von der Welt »fernhalte«. Insofern erscheint der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen relevanter und vernünftiger, denn auch in Gesellschaft anderer verschwindet er nicht. Vielmehr macht es Sinn anzunehmen, dass er gerade durch die Begegnungen mit anderen entsteht. Schien also der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen zunächst ein Sonderfall des Außenweltskeptizismus zu sein, so sieht sich Cavell schließlich dazu veranlasst, darüber zu spekulieren, dass der Skeptizismus bezüglich anderer grundlegender ist als der Skeptizismus bezüglich materieller Gegenstände. 128 Der bei Descartes dargestellte Zweifel an der Außenwelt könnte also durchaus eine Folge des Zweifels an den inneren Zuständen anderer Menschen sein. Cavell ist auf jeden Fall davon überzeugt, dass wir diese Richtung verfolgen soll-
127 128
Ebd., S. 251 f. Ebd., S. 142.
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Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen
ten, wenn wir verstehen wollen, worum es sich beim Skeptizismus eigentlich handelt. Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen stellt weniger die Frage danach, ob die anderen, die ich sehe, wirklich existieren – denn das wäre nur eine andere Weise, die Frage zu stellen, ob ich vielleicht träume. Worüber er sich Sorgen macht, ist die Art der Existenz der anderen. Der Skeptiker bezüglich des Fremdpsychischen zweifelt also nicht, dass diese anderen Körper da sind, sondern macht sich Gedanken darüber, was »in« diesen Körpern steckt, er fragt sich, wie das »Innere«, die Seele, die Psyche der anderen beschaffen ist. Eine extreme Ausprägung dieses Skeptizismus könnte die Furcht sein, dass die anderen, die ich bisher für meine Mitmenschen hielt, in Wirklichkeit hochentwickelte Roboter, Zombies oder Golems sind, die einfach nur so aussehen wie ich. Vielleicht sind sie ferngesteuert, dienen als Schauspieler irgendeinem teuflischen Plan oder vielleicht haben sie auch überhaupt kein Innenleben, sind nichts als Leere, und das Leben, das ich in ihren Augen auszumachen meine, nur eine Illusion. Vielleicht bin ich auch der einzige Mensch, der existiert. 129 Denn was sehe ich denn, wenn ich andere sehe? Ich sehe »ein menschliches Ding von einer bestimmten Größe, einem bestimmten Alter, einer bestimmten Farbe und Physiognomie, das so und so sprachliche Äußerungen von sich gibt.« 130 Eine Ahnung von dem Horror, den der Skeptizismus bezüglich anderer Menschen bedeuten kann, durchwehte schon die Meditationen. Descartes sagt dort, er sehe von seinem Fenster aus die Menschen auf der Straße vorübergehen. Doch dann hält er inne und fragt sich, was er denn wirklich sieht – nichts außer Hüten und Kleidern unter denen auch Automaten stecken könnten. 131 Den meisten Menschen werden diese Beispiele genauso abstrus vorkommen wie die Vorstellung, mein Leben sei nur ein Traum. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei um reelle Möglichkeiten. Cavell interessiert sich aber für subtilere Nuancen des Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen, die noch nicht in dem Bereich des Phantastischen liegen. Eine solche skeptische Überlegung könnte mit Fragen wie diesen beginnen: »(Wie) weiß ich denn, was jemand an129 Hammer, Espen: Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the Ordinary. Cambridge 2002, S. 60. 130 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 703. 131 Descartes: Meditationen, S. 93.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
ders empfindet oder denkt?«, »(Wie) kann ich wissen, ob er überhaupt etwas empfindet?« Was folgt, ist der übliche Lauf der skeptischen Untersuchung. Ich stelle die Frage, wie wir wissen, dass jemand wütend ist – und gebe mir die Antwort: durch sein Verhalten, durch das, was er tut. Dann beginne ich zu zweifeln: Könnte es nicht sein, dass der andere gar nicht so fühlt? Könnte er nicht genauso handeln, ohne dabei so zu fühlen. Vielleicht fühlt er etwas ganz anderes oder vielleicht fühlt er auch gar nichts. Ich komme zu dem Schluss, dass ich nicht weiß, was der andere fühlt und ziehe die Moral, dass ich es nie werde wissen können. Sein Verhalten muss sich nicht mit seinen Empfindungen und Gedanken decken. Nur er selbst kann wissen was in ihm vorgeht oder ob da überhaupt etwas ist. 132 So eine Konklusion wird Konsequenzen für mein Verhalten haben. Ich könnte aufhören, dem, was mir der andere von sich zeigt, zu vertrauen. Ich könnte jeder seiner Äußerungen mit Skepsis begegnen, sie daraufhin hinterfragen, ob sie auch wirklich das wiedergeben, was in ihm vorgeht. Mein Wissen, dass mich Menschen tatsächlich betrügen können oder dass ich mich in ihnen irren kann, wird mich darin immer wieder bestärken. Schließlich bin ich schon betrogen worden, habe ich mich schon geirrt. Die Problematik der Unmenschlichkeit der anderen kommt eher über diesen Weg in unser Verhältnis. Nämlich dann, wenn ich – bewusst oder unbewusst – einem anderen nicht das gleiche Menschsein, wie mir selbst zuspreche. Wenn mein Umgang mit ihm nicht von dem Wissen geprägt ist, dass er auf die gleiche oder eine ähnliche Weise leiden, vermissen und hoffen kann wie ich. Wir können hier schon sehen, wie gewöhnlich oder unauffällig oder nah an unseren Alltagspraktiken der Skeptizismus bezüglich der anderen ist. Cavell beschreibt ihn als einen zunächst unauffälligen Begleiter unseres Lebens, der ganz beiläufig unseren Alltag in den Griff nehmen kann. Die Gewöhnlichkeit des Skeptizismus zeigt sich auch in der skeptischen Konklusion: Wenn der Außenweltskeptiker feststellt, dass er sich bezüglich der Gegenstände um ihn herum nicht sicher sein kann, ist das ein Schock. Wenn man dagegen feststellt, dass man über das Innere von anderen nicht mit Sicherheit Bescheid wissen kann, dann ist das letztlich trivial. 133 Der positive Erkenntnisgewinn des Skeptizismus besteht damit 132 133
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 279. Cavell, Stanley: Philosophy the Day after Tomorrow. Cambridge 2005, S. 149 f.
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Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen
in einer deutlichen Aufklärung über die conditio humana. Der Skeptizismus macht mir bewusst, dass ich, wie es auch Kant beschrieben hat, endlich bin. Ich werde mir der eigentlich offensichtlichen Tatsache gewahr, dass ich keinen direkten Zugang zum Innenleben anderer habe, dass ich in meinem Wissen über andere auf meine Wahrnehmung beschränkt bin. Alles was ich über die anderen weiß, ist das, was sie mir zeigen. Wir sind getrennt voneinander – das ist die Lehre des Skeptizismus. In unserem täglichen Umgang, wenn wir miteinander kommunizieren, wissen wir um diesen Fakt. Für den Skeptiker ist unsere Getrenntheit aber zum Problem geworden. Cavell definiert zwei Richtungen des Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen. Die aktive, in der ich befürchte, andere niemals wirklich kennen zu können und die passive, in der ich die Sorge trage, nie wirklich gekannt zu werden. 134 Das sind die Ängste, die den Skeptiker antreiben. Cavell nimmt an, dass der Skeptizismus heranreift, wenn die menschliche Getrenntheit in einem bestimmten »Fall« als unerträglich empfunden wird. Der philosophische Skeptiker zieht normalerweise einen Gegenstand als seinen »Idealfall des Wissens« heran, an dem er prüft, ob er etwas über die Welt wissen kann. Bei Descartes war es ein Stück Wachs oder die Gegenstände in seinem Zimmer. Dann stellt der Skeptiker fest, dass er sich der Existenz dieses Gegenstandes nicht sicher sein kann und verliert damit seine Möglichkeit des Wissens über die Welt. Descartes wanderte daraufhin weiter zu Gott. Wenn er über Gott wissen kann, dachte er, dann kann er auch über die Welt wissen. Cavell geht nun davon aus, dass auch der Skeptiker bezüglich des Fremdpsychischen einen solchen Idealfall des Wissens heranzieht und an diesem überprüft, was er über andere wissen kann. Dieser Idealfall wird nicht irgendein Mensch sein, sondern einer, in den er auf eine bestimmte Art und Weise investiert, einer, bei dem er sich größte Vertrautheit wünscht, bei dem ihn die Vorstellung, nicht über ihn Bescheid zu wissen, zutiefst ängstigen muss. Cavells Hypothese lautet, dass alle Idealfälle des Wissens von anderen letztlich Idealfälle der Liebe sind. 135 Für den weiteren Verlauf dieser Arbeit wird diese Annahme über den Idealfall des Wissens von anderen leitend sein. Wie wir später Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 702./Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 127. 135 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 756. 134
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I. Die Urszene des Skeptizismus
noch sehen werden, wird Cavell sie vor allem in seinen Schriften zu den Shakespeare-Tragödien und den Wiederverheiratungskomödien weiter verfolgen. Die Urszene des Skeptizismus wird im Folgenden als ein Erlebnis beschrieben, das mit einem Menschen verknüpft ist, den ich in die Position gebracht habe, dass er für mich die Möglichkeit andere Menschen zu kennen und von ihnen gekannt zu werden, sie zu verstehen und von ihnen verstanden zu werden, überhaupt repräsentiert – einem Menschen, von dem ich meine ganze Existenz abhängig mache. Dabei wird sich herausstellen, dass Cavell nicht versucht, einen einzigen skeptizistischen Weg zu zeichnen. Hilary Putnam hat über Cavell gesagt, dass er immer über Individuen spreche. 136 Und deswegen sind für ihn die Wege des Skeptizismus auch immer individuelle Geschichten. Cavell begreift den Skeptizismus bis heute als etwas, das es stets noch zu entdecken gilt und dessen Geschichten wir wieder und wieder beschreiben müssen. In diesem Bedürfnis des Nacherzählens kommen für Cavell Philosophie und Literatur zusammen. 137 Das Ursprungserlebnis des Skeptizismus stelle ich mir jetzt ungefähr so vor: Du kennst einen Menschen, der für dich für das Kennen von Menschen steht. Wenn du einen Menschen kennst, dann ihn. Du nennst ihn deinen Freund oder deine Liebe, und du weißt, dass deine Worte ihn in besonderer Weise erreichen und dass sie, und du mit ihnen, in besonderer Weise bei ihm aufgehoben sind. So ein Mensch bedeutet für die meisten ein Zuhause in der Welt. Doch es wird der Moment kommen, und er kommt unweigerlich, an dem dein Verstehen abrupt an ein Ende kommt. Es könnte eine seiner Handlungen oder eine seiner Überzeugungen sein, die du einfach nicht mehr nachvollziehen kannst. Du könntest entsetzt oder irritiert darüber sein, wie er etwas sieht. Du könntest dich davon zurückgestoßen fühlen, wie er über sein oder dein Leben urteilt. Vielleicht findest du ihn auch plötzlich skrupellos – so hättest du nie gedacht von ihm. Es könnte aber auch sein, dass du versuchst, ihm etwas Wichtiges von dir mitzuteilen und es ihn vollkommen unberührt lässt, er dein Leiden nicht erkennt und du damit plötzlich allein bist. Da wo vorher Vertrautheit war, zieht nun Fremdheit ein. Zwischen euch meinst du auf einmal einen Graben wahrzunehmen. Hilary Putnam im Nachwort von: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 266. 137 Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen, S. 219. 136
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Freuds Urszene und der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen
Bald fragst du dich, ob der andere so ist, wie du bisher dachtest oder eher so, wie er sich jetzt zeigt. Wenn du diesen Teil von ihm nicht kanntest, wie viel ist da noch, das du nicht kennst? Du hast dich einmal in ihm geirrt, könnte es da nicht sein, dass du dich generell in ihm irrst? Solltest du in Zukunft nicht vorsichtiger sein, bei dem, was du über ihn annimmst? Wovon kannst du dein Urteil abhängig machen? Solltest du nicht zurückhaltender in deinem Vertrauen ihm gegenüber sein, wenn du dir seiner nicht sicher sein kannst? Und wenn du sogar über ihn nichts wissen kannst, was kannst du dann bei anderen noch wissen? Wie kannst du über andere wissen? Die Skepsis entsteht aus der Erfahrung, dass vertraute Menschen ganz anders sein können als zuvor. 138 Das ist eine Erfahrung von Andersheit, die sich auch beschreiben lässt, indem man sagt, dass du ein Erlebnis, oder mehrere Erlebnisse nicht in das Bild einordnen kannst, das du dir bisher von diesem Menschen gemacht hast. Aber dieses Bild war es doch, weswegen du den anderen deinen Freund oder deine Liebe nanntest. Dein Bild von ihm wird unklar, deine Fähigkeit zu urteilen scheint dich zu verlassen. Aber um deinen Skeptizismus zu verstehen, müsstest du vielleicht begreifen, warum du dieses »andere«, dieses Fremde, nicht als einen Aspekt des anderen akzeptieren kannst. Was würde das für dich bedeuten?
Freuds Urszene und der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen Den von Freud geprägten Begriff der Urszene hatte ich ursprünglich ohne viel Überlegung für den Arbeitstitel dieses Kapitels gewählt, weil er mir ganz einfach passend erschien. Als ich dann, angeregt durch meine intuitive Wahl des Begriffes, die Freudsche Urszene und den Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen probeweise miteinander ins Spiel brachte, entstand bei mir ein Eindruck, dass uns die Urszene vielleicht tatsächlich etwas über den Skeptizismus verraten kann. Das wenige, was ich an dieser Stelle dazu zu sagen habe, möchte ich zunächst einmal als ein subjektives Gefühl oder persönliches Gedankenspiel kennzeichnen, das ich weder bei Cavell noch bei Freud direkt belegen kann. Wie wir aber sehen werden, wird die weitere Auseinandersetzung mit Cavell meinen Verdacht erhärten, 138
Gabriel, Markus: Antike und Moderne Skepsis, S. 146.
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I. Die Urszene des Skeptizismus
weswegen ich auch gelegentlich, vor allem in dem Abschnitt zu Othello, auf ihn zurückkommen werde. Mit Urszene bezeichnet Freud eine Situation, in der ein Kind den elterlichen Geschlechtsverkehr beobachtet oder aufgrund bestimmter Anzeichen vermutet oder phantasiert. Diese Szene wird meist als ein Akt der Gewalt von Seiten des Vaters interpretiert. 139 Im Kind erzeugt diese Urszene Wut und Hass. Den Aspekt der Aggressionen des Vaters gegen die Mutter möchte ich einmal außen vor lassen und mich ganz auf etwas konzentrieren, das Donald Winnicott (1896–1971) in »Die Fähigkeit zum Alleinsein« schreibt: »Man könnte sagen, die Fähigkeit eines Menschen zum Alleinsein hänge von seiner Fähigkeit ab, mit den durch die Urszene geweckten Gefühlen fertigzuwerden.« 140 Das Kind sieht die Eltern beim Verkehr, die in diesem Moment ganz offensichtlich zusammen sind, während es selbst dagegen zur selben Zeit allein ist. Es ist ausgeschlossen vom elterlichen Geschlechtsverkehr. Die Eltern teilen etwas, an dem das Kind nicht teilhaben bzw. nicht teilnehmen kann. Dieser Geschlechtsverkehr muss wie gesagt nicht beobachtet worden sein, sondern kann auch einfach vorgestellt oder phantasiert werden. Ich meine, dass die Phantasie, die anderen würden eine Welt teilen, von der man selbst aber ausgeschlossen ist und die Ängste und die Aggressionen, die aus dieser Phantasie entstehen, entscheidende Triebfedern des Skeptizismus sind. Die Phantasie, nicht Teil einer Welt sein zu können, von ihr ausgeschlossen zu sein, wäre die lebensweltliche Entsprechung des philosophischen Gedankens, keinen Zugang zur Welt zu haben. Doch da ich immer etwas bin, bin ich auch immer etwas anderes nicht, bin ich auch immer ausgeschlossen von etwas anderem. Das bedeutet nur, dass ich als dieser eine Körper geboren wurde – und kein anderer sein kann.
139 Laplanche, J./Polantis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1972, S. 576. 140 Winnicott, Donald Woods: »Die Fähigkeit zum Alleinsein« in: Winnicott, Donald Woods: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen 2006, S. 39.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Cavell hat von Wittgenstein ein bestimmtes holistisches Bild der Sprache geerbt. In diesem Kapitel geht es mir zunächst darum, dieses Sprachbild darzustellen, wobei ich Wittgensteins Schlüsselbegriff der Lebensform aus der Perspektive Cavells abhandeln werde (II.1). In einem nächsten Schritt werde ich zeigen, warum der Skeptizismus für Cavell eine notwendige Begleiterscheinung im Leben sprachbegabter Wesen ist. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den Wittgensteinschen Kriterien zu. Mit den Kriterien will Cavell aber nicht nur den Skeptizismus erklären, sondern auch die Tatsache veranschaulichen, dass wir Menschen miteinander im Einklang sind (II.2). In diesem ganzen Kapitel wird es um unsere Verantwortung in der Sprache und für die Sprache gehen, was schließlich in der Beschreibung des für Cavell zentralen Begriffs der Anerkennung münden wird. Dabei wird auch Cavells Konzept des Gewöhnlichen vorgestellt werden, da das Gewöhnliche vornehmlich etwas ist, das wir anerkennen müssen (III.3).
II.1 Sprache als Lebensform Die schreckliche Krise, in die David Lurie, der Protagonist von J. M. Coetzees Roman Schande, gerät, ist ohne Frage Folge seiner Sexualität und seines Älterwerdens. Ich denke, man kann behaupten, dass ihm beides aufgrund seiner immer mehr zunehmenden Entfremdung von allem und jedem zum Problem geworden ist. Diese umfassende Entfremdung schließt auch eine wachsende Distanz zu seiner eigenen Profession, der Literaturwissenschaft, mit ein. In einem Handbuch der Kommunikationswissenschaften findet er den folgenden Satz: »Die menschliche Gesellschaft hat die Sprache geschaffen, damit wir unsere Gedanken, Gefühle und Absichten mitteilen kön-
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
nen.« 1 Lurie erscheint eine solche Vorstellung von Sprache äußerst seltsam. Ohne es laut äußern zu wollen, glaubt er, »dass die Ursprünge der Sprache im Gesang liegen und die Ursprünge des Gesangs im Bedürfnis, die übergroße und ziemlich leere menschliche Seele mit Lauten zu füllen.« 2 Die Lehrmeinung, die Lurie im Handbuch findet, stellt Sprache als etwas dar, das Menschen geschaffen haben, um sie für ihre Zwecke zu benutzen. Sie ist ein Werkzeug, das eine bestimmte Arbeit – die Kommunikation – erleichtern soll. Darüber hinaus wird in diesem Satz impliziert, dass es schon eine Gesellschaft gab, bevor die Sprache existierte, und die Sprache erst von dieser sprachlosen Gesellschaft erschaffen werden musste. In Luries Vorstellung dagegen entwächst die Sprache aus einem Bedürfnis der menschlichen Seele selbst. Sie wird von ihm damit als untrennbar zum Menschsein gehörend begriffen. Als sei sie für das Menschsein ebenso natürlich und notwendig wie das Essen. Wenn Lurie meint, unsere Seele sei leer und müsse mit Lauten und später mit Worten gefüllt werden, dann kann das so verstanden werden, dass die menschliche Seele erst durch diesen Akt des Füllens beginnt, Gestalt anzunehmen. Die Seele könnte sich dann erst durch das Sprechen bilden. Entsteht der Reichtum unserer Seele erst durch das Sprechen, so kann man sagen, dass sie erst entsteht, wenn sie sich über diesen einen Menschen hinaus ausbreitet. Da sich im Sprechen auch die Seelen der anderen ausbreiten, lässt sich weiter sagen, dass die Seele nicht nur durch die eigenen Worte und Gesten entsteht, sondern auch durch die Worte und Gesten der anderen. Hängen die Entstehung der Sprache und die Entstehung der Seele auf diese Weise zusammen, dann müssen auch die Gesellschaft oder die grundlegendsten Formen der Gemeinschaft in einer Gleichzeitigkeit mit der Sprache entstehen. Insofern ist es bemerkenswert, dass Lurie sich am Ende von Schande daran macht, eine Oper zu schreiben. Auf mich wirkt das wie ein verzweifelter Wunsch, durch die gesungenen Worte der Oper den ursprünglichen Akt des Füllens der Seele und der Herstellung von Gemeinschaft zu wiederholen. Als meine Lurie, er könne sich damit selbst heilen, so seine Entfremdung von anderen überwinden und seine verlorene Gemeinschaft wieder herstellen. 1 2
Coetzee, John Maxwell: Schande. Frankfurt 2002, S. 8. Ebd., S. 8 f.
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Sprache als Lebensform
Ähnlich wie für Lurie ist für Wittgenstein die Sprache nicht nur eine menschliche Aktivität unter vielen, sondern untrennbar mit dem Menschsein verbunden. Während Lurie sich über die ursprüngliche Entstehung von Sprache Gedanken macht und damit ein Stück weit im Metaphorischen bleiben muss, interessiert sich Wittgenstein für das Erlernen von Sprache. Ich möchte nicht behaupten, dass Luries Vorstellung von Sprache Wittgensteins genau trifft. Dennoch ist auch bei Wittgenstein das Erlernen von Sprache ein Füllen oder Formen der Seele. Und ähnlich wie Lurie, der sich von einem Satz aus dem Handbuch für Kommunikationswissenschaften provoziert fühlte, beginnt auch Wittgenstein seine Philosophischen Untersuchungen mit einer Auseinandersetzung mit dem Sprachbild eines anderen, nämlich mit dem des Kirchenvaters Augustinus.
Was wir lernen wenn wir Sprache lernen Die Vorstellung, die Augustinus 400 n. Chr. vom Erlernen der Sprache hatte, dürfte noch heute den meisten auf den ersten Blick zustimmungswürdig erscheinen. Als er ein Kind war, schreibt Augustinus, nannten die Erwachsenen irgendeinen Gegenstand und wandten sich dabei diesem Gegenstand zu, zeigten auf ihn oder wiesen mit einer Geste auf ihn hin. Durch diese Zeichen und Gebärden lernte er, welche Dinge die Wörter bezeichneten. Nachdem er diese Wörter immer und immer wieder in verschiedenen Sätzen gehört und sich sein Mund schließlich an sie gewöhnt hatte, konnte er durch sie seine eigenen Wünsche zum Ausdruck bringen. 3 Es ist nicht direkt falsch, das Lernen von Sprache so zu beschreiben, wie es Augustinus tut, doch Wittgenstein findet, dass Augustinus eine unterkomplexe Vorstellung vom Lernen der Sprache hat und dementsprechend in seiner Darstellung viel zu kurz greift. 4 Wittgenstein schreibt: »Augustinus beschreib[t] das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese.« 5
3 4 5
Augustinus: Bekenntnisse. Frankfurt am Main 1987, S. 31 f. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 300. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 32 (§ 32).
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Das Kind hat aber, wenn es seine Muttersprache lernt, noch keine Sprache. Es muss erst noch diese erste Sprache lernen. Um eine solche hinweisende Definition, wie sie Augustinus schildert, zu verstehen, muss das Kind schon etwas wissen. 6 Es muss die Zeichen richtig deuten können, es muss zum Beispiel wissen, was »mit dem Finger auf etwas zeigen« bedeutet. Und woher soll das Kind wissen, ob der Erwachsene, wenn er auf einen Stuhl zeigt, den Stuhl selbst, seine rote Farbe, seine Form, das Holz aus dem er gebaut wurde oder vielleicht auch einfach »sitzen« meint? 7 Das sind alles Dinge, die ein Kind im Zuge des Spracherwerbs lernen muss. Ein Kind so zu beschreiben, wie es Augustinus tut, heißt das Kind als einen Erwachsenen zu beschreiben. 8 Dazu kommt, dass Augustinus offensichtlich nur ein sehr einfaches System der Verständigung, eine Art primitive Sprache im Kopf hatte, über die unsere menschliche Sprache weit hinausgeht. Jedes Wort ist bei Augustinus einem bestimmten Gegenstand zugeordnet. Er scheint bei Sprache vor allem an Hauptwörter wie »Stuhl«, »Tisch« oder »Brot« zu denken. Wenn wir aber einen normalen Satz heranziehen, wie zum Beispiel »Bitte gehe zum Laden und kaufe mir fünf rote Äpfel«, dann erkennen wir, dass die Hauptwörter nur einen Teil unserer Sprache ausmachen. 9 Zur Sprache gehören auch menschliche Konzepte wie »Bitten« oder »Kaufen«. Augustinus tut aber so, als würde das Kind diese Konzepte schon kennen und müsse nur die Wörter dafür lernen, »als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und denken hieße hier etwas wie: zu sich selber reden.« 10 Doch die Sprache ist, wie Wittgenstein betont, nichts, was unserem Denken einfach angehängt wird. Wenn wir denken, tun wir es fast ausschließlich in Sprache. »Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch Bedeutungen vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens.« 11 Ein Kind, das noch keine Sprache beherrscht, kann auch nicht denken, wie es ein vollwertiges Mitglied unserer Sprachgemeinschaft tut. Mit der Sprache lernt das Kind unsere Formen des Denkens und des Handelns. Selbst wenn wir ganz für uns allein sind, denken wir in SpraCavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 296. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 33 (§ 33). 8 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 300. 9 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen., S. 11 ff. (§ 1–3). 10 Ebd., S. 32 (§ 32). 11 Ebd., S. 174 (§ 329). 6 7
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Sprache als Lebensform
che. Unsere Gedanken sind durch Sprache strukturiert. Darauf will Wittgenstein hinaus, wenn er schreibt: »Stell dir Menschen vor, die nur laut denken könnten!« 12 Aber auch wenn wir ein Haus bauen, folgen wir Anweisungen, die uns in der Sprache gegeben werden. Und natürlich tun Philosophen ebenfalls nichts anderes als sprechen, wenn sie philosophieren. Sprache ist ihr Erkenntnisinstrument. 13 Wenn ein Kind ein Wort lernt, dann lernt es viel mehr, als ein Zeichen für einen Gegenstand und es lernt viel mehr, als was wir glauben, ihm zu lehren. 14 Mit den Wörtern lernt es, was die Dinge sind. Mit der Sprache lernt es Weltwissen. 15 Zu wissen, was ein Ding ist, bedeutet zu wissen, wie es in der Sprache benutzt wird. Lernt ein Kind das Wort Kürbis, dann lernt es dabei auch, dass ein Kürbis das ist, was auf dem Feld neben dem Haus wächst. Zu lernen, was die Dinge sind, bedeutet die dazugehörigen menschlichen Konzepte kennenzulernen, wie Cavell darlegt: »Im Lernen von Sprache lernt man nicht bloß, wie die Namen der Dinge lauten, sondern was ein Name ist; nicht nur, was das, in welcher Form ein Wunsch ausgedrückt wird, sondern was es heißt, einen Wunsch auszudrücken; nicht nur, was das Wort für »Vater« ist, sondern was ein Vater ist; nicht nur, was das Wort für »Liebe« ist, sondern was Liebe ist. Beim Erlernen von Sprache lernt man nicht bloß die Aussprache von Lauten und ihre grammatischen Ordnungen, sondern die Lebensformen, die solche Laute zu den Wörtern machen, die sie sind, die dafür sorgen, dass sie leisten, was sie leisten.« 16
Mit »Lebensform« sind wir, obwohl er von Wittgenstein keine zehn Mal erwähnt wird, 17 bei einem der mächtigsten und gleichzeitig diffusesten Begriffe Wittgensteins angekommen. Wittgenstein benutzt »Lebensformen« für die »Gesamtheit jener Bedingungen, Phänomene und Praktiken«, die für das menschliche Leben bestimmend sind. 18 Lebensformen sind die Dinge, die wir tun und die Art, wie wir sie tun. Zum Beispiel, dass wir und wie wir einkaufen, bitten, »gewisse HandEbd., S. 175 (§ 331). Staffeldt, Sven: Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen 2008, S. 22. 14 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 292 f. 15 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 23. 16 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 302. 17 Kober, Michael: Die Funktion des Begriffs der Lebensform bei Wittgenstein, S. 1. http://www.nida-ruemelin.de/docs/vortr_kober.pdf (7. 12. 11). 18 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 17. Vergleich auch: Kober: Die Funktion des Begriffs der Lebensform bei Wittgenstein, S. 3. 12 13
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
lungen strafen, den Tatbestand so und so feststellen, Befehle geben, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der Anderen interessieren.« 19 Der Begriff der Lebensform erinnert uns daran, dass all unser Handeln und Sprechen bestimmten Mustern folgt, dass es einen von uns geteilten kulturellen Bezugsrahmen gibt, an dem wir uns orientieren. Hatten wir zuvor festgestellt, dass alle Worte und Äußerungen in bestimmte Sprachspiele gehören, die ihren Kontext bilden, so sind die Lebensformen wiederum der größere Kontext, in dem die Sprachspiele betrachtet werden müssen. Die Lebensformen haben die Struktur von »Familienähnlichkeiten«: 20 Sie »übergreifen und kreuzen«, ergänzen und bestätigen sich – und es gibt kein Charakteristikum, das jede dieser Handlungsweisen aufzeigt. 21 So gibt es beispielsweise die übergeordnete Lebensform »Mensch«, zu der beispielsweise die Lebensform »Kochen« gehört. Ein Kürbis ist wiederum Teil dieser Lebensform, gehört aber gleichzeitig auch zu der Lebensform »Landwirtschaft«. Obwohl ein Kürbis nur sehr wenig mit beispielsweise Fußball zu tun hat, sind beides menschliche Lebensformen. Wittgenstein charakterisiert die Lebensformen als das »Hinzunehmende, Gegebene«, als die »Tatsachen des Lebens«. Die Lebensformen sind die unhinterfragten und nicht weiter gerechtfertigten Grundlagen unseres Handelns. 22 Sie sind einfach das, was wir Menschen machen. »Irgendwie […] hören mit der Erwähnung des Wortes Lebensform die philosophischen Erklärungen auf oder fangen die philosophischen Begründungen an.« 23 Wir können über die Lebensformen hinaus keine Begründungen geben. Sie selbst sind die letzten Begründungen. Wir müssen nicht weiter fragen, warum wir eine Handlung »danken«, »um Verzeihung bitten« oder »eine Hand zum Gruß heben« nennen. Wir machen diese Dinge, und wir machen sie auf eine bestimmte Weise, deswegen können wir auch sagen, wenn sie stattgefunden haben. Sie sind nur versteh- und durchführbar innerhalb von Konventionen, die von jedem anerkannt sind. Wittgenstein, Ludwig: »Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie«, in: Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Band 7. Frankfurt am Main 1984, S. 122. (§ 630). 20 Zu Erklärung von Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten, siehe: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 56 ff. (§ 66/67). 21 Kober: Die Funktion des Begriffs der Lebensform bei Wittgenstein, S. 1. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 3. 19
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Sprache als Lebensform
Aus Wittgensteins Rede von den Lebensformen als Hinzunehmendes und Gegebenes könnte man schließen, bei den Lebensformen handele es sich um etwas vollkommen Festes und Unveränderliches, das wir einfach akzeptieren müssen. So als hätten wir als Menschen keine Wahl, uns bestimmten Handlungsformen zu unterwerfen. Dieser Eindruck hat Wittgenstein nicht selten den Vorwurf des Konservatismus eingebracht. 24 Cavell leugnet diesen natürlichen bzw. ethnologischen Sinn der Lebensformen nicht, stellt diesem, wie er es nennt, horizontalen Sinn der Lebensformen aber einen vertikalen, also sozialen und konventionellen Sinn gegenüber. Seiner Meinung nach sind Lebensformen in der Wittgensteinschen Konzeption durch beides geprägt: durch natürliche Gegebenheiten menschlichen Lebens und durch soziale Umstände, die gegebenenfalls von den Menschen verändert werden könnten. Zur Ebene des horizontalen/natürlichen Sinnes gehören Tatsachen wie die Beschaffenheit unserer Körper. Dass wir Hände und Münder statt Schnäbel und Klauen haben, hat natürlich enormen Einfluss auf die Art, wie wir bestimmte Handlungen durchführen. Zur vertikalen/sozialen Ebene dagegen gehören zum Beispiel die Art wie wir zusammen essen, unsere Waren mit Geld tauschen, Ressourcen aufteilen, Verbrechen bestrafen oder uns gegenseitig begrüßen. 25 Diese Bereiche des Lebens könnten auch ganz anders sein, sie könnten theoretisch von uns verändert werden. Diese potentiell veränderbaren Anteile machen deutlich, dass wir auch Verantwortung für unsere Lebensformen tragen. Cavell zufolge trifft Wittgenstein aber keine Unterscheidung zwischen Natürlichem und Konventionellem, sondern bezeichnet beides einfach als Lebensformen, um deutlich zu machen, wie sehr sich beides gegenseitig bedingt. 26 So ist unsere eigentlich »konventionelle« Art zu danken uns letztlich zur Natur geworden. Oder ist die Weise, wie wir Trauer ausdrücken – mit Tränen und Schluchzen – nun natürlich oder konventionell? Wir müssen feststellen, dass für uns viele unserer konventionellen Tätigkeiten quasi-natürlich geworden sind. 27 Cavells Deutung nach, erweisen sich die Lebensformen als ein »Untersuchungsbereich,
Nyiri, Christoph: »Wittgensteins Spätwerk im Kontext des Konservatismus«, in: Wittgenstein, Ludwig: Schriften, Beiheft 3, Frankfurt am Main 1979, S. 83–101. 25 Cavell: »Wittgenstein als Philosoph der Kultur«, S. 103 ff. 26 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 17. 27 Ebd., S. 19. 24
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
in dem die tradierte Grenze zwischen Natur und Kultur bzw. Natur und Konventionen« fließend ist. 28 Kehren wir zurück zu dem Kind, das sprechen lernt. Es ist für Cavell viel zu kurz gegriffen, wenn man sagt, ein Kind habe nur ein Wort gelernt. Was es in Wirklichkeit gelernt hat sind unsere menschlichen Lebensformen. Wittgenstein schreibt, das »Sprechen einer Sprache«, sei »ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« 29 Sich eine Sprache vorzustellen, heiße, sich eine Lebensform vorzustellen.« 30 Cavell fasst das so zusammen: »Statt also entweder zu sagen, wir teilen Anfängern mit, was Wörter bedeuten, oder wir lehren sie, was Objekte sind, werde ich [Cavell] sagen: Wir führen sie in die relevanten, in der Sprache enthaltenen und um die Objekte und Personen unserer Welt versammelten Lebensformen ein.« 31
Das Kind wird ein Wort in einem bestimmten Kontext lernen. Wir können aber erst davon sprechen, dass das Kind ein Wort beherrscht, wenn es das Wort in möglichst vielen verschiedenen Kontexten gebrauchen kann, wenn es das Wort von einem Zusammenhang in andere Zusammenhänge projizieren kann. 32 Wenn wir zu einem Kind »Kürbis« sagen und dabei auf einen Kürbis zeigen, dann weiß das Kind noch nicht, was ein Kürbis ist. Alles was es weiß, ist, dass wir dieses eine orangene Ding dort drüben Kürbis genannt haben. Zu wissen, was ein Kürbis ist, bedeutet zum Beispiel zu wissen, dass es mehr als einen Kürbis gibt, dass es sich beim Kürbis um ein Gemüse handelt, dass er auf Feldern wächst, dass es von ihm viele verschiedene Sorten gibt, die sehr unterschiedlich aussehen, dass er in vielen Ländern populärer ist als in Deutschland, dass man aus ihm Kuchen machen kann, er aber auch im Curry schmeckt und dass gebackener Kürbis eine gute Alternative zu Pommes Frites darstellt, dass die Zubereitung viel Muskelkraft erfordert und dass man sich dabei leicht mit einem Messer verletzen kann, dass dieser Kürbis besonders groß und der dort drüben schon verdorben ist und dass in jedem Kürbis ein böser Geist namens Jack steckt, an den an Halloween erinnert wird, indem man Fratzen in ausgehöhlte Kürbisse schneidet und diese dann
28 29 30 31 32
Ebd., S. 18. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 26 (§ 23). Ebd., S. 21 (§ 19). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 302. Ebd., S. 289 f.
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Sprache als Lebensform
mit Kerzen erleuchtet. 33 Solche Dinge zu wissen, bedeutet zu wissen, was ein Kürbis ist. Hat das Kind dann irgendwann diese Lebensform erworben, dann gibt es noch viele andere Lebensformen, die es noch nicht kennt, zum Beispiel »Bürgermeister« oder »Stadt«. 34 Diese Initiation erfordert von beiden Seiten ein hohes Maß an Vertrauen. Der Anfänger, der in unsere Sprache und Lebensform eingeführt werden soll, muss seine Älteren als eine Autorität akzeptieren, er muss hinnehmen, was sie ihm vormachen. Er kann das Gezeigte noch nicht hinterfragen und nicht einmal dessen Gehalt vollständig überblicken, denn er beherrscht die Sprache und Lebensform ja noch nicht. Er muss zu einem gewissen Grade einfach glauben, dass das, was man ihm zeigt, richtig ist. Das heißt, dass der Lernende Sprünge machen muss, er muss »einem Verständnis vorgreifen, das er noch nicht hat, er muss eine Handlungsform in neue Kontexte projizieren, die er nicht übersieht.« 35 Im Prozess des Lernens von Sprache wird das Fehlen von Sprache auf Seiten des Lernenden als »ein noch nicht« (aber bald) begriffen, das heißt es wird eine Gemeinschaft auf den Lernenden ausgeweitet, der er noch nicht (aber bald) ganz angehört. 36 Der Status des Kindes in unserer Gemeinschaft ist prekär, da es zentrale Lebensformen noch nicht gelernt hat. Derjenige, der den Anfänger einweist, muss seine Rolle als Vorbild annehmen und Verantwortung für unsere Lebensform und den Anfänger übernehmen. 37 Er bietet sich dem Anfänger als ein Exempel für bestimmte Formen des Sprechens an, aber auch als ein Exempel für seine Kultur und für die Menschheit im Allgemeinen. 38 Dabei ist alles, was der Unterweisende tun kann, dem Unterwiesenen sein Sprechen, sein Handeln vorzuführen. Danach bleibt ihm nichts, als darauf zu hoffen, dass der Unterwiesene ihm folgen kann und will, denn er kann ja nicht einfach mit seiner Sprache in dessen Inneres eindringen und dort die richtigen Hebel umlegen, damit das Kind Teil seiner Lebensform wird. Wenn man also keine mechanische Wiederholung des Gezeigten hervorrufen will, sondern möchte, dass der anDie Beispiele stammen teilweise aus: Ebd., S. 292. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 294 f. 35 Khurana, Thomas: »This New Yet Unapproachable Community«, in: Thiele, Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hrsg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2009, S. 49. 36 Ebd. 37 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 302. 38 Khurana: This New Yet Unapproachable Community, S. 53. 33 34
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
dere wirklich in eine bestimmte Praxis des Sprechens und Handelns eintritt, dann muss man ab einem bestimmten Moment einfach abwarten, dass der Lernende von sich aus den nächsten Schritt tut. »Ein Kennzeichen des guten Lehrers ist es, in bestimmten Bereichen zu wissen, wann er aufhören muss zu drängen, in Bereichen, in denen weiteres Wissen nicht durch mehr Drill erworben wird, sondern durch ein geeignetes Abwarten.« 39
An diesem Punkt kann der Lehrende den Lernenden nur noch unterstützen, indem er an dessen Bereitschaft und Befähigung glaubt, den nächsten Sprung allein zu schaffen. 40 Natürlich ist nie klar, ob er das wirklich tun wird, oder ob er es wirklich getan hat, wenn wir es glauben. Aber zu glauben, dass der Lernende es verstehen wird, erfordert eben ein hohes Maß an Vertrauen auf der Seite des Lehrenden. Im Prozess des Lernens offenbart sich die Lehre, die Cavell aus dem Skeptizismus gezogen hat: Wir sind getrennt voneinander. Der Lehrer kann nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen, dort muss er haltmachen und warten, dass sein Schüler den Rest von allein macht. Weiter kann er nicht, denn wir sind voneinander getrennt – wären wir es nicht, dann könnte der Lehrer einfach, wie es ihm gefällt, im Kopf seines Schülers herumwerkeln.
Kinder lernen »Kürbis«, Erwachsene lernen »Liebe« Solange ein Kind nicht weiß, was »Kürbis« bedeutet, hat es die Lebensform Kürbis noch nicht erworben. Ein Kind, das ein Wort lernt, erfährt dabei die Bedeutung, die diese bestimmte Sache im Leben der Menschen hat. Man kann nie sagen, wie viel jemand wirklich wissen muss, um zu einer Lebensform dazu zu gehören. Auch lange nachdem wir uns eigentlich sicher waren, dass jemand die Bedeutung des Wortes wisse, können neue Konzepte dazu kommen, etwa dass Kürbis auch zu Sushi passt oder dass es Personen gibt, die Kürbissen sehr ähnlich sehen. Selbst Kürbisspezialisten werden immer noch etwas Neues über Kürbisse lernen können. Aber ab einem bestimmten Punkt behandeln wir jemanden als zu einer Lebensform zugehörig. Um einiges verschärfter ist die Lage bei den viel komplizierteren 39 40
Ebd., S. 571. Khurana: This New Yet Unapproachable Community, S. 50.
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Sprache als Lebensform
Lebensformen. Dinge wie »Stadt«, »Vergebung« oder »Hochschulpolitik« sind so komplex, dass wir täglich Neues lernen können und am Ende immer noch das Gefühl haben, zu wenig zu wissen. Und so müssen wir feststellen, dass das Lernen von Sprache nicht irgendwann abgeschlossen ist. Wir erwerben Sprache – und die dazugehörigen Lebensformen – nicht einfach am Anfang unseres Lebens und befinden uns danach in einem völlig anderen Seinszustand. Vielmehr beschreibt Cavell den Lernprozess als »eine strukturell ausschlaggebende Bestimmung der Seinsweise des sprachlich Gemeinsamen.« 41 Er stellt der Erziehung von Kindern die Erziehung von Erwachsenen zur Seite. 42 Während Kinder Wörter wie »Kürbis«, »Kätzchen«, »Bauchschmerzen« oder »Gute-Nacht-sagen« lernen, müssen wir uns zeitlebens mit Konzepten wie »Liebe«, »Gott«, »Verantwortung« oder »Schönheit« auseinandersetzen. »[Wir] beherrschen diejenigen Lebensformen noch nicht oder haben sie vergessen, entstellt oder durch bruchstückhafte Vorbilder gelernt, die Äußerungen wie »Gott existiert« oder »Gott ist tot« oder »Ich kann nicht anders« oder »Schönheit ist nur des Schreckens Anfang« das ganze Gewicht verleihen könnten, das zu tragen sie fähig sind, die all das zum Ausdruck brächten, was wir in sie hineinzulegen fähig sind. Wir kennen die Bedeutung der Wörter nicht. Wir schauen weg und springen herum.« 43
Wir lernen unser Leben lang, was diese Wörter bedeuten. Wir lernen durch unsere Erfahrungen, vor allem durch unsere Begegnungen mit anderen und wir sind dabei auf die gleichen Sprünge und das begleitende Abwarten wie die Kinder angewiesen. Der Unterschied zur Begegnung mit einem Kind liegt darin, dass wenn wir beide aufeinander treffen, wir beide kompetente Sprecher einer Sprache sind, was uns zu gleichberechtigten Exempeln des Allgemeinen macht. In unserem Aufeinandertreffen werden dann die Bedeutung der Wörter unserer Sprache zur Disposition gestellt. Über uns beide wird ausgetragen, was unsere Kultur mit bestimmten Begriffen meint, was die Dinge in unserer Kultur sind. Sagt man einem Kind, man habe es lieb, dann lernt es was Liebe ist. Das, was man tut, wird in der Welt des Kindes Liebe sein. Verbindet man seine Liebe zum Kind mit Unmut und Einschüchterung, dann wird in der Welt des Kindes Liebe mit Unmut und Einschüchte41 42 43
Ebd. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 225/320. Ebd., S. 295.
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rung verbunden sein. Wenn es nach Liebe sucht, wird es immer danach suchen. Gibt man dem Kind das Versprechen, morgen etwas zu tun, dann lernt es, was eine Zeitspanne und was Vertrauen ist. Wenn das Kind wächst, werden mit ihm seine Begriffe wachsen. 44 Denn mit der Kindheit ist das Lernen dieser Begriffe nicht beendet. Als Jugendlicher oder Erwachsener wird es neue Erfahrungen mit zum Beispiel Liebe machen und auf Menschen treffen, die es mit neuen oder anderen Konzepten von Liebe konfrontieren. Weil dieser Mensch inzwischen gelernt hat, dass es verschiedene Konzepte gibt, wird er die Konzepte der anderen nicht mehr so einfach adaptieren (können), aber mit jeder Begegnung wird sein Bild davon, was Liebe alles sein kann, wachsen. Trifft er auf jemanden, der in der Liebe Selbstaufgabe von ihm fordert, kann es sein, dass er glauben wird, Selbstaufgabe gehöre zur Liebe. Später wird er vielleicht jemanden treffen, der ihm zeigt, dass es auch in der Liebe einen gesunden Egoismus geben muss und dass seine Bedürfnisse befriedigt werden können. Diese Konzepte werden immer auf das Konzept treffen, das dieser Mensch inzwischen selbst erworben hat. In jeder einzelnen der menschlichen Verbindungen, die wir Beziehungen aus Liebe nennen, wird das, was wir mit dem Begriff »Liebe« meinen, neu verhandelt. Was für die Liebe gilt, ist auch für alle anderen Begriffe richtig: Mit jeder neuen Freundschaft finden wir neu heraus, was »Freundschaft« ist. Mit jedem Anspruch an uns lernen wir neu verstehen, was »Verantwortung« meint. Wir benutzen die gleichen Wörter, doch die Bedeutungsfelder sind zu groß, zu unübersichtlich und zu ambivalent, als dass wir mit ihnen auch immer genau das Gleiche meinen können. Wir haben trotz der gleichen Wortwahl Verschiedenes im Sinn. So wird all unser Sprechen zu einer Suche nach einer verbindenden Basis, nach einer möglichen Gemeinschaft. Wenn für mich Liebe auch bedeutet, sich dem Wahnsinn hinzugeben, du aber mit Liebe vor allem Sicherheit und Beständigkeit verbindest, dann kann es für jeden von uns und für das Verhältnis, das wir haben, gut sein, wenn wir bereit sind, einen Teil des Konzeptes des anderen zu übernehmen. In diesen Verhandlungen unserer Begriffe sind wir grundsätzlich gleichberechtigte Partner, da wir alle vollwertige Sprecher der Sprache sind. In der Realität ist es aber gar nicht immer so einfach,
44
Ebd., S. 301.
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Sprache als Lebensform
Gleichberechtigung herzustellen. Wir müssen uns in unseren Auseinandersetzungen fragen, was es heißt, einen anderen als gleichberechtigt zu begreifen. Es bedeutet, seinem Sprechen und seinen Erfahrungen den gleichen Wert wie den eigenen zuzusprechen, was aber nicht bedeutet, dass man unbedingt zu den gleichen Schlüssen kommt. Diese Suche nach Gleichberechtigung und das Verhandeln der Konzepte, der Lebensformen, der Worte, und das Herausfinden, ob es hier eine Basis für eine Beziehung bzw. Gemeinschaft gibt, sind die Themen, um die es Cavell in seinen Interpretationen der Hollywood-Beziehungskomödien der dreißiger Jahre geht. 45 Die komödiantischen Auseinandersetzungen der Paare in diesen Filmen kreisen hauptsächlich um die Frage, was »Ehe« ist. Hier wird Cavells Figur des Lehrers wieder wichtig, denn die Partner akzeptieren, dass sie für den jeweils anderen Schüler und Lehrer gleichzeitig sind. Sie schauen gegenseitig zueinander auf, wie Cavell es ausdrückt. 46 Für diesen gegenseitigen Lern- und Lehrprozess Erwachsener gilt das Gleiche wie für den Spracherwerb eines Kindes. Der jeweilige »Lehrer« kann dem anderen seine Konzepte nur vorleben und ab einem bestimmten Punkt lediglich abwarten, was der andere übernimmt, was mal schneller, mal langsamer geschehen kann, als er erwartet hat, aber auch gar nicht geschehen muss. Wir können die Seelen anderer nicht wie durch einen Raum betreten und dort einfach alles umstellen. Wir sind begrenzt, getrennt.
Verantwortung für unsere Sprache Aus Cavells Interpretation der Filmkomödien wird aber auch deutlich, dass die Verhandlung unserer Begriffe über die einzelnen Beziehungen von Menschen hinaus eine Wichtigkeit hat. In jeder einzelnen persönlichen Auseinandersetzung wird auch diskutiert, welche Bedeutung die Begriffe in unserer Kultur haben. In diesem Sinne haben unsere eigentlich privaten Auseinandersetzungen öffentlichen Charakter. Die Vorstellung eines lebenslangen Spracherwerbs stellt unseren Zustand so dar, als wären wir immer noch gerade dabei herauszufinden, wie unsere Lebensformen beschaffen sind. Gleichzeitig sieht es 45 46
Cavell: Pursuits of Happiness/Cavell: Cities of Words. Cavell: Cities of Words, S. 394.
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so aus, als trügen wir Verantwortung für unsere Sprache und unsere Lebensformen. Tatsächlich bezeichnet Cavell unsere Sprache als unser Erbe – und wie bei jedem Erbe erhalten wir mit der Sprache nicht nur Reich- und Besitztümer, sondern auch Pflichten und Verantwortungen. 47 Das Kind, das in unsere Sprache eingeführt wird, erwirbt die Sprache nicht einfach nur, sondern es übernimmt ein Vermächtnis. 48 »Ein bedrohtes Vermächtnis freilich, das es weniger in Besitz zu nehmen gilt, als eine Verantwortung für sein Überleben anzunehmen.« 49 Was steht mit unserer Verantwortung für die Sprache auf dem Spiel? Habe ich die Verantwortung für die Bedeutung der Worte? – Nein, möchte ich zuerst sagen, denn die Bedeutungen von Äußerungen waren schon vor mir da und werden auch nicht allein von mir geprägt, sondern von allen Sprechern der Sprache. Anderseits muss ich davon ausgehen, dass es nicht ohne Folgen bleibt, wenn ich Worte benutze, aber nicht meine, was ich mit ihnen sage. Ich denke, wir können festhalten, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Worte so gut wie möglich das leisten können, was sie sollen. Das heißt, dass sie, wenn wir sie aussprechen, so weit reichen wie möglich. Damit meine ich, dass sie so weit »in den anderen« reichen wie möglich. Schließlich sind die Worte dafür da, dass wir uns mitteilen können, damit wir uns verstehen können. Nehme ich deine Hand zum ersten Mal in meine, und sage dir, dass du schöne Augen hast, dann sollte ich auch damit meinen, was man normalerweise mit solchen Handlungen meint, wenn ich nicht will, dass diese Zeichen und Wörter, die zwischen uns verkehren, leer werden. Das Kompliment und das Nehmen deiner Hand verstehen wir normalerweise so, dass du für mich schön bist und dass du beginnst, mir etwas zu bedeuten. Was diese Gesten nicht meinen, ist, dass ich damit nur ausschließlich einem Narzissmus folge, auch wenn mein Handeln zum Teil davon motiviert ist, dass ich deine Zuneigung mir gegenüber spüren will. Ich sage diese Dinge nicht explizit, das muss ich auch nicht, denn sie gehören implizit zum Bedeutungsinhalt meiner Worte und Gesten. Nur weil sie implizit sind, sind sie nicht weniger Teil der Bedeutung und wir beide wissen das, denn wir ge-
47 48 49
Korsmeier,: Sprache erfahren, S. 150. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 320. Bronfen: Stanley Cavell, S. 95.
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Sprache als Lebensform
hören denselben Lebensformen an, sonst hätten meine Worte bei dir nicht die Wirkung, die sie haben. 50 »Zu lernen, was diese Implikationen sind, ist Teil des Lernens der Sprache selbst, ist genauso ein Teil wie das Lernen ihrer Syntax oder das Lernen, worauf Ausdrücke sich beziehen können: Sie sind ein wesentlicher Teil unserer sprachlichen Kommunikation. Volles Verstehen ist implizites Verstehen. Auch könnte gar nicht alles, was wir in normaler Kommunikation sagen (zu kommunizieren meinen), explizit gesagt werden – sonst könnte Kommunikation lediglich akustisch destruiert werden. Wir sind deshalb für die spezifischen Äußerungen unserer Sprache genauso verantwortlich wie für deren expliziten Informationsgehalt. Und dass die Implikationen einer Äußerung angemessen sind, lässt sich genauso wenig durch ein allgemeines Verfahren sicherstellen, wie sich durch ein solches bestimmen lässt, dass das was man sagt, wahr ist. Falsches Benennen und falsches Beschreiben sind nicht die einzigen Fehler, die man beim Reden machen kann und Lügen ist auch nicht seine einzige Immoralität.« 51
Wir müssen auf die impliziten Bedeutungsinhalte unserer Sprache zurückgreifen, denn wenn wir sie nicht miteinbeziehen würden, dann wäre unsere Sprache lange nicht so leistungsfähig, wie sie ist. In diesem Sinne »müssen wir meinen, was wir sagen«, um hier einmal den Titel von Cavells frühestem Essay Must we mean what we say? aufzugreifen. 52 Ich muss also Verantwortung sowohl für den expliziten als auch den impliziten Bedeutungsinhalt meiner Äußerungen übernehmen. Und diese Verantwortung habe ich in zweierlei Hinsicht: Dir gegenüber, um dir nichts vorzumachen, und uns gegenüber, um unser Sprechen nicht leer werden zu lassen. Das klingt jetzt ein wenig zu strikt – als müssten wir mit jedem Satz unter der Last unserer Sprache ächzen. Schließlich könnte man sich auch eine Lebensform vorstellen, in der allen Beteiligten – allen, die in diese Lebensform eingeführt sind – klar ist, dass das Gesagte und Gezeigte nicht ganz ernst gemeint ist, sondern dass es sich eher um ein Spiel handelt, das gerade deshalb Vergnügen bereitet, weil es die Schultern zeitweise von den Lasten befreit (nicht nur von den Lasten, die die Sprache bedeutet). In so einer Lebensform wüsstest Ich danke Anne Steppeler für die Anregung zu diesem Beispiel. Cavell, Stanley: »Müssen wir meinen was wir sagen?«. In: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 46. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »Must We Mean What We Say?«, in: Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say? Cambridge 1976, S. 1–43. 52 Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say?. Cambridge 1976. 50 51
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
du, dass ich es nicht ganz so meine, wenn ich deine Hand nehme und dir sage, dass du schöne Augen hast und wir könnten uns beide für eine Weile dem Schein hingeben. Doch auch diese spielerische Lebensform funktioniert nur, weil sie sich auf eine echte, nicht-spielerische bezieht, in der wir die Dinge so meinen, wie wir sie sagen. Ganz abgesehen davon ist gar nicht gesagt, dass jedem der Beteiligten wirklich klar ist, in welcher Lebensform er sich befindet, der spielerischen oder der ernstgemeinten, und es gibt Menschen, die diese Unklarheit zu nutzen wissen. Wir sind mit unserer Verantwortung für die Sprache vor allem für den impliziten, den nicht-verbalisierten Bedeutungsinhalt, der über die reine »Information« hinausgeht, verantwortlich. Das ist nicht wenig – eigentlich ist das alles, was unsere Verhältnisse untereinander ausmacht. Das Szenario, dass Worte insgesamt faul werden, wenn wir nicht die Verantwortung für unser Sprechen übernehmen, ist durchaus vorstellbar. Ich denke hierbei an den Werbefachmann Don Draper aus Mad Men, der einer Geliebten erklärt, Liebe sei etwas, das Männer wie er erfunden haben, um Nylonstrümpfe zu verkaufen. 53 Cavell legt aber das Augenmerk darauf, dass es bei unserem Sprechen immer um Worte geht, die zwischen zwei Menschen geäußert werden. Das heißt, die erste Gefahr, die uns mit einem bewussten Missbrauch oder nachlässigen Gebrauch unserer Sprache droht, ist, dass wir, dass diese zwei Menschen – du und ich – nicht mehr miteinander sprechen können. Zwischen uns werden die Worte faul. Das heißt, wir können schon noch miteinander sprechen, aber die Worte reichen nicht mehr tief, denn wir können nicht mehr einordnen, was sie bedeuten. 54 Das Sprechen folgt der natürlich-konventionellen Doppelstruktur aller Lebensformen. Zu sprechen ist einerseits natürlich für uns, andererseits hängt es von unserer Bereitschaft ab, unsere Kommunikation immer wieder gelingen zu lassen. Cavell schreibt, dass sich der späte Wittgenstein eigentlich nicht für Sprache interessiert, sondern für unser Sprechen. 55 Und sich mit dem Sprechen zu beschäftigen bedeute wiederum, sich mit der menschlichen Seele zu beschäftigen. 56 Für Cavell und Wittgenstein ist Sprechen das zentrale Merkmal der 53 54 55 56
Mad Men (2007), Staffel, Folge 1. Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 135. Kober: Die Funktion des Begriffs der Lebensform bei Wittgenstein, S. 3. Ebd.
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
Lebensform »Mensch«. Den Menschen so zu beschreiben bedeutet, ihn vor allem anderen als kommunikativ, als »irreduktibel sozial« 57 wahrzunehmen. Wir – als einzelne Menschen und als Gemeinschaft – entstehen mit dem Sprechen und durch das Sprechen.
II.2 Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel Nach dieser Einführung in Cavells Verständnis des Wittgensteinschen Sprachbildes, kommen wir nun zu der Frage, wie der Skeptizismus über unsere Sprache Einzug in unser Leben hält. Cavell schreibt, der Skeptizismus sei »eine Reaktion, in der ein natürliches Erlebnis eines Geschöpfes zum Ausdruck kommt, das kompliziert oder belastet genug ist, um überhaupt Sprache zu besitzen.« 58 Der Skeptizismus ist für Cavell also ein natürliches und unumgängliches Phänomen sprechender Wesen. Um das zu erklären, bedient sich Cavell der Wittgensteinschen Kriterien-Diskussion. Das späte Werk Wittgensteins ist laut Cavell nur dann zu verstehen, wenn man es als eine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus begreift. Cavell ist nicht der einzige und auch nicht der erste Philosoph, der die Philosophischen Untersuchungen als eine Antwort auf den Skeptizismus versteht. Was ihn aber von den meisten Philosophen seiner Zeit unterscheidet ist, dass er nicht denkt, Wittgenstein wolle mit seiner Hinwendung zur normalen Sprache den Skeptizismus widerlegen. Vielmehr erkennt Cavell Wittgenstein als einen Denker, der sich der reellen Möglichkeit des Skeptizismus jederzeit gewahr ist und der sich deswegen für den Grund und die Natur dieses Phänomens interessiert. Wir müssen dabei beachten, dass Cavell zu einem recht frühen Zeitpunkt in die Debatte über Wittgensteins Spätwerk eingestiegen ist – seine ersten Veröffentlichungen dazu stammen aus den sechziger Jahren 59 – und er folglich auf die erste Generation von Wittgensteinianern reagiert. Den danach kommenden Veröffentlichungen hat er größtenteils keine Beachtung mehr geschenkt. Eine der wenigen Ausnahmen ist das in den achtziger Jahren erschienene Buch Wittgenstein über Regeln und Privatsprache Ebd., S. 108. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 246. 59 Cavell, Stanley (Interview): »Reflections on a Life of Philosophy«, in: The Harvard Review of Philosophy VII 1999, S. 21. 57 58
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
von Saul Kripke (* 1940). Kripke teilt Cavells Ansichten über Wittgensteins Haltung zum Skeptizismus, beruft sich dabei aber vornehmlich auf den Wittgensteinschen Begriff der »Regel«, während dieser für Cavell nach den Kriterien nur zweitrangig ist. 60 Die Bedeutung der Kriterien ist in den Philosophischen Untersuchungen Cavells Ansicht nach überhaupt nicht zu überschätzen. Über Kriterien zu sprechen heißt, die Geschichte unserer Verbundenheit mit der Sprache etwas genauer zu erzählen. Dabei sind die Kriterien Ort menschlicher Hoffnung und Verzweiflung zugleich. An ihnen lässt sich einerseits zeigen, warum wir so schnell und effektiv miteinander sprechen können und dass wir als Sprecher auf natürliche Weise miteinander im Einklang sind, dass wir in der Sprache übereinstimmen. Andererseits lassen die Kriterien unsere Getrenntheit offenbar werden und damit auch die Bedrohung durch den Skeptizismus. Die Kriterien zeigen, dass wir beschränkt sind und unsere Möglichkeit der Kommunikation auf nichts als unserer individuellen Zustimmung beruht – und unsere Kommunikation, wenn wir diese Zustimmung zurückziehen, deswegen auch zusammenbrechen kann. Damit werfen die Kriterien erneut das Thema unserer Verantwortung für unser Sprechen auf.
Was sind Kriterien? Der Komplex um die Kriterien gehört anerkanntermaßen zu den schwierigsten Bereichen der Wittgensteinschen Philosophie. Um sich dem zu nähern und um zu verstehen, worauf Wittgenstein mit seinen Kriterien hinauswill, hilft es sich anzusehen, wie wir Kriterien normalerweise verwenden. Nehmen wir zum Beispiel einen SkateboardWettbewerb: Auf einem Parcours mit verschiedenen Elementen und Hindernissen wie Stangen, Mauern, kleinen und großen Rampen, verschiedenen Plattformen etc. (ich spare mir hier absichtlich den Fachjargon) hat jeder Teilnehmer für eine bestimmte Zeit die Möglichkeit, sein Können unter Beweis zu stellen. Es handelt sich um einen »Freistil«-Wettbewerb. Jeder der Skater kann also selbst entCavell, Stanley: »Der Streit um das Gewöhnliche«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main 2002, S. 220 f. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »The Argument of the Ordinary«, in: Cavell, Stanley: Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago 1990, S. 64–100.
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
scheiden, welche Tricks er in der gegebenen Zeit vorführen möchte. Eine Jury aus erfahrenen Skatern beurteilt das Vorgeführte um am Ende Bewertungen abgeben zu können und die besten Fahrer zu ermitteln. Dabei bedient sie sich bestimmter Kriterien, die vorher festgelegt wurden und die allen – den Teilnehmern, der Jury, den Zuschauern – bekannt sind. Anhand dieser Kriterien lässt sich bestimmen, wie gut ein Lauf war. Einer der Teilnehmer versucht einen sogenannten »Kickflip« zu vollführen. Dazu muss er während der Fahrt springen und dabei das Brett mit sich in die Luft befördern. Während beide – Skateboard und Skater – durch die Luft fliegen, muss sich das Skateboard unter den Füßen des Skaters einmal entlang seiner Längsachse drehen. Der Skater muss schließlich im richtigen Moment mit seinen Füßen wieder auf dem Brett und dem Boden ankommen und dann weiterfahren. Gelingt ihm all das, sind die Kriterien für einen Kickflip erfüllt. Die Mitglieder der Jury werden vielleicht eine Notiz oder ein Häkchen auf einem Zettel machen. Nun ist der Kickflip kein sehr elaborierter Trick, sondern gehört zum Standardrepertoire eines jeden guten Skaters. Um die Jury zu beeindrucken, müssen die Teilnehmer sich schon etwas einfallen lassen, zum Beispiel einen besonders hohen oder weiten Kickflip machen. Sie können auch eines der Hindernisse überspringen – umso riskanter das Ganze wird, desto besser. Ein Fahrer könnte auch versuchen besonders lässig auszusehen, während er sich an einem sehr schwierigen Trick versucht. Tatsächlich zählt bei solchen Wettbewerben nicht nur die Schwierigkeit einzelner Kunststücke, sondern auch, wie leicht man schwierige Manöver aussehen lässt, wie flüssig man die Tricks aneinander reiht und wie abwechslungsreich der ganze Lauf ist. Es gibt also auch verschiedene Kriterien für Leichtigkeit, Flüssigkeit und Abwechslungsreichtum. Wir stellen also gemeinhin Kriterien auf, um Urteile in bestimmten Kontexten treffen zu können. Kriterien finden natürlich nicht nur innerhalb von sportlichen Wettkämpfen Anwendung. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass es schon vor dem Skate-Wettbewerb Kriterien gab, anhand derer entschieden wurde, ob jemand teilnehmen darf oder nicht. Vielleicht mussten die Fahrer über 18 Jahre alt, Europäer sein und schon einmal einen wichtigen Wettbewerb gewonnen haben. Jemand, der diese Kriterien nicht erfüllte, durfte nicht bei diesem Wettbewerb mitmachen. Ein ähnliches Beispiel für Kriterien sind die vom Europäischen 91 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Rat 1993 verabschiedeten »Kopenhagener Kriterien«. Sie müssen erfüllt werden, damit ein Staat Mitglied der Europäischen Union werden kann: »Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können.« 61
Auf einer Website zur Drogen-Aufklärung finden sich Kriterien, mit denen überprüft werden kann, ob bei jemandem eine Drogensucht vorliegt. Kann eine Person Aussagen wie »Die Welt wird ohne Drogen reizlos«, »Drogen sind Ersatz für soziale, warme Kontakte« oder Ähnliches bejahen, dann liegt eine Drogensucht vor. 62 Es können aber auch ganz persönliche Kriterien aufgestellt werden. Wenn jemand sagt »Für mich zählt nur, dass man gut zu der Musik tanzen kann«, dann ist für diese Person die »Tanzbarkeit« das Kriterium für gute Musik. »Nach dieser Aufstellung sind Kriterien Spezifikationen, die eine bestimmte Person oder Gruppe festlegt, um auf ihrer Grundlage (mittels ihnen, nach ihnen) zu beurteilen (festzustellen, zu klären), ob etwas einen bestimmten Status oder Wert hat.« 63
Kriterien sind das, was eine Person oder Gruppe meint, wenn sie sagt, ein Ding habe einen bestimmten Status – »das war ein Kickflip«, »du darfst an diesem Wettbewerb teilnehmen«, »das ist gute Musik«. Das Ding hat diesen Status, weil es die gestellten Kriterien erfüllt. 64 Ich kann sagen, dass ich in diesen Zusammenhängen weiß was etwas ist, weil ich die Kriterien für dieses etwas kenne. Europäischer Rat Kopenhagen 21. Juni–22. Juni 1993: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, S. 13. http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ ec/72924.pdf (17. 02. 2013). 62 Kriterien zur Drogensucht. http://www.drogen-aufklaerung.de/kriterien-zur-dro gensucht (17. 02. 2013). 63 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 51. 64 Ebd. 61
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
Die bemerkenswerteste Eigenschaft von Kriterien ist ihre Relationalität. Kriterien sind stets Kriterien für etwas. Sie beziehen sich aber nicht nur auf etwas, sondern auch auf jemanden, dem sie etwas zeigen. Wenn man so will, sind Kriterien damit dreifach bezogen: Auf einen Gegenstand, auf Subjekte, die von diesen Kriterien etwas über den Gegenstand erfahren und auf Subjekte, die diese Kriterien gelten lassen. 65
Wittgensteins Kriterien Der Wittgensteinsche Kriterien-Begriff unterscheidet sich nicht erheblich von diesem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes. Cavell bemerkt, dass ein Großteil der Rhetorik, die Wittgenstein verwendet, um seine Kriterien zu erklären, tatsächlich nichts anderes als eine Beschreibung des gewöhnlichen Begriffs ist. Doch er nennt drei entscheidende Unterschiede zwischen dem, was wir normalerweise unter Kriterien verstehen und dem, was Wittgensteins Kriterien ausmachen. 66 (1) Der erste Unterschied bezieht sich auf das Verhältnis von Kriterien und »Standards«. Sowohl Kriterien als auch Standards zeigen den Wert oder den Status eines Dinges an. Kriterien sagen uns, ob ein Ding eine bestimmte Sache ist – »das ist ein Kickflip« oder »das ist Musik, auf die ich gut tanzen kann.« Standards dagegen verraten uns wie sehr die bestimmten Kriterien erfüllt sind. Bei Standards geht es also um den Grad der Erfüllung von Kriterien – »das war ein beeindruckender Kickflip«, »seine Ausführung war flüssig, aber da war noch mehr drin«, »das ist Musik, auf die ich einigermaßen gut tanzen kann«. Es gibt Kriterien, da sind die Standards sehr wichtig, in anderen Fällen gibt es gar keine Standards. Wenn ein Arzt feststellt, dass bei einem Patienten eine bestimmte Krankheit vorliegt, dann will er auch erfahren, wie sehr der Patient an ihr erkrankt ist. Wenn es dagegen um die Zulassung für den Skateboard-Wettbewerb geht, dann ist ein Bewerber 18 Jahre alt oder er ist es nicht. Er kann nicht ziemlich 18 oder nur ein wenig 18 sein. 67
Birnbacher, Dieter: Die Logik der Kriterien. Hamburg 1974, S. 7 f. Was die Unterschiede zwischen offiziellen und Wittgensteinschen Kriterien angeht, vergleiche: Hammer: Stanley Cavell, S. 33–39. Und: Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 12–16. 67 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, 51 f. 65 66
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Für Wittgensteins Kriterien spielen Standards keine Rolle. Entweder die Kriterien sind erfüllt oder sie sind es nicht. Entweder zeigt der gestürzte Skater ein Schmerzverhalten oder er zeigt keines. Auf dem Gesicht des Wettbewerb-Gewinners sieht man Freude, oder es ist eben keine zu sehen. Die Jury kann sich darüber uneinig sein, ob ein Kickflip gut war oder nicht. Wegen solcher Fragen gibt es ja überhaupt Jurys. Sie wird sich aber nicht darüber streiten, ob etwas ein Kickflip war oder nicht. Bei Wittgenstein geht es also nur darum herauszufinden, was für eine Sache ein bestimmtes Ding ist. 68 (2) Der zweite Unterschied zwischen offiziellen und Wittgensteinschen Kriterien betrifft die Objekte, die anhand von Kriterien beurteilt werden sollen. Wenn man sich normalerweise auf Kriterien beruft, dann ist »das fragliche Objekt eines, das in irgendeiner Weise der Bewertung oder Klärung bedarf, eines, dessen Status oder Rang bestimmt oder geklärt werden muss.« 69 Im Falle des Skate-Wettbewerbes wurden Kriterien aufgestellt, um die Urteile der Jury so »rational (konsistent, kohärent, unpersönlich und nicht willkürlich)« 70 wie möglich zu gestalten. Es ist der Zweck von Kriterien, solche Bewertungen und Entscheidungen zu ermöglichen. Das gilt für Wettbewerbe genauso wie für persönliche Urteile über Musik. Kriterien dieser Art beziehen sich auf »Objekte«, die schon vorher bekannt waren. Skaten existierte schon, bevor es die Wettbewerbe gab, und auch Musik existierte, bevor jemand sein Urteil darüber abgab, was gute Musik ist. Wittgensteins Kriterien indes werden nicht an bekannte Objekte angelegt, um sie dann einem bestimmten Status zuzuordnen. Sie sind vielmehr unser Weg zu erfahren, was unsere Begriffe sind, 71 und folglich, »welche Art von Gegenstand etwas ist.« 72 Wenn Wittgenstein von seinen Kriterien spricht, dann geht es ihm um sehr grundlegende Vorgänge wie zum Beispiel Zahnschmerzen haben, sitzen, eine Meinung haben, jemanden zu einer bestimmten Uhrzeit erwarten, in der Lage zu sein fortzufahren, lesen, denken, überzeugen, hoffen, einer Regel folgen etc. Es sind Dinge, die offensichtlich nichts Besonderes an sich haben. Die Idee, die Cavell dahinter erkennt, kann
68 69 70 71 72
Ebd., S. 56 f. Ebd., S. 57. Ebd. Ebd., S. 60. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 189 (§ 373).
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
so zusammengefasst werden: Alles, was wir begreifen, selbst die einfachsten Tatsachen, begreifen wir anhand von Kriterien. 73 »Wittgensteins Einsicht oder implizite Behauptung scheint mir ungefähr die zu sein, dass all unser Wissen, alles was wir behaupten oder hinterfragen (bezweifeln oder fraglich finden), nicht bloß durch das bestimmt wird, was wir als Beweis oder Wahrheitsbedingung auffassen, sondern durch Kriterien.« 74
Wir wissen, was ein Stieglitz ist, weil wir die Kriterien für »Stieglitz« kennen: der Körperbau erfüllt die Kriterien für »Vogel«, die Gesichtsmaske die Kriterien für »rot«. Der elfenbeinfarbene Schnabel und die deutlich abgesetzten Flügel sprechen ebenfalls für einen Stieglitz. Wir erkennen, wenn jemand Zahnschmerzen hat, weil uns die Kriterien für »Zahnschmerzen haben« bekannt sind: sich die Wange halten und dabei zu wimmern. Das Gleiche gilt für Dinge wie sitzen und eine Meinung haben. Kriterien regeln die Anwendung unserer Begriffe. Und auch den Skateboard-Wettbewerb können wir nur verstehen, weil wir die Kriterien von Wettbewerb, Teilnehmen, Beurteilen, Springen, Fahren, Vorführen und Gewinnen kennen. Wir identifizieren das Verhalten des Wettbewerb-Gewinners als »von Freude erfüllt«, weil das, was er tut – lachen, ausgelassen rufen, Freunde umarmen – von uns als Kriterien für Freude erkannt wird. Dass Cavell im obigen Zitat schreibt, unser Wissen sei »nicht bloß« durch Beweise und Wahrheitsbedingungen definiert, soll weder das eine noch das andere disqualifizieren. Kriterien stellen keine Alternative zu diesen Begriffen dar. Vielmehr werden Beweise und Wahrheitsbedingungen erst dadurch verstehbar, dass Kriterien auch den Gebrauch dieser Begriffe regeln. 75 Kriterien stehen damit vor der Identifizierung oder der Kenntnis eines Objekts. (3) Beim dritten Unterschied zwischen »normalen« und Wittgensteinschen Kriterien geht es um die Autorität, die die Kriterien festlegt. Bei den normalen Kriterien gibt es eine Gruppe oder eine Person, von der die Kriterien aufgestellt werden. Das kann im Falle des Skateboard-Wettbewerbs die gesamte Gruppe der Skater oder auch nur die Jury des Wettbewerbs sein. Bei den »Kopenhagener Kriterien« ist die festlegende Autorität der Europäische Rat, der entschieden hat, unter welchen Umständen ein Staat in die Europäische 73 74 75
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 57 f. Ebd., S. 58. Ebd.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Union aufgenommen werden darf. Die Kriterien zur Drogensucht wurden vielleicht von einer Gruppe aus Medizinern, Wissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen festgelegt. Bei dem Urteil über gute Musik ist die Kriterien festlegende Autorität lediglich eine Person. Während sich bei normalen Kriterien die Autorität also von Fall zu Fall ändert, gibt es bei Wittgenstein nur eine einzige Quelle der Autorität. Und diese Autorität, das sind stets »wir«, »die Menschheit als Ganze«. 76 »Für ihn sind es immer wir, die die fraglichen Kriterien aufstellen. Die Kriterien, an die Wittgenstein appelliert – diejenigen, die für ihn die Daten der Philosophie bilden –, sind immer unsere. Die Gruppe, die seine Autorität bildet, ist offenbar stets die Gruppe der Menschen als solche, die der Menschen im allgemeinen. Wenn ich Kriterien in Worte fasse, dann tue ich dies oder verstehe mich in meinem Tun als ein Mitglied dieser Gruppe, als ein Repräsentant der Menschheit.« 77
Was bedeutet es, wenn Cavell sagt, dass »wir« diejenigen sind, die die Kriterien aufstellen? Er meint selbstverständlich nicht, dass wir uns in regelmäßigen Abständen treffen, um uns auf unsere Kriterien für Trauer, Freude, Schmerz, Sitzen oder Hinweisen zu einigen. Und wir haben uns auch nie zu diesem Zwecke versammelt. Dennoch haben wir alle eine ähnliche Vorstellung davon, was für uns lustig, traurig oder Schmerzverhalten ist. Ist es nicht erstaunlich, dass sich jeder von uns selbst zu seinen Kriterien befragen kann und dies ihm ermöglicht, Aussagen über alle zu treffen. Ich kann mich fragen, was meine Kriterien für »Schmerz haben«, »traurig sein«, oder »eine Meinung haben« sind – und dann daraus schließen, dass diese Kriterien unsere sind. Das funktioniert weil unsere Sprache eine geteilte ist, und wir damit, wie Wittgenstein sagt, in der Sprache übereinstimmen. 78
Übereinstimmung in der Lebensform Wittgenstein behauptet, »dass es einen Hintergrund durchgehender und systematischer Übereinstimmung unter uns gibt, den wir nicht wahrgenommen haben oder von dem wir nicht wussten, dass wir ihn
76 77 78
Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 27. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 63. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 145 (§ 241).
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
wahrnehmen.« 79 Das ist es, was Cavell zufolge Wittgenstein mit seiner Berufung auf die Kriterien offenlegen will: dass wir in der Sprache und in den Lebensformen auf eine tiefe, aber zugleich grundlose, weil nicht erklärbare Weise übereinstimmen. Cavell sieht die Philosophie Wittgensteins von dem Erstaunen über die Innigkeit und die Allgegenwärtigkeit unserer Übereinstimmung getragen. Dieser sei fasziniert davon, wie wir in der Sprache so schnell und umfassend kommunizieren können, wie wir es jeden Tag tun. Und das Funktionieren der Sprache verstünde er als abhängig von unserer Übereinstimmung. 80 Da die Sprache ja schon irgendwie etwas Menschengemachtes ist und nicht schon vorlag, als wir in die Welt kamen, könnte man meinen, sie beruhe in erster Linie auf »Konventionen«. 81 Tatsächlich versteht eine ganze Reihe von Interpreten Wittgenstein so, als wäre er der Meinung, unsere Verständigung hinge von Konventionen ab. Sie heben normalerweise die Bedeutung des Wittgensteinschen Begriffs der »Regel« hervor. So ist zum Beispiel auch Saul Kripke der Überzeugung, dass unser Sprachgebrauch dadurch gesichert ist, dass wir im Sprechen bestimmten Sprachregeln folgen. Sobald ein Sprecher aus dieser Normierung ausbricht, so Kripke, wird sein Fehlverhalten von den anderen Sprechern als nicht regelkonform geahndet. Wir würden auf diese Weise weiterhin miteinander übereinstimmen und unsere Sprache bliebe durch die allgemein bekannten Sprachregeln stabil. 82 Diese gängige Betonung des Sozialen an Wittgensteins Idee der Übereinstimmung hält Cavell nicht direkt für falsch, sie erfasse, wie er schreibt, sogar das Wichtigste. Dieses Bild unserer Sprache sei allerdings viel zu konventionalistisch und laufe deswegen Gefahr, die Natürlichkeit unserer Übereinstimmung zu verdecken. 83 Wittgensteins Anliegen ist es, unser Verhalten als »von Natur aus« 84 zu begreifen. Unsere Übereinstimmung beruht demnach auf unserem Menschsein selbst, darauf, dass wir, wie Wittgenstein schreibt, in
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 82 f. Ebd., S. 83. 81 Ebd., S. 85. 82 Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 20./Kripke, Saul: Wittgenstein On Rules and Private Language. Cambridge 1982, S. 78. 83 Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 103. 84 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 124 (§ 185). 79 80
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
den Urteilen übereinstimmen. 85 Das klingt erst einmal paradox, denn durch unsere Übereinstimmung stimmen wir auch in den Kriterien überein, die uns wiederum das Urteilen im konkreten Fall ermöglichen. Doch mit der Übereinstimmung in den Urteilen bezieht sich Wittgenstein auf die Tatsache, dass sich unsere natürlichen Reaktionen auf die Ereignisse der Welt gleichen: Im Großen und Ganzen sind wir uns darüber einig, über welche Dinge man lachen kann und über welche nicht, was ein wichtiges Ereignis ist und was ein unwichtiges, dass sich etwas gut anfühlt und etwas anderes nicht. 86 Deswegen ist unsere Übereinstimmung auch eine Übereinstimmung unserer geteilten Lebensform bzw. Lebensformen. 87 »Der Gedanke der Übereinstimmung besagt hier nicht, dass man bei einer bestimmten Gelegenheit zu einer Übereinstimmung kommt oder gelangt, er besagt vielmehr, dass im ganzen Übereinstimmung herrscht, dass etwas in Harmonie ist, wie Tonhöhen oder Töne, Uhren, Waagschalen oder Zahlenkolonnen. Dass eine Gruppe von Menschen in ihrer Sprache übereinstimmt, besagt sozusagen, dass sie in Bezug auf sie synchron laufen, dass sie von Kopf bis Fuß aufeinander eingestellt sind.« 88
Der hier verwendete Vergleich mit den Uhren, die in Harmonie sind oder synchron laufen, veranschaulicht recht treffend, worauf die Idee der Übereinstimmung hinaus will. Auf meiner Uhr mag es 12:45 sein, auf deiner 12:47 und auf ihrer ist es vielleicht erst 12:40. Unsere Uhren zeigen also nicht exakt das gleiche an, sie laufen nicht komplett synchron, aber dennoch sind sie aufeinander ausgerichtet – und sie wären wertlos, würden sie vollständig unabhängig von den anderen Uhren einfach irgendeine Zeit anzeigen. Es mag manchmal zu Verstimmungen kommen, weil du es wieder nicht geschafft hast, deine Uhr richtig einzustellen oder aber sie nicht richtig gelesen oder ignoriert hast – im Großen und Ganzen klappt aber alles. So sind wir uns zum Beispiel sicher, dass jetzt unsere übliche Zeit zum Mittagessen gekommen ist. Die Geschichte mit den Uhren sollte nur als Näherungswert an unsere Übereinstimmung verstanden werden, denn an einer Stelle hakt der Vergleich erheblich: Was unsere menschliche Übereinstimmung angeht, gibt es keine Atomuhr, keine »äußere« Autorität, auf 85 86 87 88
Ebd., S. 145 (§ 242). Cavell: Der Streit um das Gewöhnliche, S. 255. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 145 (§ 241). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 85.
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
die wir uns berufen, an der wir unsere Übereinstimmung abgleichen und neu einstellen können. Nichts kann unsere Übereinstimmung sichern, nichts außer uns. Mit unserer Übereinstimmung also ist keine konventionalistische oder vertragliche Übereinstimmung gemeint. Auch wenn es so aussehen mag, als hätten wir uns gewissermaßen abgesprochen, ist unsere Übereinstimmung doch viel stärker oder tiefer, als es Konventionen sein könnten. 89 Cavell schreibt, »dass es wie ein Mysterium aussehen kann, dass wir uns im Sprechen nicht aneinander anpassen müssen«, sondern »dass wir aneinander angepasst sind, dass wir im Einklang sind.« 90 Er legt also großes Augenmerk darauf, dass unsere Sprache uns wie ein Wunder vorkommen kann. 91 Ein Wunder ist etwas, das wir nicht vollständig erklären können. Zwar können viele Bereiche unserer Sprache als Regeln verstanden werden, das bedeutet aber nicht, dass sie als Ganze auf Regeln basiert. 92 Was wir in der Sprache tun, ist viel zu komplex, um von einzelnen Regeln und Konventionen abzuhängen. Keine Regel, keine Konvention könnte leisten, was wir in unserer Sprache leisten 93 – das ist die große Entdeckung Wittgensteins, die sicherlich eine der folgenreichsten der Philosophiegeschichte ist. 94
Das Projizieren von Wörtern in neue Kontexte Eine alltägliche Praxis, die die immense Komplexität dessen, was wir in der Sprache tun, deutlich aufzeigt und damit auch die Vorstellung, unser Sprechen würde auf Regeln basieren, fragwürdig erscheinen lässt, ist das Projizieren von Wörtern in neue Kontexte. Schon im Abschnitt über den Spracherwerb des Kindes kamen wir auf das Projizieren von Wörtern zu sprechen. Dort hieß es, dass ein Kind Wörter in bestimmten Kontexten lernt – »Papa macht Kürbissuppe« – und anschließend lernen muss, dieses Wort in neue Kontexte zu projizieren – »der Bauer erntet Kürbisse und verkauft sie auf dem Markt«,
89 90 91 92 93 94
Ebd. Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 139. Übersetzung D. G. Ebd. Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 30. Ebd. Gabriel: Antike und Moderne Skepsis, S. 146.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
»wir schnitzen ein Gesicht in einen Kürbis und stellen eine Kerze hinein«. Aber noch später in unserem Leben projizieren wir Wörter in neue Zusammenhänge. Nehmen wir das Wort füttern: Als Kinder lernen wir den Gebrauch von »füttere die Katze« oder »füttere den Affen«. Irgendwann hören wir dann Dinge wie »füttere die Parkuhr«, »füttere die Maschine«, »füttere sein Selbstvertrauen« oder »füttere das Kleid« – und wir verstehen das normalerweise und wundern uns nicht. Wir haben das Wort »füttern« in einen neuen Zusammenhang projiziert. 95 Unsere Sprache ist tolerant genug, um solche Projektionen zuzulassen. Sie ist aber gleichzeitig intolerant, denn nicht jede Projektion ist annehmbar bzw. kommunizierbar. Wir können einen Affen füttern, indem wir ihm Bananen geben, wir füttern ihn jedoch nicht, wenn wir versuchen, Münzen in seinen Mund zu schieben. Genauso wenig wird eine Parkuhr gefüttert, indem ich probiere, eine Banane in den Münzschlitz zu zwängen. 96 Das Bemerkenswerte an unserem Sprechen ist, wie einfach wir neuen Projektionen, Geschichten und Witzen folgen können. Wir teilen ein Gefühl dafür, welche Projektionen möglich sind und welche nicht. Normalerweise sind wir hungrig nach Essen. Wir verstehen es aber auch, wenn jemand sagt, es hungere ihn nach Leben, nach neuen Erfahrungen oder neuen Geschichten, nach jemandes Küssen oder nach Gesellschaft. Wir akzeptieren es aber nicht, wenn jemand sagt, es hungere ihn nach Achterbahnen oder nach Ruhe. Hilary Putnam führt das folgende, komplexere Beispiel für Projektionen von Wörtern an: Ein ehemalig katholischer Philosoph, der kürzlich zum Atheisten wurde, hält eine Rede auf einer Konferenz für römisch-katholische Philosophen. Die ersten Worte an seine Zuhörer, die um seine Abkehr vom christlichen Glauben wissen, lauten: »Ich schätze, ich bin der Löwe, der vor die Christen geworfen wird.« 97 Es gibt zwei Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit dieser Witz für uns verstehbar wird. Zunächst einmal müssen wir von der römischen Sitte wissen, Christen vor die Löwen zu werfen. Ist diese Bedingung erfüllt, ist es zudem erforderlich, dass wir die entspreCavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 307. Ebd., S. 310. 97 Putnam, Hilary: »Rules, Attunements, and Applying Words to the World: The Struggle to Understand Wittgensteins Vision of Language« in: Mouffe, Chantall/ Nagl/Ludwig: The Legacy of Wittgenstein: Pragmatism or Deconstruction. New York 2001, S. 13. 95 96
100 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
chenden Verbindungen ziehen und sozusagen den gleichen gedanklichen Weg wie der Redner gehen. Dass jeder von uns das wirklich tut, ist nicht sicher, doch tatsächlich werden es die meisten tun und diese Eröffnung als witzig empfinden. Vorgänge wie die hier beschriebenen, darin stimmen Putnam und Cavell überein, können nicht durch ein Netzwerk von Regeln organisiert werden. Und dennoch geschehen sie die ganze Zeit, ohne dass irgendetwas ihr Gelingen garantiert. »Wir lernen und lehren Worte in bestimmten Zusammenhängen (Kontexten) und erwarten von anderen, wie sie von uns, dass sie in der Lage sind, sie in weitere Kontexte zu projizieren. Nichts gewährleistet, dass diese Projizierung auch stattfindet (weder das Erfassen von Allgemeinbegriffen noch das Erfassen von Lehrbüchern), so wie auch durch nichts gewährleistet ist, dass wir dieselben Projizierungen vornehmen und verstehen. Dass wir es im großen und ganzen dennoch tun, beruht auf gemeinsamen Interessen und Gefühlen, Formen der Reaktion, dem gleichen Sinn für Humor und der Bedeutung und Erfüllung dessen, was schändlich ist, einander »ähnelt«, was ein Tadel, was Verzeihung ist, wann eine Äußerung eine Behauptung, wann eine Bitte und wann eine Erklärung ist – diesen ganzen Schwarm von Organisationen nennt Wittgenstein Lebensformen. Und eben darauf beruhen die menschliche Sprache und Tätigkeit. Es ist eine ebenso einfache wie schwierige Vision, und sie ist ebenso schwierig wie erschreckend.« 98
Unsere Sprache fußt also nicht auf einem festen Fundament aus Regeln und Vorgaben, sondern beruht allein auf unserer Übereinstimmung in der Lebensform. Es gibt nichts Darunterliegendes, das unsere Kommunikation organisiert und sicherstellt. »[N]ichts reicht tiefer als die Tatsache oder das Ausmaß der Übereinstimmung selbst.« 99 Nichts kann unsere Sprache begründen außer unserem menschlichen Einklang. Deswegen müssen wir ihn als letzten Grund akzeptieren, über den hinaus wir keine Erklärungen haben.
Was Wittgenstein mit Grammatik meint Wenn ich etwas sage, zum Beispiel eine Projektion vornehme, dann habe ich nichts, von dem ich ausgehen kann, außer mir selbst. Und trotzdem beanspruche ich, für andere verständlich zu sein. Mein ei98 99
Cavell: Der Zugang zu Wittgensteins Spätphilosophie, S. 81. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 86.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
genes Bewusstsein ist offensichtlich alles, von dem aus ich fortfahren kann, und ich wende mich an andere mit der Idee, dass sich ihr Bewusstsein mit dem meinen im Gleichschritt befindet. Als Teil der sprechenden Gemeinschaft bin ich ein Repräsentant aller Sprechenden. Spreche ich, dann spreche ich auch für sie, und ich muss akzeptieren, dass sie auch für mich sprechen, wenn sie Äußerungen machen. Die Tatsache, dass unsere Sprache etwas Gemeinschaftliches ist und dass sie unvorstellbar systematisch ist, fasst Wittgenstein mit dem Begriff der Grammatik zusammen, 100 der nicht mit dem Grammatikbegriff der Linguisten verwechselt werden darf. 101 Die Systematik unserer Sprache besteht aber wie gesagt nicht in fixen, erklärbaren Regeln, sondern darin, dass wir als Menschen wissen, was man sagen kann und was nicht. Es ist uns aber unmöglich, unseren Sprachgebrauch vollständig zu überblicken und zu erklären, denn dafür ist er viel zu komplex. Aber auch wenn wir keine festen Erklärungen für unsere Sprache haben, so haben wir doch die Möglichkeit, unsere alltäglichen Praktiken zu erkunden und zu beschreiben, um so ein klareres Bild unserer Übereinstimmung, unserer Lebensformen und unseres Sprechens zu gewinnen. 102 Bei Wittgenstein heißt es: »Es ist die Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die Zusammenhänge sehen […] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung.« 103
Eine übersichtliche Darstellung, ein klarer Überblick ist für Wittgenstein das Ziel des Philosophierens. Cavell setzt die grammatische Untersuchung mit dem Aufdecken unserer Kriterien gleich. An anderer Stelle spricht er von dem Appellieren an die transzendente Logik der Sprache, dem Rückführen der Wörter, der Erinnerung an das, was wir für gewöhnlich sagen, dem Vorstellen fiktiver Situationen, also der projektiven Imagination, und dem Appellieren an das Selbstwissen
100 101 102 103
Ebd. S. 82. Korsmeier: Sprache erfahren, S. 25. Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 25. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 84 (§ 122).
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
der Sprecher. 104 Indem wir uns selbst auf unsere Kriterien aufmerksam machen, können wir herausfinden, was die Konzepte, die wir von den Dingen haben, bedeuten und was sie implizieren. Zu wissen was Schmerz ist, heißt dann zu wissen, was für uns als Schmerz zählt. 105 Kriterien ermöglichen es uns Urteile über die Gegenstände der Welt zu treffen. Wittgenstein verwendet laut Cavell die Idee der Kriterien also, »um zu beschreiben, in gewisser Weise: um zu erklären, wie sich Sprache auf Gegenstände bezieht und sie miteinander in Beziehung setzt, wie Gegenstände unter unsere Begriffe fallen, wie wir Gegenstände und Namen individuieren, wie wir uns auf Benennbares einigen und warum wir Gegenstände so nennen, wie wir sie nennen – Fragen die klären, was jeweils als Beispiel zählt, das unter unsere Begriffe fällt, dieser Gegenstand als ein Tisch, jener als ein Stuhl, dieser als ein Mensch, jener als ein Gott. Sprechen heißt sagen, was zählt. 106
Die Bedeutung der Dinge wird hier ganz an unser – sprachliches – Urteil über diese Dinge gebunden. Eine solche Konzentration auf das Urteil versteht das menschliche Wissen als die Fähigkeit, die Dinge einer Welt in den Begriffen einer Sprache zu erfassen. Das bedeutet, dass die Grenze menschlichen Wissens mit der Grenze der menschlichen Begriffe zusammenfällt. 107 Erst die Vorstellung, dass die Welt, die wir erfahren, dass alles, was wir wissen, auf diese Weise durch unsere Begriffe geordnet ist, macht Austins und Wittgensteins Hinwendung zur Alltagssprache verstehbar. 108 Diese Hinwendung wird aber erst dadurch wichtig, dass wir uns unserer Kriterien nicht immer bewusst sind. Wir sind dann orientierungslos, wir kennen uns nicht aus, wie Wittgenstein sagt. 109 Somit appellieren wir an unsere geteilten Kriterien, wenn wir Orientierung suchen, »wenn wir in Bezug auf unsere Worte und die von ihnen antizipierte Welt ratlos sind.« 110 Eine Ermittlung unserer Kriterien könnte ungefähr so aussehen:
Korsmeier: Sprache erfahren, S. 26./Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 266 f. Hammer: Stanley Cavell, S. 34. 106 Cavell, Stanley: »Eine Lektüre des Wintermärchens«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main 2002, S. 161. 107 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 62. 108 Hammer: Stanley Cavell, S. 35. 109 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 84 (§ 123). 110 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 88. 104 105
103 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
»(1) Wir merken, dass wir etwas über ein Phänomen wissen möchten, z. B. Schmerzen haben, etwas erwarten, etwas wissen, etwas verstehen, einer Meinung sein … (2) Wir erinnern uns an die Art von Aussagen, die wir darüber machen. (3) Wir fragen uns, welche Kriterien wir haben (worauf wir uns stützen), um zu sagen, was wir sagen.« 111
Die gesamte Idee des Berufens auf die gewöhnliche Sprache kann letztlich als ein Berufen auf unsere geteilten Kriterien zusammengefasst werden. 112
Cavells »Wahrheit des Skeptizismus« Wir kommen nun zu der Orientierungslosigkeit oder der Verwirrung, um die es in dieser Arbeit geht: dem Skeptizismus. In traditionellen Interpretationen sollen die Kriterien als eine direkte Widerlegung des Skeptizismus ins Feld geführt werden. Cavell bezieht sich in Der Anspruch der Vernunft hauptsächlich auf die Arbeiten von Rogers Albritton (1923–2002) und dem Wittgensteinschüler Norman Malcolm (1911–1990), weswegen er in diesem Zusammenhang auch von der Malcolm-Albritton-Auffassung spricht. 113 Sie verhandeln den Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen entlang der Frage, ob ich wirklich wissen kann, dass ein anderer Schmerzen hat. »Was sollen Wittgensteins Kriterien leisten? Sowohl die Verteidiger Wittgensteins als auch seine Kritiker nehmen, grob gesagt, an, diese Kriterien seien die Mittel, um die Existenz von etwas mit Gewissheit festzustellen – in dem wohl bekanntesten Fall, dass die Kriterien für Schmerz (selbstredend äußere Kriterien) die Mittel sind, um mit Sicherheit wissen zu können, dass
Ebd., S. 81. Hall, Robert L.: The Human Embrace. University Park 2000, S. 140. 113 In seinem früheren Text Wissen und Anerkennen schließt Cavell auch noch die Ausführungen von John W. Cook mit ein. Albritton, Rogers: »On Wittgenstein’s Use of the Term Criterion«, in: Pitcher, George: Ludwig Wittgenstein: The Philosophical Investigations, A Collection of Critical Essays, New York 1966. Cook, John W.: »Wittgenstein on Privacy«, in: The Philosophical Review 74, 1965, S. 281–314. Malcolm, Norman: »Wittgensteins Philosophical Investigations«, in: Pitcher, George: Ludwig Wittgenstein: The Philosophical Investigations, A Collection of Critical Essays, New York 1966. 111 112
104 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
ein anderer Schmerzen hat – dass das, von dem wir sagen, es gehe in dem anderen vor, jetzt tatsächlich in ihm vorgeht.« 114
Die übliche Argumentationslinie verläuft wie folgt: Wenn der Skeptiker sagt, dass wir gar nicht wirklich wissen können, ob ein anderer Schmerzen hat, weil wir in diesem Moment nicht den gleichen Schmerz haben können wie er, dann antworten Philosophen wie Albritton und Malcolm, dass wir es doch wissen können, weil die Kriterien für Schmerz vorliegen. Hat jemand Schmerzen, dann wird er vielleicht wimmern oder sein Gesicht verzerren, und daraus können wir schließen, dass er Schmerzen hat. Denn »Wimmern« und »Gesicht verzerren« sind Kriterien für »Schmerzen haben«. Malcolm schreibt: »Die Erfüllung des Kriteriums von y stellt die Existenz von y fraglos fest: Sie wiederholt die Art von Fall, in der man uns beigebracht hat »y« zu sagen […] Es ergibt keinen Sinn für jemanden anzunehmen, dass ein anderer keine Schmerzen hat, wenn das Kriterium dafür erfüllt ist, dass der andere Schmerzen hat.« 115
Die schreckliche Konklusion des Skeptizismus, die besagt, dass wir nicht wissen können, was in anderen vorgeht, soll anhand der Kriterien ausgehebelt werden. Über die äußeren Kriterien sollen wir mit Sicherheit erfahren, wie es im Inneren einer anderen Person aussieht. Cavell dagegen will zeigen, dass Kriterien uns keine Gewissheit über die Existenz von etwas geben können und sie deswegen den Skeptizismus auch nicht entkräften. Er möchte aber auch das Wenige hervorheben, das Kriterien leisten können bzw. zeigen, warum es, je nach Darstellungsweise, nach so wenig aussieht. 116 Jemand hält sich die Wange und wimmert. Wir sehen das und sagen, dass dieser jemand Zahnschmerzen hat. Wir können diese Feststellung machen, weil unsere Kriterien für Zahnschmerzen – Wange halten und Wimmern – ganz klar erfüllt sind. Der Skeptiker macht nach Cavell aber zu Recht darauf aufmerksam, dass wir gar nicht die absolute Gewissheit haben, dass der andere Schmerzen hat. Wir können nicht in den anderen hineinsehen, wir können nicht fühlen, was er fühlt. Alles, was wir sehen, ist sein verzerrtes Gesicht, sein
114 115 116
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 46. Malcolm: Wittgensteins Philosophical Investigations, S. 84. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 47.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Halten der Wange. Welche Rolle spielen denn dann Kriterien im Bezug auf andere, wenn sie uns gar nicht zeigen können, dass etwas, zum Beispiel Schmerz, vorliegt? Die Antwort darauf lautet, dass Kriterien uns zeigen, dass Schmerzverhalten vorliegt. Man könnte sagen, dass wir eigentlich keine Kriterien für Schmerz haben, sondern »nur« Kriterien für Schmerzverhalten. Deswegen können Kriterien auch nicht versagen, denn sie sind durch das Schmerzverhalten erfüllt oder eben nicht da. Es gibt aber keine Kriterien die darüber hinausgehen. 117 Wenn uns jemand nur vorspielt, er habe Schmerzen, dann muss er wirklich Schmerzverhalten simulieren, sonst gelingt sein Scherz nicht. Das heißt, er muss weiterhin die Begriffe beibehalten, er muss die Kriterien für Schmerzverhalten erfüllen, und daher wissen wir, dass es Schmerz ist, was er vortäuscht und er weiß, wie er Schmerz vortäuschen kann. Kriterien sagen uns nichts über die Existenz der Dinge, sondern über deren Identität. Sie sagen uns, wie die Dinge sind, nicht dass sie sind. 118 Der Skeptiker, der sagt, dass wir nicht mit Sicherheit über andere wissen können, präsentiert seinen Schluss wie eine erschütternde Entdeckung. Doch tatsächlich handelt es sich nicht um eine Entdeckung, sondern lediglich um eine Beobachtung einer der grundsätzlichsten Tatsachen unseres Lebens: dass wir Menschen voneinander und von der Welt getrennt sind, dass wir die Existenz der Außenwelt oder des Fremdpsychischen nicht mit Gewissheit wissen können und dass unsere Kriterien, nach denen wir unsere Sprache und Welt ordnen, keineswegs die Realität in einem absoluten Sinne reflektieren, sondern einfach unsere Übereinstimmung ausdrücken, unseren menschlichen Weg, Konzepte und Urteile anzuwenden. 119 Der Skeptizismus macht uns auf diese Tatsache aufmerksam, und deswegen nennt Cavell es »die Wahrheit des Skeptizismus«, dass »nämlich die Grundlage des Menschen in der Welttotalität, seine Beziehung zur Welt als solcher, nicht kognitiver Art ist oder jedenfalls nicht von der Art, was wir uns darunter vorstellen.« 120
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 103. Ebd., S. 105. 119 Ebd., S. 42. 120 In dieser Erkenntnis sieht Cavell Heidegger und Wittgenstein vereint. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 401. 117 118
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
»Unsere Beziehung zur Welt als ganze oder zu anderen im allgemeinen ist nicht eine des Wissens, wo Wissen sich selbst als gewiss ausgibt. Dabei ist aber auch wahr, dass es uns nicht misslingt, solche Dinge zu wissen.« 121
Wittgenstein geht es mit seiner Berufung auf die Kriterien nicht um eine Widerlegung des Skeptizismus, vielmehr bejaht er dessen zentrale These. 122 Die Idee der Kriterien hat die Erkenntnis des Skeptizismus in sich aufgenommen, denn auch sie führen vor, dass wir begrenzt sind bei dem, was wir über andere erfahren können. Die Bedrohung, die der Skeptizismus für unser Denken und unsere Kommunikation bedeutet, wird nie endgültig abgewendet werden können. 123 Aber Wittgensteins Kriteriendiskussion drückt stets beides aus: grenzenloses Staunen über die menschliche Fähigkeit zur Kommunikation und Anerkennung der Beschränktheit menschlichen Wissens. Wobei sich diese Beschränktheit vor allem in einer Abhängigkeit äußert – in einer Abhängigkeit von unserer Übereinstimmung mit anderen. Unsere Kriterien sind »nur menschlich«, sie haben ihren Sinn und ihre Bedeutung in unserer Übereinstimmung in der Sprache. Sie sind aber nicht metaphysisch verbunden mit der Natur der Dinge. Dadurch ist die Zurückweisung von Kriterien eine ständige Möglichkeit des Menschlichen. 124 Diese Nichtakzeptanz der Kriterien nennt Cavell ebenfalls Skeptizismus. Unser gesamtes Wissen über andere basiert auf unserer Übereinstimmung in der Lebensform, darauf, dass wir die geteilten Kriterien gelten lassen. Ist unsere Übereinstimmung zwar quasi-natürlich für uns, so garantiert doch nichts, dass wir sie in bestimmten Situationen nicht aufkündigen, dass wir unsere Kriterien einmal nicht gelten lassen. Der Skeptizismus ist ein Ergebnis der menschlichen Freiheit. Wir können jederzeit selbst entscheiden, ob ein Kriterium für uns zählt. Kriterien gelten zu lassen bedeutet in Bezug auf einen anderen, dass ich seinen Körper als das Zuhause meiner psychologischen Konzepte von ihm akzeptiere. 125 Dass ich also sein Wimmern und sein Wange halten als einen Ausdruck von Schmerz anerkenne. Es liegt jederzeit in meiner Verantwortung, dies zu tun. Ich muss es nicht tun. Und vielleicht habe ich auch Gründe, 121 122 123 124 125
Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 108. Hammer: Stanley Cavell, S. 32. Ebd., S. 46 f.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
oder glaube, Gründe zu haben, es in gewissen Momenten nicht zu tun. Das Gelingen unserer Kommunikation hängt von unserem Vertrauen in die Kriterien ab und von unserer Verantwortung, die wir bereit sind, für sie zu übernehmen. Der Skeptiker aber verliert das Vertrauen in das, was wir sagen, und sucht nach etwas, das ihn seiner Verantwortung entheben kann. 126 Deswegen beginnt er seine Überlegung, die ihn zu etwas Sicherem oder Festem führen soll. Etwas »Festes« zu finden war ja auch das erklärte Ziel Descartes’. 127 Der Skeptiker drängt also zwischen Schmerz und Schmerzverhalten und sucht nach einer festen Verbindung zwischen beiden. 128 Er sagt: »Ich weiß ja eigentlich gar nichts sicher über den anderen« und möchte deswegen herausfinden, wie er denn wirklich etwas über den anderen wissen kann. Genau wie Descartes, der feststellte, dass uns unsere Sinne gelegentlich täuschen und dann schlussfolgerte, dass wir ihnen deswegen nicht vertrauen sollten und nach etwas Sichererem suchen sollten, kann der Skeptiker auch unsere Kriterien in Zweifel ziehen. Er stellt fest, dass wir uns gelegentlich täuschen, aber vor allem stellt er fest, dass jederzeit die Möglichkeit der Täuschung besteht. Den Skeptiker verunsichert, dass er Verantwortung übernehmen muss für unser Sprechen. Er muss sich äußern, um verstanden zu werden. Vielleicht muss er es mehrmals tun und vielleicht wird er dann immer noch nicht verstanden. Und genauso muss er versuchen, die Äußerungen der anderen zu verstehen. Er muss mögliche Missverständnisse berücksichtigen. Was ihn aber darüber hinaus verängstigt, ist seine unbestimmte Abhängigkeit von den anderen. Vielleicht können einige seinen Projektionen nicht folgen, obwohl es für andere kein Problem zu sein scheint. 129 Ein anderer kann seinen Anspruch an das, was »wir« sagen, seinen Anspruch an die Kriterien, den er für »geteilt« gehalten hat, jederzeit zurückweisen. 130 Sein Schmerz kann unerkannt und unerwidert bleiben. Es gibt eben keine festen Verbindungen zwischen uns und statt Staunen über den menschlichen Einklang kann sich eine BeunruhiEbd. Descartes: Meditationen, S. 63. 128 Vergleiche: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 146 (§ 245). »Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?« 129 Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 33. 130 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 64. 126 127
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
gung über die Unsicherheit und Fehleranfälligkeit menschlicher Kommunikation breitmachen. Und es ist diese Beunruhigung, an der sich der Skeptizismus nährt. Der Wunsch, nicht länger Verantwortung für unsere geteilten Lebensformen zu tragen und nicht mehr abhängig davon zu sein müssen, dass andere es auch tun, lässt den Skeptiker nach einer metaphysischen Verbindung zu anderen suchen, die unsere Verhältnisse für uns regelt. Doch es gibt nichts, das das für uns tun könnte. Wir selbst müssen es tun. Weil es nichts für ihn zu finden gibt und er im selben Zuge unsere Übereinstimmung, unser Aufeinander-eingestellt-Sein, wegwischt, endet der Skeptiker in eben jenem Nichts, in dem sich auch Descartes in seinen Meditationen wiederfindet. Er hat keine feste Verbindung zu anderen gefunden und gleichzeitig das Vertrauen in den menschlichen Einklang verloren. Er ist nun abgeschnitten. Er ist allein. Mit Hilfe der Kriterien soll offengelegt werden, wo der Ursprung der Enttäuschung über das menschliche Wissen liegt. 131 So wie Cavell es beschreibt, entsteht sie aus der Nicht-Anerkennung der Wahrheit des Skeptizismus, also daraus, dass wir oftmals nicht bereit sind zu akzeptieren oder uns nicht bewusst sind, dass unsere Beziehung zur Welt keine des Wissens ist. Wenn wir dem Leben mit dem Anspruch begegnen, über die Dinge mit völliger Gewissheit Bescheid wissen zu können, dann müssen wir zwangsläufig immer wieder von Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten enttäuscht werden. Appellieren wir an unsere Kriterien – appellieren wir an andere – mit der Erwartung, absolutes Wissen über eine Sache erlangen zu können, werden wir die zwangsläufigen Rückschläge – die Täuschungen, die Irrtümer – als ein »systematisches« Problem auffassen, also nicht als ein Problem, das mit einem konkreten Fall – mit dir und mir – zu tun hat, sondern mit unserer Möglichkeit zu wissen an sich. Daraus werden wir den folgenreichen Schluss ziehen, dass die Kriterien nicht ausreichend sind, dass sie nicht funktionieren, dass es nicht genug ist, was ich erfahren kann und dass es etwas anderes, tiefer Reichendes geben muss. Weil es aber nichts anderes als unsere menschlichen Möglichkeiten, Wissen über andere zu erlangen, gibt, schreibt Cavell auch, »dass es uns nicht misslingt«, mit absoluter Sicherheit zu wissen, wie es in anderen aussieht. 132 Wir können Wissen
131 132
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 103. Ebd., S. 105.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
über andere einfach nicht anders als über unsere manchmal fehlerhafte Kommunikation erlangen. Genauso könnten wir uns wünschen, Gegenstände durch Willenskraft zu bewegen. Hätten wir solche Fähigkeiten wären wir keine Menschen mehr. Die Vorstellung von absoluter Gewissheit und unbedingter Sicherheit ist eine Phantasie, oder eine der »Verhexungen unseres Verstandes« wie Wittgenstein es nennt, von denen wir uns befreien müssen. 133 Fatalerweise übernehmen diejenigen, die den Skeptiker widerlegen wollen, dessen grundlegenden Ansatz: Wenn die Antiskeptiker dem Skeptiker beweisen wollen, dass wir doch wissen können, dann verstehen auch sie unsere Beziehung zu anderen vor allem als ein Problem der Gewissheit. 134 Auch sie erliegen der Phantasie einer engeren Bindung an die Erscheinungen der Welt, einer Bindung, die uns unserer Verantwortung enthebt, uns gegenseitig verständlich zu machen. Denker wie Albritton oder Malcolm, die behaupten, Kriterien könnten uns völlige Gewissheit über andere verschaffen, versuchen, unsere Verantwortung an die Sprache abzugeben, indem sie sie als eine Instanz einsetzen, die unsere Verbindung zur Welt für uns regelt. So eine Sublimierung der Sprache verkennt, dass es ja immer »wir« sind, die ein Gespräch gelingen lassen. Der Vorwurf Cavells lautet also, dass die Antiskeptiker in den Denkstrukturen des Skeptikers verharren. Sie übernehmen seine Annahme, dass wir nur wirklich wissen, wenn wir mit absoluter Gewissheit wissen. Indem sie ihr Denken aber auf diese Weise gefangen nehmen, können sie nur verlieren. Hier haben sie aber keine Argumente, die der Skeptiker nicht zunichtemachen könnte. Selbst Malcolm und Albritton müssen einräumen, dass auch nach ihrem Verständnis Kriterien nur nahezu absolute Gewissheit geben können. Sie bleiben auf der Straße, die der Skeptiker eingeschlagen hat und wundern sich, dass diese nur in die eine Richtung führt. Somit sind letztlich alle Versuche, den Skeptizismus direkt zu widerlegen, Formen seiner Verschärfung. 135 In Folge dessen nennt Cavell jede Philosophie, die die Existenz der Welt für ein Wissensproblem hält, Skeptizismus. 136 Die Versuche, den Skeptizismus zu widerlegen, sich von ihm zu heilen, sind Teil des Skeptizis-
133 134 135 136
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 81 (§ 109). Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 64. Khurana: This New Yet Unapproachable Community, S. 46. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 107.
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Kriterien – zwischen Wissen und Zweifel
mus selbst. Eine echte Heilung vom Skeptizismus »würde darin bestehen, ihn neu zu denken, seine Quelle ausfindig zu machen.« 137 Sich im Sprechen oder in der Philosophie auf unsere Kriterien zu berufen, auf das, was wir normalerweise sagen, heißt eine Gemeinschaft vorauszusetzen. Es heißt Gemeinschaft zu fordern, nach ihr zu suchen, danach zu fragen, worauf sie basiert, danach zu fragen, wie Gemeinschaft geschaffen werden kann. 138 Für jede meiner Äußerungen gilt: »Ich habe nichts anderes, worauf ich mich stützen könnte als mein Gefühl, dass ich etwas Sinnvolles sage. Möglicherweise stellt sich heraus, dass ich mich irre, dass meine Überzeugung mich von allen anderen, von mir selbst abschneidet.« 139
Im Sprechen setzen wir uns der Gefahr aus, nicht verstanden zu werden, nicht zu verstehen, plötzlich allein zu sein. Nichts kann sicherstellen, dass unsere Kommunikation gelingt. Wir kommen um die Gefahr, Gemeinschaft in diesem Fall zu verlieren, nicht herum. Wenn wir aber, aufgrund unserer Unzufriedenheit mit der menschlichen Fähigkeit des Ausdrucks, unsere geteilten Kriterien verwerfen – »die Worte aus unserem gemeinschaftlichen Besitz rauben« – und dann versuchen, aus dieser Position ganz allein eine Verbindung zu anderen herzustellen, dann haben wir unsere Gemeinschaft, die in unserer Übereinstimmung begründet ist, von vornherein geleugnet, wir haben eine Gemeinschaft dann unmöglich gemacht. 140 Der Skeptiker, der darüber trauert, dass wir nicht genug über andere wissen können, wischt unsere Übereinstimmung in den Kriterien weg und beklagt damit letztlich eine Trennung, für deren Ausmaß er selbst verantwortlich ist. 141 So zu verfahren, bedeutet die eigene Getrenntheit »zu verewigen und zu radikalisieren« – als würde man »die eigene Endlichkeit als Bestrafung verstehen und sie dann in Selbstbestrafung verwandeln.« 142 Indem man die eigene Übereinstimmung auf137 Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt 2002, S. 152 f. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »Recounting Gains, Showing Losses: Reading A Winter’s Tale«, in: Cavell, Stanley: Disowning Knowledge – In Seven Plays Of Shakespeare. Cambridge 1987, S. 193–222. 138 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 66. 139 Ebd. 140 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 60. 141 Hammer: Stanley Cavell, S. 47. Übersetzung D. G. 142 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 60.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
kündigt, setzt man die anderen außer Reichweite. 143 Der Skeptizismus ist eine Weise, »sich selbst zu trennen, sich von der Gemeinschaft zu exkommunizieren, in deren Übereinstimmung die Worte existieren.« 144 Jeder, »der Sprache besitzt kann diese Möglichkeit ergreifen und sie begehren.« 145 Cavell sieht in den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins eine Fortsetzung des alten kantischen Projekts, uns unsere Begrenztheit aufzuzeigen und die metaphysische Spekulation zu kritisieren. 146 Lernen wir anzuerkennen, dass unsere menschliche Existenz einer Beschränktheit des Wissens bestimmt ist, dann können wir auch wieder darüber staunen, was uns im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten trotzdem gelingt. Auf die Kriterien bezogen bedeutet das, dass wir sie als unseren Weg etwas zu erfahren begreifen und dass wir uns bewusst machen, dass dieser Weg eben fehleranfällig ist. Erkennen wir, dass das gelegentliche Scheitern der Sprache »eine Funktion ihrer Ordnung« 147 ist, dann müssen wir aus einzelnen Trugschlüssen nicht die Konsequenz ziehen, dass unser Wissen als Ganzes unzureichend ist. Und wir werden feststellen, wie viel wir wirklich wissen können, wenn auch nicht Wissen in einem absoluten Sinne. Cavell macht sozusagen die Toleranz gegenüber menschlicher Fehlbarkeit zu einer Grundlage unseres Zusammenseins.
II.3 Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen Cavell beschreibt die Kriterien als unseren Weg, etwas über die Gegenstände in der Welt zu erfahren. In der Auseinandersetzung mit den Kriterien wiederholt sich die Erkenntnis des Skeptizismus, nämlich dass unsere Beziehung zur Welt als Ganze keine des – absoluten – Wissens ist. Diese Einsicht nennt Cavell die Wahrheit des Skeptizismus. Doch wenn unsere Beziehung zur Welt nicht durch Wissen im absoluten Sinne konstituiert wird, durch was dann? In welchem Verhältnis stehen wir zu den Dingen der Welt angesichts der Wahrheit Hammer: Stanley Cavell, S. 47. Cavell, Stanley: Disowning Knowledge – In Seven Plays Of Shakespeare. Cambridge 1987, S. 25. Übersetzung D. G. 145 Ebd. 146 Cavell: Pursuits of Happiness, S. 77. 147 Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 112. 143 144
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
Abbildung 1: Die philosophische Wendeltreppe – Treppenhaus im Darmstädter Schloss
des Skeptizismus? Cavells Antwort auf diese Frage lässt sich auf eine Wort bringen: »Anerkennung«. 148 Unsere Beziehung zur Welt ist für Cavell eine der Anerkennung. In The Avoidance of Love heißt es: »Die Welt muss akzeptiert werden; genauso wie die Gegenwärtigkeit anderer nicht gewusst, sondern nur anerkannt werden kann.« 149 Das bedeutet, dass wir die Welt, so wie sie sich uns präsentiert, so wie sie uns erscheint, anerkennen müssen, dass wir andere anerkennen müssen, so wie sie sich uns präsentieren, dass wir anerkennen müssen, dass die Anerkennung von Erscheinungen unsere Art ist, Wissen von der Welt zu erlangen. Cavell stellt keinerlei Zusammenhang her zwischen seinem Begriff der Anerkennung und anderen Anerkennungsbegriffen wie etwa den Hegels oder Gadamers. Tatsächlich beruft Cavell sich hier auf keine Quelle, sagt nirgendwo, wie er überhaupt auf »Anerkennung« kommt. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass er bei Wittgenstein auf Bronfen: Stanley Cavell zur Einführung, S. 97. Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say? Cambridge 1976, S. 325. Übersetzung D. G.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
den Begriff der Anerkennung gestoßen ist, und zwar im folgenden Satz (Abbildung 1) aus Über Gewissheit: »Das Wissen gründet sich am Schluss auf der Anerkennung.« 150 Cavell versteht Anerkennung nicht als eine Alternative zu Wissen, sondern eher als eine Interpretation von Wissen. Er spielt hier mit dem Umstand, dass das englische Wort für anerkennen, »acknowledge«, das Wort für Wissen, knowledge, beinhaltet. 151 Wenn er schreibt, »auf Wissen zu verzichten, bedeute, natürlich, zu wissen«, 152 meint er in diesem Satz mit dem ersten Wissen absolutes Wissen und mit dem zweiten Wissen das Wissen, das wir anerkennen müssen. Erst wenn wir auf absolutes Wissen verzichten lernen, können wir das andere Wissen als unsere Art, Wissen zu erlangen, anerkennen. Wie wir sehen, unterscheidet Cavell also zwischen zwei Wissensbegriffen. Zunächst erscheint es so, als sei Anerkennung ein schwächerer Begriff als der des Wissens. Doch dem ist nicht so, wie Cavell darlegt: »Wenn ich mein Zuspätkommen anerkenne, folgt, dass ich weiß, ich komme zu spät (genau das besagen meine Worte); aber wenn ich um mein Zuspätkommen weiß, folgt nicht, dass ich anerkenne, zu spät zu kommen – wenn es anders wäre, wären menschliche Beziehungen grundlegend anders, als sie es jetzt sind. Man könnte sagen: Anerkennung überschreitet Wissen. (Nicht mit Blick auf die Ordnung des Wissens, aber mit Blick auf die Notwendigkeit, dass ich auf der Basis dieses Wissens etwas tue oder etwas offenbare.)« 153
Dieses Zitat legt nahe, dass Cavell Anerkennung als eine Form des Wissens begreift, die ein Tun meinerseits verlangt, und zwar ein Tun, das über das passive Verstehen eines Umstands hinausgeht. Ein solches Handeln ist zunächst einmal ein innerer Vorgang, wenn ich versuche, mir über mein Wissen bewusst zu werden bzw. es bewusst als mein Wissen akzeptiere. Aber echte Anerkennung ist erst dann vorhanden, wenn mein Wissen in eine äußere Handlung mündet, wenn ich auch nach außen zeige, dass ich anerkenne und deswegen bereit bin zu tun, was getan werden muss. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ich anderen sage »Ich weiß, dass ich zu spät bin und es tut mir 150 Wittgenstein, Ludwig: »Über Gewissheit«, in: Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Band 8. Frankfurt am Main 2006, S. 194 (§ 378). 151 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 8. 152 Cavell: Must We Mean What We Say, S. 325. Übersetzung D. G. 153 Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 62.
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
leid« und dann unter Umständen bei anderen Gelegenheiten versuche, pünktlicher zu sein. Barry Stroud kritisiert Cavell, weil er Anerkennung an die Stelle von Wissen setze und sie als unsere vornehmliche Verbindung zur Welt betrachte. Wenn es uns nicht möglich ist, Wissensaussagen über die Welt als Ganze zu machen, warum sollte uns Akzeptanz oder Anerkennung weniger suspekt erscheinen als Wissen? 154 Cavell schreibt sogar selbst, dass Akzeptanz im Angesicht des Zweifels nachgeben muss. 155 Und warum sollte das Konzept der Anerkennung weniger skeptizistisch sein als die anderen Vorstöße, eine Verbindung zur Welt herzustellen? Strouds Kritik ist nur so lange wirksam, wie Anerkennung als ein Versuch verstanden wird, eine feste Verbindung zur Welt herzustellen. Doch Cavell glaubt nicht mit der Anerkennung eine generelle Lösung für das Problem des Skeptizismus gefunden zu haben. 156 Der Skeptizismus bleibt eine immerwährende Gefahr und Möglichkeit, und Anerkennung geschieht im Angesicht des Skeptizismus. 157 Wenn der Skeptiker nach einer Verbindung zur Welt sucht, dann sucht er nach einer Verbindung zur Welt als Ganze, für die er selbst nicht mehr verantwortlich ist und die dann für immer gesichert ist. Damit tut er so, als wäre »die Welt als Ganze« einfach ein Objekt unter vielen. Cavells Konzept der Anerkennung dagegen besagt, dass wir alle einzelnen Objekte in der Welt immer wieder neu anerkennen müssen. 158 Wir müssen jeden Menschen, jede seiner Regungen, seiner Äußerungen einzeln anerkennen und immer wieder neu anerkennen. Es liegt in unserer eigenen Verantwortung dies zu tun, und das beinhaltet auch immer die Möglichkeit, dass wir es in bestimmten Fällen nicht tun. Es geht Cavell mit Anerkennung keineswegs um eine feste, für immer gesicherte Verbindung, sondern um Beziehungen, die ich selbst ständig neu herstellen muss. In einem ständigen Ringen mit dem Zweifel muss ich jeden Tag von Neuem anerkennen. Anerkennung ist kein Prozess, den ich automatisieren und systematisch beschreiben kann, sie erfordert von mir, dass ich individuell auf Situationen reagiere und das Nötige tue. Deswegen 154 Stroud, Barry: »Reasonable Claims: Cavell and the Tradition«, in: The Journal of Philosophy 77, 1980, S. 731–744. 155 Cavell: The Avoidance of Love, S. 324. 156 Hammer: Stanley Cavell, S. 57. 157 Cavell, Stanley: Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago 1990, S. 35. 158 Hammer: Stanley Cavell, S. 57.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
besteht ein großer Teil des Cavellschen Schaffens darin, Anerkennung bzw. ihre Negation zu beschreiben. Vor allem in den Shakespeare-Tragödien und den von ihm besprochenen Hollywood-Filmen findet er individuelle Beispiele für verwehrte und gewährte, für unterlassene und erlernte Anerkennung.
Jemanden anerkennen In seinem frühen und sehr einflussreichen Text Wissen und Anerkennen greift Cavell Wittgensteins Schmerzbeispiel auf, um vorzuführen, wie Anerkennung unsere gewöhnliche Reaktion auf andere darstellt. Dabei geht es zentral um die Frage, ob ich die gleichen Schmerzen wie ein anderer haben kann. Cavells Text ist eine direkte Reaktion auf verschiedene frühe Wittgenstein-Interpreten, die anhand der Kriterien beweisen wollen, dass wir die gleichen Schmerzen haben können und dass die Angst des Skeptikers deswegen unbegründet ist. 159 Der Skeptiker sagt, ich kann nicht wissen, ob ein anderer das Gleiche fühlt wie ich. Ich kann nicht wissen, dass er, wenn er sagt, er habe Kopfschmerzen, wirklich das Gleiche meint wie ich, wenn ich sage, dass ich Kopfschmerzen habe. Wir können deswegen, schließt der Skeptiker, nie wirklich wissen, was in einem anderen vorgeht. Die Gefühle der anderen bleiben für uns immer verborgen. Die Philosophen der normalen Sprache wollen den Skeptiker widerlegen und beweisen, dass wir sehr wohl etwas über andere wissen können. Sie meinen dazu, seine zentrale Behauptung entkräften zu müssen, die besagt, dass es unmöglich ist, »dass zwei Menschen den gleichen Schmerz haben (oder fühlen)« 160 können. Dabei bedienen sie sich der Wittgensteinschen Kriterien. Bei Wittgenstein heißt es: »Soweit es Sinn hat, zu sagen, mein Schmerz sei der gleiche wie seiner, soweit können wir auch beide den gleichen Schmerz haben.« 161 Die Idee ist hier, dass wir über Schmerzbeschreibungen feststellen können, ob jemand den gleichen Schmerz hat wie ich. Wir sagen, dass es 159 Cook: Wittgenstein on Privacy./Malcolm, Norman: »The Privacy of Experience«, in: Stroll, Avrum (Hrsg.): Epistemology: New Essays in the Theory of Knowledge, New York 1967, S. 129–158. 160 Malcolm: The Privacy of Experience, S. 138. Hier zitiert nach: Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 44. 161 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 149 (§ 253).
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
sich um diesen oder jenen Schmerz handelt, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden. Du hast Schmerzen im Hinterkopf, einen steifen Nacken, dir ist übel: Erfüllt dein Schmerz die gleichen Kriterien wie meiner, dann haben wir beide den gleichen Schmerz. Wie wir schon zuvor gesehen haben, können wir anhand von Kriterien aber nicht feststellen, dass etwas, zum Beispiel ein bestimmter Schmerz, existiert. Die Gleichheit unserer Schmerzen ist nur eine »deskriptive« Gleichheit – unsere Beschreibungen des Schmerzes ähneln sich. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass wir wirklich den gleichen Schmerz haben, und es ist auch nicht gesagt, dass du überhaupt Schmerzen hast. Du könntest mir auch nur etwas vorspielen oder ihn dir einbilden. Würden wir zum Beispiel über Farben reden, dann könntest du mir sagen, die Farbe A von Oberfläche A sieht so und so aus, worauf ich dir die Farbe von Oberfläche B beschreibe. Gleichen sich unsere Beschreibungen, dann nehmen wir an, von der gleichen Farbe zu sprechen. Sicher können wir uns jetzt aber noch nicht sein. Es kann sein, dass deine Beschreibung meiner ähnelt, du aber die Farbe A anders wahrgenommen hast, als ich es hätte. Wir können aber überprüfen, ob die Farben die gleichen sind. Wir können die Oberflächen nebeneinander halten: Sind die Farben ununterscheidbar, dann handelt es sich um die gleiche Farbe, zum Beispiel um die Farbe 314 auf der Farbskala. Wir können aber unsere Schmerzen nicht auf diese Weise nebeneinanderhalten und vergleichen. 162 Auf einer deskriptiven Ebene können wir also die Gleichheit von Schmerzen feststellen. Darauf will Wittgenstein hinaus. Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass uns ein anderer nicht täuscht und sich auch nichts einbildet, können wir nicht von einem gleichen Schmerz im absoluten Sinne sprechen. Man muss nur einmal daran denken, wie viele unterschiedliche Arten von Kopfschmerzen man selbst schon gehabt hat, warum sollte ein anderer nicht noch ganz andere Arten von Kopfschmerzen kennen? Es gibt keine verbindlichen Kriterien, anhand derer wir herausfinden können, welche Schmerzen ein anderer hat. Sie funktionieren nur in einem geteilten sprachlichen Raum, in dem wir akzeptieren, dass jemand Kopfschmerzen hat, wenn er bestimmte Beschreibungen macht. Der Skeptiker kann die Zustimmung zu diesem Raum jedoch jederzeit aufkündigen oder behaupten, dass es jemand anderes tut. Er kann sagen, dass die Worte 162
Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 44 f.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
nicht tief genug, nicht bis zum Schmerz des anderen, reichen. Die Teilbarkeit von Gefühlen übersteigt unsere sprachlichen Möglichkeiten – hier wird die Getrenntheit zwischen mir und dem anderen offenbar. 163 Die Philosophen können aber die Sorge des Skeptikers nicht mithilfe der Kriterien widerlegen. Das vom Skeptiker aufgeworfene Problem bleibt bestehen. Aber haben wir, hat er jetzt wirklich verstanden was sein Problem ist? Worum geht es denn, wenn jemand zu mir kommt und sagt, er habe Schmerzen? Es geht doch nicht darum, dass dieser jemand mir einfach nur eine Information übermitteln will, so dass ich danach sagen kann »Aha, du hast Schmerzen. Gut, dass ich das jetzt weiß.« Der andere kommt zu mir, weil er möchte, dass ich etwas tue, dass ich ihm ein Pflaster gebe, einen Tee koche, ihn tröste, ihm ein Medikament gebe oder den Arzt anrufe. Der andere möchte, dass ich auf seine Schmerzäußerung reagiere. 164 Um Gewissheit geht es nicht. Das ist ein Unterschied zwischen Farben und Schmerzen. Wie Cavell schreibt, unterscheidet sich unser »Interesse an Schmerzen« von »unserem Interesse an Farben.« 165 Bei Farben wollen wir uns vielleicht auf eine Farbe einigen oder herausfinden, ob zwei Oberflächen die gleiche Farbe haben. Tritt aber eine Person mit ihren Schmerzen an mich heran, dann ist es nicht genug einfach zu wissen, dass er Schmerzen hat – Gewissheit ist nicht genug. 166 »Es reicht nicht, dass ich weiß (mir gewiss bin), dass du leidest – ich muss etwas tun oder offenlegen (was immer getan werden kann). Kurz, ich muss es anerkennen, andernfalls weiß ich nicht, was (dein oder sein) Haben von Schmerz bedeutet.« 167
Anzuerkennen, dass jemand Schmerzen hat, heißt, sich eine Vorstellung seines Schmerzes zu machen und sich entsprechend zu verhalten. In diesem Sinne übersteigt Anerkennung Wissen, weil es eine Handlung meinerseits beinhaltet, während »mit Gewissheit zu wissen« schon erfüllt ist, ohne dass ich etwas tue. »Ich weiß, ich habe Schmerzen« ist kein Ausdruck von Gewissheit, es ist ein Ausdruck von Schmerz. Es ist ein Zeigen von Schmerz, ich zeige dir meinen Schmerz. »Ich weiß, du hast Schmerzen« ist kein 163 164 165 166 167
Bronfen: Stanley Cavell zur Einführung, S. 98 f. Ebd., S. 99. Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 48. Ebd., S. 64. Ebd., S. 70.
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
Ausdruck von Gewissheit, es ist ein Ausdruck von Anteilnahme, eine Reaktion auf dieses Zeigen: »Ich weiß, was du durchmachst«; »ich habe alles getan, was ich tun konnte«; »Das Serum wird mit dem Spezialflugzeug gebracht« 168 das ist die Art wie wir das Wort »Wissen« in diesen Zusammenhängen gebrauchen. Anteilnahme wird auf diese Weise ausgedrückt, weil »dein Leiden mich mit einer Forderung konfrontiert.« 169 So wie sich der Schmerz des anderen in seinem Verhalten zeigt, äußert sich auch unsere Anerkennung in meinem Verhalten. Wir müssen zeigen, dass wir Schmerzen haben. Wir müssen zeigen, dass wir wissen, dass jemand Schmerzen hat. Wir müssen uns ausdrücken. Hier können wir nun sehen, wo die Bedenken des Skeptikers ihren Ursprung haben. Es ist eine Unzufriedenheit mit der Beschaffenheit unserer Sprache, unser Angewiesensein auf Äußerung und Ausdruck. Jemand könnte seine Schmerzesäußerung unterdrücken und seinen Schmerz geheim halten. Auf meinen Schmerz könnte auch nicht reagiert werden. Mein Schmerz könnte unbewusst bleiben. »Der Skeptiker zieht seinen beängstigenden Schluss – dass wir nicht wissen können, was eine andere Person fühlt, weil wir nicht die gleichen Gefühle haben können, ihren Schmerz nicht so fühlen können, wie sie ihn fühlt –, und wir sind schockiert; wir müssen ihn widerlegen, denn er würde es doch unmöglich machen, dass man sich uns jemals auf die richtige Weise zuwendet. Der Schock steht bei ihm aber nicht am Anfang. Am Anfang steht die Würdigung der entscheidenden Tatsachen: Ich kann leiden, wenn sonst niemand leidet, ohne dass jemand (anderes) davon wissen muss (oder sich Sorgen macht?); andere können leiden, ohne dass ich davon weiß, was ebenso erschreckend ist.« 170
Das ist also die eigentliche Angst des Skeptikers: Er fürchtet sich davor, dass Anerkennung unterlassen wird, dass sein Schmerz ungehört bleibt, dass er den eines anderen nicht erkennt. »Dann aber geschieht etwas, und anstatt nun der Bedeutsamkeit dieser Tatsachen nachzugehen, nimmt ihn die Frage gefangen – so schien es zumindest –, ob wir das gleiche Leiden verspüren können, das Leiden des je anderen.« 171 168 169 170 171
Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 49. Ebd., S. 49 f.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Cavell geht es hier um den Moment, in dem das eigentliche oder ursprüngliche Anliegen des Skeptikers »abgelenkt« wird. 172 Es wirkt so, als könne der Skeptiker die nackte menschliche Angst, nicht gesehen zu werden, nicht so stehen lassen. In einem Versuch, sie zu rationalisieren, macht er aus einem Problem der Anerkennung eines der Gewissheit. Cavell schreibt, dass das Vorgehen des Skeptikers nur verständlich und ein Ausdruck der Dringlichkeit seines Problems ist – schließlich handelt es sich um eine Angst, für die er unbedingt eine Lösung finden will. 173 Die sogenannten Antiskeptiker wollen den Skeptizismus entkräften, indem sie zeigen, dass man die gleichen Schmerzen haben kann. Sie müssen, wie gezeigt, damit scheitern. Aber auch wenn sie scheitern, halten sie an der Idee des Skeptikers fest, dass das Wissen um Schmerz eines anderen mit der Frage zusammenhängt, ob wir den gleichen Schmerz haben können. 174 Es ist die Idee, dass unser Verhältnis zum Schmerz eines anderen, zu seinem Inneren, eine Frage der Gewissheit ist. Der Skeptizismus – und das schließt sowohl den Skeptiker, als auch den Antiskeptiker mit ein, da beide an den gleichen Voraussetzungen festhalten – stellt sich als ein Bestreben dar, unsere eigene Verantwortung für unsere Verbindungen zu anderen zu leugnen. Darüber hinaus ist er ein Versuch, von unserer eigentlichen Angst abzulenken. Weiter oben habe ich gesagt, es handele sich dabei um die Angst, keine Anerkennung zu erfahren und nicht gesehen zu werden. Jetzt nenne ich es die Angst vor fehlender Zuwendung, die Angst, nicht angenommen zu werden – als Mensch, mit den eigenen Leiden und Bedürfnissen. Es ist die Angst vor der menschlichen Schwäche, vor Abhängigkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit. Wie könnte man davon nicht ablenken wollen? Wie wir später noch sehen werden, wird Cavell in seiner Auseinandersetzung mit den Shakespeare-Tragödien den Skeptizismus als eine Flucht vor der Anerkennung menschlicher Schwäche beschreiben. Anteilnahme kann ausbleiben, man kann auch nicht reagieren. Man kann immer Gründe haben, warum man das Leiden eines ande172 Im englischen Original spricht Cavell von »deflected« – abgelenkt (Cavell: Must We Mean What We Say, S. 247). In der Übersetzung findet man an dieser Stelle »aus den Blick gerät« (Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 50). Später verwendet Cavell »deflected« ein weiteres Mal (Cavell: Must We Mean What We Say, S. 260). Dort wird es auch mit »abgelenkt« übersetzt (Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 66). 173 Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 50. 174 Ebd., S. 52.
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
ren bewusst nicht anerkennt. Diese Gründe können gerechtfertigt sein oder nicht. Man sollte aber gute Gründe haben, wenn man nicht als hartherzig gelten will. Es kann sein, dass man beim Anblick des Leids eines anderen Freude empfindet oder vielleicht auch gar nichts. Dieses Scheitern der Anerkennung darf aber nicht mit einem Scheitern des Wissens verwechselt werden, denn egal ob die Anerkennung scheitert oder erfolgreich ist: Anerkennung und nicht Wissen ist der relevante Begriff. Anerkennung bezeichnet nicht einfach eine gegebene Reaktion, sondern stellt eine Kategorie dar, nach der Reaktionen bewertet werden. Das bedeutet, dass es stets die Anerkennung ist, die entweder stattgefunden hat oder ausgeblieben ist. 175 Der Skeptizismus ist nicht die Entdeckung einer Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens, sondern die Entdeckung der Unfähigkeit, den anderen anzuerkennen. 176 Anerkennung ist also in meinem Verhältnis zum anderen als Kategorie stets gegenwärtig. Das Begehren des anderen, mit seinen Schmerzen anerkannt zu werden, setzt mich als Person in ein Verantwortungsverhältnis zu ihm. »Ein Scheitern des Wissens könnte als bloße Ignoranz, als Abwesenheit von etwas, als Lücke verstanden werden. Ein Scheitern der Anerkennung beschreibt eine Anwesenheit von etwas, eine Verwirrung, eine Indifferenz, eine Unempfindlichkeit, eine Erschöpfung, eine Kälte. Geistige Leere ist keine Lücke.« 177
Ein Scheitern der Anerkennung hat anders als ein Scheitern des Wissens etwas mit mir zu tun. Mein Verhalten mit fehlendem Wissen zu entschuldigen, bedeutet die Verantwortung, die die Lebendigkeit der anderen an mich stellt, nicht wahrzunehmen. Der Skeptiker ist unwillig, seine eigene Position als Gegenüber des anderen anzunehmen, er flieht vor seiner Verantwortung. Was zwischen ihm und dem anderen steht, ist nicht fehlendes Wissen, sondern die Haltung, die er zum anderen einnimmt. Deswegen sollte Skeptizismus nicht als ein intellektuelles Problem, sondern als eine existenzielle Versuchung gesehen werden, 178 als eine Haltung, die ich gegenüber einem anderen aufgrund seiner Undurchsichtigkeit, seiner Getrenntheit von mir einnehme. 179 175 176 177 178 179
Ebd., S. 70. Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 12. Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 70. Hammer: Stanley Cavell, S. 64 f. Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 150.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Ich muss gegenüber dem Skeptiker einräumen, dass nur der andere Gewissheit darüber haben kann, ob er Schmerzen hat oder nicht. Ich bin nicht in seiner Position und werde es auch nie sein. Aber nur weil ich dieses Wissen nicht habe, heißt das nicht, dass mir der Schmerz des anderen verborgen ist. Für gewöhnlich zeigt er ihn mir ja. Ich darf aus meinem Mangel an Gewissheit nicht schließen, dass ich gar nichts weiß. 180 Vor allem aber darf ich den Anspruch nicht ignorieren, den das, was die anderen mir zeigen, an mich stellt. Es würde bedeuten, ihnen gegenüber meine Menschlichkeit zurückzuhalten. Ja, ich kann nie um den Schmerz des anderen wissen, so wie er darum weiß. Aber unsere Getrenntheit kann auch als Chance begriffen werden. Es steht mir völlig frei, wie ich mich an dieser Stelle verhalte. Und was bedeutet es, wenn ich mich völlig freiwillig und ohne jede Sicherheit dem anderen zuwende? Man könnte sagen, dass eine solche Zuwendung viel wunderbarer ist, als eine Zuwendung, die lediglich aus Gewissheit geschieht. Aber eigentlich wissen wir gar nicht, wie so eine Zuwendung aussehen würde, denn erst durch unsere Getrenntheit kann es Zuwendungen von einer Person zu einer anderen geben. »An den Punkt eines unumgänglichen Unvermögens gelangt, bleibt es uns offen, wie wir auf die Erfahrung der Getrenntheit von allen anderen Menschen reagieren. Was sich nämlich den Anschein des Unvermögens gibt, würde womöglich verschwinden, wenn ich mir stattdessen Klarheit darüber verschaffte, wozu ich in meinem Bezug zum Anderen tatsächlich befähigt bin.« 181
Von dem Schmerz eines anderen zu wissen, bedeutet ihn anzuerkennen oder die Anerkennung zurückzuhalten. 182 In dieser Formel, die Cavell für den Fall der Schmerzen einer anderen findet, kommt seine Vorstellung unseres Verhältnisses zum Fremdpsychischen als Ganzes zum Ausdruck. Mein Verhältnis zum Inneren eines anderen Menschen äußert sich durch mein Handeln und durch nichts anderes. »Ich sagte, nur ich könnte das (Innen-)Leben des anderen erreichen. Mein Zustand ist nicht genau der, dass ich das Leben des anderen dorthin setzen muss, und auch nicht genau der, dass ich es da belassen muss. Ich reagiere darauf (muss darauf reagieren), oder ich muss mich weigern zu reagieren. Es fordert mich auf; es fordert mich heraus. Ich muss es anerkennen.« 183 180 181 182 183
Bronfen: Stanley Cavell, S. 100. Ebd., S. 101. Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 73. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 163.
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
Die Lebendigkeit eines anderen Menschen erkenne ich durch mein Handeln an. Auf diese Weise bin ich an das Leben der anderen ebenso schicksalsmäßig gebunden wie an mein eigenes. Die Unmittelbarkeit des Erlebens meiner eigenen Existenz ist mein Schicksal in Bezug auf mich. Die Getrenntheit ist mein Schicksal in Bezug auf andere. Mein Verhältnis zu mir und mein Verhältnis zu den anderen – beides ist nichts anderes als natürlich oder gewöhnlich. 184
Die Anerkennung des Gewöhnlichen Die Anerkennung anderer ist stets auch eine Anerkennung des Gewöhnlichen. Erkenne ich die Schmerzen des anderen an und wende mich ihm zu, dann erkenne ich die Zeichen und Worte als das an, was wir gewöhnlich mit ihnen meinen. Wenn er mir zeigt und sagt, er habe Kopfschmerzen, dann nehme ich das so an, wie er es zeigt und sagt. Wenn er mir später sagt, dass er mir dankbar ist und mich mag, erkenne ich das an. Ich erkenne seine – natürlich äußeren – Äußerungen als Ausdrücke seines Innenlebens an. Wenn er sagt, er wisse, was ich fühle, dann bin ich mir bewusst, dass er es nicht ganz genau so wissen kann wie ich, aber dass er versucht es nachzuvollziehen, dass er versucht, sich in meine Lage hineinzuversetzen. Da sich unsere gemeinsamen Leben in der Sprache ereignen und begegnen, geschieht die Anerkennung anderer Menschen auch durch die Anerkennung unserer menschlichen – gewöhnlichen – Sprache. In der Anerkennung anderer erkenne ich die gewöhnlichen Tatsachen unserer Existenz an: dass unser Verhältnis zur Welt keines des absoluten Wissens ist, dass wir auf Kriterien angewiesen sind, um etwas zu erfahren, dass unsere Worte in bestimmten Kontexten etwas Bestimmtes meinen und in anderen Kontexten etwas anderes, dass wir uns mitteilen müssen, wenn wir wollen, dass andere etwas über uns wissen, dass Sprache unser Schicksal ist, 185 dass wir Menschen Lebensformen teilen, dass wir im Einklang miteinander sind, dass wir getrennt voneinander sind. Das Gewöhnliche ist, einer Selbstbeschreibung Cavells zufolge, genau wie die Anerkennung, eines der »größten Tiere aus dem
184 185
Ebd. Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 39.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
Dschungel« seiner Interessen. 186 Er leitet diesen Begriff einerseits aus Austins und Wittgensteins Hinwendung zur gewöhnlichen Sprache ab, andererseits von Emersons und Thoreaus Zuwendung zu dem, was sie das Gemeine (»common«), das Bekannte (»familiar«) und das Geringe (»low«) nennen. Mit dieser Verbindung will Cavell zeigen, dass beide philosophischen Strömungen, die Philosophie der Alltagssprache und der amerikanische Transzendentalismus, mit ihrer Betonung des Gewöhnlichen Antworten auf den Skeptizismus formulieren 187 – Antworten wohlgemerkt und keine Widerlegungen. Eine Anerkennung des Gewöhnlichen bedeutet somit in einem Zuge eine Anerkennung der gewöhnlichen Welt, die uns umgibt und eine Anerkennung der gewöhnlichen Sprache, mit der wir die Welt begreifen und in Verbindung mit anderen stehen. Es ist Cavells Überzeugung, dass kein eindeutig bestimmtes Bild des Gewöhnlichen entworfen werden kann und darf. Tatsächlich kritisiert er solche Versuche bei Heidegger. Die Philosophen der gewöhnlichen Sprache und die Transzendentalisten würden dies dagegen nicht tun. Das Beste was wir noch tun können, um einem Bild des Gewöhnlichen näher zu kommen, ist – wie Thoreau in Walden – es in Einzelszenen zu beschreiben, 188 denn auch unsere Zugänge zum Gewöhnlichen sind immer wieder einzelne Zugänge, die jeden Tag anders und neu erfolgen. In einem Moment, in dem wir im Gras an einem Waldsee sitzen und einen Vogel beobachten oder in der Anerkennung eines konkreten Leidens eines anderen. Antje Korsmeier weist darauf hin, dass hier das »Alltägliche« des Gewöhnlichen seinen Sinn bekommt: »jeden Tag, Tag für Tag« muss es anerkannt, wiedergewonnen werden. 189 Es ist uns nur in der tagtäglichen Wiederholung zugänglich. »Das Gewöhnliche ist kein Zustand, nichts Festes; es steht jeden Tag neu auf dem Prüfstand.« 190 Und das ist genau, was den Skeptiker beunruhigt. Er will, dass er nichts tun muss. Er will, dass das Gewöhnliche einfach so zu ihm kommt bzw. dass es immer schon da ist. Dabei ist das Gewöhnliche stets eine außergewöhnliche Cavell, Stanley: »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt 2002, S. 76. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: »The Uncanniness of the Ordinary«, in: Cavell, Stanley: In Quest of the Ordinary. Chicago 1988, S. 153–180. 187 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 4. 188 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 26. 189 Ebd., S. 47. 190 Ebd., S. 48. 186
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Anerkennung als unsere Beziehung zur Welt und zu anderen
Leistung – eine Überzeugung, die Cavell von den Romantikern übernimmt. 191 Das Prekäre des Gewöhnlichen ängstigt den Skeptiker. Denn einerseits ist das Gewöhnliche »unsere Gewohnheit, oder Zuhause«, 192 andererseits scheint es auch fortwährend auf dem Spiel, denn wir sind immer gerade dabei es zu verlieren, weswegen wir es auch immer wiedergewinnen müssen. Das Gewöhnliche ist, was der Skeptiker erreichen will, doch gleichzeitig ist das Gewöhnliche das, was er selbst fortwährend verwirft, weil er damit unzufrieden ist, ihm misstraut. Es gehört zum Wesen des Skeptizismus, dass wir in ihm verlieren, was wir eigentlich anstreben. Der Skeptiker hat ausreichend Grund, vor dem Gewöhnlichen zu fliehen. Unsere Sprache ist, unsere Verbindungen sind unsicher. Sie aufrecht zu erhalten bedeutet Arbeit, wir sind getrennt, wir können jederzeit allein sein. Das Gewöhnliche ist schrecklich und seine Anerkennung schmerzhaft. Deswegen kann es uns auch fremd, surreal und als bloßer Schein vorkommen, hinter dem es noch was anderes geben muss. 193 In den Filmen, die Cavell die »Wiederverheiratungskomödien« nennt, können wir beobachten, wie es Paaren schließlich dennoch gelingt in der Wiederholung des Gewöhnlichen Glück zu finden. Denn auch das gehört zur Anerkennung des Gewöhnlichen: die Anerkennung, dass nur hier Glück zu finden ist. Die Nicht-Anerkennung des Gewöhnlichen ist in die Philosophie selbst eingeschrieben – Cavell übernimmt hier Wittgensteins Philosophiekritik. Das Gewöhnliche muss intellektuell verworfen werden, weil es den philosophischen Anspruch an Wissen nicht erfüllt. 194 Dieses Fliehen ist für Cavell eine Form des kartesischen Skeptizismus. 195 Die traditionellen Wittgensteinianer glaubten, dass Wittgenstein mit seiner Hinwendung zur normalen Sprache das Gewöhnliche für unverwundbar gegenüber dem Skeptizismus hielt. Hier liegt für Cavell genau ihr Fehler. Sie fliehen damit selbst vor dem Gewöhnlichen, weil sie den Fakt der Instabilität des Gewöhnlichen nicht anerkennen. Wittgensteins Antwort besteht laut Cavell vielmehr in einer Philosophie, die ganz und gar von einem Vertrauen
191 192 193 194 195
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 734. Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 9. Übersetzung D. G. Korsmeier: Sprache erfahren, S. 48. Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 12. Ebd.
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II. Sprache, Verantwortung und Skeptizismus
in das Gewöhnliche geprägt ist, die sich aber bewusst ist, dass das Gewöhnliche alles andere als unverwundbar gegenüber dem Skeptizismus ist. 196 Diese zwei Richtungen der Philosophie – die Flucht vor und die Hinwendung zu dem Gewöhnlichen –, die gegeneinander wirken, sind ein Abbild des skeptizistischen Ringens in jedem von uns. Wenn Cavell vom Skeptiker redet, dann meint er den Skeptiker in mir und den Skeptiker in dir. Auf unsere skeptizistischen Regungen – auf unseren Skeptiker – müssen wir tagtäglich mit einer Anerkennung des Gewöhnlichen reagieren. Doch die Gefahr besteht, dass sich der Skeptiker in uns und der nicht weniger skeptizistische Antiskeptiker in uns sich gegenseitig antreiben und wir immer weiter in den Skeptizismus trudeln. Deswegen müssen wir den Antiskeptiker auch als den Skeptiker identifizieren, der er ist.
196
Ebd., S. 134.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Dieses Kapitel ist als Experiment angelegt. In dem Experiment geht es darum, das Cavellsche Projekt, die Philosophie im Gewöhnlichen zu verorten, weiter zu verfolgen. Cavell hat die Kunst immer als einen Ort begriffen, in dem die Kultur über sich selbst nachdenkt. 1 Ich möchte mich hier nun einer Kunstform zuwenden – der Popmusik – und fragen, was sie uns über den Skeptizismus zu sagen hat. Das möchte ich an einem konkreten Lied entfalten. Angestrebt wird hier also ein »Gespräch« zwischen der Popmusik und der Philosophie. Doch bevor ich mich der Popmusik zuwende, werde ich zunächst in III.1 Cavells Ansichten zum Status ästhetischer Urteile besprechen. In dem darauf folgenden Abschnitt untersuche ich die Behauptung, Popmusik könne unsere Worte wieder mit Leben füllen. Ich schließe dabei an die in Kapitel II betrachteten Themen des Vertrauensverlustes und Bedeutungsverlustes in der Sprache an (III.2). Im dritten und mit Abstand umfangreichsten Teil komme ich dann auf das konkrete Lied zu sprechen (III.3). Dabei handelt es sich um Where I End and You Begin von Radiohead. Ich unterstelle diesem Lied, dass es verschiedene skeptizistische Phantasien beschreibt, die Cavell auch bei Wittgenstein verhandelt sieht. Nimmt man meine Interpretation ernst, dann zeigt das Lied darüber hinaus, dass diese Phantasien zu einer bestimmten ethischen Haltung gegenüber den anderen beitragen.
III.1 Die Rationalität ästhetischer Urteile Die Tatsache, dass bei ästhetischen Urteilen Uneinigkeit herrschen kann, lässt uns manchmal glauben, solche Urteile seien nicht rational. Der Frage nach der Rationalität ästhetischer Urteile geht Cavell in 1
Bronfen: Stanley Cavell, S. 11.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Aesthetic Problems of Modern Philosophy nach. In diesem frühen Aufsatz verfolgt er zwei Anliegen: Er möchte zeigen, dass Uneinigkeit kein Zeichen für die Irrationalität ästhetischer Urteile ist, sondern dass diese durchaus rational sind, wenn auch auf eine andere Weise als zum Beispiel Urteile in den Naturwissenschaften – und er will vorführen, wie ähnlich ästhetische Urteile dem charakteristischen Anspruch Wittgensteins sind, sagen zu können, was wir in bestimmten Situationen sagen würden und was nicht. Zunächst wendet sich Cavell deswegen David Hume zu. Dieser vertritt in Of the Standard of Taste die Ansicht, ästhetische Urteile seien nicht kognitiv, 2 in ihnen würde keine objektive Wahrheit zum Ausdruck gebracht werden, sondern nur der persönliche Geschmack des Sprechers. Bei Hume sind ästhetische Urteile demnach etwas Unmittelbares und vor allem Subjektives. 3 Doch verhielte es sich wirklich so, dann wäre es ja unmöglich, die eigenen Urteile zu begründen, der ganze Prozess des ästhetischen Urteilens wäre willkürlich und folglich könnte es so etwas wie eine ernsthafte Kritik überhaupt nicht geben. Ein ästhetisches Urteil würde jeder Rationalität entbehren. 4 Auf Einwände dieser Art entgegnet Hume, dass erst die Zeit zeigen wird, ob eine Kritik ernst zu nehmen ist oder nicht. Ein ernsthafter Kritiker wird laut Hume derjenige sein, der langfristig die umfassendste Zustimmung erhält und dessen Interpretationen von den meisten bevorzugt werden. 5 Cavell verwirft auch diesen Ansatz, der den Wert eines Kritikers von seiner Popularität abhängig macht, denn die Leistung eines Kritikers kann nicht nur darin liegen, die Ansprüche oder die Bedürfnisse seiner Kultur zu bedienen. Vielmehr muss er selbst versuchen, die Bedingungen zu formulieren, unter denen unser Geschmack bewahrt, herausgefordert oder überwunden werden kann. 6 Die Frage bleibt: Wie kann es möglich sein, dass ein Kritiker ästhetische Urteile trifft, die schlüssig und rational sind? 7 Zu Beginn von Die Kritik der Urteilskraft untersucht Kant die Möglichkeit, dass ästhetische Urteile genauso rational sein könnten wie Urteile in der Wissenschaft oder in der Logik. Doch auch diese 2 Hume, David: »Of the Standard of Taste«, in: Hume, David: Selected Essays. Oxford 1993, S. 133–154. 3 Hammer: Stanley Cavell, S. 93. 4 Ebd. 5 Hume: Of the Standard of Taste, S. 148. 6 Cavell: Must We Mean What We Say, S. 87. 7 Hammer: Stanley Cavell, S. 94.
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Die Rationalität ästhetischer Urteile
Vorstellung stellt sich aber als äußerst problematisch dar, weil sie nicht berücksichtigt, dass in der Wissenschaft und der Logik ganz andere Arten von Begründungen wirksam sind als bei ästhetischen Urteilen. Bei kognitiven Urteilen wie »Milch enthält Calcium« oder »zwei plus zwei ergibt vier« können wir immer auf äußere, unpersönliche Gründe verweisen. 8 Wir machen einen Labortest oder legen zwei Äpfel zu zwei weiteren Äpfeln. Wenn aber jemand behauptet, ein Kunstwerk sei wunderschön, ein anderes überzeugend oder das Ende von Hemingways Der Alte Mann und das Meer verweise auf Jesu Gang nach Golgatha, dann kann er das nicht ausschließlich mit irgendetwas Äußerem, das nichts mit seiner Person zu tun hat, begründen. Stattdessen muss er, wenn er seine Ansicht darlegt, von sich selbst ausgehen, von seiner eigenen Reaktion auf das Kunstwerk. Derjenige, der das Urteil des anderen erfährt, kann nicht durch äußere Gründe wie einem Labortest gezwungen werden, dieses Urteil zu akzeptieren. Und dennoch: Schöpft der Kritiker seine Begründungen zwar aus dem Subjektiven, so strebt er mit seinem Urteil doch allgemeine Zustimmung an. Das ästhetische Urteil unterscheidet sich also von Urteilen des persönlichen Geschmacks bzw. – um im Kantschen Duktus zu bleiben – von Urteilen über das Angenehme dadurch, dass sie begründbar sind und dass man folglich über sie streiten kann. Ästhetische Urteile sind daher immer mit einem bestimmten Anspruch verbunden, nämlich dem Anspruch, für alle oder zumindest einen Mainstream zu sprechen. Wenn ich dagegen sage, dass ich lieber Whiskey-Cola als Rum-Cola trinke, dann ist die Diskussion damit mehr oder weniger beendet und man tut gut daran, mir Whiskey in meine Cola zu schütten. Wir können zwar noch ein wenig über meine Präferenz reden, aber das Gespräch auch jederzeit problemlos abbrechen, denn Argumente werden mich nicht vom Gegenteil überzeugen und ich muss mich auch nicht argumentativ erklären. Es ist eben das, was ich lieber mag – oder bei Kant: das, was mir persönlich angenehmer ist. Solche Urteile sind ein »Privatgefühl« und auf meine Person beschränkt. 9 Bei ästhetischen Urteilen sieht das anders aus: Zu sagen, eine Sache sei schön nur für mich, bedeutet das Konzept von Schönheit misszuverstehen. Mit einem Urteil über Schönheit strebt man stets allEbd. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt 1957, S. 289. 8 9
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III. Skeptizismus und Popmusik
gemeine Gültigkeit an, auch wenn wir aus Erfahrung wissen, dass es hier häufig zu Uneinigkeit kommt. 10 Aber im Gegensatz zu einem Urteil über persönliche Vorlieben kann ich bei einem ästhetischen Urteil diskutierbare Argumente liefern, um es zu unterstützen. Es macht einen fähigen Kritiker aus, dass er schlüssig und überzeugend formulieren kann, warum eine bestimmte Schlussfolgerung einer anderen zu bevorzugen ist. Ästhetische Urteile sind insofern mit Urteilen aus Naturwissenschaft und Logik verwandt, als sie allgemeine Zustimmung anstreben und unterstützende Argumente erlauben. Beide Urteilsformen basieren auf gemeinsamen und anerkannten Argumentationsmustern, die zu ihrer Unterstützung vorgebracht werden können. Kompetenz in diesen Feldern zu besitzen heißt, die Praktiken zu kennen, mit denen Urteile begründet werden können. Doch die Urteilsbegründungen bei ästhetischen Urteilen unterscheiden sich ganz und gar von den Begründungen in der Naturwissenschaft und der Logik. Während bei Letzteren die Begründungen dergestalt sind, dass sie zwangsläufig für allgemeine Zustimmung sorgen, ist eine solche Einigkeit bei ästhetischen Urteilen nicht garantiert. Natürlich ist Zustimmung auch hier immer möglich und wird sogar angestrebt, sonst wären ja alle kunstkritischen Bemühungen von vornherein sinnentleert. Wer in Wissenschaft und Logik ein Urteil nicht anerkennt, auch nachdem stichhaltige und anerkannte Belege gegeben wurden, muss zwangsläufig als inkompetent bezeichnet werden. Auf dem Gebiet der Ästhetik dagegen darf zu jeder Zeit Dissens herrschen, ohne dass damit irgendjemand als inkompetent gelten muss. 11 Kant schreibt, dass es keine Regel geben kann, »nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen.« 12 Es gibt kein a priori ästhetisches Prinzip, das für Konsens sorgen kann. 13 Cavell kommt zu dem Schluss, dass die Argumente, die ästhetische Urteile unterstützen, nicht auf dieselbe Weise schlüssig wie in der Logik sind und nicht so rational wie in der Wissenschaft. Wenn sie es wären, dann gäbe es keine Kunst und keine Kunstkritik (gleiches lässt sich, wie Cavell bemerkt, auch über die Moral sagen). Daraus folgt aber nicht, dass solche Urteile nicht schlüssig oder rational 10 11 12 13
Ebd., S. 290. (§ 7). Hammer: Stanley Cavell, S. 95. Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 290. (§ 7) Hammer: Stanley Cavell, S. 95.
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Die Rationalität ästhetischer Urteile
sind. 14 Kunst ernst zu nehmen bedeutet, die eigenen Reaktionen auf die objektspezifischen Eigenschaften eines Kunstwerks miteinzubeziehen. Der Kritiker muss seine eigenen Empfindungen in sein Urteil integrieren, er muss sie öffentlich machen, um dann das Maß unserer gegenseitigen Übereinstimmung herauszufinden. Er darf sich nicht bemühen, seine Subjektivität hinter sich zu lassen, sondern er muss ganz im Gegenteil in sich gehen und dort nach dem Allgemeinen suchen. Er muss sich selbst, seine Empfindungen und seine Reaktionen als ein Exempel für alle anderen verstehen. »Es ist die Aufgabe des Kritikers, sowie des Künstlers, die eigene Subjektivität nicht aufzugeben, sondern sie mit einzubeziehen; sie nicht in Übereinstimmung zu überwinden, sondern sie in exemplarischer Weise zu meistern.« 15
Wenn der Kritiker dann spricht, dann spricht er zwar für sich, aus sich heraus, glaubt aber gleichzeitig, wie Kant sagt, mit einer »allgemeinen Stimme« zu sprechen und hofft darauf, die Zustimmung der anderen zu erhalten. 16 Ein ästhetisches Urteil postuliert nicht jedermanns Einstimmung, es sinnt sie nur an. 17 Aber es setzt, so wie Kant es beschreibt, voraus, dass es zwischen uns eine Übereinstimmung gibt, die sozusagen die a priori Bestimmung ist, dass ästhetische Urteile überhaupt möglich sind. 18 Diese Übereinstimmung nennt Kant sensus communis: »Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde.« 19
In sich selbst das Allgemeine finden – diese Idee liegt nicht nur dem ästhetischen Urteil zugrunde, sondern auch dem Anspruch Wittgensteins und dem der anderen Philosophen der normalen Sprache:
14 15 16 17 18 19
Cavell: Aesthetic Problems of Modern Philosophy, S. 88. Ebd., S. 94. Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 291 (§ 8). Ebd. Cavell: Must We Mean What We Say, S. 88. Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 389 (§ 40).
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III. Skeptizismus und Popmusik
äußern zu können, was wir gewöhnlicherweise sagen. 20 Als Sprechender bin ich Repräsentant aller Sprechenden. Fälle ich ein ästhetisches Urteil, dann tue ich es als Repräsentant meiner Kultur. Somit weist Kants Vorstellung eines sensus communis erhebliche Ähnlichkeit mit Wittgensteins Begriff der Übereinstimmung auf, weil sie beide ein Bild von unserer Innerlichkeit entwerfen, das in kaum erfassbaren Maße vom Äußeren geprägt ist, wobei das Äußere hier vor allem unsere Gemeinschaft mit anderen bedeutet, was wiederum heißt, dass unser Inneres zumindest auf eine bestimmte Weise weniger verborgen ist, als wir es uns vielleicht manchmal vorstellen. Dieses Bild ist sicher bei Wittgenstein lebendiger als bei Kant und es spiegelt unseren alltäglichen Eindruck wider, dass niemand in seiner Sprache und in seinem Geschmack heraus kann aus der Zeit und der Kultur, in der er lebt. Ein begabter Kunstkritiker ist gut darin, seine eigene Erfahrung ehrlich zu beschreiben und sie für andere erfahrbar zu machen. Genau wie der Philosoph der normalen Sprache macht er dabei zwei Dinge gleichzeitig: Er erörtert seine Beziehung zu einem Objekt und erkundet dabei das Ausmaß unserer gegenseitigen Übereinstimmung. 21 Da es im Ästhetischen wie gesagt keine zwingenden Argumente gibt, wie in der Wissenschaft und Logik, kann der Kritiker an einen Punkt geraten, an dem er alle seine Gründe ausgebreitet hat und zum anderen nichts weiter sagen kann, als: »Erkennst du es nicht? Siehst du es nicht? Hörst du es nicht?« 22 Alles, was ihm bleibt, ist den anderen einzuladen, die Dinge so zu sehen, wie er es tut. Er kann, um bei Hemingways Der alte Mann und das Meer zu bleiben, sagen: »Siehst du nicht, der Segelmast, den der alte Fischer Santiago auf seinem Rücken trägt ist geformt wie ein Kreuz? Er steigt hinauf zu seinem Haus auf dem Hügel so wie Jesus den Berg Golgatha bestieg. Auf seinem Weg nach oben stürzt er sechsmal, während Jesus nur dreimal hinfiel. Erkennst du nicht, wie beide die Last des Menschseins auf ihre Schultern nehmen? Ist es nicht deutlich, wie Santiagos Gelöbnis, bald wieder fischen zu gehen, einer Auferstehung gleichkommt? Ein Bild für ein Leben, das zu führen ein alltägliches Sterben und Wiederauferstehen bedeutet?« All das kann der Kritiker sagen, er kann versuchen den anderen das fühlen zu lassen, was er fühlt, wenn 20 21 22
Cavell: Must We Mean What We Say, S. 74. Hammer: Stanley Cavell, S. 96. Cavell: Must We Mean What We Say, S. 93.
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Die Rationalität ästhetischer Urteile
er diese Zeilen liest. Doch ist nie klar, ob der andere seiner Einladung folgen wird und ob er es überhaupt kann. Und wie ein guter Lehrer – und wir erinnern uns hier an den Lehrer, der einen Anfänger in unsere Sprache einführt – wird auch ein guter Kritiker wissen, wann er aufhören muss, wann er den anderen lassen muss und nur noch darauf hoffen kann, dass der andere den nächsten Schritt von allein macht. Er hat sich als ein Exempel angeboten und ist soweit gegangen, wie er konnte. Sein Spaten ist, um es mit Wittgenstein zu sagen, auf harten Felsen gestoßen und biegt sich nun zurück. Ihm bleibt nichts weiter als zu sagen außer »So handle ich eben.« 23 Da eine Einladung wie diese weniger auf Macht und Autorität denn auf einer Hoffnung auf Übereinstimmung basiert, kann sie auch stets vom anderen zurückgewiesen werden. Wir stellen dann fest, dass wir uns – zumindest hier – fremd sind. Es könnte sogar so sein, dass der Urteilende ganz allein dasteht. Somit gehen wir mit jedem ästhetischen Urteil das Risiko der Einsamkeit ein. 24 Cavell beschreibt Kritik als eine Theorie der persönlichen Bindung. Die Kritik eines Kunstwerks ist für ihn ein Ausdruck der persönlichen Bindung des Kritikers an dieses Kunstwerk. Ein gelungenes Kunstwerk hilft dabei herauszufinden, wie diese Bindung zu verstehen ist. 25 Rationalität bekommt ein ästhetisches Urteil dadurch, dass in einem solchen Urteil versucht wird, aus dem Subjektiven heraus Objektivität zu gewinnen. Die Tatsache, dass im ästhetischen Urteil oftmals kein Konsens erreicht werden kann, hat mit der bestimmten hier geltenden Form von Rationalität zu tun. Ein Begriff von Rationalität muss in diesem Fall miteinbeziehen, dass wir Menschen zwar in einem gewissen, nie ganz überschaubaren Maße übereinstimmen, aber dass wir auch frei, voneinander getrennt und verschieden sind. Uneinigkeit ist somit nicht nur eine ständige Möglichkeit, sondern sogar eine Bestätigung der Rationalität ästhetischer Urteile, denn wir könnten kein Urteil rational nennen, das diese Tatsachen menschlichen Lebens ignoriert. Das hier Gesagte beschränkt sich nicht nur auf den Kritiker. Cavell schreibt, auch der Künstler müsse in seiner Subjektivität auf das Allgemeine zielen. 26 Der Vorgang stellt sich hier sogar etwas klarer als beim Kritiker dar. Ist man auch geneigt, den 23 24 25 26
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 139 f. (§ 217). Hammer: Stanley Cavell, S. 97. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 130. Cavell: Must We Mean What We Say, S. 94.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Schöpfungsprozess eines Kunstwerks als frei, losgelöst und intuitiv zu beschreiben, so ist es doch nicht falsch, ihn als eine Abfolge ästhetischer Urteile zu beschreiben. Eine solche Beschreibung unterschlägt nicht den intuitiven Moment des Schöpfungsprozesses, sondern sagt nur, dass hier ästhetische Urteile intuitiv getroffen werden, was auch nicht mehr bedeutet, dass der Künstler seine eigenen Empfindungen ernst nimmt. Ein guter Künstler wird auch daran gemessen, wie gut er im Nachhinein die von ihm intuitiv gemachten Schritte in Worte fassen kann. Es ist natürlich, wie Cavell sagt, etwas leer zu fordern, der Künstler müsse in sich etwas Allgemeines finden, denn er kann ja gar nicht anders als ein Kind seiner Kultur sein. 27 Doch erstens kann Kunst etwas bisher unbewusst Gebliebenes an die Oberfläche des Bewusstseins befördern – dann wäre es das Verdienst des Künstlers, dass er das Versteckte oder Übersehene entdeckt hat. Zweitens wird die Kunst auch versuchen, nicht nur ihre Zeit abzubilden, sondern auch den nächsten Schritt zu erahnen. Ein Künstler versucht nicht nur in sich hinein zu fühlen, wo seine Kultur sich jetzt befindet, sondern auch wohin sie sich als Nächstes bewegen wird.
III.2 Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache Dieses Kapitel wird auf die Behauptung hinauslaufen, dass das Lied Where I End and You Begin der britischen Band Radiohead einen Beitrag zu dem von Cavell angestoßenen Gespräch über den Skeptizismus des Fremdpsychischen liefert. Doch was kann uns ein Lied im Kontext eines philosophischen Themas sagen? Ganz sicher kann es uns nicht auf dieselbe Weise etwas sagen wie ein philosophischer Text. In diesen verschiedenen Weisen liegt aber eine Chance. Sind wir bereit, die unterschiedlichen Stimmen als Teil eines gemeinsamen Gespräches wahrzunehmen, dann werden wir vielleicht erfahren, dass in diesem Zusammenkommen jede der Stimmen mit neuer Kraft zu uns spricht. Ich gehe davon aus, dass sich hier philosophischer Text und populäre Musik gegenseitig Tiefe verleihen. Ich stelle mir vor, dass der Text uns mit einem Wissen ausstattet, durch das wir das Thema des Liedes erst in seiner Gänze erfassen können und dass das Lied uns wiederum eine Erfahrung ermöglicht, in der wir die existenzielle Dimension der philosophischen Problematik erspüren können. 27
Ebd., S. 183 f.
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
Es geht mir also nicht nur darum zu sagen, dass wir durch Cavell das Lied besser verstehen können, sondern dass wir durch das Lied auch Cavell besser verstehen können. Wie auch die folgenden Kapitel noch zeigen werden, ist es in Cavells Sinne, Kunst nicht lediglich als Illustrationen einer philosophischen Problematik zu begreifen, sondern als ernstzunehmenden, gegenüber der Philosophie gleichwertigen Beitrag. Folgt man dieser Annahme, dann muss man auf die Besonderheiten dieses Beitrags eingehen, die aus den Eigenheiten dieser speziellen Kunstform, der Popmusik, folgen. Bevor ich mich dem Lied selbst zuwende, werde ich dieser Anforderung nachkommen. Ich orientiere mich an dem amerikanischen Kulturwissenschaftler Mark Greif (* 1975), der sich in seinem Essay Radiohead, or the Philosophy of Pop mit den philosophischen Implikationen der Popmusik auseinandersetzt. Dabei versucht er vor allem zu erörtern, welche Rolle die Popmusik in unserem Alltag spielt. Sein konkreter Bezugspunkt bildet ebenfalls Radiohead. Greif, der als Mitherausgeber des n + 1-Magazins und als engagierter Unterstützer der Occupy-Bewegung bekannt wurde, war während seiner Studienzeit begeisterter Anhänger Cavells, wie er sogar in einem anderen seiner Essays – Cavell as Educator 28 – eindrücklich belegt. Wir dürfen also auch deswegen davon ausgehen, dass sein Zugang zu Kunst von Cavell mindestens mitgeprägt wurde. Cavell hat nie über Popmusik geschrieben. Er hat sich aber in seiner Beschäftigung mit den verschiedensten Künsten nie gegenüber dem Populären verschlossen. Zwar schrieb er über Shakespeare 29, Becket 30 und Schönberg 31, also über das was wir gewöhnt sind, Hochkultur zu nennen, aber eben auch über Hollywood-Filmkomödien der dreißiger Jahre, 32 Musicals mit Fred Astaire 33 und Horror-Geschichten von Poe. 34 Das Gewöhnliche, »das Vertraute und das Niedere«, ist Greif, Mark: Cavell as Educator, in: n + 1 magazin 12 2011, S. 97–142. Cavell, Stanley: Disowning Knowledge – In Seven Plays Of Shakespeare. Cambridge 1987. 30 Cavell, Stanley: »Ending a Waiting Game: A Reading of Beckets Endgame«, in: Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say. Cambridge 1976, S. 115–162. 31 Cavell, Stanley: »Music Discomposed«, in: Cavell, Stanley: Must We Mean What We Say. Cambridge 1976, S. 180–212. 32 Cavell: Pursuits of Happiness. 33 Cavell, Stanley: »Fred Astaire Asserts the Right to Praise«, in: Cavell, Stanley: Philosophy the Day after Tomorrow. Cambridge 2005, S. 61–82. 34 Cavell, Stanley: »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt 2002. 28 29
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III. Skeptizismus und Popmusik
für ihn im Anschluss an seine philosophischen Helden Wittgenstein, Austin, Emerson und Thoreau eben nicht nur Endpunkt, sondern auch Ausgangspunkt allen philosophischen Denkens. 35 Für Cavell »beginnt der philosophische Impuls auf der Straße oder in Hauseingängen oder im stillen Kämmerlein, überall außer in den Schulen der Philosophie.« 36 Es ist dann nur rechtens anzunehmen, dass die Musik, die wir auf der Straße, in den Hauseingängen oder im stillen Kämmerlein hören, der Beginn von Philosophie sein kann. Mein Experiment, Popmusik mit Cavells Philosophie zu verbinden, ist also der Versuch einer Weiterführung von Cavells Projekt, die Philosophie an das Gewöhnliche rückzubinden, bzw. das Philosophische des gewöhnlichen Lebens aufzuzeigen. Greif wählt Radiohead als ein Beispiel für seine Thesen, was den Zusammenhang von Philosophie und Popmusik angeht, weil diese Band einerseits sehr populär ist und damit das namensgebende Hauptmerkmal von Popmusik erfülle, und weil es ihr andererseits gelinge, bestimmte Aspekte menschlicher Existenz in einer bestimmten Zeit besonders genau einzufangen. 37 Das hohe Maß an intellektueller Reflexivität, das Radiohead von Greif und mir zugestanden wird, bedeutet nicht, dass jede Form von Popmusik oder auch nur ein großer Teil von Popmusik diesen Reflexionsgrad erreicht. Vielmehr zeigt es, was innerhalb einer Kunstform möglich ist und dass Radiohead das Mögliche sehr weit ausreizt.
Der Ort der Popmusik Der Begriff »Popmusik« erweist sich als viel problematischer, als es auf den den ersten Blick erscheinen mag. Auf der einen Seite scheint jeder intuitiv zu wissen, was gemeint ist, wenn man von Popmusik spricht, auf der anderen Seite ist alles andere als leicht zu definieren, was populäre Musik ist. 38 Die Bezeichnung »populäre Musik« wurde und wird von den Musikwissenschaften benutzt, um bestimmte Formen von Musik von der sogenannten »ernsten Musik« abzugrenzen. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 14. Cavell, Stanley: Die andere Stimme. Berlin 2002, S. 103. 37 Greif, Mark: »Radiohead, or the Philosophy of Pop«, in: Forbes, Brandon W./ Reisch, George A.: Radiohead and Philosophy. Peru 2009, S. 16. 38 Jones, G./Rahn, J.: »Definitions of Popular Music Recycled«, in: Battock, G.: Breaking the Sound Barrier. A Critical Anthology of the New Music, New York 1981, S. 40. 35 36
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
Eine Unterscheidung, die aber vor allem im deutschen Sprachraum lebendig ist. Ohne Frage beinhaltet sie eine bewusste Deklassierung und lässt es so erscheinen, als sei die Popmusik ein Spezialfall im musikalischen Kosmos. 39 Dabei verhält es sich genau umgekehrt: Die Popmusik bezeichnet den Raum, in dem der übergroße Teil der heutigen Musikpraxis stattfindet. 40 Diesen Raum lediglich als einen schlechten Ersatz für die eigentliche Musik zu verstehen und ihn dann anhand der Kategorien dieser eigentlichen Musik zu beurteilen, kann nur zu intellektuell unterprivilegierten Ergebnissen führen. Die Musikformen können also nicht einfach dadurch abgegrenzt werden, dass man sagt, die eine habe eine Qualität, die der anderen abgeht. Ähnlich schwierig gestaltet es sich, Popmusik als ein Genre zu definieren. Mit »Popmusik« werden so viele unterschiedliche Klangformen bezeichnet, dass es nahezu unmöglich ist, sie auf bestimmte musikalische Kennzeichen festlegen zu wollen. Deswegen sollte Popmusik, wie Peter Wicke argumentiert, nicht anhand gewisser Klangeigenschaften definiert werden, sondern vielmehr als eine kulturelle Praxis verstanden werden. 41 Popmusik ist dann weniger etwas, das auf eine bestimmte Art und Weise klingt, als etwas, das auf eine bestimmte Weise rezipiert wird. Popmusik wird also durch unseren Umgang mit ihr definiert und dieser Umgang ist es auch, der die Popmusik von der Volks- und der Kunstmusik unterscheidet. In diesem Sinne schreibt Stuart Hall, »dass die Kultur eher im Hinblick auf ihre Beziehung zwischen einer sozialen Gruppe und den Dingen, die deren Lebensweise ausdrücken, betrachtet werden muss, als im Hinblick auf die Dinge selbst – also nicht das Bild, der Roman, das Gedicht, die Oper, sondern die Beziehung zu der sozialen Gruppe, deren Leben sich in diesen Objekten widerspiegelt.« 42
Es ist folglich vor allem die Art von Beziehung, die wir zur Popmusik haben, die sie als Musikform beschreibt. Da die Verhaltensformen, mit denen die verschiedenen »populären« Musikgenres aufgenom-
Wicke, Peter: »Populäre Musik als theoretisches Konzept«, in: Popscriptum 1/92 – Begriffe und Konzepte, S. 6–42. Hier zitiert aus: http://www2.hu-berlin.de/fpm/ popscrip/themen/pst01/pst01_wicke.pdf (S. 1 f.) 40 Ebd., S. 3. 41 Vergleiche: Wicke: Populäre Musik als theoretisches Konzept. 42 Hall, Stuart: »Über die Arbeit des Centre for Contemporary Cultural Studies (Birmingham). Ein Gespräch mit H. Gustav Klaus«, in: gulliver. Deutsch-englische Jahrbücher/German-English Yearbooks, Bd. 2. 1977, S. 55. 39
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III. Skeptizismus und Popmusik
men werden, sich im Großen und Ganzen gleichen, werde ich Popmusik hier als einen übergeordneten Begriff verwenden, der sich auf eine kulturelle Praxis bezieht, und der sich erst in zweiter Instanz in verschiedene Musik- bzw. Klangrichtungen wie Hip Hop, Rock, Metal oder elektronische Musik aufteilt. In seinem Essay über Philosophie, Popmusik, und Radiohead wundert sich Greif darüber, dass es keine Philosophie der Popmusik gibt, wo diese doch die lebendigste, am meisten konsumierte aller Kunstformen darstellt, 43 die ohne Frage einen zentralen Platz im Leben sehr vieler Menschen einnimmt. Auch er begreift Popmusik vor allem als eine kulturelle Praxis und daraus folgt, dass eine Philosophie der Popmusik aus dem Versuch bestehen müsste, diese Praxis zu beschreiben. Wie ist der Platz beschaffen, den sie in unserem Leben einnimmt. Was erleben wir, wenn wir Musik hören? Und was bedeutet es? Greif schreibt: »Ich weiß, Popmusik macht etwas mit mir; jeder sagt das. Aber was macht sie? Beeinflusst sie wirklich die Überzeugungen und Handlungen meines innersten Lebens, dort wo ich glaube, es am meisten zu spüren, oder sorgt sie nur für eine bestimmte Stimmung, ein vergängliches Vergnügen oder einen Impuls mich zu bewegen?« 44
Greif bildet hier ein Schwanken ab, das wohl jeder begeisterte Hörer ab und an erfahren mag. Vielleicht hat die Popmusik mit der Philosophie gemein, dass ihre Anhänger leicht dazu neigen, sie zu ernst zu nehmen, um dann wieder in einer Gegenreaktion nicht mehr an ihre Bedeutung glauben zu können. Es liegt eine Diskrepanz zwischen den intensiven Gefühlen, die uns beim Hören von Musik gelegentlich überkommen – nicht immer, aber nicht selten –, Gefühle, die uns ganz einnehmen, sogar körperlich spürbar werden können, und einer anschließenden rationalen Beurteilung dieser Gefühle, in der wir uns sagen, dass sie über den Moment hinaus nicht viel bedeuten können, denn sie scheinen auf nichts gerichtet, außer auf ein immer wieder abrufbares Medium. So gesehen sind sie nicht auf die Weise Teil unseres reellen Erlebens, wie es echte Enttäuschung oder echte Freude über irgendeinen Umstand ist. Welche Rolle sollen solche Gefühle in unserem Alltag schon spielen, nachdem die Musik verklungen ist? Gehören sie nicht einfach zu diesem einen Moment und sind einfach 43 44
Greif: Radiohead, or the Philosophy of Pop, S. 15. Ebd., S. 15. Übersetzung D. G.
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
deswegen wichtig, weil sie uns Erholung vom Alltag ermöglichen? – Aber ich hatte doch diese Gefühle und sie fühlten sich echt an, das muss doch etwas bedeuten? – Auf solche Einwürfe mag man dann manchmal mit einer Textzeile Radioheads antworten: »Just ’cause you feel it/doesn’t mean it’s there.« 45 Die Erörterung des Platzes, den Popmusik in unserem Leben einnimmt, spitzt sich unweigerlich auf die Frage zu, ob die Gefühle, die wir beim Hören eines Liedes empfinden, über den Moment hinaus eine Wirkung auf uns haben können – ob sie etwas in uns verändern können, uns irgendwo hinbewegen können. Ich werde hier die »großen« gesellschaftlichen Veränderungen, bei denen die Popmusik eine wie auch immer geartete Rolle gespielt hat – zum Beispiel bei den Umbrüchen der sechziger und siebziger Jahre –, außer Acht lassen und mich wie Greif ausschließlich auf die »kleinen« persönlichen Veränderungen und Bewegungen konzentrieren, die unter Umständen natürlich auch von gesellschaftlicher Relevanz sein können. Den Anteil, den Popmusik an der Veränderung eines einzelnen Lebens haben kann, stellt sich Greif so vor: »Ich denke, Popmusik erlaubt uns bestimmte Dinge, die wir schon gedacht haben, aber nicht unbedingt artikulieren konnten, zu bewahren. Gefühle, zu denen wir nur gelegentlich Zugang haben, erhält sie für uns in einer anderen Form, Musik mit Texten, in der das Kognitive und das Emotionale weniger voneinander getrennt sind. Ich denke, Lieder erlauben uns bestimmte Handlungen in uns zu festigen oder uns von ihnen zu lösen, aber sie beginnen nichts. Und die speziellen Lieder und Bands, die man mag, bestimmen die Überzeugungen, die man bewahren und reaktivieren kann und die Handlungen die man vorbereitet […] [Popmusik] lehrt uns etwas, aber nur indem sie Dinge belebt und erhält, die uns schon von woanders bekannt sind. Oder sie bereitet den Boden für diese Erkenntnis vor. Oftmals handelt es sich dabei um Wissen, dass wir sonst niemals wirklich gewusst hätten, wenn wir es in diesem Medium nicht einstudieren und wiederholen könnten.« 46
So wie Greif es hier formuliert, kann Musik, wenn sie mit bestimmten Gedanken und Handlungen verbunden wird, als ein Verstärker dieser Gedanken und Handlungen fungieren. Musik kann dann an etwas anknüpfen, das wir von woanders schon kennen, sie kann ihre Wirkung auf uns nur in Kombination mit etwas anderem entfalten. 45 46
»There There« vom Album Hail to the Thief (2003). Greif: Radiohead, or the Philosophy of Pop, S. 28 f. Übersetzung D. G.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Hier gilt zu beachten, dass es sich bei Popmusik, wie Greif schreibt, meist um Musik mit Texten handelt – der Text, wenn man ihn denn versteht, also vorgibt, in welche Richtung die Verknüpfungen stattfinden könnten. Was wäre, wenn sich ein Lied mehr oder weniger offensichtlich mit der lebensweltlichen Problematik des Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen auseinandersetzt? Könnte das andere, mit dem sich die Musik verbindet, dann nicht Cavells philosophische – ausschließlich textliche – Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex sein? Kann das eine die Erkenntnis des jeweils anderen vorbereiten? Ist das eine Möglichkeit, Wissen bewusster oder umfassender werden zu lassen? Ich denke, dass Cavell solche Verknüpfungen – zwischen philosophischem Text und etwas anderem – im Sinn hat, wenn er beispielsweise schreibt, dass die Außenaufnahmen Frank Capras (1897– 1991) die filmische Entsprechung des amerikanischen Transzendentalismus seien, weil sie aufzeigen würden, dass die Möglichkeit einer besseren Welt ganz unmerklich in den gewöhnlichen Umgebungen liegt. 47 Das »Verknüpfen« klingt jetzt nach einer allzu intellektuellen Angelegenheit. Zwar ist die Beschäftigung mit einem philosophischen Text ganz sicher eine intellektuelle Tätigkeit, der Vorgang des Verknüpfens selbst dagegen gar nicht so sehr, denn eigentlich handelt es sich dabei um einen quasi-natürlichen Vorgang. Es ist einfach das, was wir tun, wenn wir Musik hören. Wir verknüpfen Musik mit anderen Dingen aus unserem Leben. Und das ist nichts, was nachträglich geschieht, sondern in dem Moment, in dem wir Musik hören. Erst dieses Verknüpfen mit bestimmten Situationen, erlebten, bereits gefühlten und gedachten, ermöglicht, dass wir beim Musikhören überhaupt etwas empfinden und es entscheidet auch darüber, ob wir bestimmte Musik mögen oder nicht. Wenn es uns nicht gelingt, eine persönliche Bindung zu einem bestimmten Lied aufzubauen, dann wird es uns auch immer fremd bleiben, unzugänglich oder nichtssagend. Wenn wir die Musik, die wir mögen, mit bestimmten Gefühlen oder Gedanken verknüpfen, können diese auch durch das erneute Hören der Musik wieder hervorgerufen werden. Musik ist dann tatsächlich eine Konservendose, die für uns Gefühle und Gedanken erhält und uns bei Bedarf auf sie zugreifen lässt – ein Effekt, der sich
47
Cavell: Cities of Words, S. 186.
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
einerseits durch die Erfindung des Tonträgers vollkommen entfalten konnte, der sich aber andererseits gerade durch diese Erfindung, die eine andauernde Wiederholung von Musik ermöglicht, auch überstrapazieren und abnutzen kann. Das Erfahren einer jeden Kunstform bedeutet ein gleichzeitiges Heraus- und Wiedereintreten in unser Leben. Wir verlassen für wenige Momente oder ein paar Stunden unseren Alltag, um uns ein Bild, eine Skulptur oder einen Film anzusehen, ein Buch zu lesen oder Musik zu hören. Im gleichen Moment aber weisen die Skulptur, der Film oder das Buch zurück auf unser Leben. Eine ähnliche Idee – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen – hatten Horkheimer und Adorno, als sie in der Dialektik der Aufklärung schrieben, dass das Dunkel des Kinos der Hausfrau ein Asyl gewähre, wobei »Asyl« hier Freiheit von ihrem Alltag meint. Gleichzeitig würden die Filme aber die Hausfrau wieder in den Alltag integrieren, was natürlich bei Horkheimer und Adorno eine Integration in den Alltag des ökonomischen Systems meint. 48 Lassen wir Horkheimers und Adornos Konzeption des allumfassenden Kapitalismus und der Kulturindustrie mal ganz außer Acht, dann haben wir hier ein gutes Bild für die Entfernung vom Alltag und die gleichzeitige Rückkehr zum Alltag in der ästhetischen Erfahrung. Spezifisch für die Popmusik ist nun, meine ich, dass wir sie näher in unserem Alltag erfahren als die anderen Künste, ganz einfach weil wir sie zu einem Teil unseres Alltags machen. Sie ist noch mehr Teil der Straßen, der Hauseingänge und der stillen Kämmerlein. Wir müssen wegen ihr nicht unbedingt an einen extra für sie bestimmten Ort gehen. Wir müssen kein Theater, kein Museum und kein Kino aufsuchen, um sie zu hören. Stattdessen integrieren wir sie in unseren Alltag. Wir können sie überall hören, im Bett, in der Küche, unter der Dusche, in der U-Bahn, im Büro, beim Joggen im Park. Oftmals schaffen wir mit ihr die Stimmung, die wir in einem bestimmten Moment haben wollen – und kreieren die Atmosphäre unseres Tages. Und wenn wir doch mal einen Ort aufsuchen, um sie zu hören, zum Beispiel einen Club, dann tun wir dabei auch anderes, trinken Bier,
»Der Hausfrau gewährt das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab zum Fenster hinausblickte.« Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1988, S. 147.
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III. Skeptizismus und Popmusik
unterhalten uns oder suchen nach einem attraktiven und heiratsfähigen Menschen. Das Hören von Popmusik ist oftmals eine sehr gemeinschaftliche Tätigkeit. Während man im Kino doch meistens schweigt – außer der Mensch in der Reihe vor einem –, kann man ein Gespräch mit Musik untermalen. Und man denke an die vielen Körper, die sich beim Tanzen wie gleichgeschaltet auf dieselbe Musik bewegen. Wer nicht oft tanzt, kennt das Gefühl des Ausgeschlossenseins, den der Anblick dieser von Musik geschaffenen Gemeinschaft bedeuten kann. Man kann nicht dazu gehören, solange man nicht auf die Musik mit Bewegungen reagiert. Durch die audio-visuellen Massenkommunikationsmittel entsteht eine äußerst hohe Variabilität der Rezeptionskontexte von Popmusik. Diese Variabilität, die in diesem Ausmaß keiner anderen Kunstform zu eigen ist, ermöglicht immer wieder neue konnotative Verknüpfungen von Musik, Kontext und Konsument. 49 Das kann bis zur persönlichen Vereinnahmung gehen, wie Simon Frith feststellt: »Aufgrund ihrer Abstraktheit […] ist die Musik eine individualisierbare Form. Wir absorbieren die Songs in unser eigenes Leben, ihre Rhythmen in unseren Körper, sie haben eine solche Weite an Bezügen, dass sie unmittelbar zugänglich sind. Popsongs sind in einer Weise offen für die Aneignung im persönlichen Gebrauch, wie das andere populäre Kulturformen (Fernsehserien zum Beispiel) nicht sind.« 50
Wir sagen oft zu anderen: »Das ist die Musik, die ich höre«, und meinen: »Das bin ich, das sind die Gefühle, die ich habe.« Wir singen die Lieder, die wir mögen, laut mit. Doch wer ist dieses »Ich«, das dort die eigentlich fremden Worte singt? Wessen Worte sind es, die dann aus meinem Mund kommen? Meine? 51 Das Mitsingen verdeutlicht eine Tatsache unserer Sprache, auf die Cavell immer wieder verweist: »Alle meine Worte sind die Worte von anderen.« 52 Als wir Kinder waren, haben wir die Worte von den Erwachsenen gelernt. Doch noch jetzt lernen wir unsere Sprache und müssen die Worte, die einst als fremde zu uns kamen, zu unseren eigenen machen. Die Worte, die Wicke: Populäre Musik als theoretisches Konzept, S. 17. Frith, Simon: »Towards an Aesthetic of Popular Music, in: Leppert, R./McClary, S. (Hrsg.), Music and Society. Cambridge. S. 139. 51 Lott, Micah: »Why Such Sad Songs?«, in: Forbes, Brandon W./Reisch, George A.: Radiohead and Philosophy. Peru 2009, S. 73. 52 Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 125. 49 50
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
wir benutzen, sind auch dieselben, die die anderen Sprecher benutzen. Im Mitsingen scheint die Grenzlinie zu verschwimmen zwischen mir und einem anderen, denn seine Worte werden so sehr zu meinen. Seine Worte kommen aus meinem Mund. Und indem ich mich auf diese Weise identifiziere, wird die Situation des anderen auch zu meiner, seine Traurigkeit und seine Freude meine. Offenbar nutzen wir Popmusik als eine Kommunikationsform, indem wir uns selbst in Liedern verorten und uns mit ihnen identifizieren, um dann anhand dieser Lieder anderen mitzuteilen, wie es um uns steht. Es ist eine Möglichkeit, unsere »persönlichen« Erfahrungen aus ihrer vermeintlichen Isolation herauszuholen und sie in einen sozialen Raum zu stellen und zu prüfen, ob auch andere diese Erfahrungen haben können, oder ob die Erfahrungen für andere zumindest verstehbar sind. So ein Appell an andere ist ein Versuch, ein empfundenes Alleinsein zu überwinden. Ohne dass ich mir sicher bin, wie weit dieser Vergleich wirklich trägt, scheint es mir gelegentlich auch so, als würde konzentriertes oder ekstatisches Musikhören, ob wir dabei Tanzen oder im Sessel sitzen, die Form eines Gebetes annehmen. Beim Beten unterbrechen wir für kurze Zeit unser Tagwerk und nehmen dabei die Worte eines anderen an, um aus ihnen Ruhe und Kraft für unsere Tage zu schöpfen. Wir versuchen beim Beten ganz bewusst unsere Stimmung oder unsere Haltung in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Das Transzendente des Gebetes liegt deswegen nicht allein in der Tatsache, dass mit Gott gesprochen wird, sondern auch darin, dass das eigene Selbst überschritten werden soll, dass man sich mit Hilfe des Gebetes verändern und verwandeln lassen will. Und der Wunsch nach Verwandlung des Selbst liegt nicht nur dem Gebet und eventuell dem Musikhören, sondern für Cavell auch der Philosophie zugrunde. 53
Wiederbelebung durch Popmusik Ich gebe dem Thema, welchen Platz Popmusik in unserem Leben einnehmen kann, hier so viel Raum, weil ich davon ausgehe, dass wir nur über diesen Weg verstehen können, wie sich Popmusik und Philoso-
Waring, Stephen P.: Taylorism Transformed: Scientific Management Theory since 1945. Chapel Hill 1991, S. 175.
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III. Skeptizismus und Popmusik
phie verknüpfen lassen. Wie schon zuvor gesagt, stellt auf Seite des Liedes der Text das offensichtlichste Bindeglied dar. In dem konkreten Fall von Where I End and You Begin verweisen die ersten Textzeilen »There’s a gap in between/There’s a gap where we meet/Where I end and you begin« auf dieselbe Lücke oder Kluft hin, die der Skeptiker zwischen sich und der Welt oder zwischen sich und den anderen wahrzunehmen meint. Aber woraus genau könnte der Mehrgewinn entstehen, wenn sich zum philosophischen Text ein Liedtext gesellt? Das Besondere des Liedtextes ist ja, dass er zusammen mit der Musik zu uns kommt. In dem obigen Zitat behauptet Greif, dass durch die Gleichzeitigkeit von Musik und Text das Kognitive und das Emotionale weniger voneinander getrennt seien. Im ersten Kapitel sprach ich davon, dass Cavells Rückgriff auf die Philosophie der normalen Sprache für ihn auch bedeutet, zu untersuchen, in welchem Zusammenhang etwas, zum Beispiel ein philosophischer Text, geäußert wird und dass es deswegen auch wichtig sein kann, auf die Atmosphäre zu achten, die ein philosophischer Text kreiert und dass diese Atmosphäre Teil des Wesens eines Textes ist. Ich kam zu dem Schluss, dass wenn man die ganze existenzielle Bedeutung eines Textes erfassen möchte, man seine Atmosphäre nicht außer Acht lassen darf. Angenommen nun, ein philosophischer Text und ein Liedtext erwiesen sich als verwandt, könnte dann die Atmosphäre des Liedes nicht auch Aspekte des philosophischen Textes widerspiegeln? Könnte die Musik als ein Medium, für das Atmosphäre ganz entscheidend ist, uns die Gedanken des philosophischen Textes nicht spürbar machen, uns die Emotionen vermitteln, die die Worte begleiten? Ist dieses erspürte Wissen jenes, von dem Greif sagt, dass wir es »sonst niemals wirklich gewusst hätten?« Greif schreibt, Popmusik habe die seltsame Eigenschaft, dass ganz einfache Sätze oder sogar abgedroschene Phrasen plötzlich mit berührendem Pathos vorgetragen werden können und dabei nicht länger abgedroschen oder belanglos wirken. Auch bei Radiohead findet er Beispiele dafür: »You can try the best you can, if you try the best you can, the best you can is good enough.« 54
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»Optimistic« vom Album Kid A (2000).
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»Everyone, everyone around here, everyone is so near, it’s holding on.« 55
Auf dem Blatt machen, wie Greif bemerkt, diese Zeilen nicht viel her, erst wenn wir uns erinnern, wie sie im Lied vorgetragen werden, entfalten sie ihre Kraft. Hier liegt ein Unterschied zwischen Poesie und Pop: Die wichtigsten Zeilen im Pop sind nur selten poetisch, viel öfter sind sie direkt und einfach oder auch melodramatisch. Und dennoch erreichen sie uns, so als würde, wie Greif es ausdrückt, durch die Verbindung von Musik und Worten, entwertete Sprache ihre Bedeutung zurückerlangen und die Unschuld des emotionalen Ausdrucks wieder hergestellt. 56 In Kapitel II ging es darum, dass unser Miteinander-Sprechen nur so lange funktioniert, wie wir unsere geteilten Kriterien akzeptieren, wie wir uns ähnliche Vorstellungen bei unseren Worten und Zeichen machen, und wie wir uns überhaupt Vorstellungen machen. Als Bedrohung unserer Kommunikation wurde die skeptizistische Möglichkeit ausgemacht, dass wir aus der Enttäuschung über die Fehleranfälligkeit unserer Kommunikation oder aus der Enttäuschung über andere, den Worten die Fähigkeit, Bedeutung zu transportieren, absprechen. Es ist ein Verlust des Vertrauens in unsere menschliche Fähigkeit, uns anderen mitzuteilen. Aus so einer skeptizistischen Haltung heraus reichen die Worte tatsächlich nicht so tief wie zuvor, weil wir ihnen eben nicht mehr zutrauen, das zu leisten, was sie sollen – zum Beispiel uns zu verraten, was in einem anderen vorgeht, was er denkt, wie er fühlt, wie er zu uns steht. Das heißt, wir verweigern in diesem Moment, uns in Folge der Worte eines anderen Vorstellungen von seinem Innenleben zu machen. Wir machen uns keinen Begriff davon, wie es ihm geht. Die Sprache wird in diesem Sinne flacher, und unsere Welt mit ihr. Wenn wir die generelle Bedeutsamkeit unserer Begriffe nicht anerkennen, wenn wir zum Beispiel nicht anerkennen, dass sie das Innere eines anderen abbilden können, dann bleibt, wie Cavell schreibt, nichts zurück – nur »bloße Worte, Worthülsen«. 57 Greif, der durch seine Studienzeit mit dem Cavellschen Kosmos des Skeptizismus vertraut ist, nimmt nun an, 55 56 57
»National Anthem« vom Album Kid A (2000). Greif: Radiohead, or the Philosophy of Pop, S. 27 f. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 164.
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III. Skeptizismus und Popmusik
dass uns Wörter, die uns vorher verbraucht vorkamen, durch Popmusik – also der Verbindung dieser Wörter mit Musik – wieder mit der Macht und der Wichtigkeit erscheinen können, die sie einmal hatten. Greif erwähnt Cavell in seinem Essay nicht direkt, 58 doch tatsächlich klingt seine Annahme so, als würde er in der Popmusik ein Mittel sehen, mit dem wir dem Skeptizismus in Cavellscher Manier begegnen könnten. Als wäre jedes Lied, das wir schätzen und das uns berührt, ein Beweis dafür, was unsere gewöhnliche Sprache alles leisten kann. »Jedes Zeichen« schreibt Wittgenstein »scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?« 59 Wittgenstein schreibt hier, dass Worte nur dadurch lebendig sind, dass wir sie im Umgang miteinander gebrauchen. Er schreibt aber auch, dass die Art des Gebrauchs ihnen Lebendigkeit einflößt. Übertragen wir diese Beobachtung auf das Thema der Popmusik, dann können wir sagen, dass in der Intensität, mit der die Worte in der Popmusik gebraucht werden und gegebenenfalls auf uns wirken, die Möglichkeit liegt, neues Vertrauen in unsere Sprache zu schöpfen. Man muss an dieser Stelle anmerken, dass die Formulierung »die Worte verlieren durch den Skeptizismus ihre Bedeutung« eher ein Näherungswert an das ist, was wirklich mit unseren Worten im Skeptizismus geschieht. Cavell weist darauf hin, dass die Bedeutung der Worte aus einer skeptizistischen Haltung heraus auch überschätzt werden kann, so dass einzelne Worte wie ein steinernes, unbewegliches Denkmal zwischen uns stehen können. Aber eines bleibt auch in diesem Fall bestehen: Wir können nicht mehr einschätzen, was die Worte bedeuten sollen, was uns der andere sagen will und wie wir ihm etwas sagen können. 60 Wir werden im folgenden Kapitel die Protagonisten verschiedener Shakespeare-Tragödien als Charaktere kennenlernen, die bestimmte Äußerungen anderer sehr wichtig nehmen, an diesen Äußerungen auf tragische Weise festhalten und keine anderen Äußerungen mehr wichtig nehmen können. Was also verschwindet, ist weniger die Bedeutung der Worte als unsere Möglich-
Nur in einer Fußnote. Greif: Radiohead, or the Philosophy of Pop, S. 25. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 208 (§ 432). Vergleiche auch S. 214 f. (§ 454). 60 Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 135. 58 59
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Philosophie, Popmusik und lebendige Sprache
keit miteinander zu sprechen. 61 So oder so, unsere Worte können dann als »tot« bezeichnet werden, weil sie nicht mehr als etwas Geteiltes begriffen werden, weil sie nicht mehr als Träger geteilter Bedeutungen gelten, weil wir mit den Worten nicht mehr zueinander vordringen, weil geleugnet wird, dass jedes Wort ein ganzes Feld von teils widersprüchlichen Bedeutungen abdeckt, das es stets noch in jedem Gespräch von uns zu erforschen gilt, sondern nach einer festen, einzelnen, toten Bedeutung gesucht wird, weil wir uns keine Vorstellung mehr von dem anderen lebendigen Wesen machen, das diese Worte uns gegenüber äußert. Zu sagen, dass unsere Worte ihre Lebendigkeit verlieren können, »dass Worte ein Leben haben und für uns tot sein können«, 62 bedeutet unsere Sprache als einer ständigen Bedrohung ausgesetzt zu begreifen, was uns wiederum die Bürde auferlegt, sie unaufhörlich retten zu müssen. Es gibt in diesem Bild keine Erlösung von dieser Bürde. Die Wörter werden auch an Orten auftauchen und von Menschen gesprochen werden, die sie ihrer Lebendigkeit wieder berauben. Manchmal sind wir selbst diese Menschen. Wir werden stets nach Wegen suchen müssen, wie wir die Sprache wieder lebendig werden lassen können. Wir werden darauf achten müssen, wie wir unsere Worte gebrauchen und mit wessen Worten wir uns umgeben. Nehmen wir also an, dass Popmusik tatsächlich dazu beitragen kann, unsere Worte erneut zu beleben, dann wird das nicht nur an diesem einen Ort geschehen, nicht nur in diesem einen Satz, nicht nur in diesem einen Lied, sondern die Worte werden an jedem Ort mit neuer Lebendigkeit auftauchen. Es sind ja dieselben Worte. Lässt uns ein Lied eine tiefe Bedeutung einfacher Worte wie »Trennung«, »Kluft« und »Einsamkeit« erfahren, werden wir diese Erfahrung nicht vergessen haben, wenn wir diese Worte in einem philosophischen Text lesen. Wir werden uns erinnern und im Text ein Echo der ursprünglichen Erfahrung wahrnehmen. Gleichzeitig kann das Lied, wenn wir es dann wieder hören, zu einem Echo des philosophischen Textes werden. Und genau das behaupte ich in Bezug auf Where I End and You Begin: dass uns dieses Lied einen Eindruck der Stimmung oder der Atmosphäre des Skeptizismus liefert, dass es uns ein existenzielles oder »körperliches« Gefühl für den Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen gibt, und dass zu wissen, was Skeptizismus ist, 61 62
Ebd. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 566.
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III. Skeptizismus und Popmusik
auch bedeutet, eine Ahnung dieser Stimmung oder dieses Gefühls zu haben. Der hier gemachte Vorschlag zu Popmusik geht in eine ähnliche Richtung wie das, was ich zu Beginn des letzten Kapitels über Coetzees Schande geschrieben habe. Dort hatte ich spekuliert, dass die Hauptfigur David Lurie damit beginnt eine Oper zu schreiben, weil er den ursprünglichen Akt des Füllens der Seele mit bedeutungsvollen Wörtern zu wiederholen versucht. In der Popmusik eine Kulturtechnik zu sehen, die uns beistehen kann bei unserer Aufgabe, den Wert unserer Worte zu beleben und den mächtigen Zweifel des Skeptizismus zu begegnen, das mag sicher idealistisch wirken – gerade angesichts der Tatsache, dass in der Popmusik Sprache sehr häufig auf entwertende Weise gebraucht wird. Aber ich meine, dass gerade deswegen die Frage der Authentizität in der Popmusik eine so große Rolle spielt. Wir wünschen uns doch, dass derjenige, der dort auf der Bühne steht und singt, auch das verkörpert, was er uns in Form eines Liedes darbietet. Wir fragen uns: Ist das wirklich sein Leid, seine Freude, die er uns hier vorträgt? Steckt er in dieser Musik, in diesen Worten? Man kann einwenden, dass die hier dargelegte These, die Musik eines Liedes lediglich zum Erfüllungsgehilfen des Textes mache. Das wäre aber nur wahr, wenn das hier Beschriebene als die einzige Funktion der Kulturpraxis Popmusik verstanden werden würde. Das meine ich natürlich nicht, und Mark Greif ganz sicher auch nicht, sondern es geht hier um einen bestimmten Aspekt – unter anderen Aspekten –, auf den das Augenmerk gelegt werden soll. Auch glaube ich nicht, dass er wirklich von jedem zwangsläufig erfahren werden muss. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Chance, die ergriffen werden kann oder nicht. Genauso wie in jeder Begegnung mit einem anderen die Chance liegt, Empathie zu entwickeln.
III.3 Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin« Es ist üblich, Kunstwerke, zum Beispiel einen Roman oder ein Gedicht, als eine Illustration eines philosophischen Problems darzustellen. Wie ich aber schon zuvor sagte, sehe ich Where I End and You Begin und die Philosophie Cavells nicht in einem Verhältnis der Illustration, sondern in einer Art Gesprächsverhältnis. Das heißt, dass 148 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
sowohl Lied als auch philosophischer Text eigene Beiträge zu dem Gespräch über den Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen liefern. Und es heißt auch, dass nicht jeder Inhalt des einen zwangsläufig im anderen auftauchen muss – so etwas wäre der Fall, wenn das Lied einfach nur eine Illustration des philosophischen Problems darstellen würde. Stattdessen ergänzen und erweitern sich Lied und philosophischer Text gegenseitig. Der weitere Horizont entsteht durch das Nebeneinander der beiden. Allerdings darf man nicht erwarten, dass ein Lied mit dem Umfangreichtum und der Präzision eines philosophischen Textes auch nur annähernd gleichziehen kann. Auf der anderen Seite darf man nicht unterschätzen, dass Musik ihre eigene, schwer zu benennende Weise hat, Dinge zu beschreiben, die in ihrer Vagheit eigentümlich präzise ist. Where I End and You Begin führt vor, wie es sich anfühlt, wenn man seinem skeptischen Zweifel nachgegeben hat und wie wir dann die Welt erfahren. So trägt es zu einer umfassenderen Wahrnehmung des Problems bei. Mit dem hier präsentierten Ansatz ist man ganz bei Cavell, denn es ist, wie die folgenden Kapitel zu Shakespeare und den Wiederverheiratungskomödien zeigen werden, eines seiner am intensivsten verfolgten philosophischen Anliegen, in Werken der Ästhetik originäre Beiträge zu philosophischen Fragen zu sehen. Nicht zuletzt geht es hier aber auch darum, Cavells Projekt weiter zu verfolgen und ein philosophisches Problem im Alltag, im Gewöhnlichen, zu verorten. Where I End and You Begin liefert eine Interpretation einiger, das Problem der anderen betreffender Phänomene, die Cavell in dem vierten, experimentellen und tagebuchartig angelegten Teil von Der Anspruch der Vernunft diskutiert – namentlich das berühmte »Privatsprachenargument«, die Parabel des kochenden Topfes, das Sehen von Aspekten und das Verhältnis zum Körper im Skeptizismus. Auf alle diese Bilder und Phantasien werde ich im Folgenden zu sprechen kommen. Doch zunächst möchte ich den Text des Liedes, in voller Länge wiedergeben: There’s a gap in between There’s a gap where we meet Where I end and you begin And I’m sorry for us The dinosaurs roam the earth The sky turns green Where I end and you begin
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III. Skeptizismus und Popmusik
I am up in the clouds I am up in the clouds And I can’t and I can’t come down I can watch and can’t take part Where I end and where you start Where you, you left me alone You left me alone X’ll mark the place Like the parting of the waves Like a house falling in the sea In the sea I will eat you alive There’ll be no more lies I will eat you alive There’ll be no more lies I will eat you alive There are no more lies I will eat you alive 63
Unser Angewiesensein auf Ausdruck und Äußerung Der Skeptizismus ist eine Erinnerung daran, dass wir getrennt voneinander sind. Die Konsequenz unserer Getrenntheit ist, dass wir in unserer Kommunikation auf Ausdruck angewiesen sind. Wir müssen uns ausdrücken bzw. äußern, wenn wir uns mitteilen wollen, und wir müssen die Äußerungen anderer lesen bzw. interpretieren, wenn wir etwas über sie erfahren möchten. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, um uns auszudrücken, ist unser Körper. Somit ist es auch der Körper der anderen, den wir lesen müssen, wenn wir sie verstehen wollen. Solche Feststellungen zu machen, bedeutet für Cavell, das Gewöhnliche anzuerkennen, weil unsere Getrenntheit nichts als gewöhnlich ist. Den Augenmerk auf unsere Abhängigkeit vom Ausdruck zu legen, führt auch vor, wovor sich der Skeptiker fürchtet: Er hat Angst davor, dass unsere Ausdrucksfähigkeit nicht weit genug reicht, dass wir nicht verstanden werden, dass wir allein sind, weil es ja nichts gibt, das unsere Kommunikation hundertprozentig sichert. 64
63 64
»Where I End and You Begin« vom Album Hail to the Thief (2003). Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 126.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
Die entscheidenden ersten drei Zeilen des Liedes, die den Titel aufgreifen, wirken zunächst wie eine Feststellung der Tatsache unserer Getrenntheit – wie eine Anerkennung des Gewöhnlichen. Tatsächlich aber wird sich zeigen, dass es sich bei diesem Lied um eine Auflehnung gegen das Gewöhnliche handelt, und schon die ersten Zeilen zeugen von einer Dramatisierung unserer Getrenntheit. Sie wird nicht als gewöhnlich, sondern als »Skandal« empfunden, um Kants Formulierung hinsichtlich des Skeptizismus aufzugreifen. 65 In dem Lied wird unsere Getrenntheit als eine unüberschreitbare Kluft zwischen uns dargestellt – »There’s a gap in between/There’s a gap where we meet/Where I end and you begin«. Cavell geht es nicht darum, gegen Bilder wie diese zu argumentieren, denn irgendwie scheinen sie schon ein Gefühl für unsere Endlichkeit zu treffen. Der andere kann erst dort sein, wo ich ende. Worum es Cavell vielmehr geht, ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei ihnen vor allem um Bilder handelt. Der Beginn des Liedes ist ein Bild, das ich mir von unserem Verhältnis mache und in dem unsere Körper nicht vornehmlich als etwas begriffen werden, mit dem wir uns ausdrücken, sondern als etwas, das uns trennt. 66 So eine Phantasie vom Körper als Barriere oder Schleier muss zwangsläufig dazu führen, dass wir unsere Körper nicht mehr als dasjenige sehen, das unser Zusammensein ermöglicht, sondern als das, was es wesentlich verhindert. Am Ende von Where I End and You Begin wird die daraus resultierende Wut gegen den Körper überdeutlich: er soll, wie die letzten Zeilen verkünden, zerstört, aufgegessen werden. Cavells Methode ist es, dem Mythos vom Körper als Schleier, der uns trennt, einen anderen Mythos entgegenzuhalten: Dem Mythos vom Körper, der die Seele offenbart. Auf den folgenden Seiten wird also jeweils der im Lied beschworene skeptizistische Mythos abgehandelt, um dann Cavells Idee eines Gegenmythos vorzustellen. Doch bleiben wir zunächst bei der ersten Hälfte des Liedes, in der weitere Hinweise dafür zu finden sind, dass die Getrenntheit vom »Ich« des Liedes als nicht gewöhnlich akzeptiert wird. Auf das Bedauern des Zustandes der Getrenntheit in Zeile vier – »And I’m sorry for us« – folgen zwei scheinbar kontextlose Aussagen: »The dinosaurs roam the earth/The sky turns green.« Ich halte es für müßig zu versuchen, einen direkten inhaltlichen Zusammenhang dieser Zeilen zu 65 66
Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 36. Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 128.
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III. Skeptizismus und Popmusik
den vorherigen oder nachfolgenden herzustellen. Viel fruchtbarer ist es, sich auf die Stimmung einzulassen, die diese Bilder heraufbeschwören. Zunächst ist da dieses plötzliche Herausfallen aus der Zeit: Auf einmal sind dort Dinosaurier, die ja bekanntermaßen ausgestorben sind. Sie existierten, bevor es Menschen und Menschsein gab. Die Dinosaurier wandern herum, wobei das englische »roam« genauso mit »umherschweifen«, »herumwandern« oder auch »sich verirren« übersetzt werden kann. Erinnern wir uns an die Tableaus aus unseren Wissenschafts-Kinderbüchern, bei denen die Maler gezwungen waren, möglichst viele verschiedene Dinosaurierrassen unterzubringen. Ist es abwegig bei den »umherschweifenden Dinosauriern« des Liedes an Wesen zu denken, die, irgendwie verwandt aber nicht von gleicher Art, stumm aneinander vorbeigehen, weil sie sich nichts zu sagen haben, sich nichts sagen können? Und geht es zu weit anzunehmen, dass es sich bei diesen Wesen um uns handelt, da »The Dinosaurs« direkt auf »us« folgt? Zugegebenermaßen wird nicht jeder diesen assoziativen Pfaden folgen wollen, doch im Kontext eines Liedes sind solche Spekulationen durchaus legitim. Klanglich wird bei Where I End and You Begin die Atmosphäre der Isolation durch den starken Einsatz von Hall-Effekten – insbesondere beim Gesang – hervorgerufen. Zusätzlich kann man bei diesem Lied von keiner Melodie sprechen, die einen dramatischen Bogen spannt, vielmehr gibt es eher langsame, tragende Flächen, die verhältnismäßig unabhängig voneinander durch den Raum schweben. Vor allem aber ist die Melodie unabhängig vom Rhythmus, der ganz und gar nicht tragend, sondern von Beginn an treibend ist. Die relativ große Autonomie der einzelnen Klang-Ebenen kann man als eine musikalische Umsetzung des Sinns des Losgelöst-Seins verstehen. 67 Akzeptiert man die herumziehenden Dinosaurier als ein Bild für unsere Isolation, die aus unserer Getrenntheit folgt, dann lässt sich konstatieren, dass es ein viel zu pessimistisches Bild ist. Denn trotz unserer Getrenntheit sind wir nicht zum einsamen Herumschweifen verdammt – wir können uns etwas sagen, wir haben uns etwas zu sagen. Aber es ist genau diese pessimistische Übertreibung, dieses Gefühl des zwangsläufigen Abgeschnittenseins, das den Skeptiker quält. In fast jeder skeptischen Überlegung wird der Raum zwischen uns als Kluft beschrieben und fast überall wird diese Kluft als unFür ihre Anmerkungen zur Musiktheorie danke ich Gwendolyn Schneider-Rothhaar.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
erträglich empfunden, da wir uns ihretwegen nicht sicher sein können, ob es die anderen überhaupt gibt bzw. was in ihnen vorgeht. 68 Daher auch die Motivation, mit Hilfe vermeintlich antiskeptischer Strategien diese Kluft überqueren oder zunichte machen zu können. Übersehen wird dabei stets, was ganz offensichtlich vorliegt, nämlich die Art und Weise wie wir mit anderen kommunizieren, wie sehr uns der Kontakt zu anderen gelingt, dass wir gemeinsame Kriterien haben, die wir teilen und dass wir miteinander im Einklang sind. Als nächstes heißt es im Lied, dass sich der Himmel dort, wo ich ende und du beginnst, in Grün verwandelt, womit Radiohead auf sehr seltene Wetterphänomene wie die Aurora Borealis oder den »green sky effect« anspielt. Der Ort unserer Trennung, der gleichzeitig der unserer Begegnung ist, wird also mit etwas ausgesprochen Nicht-Alltäglichem assoziiert. Diese Assoziation spiegelt erneut das Empfinden des Skeptikers wider, dass unsere Getrenntheit nichts Gewöhnliches ist, etwas, das nicht jeden Tag sein kann, sondern etwas, das den Alltag unmöglich macht, in ihn einbricht, ihn zerstört. Unsere Getrenntheit – unsere Übereinstimmung in der Sprache, die Tatsache, dass wir im Einklang sind, dass wir miteinander sprechen können – ist so gewöhnlich und alltäglich wie nur irgendetwas. Schließlich leben wir jede Minute unseres Lebens damit. Gleichzeitig kann uns dieser allzu gewöhnliche Fakt ausgesprochen surreal vorkommen – und deswegen außergewöhnlich. 69 Der Skeptiker ist in einem Zustand, in dem er die Gewöhnlichkeit unserer getrennten Existenz überhaupt nicht anerkennen kann. Ihm erscheint unsere Getrenntheit geradezu wie die Negierung des Gewöhnlichen. Ihm kommt es regelrecht unheimlich vor, dass das das Gewöhnliche sein soll, dass es Wesen gibt, die ganz und gar getrennt von ihm existieren sollen. Diese Stimmung des Skeptikers findet ihre Entsprechung in der gespenstischen Atmosphäre des Liedes und dem Bild eines ungewöhnlichen, unheimlichen Phänomens. In Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen gibt Cavell eine Erklärung für diese Empfindung des Gewöhnlichen als unheimlich bzw. als »anti-gewöhnlich«, also etwas, das das Gewöhnliche zerstört. Er knüpft dabei an Freuds Konzeption des Unheimlichen an. Für Freud
68 Vergleiche zum Beispiel: Stroud: The Significance of Philosophical Scepticism, S. 32 ff. 69 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 9.
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war das Unheimliche das eigentlich Vertraute, das aber verdrängt wurde und nun in anderer, eben unheimlicher, unvertrauter Form zu uns zurückkehrt. In diesem Sinne kommt ein gewöhnlicher Fakt wie unsere Getrenntheit, wenn er verdrängt wird, zu uns irgendwann als etwas Unheimliches zurück, das in uns Furcht und Unbehagen auslöst. »Die Wiederkehr dessen, was wir als Welt akzeptieren, wird sich dann als eine Wiederkehr des Vertrauten darstellen, wird also wiederkehren unter dem begrifflichen Banner des Unheimlichen, von dem Freud gesprochen hatte. Dass das vertraute Produkt eines Gefühls des Unvertrauten und einer Wiederkehr ist, bedeutet, dass das, was nach dem Durchgang durch den Skeptizismus zurückkehrt, niemals (schlicht) gleich ist.« 70
Wie kann aber etwas so Offensichtliches, so Alltägliches wie unsere Getrenntheit verdrängt werden? Hier gibt Wittgenstein eine Antwort: »Die für uns wichtigen Dinge sind durch Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.)« 71 Wir übersehen das Gewöhnliche und das Offensichtliche, gerade weil es so gewöhnlich und offensichtlich ist. Cavell erinnert in diesem Zusammenhang an Edgar Allan Poes Der entwendete Brief. 72 Dort wird ein Brief versteckt, indem er einfach sichtbar liegen gelassen wird. Er fällt niemandem auf, weil er »ein wenig zu aufdringlich, allzu leicht bemerkbar, gleichsam unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle, wenn man so will, direkt vor der eigenen Nase« liegt. 73 Aus dieser Definition des Gewöhnlichen, das uns gerade wegen seiner Offensichtlichkeit nicht bewusst ist, folgt ein bestimmtes Verständnis der Aufgabe der Philosophie: Die Philosophie hat das offensichtlich Gewöhnliche, das uns entgeht, wieder bewusst zu machen, wieder vor Augen zu führen – und zwar indem sie es beschreibt. »Die Philosophie«, sagt Wittgenstein, »stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.« 74 Weil die Philosophie von Wittgenstein als ein »Wieder-
Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 93. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 86 (§ 129). 72 Poe, Edgar Allan: »Der entwendete Brief«, in: Poe, Edgar Allan: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main/Leipzig 2002, Band 3, S. 27–50. 73 Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 92. 74 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 86 (§ 126). 70 71
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erzählen« des Offensichtlichen begriffen wird, nennt Cavell Wittgensteins Spätwerk auch »eine Philosophie der Offensichtlichkeit«. 75
Bilder und Vorstellungen – Wittgensteins Parabel des kochenden Topfes Der Skeptiker ist wie gesagt unglücklich über unser Angewiesensein auf Ausdruck. Um unser Verhältnis zu Ausdruck und zu den inneren Vorgängen anderer zu beleuchten, fordert Wittgenstein in § 297 der Philosophischen Untersuchungen seine Leser dazu auf, an eine Zeichnung zu denken, auf der ein Topf und darüber aufsteigender Dampf zu sehen ist (Abbildung 2). Die Perspektive der Zeichnung ist so gewählt, dass das Innere des Topfes nicht zu sehen ist. »Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?« 76
Macht es Sinn zu sagen, dass auf dem Bild etwas kocht? Man könnte sagen, es sei vollkommen unsinnig über den Inhalt des Topfes zu sprechen, denn es ist unmöglich herauszufinden, was sich in ihm befindet. Obwohl Wittgenstein selbst schreibt, dass es sich um Wasser handelt, könnte es theoretisch alles sein: Wasser, Tee, eine Suppe. Wir wissen es nicht. Da der Inhalt des Topfes nicht ins Bild gehört, könnte man sagen, dass die Sprachspiele zu diesem Bild auch keine Verweise auf den Inhalt des Topfes enthalten. 77 Tatsächlich ist es so, dass der Inhalt des Topfes auf dem Bild nicht zu sehen ist. Dennoch ist es unmöglich das Bild als Ganzes zu beschreiben, ohne auf dessen Inhalt einzugehen. Der kochende Inhalt des Topfes ist also durchaus Teil des Sprachspiels. 78 Doch wenn der Inhalt nicht Teil des Bildes ist, wie tritt er dann in das Sprachspiel? Hier wird Wittgensteins wenige Paragraphen später getroffene Unterscheidung zwischen »Bild« und »Vorstellung« entscheidend. »Wenn Cavell: Must we mean what we say?, S. 312. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 165 (§ 297). 77 Diese Position findet sich bei: Pitcher, George: Die Philosophie Wittgensteins. Freiburg/München 1967, S. 349. 78 Diese These wiederum vertritt Alan Donogan, der Pitcher direkt widerspricht: Donogan, Alan: »Wittgenstein on Sensation«, in: Pitcher, George (hrsg.): Wittgenstein: A Collection of Critical Essays. New York 1966, S. 330. 75 76
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III. Skeptizismus und Popmusik
man einen kochenden Topf zeichnet, dann wird die Zeichnung ein Bild des Dampfes und ein Bild des Topfes enthalten, aber nicht ein Bild von etwas Kochendem.« 79 Der kochende Inhalt des Topfes dagegen ist nicht als Bild, sondern als Vorstellung ein Teil der Zeichnung und als eine solche Vorstellung tritt er auch in unsere Sprache ein. Während unser Sprachspiel ein Bild des Topfes und ein Bild des Dampfes enthält, existiert in unserem Sprachspiel das Kochende als Vorstellung. 80 Die Parabel vom kochenden Topf ist eine Allegorie für unser Verhältnis zu den Schmerzen bzw. den Schmerzäußerungen anderer. Sie folgt in den Philosophischen Untersuchungen direkt auf den Einwurf eines fiktiven Gesprächspartners Wittgensteins. In § 296 lässt Wittgenstein diesen Gesprächspartner sagen: »Ja, aber es ist doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist – und schrecklich. – Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegenheit?« 81
»Schmerz« steht hier wieder sinnbildlich für innere Vorgänge – meine oder die eines anderen. Der Zusammenhang zur Parabel vom kochenden Topf ist der, dass es in beiden Fällen um ein als versteckt empfundenes »Etwas« geht, dem versucht wird nachzugehen – einmal dem kochenden Inhalt des Topfes und einmal dem Schmerz. Genauso wie beim kochenden Topf könnte man argumentieren, dass der Schmerz selbst nicht zum Sprachspiel gehört, da wir von ihm kein direktes Wissen haben, sondern nur von den Schmerzäußerungen. Doch auch hier greift Wittgenstein auf die Unterscheidung von Bild und Vorstellung zurück: »Zu dem Sprachspiel mit den Worten er hat Schmerzen gehört – möchte man sagen – nicht nur das Bild des Benehmens, sondern auch das Bild des Schmerzes. Oder: nicht nur das Paradigma des Benehmens, sondern auch das des Schmerzes. – Zu sagen Das Bild tritt ins Sprachspiel mit dem Worte Schmerz ein, ist ein Missverständnis. Die Vorstellung des Schmerzes ist kein Bild, und diese Vorstellung ist im Sprachspiel auch nicht durch etwas ersetzbar, was wir ein Bild nennen würden. – Wohl tritt die Vorstellung des Schmerzes in einem Sinn ins Sprachspiel ein; nur nicht als Bild.« 82 79 80 81 82
Ebd. Übersetzung: Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 532. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 532. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 165 (§ 296). Ebd., S. 165 (§ 296).
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
Abbildung 2: Sehen wir auf diesem Bild etwas kochen? Oder sehen wir nur Dampf aufsteigen?
Den Schluss, den Cavell nun aus der Parabel des kochenden Topfes zieht, ist, dass wir kein Bild des Schmerzes eines anderen haben können. Es gibt außerhalb des Schmerzverhaltens nichts, von dem es ein Bild geben könnte, nichts jenseits davon und nichts dahinter. Alles andere sind Phantasien, von denen wir uns verabschieden müssen. 83 Wir können den Schmerz des anderen nun mal nicht so erfahren, wie er es kann. Wir können uns aber eine Vorstellung davon machen und deswegen tritt der Schmerz des anderen als Vorstellung in das Sprachspiel mit ein. Bei der Zeichnung mit dem kochenden Topf könnten wir sagen, dass es genug ist, den Dampf zu sehen. Wir wissen, was aus dem Topf aufsteigender Dampf bedeutet. Er weist auf etwas Kochendes im Topf hin. Cavell fragt nun, ob wir auf gleiche Weise wissen, was Schmerzbenehmen bedeutet. »Nicht nur in dem Sinn, dass dieses Benehmen etwa ein Stöhnen ist, sondern dass es ein Stöhnen aus Leiden ist, dass
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Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 541 f.
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III. Skeptizismus und Popmusik
es Leiden bedeutet.« 84 Wir wissen es nur, wenn wir etwas als Ausdruck von etwas erfassen, wenn wir unsere gemeinsamen Kriterien anerkennen. Zu sagen, wir wüssten nicht, was Schmerzbenehmen bedeutet, heißt den Körper des anderen nicht als den Körper eines lebenden Geschöpfes anzuerkennen. Es würde sogar heißen, nicht zu wissen was ein Körper ist. So absurd das auch klingt, ist es genau das, was Cavell zufolge Wittgenstein einer bestimmten, skeptizistischen Art der Philosophie, einer bestimmten Art zu denken, vorwirft: dass sie vergisst, was es bedeutet, einen Körper zu haben. 85 Wenn jemand sagt, es gäbe etwas, das seinen Ausruf des Schmerzes begleite, dann versucht er eine Verbindung herzustellen zwischen dem Schmerzbenehmen und dem Schmerz. Aber stellen wir uns jemand vor, der sich den kleinen Fußzeh am Türrahmen stößt. Er hüpft schreiend durch den Raum, sein Gesicht ist schmerzverzerrt, in seine Augen treten Tränen. Dann ruft er: »Es gibt da etwas, das mein Gejaule begleitet!« Und er fügt hinzu: »Mein Herausschreien dieser Information wird von Schmerz begleitet!« 86 Eine Szene wie diese macht deutlich, dass wir mit einem Satz wie »etwas begleitet meinen Ausruf des Schmerzes« mitnichten die Verbindung zwischen Innerem und Äußerem stärken. Im Gegenteil, diese Worte kappen geradezu die natürliche Verbindung. 87 »Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?« 88, fragt Wittgenstein und drückt damit genau die Geistesverfassung aus, in der man sich wünscht, eine Verbindung zwischen einer Empfindung und ihrer Äußerung herzustellen. Doch denken wir noch einmal an das Beispiel mit dem Zeh, den man sich am Türrahmen stößt: Haben wir in so einem Fall das Gefühl, es gäbe einen Raum zwischen unserem Schmerz und unserer Schmerzäußerung? Ich denke, die Antwort lautet ganz sicher: nein. Und in diesem Sinne kann man sagen, dass nichts enger beieinander liegt als das Innere und das Äußere. 89 Aber natürlich ist es so: Unser Wissen vom Schmerz – und von allen anderen inneren Vorgängen – eines anderen ist auf seine Äuße-
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Ebd., S. 543. Ebd., S. 543 f. Eine vergleichbare Szene findet sich in: Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 539. Ebd., S. 540. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 146 (§ 245). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 541 f.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
rungen des Schmerzes, also auf etwas Äußeres, beschränkt und wir haben genügend Gründe, von diesen Äußerungen enttäuscht zu sein. Wir können uns irren, etwas falsch verstehen oder auch betrogen werden. Daher ja der Wunsch, mit der Sprache zwischen Schmerzbenehmen und Schmerz zu treten und eine Verbindung zwischen Innerem und Äußerem herzustellen. Was damit versucht wird ist, ein Bild des Schmerzes in unser Sprachspiel treten zu lassen. Wir meinen, wir bräuchten so ein Bild, um darauf reagieren zu können. Doch wir haben kein solches Bild des Schmerzes, sondern eine Vorstellung. Wir haben ein Bild des Schmerzbenehmens und darauf können wir reagieren – mit der Vorstellung des Schmerzes. Die Vorstellung des Schmerzes ist also im Gegensatz zu einem Bild nichts, worauf wir reagieren können, sondern ist Teil der Reaktion selbst, also der Reaktion auf die Schmerzäußerungen eines anderen. Die Vorstellung des Schmerzes eines anderen ist demnach etwas, das ich leisten muss. Eine Vorstellung von seinem Schmerz zu haben, bedeutet auf seine Schmerzäußerung zu reagieren. 90 Hier greift wieder Cavells alte Formel: Dass ich Wissen vom Schmerz eines anderen habe, ist nicht genug, ich muss seinen Schmerz anerkennen. Den Schmerz anzuerkennen, bedeutet, dass ich auf seinen Schmerz reagiere, wie auch immer. 91 Es wurde nach einer Verbindung des inneren Erlebens und der äußeren Äußerung gesucht. Wittgensteins These fasst Cavell nun so zusammen: Die Verbindung ist die Äußerung selbst. Ist diese zerstört, kann durch nichts anderes eine Verbindung hergestellt werden. Meine Bezugnahme auf seinen Schmerz besteht wiederum in der Reaktion auf diesen, was bedeutet, dass ich eine Vorstellung seiner Schmerzen habe. Reagiere ich nicht, gibt es auch keine Verbindung zwischen mir und seinem Schmerz. 92 Wir können nun zwei für die weitere Untersuchung wichtige Schlüsse ziehen. (1) Was unser Angewiesensein auf Ausdruck angeht, versucht Cavell mit Wittgenstein einen Gegenmythos zum philosophischen Mythos, dass es keine gesicherte Verbindung zwischen Schmerz und Schmerzbenehmen gibt, zu etablieren. Dieser Gegenmythos besagt, dass es eine natürliche Verbindung zwischen Schmerz und Ausdruck des Schmerzes, wie etwa in dem Moment, in dem ich 90 91 92
Ebd., S. 542. Ebd., S. 540. Ebd., S. 547.
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III. Skeptizismus und Popmusik
mir den Zeh stoße und schreie, gibt. 93 So verstanden ist es ein Naturgesetz, dass auf Schmerz ein Schmerzverhalten folgt, so wie es ein Naturgesetz ist, dass aus einem Topf mit kochendem Wasser Dampf aufsteigt. Allerdings ist für Cavell ersteres »ein sehr viel schwächeres Gesetz, denn oft, wenn Schmerz in einem Menschen kocht, tritt kein Schmerzverhalten auf.« 94 Cavell will mit diesem Gegenmythos den Skeptizismus selbstverständlich nicht widerlegen, sondern aufzeigen, was es für einen Unterschied macht, welche Vorstellung wir uns vom anderen – seinem Zusammenspiel von Innerem und Äußerem – machen. Es ist eine unterschiedliche Haltung, wenn ich es als gesetzmäßig hervorhebe, dass mich der andere betrügen kann, oder ich die Gesetzmäßigkeit, dass Schmerz Schmerzäußerungen hervorruft, betone. (2) Mit dem Thema der Vorstellungen sind wir beim zweiten wichtigen Schluss angekommen: Das Innenleben des anderen tritt nicht als Bild, wohl aber als Vorstellung in unsere Kommunikation ein. Das heißt, ich kann von seinem Innenleben kein Bild, sondern ausschließlich eine Vorstellung haben. Diese Vorstellung ist meine Eigenleistung – muss meine Eigenleistung sein –, sie ist meine Reaktion auf das Bild seiner Äußerungen, die seine Reaktion auf sein inneres Erleben sind. Diese Aufstellung macht deutlich, dass in der Begegnung mit anderen im hohen Maße an meine Imaginationskraft appelliert wird. In einem gewissen Sinne ist etwas am anderen tatsächlich verdeckt, so wie der kochende Inhalt des Topfes verdeckt ist, und es bedarf meiner Vorstellungskraft, diesen Bereich zu erfassen. Dass der andere für mich wesentlich aus meinen Vorstellungen von ihm besteht, ist ein außerordentlich beängstigender Gedanke. Der Beunruhigung kann nur beigekommen werden, indem ich mir klar mache, dass ich nicht frei imaginieren muss, da der andere mir Worte und Zeichen gibt – und das unaufhörlich. Nicht jedem bzw. nicht in jeder Verfassung wird das helfen können. Ist das Vertrauen in unsere Kommunikation, in unsere gemeinsamen Kriterien erst gestört – und für einen Vertrauensverlust wird es immer gute Gründe geben –, dann kann das Innere des anderen Projektionsfläche all meiner Phantasien werden, denn ich werde nichts mehr akzeptieren können, das meine Vorstellungskraft in bestimmte Bahnen lenkt. Ich habe den
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Korsmeier: Sprache erfahren, S. 129. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 540.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
anderen dann aus meinem Blick verloren oder sogar verdrängt und gebe mich meinem Narzissmus hin.
Phantasien und Vorstellungen Cavell unterscheidet zwischen Vorstellungsvermögen und Phantasievermögen. Während er mit Phantasievermögen das bezeichnet, was wir gemeinhin eine »lebhafte Phantasie« nennen, meint er mit dem Vorstellungsvermögen »die Fähigkeit, Verbindungen herzustellen, Möglichkeiten zu sehen oder zu realisieren.« 95 »In der Begegnung mit anderen ist Vorstellungsvermögen gefordert, wenn ich die Tatsachen erfassen, die Bedeutung der Vorgänge realisieren, das Benehmen für mich lebendig machen, eine Verbindung herstellen muss.« 96
Cavell ergänzt, dass »Tatsachen erfassen« so viel bedeute, wie »ein Benehmen in einer bestimmten Weise zu betrachten«, also zum Beispiel ein Zwinkern als ein Zusammenzucken zu verstehen und mit irgendetwas in der Welt zu verbinden, das das Zusammenzucken auslöst – oder, wenn es nichts in der Welt gibt, mit dem man das Zusammenzucken verbinden kann, es mit irgendwas im Inneren des anderen zu verbinden, mit einem Gedanken oder einer Gefühlsregung. 97 Die Fähigkeit der Vorstellung ist demnach ganz elementar für die Verbindung zu anderen. Phantasien sind in diesem Kontext dagegen eher etwas, das ich mir selbst einbilde. Phantasie- und Vorstellungsvermögen sind natürlich nicht scharf voneinander zu trennen. Eine lebhafte Phantasie kann hilfreich dabei sein, Vorstellungen vom anderen zu bilden, sie kann diesem Zweck aber auch zuwider laufen, wenn sie mehr und mehr von etwas in mir gespeist wird als von etwas am anderen. Der Klarheit wegen werde ich in diesem Kapitel mit Phantasien all das bezeichnen, was in den Bereich der Einbildung, Täuschung bzw. Selbsttäuschung und deutlichen Falschbewertung fällt. Solche Phantasien sind per se narzisstisch, weil sie sich nur aus dem eigenen Inneren speisen und den anderen nicht mehr beachten. Mit seiner unaufhörlichen Forderung, sich dem Gewöhnlichen zuzuwenden, zielt Cavell genau darauf, unser Vertrauen in unsere 95 96 97
Ebd., S. 564. Ebd. Ebd.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Alltagssprache, unsere geteilten Kriterien, eben alles was deutlich vor uns liegt zu stärken 98 und somit unsere sonst entfesselten und zügellosen Phantasien über den anderen zu binden. Schon die Tatsache unserer Getrenntheit macht Phantasien möglich und in einem gewissen Sinne nötig, doch erst die Nichtanerkennung dessen, was vor uns liegt, schafft Raum für unbegrenzt narzisstische Phantasien, die nun den anderen wirklich in die Ferne rücken. So entsteht schließlich die Distanz, die wir ursprünglich auflösen wollten. Die Phantasien, um die es hier geht, bestehen darin, dass ich mir phantastische Imaginationen vom Inneren eines anderen mache, davon, was er wirklich denkt und fühlt, oder dass ich Einbildungen nachgebe, Einbildungen von dem Verhältnis, das ich zu diesem Inneren habe, und dem Verhältnis, das seine Äußerungen zu seinem Inneren haben. Vielleicht ist die Phantasie einer metaphysischen Verbundenheit, also die Annahme, ich und der andere müssten irgendwie direkt miteinander verbunden sein, weil wir sonst ganz und gar getrennt wären und gar keine Möglichkeit des Zugangs zum Inneren des anderen hätten, die mächtigste, weil eben die grundlegendste aller Phantasien, die ich im Bezug auf den anderen haben kann. Cavell sieht das Spätwerk Wittgensteins durchdrungen von der Idee, dass uns Phantasien unbemerkt in ihrem Griff halten. Diese düstere Präsenz der Phantasien wird explizit, wenn Wittgenstein von »Verhexungen unseres Verstandes« 99 und »Bildern, die uns gefangen halten« und aus denen wir nicht heraus können, spricht. 100 Wittgenstein sei, schreibt Cavell, genau wie Freud »mit der Enthüllung der Unterwerfung unserer wirklichen Bedürfnisse unter Beschränkungen und unter Phantasien (Bilder) befasst, denen wir nicht entrinnen können.« 101 Wir hängen diesen Phantasien also aus irgendwelchen Gründen nach – sie üben einen Reiz auf uns aus –, doch es sind gerade diese Phantasien, die uns von der Erfüllung unserer eigentlichen Wünsche unmerklich und dabei unnachgiebig abhalten. Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Philosophie Wittgensteins therapeutisch motiviert ist – Wittgenstein selbst spricht ja einmal von der Philosophie als Krankheitsbehandlung. 102 Die therapeutische Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 4. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 81 (§ 109). 100 Ebd., S. 82 (§ 115). 101 Cavell, Stanley: »Der Zugang zu Wittgensteins Spätphilosophie«, in: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 95. 102 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 150 (§ 255). 98 99
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
Aufgabe der von Wittgenstein geprägten Philosophie liegt für Cavell darin, den Menschen von den »Fesseln des Wahns« zu befreien. 103 »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexungen des Verstandes«, 104 gegen die Phantasien und Bilder, die uns gefangen halten. 105 Wittgensteins Philosophiebegriff ist jedoch ambivalent. Die Philosophie ist nicht nur ein Heilmittel. Die Krankheit, die sie behandeln muss, hat sie selbst verursacht. Unsere Phantasien einer metaphysischen Verbindung mit anderen machen sich Wittgenstein zufolge auch in der professionellen Philosophie bemerkbar. Dort resultieren sie in skeptizistischen Versuchen, »über-starre« Verbindungen zwischen dem Bewusstsein und seinen Objekten zu finden, 106 »eine Über-Ordnung zwischen […] Über-Begriffen«, 107 was dem Wunsch entspricht, die »Logik unserer Sprache zu sublimieren«. 108 Die Philosophie strebt damit zu »Bedingungen [, die] in gewissem Sinne ideal sind.« 109 Ideale Bedingungen wären, dass unsere Kommunikation auf jeden Fall gelingt und die Sprache allein dafür sorgt, dass sie gelingt. Mein Beitrag zu den Worten soll entfernt werden, damit die Sprache, als wäre sie »jenseits von mir«, für mich die volle Verantwortung übernimmt. Die alltägliche Sprache, unser natürlicher Weg miteinander in Kontakt zu stehen, muss in diesem Bestreben als zu willkürlich und mittelmäßig disqualifiziert werden. 110 Die philosophische Therapie, die Wittgenstein gegen die philosophische Krankheit – den Skeptizismus – verschreibt, besteht in einer Umkehr. Nicht nach oben, zum Perfekten, sollen wir streben, sondern nach unten, zum Unperfekten, Alltäglichen. Philosophie kann wieder zu sich selbst und wir zu Sinnen kommen, indem wir unser Denken zurückführen – zum Gewöhnlichen. Ein Weg des Zurückführens ist Wittgensteins Methode des Zurückführens der Wörter aus ihrem metaphysischen zu ihrem gewöhnlichen Gebrauch, also die Methode, Äußerungen in den Kontexten zu betrachten, in
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Cavell: Cities of Words, S. 325. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 81 (§ 109). Ebd., S. 82 (§ 115). Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 132 (§ 197). Ebd., S. 77 (§ 97). Ebd., S. 37 (§ 38). Ebd., S. 79 (§ 107). Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 113 f.
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III. Skeptizismus und Popmusik
denen sie gemacht werden. 111 Sie hat zum Ziel, dass wir uns nicht länger selbst verwirren, weil wir nicht mehr wissen, was die Wörter bedeuten. Nun könnte man einwenden, dass, wenn die Philosophie doch das ursprüngliche Problem ist, wir doch keine Gegenphilosophie brauchen, um das Problem zu lösen, sondern uns doch einfach ganz und gar von der Philosophie verabschieden sollten. Doch zu sagen, dass wir einfach mit dem Philosophieren aufhören sollten, weil wir dann auch kein Problem mehr haben, das wir lösen müssen, gibt im Kontext Wittgensteins und Cavells etwa so viel Sinn, wie zu sagen, dass wir aufhören sollten, Sprache zu haben, um unsere Probleme mit der Sprache zu lösen. Philosophie ist für sie nichts, das nur von Philosophen in philosophischen Instituten ausgeübt wird, vielmehr ist sie ein alltägliches Denken, ein Weg, den jeder Mensch beschreiten kann, wenn er beginnt, Ereignisse seines Lebens zu reflektieren. Cavell schreibt, dass die professionelle Philosophie über nichts anderes nachdenke als normale Menschen: »[S]ie ist vielmehr die Bereitschaft, aufmerksam nachdenken zu lernen über jene Dinge, über die auch gewöhnliche Menschen nachdenken, weil sie ihnen, ohne dass sie das vermeiden könnten, durch den Kopf gehen.« 112
Der Charme der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Skeptizismus liegt für Cavell darin, dass er ihn mit einer alltäglichen Problematik parallel setzt. Er sieht den Skeptizismus als Widerspiegelung einer universalen menschlichen Sehnsucht und der damit verbundenen Form des Denkens. In ihm drückt sich der menschliche Wunsch, die menschliche Bedingung zu leugnen aus. Hier zeigt sich, wie sehr wir uns angezogen fühlen von Idealen, die uns Sicherheit, Gewissheit und Freiheit von Zweifeln versprechen, und hier zeigt sich auch, wie unser Angezogenwerden, dadurch dass diese Versprechungen nie eingelöst werden können, sich schließlich als eine »Begierde, zu denken, die außer Kontrolle gerät«, manifestieren muss. 113 Wittgenstein wollte der Philosophie zeigen, wie wir dieser Begierde entgegenwirken können. Da diese Denkstrukturen eben nicht nur bei sogenannten Philosophen vorkommen, sondern potentiell bei Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 82 (§ 116). Cavell, Stanley: Themes Out of School. San Francisco 1984, S. 9. Hier zitiert nach: Nagl, Ludwig: »Einleitung: Philosphie als Erziehung von Erwachsenen«, in: Cavell, Stanley: Nach der Philosophie. Berlin 2001, S. 22. 113 Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 112. 111 112
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
jedem, ist die philosophische (Er-)Lösung zugleich eine alltägliche. Der Vorschlag lautet nicht, mit dem Denken aufzuhören, vielmehr wird dem Geist, der sich in bestimmten Denkstrukturen gefangen hält, aufgezeigt, dass man auch ganz anders denken kann: Descartes wollte sich von allen befreien und strebte ein reines Denken an. Was er dabei aber verlor war die Erfahrung. 114 Die Folge waren weltzerstörerische Phantasien. Wittgenstein indes geht es um ein Denken, das hinschaut oder hinhört, das versucht wahrnehmend zu erkennen und das sich nicht über die ganze Welt zu ermächtigen will, indem es sagt, wie die Dinge sein müssen. 115 Sein Credo lautet: »Sag nicht: Es muss […], sondern schau […] denk nicht, sondern schau!« 116 Philosophie, so verstanden, ist eine Beobachtung und Beschreibung dessen, was ist. Die Formel, die Cavell dafür entwirft heißt »Denken als Wahrnehmen und Annehmen« (»thinking as reception«). 117 Um es noch einmal zu betonen: Dieser Ratschlag, wahrnehmend zu denken, ist nicht nur eine Empfehlung an die Philosophie, sondern auch an uns im Alltag, wenn wir uns in Phantasien verstricken und uns zunehmend mit unseren hin- und herlaufenden Denkbewegungen quälen. Wir glauben in solchen Momenten, wir müssten nur noch ein bisschen mehr denken, um uns von unseren Zweifeln und Ängsten zu befreien. Wir suchen wie Descartes nach einem Argument, das alle anderen aussticht. Aus dem Wunsch heraus, endlich zu einem befriedigenden, weil beruhigenden Ziel zu gelangen, dreht sich sein Denken immer weiter, schlägt immer neue Kapriolen und verliert vollkommen den Halt. Das ist der tiefe, dunkle Strudel, in den auch Descartes geraten ist. 118 Das ist der Wahnsinn, den er nur angedeutet hatte. Die in Where I End and You Begin dominierenden 1/8-Noten, die Stakkato angeschlagen werden, die der Musik etwas
Jaspers: Descartes und die Philosophie, S. 80. Ebd., S. 120. 116 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 65 f. (§ 66). Das komplette Zitat lautet: »Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir Spiele nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, u. s. w. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: Es muss ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht Spiele – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!« 117 Cavell, Stanley: Senses of Walden. Cambridge 1981, S. 132 f. 118 Descartes: Meditationen, S. 88. 114 115
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III. Skeptizismus und Popmusik
Zwingendes verleihen, sind ein treffendes musikalisches Bild für das Treiben und Zwingen der Gedanken. Hätten wir daran gedacht, dass »Wahnsinn« nichts anderes sein könnte, als immer mehr zu denken? Das Unternehmen, sich die Welt ein für alle Mal gegenwärtig zu machen, muss scheitern, denn genau in dem Maße, in dem man das versucht, geht sie mehr und mehr verloren. 119 Auf diese Weise gefangen in unserem »reinen« Denken, das aber in Wirklichkeit ein selbstbezogenes Denken, eine narzisstische Phantasie ist, entfernen sich die anderen für uns immer mehr, sie verblassen, weil wir sie nicht sehen wollen. Unsere selbstgedachten, erdachten Phantasien verdecken die anderen. Deswegen sagt Wittgenstein: aufhören und hinsehen – wahrnehmen, was wir wahrnehmen können. Es ist eine Aufforderung, den anderen anzusehen, seinen Körper, alles was er von sich zeigt, wieder zu lesen. Den anderen zu sehen bedeutet auch, den Kontext zu sehen, in dem er steht. In lebensweltlichen Zusammenhängen heißt, die Worte in ihre Heimat zurückzuführen, die Worte eines anderen zurückzuführen – in den Kontext, in dem er sich befindet. Der Skeptizismus manifestiert sich also als eine Begierde zu denken, die außer Kontrolle gerät. Inzwischen sollte klarer werden, dass Where I End and You Begin als die Darstellung einer Stimmung gesehen werden kann, in der man sich ganz und gar dieser Begierde hingegeben hat und man nun von den Phantasien beherrscht wird, die uns immer weiter voneinander entfernen.
Phantasie des Unvermögens zur Äußerung – das Privatsprachenargument Der Mittelteil von Where I End and You Begin ist nun die deutliche Formulierung einer skeptischen Phantasie. Dort heißt es: »I am up in the clouds/And I can’t come down/I can watch and can’t take part/ Where I end and where you start.« Die Phantasie, sich in den Wolken zu befinden und nicht heraus, nicht herunter zu können, ist nicht nur eine Phantasie der eigenen Distanz zu anderen – die sich ja nicht wie ich in den Wolken, sondern weit entfernt von mir am Boden befinden –, sondern auch eine Phantasie der eigenen Verstecktheit, denn
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Cavell: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, S. 104.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
man ist ja in den oder durch die Wolken verborgen und kann von anderen nicht gesehen werden. Cavell findet auch in den Philosophischen Untersuchungen eine solche Phantasie der Verborgenheit, und zwar in Form des sogenannten Privatsprachenarguments. 120 Gegenläufig zu der üblichen Interpretation ist Wittgensteins Diskussion einer Privatsprache für Cavell nicht die Entfaltung eines Arguments, sondern die Darstellung einer Phantasie. 121 Eine Phantasie, die Cavell »die Phantasie des notwendigen Unvermögens zur Äußerung« nennt. 122 In seinen Gedanken um eine mögliche Privatsprache entwirft Wittgenstein die Vorstellung einer Sprache, die nur von mir selbst und niemand anderem zu verstehen ist, und die in diesem Sinne »privat« ist. Die Wörter dieser Sprache beziehen sich auf das, wovon nur ich wissen kann, meine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Die Wörter dieser Sprache bekommen für mich eine Bedeutung, weil ich sie mit meinen inneren Vorgängen verbinde. Für einen anderen sind die Worte nicht zu verstehen, ohne Bedeutung. Und es geht noch weiter: Die Worte können nicht einfach in eine andere Sprache übertragen werden, denn das, wofür sie stehen, ist nicht vermittelbar – es sind meine privaten, einzigartigen Empfindungen, die ich nicht (mit-) teilen kann. 123 Sie, und damit ich, sind für andere unverständlich. Gemeinhin wird das Privatsprachenargument dahingehend interpretiert, dass Wittgenstein die Möglichkeit einer Privatsprache verwirft. 124 Da wir unsere Begriffe in intersubjektiven Sprachspielen erlernen würden, könne es für uns keine Bedeutungen geben, die privat und unzugänglich für andere sind. Durch die Öffentlichkeit unserer Sprache seien wir uns unweigerlich gegenseitig bekannt, sichtbar füreinander. Die Phantasie eines notwendigen Unvermögens zur Äußerung stelle sich damit als sinnfrei heraus. Cavell widerspricht diesem Bild der Öffentlichkeit von Sprache. Zwar bilden alle Sprecher einer Sprache unweigerlich eine sprachliche Gemeinschaft, doch der Fortbestand dieser Gemeinschaft wird durch nichts sichergestellt als die Bereitschaft der Individuen, die Bedingungen der gegenseitigen 120 Wittgensteins Überlegungen zur Privatsprache findet man hier: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 145 ff. (§ 243 ff.). 121 Korsmeier: Sprache erfahren, S. 130. 122 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 559/560. 123 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 145 (§ 243). 124 Ich folge in dieser Darstellung in den nächsten zwei Absätzen: Hammer: Stanley Cavell, S. 68.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Verständlichkeit in der Sprache weiterhin anzuerkennen. »Kein Beweis kann das Individuum von dieser Verantwortung befreien.« 125 Im Gegensatz zur üblichen Interpretation des Privatsprachenarguments geht es Cavell nicht darum, zu belegen, dass es keine Privatsprache geben kann und er verwendet auch keine Mühen dafür, ihre Möglichkeit zu beweisen. Was er dagegen zeigen möchte ist, dass ein Beweis der Unmöglichkeit einer Privatsprache zwangsläufig aus einem falschen Geist heraus geschehen muss. Indem man sich anstrengt, der Vorstellung einer Privatsprache einen Fehler nachzuweisen, der identifiziert und korrigiert werden kann, versucht man Privatheit a priori zu überwinden. 126 Dabei muss Privatheit von jedem von uns durch Ausdruck und Äußerung selbst überwunden werden. Damit würde ein weiteres Mal unser Angewiesensein auf Äußerungen bestritten und der Anspruch der anderen an uns zurückgewiesen. Des Weiteren wird verschleiert, wie groß der menschliche Drang ist, die durch unsere Kriterien hergestellte Verbindung zwischen dem Inneren und dem Äußeren zu leugnen. Cavell argumentiert dafür, solche Phantasien der Privatheit, wie sie in dem Privatsprachenargument formuliert werden, als Ausdrücke einer tief sitzenden Sehnsucht zu begreifen – der Sehnsucht danach, uns von unserer Bürde zu befreien, uns anderen gegenüber erkennbar machen zu müssen. Die Annahme, ein einfacher Gegenbeweis sei genug um die Ängste bezüglich unserer Äußerungen zu bewältigen, offenbart letztlich eine skeptische Haltung: Sie erkennt nicht an, wie getrennt wir tatsächlich sind und wie entscheidend es ist, dass wir uns sichtbar machen. »Statt Privatheit zu überwinden, schafft sie ein falsches Bild der Einheit von Körper und Seele, und ein falsches Bild der Einheit von uns Menschen.« 127 Der Versuch, die Unmöglichkeit einer Privatsprache zu beweisen, reiht sich damit ein in die Versuche, den Skeptizismus zu widerlegen, die ebenso skeptizistisch sind wie der ursprüngliche Verdacht des Skeptikers. Aus diesen Gründen schlägt Cavell vor, Wittgenstein so zu verstehen, dass er mit der Privatsprache eine Phantasie beschreibt. Was ist der Inhalt dieser Phantasie? »Die Phantasie einer Privatsprache, die dem Wunsch zugrunde liegt, die Öffentlichkeit der Sprache zu leugnen, entpuppt sich […] als eine Phantasie 125 126 127
Hammer: Stanley Cavell, S. 68. Übersetzung D. G. Ebd. Ebd. Übersetzung D. G.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
oder als Furcht entweder vor dem Unvermögen zur Äußerung, bei dem ich nicht nur nicht erkannt würde, sondern in der ich auch machtlos bin, mich selbst kenntlich zu machen, oder davor, dass sich das, was ich äußere, meiner Kontrolle entzieht.« 128
Sowohl Radioheads Phantasie in den Wolken versteckt zu sein als auch Wittgensteins Phantasie einer Privatsprache sind Phantasien der Verborgenheit und Unsichtbarkeit. Sie beinhalten, dass man sich nicht zeigen kann, dass man den anderen nichts von sich zeigen kann, dass man sich ihnen gegenüber nicht äußern kann. Während es bisher vornehmlich darum ging, den Körper des anderen als Zuhause meiner Konzepte des Inneren anzuerkennen, gerät hier nun mein Verhältnis zu meinem Körper in den Fokus. Genauso wie ich den Körper des anderen nicht mehr als Ausdruck seines Innenlebens ernst nehmen kann, kann ich auch meinem Körper die Fähigkeit absprechen, mein Innenleben auszudrücken. Man wäre dann allein, abgeschnitten von allen. Ich möchte anmerken, dass das Wolkenbild bei Radiohead in einer Linie steht mit ähnlichen Bildern des Verschwindens, des Abgeschnitten- oder Verloren-Seins, die von dieser Band beschworen werden. Die folgenden Textstellen stammen alle aus den zentralen Passagen von Liedern oder sind sogar deren Titel: »For a minute there I lost myself, I lost myself«, 129 »How to Disappear Completely«, 130 »I’m not here. This isn’t happening«, 131 »Just caus’ you feel it doesn’t mean it’s there«. 132 Diese Zeilen sind paradigmatisch für »ein Gefühl, das fast ständig Ausdruck findet in Radioheads Musik – dass man nicht in seine Umgebung gehört, dass man nicht zuhause ist (nicht einmal zuhause in der Welt).« 133 Ich hatte zuvor über den Hall-Effekt in Where I End and You Begin gesprochen, der für eine Stimmung der Verlorenheit sorgen würde. Die Tatsache, dass dieser Effekt bei Radiohead sehr häufig eingesetzt wird, könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass das Verlieren des Selbst, der anderen oder der Welt ein grundsätzliches Thema dieser Band ist. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 559. »Karma Police« vom Album Ok Computer (1997). 130 »How to Disappear Completely« vom Album Kid A (2000). 131 Ebd. 132 »There There« vom Album Hail to the Thief (2003). 133 Lampert, Matthew: »Why a Rock Band in a Desolate Time?«, in: Forbes, Brandon W./Reisch, George A.: Radiohead and Philosophy. Peru 2009, S. 204. Übersetzung D. G. 128 129
169 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
III. Skeptizismus und Popmusik
Die Phantasie eines Unvermögens zur Äußerung ist also einerseits, wie Korsmeier schreibt, ein »Horrorszenario«. 134 Andererseits, und das erklärt die Anziehungskraft dieser Phantasie, hat sie einige verlockende Nebenwirkungen, wie Cavell darlegt: »Eine Phantasie über das notwendige Unvermögen zur Äußerung würde eine simultane Reihe metaphysischer Probleme lösen: Sie würde mich der Verantwortung beheben, mich selbst anderen gegenüber erkennbar zu machen – als würde ich ständig meine Erlebnisse verraten, mich unaufhörlich preisgeben, wenn ich mich äußerte. Sie würde nahelegen, dass meine Verantwortung für Selbsterkenntnis für sich selbst sorgt – als bedeute die Tatsache, dass andere mich (mein Inneres) nicht kennen, dass es mir nicht entgehen kann. Sie würde meine Ängste beruhigen, erkannt zu werden, obwohl sie vielleicht nicht verhindert, dass ich unter Verdacht stehe; sie würde meine Ängste beruhigen, nicht erkannt zu werden, obwohl sie vielleicht nicht verhindert, dass ich unter Anklage gerate. – Der dieser Phantasie zugrunde liegende Wunsch verdeckt einen dem Skeptizismus zugrunde liegenden Wunsch, nämlich den, dass sich die Verbindung zwischen meinen Wissensansprüchen und den Objekten, auf die die Ansprüche zutreffen sollen, ohne meinen Eingriff, unabhängig von meinen Zustimmungen einstellt. So wie der Wunsch beschaffen ist, ist er unstillbar. Wo es um das Wissen meiner selbst geht, wäre eine solche Selbstverleugnung gleich doppelt einmalig. Ich muss verschwinden, damit die Suche nach mir erfolgreich ist.« 135
In einer Phantasie über das Unvermögen zur Äußerung wäre ich vieler Verantwortungen enthoben. Ich wäre nicht länger dafür verantwortlich, mich anderen mitzuteilen. Ich müsste nicht mehr dafür sorgen, dass ich verstanden werde, dass ich von anderen gekannt werde, denn es ist ja unmöglich. Zugleich geht diese Phantasie davon aus, dass ich mich unbeschränkt selbst kenne. 136 So wie diese Phantasie Cavell beschreibt, ist sie eine Reaktion auf die ursprünglichen Ängste, die sich mit der Äußerungsfähigkeit bzw. Äußerungsabhängigkeit verbinden. Die Reaktion besteht darin, dass versucht wird, wieder volle Autorität zu erlangen. Wenn ich der einzige bin, der über meine inneren Zustände Bescheid wissen kann, dann verschwindet auch die Möglichkeit, dass ich korrigiert, falsch verstanden oder zurückgewiesen werde. Wäre ich von der Notwendigkeit entbunden, mich anderen erkennbar zu machen, wäre ich auch die einzige Autorität, die Krite134 135 136
Korsmeier: Sprache erfahren, S. 131. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 560 f. Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 59.
170 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
rien auf mich selbst korrekt anwenden kann. Jedoch ist der Preis, den ich zahlen müsste, dass ich unerkannt und ungekannt bliebe. 137 Die Ängste, die mit der Äußerungsfähigkeit verbunden sind, beziehen sich darauf, dass ich in dem Moment, in dem ich mich äußere, die Kontrolle über meine Worte verliere. Mir droht, dass ich nicht erkannt werde und feststelle, dass ich machtlos bin, mich erkennbar zu machen, oder dass ich nicht richtig verstanden werde und man mich trotzdem an meinen Worten messen wird. Wie Espen Hammer bemerkt, stünde im ersten Fall meine Menschlichkeit auf dem Spiel, im zweiten meine Identität, mein Konzept davon, wer ich bin. 138 Emerson, an den Cavell in diesen Zusammenhang erinnert, schreibt, dass sobald ein Mensch »einmal mit Nachdruck gehandelt oder gesprochen hat, […] eine festgelegte Person [ist, die] mit Sympathie oder Hass von Hunderten beobachtet [wird].« 139 Wenn wir sprechen, werden wir für andere »auf immer und unvergessbar sichtbar.« 140 Die mit unserer Ausdrucksfähigkeit verbundenen Ängste entstehen also nicht nur aus der Gefahr, nicht gesehen zu werden, sondern auch aus der Tatsache, dass man zwangsläufig gesehen wird. Sich skeptizistischen Phantasien hinzugeben ist also auch ein Versuch, dieses »gesehen werden« zu umgehen. Das Selbstvertrauen, an das Emerson in seinem gleichnamigen Essay appelliert, besteht darin, den Blicken der anderen Stand zu halten. Sich ihren Blicken auszusetzen, heißt die Scham für das, was man ist, zu überwinden. Man könnte dann in der Welt zuhause sein. Die Alternative wäre, um bei einem Bild von Emerson zu bleiben, in der Welt herumzuspuken 141 – oder wie es eben in dem Lied heißt, sich nicht in der Welt, sondern in den Wolken zu befinden. Cavell zieht hieraus die Moral, dass wir, wenn wir in der Welt zuhause sein wollen, akzeptieren müssen, dass wir von Bedeutung sind – und zwar insofern von Bedeutung sind, wie wir uns äußern. »Zuzulassen, wichtig zu sein heißt nicht bloß anerkennen, wie es um einen selbst steht, und folglich anzuerkennen, dass man sich wünscht, der andere möge sich darum kümmern, zumindest darum, es zu wissen. Es heißt auch
Hammer: Stanley Cavell, S. 67. Ebd., S. 66. 139 Emerson, Ralph Waldo: »Self-Reliance«, in: Emerson, Ralph Waldo: Essays, Representative Men etc. and Poems. London 1954, S. 40. 140 Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen, S. 213. 141 Ebd., S. 206 f. 137 138
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III. Skeptizismus und Popmusik
anzuerkennen, dass deine Äußerungen tatsächlich dich zum Ausdruck bringen, dass es deine sind, dass du in ihnen enthalten bist. Das bedeutet, du musst es zulassen, verstanden zu werden, etwas, was du stets unterdrücken kannst. Es nicht zu unterdrücken heißt, wie ich sagen möchte, deinen Körper und den Körper deiner Äußerungen als deinen anzuerkennen, als das was du hier auf Erden bist, als alles, was es je von dir geben wird.« 142
Diese Moral besagt auch, dass ich akzeptieren muss, dass ich nur so existiere, wie ich mich äußere – meine Äußerungen sind alles, was es in der Welt je von mir geben wird. Darüber hinaus gibt es kein »Ich«, das in dieser Welt existiert. Ein Ich zu haben bedeutet, die Verantwortung für alle meine Äußerungen zu übernehmen. Mit den Phantasien möchte man der Erfüllung tiefer Ängste sozusagen zuvorkommen. Bevor man feststellen muss, dass man allein ist, oder dass man falsch verstanden wird, zieht man sich lieber gleich aus der Gesellschaft der anderen zurück. Anders gesagt: Bevor man feststellen muss, dass die anderen einem die Anerkennung verwehren, wünscht man sich, man sei für die anderen ganz und gar nicht (an-)erkennbar. Aus dem Wunsch, Teil der Welt zu sein, entsteht die Angst, man könne nicht zu ihr gehören, was dazu führt, dass man sich selbsttätig aus ihr zurückzieht, denn dann kann man es wenigstens als einen Vorgang betrachten, über den man selbst die Kontrolle hatte. Die Folge des Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen ist dann nicht länger, dass die anderen aus der Welt verschwinden, sondern dass ich aus der Welt verschwinde, ich ihr verloren gehe. Die Phantasie einer Privatsprache leugnet die Geteiltheit unserer Sprache. Das Ich von Where I End and You Begin kann als ein Vertreter einer Privatsprache interpretiert werden, denn es versucht die Sprache für sich zu vereinnahmen. Zwar wird ein Du direkt und wiederholt angesprochen, doch hat es kein eigenes Leben, keine eigene Stimme. Das Du existiert nur in den Phantasien des Ichs. Diese Analyse scheint zu übersehen, dass es in der Popmusik abgesehen von Duetten immer nur eine Stimme geben kann. Doch erstens könnte eine andere Person durch die Beschreibungen der singenden Stimme lebendig gemacht werden, was in diesem Lied nicht geschieht. Hier ist das Du nur eine Projektionsfläche der Phantasien des Ichs. Und zweitens weist die Tatsache, dass in der Popmusik nur eine oder einer singt, darauf hin, dass sich diese Kunstform besonders für die Entfaltung von narzisstischen Phantasien eignet. Die Stimmen anderer sind 142
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 608.
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Abbildung 3: Da ist kein Abgrund zwischen uns – ich bin der Abgrund. Transparent am Staatstheater Darmstadt.
in der Popmusik durch die Konventionen dieser Kunstform auf natürliche Weise ausgeschlossen. Das unterscheidet die Popmusik wesentlich von der Literatur, aber vor allem vom Film und vom Theater, wo es fast immer andere Stimmen gibt. Wie verträgt sich die Beobachtung, dass Popmusik narzisstische Phantasien begünstigt, mit der im vorherigen Abschnitt (III.2) vertretenen Behauptung, Popmusik belebe unsere Sprache von Neuem? Ich meine, dass sich aus dem Paradox der Privatheit und der verbesserten Kommunizierbarkeit die Möglichkeit eröffnet, dass etwas sehr Privates besonders deutlich mitgeteilt werden kann, dass es sozusagen in den sozialen Raum gezerrt und für alle, die wollen, sichtbar wird. Das ist die Hoffnung der Popmusik.
Getrenntheit als Schicksal Unsere Getrenntheit wird in Where I End and You Begin also durch verschiedene Bilder – die Kluft, die Wolken, die Dinosaurier – als gewaltig, skandalös und unauflösbar wahrgenommen. Mit »I am up 173 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
III. Skeptizismus und Popmusik
in the Clouds/And I can’t and I can’t come down« wird ausgedrückt, dass das, was uns trennt, auf keinen Fall überbrückt werden kann. Der Grund für unsere Trennung und die Entfernung zwischen uns wird in diesen Bildern in etwas Äußerem – etwa einer Kluft – gesehen und deswegen als schicksalhaft empfunden. Was all diese Bilder und Phantasien falsch erfassen ist, dass sie unsere Getrenntheit als eine Trennung durch etwas auffassen. Es gibt nichts, was uns trennt. Wir sind getrennt. 143 Tatsächlich ist unsere Getrenntheit unser Schicksal, doch für das Ausmaß dieser Trennung sind wir selbst verantwortlich. 144 Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass es einen Skandal des Skeptizismus gibt, der uns unerkennbar macht, denn der Skandal sind immer wir. Wir machen uns selbst unerkennbar oder erkennen andere nicht. Es existiert kein Abgrund zwischen uns, sondern »[j]eder Mensch ist ein Abgrund«, wie es im Woyzeck (Abbildung 3) heißt. 145 »Wir sind, aus keinem Grund, endlos getrennt. Doch dann sind wir für alles, was zwischen uns tritt, verantwortlich; wenn nicht dafür, es verursacht zu haben, so doch dafür es fortzusetzen.« 146
Der Skeptiker aber begreift auch den selbst verantworteten Beitrag zu unserer Trennung als schicksalhaft. Indem er auf das Schicksal verweist, leugnet der Skeptiker seine Verantwortung für das Ausmaß der Trennung von anderen. Im Lied rührt die Verzweiflung daher, dass der Skeptiker glaubt entdeckt zu haben, dass wir durch unsere Getrenntheit an der Existenz des anderen nicht mehr teilhaben können: »I can watch and can’t take part/Where I end and where you start.« Ja, ich kann am Leben des anderen nicht so teilhaben, wie er es kann, denn ich kann nicht er sein. Ich bin in dieser Hinsicht dazu verdammt zuzusehen. Doch zusehen ist meine Form der Teilhabe am Leben anderer. Die einzige, die Menschen offen steht. Ich kann ihn sehen und er mich – und wir können auf das, was wir sehen, reagieren. Der Skeptiker verwirft aber diese menschliche Form der Teilhabe, indem er sie als minderwertig darstellt. Er schmettert Wittgensteins Aufforderung »hinzuschauen« 147 ab, weil er meint, zu sehen sei nicht genug. 143 144 145 146 147
Korsmeier: Sprache erfahren, S. 127. Hammer: Stanley Cavell, S. 47. Büchner, Georg: Woyzeck. Stuttgart 1999, S. 141. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 588. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 65 f. (§ 66).
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Diese Haltung des Skeptikers kritisiert Wittgenstein, wenn er schreibt: »Man kann nicht sagen, die anderen lernen meine Empfindungen nur durch mein Benehmen.« 148 Woran Wittgenstein sich hier stößt ist das »nur«, denn es impliziert, dass durch das Benehmen anderer zu lernen zu wenig sei, dass unsere menschliche Form, etwas über das Innenleben anderer zu erfahren ungenügend ist, und dass es bessere Formen geben müsste. 149 Sein Verwerfen unserer Form der Teilhabe, unserer gewöhnlichen Sprache, interpretiert der Skeptiker aber als schicksalhaft, weil er, gefangen in seinen Denkstrukturen und Phantasien, keine Alternative sieht und seine Verantwortung nicht annehmen will.
Von Phantasien zur Gewalt Meine Äußerungen und seine Äußerungen sind unsere Verbindung zueinander. Wir müssen uns lesen, interpretieren und aufeinander reagieren. So können wir aneinander teilhaben. Der Skeptiker nimmt diese Teilhabe nicht an und bleibt zurück ohne jegliche Möglichkeit der Teilhabe an anderen, weil er sich eine andere Form der Teilhabe wünscht. Sie soll irgendwie näher am anderen sein. Nimmt man den Wunsch des Skeptikers nach noch mehr, nach metaphysischer Nähe ernst, dann muss man erkennen, dass er eigentlich ein Wunsch nach dem Ende der Existenz des anderen ist. Denn wenn sich die Vorstellung des Skeptikers von Nähe wirklich erfüllen würde, dann wäre der andere kein autonomes Wesen mehr. Er hätte nicht mehr die Freiheit selbst zu entscheiden, ob er Äußerungen anderer anerkennt, er könnte nicht mehr entscheiden, was er von sich preisgibt, er hätte, was die Welt angeht, überhaupt keinen eigenen Interpretationsspielraum mehr, weil die Bedeutung einer Sache durch eine direkte Verbindung vermittelt wäre. Das sind nur wenige Beispiele, aber sie machen deutlich, dass wir miteinander verschmelzen müssten, um den Wunsch des Skeptikers zu erfüllen. Wenn wir verschmelzen würden, gäbe es aber keine anderen mehr, zu denen der Skeptiker Verbindungen haben könnte, mit denen er zusammen sein könnte. Und noch mehr: Es gäbe nicht mal mehr ihn. Zusammensein würde unmöglich werden. Das kann der Skeptiker eigentlich nicht wollen. Sein Wunsch nach 148 149
Ebd., S. 147 (§ 246). Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 91.
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III. Skeptizismus und Popmusik
metaphysischer Verbundenheit ist also ebenso absurd wie gewalttätig. Die ganze Güte von Where I End and You Begin liegt darin, dass es spürbar macht, dass die hier beschriebenen Gemütszustände – die Phantasien, die Denkstrukturen, die Bilder, denen nachgehangen wird – letztlich Gewalt gegen den anderen sind. Sie führen zu einer Haltung, die den Anspruch, den seine Existenz an mich stellt, konsequent ignoriert. Weil ich ihm die Anerkennung verwehre, erkenne ich ihn auch nicht als vollkommen lebendiges Wesen mit seinen Leiden und Freuden an. Die Phantasie einer Privatsprache indes raubt dem anderen eine Stimme, mit der er Einfluss auf mein Bild von ihm haben könnte. Der Skeptizismus ist immer eine Rache an der Welt, die nicht immer unbedingt in einer offenen und direkten Handlung bestehen muss, sondern sich auch einfach in einer Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen und Belangen anderer äußern kann. Der Zusammenhang von Phantasien, die zunehmend die Vorstellung vom anderen dominieren und sich schließlich in alltäglich gelebter Gewalt äußern, erinnert an eine Passage aus William Butler Yeats’ Gedicht The Stare’s Nest by my Window. Dort heißt es: »Wir haben das Herz mit Phantasien ernährt/und von dieser Kost ist das Herz brutal geworden.« 150 Dass die Phantasien vor allem Ausdruck einer Haltung gegenüber dem anderen sind, wird in dem Lied spätestens deutlich, wenn mit dem wiederholten »You left me alone« der andere direkt angesprochen wird und aufgrund seiner Getrenntheit zum Mitverantwortlichen des eigenen Alleinseins gemacht wird. An dieser Stelle geht eine Erschütterung durch die Musik. Die Melodieflächen werden greller, der Rhythmus schneidender, es entsteht eine erste Ahnung der aufsteigenden Aggression. Es folgt ein weiteres inhaltliches Intermezzo, in dem, ähnlich wie in dem Abschnitt mit den Dinosauriern, die Getrenntheit wieder als unerhört und außergewöhnlich beschrieben wird, als eine unnatürliche oder sogar übernatürliche Trennung von etwas, das eigentlich zusammengehört, denn ohne Frage spielt »Like the parting of the waves« auf das außergewöhnliche Ereignis der Teilung des Roten Meeres im Alten Testament an. Das darauf folgende »Like a house falling into the sea« ist eine Phantasie des Verschwindens eines festen
150 Diese Übersetzung findet sich in: Banville, George: »Der Besuch der alten Dame«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 05. 2011.
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Grundes, auf dem ein Haus ja stehen sollte, und des Zusammenbruchs eines stabil gebauten Gebäudes oder einer stabilen Ordnung. Gleichzeitig steht ein Haus, das ins Meer stürzt, ganz offensichtlich für den Verlust eines Zuhauses. Ich denke, bei einem Lied, das so deutlich auf den skeptischen Zweifel bezüglich des Fremdpsychischen Bezug nimmt, kann man mit einiger Berechtigung sagen, dass wir es hier mit einer dramatischen Metapher zu tun haben, die die vom Subjekt als dramatisch empfundene Sicherheits- und Heimatlosigkeit – in der Sprache, in der Welt, unter anderen – aufgreift. Im letzten Teil des Liedes wird dann offensichtlich, dass es sich bei den Phantasien, die aus dem Wunsch einer metaphysischen Verbindung entstehen, um Phantasien der Gewalt handelt. Where I End and You Begin endet mit der Ankündigung, den anderen lebend aufzuessen, die im Wechsel mit der Feststellung, dass damit alle Lügen beseitigt werden, zigfach wiederholt wird: »I will eat you alive/There’ll be no more lies.« Interessanterweise wechselt der Sänger Thom Yorke (* 1968) nun das Gesangsregister und singt fortan mit tieferer Stimme, während gleichzeitig der Hall-Effekt noch verstärkt wird. Beides führt dazu, dass der Gesang im finalen Teil des Liedes noch entrückter wirkt. Die Musik nimmt mit andauernden 1/8-Triolen an aggressiver Nervosität zu und erreicht ihre Klimax. Das mit dem Aufessen des Körpers des anderen verfolgte Ziel ist klar: Es soll allen möglichen Lügen ein Ende machen. Der Körper ist in dieser Auffassung vor allem ein Träger von Lügen. Bevor ich mich dem Thema »Kannibalismus« zuwende, möchte ich zunächst auf die hier enthaltene Körperfeindlichkeit zu sprechen kommen.
Der Körper als Schleier – Der Körper als Bild der Seele Es hat sich wiederholt gezeigt, dass der Skeptizismus einen bestimmten Umgang mit unseren Körpern beinhaltet. Um meine Angst zu besiegen, nicht erkannt werden zu können, muss ich meinen Körper als meinen Körper und als Körper meiner Äußerungen anerkennen. Genauso muss ich die Körper der anderen als ihre Körper und die Äußerungen ihrer Körper als ihre Äußerungen anerkennen. Doch die ganze sich bei einem solchen Thema automatisch einstellende Rede von einem Innen und einem Außen vermittelt den Eindruck, der eigentliche Mensch sei etwas, das durch den Körper verdeckt ist. So eine Auffassung vertritt auch Descartes mit seinem berühmten Dua177 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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lismus von Körper und Seele. 151. Für ihn ist der Mensch allein denkend – ohne Körper – schon ganz. Doch wenn der Mensch Denken ist, was ist dann der Körper? – Er muss unweigerlich als ein Schleier empfunden werden, der den Blick auf die Seele versperrt. Niemandem muss gesagt werden, wie präsent solche Bilder jedem von uns sind. Sie finden Ausdruck in Aussagen wie: »Er ist nur nach außen so, in Wirklichkeit, innen drin, da ist er ein ganz anderer.« Und es muss auch niemandem gesagt werden, dass diese Vorstellung vom Verhältnis von Körper und Seele zu einem eindeutig negativ konnotierten Begriff des Körpers führen. Die ausgeprägte Körperfeindlichkeit des Christentums ist das beste Beispiel dafür, genau wie die verbreitete Sitte, den eigenen Körper zum Sündenbock für die verschiedensten Verfehlungen zu machen: »Der Geist war willig, das Fleisch schwach.« In so einer Aussage wird der eigene Körper gar nicht mehr als Teil des Selbst definiert, zumindest nicht mehr als Teil des eigentlichen Selbst. Bin ich vom skeptischen Zweifel geplagt, dann wird der Körper des anderen zuallererst zu einem privaten Ort, wo er bei sich ist, der mir aber verborgen ist und zu dem ich keinen Zugang habe. In dem Maße, in dem ich den Glauben an die Kraft der Ausdrucksfähigkeit verliere, wird der Körper zu einer Barriere, die mir den Zugang zum anderen unmöglich macht. Zu körperlicher Gewalt kommt es meist dann, wenn wir uns nicht mehr verstanden fühlen, wenn wir das Gefühl haben, uns – unseren Schmerz – nicht mehr ausdrücken zu können, nicht mehr zu dem anderen durchdringen zu können, wenn uns Anerkennung vorenthalten wird, oder wir zumindest meinen, sie würde uns vorenthalten. Man könnte auch sagen, dass die Kluft zwischen uns nie größer ist als in diesen Momenten. Wir trauen dann nicht mehr unseren Körpern, nicht meinem und nicht deinem. Da uns der Weg zum anderen verschlossen scheint, wird der Körper des anderen zum Ort all der Irrtümer und Täuschungen, die uns verzweifeln lassen. So kann auch die Phantasie entstehen, dass mit dem Verschwinden dieses Körpers der Lügen die Irrtümer und Täuschungen verschwinden würden – »There’ll be no more lies.« Cavell behauptet nicht, dass das Bild vom Körper als Schleier schlichtweg falsch ist, weist aber darauf hin, dass es vor allem ein Bild ist. Er beruft sich dabei auf Wittgenstein, der schreibt: »Das Innere ist uns verborgen […] Ich kann nicht wissen was in ihm vorgeht ist vor 151
Descartes: Meditationen, S. 83.
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allem ein Bild. Es ist der überzeugende Ausdruck einer Überzeugung.« 152 Indem wir den Körper als Schleier beschreiben, drücken wir aus, dass wir von einem Bereich des anderen ausgeschlossen sind. Wir sollten aber bemerken, dass dieses Bild diffus ist, denn wir wissen nicht, was wäre, wenn wir durch den Körper hindurchsehen könnten. 153 »Er ist drinnen, ich bin draußen. Hält mich etwas draußen, schließt mich etwas aus? Er könnte es tun; er kann seinen Gedanken für sich behalten oder von ihnen in einer Privatsprache reden, z. B. in einer, die voller privater Anspielungen ist (in einer, die er im Laufe der Jahre mit seiner Schwester kultiviert hat). Er kann seine Gefühle verbergen. Aber in solchen Fällen kann er sie auch offenlegen, sie für mich öffnen.« 154
Worauf Cavell hinaus will: Wenn der andere seine Gedanken für sich behalten kann, seine Gefühle nicht für mich öffnen kann, dann kann er sich mir auch mitteilen und für mich öffnen. Auf jeden Fall ist es dann nicht sein Körper, der seinen Geist vor mir verbirgt, sondern sein Geist selbst. Natürlich kann es sein, dass manche seiner Gefühle für ihn selbst verschüttet sind und dass er sie vor sich selbst verbirgt. Dann wäre aber die Tatsache, dass er seine Gefühle mir nicht zeigen kann, nicht sein erstes Problem. Genauso könnte mein Geist seinen Geist verdecken, nämlich wenn ich nicht bereit oder zu beschäftigt bin, um seine Gedanken und Gefühle zu erkennen. Wir dürfen nicht mehr glauben, dass wir den Geist des anderen wie einen Raum durchschreiten können sollten. So eine Phantasie ignoriert, dass wir nicht mal zu unserem eigenen Selbst einen solchen Zugang haben. Wenn die Auffassung, dass das Innere des anderen verborgen ist, ein Bild ist, oder der Ausdruck einer Überzeugung, dann können wir auch andere Bilder haben, andere Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Wittgensteins Äußerung »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele« 155 ist der Versuch, ein Gegenbild zu entwickeln. Während das Bild der Verborgenheit die Verwirrung darüber zum Ausdruck bringt, dass da irgendetwas am anderen verborgen ist, irgendwo in ihm ein Ort ist, zu dem ich nicht gelingen 152 Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen Teil II«, in: Wittgenstein, Ludwig: Werksausgabe Band 1. Frankfurt am Main 2006, S. 567 f. 153 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 585. 154 Ebd., S. 584. 155 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen Teil II, S. 496.
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III. Skeptizismus und Popmusik
kann, drückt Wittgensteins gegenläufige Interpretation die Überzeugung aus, dass die Seele da ist, um gesehen zu werden, dass mein Verhältnis zur Seele des anderen so unmittelbar ist wie zu einem sichtbaren Objekt. Damit verschiebt Wittgenstein den Ort, an dem das Sehen der Seele eines anderen verstellt wird: »Nicht der Körper des anderen verstellt meinen Blick auf den anderen, sondern meine Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft, ihn richtig zu interpretieren oder zu beurteilen, die richtige Verbindung herzustellen. Behauptet wird: Ich leide unter einer Art Blindheit, aber ich entziehe mich dem Problem, indem ich die Dunkelheit auf den anderen projiziere.« 156
Der Körper als Schleier, der die Seele verbirgt und der Körper als bestes Bild der Seele – das sind beides Mythen, die nebeneinander existieren. Kein Mythos ist wahrer als der andere, sondern sie drücken beide eine Haltung aus, mit der ich dem Körper des anderen begegne. Um den Umstand, dass wir angesichts desselben fremden Körpers verschiedenen Mythen anhängen können, dass wir ein und denselben Körper ganz anders sehen können, greift Cavell auf Wittgensteins Gebrauch der Hasenente zurück. Die Hasenente ist ein sogenanntes Kipp- oder Vexierbild (Abbildung 4), das wir auf zwei verschiedene Weisen wahrnehmen können. Einmal sehen wir eine Ente und im nächsten Moment einen Hasen. Wittgenstein benutzt die Hasenente in sehr vielen verschiedenen Zusammenhängen. 157 Für uns sind jetzt aber nur folgende Beobachtungen Cavells interessant: Es ist vollkommen deutlich, dass der Wechsel von der einen Gestalt zur anderen in uns selbst liegt. Der Wechsel ist umkehrbar und vor allem ein Willensakt. Dennoch ist in jedem Wechsel etwas, das uns erstaunt oder überrascht. Außerdem können wir verstehen, dass der Wechsel überhaupt nicht geschehen könnte, dass jemand nur einen Aspekt des Bildes sieht, den Hasen oder die Ente. 158 Man kann sagen, dass der Hasenaspekt in dem Moment versteckt ist, in dem wir den Entenaspekt sehen. Der Hase ist aber nicht durch das Bild verdeckt, denn es zeigt ihn ja weiterhin, sondern durch unsere Weise, das Bild zu sehen. Der Hase ist genau wie die Ente immer da, das Bild ändert sich nicht, doch für uns ist es jeweils anders, weil wir unterschiedliche Aspekte sehen. Der Entenaspekt ver156 157 158
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 586. Zur Hasenente: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen Teil II, S. 519 ff. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 564.
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Abbildung 4: Die Hasenente von Lutz Bacher auf dem Dach des Portikus in Frankfurt.
birgt den Hasenaspekt. 159 Verstehen wir das nun als eine Allegorie auf die Frage, ob der Körper die Seele wesentlich verbirgt oder offenbart: »Ein Aspekt verbirgt einen anderen Aspekt, also etwas auf derselben Ebene. Daher können wir sagen: Das, was den Geist verbirgt, ist nicht der Körper, sondern der Geist selbst – seiner den seinigen oder meiner den seinigen und umgekehrt.« 160
Ob der Körper eine Barriere zwischen uns ist oder ein Bild der Seele, hängt davon ab, wie wir ihn sehen, was wir an ihm sehen – und das ist wiederum Ausdruck einer Einstellung, einer Überzeugung, die wir annehmen können oder nicht. In der Phantasie vom Körper als Schleier ist es der Körper, der zwischen uns tritt. Wahr an dieser Phantasie ist, »dass wir getrennt sind, aber nicht notwendig (durch etwas) getrennt werden.« »Wenn etwas uns trennt, zwischen uns tritt, so kann das nur ein besonderer Aspekt des Geistes selbst sein, eine besondere Weise, in der wir uns auf 159 160
Ebd., S. 587. Ebd.
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III. Skeptizismus und Popmusik
andere beziehen oder auf sie bezogen werden (durch Geburt, durch Recht, durch Gewalt, in Liebe) – unsere Positionen, unsere Einstellungen in Bezug aufeinander. Nennen wir das unsere Geschichte. Es ist unsere Gegenwart.« 161
Genau wie der Hasenaspekt durch den Entenaspekt verborgen ist, kann der Geist – oder Aspekte des Geistes – durch unsere Einstellung zu ihm verborgen sein. Der Geist ist dann blind für diesen Aspekt. Cavells Interpretation von Wittgensteins Begriff des Aspekt-Sehens dreht das skeptische Bild unseres Verhältnisses zum anderen bzw. das skeptische Bild des Körpers um: Der Körper ist nicht länger der Schleier, der die Seele versteckt, sondern wird zum Ausdrucksfeld der Seele. Diese veränderte Wahrnehmung definiert den Körper als ein Feld psychologischer Bedeutsamkeit. 162 Der Gedanke, dass der Körper die Seele wesentlich offenbart, sagt nicht, dass damit alles klar ist, denn der Körper muss von uns interpretiert werden. Demnach heißt eine andere Psyche zu kennen, eine Physiognomie zu deuten. Der Körper des anderen muss genau wie seine Worte, von mir gelesen werden, und ich muss ihn demgemäß sehen und behandeln. Eine andere Psyche zu kennen ist also keine Frage des Wissens, sondern eher eine Interpretationsleistung. 163 Dass wir uns den (inneren) Geist des anderen anhand seiner (äußeren) Äußerungen vorstellen müssen, war auch schon die Pointe der Parabel des kochenden Topfes. Die Diskussion über das Aspekte-Sehen, die im Zusammenhang mit der Hasenente geführt wird, zeigt, dass wir blind für einzelne Aspekte des anderen sein können, was einer Art »Analphabetentum« gleich käme, denn wir sind dann entweder unfähig oder nicht bereit, die Aspekte zu »lesen«, obwohl sie offensichtlich vorliegen. 164 Wittgensteins Beschreibung des Aspekte-Sehens kann für die Betrachtung konkreter zwischenmenschlicher Verhältnisse sehr erhellend sein. Gerade die Idee, dass bestimmte Aspekte des Charakters, seines oder meines, andere Aspekte verdecken können, eignet sich als eine Methode der Selbstprüfung in konkreten Angelegenheiten. So ein Bild im Hinterkopf zu haben, kann dabei helfen, innezuhalten, noch einmal hinzuschauen und die Frage zu stellen, was man über161 162 163 164
Ebd. Ebd., S. 568. Ebd. Ebd.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
sehen haben könnte und warum man es übersehen haben könnte. Warum kann ich diesen Aspekt des anderen nicht sehen? Manchmal scheinen wir nur die Ente am anderen sehen zu wollen, manchmal scheint etwas in uns – vielleicht eine vergangene Kränkung – uns immer wieder zur Ente zwingen zu wollen, manchmal scheint auch die Ente viel dominanter zu sein, obwohl der Hase die ganze Zeit da ist. Es kann heilsam sein, sich an den Hasen zu erinnern. Ebenso halte ich auch die anderen von Cavell abgebildeten Gedankengänge für äußerst wirkungsvolle Mittel zur Selbstprüfung und Selbstkorrektur. Den Körper des anderen als Ausdrucksfeld der Seele zu begreifen schafft einen offeneren Blick auf all das, was die anderen mir zeigen. Es lässt mich sehen, dass sie das Bedürfnis haben, von mir erkannt zu werden – oder ich möchte sagen, sie wollen meistens erkannt werden, Anerkennung wollen sie dagegen immer. Ich schlage vor, sich wirklich einmal vorzustellen, wie eine solche veränderte Geisteshaltung das eigene Daseinsgefühl beeinflussen könnte. Angenommen man läuft durch die Straßen und versucht, die Körper, die an einem vorbeiziehen, mit denen man an der Ampel steht, denen man ausweicht, gegen die man rempelt, nicht länger als Hülsen zu begreifen, in denen sich die anderen verstecken. Was wäre, wenn man aufhören würde, seinen eigenen Körper als eine solche Hülse zu verstehen? Niemand wird Körper – weder den eigenen, noch den eines anderen – immer als Barriere empfinden, aber es macht durchaus Sinn zu prüfen wann man es tut, wie oft man es tut, warum man es tut und wann man auch eine andere Haltung einnehmen kann und wohin das führen könnte. Dass ich den Körper des anderen, die Zeichen und Worte, die er von sich gibt, lesen muss, führt mir meine eigene Verantwortung vor Augen, den anderen zu erkennen und Vorstellungen von ihm zu entwickeln. Der Körper ist der Raum meiner Verantwortlichkeit. Ich bin dafür verantwortlich, andere als lebende Personen zu sehen und mich selbst sichtbar zu machen. 165 Zu sagen, dass ich den anderen interpretieren muss, macht mir aber auch deutlich, wie sehr das Bild, das ich von ihm habe, von mir selbst geprägt ist. Dass es ein Ausdruck meiner Einstellung zu ihm ist und dass es an mir ist, diese gegebenenfalls neu auszurichten. Und es macht mir deutlich, dass Fehler, Irrtümer, Meinungsunterschiede, eine ewige »Uneindeutigkeit« oder besser:
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Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s, S. 63.
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III. Skeptizismus und Popmusik
Offenheit und Unabgeschlossenheit natürlicher Teil unserer Prozesse sind, uns gegenseitig zu erkennen.
Kannibalismus als skeptizistische Phantasie Der Kannibalismus ist ein kulturell stark aufgeladenes Bild. Meist wird es, wie schon Montaigne bemerkte, dazu benutzt, um sich von anderen abzugrenzen, die durch die Praxis der Menschenfresserei als absolut fremd dargestellt werden sollen. 166 Entsprechend wurde in der Literatur mit dem Kannibalismus meist ein »ganz anderer« definiert, der grundlegend verschieden ist von »uns«. So diente zum Beispiel in der Kolonialliteratur die Darstellung von anthropophagen Wilden – deren reales Existieren zweifelhaft ist – als Grenzziehung zwischen den Europäern und jenen »anderen« in der neuen Welt, sozusagen als Versicherung der eigenen europäischen Identität. 167 Bei Freud war der Kannibalismus ein Ausdruck von Liebe und Hass zugleich. 168 Essen kann wie Sex als eine Grenzüberschreitung gesehen werden, und zwar als Überschreitung der Grenzen des eigenen Körpers und damit des eigenen Ichs. Etwas wird in den Körper aufgenommen, eingeführt. Somit können die Sexualität und das Essen zu Schauplätzen werden, auf denen sich die Phantasie metaphysischer Verbundenheit entfalten kann – also zu Orten an denen wir eine solche Verbundenheit für möglich halten. Beim Sex müssen solche Phantasien schnell wieder enttäuscht werden, denn die zwei Körper trennen sich nicht nur nach dem Akt, sondern sind selbst im Moment höchster Vereinigung immer noch unendlich getrennt. Die Enttäuschung ob dieser Tatsachen verhindert nicht, dass die die Sexualität betreffenden Phantasien der Vereinigung bald wieder unvermindert aufflammen können. Beim Essen verhält es sich schon ein wenig anders, denn das, was ich esse, wird ein Stück weit wirklich ein Teil von mir. Will ich einen anderen essen, wünsche ich folglich also, dass er ein Teil von mir wird. Eine Phantasie des Einverleibens des anderen drückt damit eine Nichtakzeptanz der Getrenntheit, der Andersheit, der Individua166 Montaigne, Michel: »Über die Kannibalen«, in: Montaigne, Michel: Die Essais. Köln 2005, S. 117–122. 167 Kilgour, Maggie: »The Function of Cannibalism at the Present Time«, in: Barker, Francis/Hulme, Peter/Iversen, Margaret (Hrsg.): Cannibalisms and the Colonial World 4, 1998, S. 240. 168 Freud, Sigmund: Totem und Tabu, Gießen 2012, S. 173.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
lität des anderen aus. Die Androhung, den anderen aufzuessen ist die überdeutliche Verbildlichung des Wunsches, die Getrenntheit oder das Außer-mir-Sein des anderen zunichte zu machen. Die Phantasie des Kannibalismus offenbart ein Scheitern der Anerkennung der eigenen Endlichkeit. 169 Ein Menschenfresser ist jemand, der die Grenzen zwischen den Körpern und den Menschen nicht respektiert. 170 Wir essen der Nahrungsaufnahme wegen. Darüber hinaus dient Essen aber vor allem der Gemeinschaftsbildung. Wir essen zusammen – um zusammen zu sein. 171 Der Skeptiker als Kannibale gibt unsere Möglichkeiten auf, mit unseren Körpern beieinander zu sein, das heißt, er gibt unsere Sprache auf, zugunsten einer pervertierten Version der Verbindung, die keine Grenzen und keine Mehrdeutigkeit kennt. »[A]ls vollkommene Assimilation wie Vernichtung des anderen konkurriert [der Kannibalismus] mit dem Verstehen« durch die Kommunikation. 172 Bemerkenswerterweise geschieht das Aufnehmen des anderen durch das wichtigste Instrument der Sprache: den Mund. Angetrieben von dem Verlangen nach metaphysischer Einheit soll der andere in mir aufgenommen werden, zu einem Teil von mir werden, so dass es zu einem Ende aller Zweifel kommt, für die unsere Sprache immer anfällig sein wird. Es soll eins werden, wo jetzt vieles ist. Der Skeptizismus wurde von Beginn an befeuert von der Phantasie eines Gemeinsam-Seins, das in Wirklichkeit ein Eins-Sein bedeutet. Dass der andere den blutigen Akt des Aufessens nicht überleben wird, ist keine ungewollte oder unvorhergesehene Konsequenz, sondern geradezu Inhalt dieser Phantasie der Totalität. Der ausgelebte Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen ist im Kern ein Narzissmus, der versucht, die unabhängige Existenz des anderen nach und nach zu negieren, oder eben ein Kannibalismus, der in seinem Streben nach Verbundenheit nur ein Nichts übrig lässt. Das Nichts scheint für manche Charaktere – in manchen Verfassungen – die bes169 Hillman, David: »The Worst Case of Knowing the Other? Stanley Cavell and Troilus and Cressida«, in: Philosophy and Literature 31.2, 2007. Hier zitiert nach: http://www.press.jhu.edu/journals/journal_of_the_history_of_philosophy/hillman. pdf (28. 06. 2012), S. 8. 170 Fulda, Daniel: »Unbehagen in der Kultur, Behagen an der Unkultur«, in: Fulda, Daniel/Pape, Walter: Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg 2001, S. 10. 171 Ebd., S. 14. 172 Ebd.
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III. Skeptizismus und Popmusik
sere Wahl zu sein: Kann ich die von mir getrennte Existenz des anderen nicht ertragen, so die Logik, ist es mir lieber, dass er gar nicht mehr existiert. Meine Verantwortung, sein Anspruch und sein Vorwurf an mich erlöschen damit ja ebenfalls. Das »Geheimnis des Andersseins« wird nicht länger ausgehalten, deswegen soll der Unterschied einverleibt werden. 173 So endet der unmäßige Wunsch nach unmäßiger Einheit in der Verneinung des Da-Seins des anderen. Es gibt keine Lügen mehr, weil es gar nichts mehr gibt. Der Kannibalismus gehört genau wie der Inzest zu den Tabuverletzungen, die sowohl den Bereich der sozialen als auch den der biologischen Notwendigkeiten betreffen. Folglich haben diese Tabuverletzungen die Wirkung, dass der Schuldige nicht nur aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen wird, sondern aus dem ganzen Menschengeschlecht überhaupt, so als hätte er nicht nur menschliche Gesetze überschritten, sondern Gesetze, ohne die es gar keine menschliche Gesellschaft geben könnte. 174 Weil er für den schlechthin anderen steht, der seine Menschlichkeit abgelegt hat oder sie nie hatte, er derjenige ist, von dem man sich abgrenzen will, überrascht es wenig, dass der Kannibale so gut wie nie sich oder seine Praktiken selbst beschreibt – er benötigt einen Chronisten, der es für ihn tut. Das sind in der Kolonialliteratur meist Abenteurer und Seefahrer, die dem Schicksal verspeist zu werden gerade eben noch einmal entgangen sind und nun davon berichten können. Wenn dem so ist, warum gibt das »Ich« des Liedes dann seine Menschlichkeit so leichtfertig auf, als wäre es einfach der nächste logische Schritt. Wir erinnern uns: Zwar wird die Musik gegen Ende dramatischer und bedrohlicher, doch ist sie weit davon entfernt, einen echten Schnitt zu legen. Die Phantasie des Kannibalismus präsentiert sich hier weniger als fürchterlicher grenzüberschreitender Skandal, denn als die logische Konsequenz des Vorherigen – als Skandal wird etwas anderes empfunden: unsere Getrenntheit. Das Aufgeben der eigenen Menschlichkeit durch die Phantasie des Kannibalismus geschieht deswegen so leichtfertig, weil die Bereitschaft das Menschliche aufzugeben, bereits viel früher existierte, nämlich dann als die Bedingung des Menschlichen, das Angewiesensein auf Sprache und die damit verbundenen Bürden nicht akzeptiert wurden. Der menschliche Wunsch nach unmensch173 Cavell, Stanley: »On Makavehev on Bergman«, in: Cavell, Stanley/Rothman, William (Hrsg.): Cavell on Film. Albany 2005, S. 33. 174 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 664.
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Das Herz mit Phantasien nähren – »Where I End and You Begin«
licher Einheit ist bereits ein Streben, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten. Der Wahnsinn begann schon mit dem Gedanken, dass ich nur um die Gefühle des anderen weiß, wenn ich um sie mit absoluter Gewissheit weiß. »Ich sehe nicht«, schreibt Cavell, »warum die Vorstellung, sich den anderen buchstäblich einzuverleiben, verrückter ist als der Versuch, das Haben der Empfindungen eines anderen buchstäblich anzulegen.« 175 Wem die hier gezogenen Verbindungen von metaphysischer Einheit, Sexualität und Kannibalismus überzogen vorkommen, der sollte sich daran erinnern, dass die Sprache der Liebe voll von kannibalistischen Motiven ist. Jemand ist »süß« oder »zum Anbeißen«. Seinen Schatz würde man am liebsten »auffressen.« Denkt man dann noch an die verschiedenen von uns gepflegten Formen von Liebkosungen, dann wird deutlich, dass der »abendländische erotische Code« oral ist. 176 In der Liebe existiert immer ein Wunsch nach Verschmelzung, doch so fest ich auch den anderen umarme, ihn mit all meiner Kraft an mich presse oder in mich presse – ich bekomme ihn nicht näher als ganz nahe, er bleibt getrennt von mir. Wir dürfen davon ausgehen, dass es sich beim »Du« von Where I End and You Begin um ein Objekt der Liebe handelt. Die beschriebenen Phantasien sind dann beim Ich des Liedes offensichtlich aus der nicht überwundenen getrennten Autonomie des Liebesobjektes entstanden. Das würde wiederum die Freudsche Vorstellung bestätigen, dass der Kannibalismus ein Ausdruck von Hassliebe ist. Die Liebe stellt an uns die Herausforderung am Ort, an dem sich unser tiefer Wunsch nach unendlicher Nähe und Zusammensein erfüllen soll, Getrenntheit und Andersheit anzuerkennen, um dann zu entdecken, wie wir beieinander sein können.
Ebd., S. 760. Fulda, Daniel: »Das Abmurksen ist gewöhnlich, der Braten ungewöhnlich. Döblins kannibalistische Anthropologie«, in: Keck, Anette/Kording, Inka/Prochaska, Anja (Hrsg.): Verschlungene Grenzen. Tübingen 1999, S. 116. 175 176
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
Es wäre verkehrt, Cavells Arbeiten zu Shakespeare so zu verstehen, als wolle er die Tragödien einfach als Illustrationen eines philosophischen Problems, namentlich des Skeptizismus, benutzen. Damit würde die philosophische Bedeutung, die er diesen Stücken zuspricht, bei weitem unterschätzt. Tatsächlich ist sein Ziel, sie als eigenständige Interpretationen des Skeptizismus zu etablieren. In einer Art Versuchsanordnung möchte er die Tragödien neben die philosophischen Texte stellen, ohne festzulegen, was von beiden Priorität über das andere hat. Literatur und Philosophie sind damit für ihn nicht gleich, aber gleichwertig 1 – Descartes und Shakespeare auf einer Stufe, was die Aussagekraft ihrer Verhandlungen des Skeptizismus angeht. 2 Cavells Leitgedanke, von dem seine Hinwendung zu Shakespeare getragen ist, lautet wie folgt: Der Skeptizismus, so wie ihn Descartes formuliert und wie er die Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte geprägt hat, ist schon in den Tragödien Shakespeares, die eine Generation älter als Descartes Meditationen sind, vollständig präsent. 3 Cavell hat insgesamt über sieben Stücke Shakespeares geschrieben. Ich werde hier seine Lektüren von König Lear, Othello und Ein Wintermärchen vorstellen und eingehend kommentieren. Ich decke damit seine meist besprochenen und auch wichtigsten, weil aussagekräftigsten Arbeiten zu Shakespeare ab. Seinen Interpretationen von Coriolanus, Hamlet, Macbeth und Antonius und Kleopatra kann keine so ausführliche Beachtung geschenkt werden, was aber nicht heißen soll, dass Teile aus ihnen nicht an der einen oder anderen Stelle doch auftauchen werden. Ohne Frage, schreibt Cavell, wären Descartes und Hume überrascht angesichts dessen, was Shakespeare über den Skeptizismus und 1 2 3
Hammer: Stanley Cavell, S. 165. Cavell: Disowning Knowledge, S. 1. Ebd., S. 3.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
die Bedingungen des Wissens offenbart. 4 Der genuine Beitrag, den Cavell in Shakespeare erkennt, liegt darin, dass der im Skeptizismus immer mächtiger werdende Zweifel in Wirklichkeit eine Leugnung ist. Das Wissen, dessen sich der Skeptiker angeblich nicht mehr sicher sein kann, ist in Wahrheit ein Wissen, das er leugnen will, weil er das, was dieses Wissen von ihm erfordern würde, nicht bereit ist zu tragen. In jedem der drei im Folgenden behandelten Stücke ist es das Wissen um die Liebe eines anderen, das vermieden werden soll. Die Verantwortung und die Schmerzen, die dieses Wissen, diese Liebe, bedeuten würde, müssen Lear, Othello und Leontes zu groß erscheinen, als dass sie es auf sich nehmen könnten. Aber nicht einmal das können sie sich eingestehen. Deswegen schieben sie, sozusagen als Täuschung, ihren Zweifel vor. Doch, und auch das zeigen die Shakespeare-Tragödien eindrücklich, das Leiden, das sie zu vermeiden versuchen, ist nichts gegen das Leiden, das die Leugnung des Wissens hervorruft. Das können wir sehen in der Ruppigkeit, mit der in König Lear fast jeder dahingeschlachtet wird, können es sehen in den zwei Toten, die am Ende von Othello in ihrem Ehebett liegen. Auch die Beiläufigkeit, mit der im Wintermärchen ein Kind stirbt, steht für diesen Umstand. Der Schutzraum, den die Philosophie sich leistet oder meint, sich leisten zu können, existiert bei Shakespeare nicht mehr. Hier müssen wir den lebensweltlichen Konsequenzen des Skeptizismus begegnen – und die bestehen in der Produktion von Leichen. So führt uns Shakespeare vor, dass Skeptizismus im gewöhnlichen Leben Tragödie heißt. Mit diesem Denkexperiment nimmt Cavell tatsächlich den größten Teil der Erkenntnistheorie unter Beschuss. Folgt man seinem Ansatz, dann kann nicht länger wissenschaftliche Redlichkeit und Vernunftstreue, die die Erkenntnistheoretiker stets für sich beanspruchen, als Motiv für den Zweifel an der Existenz der Welt gelten, sondern der Wunsch, die Welt und alle darin zu verneinen. Wenn Hume von der Krankheit und Descartes vom Wahnsinn des Skeptizismus spricht, dann ist bei ihnen noch zu spüren, dass es hier wirklich um etwas geht. Später hat die Erkenntnistheorie im Sinne der Wissenschaftlichkeit mehr und mehr versucht, uns vergessen zu lassen, dass der Zweifel und das Bestehen auf absolute Gewissheiten nicht nur eine wissenschaftliche Arbeitsmaxime, sondern vor allem eine Haltung ist, die ich gegenüber den Dingen dieser Welt, anderen 4
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 152.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
und nicht zuletzt mir selbst einnehme. Findet man Cavells Darlegungen überzeugend, dann muss man die Erkenntnistheorie selbst als eine einzige großartige Leugnung eben dieser Tatsachen darstellen. Die Beschäftigung mit Shakespeare ist bei Cavell eine einzige Aufforderung, all dem zu begegnen, wofür die Erkenntnistheorie nur ein Deckmantel ist. 5 Shakespeare, das ist bekannt, war mit dem Werk Montaignes vertraut, was sich auch in vielen Passagen seiner Stücke deutlich niederschlägt, wie etwa in Gonsalos Rede in Der Sturm, die fast eine Abschrift von Montaignes Essay Über die Kannibalen ist. 6 Doch es ist, insistiert Cavell, der Skeptizismus Descartes’ und nicht der Montaignes, den er in den Tragödien Shakespeares wiederfindet, denn die hier aufgeworfene Frage sei nicht länger, »wie man am besten in einer unsicheren Welt zurecht kommt«, sondern »wie man überhaupt leben soll in einer ganz und gar grundlosen Welt.« 7 Descartes ist für Cavell auch deswegen interessanter, weil er, im Gegensatz zu Montaigne, versucht hat, eine Position gegen den Skeptizismus einzunehmen. 8 Er wollte einen Grund für diese Welt finden, und zwar in der Existenz Gottes. Da aber bei Descartes unsere Fähigkeit, Urteile zu bilden und so etwas über die Welt zu wissen, einzig von der Existenz Gottes abhängt, muss unser Leben zutiefst erschüttert werden, wenn diese Existenz fragwürdig wird. 9 Nun sind wir, wie wir alle wissen, erschüttert worden, heute noch erschüttert vom Anbruch der Moderne, der in die Lebzeiten Shakespeares und Descartes’ fiel und der den Beginn unserer Zeit markiert. Nicht nur Gott wurde fragwürdig, sondern mit ihm nach und nach beinahe alle Strukturen, die zuvor jedes einzelne Leben organisiert hatten. Herrschaftsformen wie das Gottesgnadentum zerfielen, während sich am fernen Horizont bereits die Forderung nach der Legitimation von Herrschaft durch das Volk abzeichnete. Gleichzeitig ließen die neuen Wissenschaften alte, vormals in Stein gemeißelte Dogmen zunehmend unglaubwürdiger erscheinen. Cavell legt dar, dass wir diese Ereignisse neben allem anderen auch eine Kata5 Cascardi, Anthony J.: »Cavell on Shakespeare«, in: Elridge, Richard (Hrsg.): Stanley Cavell. Cambridge 2003, S. 192. 6 Robertson, John Mackinon: Montaigne and Shakespeare and other Essays on Cognate Questions. Genf 1971, S. 38 ff. 7 Cavell: Disowning Knowledge, S. 3. Übersetzung von mir. 8 Cascardi: Cavell on Shakespeare, S. 191. 9 Cavell: Disowning Knowledge, S. 3.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
strophe nennen müssen, denn sie bedeuteten den Anbruch des Skeptizismus. 10 Cavell erweitert hier seine Definition des Skeptizismus von einem individuellen Problem zu einem geschichtlichen und soziologischen Ereignis. Auch wenn er sich mit solch historischen Deutungen zwangsläufig auf gefährliches Terrain begibt, hat seine Argumentation in ihrer Banalität doch etwas Zwingendes: Erst wenn alle Legitimationen und Sicherheiten in Frage gestellt wurden, wird es nötig, Gründe für die Dinge dieser Welt und die Welt als Ganze zu finden. Der Skeptizismus, so wie wir ihn heute kennen, wird damit als eine Reaktion auf die in der Neuzeit größer werdenden Unsicherheiten und Freiheiten verstanden. Wenn wir, wie Cavell behauptet, im Zeitalter des Skeptizismus leben, dann weil diese Unsicherheiten heute natürlich nicht kleiner geworden sind. Auch wenn wir uns darüber uneinig sind, ob wir jetzt in der Hyper-, der Post- oder der Postpostmoderne leben, scheint eines klar zu sein: Der von der Moderne angestoßene Prozess ist noch am Laufen und die allermeisten von uns können sich auch nicht ernsthaft vorstellen oder wünschen, dass er zu einem Ende kommt. Sind Moderne und Skeptizismus derart verwoben, dann muss der Skeptizismus das Los des – mit welchem Präfix auch immer ausgestatteten – modernen Menschen sein, der nicht mehr zu den geschlossenen Weltbildern früherer Zeiten zurück kann. Der Skeptizismus ist die ständige Demütigung aller unserer modernen Wissensund auch Machtansprüche, weil wir weder mit Vernunft noch mit Wissenschaft die von ihm aufgezeigten Grenzen überwinden können. Gleichwohl kann diese historische oder soziologische Perspektive, die Cavell hier zum ersten Mal einnimmt, nicht dazu führen, dass wir nach gesellschaftlichen Lösungen für den Skeptizismus suchen. Diese könnten tatsächlich nur in der Reetablierung geschlossener Weltbilder, also in einer Abkehr von der Moderne liegen. Vielmehr müssen wir den Skeptizismus weiterhin als das Problem einer Person mit ihrer eigenen Geschichte begreifen, die für sich selbst und mit ihrem unmittelbaren Umfeld nach Umgehensweisen mit dem Skeptizismus suchen sollte. Die soziologische Perspektive kann aber durchaus dazu dienen, dass wir den größeren Kontext, in dem jemand lebt und denkt, wahrnehmen. Auf diese Weise kann jedem einzelnen von uns die Gleichheit seiner Situation mit der jedes anderen bewusster werden. Diese 10
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
breitere Wahrnehmung kann aber auch zu einer Kritik populärer Ideale und gesellschaftlicher Konventionen verwendet werden. Das heißt, dass wir zum Beispiel prüfen, inwiefern ein verinnerlichtes Ideal, stets Gewissheit anzustreben, nicht eine Haltung der grausamen Skepsis gegenüber anderen begünstigt. Vor allem aber sollte uns diese gesellschaftliche Perspektive auf den Skeptizismus erkennen lassen, dass in einer Welt, in der die Bedeutungen der Dinge nicht mehr unumstößlich sind, nicht mehr von außen kommen, in der wir den Dingen aus uns selbst heraus Bedeutung geben müssen und dabei auch akzeptieren müssen, dass andere im Prozess des Zusprechens von Bedeutung anders verfahren als wir, wir also der Gefahr, dass uns einige oder gar alle Bedeutungen verloren gehen, unweigerlich immer ausgesetzt sind. In diesem Sinne schreibt die Soziologin Eva Illouz (* 1961), dass die Moderne deswegen so eine ernüchternde Angelegenheit ist, weil »sie in ihrer westlichen kulturellen Ausprägung noch nie dagewesene Formen emotionalen Elends« herbeigeführt und »ontologische Verunsicherung zu einem dauerhaften Merkmal des modernen Lebens gemacht« habe. Sie habe damit »zunehmend auf die Organisation von Identität und Begehren übergegriffen.« 11 Es ist folglich kein Wunder, dass wir in den Tragödien Shakespeares, die am Beginn der geistesgeschichtlichen Moderne stehen, eine tiefe Erschütterung von Identität und Begehren beobachten können. Descartes hatte noch Gott, um seine Identität zu begründen – und um sich von allen Zweifeln zu befreien. Heute steht den meisten von uns dieser Weg nicht mehr offen. Den Figuren Shakespeares ergeht es ebenso. Sie sind damit »moderner« als Descartes und uns näher. Dennoch versuchen sie, genau wie Descartes, eine Haltung gegen den Skeptizismus einzunehmen. Da Gott jedoch für sie ausfällt, muss etwas anderes oder besser gesagt jemand anderer zum Beweis ihrer Existenz herangezogen werden. Descartes wollte die Existenz Gottes beweisen, um sich zu vergewissern, dass er nicht allein im Universum ist, nun muss ein anderer Mensch für diese Vergewisserung herhalten. Der andere trägt, schreibt Cavell, nun das Gewicht Gottes. 12 »[D]as philosophische Problem des anderen«, möchte Cavell demgemäß »als die Spur oder die Narbe begreifen, die Gottes Abgang hinterlassen hat.« 13 11 12 13
Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut. Berlin 2011, S. 30. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 763. Ebd., S. 745.
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In jeder der drei Tragödien versuchen die Protagonisten Gott durch ein Objekt der Liebe zu ersetzen, bei Lear ist es die innig geliebte jüngste Tochter, im Wintermärchen und bei Othello die Ehefrau. Das scheint ihnen ein adäquater Ersatz zu sein. Dieses Ersetzen Gottes durch einen anderen passt zu der in einem anderen Zusammenhang gemachten Beobachtung Gabriel Motzkins, dass in der Moderne die religiöse Liebe dadurch säkularisiert wurde, dass man die profane Liebe zu einem sakralen Gefühl verwandelte. 14 Die Liebe zu einem anderen soll also nun vollbringen, was Cavell zufolge die religiöse Liebe nicht mehr leisten kann. Diese Leistung besteht in der Selbst-Rechtfertigung oder der Bestätigung der eigenen Existenz. Othello ist derjenige unter den Shakespeare-Helden, bei dem am deutlichsten hervortritt, dass er eine lebende Frau an die Stelle Gottes stellt und ihre Existenz als die Bestätigung der seinen begreift. 15 Die Tragödie nimmt ihren Lauf als Desdemona sozusagen das Schicksal Gottes widerfährt. 16 Sie beginnt nämlich in dem Moment, in dem Othello entdeckt, dass er die Existenz seiner Frau und die Art ihrer Existenz in Zweifel ziehen kann. Sein Welt stürzt in ein Chaos, in dem zwar nicht die Existenz der Außenwelt in Frage gestellt wird, das aber dennoch viel umfassender ist als das Chaos Humes’ oder Descartes’, denn es löst sich auch dann nicht auf, wenn man das Studierzimmer verlässt und sich unter Leute mischt. Othello greift sich unter allen Menschen auf der Welt diese eine, Desdemona, heraus, die dann exemplarisch für das Menschsein an sich stehen soll. Er macht sie damit zu seinem Idealfall des Wissens: »Weiß ich nichts über sie«, sagt er sich, »dann weiß ich gar nichts.« Aus dieser für das skeptische Problem bezüglich fremder Psychen paradigmatischen Konstellation, wie wir sie bei Othello vorfinden, leitet Cavell die Hypothese ab, dass alle Idealfälle des Wissens bezüglich fremder Psychen eigentlich Fälle von Liebe sind. 17 Warum sonst sollten wir gerade diesen einen heraussuchen? Das bedeutet, dass hinter der skeptischen Problematik eine tödliche Leidenschaft steht, ein Wunsch nach übermäßiger Intimität, nach Komplettheit und Ex-
Motzkin, Gabriel: »Secularization, Knowledge, and Authority«, in: Motzkin, Gabriel/Fischer, Yochi (Hrsg.): Religion and Democracy in Contemporary Europe, Jerusalem 2008, S. 35–54. 15 Cavell: Disowning Knowledge, S. 35. 16 Ebd., S. 744. 17 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 756. 14
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
klusivität. 18 Eine Lösung könnte demnach darin bestehen, unsere Idealfälle des Wissens als Idealfälle der Anerkennung zu begreifen. Der endliche andere repräsentiert dann für mich Andersheit als solche. An ihm zeigt sich, inwieweit ich bereit und fähig bin, meinen ursprünglichen Narzissmus zu überwinden und anderen Anerkennung zu gewähren. 19 Es ist diese Aufgabe, an der Othello scheitert. Es gibt noch einen weiteren Grund für die Zuwendung Cavells zu Shakespeare. Wie Anthony J. Cascardi bemerkt, musste sich Cavell unweigerlich von Shakespeare angezogen gefühlt haben, weil dieser wie kaum ein anderer unserer Bindung an unsere Worte nachgegangen ist. 20 Er hat herausgestellt, wie jedes Wort, das wir äußern, einen Einsatz für uns bedeutet und dass wir uns über die Höhe dieses Einsatzes nicht hinwegtäuschen dürfen, denn wir selbst sind dieser Einsatz, wie wir Verpflichtungen gegenüber unserer Sprache haben, dem Fortbestand unserer Kommunikation, und wie wir mit unserer Sprache fortwährend Verpflichtungen eingehen, wie wir durch das, was wir sagen, Festlegungen erfahren, uns selbst festlegen, oftmals auf eine Weise, die wir nicht so intendiert oder vielleicht nicht einmal geahnt haben. 21 »Die Kraft von Shakespeares Werk beruht auf seiner Fähigkeit, sich Charaktere vorzustellen, die das Schicksal ihrer Worte ohne Kompromiss und ohne Entkommen schonungslos ausleben, oder katastrophal darunter leiden, dass sie es tun.« 22
Vor allem in König Lear können wir erleben, wie die gemeinsame Kommunikationsbasis der Hauptpersonen auseinanderbricht. Den Familienmitgliedern gelingt es nicht, sich gegenseitig verstehbar zu machen. Eine einmal getätigte Äußerung verfolgt sie bis zum Schluss. In Othello kann Desdemona nichts mehr zu ihrem Mann sagen, das ihn beruhigen könnte, denn er akzeptiert sie nicht mehr als eine echte Gesprächspartnerin, deren Worte eine Bedeutung haben. Und Leontes im Wintermärchen befiehlt seiner Frau sogar ganz Cavell: Disowning Knowledge, S. 6. Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 146 f. 20 Cascardi: Cavell on Shakespeare, S. 190. 21 »Our commitments in what we say« ist die englische Formulierung die Cavell und Cascardi in diesem Zusammenhang benutzen. Das in seiner Vieldeutigkeit nicht übersetzbare »commitment« beinhaltet alle in diesem Absatz erwähnten Aspekte: Bindung, Einsatz, Engagement, Verpflichtung und Festlegung. 22 Cascardi: Cavell on Shakespeare, S. 190. 18 19
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Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear«
zu schweigen. In jedem dieser Fälle ist es also der Abbruch eines Gespräches, der die Tragödie auslöst. Thematisch schließt das an Cavells Konzeption der Wittgensteinschen Übereinstimmung, die jederzeit der Gefahr des Zusammenbruchs ausgesetzt ist. Zu Recht hat vor allem Elisabeth Bronfen (* 1958) die gesamte Cavellsche Philosophie als eine Erforschung der Bedingungen gelesen, unter denen ein Gespräch zwischen zwei Menschen endet, wieder aufgenommen und fortgesetzt werden kann. Cavell geht durch diese Stücke wie einst Sokrates durch Athen und stellt unnachgiebig seine Fragen: »Wie meinen die Charaktere das, was sie sagen? Wie können sie nicht meinen, was sie sagen? Was können wir aus der Bedeutsamkeit ihrer Worte schließen?« 23
IV.1 Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear« Bekanntermaßen hielt Lew Tolstoi (1828–1910) von Shakespeare nicht besonders viel, den König Lear scheint er aber geradezu gehasst zu haben. Seine Ablehnung ist exemplarisch für das Unbehagen, mit dem auf diese Tragödie oftmals reagiert wird und das wohl auch verantwortlich dafür ist, dass König Lear lange nicht so bekannt und beliebt ist wie etwa Macbeth, Othello, oder Romeo und Julia. Tolstois Kritik an Lear wird zum großen Teil von seinem Eindruck gespeist, dass die Charaktere des Stückes, allen voran Lear und Cordelia, in keiner Weise nachvollziehbar handeln, dass ihre Beweggründe nicht nur nicht erkennbar, sondern dass sie als Personen voll und ganz unglaubwürdig sind. 24 Kann Lear verstanden werden? Was sind die Gründe dafür, dass Lear nicht verstanden wird? Das sind auch die Fragen, um die Cavells Lektüre von König Lear kreist. Um ein wenig vorzugreifen: Cavell sieht das Nicht-verstehen-Können von Lear parallel zu dem Nichtwissen-Können des Skeptikers. Der Skeptiker sagt, er könne um die Existenz der Welt und anderer nicht wissen, und versucht dabei seine Verantwortung zu umgehen, die Welt und andere anzuerkennen. Der Kritiker wiederum, der behauptet, Lear sei nicht zu verstehen – entweder weil Shakespeare es so angelegt oder, wie Tolstoi meint, es einEbd., S. 193. Tolstoi, Lew Nikolajewitsch: Tolstoy on Shakespeare. New York und London 1906. http://www.gutenberg.org/files/27726/27726-h/27726-h.htm.
23 24
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
fach schlecht geschrieben habe, vermeidet seine Aufgabe, Lear als eine wirkliche Person mit echten Nöten und Motiven anzuerkennen. Das Nicht-Wissen und das Nicht-Verstehen ist für Cavell also Folge eines Nicht-Sehen-Wollens, womit wir schon bei einem der dominantesten Themen des Stückes wären. Um der enormen Komplexität sowohl des Stückes als auch der Lektüre Cavells etwas Herr zu werden, konzentriere ich mich auf die entscheidende Anfangsszene. Allem anderen werde ich nur dann Beachtung schenken, wenn ich es als direkte Konsequenz dieser Szene darstellen möchte oder es für ihr Verständnis relevant erscheint. Ich folge Cavell, indem ich mich zuerst mit seinen auf die Handlung bezogenen Überlegungen auseinandersetze, um mich dann in einem zweiten Schritt seiner Darstellung unserer Verantwortung als Zuschauer und Rezipienten zuzuwenden.
Skeptizismus als die Vermeidung von Liebe Der alt gewordene Lear möchte die ihm verbliebenen Tage in Ruhe und ohne die Last seines Amtes verbringen und entschließt sich deswegen, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Zu diesem Zwecke inszeniert er eine öffentliche Zeremonie, in der seine Töchter ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck bringen sollen, um dann ihren Teil des Landes zu erhalten. Die höchsten Erwartungen hat er an die jüngste, Cordelia, die ihm die liebste ist und für die er das größte Drittel seines Reiches aufgehoben hat. Doch nachdem die älteren Schwestern, die ihren Vater im weiteren Verlauf des Stückes verstoßen werden, ihre Hymnen auf ihn gesungen haben und Cordelia schließlich an der Reihe ist, schweigt sie. Außer einem »Nichts« kommt nichts über ihre Lippen. Erst als Lear sie mehrmals auffordert zu sprechen, sagt sie: CORDELIA: »Ich Unglücksel’ge, ich kann nicht mein Herz Auf meine Lippen heben: ich lieb Eu’r Hoheit, Wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder« 25
Nach einer weiteren Aufforderung zu sprechen lässt sie sich zu folgenden Worten hinreißen:
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Shakespeare, William: König Lear. Stuttgart 1966, S. 7 (I.1).
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Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear«
CORDELIA: »Mein teurer Herr, Ihr zeugtet, pflegtet, liebtet mich; und ich Erwidr’ Euch diese Wohltat, wie ich muß, Gehorch Euch, lieb Euch und verehr Euch hoch. Wozu den Schwestern Männer, wenn sie sagen, Sie lieben Euch nur? Würd ich je vermählt, So folgt dem Mann, der meinen Schwur empfing, Halb meine Treu, halb meine Lieb und Pflicht. Gewiß, nie werd ich frein wie meine Schwestern, Den Vater nur allein zu lieben.« 26
Und dann erleben wir, wie der Zweifel über die Liebe seiner am meisten verehrten Tochter Lear in den Wahnsinn zu stürzen scheint und die dramatischen Ereignisse in Gang bringt, an deren Ende Lear mitsamt seinen Töchtern und einer großen Menge des restlichen Personals tot ist und das ganze Land am Boden liegt. The Avoidance of Love – »Die Vermeidung von Liebe« lautet der Titel von Cavells Schrift zu Lear und schon aus ihm lässt sich lesen, dass Cavell nicht den Zweifel an der Liebe Cordelias als Ursprung der tragischen Vorgänge verstehen will, sondern Lears Vermeidung der Liebe Cordelias. Für Cavell ist ganz klar, dass Lear weiß, dass Cordelia ihn liebt und dass es dieses Wissen ist, das er nicht anerkennen kann und das ihn verrückt macht. Sein Zweifel ist dann nur ein Versuch zu verdecken, was er eigentlich weiß. Was geschieht in dieser Abdankungszeremonie? Die beiden älteren Schwestern Goneril und Regan geben ihre, wie wir wissen und wie auch Lear weiß, nur geheuchelten Liebeserklärungen ab. Sie sagen ihm, dass sie in nichts anderem Glück finden können als in ihrer Liebe zu ihm, dass sie niemals jemand anderen lieben könnten als ihn. Lear zeigt sich mit diesen Heucheleien zufrieden, erst Cordelias »Nichts« verstört ihn. Cavell folgert daraus, dass die falsche Liebe, die ihm die älteren geben, das ist, was Lear eigentlich will und nicht die echte Liebe, die er bei Cordelia finden kann. 27 Zwei Fragen drängen sich unvermeidlich auf: Wenn Cordelia ihren Vater liebt, warum sagt sie ihm das in diesen kühlen Worten – »ich lieb Eu’r Hoheit, Wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder« –, die zwangsläufig gegen die wohlformulierten Reden ihrer Schwestern abfallen müssen. Sie könnte doch in das hohe Lied ihrer 26 27
Shakespeare: König Lear, S. 8 (I.1). Cavell: Must we mean what we say?, S. 288.
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Schwestern einfallen und sagen, wie es um sie steht. Stattdessen spricht sie von ihrer »Pflicht« ihn zu lieben und dass ihr Vater ihre Liebe einst mit einem anderen Mann teilen werden muss. Aber wenn das, was wir von ihr zu hören bekommen, so wie Cavell behauptet, ein Ausdruck ihrer echten, tiefen Liebe ist und Lear das auch weiß, warum sollte er dann damit unzufrieden sein. Warum sollte jemand falsche Liebe echter vorziehen? Versuchen wir zuerst die zweite Frage zu beantworten. Oberflächlich betrachtet ist der Auslöser seiner Pein, dass Lear Cordelias Liebe zu ihm nicht erkennen kann. Das würde aber noch nicht erklären, warum Lear so erschüttert ist und mit so viel Wahnsinn reagiert. Was das Ganze noch weniger nachvollziehbar macht: Lear muss wissen, dass Cordelia ihn liebt. Er hat es selbst gesagt und schon vorher das größte Drittel seines Landes für sie bereitgehalten. Die Jahre, die sie zusammen verbracht haben, werden doch nicht hinfällig durch ein paar Worte, die geäußert oder nicht geäußert wurden. Cavell geht davon aus, dass die Liebe, die Lear in diesem Moment scheinbar nicht erkennen kann, in Wahrheit eine Liebe ist, die er nicht bereit ist zu erkennen, also eine Liebe, die er nicht bereit ist anzuerkennen, anzunehmen, auf sich zu nehmen. Es ist ein Allgemeinplatz, aber deswegen nicht weniger wahr, dass Liebe zwischen zwei Menschen nur in der Reziprozität stattfinden kann. Das unterscheidet eine andauernde, wechselseitige Liebe von einer einseitigen, hingebungsvollen Leidenschaft, die ein Mensch ohne Erwiderung für einen anderen empfinden kann und die wir manchmal auch Liebe nennen. Anerkennung von gegenseitiger Liebe bedeutet, den anderen in seiner Liebe zu erkennen und sich von ihm in der eigenen Liebe erkennen zu lassen. Und dieses Erkannt-Werden kann sich sehr schmerzhaft gestalten, denn es bedeutet, dass wir auch in all unseren Schwächen erkannt werden. Cavells Interpretation nach, ist Erkannt-Werden das, was Lear zu vermeiden versucht. Lear möchte nicht, so wie er ist, gesehen werden, als ein Mensch. Sein Nicht-erkennen-Können von Cordelia ist demnach ein Versuch, nicht erkannt zu werden. Er vermeidet ihre Liebe aus Angst vor Selbstoffenbarung. 28 Bei Cavell heißt es: »[…] wenn das Versagen, andere zu erkennen, ein Versagen ist, sich von anderen erkennen zu lassen, eine Angst davor, was ihnen enthüllt wird, eine
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Ebd., S. 286.
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Vermeidung ihrer Augen, dann ist Scham der Grund für seine Zurückhaltung seines Erkennens. Scham entsteht durch das Gefühl, angesehen zu werden. Die Vermeidung des Blickes der anderen ist ein Reflex, der aus ihr entsteht.« 29
So haben wir schon eine Antwort darauf, warum das Thema des Sehens, des Gesehen-Werdens, der Augen und der Blindheit in König Lear so häufig wiederkehrt. Die Scham gesehen zu werden, die Scham über das, was enthüllt werden könnte, die Scham, dass andere entdecken könnten, dass man versucht seine Scham zu verdecken, wird bei Cavell zu Lears bestimmendem Antrieb. Scham ist überall, in jeder seiner Handlungen. Sie ist der Ursprung seiner Wut und seines Wahns. 30 Im späteren Verlauf des Stückes gibt es eine Szene, die im wahrsten Sinne des Wortes augenscheinlich vorführt, dass Lear fürchtet, von anderen gesehen zu werden. Nachdem Lear wahnsinnig geworden ist, erkennt er selbst ihm vertraute Gesichter nicht mehr. Seine Vernunft scheint erst dann langsam zurückzukehren, als er Gloster begegnet, den er auf Anhieb erkennen kann. Wenn »jemanden erkennen« von der Bereitschaft abgehängt, sich von ihm erkennen zu lassen, und Lear bisher andere nicht erkennen konnte, es jetzt aber bei Gloster kann, dann dürfen wir nicht ignorieren, dass Gloster blind ist. Ihm wurden zuvor, in der vielleicht schrecklichsten Szene des Stückes, von Cornwall die Augen ausgestochen und erst vor diesen leeren Augenhöhlen kann Lear sich zu erkennen geben und folglich auch erkennen. 31 Aber die Blindheit Glosters ist nicht der einzige Grund dafür. Es kommt auch darauf an, wer Gloster ist. Während Lear Cordelias Liebe nicht anerkannt hat, so hat Gloster seinen »Bastard« Edmund nicht anerkannt. Er hat ihn sehr wohl als Bastard anerkannt, aber nicht als seinen Sohn, als liebenswerten und liebesbedürftigen Menschen. Er macht sich lustig über ihn, schämt sich für ihn. 32 Gleich zu Anfang des Stückes spricht er von der Schamesröte, die ihm wegen Edmund häufig ins Gesicht gestiegen ist. 33 Lear tritt mit Gloster also seinem eigenen Spiegelbild gegenüber. Erst ihm, der ebenso wie er selbst die Liebe seines Kindes vermeidet, kann er 29 30 31 32 33
Ebd., S. 277 f. Übersetzung von D. G. Ebd., S. 287. Ebd., S. 278 f. Ebd., S. 276. Shakespeare: König Lear, S. 5 (I.1).
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sich zu erkennen geben. 34 Man darf bezweifeln, dass sich Lear hier einem wirklich anderem zu erkennen gibt, denn er identifiziert sich so sehr mit Gloster, dass er ihn eher als ein zweites Ich begreift. Die von Lear arrangierte Szene vor dem versammelten Hofstaat, mit der alles beginnt, soll ihn letztlich verdecken. Gerade die öffentliche Inszenierung, die ja scheinbar alles vor allen offenlegt, soll ihn – und wie es um ihn steht – vor den Blicken der anderen verhüllen. Sein Plan war es, einen Tauschhandel durchzuführen. Er überlässt den Töchtern sein Reich, sie bekunden dafür vor dem ganzen Volk ihre Liebe, denn Lear möchte für das ganze Land wie ein geliebter Mann aussehen. Diesen Plan zerstört Cordelia. Sie erfasst, was er möchte: die einseitige Beteuerung von Liebe. Sie dagegen will ihm das Echte geben, doch dafür müsste er bereit sein, den Anspruch, den ihre Liebe an ihn stellt, zu erfüllen. Doch das kann er nicht. Ein Königreich will er geben, aber ein Königreich ist nicht genug, denn was die Liebe von ihm verlangt ist, dass er es zulässt, gesehen zu werden, als ganze Person. Das bedeutet auch, dass seine Angst geliebt zu werden gesehen wird, dass gesehen wird, dass er Liebe braucht, dass er, der Herrscher von allem, beherrscht ist von der Liebe zu seiner Tochter. 35 Vielleicht, schlägt Cavell vor, ist es vor allem die Vorstellung, grundlos geliebt zu werden, die Lear quält. Vielleicht kann er sich nicht vorstellen, weiterhin liebenswert zu sein, nachdem er seine ganze Macht abgegeben hat. 36 Man darf auch darüber spekulieren, ob für ihn seine Machtabgabe nicht auch von seiner Sterblichkeit kündet. Vielleicht verwechselt Lear auch ganz grundsätzlich die in der Liebe implizierte Passivität mit Machtlosigkeit. Gegen solche Gedanken sollte ihn wohl sein Tauschhandel schützen, denn dann hat er ja etwas für die Liebe gegeben, also selbst einen Grund für Liebe geschaffen. 37 Lears Scham wird dann aber noch potenziert, als Cordelia seinen Plan und seine Motivation aufdeckt. Ab jetzt würde eine Anerkennung ihrer Liebe bedeuten, dass er seine Scham anerkennt, seine Vermeidung Cordelias anerkennt, seine Grausamkeit gegenüber seiner eigenen Tochter anerkennt. Und umso weitere Kreise sein vorgeschobener Zweifel, sein Wahn zieht, desto schwieriger würde eine Anerkennung, weil der Kreis der Personen, vor denen er seine Ver34 35 36 37
Cavell: Must we mean what we say?, S. 280. Ebd., S. 289 f. Ebd., S. 289. Ebd.
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fehlungen gegenüber seiner Tochter eingestehen müsste, immer größer wird. Angst vor der Liebe, Angst selbst dann, wenn Liebe sich offensichtlich anbietet, mag dem einen so fremd sein, wie sie dem anderen vertraut ist. Der über achtzigjährige Schauspieler Jean-Louis Trintignant (* 1930), ein Idol des europäischen Kinos, sagte kürzlich in einem Interview: »Ja, ja ja! Natürlich! Wer vor der Liebe keine Angst hat, muss ein Dummkopf sein. Die Liebe kann man nicht beherrschen.« 38 Zufälligerweise spricht Trintignant in demselben Interview auch von der Liebe zu seiner verstorbenen Tochter und davon, wie er auf jeden ihrer Männer eifersüchtig war. Das passt auch zu Lear, denn Cavell vermutet, dass dessen Scham auch von einem Gefühl gefördert wird, seine Liebe zu Cordelia könnte zu weit gehen. Selbst wenn es keine partnerschaftliche Liebe ist, so ist es doch eine Liebe, die keinen anderen zu dulden scheint. Es muss Lear also provozieren, dass Cordelia auch von dem Ehemann spricht, für den sie ihre Liebe einmal teilen wird. 39 In dem folgenden, Othello gewidmeten Kapitel werde ich noch deutlicher herausarbeiten, welche Mechanismen am Werk sein könnten, dass bestimmte Charaktere, zum Beispiel Männer der Macht, wie es Lear und Othello ganz sicher sind, Liebe als Bedrohung und ihr Bedürfnis nach Liebe als schamhaft empfinden. Dass Lears Scham in dieser Situation schwer nachzuvollziehen sein könnte, oder für manche weniger nachvollziehbar ist als für andere und für manche vielleicht auch unverständlich bleibt, ist aber auch eine Funktion der Scham selbst. Es ist ein Teil ihrer tragischen Kraft, dass sie uns voneinander trennt oder die Trennung offenbar werden lässt, uns voneinander weiter entfernt, als wir es vorher waren. »Es ist bekannt, dass das, was den einen beschämt, einem anderen als völlig unwichtig vorkommen kann: denken wir an die Scham über die eigene Herkunft, den eigenen Akzent, die eigene Unwissenheit, die eigene Haut, die eigenen Kleider, die eigenen Beine oder Zähne. [Scham] ist das isolierendste aller Gefühle, das vielleicht verständlichste der Idee nach, aber das in Wirklichkeit unverständlichste und am wenigsten kommunizierbare. Scham ist […] das primitivste, das privateste aller Gefühle; aber es ist auch das pri-
Trintignant, Jean-Louis (In einem Interview mit Thilo Komma-Pölath): »Die Liebe kann man nicht beherrschen«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16. 09. 2012, S. 48 f. 39 Cavell: Must we mean what we say?, S. 299. 38
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mitivste aller sozialen Reaktionen. Mit der Entdeckung des Individuums, ob im Paradies oder in der Renaissance, fand eine gleichzeitige Entdeckung der Isolation des Individuums statt; seiner Gegenwärtigkeit zu sich selbst und gleichzeitig zu anderen. Zudem wird Scham nicht nur gegenüber den eigenen Handlungen und dem eigenen Sein empfunden, sondern auch gegenüber den Handlungen und dem Sein von jenen, mit denen man identifiziert wird – Vätern, Töchtern, Ehefrauen …, die Wesen, durch deren Selbstoffenbarungen man auch selbst offenbart wird.« 40
Die Fremdheit, die wir als Zuschauer gegenüber der Scham Lears spüren können, wenn wir sie denn überhaupt als solche erkennen können und sein Verhalten nicht einfach als unverständlich abtun, ist eine Entsprechung des Fremdheitsgefühls, das Lear als Reaktion seiner Mitmenschen fürchtet. Er hat Angst, angesichts seiner vielleicht schwer verständlichen Empfindungen zurückgewiesen zu werden. Wir finden in Lears Scham nun einen Sinn für sein Gefühl des Abgeschnitten-Seins von anderen vor, den Ursprung seines Skeptizismus. Er entdeckt, dass er nicht alles an sich, alles, was ihn bewegt, problemlos kommunizieren kann und dass die Gefahr besteht, zurückgewiesen zu werden. Er zieht daraus den Schluss, sein Inneres verbergen zu müssen. Anstatt sich selbst in seiner Andersartigkeit den anderen zu präsentieren und auf ihre Anerkennung zu zählen, zieht er es vor, ein Schauspiel aufzuführen. Doch mit diesem Versuch, seinen Skeptizismus zu besiegen, vertieft er ihn nur noch. Tragisch wird Lear nicht, weil er isoliert und durch sein Leiden von allen ausgegrenzt und unterschieden ist, sondern weil er seine Isolation, »die Gleichheit [seiner] Situation mit der Situation aller anderen Menschen«, zu verbergen versucht. 41 Man könnte sagen, in Lear sei die skeptische Überzeugung gereift, dass er der Liebe seiner Töchter nicht vollkommen sicher sein kann, dass er, um Liebe erhalten zu können, sich selbst offenbaren muss, wovor er sich aber fürchtet. »[Die]öffentliche Inszenierung soll ihm deshalb die Sicherheit bieten, die eine genuine Liebe nach Cavell gerade verweigert.« 42 Nachdem die erste Schwester gesprochen hat, sagt Cordelia zu sich selbst: »Was sagt Cordelia nun? Sie liebt und schweigt.« 43 Nach der Rede ihrer zweiten Schwester und kurz bevor Ebd., 286. Übersetzung D. G. Ebd., 351. 42 Trüstedt, Katrin: »An Art Lawful As Eating«, in: Thiele, Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hrsg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2009, S. 49. 43 Shakespeare: König Lear, S. 7 (I.1). 40 41
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sie an der Reihe ist, murmelt sie:»Arme Cordelia dann!/Und doch nicht arm; denn meine Lieb’, ich weiß,/Wiegt schwerer als mein Wort.« 44 Von Cordelia wird erwartet, dass sie ihre Liebe heuchelt, doch sie kann anders als ihre Schwestern nicht heucheln, denn sie liebt ja wirklich. »Öffentlich so zu tun, als würde man lieben, wenn man nicht liebt, ist einfach; so zu tun, als würde man lieben, wenn man wirklich liebt, ist dagegen unmöglich.« 45 Sie ist gar nicht dazu fähig, an Lears Spiel teilzunehmen, und sie will es auch nicht, sie will ihn wirklich lieben und will, dass er sie liebt, mit allem, was es von ihm verlangt. Was wir hier sehen können: Cordelia kann gar nichts mehr sagen, nachdem Goneril und Regan mit den süßesten Worten von der Liebe zu ihrem Vater gesprochen haben. Sie hat nichts außer dieselben oder ähnliche Worte wie ihre Schwestern – und diese Worte sind faul geworden, nachdem sie für ein Schauspiel missbraucht wurden. Würde sie jetzt an die Reden ihrer Schwestern anschließen, ständen ihre Worte im selben Kontext wie deren Worte. Wir stoßen hier also auf ein grundsätzliches Charakteristikum unserer Kriterien. Wittgenstein hat uns vorgeführt, dass unsere Konventionen klären, wie wir mit unserer Sprache »Liebe« ausdrücken. Jeder hat ein Verständnis davon, was »Liebe von Tochter zu Vater« bedeutet, jedes vollwertige Mitglied unserer Sprachgemeinschaft ist im Besitz von Kriterien, anhand derer es etwas als einen Ausdruck solcher Liebe identifizieren kann. Aber es ist noch lange nicht sicher, dass diese Liebe auch existiert, wenn sie ausgesprochen wird, also wenn die Kriterien für eine solche Liebe erfüllt werden. Mit Worten der Liebe kann Cordelia ihre Liebe also hier nicht mehr zum Ausdruck bringen. Keiner der Zuhörenden, auch ihr Vater nicht, hat ein Kriterium, mit dem festgestellt werden könnte, dass sie im Gegensatz zu ihren Schwestern wirklich liebt. »Es gibt keine Konvention für das, was von Cordelia hier verlangt wird. Es ist nicht so, dass Goneril und Regan ihr die Worte aus dem Mund genommen haben, sondern sie kann sie hier nicht mehr sagen, denn für sie sind sie wahr (»Weit inniger als Licht und Luft und Freiheit […]«). Sie ist nicht angewidert von den Schmeicheleien ihrer Schwestern (sie sind nichts Neu-
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Ebd. Cavell: Must we mean what we say?, S. 290. Übersetzung D. G.
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es); sie ist todunglücklich, dass sie von ihnen die Worte hört, die sie gerne gesagt hätte.« 46
Lear weiß aber um die Liebe seiner Tochter. Es ist kein Wissen der hundertprozentigen Gewissheit, sondern ein nicht minder definitives Wissen, das er jeden Tag, den er mit seiner Tochter verbracht hat, spüren konnte. Es ist in ihm, so sehr wie Wissen überhaupt in jemandem sein kann. Doch er will diesem Wissen nicht mehr trauen, will nicht mehr auf sich nehmen, was es für ihn bedeutet. Er ist sich wie gesagt dem generellen Risiko der Sprache, der Unsicherheit unserer Worte, bewusst geworden und entscheidet sich deswegen, auf alles zu verzichten, was »hinter« den Worten liegt. Er verzichtet auf die Liebe, die einer Anerkennung und ab einem bestimmten Punkt eines stillschweigenden Voraussetzens bedarf und will sie durch eine konventionalisierte Form der Liebe ersetzen. Es ist eine Liebe, die nicht tiefer »als die konventionellen Verpflichtungen und die konventionellen Ausdrucksformen reicht« 47 – eine Liebe, die auf die Begriffe reduziert ist, auf »Worthülsen« 48. Das Wort »Liebe«, das eigentlich für das Faktum »Liebe« stehen sollte, soll jetzt allein stehen, allein leisten, wofür wir eigentlich einstehen sollten. Das Entsetzliche an einem Wort wie Liebe ist, dass seine Bedeutung ganz und gar davon abhängt, wie wir es meinen, wenn wir es aussprechen. Auch die Methoden der Philosophie der normalen Sprache geraten, wie Cavell anmerkt, bei der Bedeutungsbestimmung solcher Worte an ihre Grenzen. Austin hat in seinen berühmten Beispielen stets Äußerungen ausgewählt, deren Bedeutungen sich vollständig aus der Art und Weise, wie wir sie gewöhnlich benutzen, folgern lassen. Die Bedeutung eines Wortes wie Liebe lässt sich dagegen nicht einfach aus dem gewöhnlichen Gebrauch dieses Wortes schließen. Wittgenstein, so Cavell weiter, hat das verstanden und ist dennoch nicht vor der Auseinandersetzung mit solchen Worten zurückgeschreckt. Er hat klar gemacht, dass wenn wir so ein Wort benutzen, wir zwar nichts anderes meinen, als was wir gewöhnlich mit ihm meinen, aber dass die Bedeutung des Wortes ganz allein davon abhängt, welche Bedeutung wir ihm in diesem Moment geben. 49
46 47 48 49
Ebd., S. 293. Übersetzung D. G. Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 111. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 164. Cavell: Must we mean what we say?, S. 271.
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Um den Problemhorizont des Wortes »Liebe« noch zu erweitern, verweist Katrin Trü-stedt auf Hans Blumenbergs (1920–1996) »Theorie der Unbegrifflichkeit«. 50 Für unseren Kontext ist Folgendes an Blumenbergs Gedanken wichtig: Wir verwenden Begriffe wie »Welt« oder »Liebe« jeden Tag, doch ist das, was die Welt oder die Liebe sein soll, »nicht auf den Begriff zu bringen.« 51 Wir können erklären was eine Banane oder ein Kieselstein ist, doch »Welt« oder »Liebe« werden sich nie in »einer klar konturierten, terminologisch fixierten Begrifflichkeit auflösen lassen.« 52 Kein Satz, kein Text, nichts wird die Bedeutung dieser Begriffe abschließend klären können. Zu mannigfaltig sind die Erfahrungen und Manifestationen der Liebe, die Orte und die Zeiten, zu denen sie auftaucht oder abwesend bleibt, und zu vielgestaltig sind auch unsere Bewertungen dieser Erfahrungen und Manifestationen. Wir haben uns beim Aussprechen des Wortes »Liebe« also nicht nur damit auseinanderzusetzen, dass es auf einen inneren Vorgang verweisen muss, sondern dass dieser Vorgang absolut nicht zu überschauen ist. Deswegen ist das Wort »Liebe« auch besonders empfänglich für eine Hinwendung zum »reinen Begriff« – zur Worthülse – wie sie Lear hier vollzieht. Gleichzeitig ist das Ergebnis einer solchen Abkehr vom nichtsprachlichen Bedeutungsgehalt besonders dramatisch. Diese Ungreifbarkeit der Liebe, die Unmöglichkeit, sie in klare Begriffe zu fassen, ist für Lear nicht aushaltbar. Er möchte die Liebe greifbar machen. Anders als die authentische Liebe, die angenommen und erwidert werden muss, was auch immer »erwidern« in einer konkreten Situation, einer konkreten Liebe, bedeuten mag, kann die konventionalisierte Liebe, die nicht über die konventionellen Begriffe, mit denen wir Liebe äußern, hinausgeht, einfach gefordert werden. Man kann zum Beispiel ein Königreich für diese Liebe geben. Ebenfalls im Gegensatz zur authentischen Liebe ist die konventionelle Liebe messbar, sie wird einfach an den öffentlich geäußerten Liebesbekundungen gemessen, sie ist genau so groß, wie die Worte es
50 Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am Main 2007. Der Verweis von Trüstedt auf Blumenberg findet sich in: Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 109. 51 Mayer, Helmut: »Theorie der Unbegrifflichkeit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 04. 1982, S. 41. 52 Ebd.
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sagen. 53 Indem Lear mit der Liebe versucht, etwas auf den Begriff zu bringen, das nicht auf den Begriff zu bringen ist, vergrößert er die Distanz zwischen Wort und Entität ins Unendliche. Darin steckt die Gewalt von Lears Handeln. Ein gewalttätiger Umgang mit Sprache und Liebe wird immer eine Gewalt gegen Personen sein, so wie Lears Gewalt eine Gewalt gegen Cordelia ist und nicht zuletzt gegen sich selbst. Als Cordelia zu sich selbst sagt, ihre Liebe wöge schwerer als ihre Worte, erkennt sie an, dass im Falle der Liebe Worte immer nur Näherungswerte sein können. Andererseits beweist sie damit aber auch, dass ihr klar ist, dass ihre Worte hier überhaupt keine Tiefe mehr haben können, gar nicht mehr auf den Bereich des Unbegrifflichen verweisen können, abgeschnitten davon sind, an der Oberfläche verharren müssen. Es muss ihr wie ein Verrat ihrer Liebe vorkommen, dass ihr Vater von ihr verlangt, genau solche Worte ohne die Tiefe, Worte, die ihrer Bedeutung beraubt sind, zu gebrauchen. Nachdem er sie drängt, doch zu sprechen, sagt sie, dass sie ihn so sehr liebe, wie eine Tochter eben muss. Ihre Rede, zu der sie quasi gezwungen wird, ist nun derart konventionell, dass sie Lears ganze Konstruktion offenlegt. Die von ihm intendierte Wirkung verpufft und wendet sich sogar gegen ihn. Jedem der Zuschauer, auf und vor der Bühne, muss offenbar werden, dass er hier nur einem Schauspiel beiwohnt. Dabei ist keines von Cordelias Worten wirklich falsch. Sie sagt, sie liebe ihren Vater so, wie Kinder ihre Eltern normalerweise lieben, nämlich sehr, und sie sagt, dass sie ihre Liebe eines Tages auch noch einem anderen Mann schenken wird. Damit ist sie aufrichtiger als ihre Schwestern. Das Problem ist laut Cavell, dass ihre Worte zu ruhig, zu kalt sind für die Wut und den Hass, den echte Liebe hervorrufen kann. 54 Ein emotionaler Ausbruch hätte den folgenden Entwicklungen vielleicht eine ganz andere Richtung geben können. Davon zu sprechen, dass Cordelia hier einen Fehler begeht, ist aber sicher überzogen. Es ist wahrscheinlich eher eine Frage ihres Charakters. So wird ihre Stimme als leise, sanft und zart beschrieben. 55 Darüber hinaus ist sie noch jung, sie ist in Bedrängnis geraten und hat die Situation zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle. 56 Cavell räumt 53 54 55 56
Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 111. Cavell: Must we mean what we say?, S. 291. Shakespeare: König Lear, S. 109 (V. 3). Cavell: Must we mean what we say?, S. 291 f.
206 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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ein, dass jugendlicher Trotz gegenüber der unmöglichen Forderung ihres Vaters ebenso eine Rolle gespielt haben könnte. 57 Zusätzlich gilt es zu bedenken, dass ihre Worte auch ein Versuch sind, ihren Vater zu schützen, denn sie spricht ja nun konventionell. Sie strengt sich an, sein Spiel doch noch mitzumachen, doch das muss misslingen. 58 Sie spricht zum Beispiel von dem Ehemann, den sie einst lieben wird. Normalerweise würden wir sagen, dass eine Liebe zu einem Partner die Liebe zu den Eltern nicht schmälert. Liebe ist kein Kuchen, den man aufteilen muss, weil es nur eine beschränkte Anzahl von Stücken gibt. Sie wird nicht weniger, wenn man mehr davon gibt. Doch in Lears konventioneller Konzeption von Liebe, die Cordelia ja nun versucht zu akzeptieren, ist die Liebe messbar, was bedeutet, dass sie auch teilbar ist. Die Vorstellung, er müsse von der Liebe, die er sich ja ein für alle mal sichern wollte, wieder abgeben, ist unerträglich für Lear, sein Konstrukt wendet sich nun endgültig gegen ihn. Trüstedt schreibt, dass Lear mit seinem »Liebestest« weniger die Liebe seiner Töchter teste, sondern vielmehr unsere Konventionen. »In der aktiven Vermeidung der Liebe […] sollen die konventionellen Formen als Ersatz dienen und werden einer Belastungsprobe ausgesetzt, der sie nicht standhalten.« 59 Unsere Konventionen behalten nur ihre Gültigkeit, wenn wir sie gelten lassen, wenn wir unsere Worte als »für etwas« gelten lassen. Lear möchte aber, dass die Konventionen von allein bestehen, will unsere Verantwortung für sie zurückziehen. Nachdem er den Worten ihre Bedeutung geraubt hat, muss er eben feststellen, dass die Worte nun ihrer Bedeutung beraubt sind. In der Folge geht ihm und allem um ihn herum jegliche Signifikanz verloren. »Die weitere Entfaltung des Stückes zeigt, wie Konventionen auf verschiedene Weise leer laufen, sich verkehren, unwirksam werden und die geteilte Lebensform, die diesen zugrundeliegt, aus den Fugen gerät.« 60
Das beste Bild für diese Auflösung jeglicher Ordnung ist der wahnsinnige Lear, der sich nackt dem tobenden Sturm aussetzt und der mit seinen Kleidern auch jede geordnete Form abgelegt hat, während um ihn herum Himmel und Erde unterzugehen scheinen. 61 Später wird 57 58 59 60 61
Ebd., S. 291. Ebd., S. 299. Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 113. Ebd. Ebd., S. 117 ff.
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Lear zu Gloster sagen: »Wir Neugeborenen weinen, zu betreten/Die große Narrenbühne« 62. Die Verzweiflung, die Lear hier zum Ausdruck bringt, entspringt seiner Wahrnehmung der Welt als Theater. Ist die Welt eine Bühne, dann kann es für uns nichts Gesichertes mehr geben und keine echten menschlichen Beziehungen, weil alle nur Schauspieler sind und die Diskrepanz zwischen der Rolle, die sie spielen, und ihrem wahren Wesen verhindert, dass so etwas wie ein wahres Wesen irgendwie erkennbar sein könnte. Doch auch wenn er es erst hier explizit formuliert, so ist doch das theaterhafte der Welt von Beginn an Lears Problem gewesen. Deswegen kann man hier auch von einer »Tragödie der Theatralität« 63 sprechen. Das führt uns noch einmal zurück zur anfänglichen Abdankungsszene. Lear wurde gewahr, dass unsere Lebensform, unser Sprechen, notwendigerweise theatral ist. Die Theatralität unserer Existenz lässt sich an zwei Umständen festmachen: Erstens müssen wir, um anderen zu zeigen, wie es um uns steht, uns äußern, es ihnen vorführen. Eine Äußerung kann so spontan und natürlich wie bei einem Schmerzensschrei sein, wenn wir uns den Fuß gestoßen haben, sie kann aber auch so hart erarbeitet sein wie ein lang zurückgehaltenes Eingeständnis einer Schwäche. So oder so zwingt uns unsere Lebensform, die auf dem Sprechen basiert, zur Äußerung. Zweitens sind wir bei anderen in einem gewissen Sinne zum Zusehen verdammt. Wir können, was ihre Erfahrung und ihre Empfindungen angeht, nur zuschauen, nicht teilhaben, können nicht fühlen, was sie fühlen. Gleichzeitig sind sie nur Zuschauer, was uns selbst anbelangt. Radioheads Where I End and You Begin aus dem vorherigen Kapitel, ist getragen von dem Bedauern, dass wir bei anderen »nur« zusehen und nicht teilnehmen können. Ich setze das »nur« in Anführungszeichen, um hervorzuheben, dass es uns in Sätzen wie diesen betrügt. Das »nur« suggeriert, dass uns etwas fehlt, dass wir etwas nicht können, was wir können sollten. Aber an uns ist nichts zu wenig, weil wir auf das Zusehen beschränkt sind, angewiesen darauf, hinzusehen. Menschsein ist so – und wir können uns nicht ernsthaft wünschen, dass es anders ist. Wenn ich schreibe, dass Lear sich der Theatralität unserer Lebensform gewahr wurde, dann heißt das nicht, er hätte irgendeine Entdeckung gemacht. Er hat genauso wenig wirklich etwas entdeckt, 62 63
Shakespeare: König Lear, S. 89 (IV. 6). Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 120.
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Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear«
wie Descartes etwas entdeckt hat. Lear muss immer um das Theatrale gewusst haben, so wie jeder Mensch, der mit anderen interagiert, um das Theatrale wissen muss, weil man ohne dieses Wissen einfach nicht mit anderen interagieren kann. Das bedeutet, dass Lear dieses Wissen auf eine neue Weise wahrnimmt, dass er mit diesem Wissen neu umgeht. Er sieht die Theatralität in einem ganz bestimmten Licht: der Möglichkeit, sich was andere angeht irren zu können, der Möglichkeit, getäuscht zu werden sowie der Angst, missverstanden, nicht angenommen, nicht anerkannt zu werden. Was aussieht wie ein neues Wissen über unser Verhältnis zur Welt und die Bedingungen unseres Lebens, ist in Wirklichkeit der Verzicht auf ein Wissen, nämlich das Wissen, dass wir uns in den meisten Fällen nicht irren, dass wir nicht getäuscht werden, dass Kommunikation möglich ist. Insofern würde eine Heilung Lears bedingen, dass er dieses Wissen wieder als sein Wissen anerkennt. Lears Motiv für das Aufgeben dieses Wissens, für die Neubetrachtung von Wissen, ist sicher Furcht vor der Unsicherheit und Furcht vor der Verantwortung, die sie bedeutet. Er hat einer Angst nachgegeben, die jeden von uns gelegentlich heimsucht, eine Angst, die Wesen, die auf Sprache angewiesen sind, zwangsläufig bekannt sein muss und aus der die ständige Bedrohung des Skeptizismus resultiert. Aber, und dieses Aber könnte gar nicht größer sein, diese Furcht hat ihn nicht deswegen schließlich vollkommen übermannt, weil andere versucht haben, sich vor ihm zu verbergen, sondern weil er sich mit Hilfe des Theatralen verbergen wollte. Er war es, der nicht erkannt, nicht gesehen werden wollte. Die ursprünglichste seiner Ängste war die Angst vor Selbstoffenbarung. Auf die Theatralität unserer Existenz, deren Implikationen ihm Furcht einflößen, reagiert Lear mit noch mehr Theatralität. Mit seiner inszenierten Prozedur macht er seinen Hof zur Bühne und seine Töchter zu Schauspielerinnen, die einen Text aufsagen sollen. Er selbst ist in diesem Theater zwar auch versteckter Regisseur, vor allem aber will er Zuschauer sein. Wenn wir der Struktur des Stückes folgen, dann hat Lear die Theatralität, an der er verzweifelt, erst selbst geschaffen, nämlich dadurch, dass er versucht hat, alle menschlichen Schwierigkeiten, seine Schwierigkeiten mit ihr aus dem Weg zu schaffen. Er ähnelt darin dem Philosophen, der durch antiskeptische Strategien den Skeptizismus noch vertieft. Lears Furcht, die er nicht als die Furcht aller Menschen anerkennen konnte, als die Furcht, die uns alle gleich macht, ist einer Verzweiflung gewichen
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
vor einer Welt, die nur noch ein Bühne für ihn ist, »bevölkert von Narren, Verzerrungen von Menschen.« 64
Wir in diesem Theater Es dürfte wenig überraschen, dass Cavell, nachdem er König Lear als eine Tragödie des Theatralischen identifiziert und sich ausgiebig mit dem Zuschauen, der Vermeidung anderer und mit zurückgehaltener Anerkennung und Verantwortung beschäftigt hat, sich nun weg vom Geschehen auf der Bühne und hin zum Zuschauerraum wendet. Tatsächlich macht Shakespeare uns gleich zu Beginn von König Lear sehr direkt auf unsere Zuschauerschaft bei den folgenden Ereignissen aufmerksam. Die erste Szene beginnt mit einem kurzen Gespräch zwischen Gloster und Kent, die zu jenen gehören, die auf den Auftritt des Königs und seiner Familie warten. Wir sind hier Zuschauer der Zuschauer, warten mit ihnen und werden auch zusammen mit ihnen Zeuge der Abdankung des Königs. 65 Cavell geht aber so weit, uns als Zuschauern eine Komplizenschaft bei den im Stück vorkommenden Vermeidungen zu unterstellen. Der Weg, den er wählt, um seine These zu stützen, wirkt ein wenig anmaßend oder zumindest sehr selbstbewusst: Er fragt, wie es sein kann, dass Generationen von Shakespeare-Interpreten die Themen der Vermeidung, die er, Cavell, herausgearbeitet hat, einfach übersehen konnten, wo diese doch nur allzu offensichtlich sind. 66 Cavells Beantwortung dieser Frage entwickelt sich nun zu einer Beschreibung unseres Verhältnisses zu den Charakteren auf der Bühne und zu einer Darlegung der Form von Kritik, die Cavell anstrebt. Er formuliert damit auch die Grundlagen seiner späteren Shakespeare-Besprechungen. Zunächst geht er wieder einmal von Wittgenstein aus. Wie gesagt begreift er dessen Philosophie als eine »Untersuchung des Offensichtlichen«, weil sie versucht offenzulegen, was eigentlich für jeden erkennbar ist, das aber gerade wegen dieser Offensichtlichkeit übersehen wird. 67 Denken wir noch einmal an den entwendeten Brief bei Poe, der gerade deswegen von allen übersehen wird, weil er offen 64 65 66 67
Cavell: Must we mean what we say?, S. 308. Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S 122. Cavell: Must we mean what we say?, S. 310. Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 312.
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Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear«
auf dem Tisch liegt. 68 Eine Kritik nun, wie sie Cavell favorisiert, sollte diese Maßgaben Wittgensteins beachten und nicht versuchen, irgendetwas hinter den Dingen zu suchen oder den Geschehnissen etwas Neues hinzuzufügen, sondern ins Bewusstsein rufen, was dort auf der Bühne zu sehen oder auf der Seite zu lesen ist. Die Schwierigkeit für uns Rezipienten, und da geht es uns wie Lear, ist nicht ein neues Wissen zu erlangen oder neue Informationen zu generieren, sondern anzuerkennen, was direkt vor einem liegt. 69 Wenn wir uns, führt Cavell aus, die Philosophie als etwas denken können, in dem die eigene Kultur zu Bewusstsein gebracht wird, dann können wir uns auch eine bestimmte Methode der Kritik als das Zu-BewusstseinBringen eines bestimmten Werkes vorstellen. So eine Kritik nennt Cavell »philosophische Kritik«. 70 Ist es die Aufgabe der Kritik, ins Bewusstsein zu rufen, was offensichtlich ist, dann muss sie sich auch dafür interessieren, warum das Offensichtliche übersehen wird. Cavell führt dieses Übersehen auf eine Leugnung zurück, eine zurückgehaltene Anerkennung des Offensichtlichen. So wie Lear scheitert, Cordelia anzuerkennen, können wir in der Anerkennung der Geschehnisse auf der Bühne scheitern. Was Cavell hier tut, ist uns als Zuschauer neben Lear und den philosophischen Skeptiker zu stellen: Der Skeptiker, der sein Wissen von der Welt nicht anerkennt, weil es seine neuen Bedingungen des Wissens – die der absoluten Gewissheit – nicht erfüllen kann, Lear, dessen Nicht-Anerkennung Cordelias sich als eine Leugnung seines Wissens um ihre Liebe herausstellt und schließlich der Zuschauer, der die Bühnencharaktere nicht anerkennt, weil er ihre Beweggründe nicht als die echter Menschen ernst nimmt. Wenn wir die wahre Position einer Figur in einer bestimmten Situation nicht erkennen können, obwohl sie offen vor uns liegt, dann machen wir uns gleich mit Lear oder Gloster, die die Positionen ihrer Kinder nicht sehen (wollen). 71 »Wir«, schreibt Cavell, »sind impliziert in das Versagen, das wir mitansehen, wir sind mitverantwortlich für die Tragödie.« 72 So irritierend oder überheblich man Cavells Ausgangsfrage – warum andere Kritiker die Themen der Vermeidung in König Lear
68 69 70 71 72
Poe: Der entwendete Brief. Hammer: Stanley Cavell, S. 88. Cavell: Must we mean what we say?, S. 313. Ebd. Ebd., S. 282. Übersetzung D. G.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
übersehen haben – finden kann, so bestechend und einfach ist doch die Folgerung, die er aus ihr zieht: dass wir die Bühnencharaktere vermeiden können, so wie wir Menschen um uns herum vermeiden können. Doch dass Cavell uns sogar Verantwortlichkeit für die Personen auf der Bühne einreden will, scheint nicht vereinbar mit der Tatsache zu sein, dass wir es hier mit fiktiven Charakteren zu tun haben, die nur von Schauspielern dargestellt werden und deren Schicksale für uns nicht real sind. Tatsächlich zweifelt Cavell daran, dass wir Theater auf diese Weise wahrnehmen. »Die dort oben tun nur so« ist etwas, das wir normalerweise zu Kindern sagen. Wir wollen sie damit beruhigen und sie aus dem Stück herausbringen. So eine Bemerkung ähnelt damit, wie Cavell sagt, einem Notausgang, es ist aber kein Hinweis, wie wir die Ereignisse auf der Bühne zu verstehen haben, solange wir uns im Stück befinden. 73 Für Erwachsene, die sich ernsthaft einem Stück hingeben wollen, kann das kein Ausweg sein. Zu sagen, wir sähen zu, wie ein Schauspieler, der Othello spielt, so tut, als würde er eine Schauspielerin erwürgen, die Desdemona spielt und dass Desdemona am Ende wieder aufstehen und leben wird, wäre die Beschreibung eines anderen Theaterstückes, aber nicht die von Othello. Nein, insistiert Cavell, was wir im Theater sehen, ist, wie Othello Desdemona erdrosselt: »Du sagst mir, diese Frau wird wieder aufstehen, aber ich weiß, dass sie das nicht tun wird, dass sie tot ist und wieder sterben wird.« 74 Im Amerikanischen gibt es den Witz von dem »Yokel«, dem Bauerntrampel aus den Südstaaten, der gerade noch im richtigen Moment auf die Bühne springt, um Desdemona vor dem bösen schwarzen Mann zu retten. Wenn Cavells Behauptung zutrifft, wenn Desdemona wirklich vor unseren Augen stirbt, warum tun wir es diesem Hinterwäldler, der zum ersten Mal ein Theater besucht, nicht gleich und versuchen Desdemona zu retten? Warum versuchen wir nicht, ihr durch Zurufe zu helfen? Was wissen wir, was der arme Trampel nicht weiß? Cavell schreibt, der Fehler des Yokel sei nicht, dass er denkt, Desdemona würde wirklich sterben, sondern, dass er denkt, er könne ihr helfen. Er glaubt, er könne in die Gegenwart von Othello und Desdemona treten. Wenn er aber auf der Bühne angekommen ist, werden Othello und Desdemona nicht mehr da sein. Er wird dort
73 74
Ebd., S. 329. Ebd., S. 328. Übersetzung D. G.
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oben mit ein paar Schauspielern stehen und bald vielleicht auch mit dem Sicherheitsdienst, der ihn herausführen wird. 75 Im Theater laufen wir nicht auf die Bühne und wir rufen Desdemona auch nichts zu, weil wir wissen, dass wir nichts tun können. Wir können ihnen nicht helfen, weil wir uns ihnen nicht gegenwärtig machen können. Und das nicht etwa, weil es sich bei ihnen um fiktive Charaktere handelt, die nicht existieren – denn sie existieren, wir sehen sie ja. Wir helfen ihnen deswegen nicht, weil wir in ihrer Welt nicht existieren. Das heißt, sie sind uns gegenwärtig, während wir ihnen nicht gegenwärtig sein können. Sie sind sich unserer Existenz nicht bewusst und werden es niemals sein. Wir sind für sie unsichtbar. Die Dunkelheit, in der wir im Theatersaal sitzen, unterstreicht das noch. 76 Cavells Begründung dafür, warum es uns unmöglich ist, uns den Figuren auf der Bühne zu zeigen, scheint unsere gewöhnlichen Annahmen geradezu umzudrehen. Nicht die Existenz der Theaterfiguren wird von ihm geleugnet, sondern die Grenzen unserer Existenz werden aufgezeigt. Seine Darstellung ergibt sich aber ganz logisch aus seiner grammatikalischen Diskussion der Ontologie des Theaters. Er stellt damit zur Debatte, was es bedeutet, eine Person fiktiv zu nennen: Es kann nicht dazu dienen, ihre Existenz zu beweisen oder zu leugnen. Vielmehr sollte es uns dazu anhalten, darüber nachzudenken wie die Existenz einer sogenannten fiktiven Person beschaffen ist. 77 Das heißt auch darüber nachzudenken, was ihre Existenz für uns bedeutet. Und dass sie eine Bedeutung für uns hat, daran lässt Cavell keinen Zweifel, wie folgendes Zitat eindrücklich belegt: »Menschen haben in unserer Gegenwart Schmerzen, aber wir sind ihnen nicht gegenwärtig. Die Tragödie zeigt auf, dass wir für den Tod anderer verantwortlich sind, selbst wenn wir sie nicht ermordet haben.« 78
Cavell sagt einerseits, dass wir nichts für Lear, Cordelia, Desdemona und Othello tun können, weil wir vor ihnen nicht in Erscheinung treten können, also zum Zusehen verdammt sind, andererseits behauptet er, dass wir dennoch verantwortlich für sie sind, verantwortlich für ihren Tod, obwohl wir nicht gehandelt haben, nicht einmal Ebd., S. 327 ff. Ebd., S. 332. 77 Ebd., S. 331 f. 78 Cavell: Must we mean what we say?, S. 332. Übersetzung: Bronfen: Stanley Cavell, S. 176. 75 76
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handeln konnten. Wir wissen ja bereits, dass Anerkennung für Cavell die fundamentalste Form der Verantwortungsübernahme für einen anderen ist, weil ich in meiner Anerkennung den anderen als ein lebendiges, autonomes und zu Empfindungen fähiges Wesen erfasse. Cavells Infragestellung und Umkehr unseres Fiktionsbegriffs wirkt zunächst wie eine sinnfreie intellektuelle Spielerei. Sie ist aber ein Versuch deutlich zu machen, dass sogenannte fiktive Personen, obwohl sie nicht auf dieselbe Weise mit uns existieren wie unsere Freunde, Eltern und Arbeitskollegen, dennoch einen Anspruch an uns stellen: nämlich dass wir sie anerkennen. Erinnern wir uns daran, wie wir uns während einer gelungenen Theatervorstellung fühlen: Dass die Figuren dort, wie Cavell schreibt, in unserer Gegenwart sind, »bedeutet nicht einfach, dass wir sie sehen und hören, sondern dass wir sie anerkennen«, 79 oder scheitern es zu tun. Wir erkennen sie an, wenn wir ihr Lächeln, als ein »geschmeichelt sein« oder als ein »verlegen sein«, ihren Blick als »verängstigt« oder als »voller Zuneigung«, ihr forsches Agieren als verdeckte Unsicherheit sehen. Ein Scheitern der Anerkennung würde bedeuten, einige dieser Dinge nicht zu sehen. Ist eine Aufführung erfolgreich, können wir die Geschehnisse ernst nehmen, dann behandeln wir das, was auf der Bühne geschieht, als einen Ausdruck von Menschlichkeit. Wir interpretieren die Taten der Charaktere als das Verhalten von autonomen – echten – Menschen, die in einer Welt konkreter Bedeutungen und Beziehungen agieren. 80 Wir reagieren auf diese Personen, als wären sie lebendig. Mit dem einen Unterschied: Wir können nichts für sie tun. Wir sind versteckt, stumm und isoliert. Damit scheint Cavells ganzes Konzept der Anerkennung durcheinander geworfen zu werden, denn die Tatsache, dass wir gegenüber den Theaterfiguren versteckt sind und dass wir nichts tun können, muss eigentlich jede Anerkennung unmöglich machen. Hatte die Tragödie von Lear nicht genau das gezeigt: Dass wir uns selbst sehen lassen müssen, uns offenbaren müssen, etwas tun müssen, um anerkennen zu können? Wie kann es Anerkennung geben, wenn dieser wichtige Schritt fehlt, wenn wir dazu gezwungen sind, im Dunkeln zu bleiben und nicht reagieren können? Daraus, dass die Anerkennung im Theater nicht vollendet werden kann, weil eben die Selbstoffenbarung notwendigerweise fehlt, schließt Cavell nicht, dass An79 80
Hammer: Stanley Cavell, S. 90. Cavell: Must we mean what we say?, S. 333.
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erkennung im Theater nicht möglich ist, sondern dass sie anders aussehen muss als im gewöhnlichen Leben. 81 Deswegen sucht er nach einem Äquivalent, etwas das im Theater die Rolle der Selbstoffenbarung einnehmen könnte. Aber was könnten wir im Theater von uns offenbaren? Wohl das, was das Theater an uns offenbart: dass wir getrennt voneinander sind. Was wir im Theater offenbaren können, ist die Anerkennung unserer Position, die uns hier in diesem dunklen Raum so schmerzlich klar gemacht wird: »Was ich offenbare ist das, was ich mit jedem teile […]: dass ich verborgen, stumm und starr bin. Kurzum, dass es einen Punkt gibt, an dem ich gegenüber dem Handeln und dem Leiden anderer hilflos bin. Aber ich kenne den wahren Punkt meiner Hilflosigkeit nur, wenn ich die Tatsache und den echten Grund ihres Leidens anerkannt habe. Sonst bin ich nicht hilflos, sondern halte Hilfe zurück. Die Tragödie entsteht aus der Verwechslung dieser Zustände […] Um es anders zu sagen: Was offenbart wird, ist meine Getrenntheit von dem, was ihnen geschieht; dass ich ich bin, dass ich hier bin. Nur durch die Wahrnehmung der anderen als getrennt von mir kann ich sie mir gegenwärtig machen. Nur dadurch, dass ich sie zu anderen mache, und ihnen begegne.« 82
Im Theater wird die Bedingung unserer Existenz, unsere Getrenntheit noch einmal dramatisiert oder besser gesagt: theatralisiert. Wir sind auch außerhalb des Theatersaales zum Zusehen verdammt, sind – in einem gewissen Sinne – nur Zuschauer der anderen und ihrer Erfahrungen, ihrer Leiden, ihres Glücks. Nichts davon können wir ihnen abnehmen, können nicht tun, was sie tun müssen, denn es ist das Ihrige. Demgegenüber steht aber das Unsrige und das ist alles, was wir tun können und vielleicht sogar tun müssen. Indem wir beginnen zu lernen und immer wieder neu beginnen zu lernen, wie begrenzt wir sind, was die anderen angeht, können wir erkennen, anerkennen, was wir tun können, was wir angesichts ihrer Lage, ihrer Gegenwart, tun müssen. Im Theater sind wir von dieser Pflicht zum Handeln befreit. Hier wird uns ein Raum geschenkt, in dem sich unser Wunsch nach Verstecktheit, Stummheit und Isolation erfüllen darf. Für Lear musste es noch in einer Tragödie enden, dass er diesem Wunsch nachhing, so wie das gewöhnlich immer in einer Tragödie enden muss. Im Theater dagegen drohen uns keine Konsequenzen. Hier müssen wir nicht handeln, denn wir können es nicht. 81 82
Ebd., S. 332 f. Ebd., S. 338.
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Unsere gewöhnliche Getrenntheit wird uns im Theater dramatisch vorgeführt und wir bestätigen sie dort, ohne dass wir dabei mit der Verantwortung zu handeln konfrontiert wären, die normalerweise mit ihr verbunden ist. Cavells vorsichtige Hoffnung ist nun, dass wir dadurch, dass unserem Wunsch nach Theatralität hier nachgekommen wird, außerhalb des Theaters mit dem Theatralisieren aufhören können. Dass wir aufhören können, auch außerhalb des Theaters stumm und versteckt zu sein. Dass das Theater für uns zu einem Ort werden könnte, an dem eine Anerkennung unserer Getrenntheit auch für draußen beginnt. 83 Solche mit Kunst und Ästhetik verbundenen ethischen Hoffnungen werden immer dann fade, wenn sie als ein Automatismus gemeint oder verstanden werden. Ein Beispiel für solche Automatismen ist die beliebte Behauptung, dass wir durch das Lesen von Büchern empathischer werden, wie sie unter anderem bei Azar Nafisi (* 1947) zu finden ist. 84 Ich denke nicht, dass man besonders weit kommt, wenn man Cavells Beschreibung im Sinne einer Zwangsläufigkeit verstünde. Natürlich kann er nicht glauben, dass Kunst uns heilen wird, dass wir uns nur ins Theater setzen müssen, um zu besseren oder »ganzeren« Menschen zu werden, dass wir hier automatisch transformiert würden. Woran er aber glaubt ist, dass wir Orte finden können, an denen wir neuer Pfade gewahr werden, Orte, an denen wir uns der Möglichkeit bewusst werden, sie einschlagen zu können. Jeder ist gezwungen, diese Orte für sich selbst zu finden. Cavell erzählt von einer Weise, mit bestimmten ästhetischen Erfahrungen umzugehen. Es ist, wie er sagt, eine Chance, 85 die sicher nicht jeder ergreifen will und die vielleicht auch nicht jedem offen steht. Es ist nicht die einzige Chance zur Veränderung, die wir haben. Wenn dann eine persönliche Veränderung, ein Ausbruch aus dem Alten, eine neue Zuwendung zu anderen wirklich geschieht, wird sie immer die Form eines Mysteriums annehmen, nicht vorhersagbar, nicht vollständig erklärbar. Das ist es, was Kant sagen will, wenn er schreibt, der Schritt eines Menschen zum Moralischen käme immer einer Revolution gleich. 86
Ebd., S. 338. Nafisi, Azar: Reading Lolita in Teheran. New York 2003, S. 111. 85 Cavell: Must we mean what we say?, S. 334. 86 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Stuttgart 1974, S. 59 ff. 83 84
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Die Angst, gesehen zu werden – »König Lear«
Eine Veränderung, die Anerkennung unserer Getrenntheit, das Ende der Vermeidung anderer, kann sich in unserem Leben immer nur durch unser Handeln manifestieren – wie auch sonst? Dazu müssen wir anerkennen, wo wir in Bezug auf andere hilflos sind und wo wir helfen können. Worum es Cavell geht, worum es ihm immer geht und womit er in der Nachfolge Kants steht, ist das Erkennen unserer Handlungsmöglichkeiten. Im Theater können wir nichts tun, draußen schon. Den Liebeskummer des anderen können wir nicht für ihn tragen, aber eine Schulter bieten oder ein Wort, ein Ohr, Freundschaft. So hilflos ich in vielerlei Hinsicht gegenüber dem anderen bin, so gibt es doch – fast – immer etwas, das ich für ihn tun kann. Dass ich auf eine Weise hilflos bin, darf nicht als Entschuldigung dienen, dass ich Hilfe zurückhalte, wo sie möglich ist. Wenn ich außerhalb des Theaters meine Hilfe zurückhalte, dann deswegen, weil ich mich dazu entscheide. 87 Mit seinen Betrachtungen zu Tragödie und Theater versucht Cavell, wie Bronfen zutreffend resümiert, den Blickwinkel zu verschieben: weg von einer Fokussierung auf das Schicksal, wie sie in herkömmliche Tragödientheorien üblich ist, hin zu einer Perspektive der Verantwortung. 88 Was Lear und den Seinen geschieht, hätte so nicht passieren müssen, ebenso wenig ist der Tod Desdemonas und Othellos unvermeidlich, die Dinge hätten auch ganz anders verlaufen können. Nicht unabwendbare Schicksalsmächte haben hier gewirkt, sondern selbstständig handelnde Personen. Lear und Othello deuten das, was ihnen passiert als ihr Schicksal, aber sie haben durchaus die Wahl, es anders zu sehen. Diese Erkenntnis ist für eine Wahrnehmung unserer eigenen Verantwortlichkeit essentiell. »Die Tragödie entwächst jenem Geschick, von dem wir entscheiden, ob wir es als unvermeidlich deuten und akzeptieren wollen.« 89 Schicksal ist also ein bestimmte Art, unser Leben und die Welt um uns herum zu interpretieren. Schicksal ist das, was wir als Schicksal deuten. Natürlich bedeutet unsere Endlichkeit in allen ihren Dimensionen, dass unser Leben zu einem großen Teil schicksalshaft ist und damit auch unweigerlich tragisch. Aber für alles andere können wir Verantwortung übernehmen. Ebd., S. 346. Bronfen: Stanley Cavell, S. 174 f. 89 Cavell: Must we mean what we say?, S. 334. Übersetzung: Bronfen: Stanley Cavell, S. 175. 87 88
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Während wir im Theater die Tragödie nicht abwenden können, kann es draußen an uns hängen, sie zu verhindern. Der Zweck der Tragödie, schreibt Cavell, sei damit der alte geblieben: uns zum Handeln zu befähigen. In Anklang an die aristotelische Poetik, die gerade im Bezug auf Lear sehr häufig bemüht wird, hofft Cavell auf eine Reinigung der Zuschauer durch die Tragödie. Doch sollen wir nicht von »Schrecken und Mitleid« 90 gereinigt werden, sondern ganz im Gegenteil diese Gefühle wieder spüren, was für Cavell bedeutet zu spüren, dass wir auf der Basis dieser Gefühle und aus ihnen heraus handeln können. 91 Gereinigt werden sollen also die Gefühle selbst, oder wir durch diese Gefühle, gereinigt von allem, was unsere Anerkennung zurückhält, was uns darin zurückhält zu tun, was wir tun können, um das Leiden eines anderen zu mindern. 92 Das heißt, dass wir zum Beispiel von der Vorstellung geheilt werden, dass wir nichts tun könnten und dass Handlungsunfähigkeit unser Schicksal sei. Wenn Cavell schreibt, dass wir aus Schrecken und Mitleid heraus handeln – »to act upon pity and terror« –, bringt er damit zum Ausdruck, dass er nicht glaubt, der Schritt zum moralischen Handeln könne allein aus einem abstrakten, von der Vernunft hergeleiteten Pflichtgefühl geschehen, sondern benötige auch die Empfindung konkreter Bedürftigkeit, die Aufmerksamkeit für fremdes Leid, die Bereitschaft, mir eine Vorstellung von der Qual eines anderen zu machen. Vernunft kann hier nicht allein stehen, denn moralisches Handeln bedarf der Anerkennung eines anderen, diese Anerkennung muss ich aber selbst geben, das kann mir nicht durch rationale Argumente abgenommen werden. Das wäre ein Versuch, Anerkennung durch Wissen zu ersetzen. 93 Aber um das alles leisten zu können, muss ich mir eben immer wieder klar machen, dass der andere ein ganz anderer ist. Ich muss ihn, wie Cavell schreibt, zu einem anderen machen. Sonst vergesse ich, dass er immer wieder meiner Anerkennung bedarf. Ich kann zwar nicht fühlen was er fühlt, es kann mir fremd sein und erst einmal unverständlich, aber ich muss stets versuchen es zu verstehen, es mir irgendwie vorzustellen – wobei »irgendwie« hier in seiner ganzen Oftmals wird das griechische éleos und phobos auch mit Jammer und Schauder übersetzt. Cavell schreibt pity und terror, weswegen ich es so ins Deutsche übernommen habe. Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1982, S. 19. 91 Cavell: Must we mean what we say?, S. 347. 92 Ebd., S. 333. 93 Ebd., S. 346 f. 90
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Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
Unbestimmtheit steht. Die Eröffnungsszene von König Lear als schlechtes Plotting oder als unverstehbar abzutun, wie es zum Beispiel bei Tolstoi geschieht, bedeutet dem Anspruch, den Lear an uns stellt, nicht nachzukommen. Es bedeutet ihn zu vermeiden.
IV.2 Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello« Wer ist Desdemona – wer ist sie für Othello? Wer ist Jago – wer ist er für Othello? Und wer ist Othello – für Othello? Othello ist der romantischste unter Shakespeares Helden und der christlichste unter seinen tragischen Helden. 94 Er ist aber auch der vollendete Narziss. 95 Seine Seele wird zu seiner ganzen Welt und an der Starrheit seines Selbstbildes zerbricht sein ganzes Glück. Er begegnet uns als ein gefeierter Kriegsheld Venedigs, als ein erfolgreicher Feldherr, eine Figur aus Abenteuergeschichten. Dennoch bleibt er, weil seine Haut schwarz ist, ein Außenseiter im Leben jener Stadt, für die er schon so viele Schlachten geschlagen hat. Seine für Venedig ungewöhnliche Hautfarbe ist gewissermaßen das äußere Zeichen seiner Außergewöhnlichkeit, seiner Einzigartigkeit, seiner besonderen Kraft. Er habe eine »reine« oder noble Seele, sagt er von sich selbst, 96 aber es ist ganz augenscheinlich auch das Bild, das man von ihm hat und das er unbedingt wahren will. Ohne dass Cavell das explizit schreibt, wird deutlich, dass er in der Schwärze von Othellos Haut einen Sinn dessen Allein-Seins entdeckt. Indem Desdemona ihm sagt, sie sähe sein »Angesicht in seinem Gemüt« 97, zeigt sie Othello, dass sie bereit ist, seine Hautfarbe so zu sehen, wie er sie sieht, als Ausdruck seines Inneren, und dass sie bereit ist ihn so zu sehen, wie er sich sieht: als romantischen Helden. Für Othello wird Desdemona zum perfekten Gegenüber. In ihrer tiefen Liebe – und dass die beiden sich lieben steht nicht in Frage, zumindest nicht für uns – fühlt er seine Reinheit, seine Noblesse durch die ihre bestätigt. Hier wird entscheidend, dass es sich bei der Ehe, die Othello mit Desdemona eingeht, um die Ehe eines romantischen und christlichen Helden geht, also nicht nur um irgendeine Ehe, sondern 94 95 96 97
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 767. Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 147. Shakespeare, William: Othello. Stuttgart 1985, S. 23 (I.2). Ebd., S. 43 (I.3).
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um eine bestimmte Idee der Ehe. 98 Es ist die Ehe eines Mannes, der sich nach romantischer Liebe sehnt und der die Vorstellung in sich aufgenommen hat, dass Mann und Frau in der Ehe eins werden. Was für ihn auf dem Spiel steht, wird deutlich wenn er verkündet: »Mein Leben für ihre Treue«, 99 und »wenn ich dich nicht liebe, ist das Chaos wieder gekommen.« 100 Diese Worte bezeugen, dass Othello beginnt, seine Existenz als abhängig von der Existenz eines anderen Wesens her zu begreifen. Desdemona ist damit für ihn zum Idealfall geworden, der ihn erst bestätigt. Sie hat also die Position eingenommen, die bei Descartes Gott inne hatte und wird somit für ihn zum Prüfstein seiner eigenen Existenz. An ihr hängt seine ganze Welt. Wenn er um sie nicht weiß, dann weiß er gar nichts. 101 So ist auch die Dringlichkeit seiner späteren Forderungen nach sichtbaren Beweisen zu verstehen: OTHELLO: »beweise, dass meine Geliebte eine Hure ist […] gib mir einen sichtbaren Beweis!« 102 OTHELLO: »Bei der Welt, ich glaube, meine Frau ist ehrbar und glaube, sie ist es nicht. Ich glaube, dass du aufrichtig bist und glaube, du bist es nicht. Ich will irgendeinen Beweis.« 103
Der sehr plötzliche und überraschende Umschwung Othellos in der Haltung gegenüber seiner Frau entspricht, wie Cavell schreibt, genau dem »Rhythmus des Skeptizismus«. Für ihn ist es die literarische Entsprechung von Descartes’ Erstaunen, als jener feststellt, dass »nie durch sichere Merkmale der Schlaf vom Wachen unterschieden werden« könne. Descartes schreibt weiter, dass er so betroffen ist von dieser Erfahrung und gerade durch diese Betroffenheit »fast in der Meinung zu träumen bestärkt« wird. 104 Es folgt dagegen nicht, merkt Cavell an, dass Descartes in seiner Meinung wach zu sein bestärkt wird. 105 Lesen wir also Othellos Hin-und-hergerissen-Sein in der LieCavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 769. Shakespeare: Othello, S. 45 (I.3). 100 Ebd., S. 109 (II.3). 101 Bronfen: Stanley Cavell, S. 181. 102 Shakespeare: Othello, S. 127 (III.3). 103 Ebd., S. 129 (II.3). 104 Descartes: Meditationen, S. 67. 105 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 766. 98 99
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Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
be zu Desdemona – »ich glaube, meine Frau ist ehrbar und ich glaube, sie ist es nicht« –, seine Bewusstseinsbewegungen, mit denen er immer weiter die Realität verliert, parallel zu dem Hin und Her der Denkanstrengungen Descartes’, dem die Welt ebenfalls zunehmend entgleitet. Vor diesen beiden tragischen Helden tauchen Möglichkeiten auf, »welche die Vernunft, auf sich gestellt, nicht ausschließen kann«, und so geben sich beide ihrem Traum bzw. Alptraum hin. 106 Wir müssen uns Othello als einen Mann vorstellen, der seine ganze Kraft und sein Selbstbewusstsein aus einem bestimmten Bild von sich schöpft. Da er sein Selbstbild bedingungslos von seiner Reinheit und seinem Vertrauen in die Reinheit Desdemonas abhängig macht, muss dieses auch elementar erschüttert werden, sobald sein Bild von Desdemona ins Schwanken kommt. Mit dem Verdacht der Untreue Desdemonas, ist sein Name, der einst hell und strahlend war, für ihn nun, wie er sagt, so »beschmutzt und schwarz wie mein eigenes Gesicht.« 107 Descartes und Othello gleichen sich darin, dass sie eine vollkommene Existenz konzipieren – einmal ist es Gott, einmal Desdemona –, die diese Männer dann »in gewissem Sinn nach ihrem Bild schafft.« 108 Als Othello das Vertrauen in Desdemona verliert, verliert sie auch ihre Kraft, ihm »Zutrauen zum eigenen Bild einzuflößen«, was bedeutet, dass auch er selbst »seine alte Kraft der Imagination verliert.« 109 Nachdem er sie nicht mehr sehen kann wie zuvor, kann er auch sich selbst nicht mehr so sehen wie zuvor. »Und das heißt, er verliert den Halt an seinem eigenen Wesen, er hat in seiner Geschichte nicht mehr dieselbe Stimme.« 110 Aber warum gibt Othello diesem Gedanken überhaupt so viel Raum? Warum gibt er diesen Phantasien nach, seiner am Ende mörderischen Eifersucht? Warum ersetzt er Desdemonas Imagination durch die Jagos? Cavell hält es nicht für plausibel, dass Othello Jago wirklich glaubt und nicht Desdemona, die er ja über alles verehrt. Seine überraschende Kernthese bezüglich Othello lautet, dass der Held überhaupt nicht an Desdemonas Untreue glaubt, sondern dass sein Zweifel nur ein vorgeschobener Zweifel ist. 111 106 107 108 109 110 111
Ebd. Shakespeare: Othello, S. 129 (III.3). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 765. Ebd., S. 768. Ebd., S. 768 f. Hammer: Stanley Cavell, S. 80.
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Die Rolle Jagos wird von Cavell somit extrem heruntergespielt, seine Einflüsterungen sind in Cavells Deutung für Othello nicht mehr als eine willkommene Gelegenheit, seine eigenen Phantasien zu entfalten, die im Gegensatz zu dem stehen, was er wirklich weiß: dass Desdemona treu ist. 112 Tatsächlich wird Jago auch in anderen Interpretationen von Othello eher als ein erzählerischer Kunstgriff bezeichnet. 113 So gesehen ist es müßig zu fragen, warum Jago Macht über Othello gewinnt. Viel wichtiger und mysteriöser ist doch, wie es passieren konnte, dass Desdemona ihre Macht gegenüber Othello einbüßte. 114 Die Tragödie ereignet sich nach Cavells Interpretation nicht, weil Jago so durchtrieben ist und Othello so einfältig, sich von ihm hinters Licht führen zu lassen, sondern weil Othello aktiv versucht, Jago zu glauben. Wenn Desdemona ihm keinen Grund gibt, ihr zu misstrauen und Jagos Zuflüsterungen auch nicht der Auslöser, sondern vielmehr ein willkommener Anlass und ein Brandbeschleuniger für seine Eifersucht sind, dann muss es irgendetwas in Othello und in seiner Haltung zu seiner Frau sein, das die Eskalation bewirkt. Othello erkennt die Wahrheit erst an, als Desdemona durch seine Hände gestorben ist. Natürlich kann man sagen, dass er zu diesem Zeitpunkt wieder zu Sinnen kommt. Es kann aber auch bedeuten, dass Othello erst bereit ist, die Wahrheit anzuerkennen, als er die Bürde dieser Wahrheit nicht mehr tragen muss. 115 Solange Desdemona lebt, scheint es besser für ihn, sie sich als ehebrecherische Hure vorzustellen, als ihre Treue zu akzeptieren. Ihre Treue muss für ihn, entgegen aller Beteuerungen, schrecklicher sein als ihre Treulosigkeit. 116 Cavells Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon verläuft entlang der Ereignisse, die das Stück eröffnen und die es beschließen: der Hochzeitnacht, an der wir nicht teilhaben, und dem ebenfalls im Ehebett stattfindenden gewaltsamen Tod des Ehepaares, dessen Zeuge wir werden. Die Ermordung Desdemonas und der anschließende Selbstmord Othellos sind nach dieser Deutung die Fortsetzung der Ge-
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 767. Scheman, Naomi: »A Storied World. On Meeting and Being Met«, in: Elridge, Richard/Rhie,Bernard (Hrsg.): Stanley Cavell and Literary Studies. New York 2011, S. 94. 114 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 769. 115 Ebd., S. 773. 116 Ebd., S. 774. 112 113
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Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
schehnisse der Hochzeitsnacht – ihr Schlusspunkt. Aus Othellos rasender Eifersucht, seinem weltvernichtenden Zweifel könnte man schließen, dass er in Desdemona nicht das Erhoffte auslösen konnte, dass er in ihr nicht die Leidenschaft spürte, die ihm versichert, dass sie ihn und nur ihn begehrt. Doch Cavell argumentiert genau andersherum. Nicht seine Impotenz habe Othello erschreckt, sondern im Gegenteil: seine Potenz, »das Ausmaß seines Erfolgs bei ihr, nicht sein Versagen.« 117 Er sieht in dieser privaten Stunde, die ihre Vereinigung komplett machen sollte, wie sich diese für ihn so wunderbare Frau ganz und gar ihrer Lust hingibt. Sie zeigt sich im Hier wie sie ist, »aus Fleisch und Blut.« 118 Dass sie aus Fleisch und Blut ist, bedeutet aber, dass auch er es ist, denn die beiden sind ja eins. Und er muss sehen, wie sie ihn sieht, dass sie das Bild, das er von sich selbst hat, zwar teilt, dass sie aber auch mehr als das sieht, nämlich dass sein Selbstbild nicht ganz authentisch ist, dass er nicht nur die reine Seele ist, sondern auch voll von Begehren. Mit ihrer Jungfräulichkeit hat Desdemona ihm ihre Unversehrtheit, ihre Vollkommenheit geopfert, sie hat das »frohen Herzens« 119 getan, doch für ihn bedeutet ihr Opfer, dass auch er versehrt und unvollkommen ist – und deswegen kann er es nicht annehmen. Es ist ihm lieber, sich vorzustellen, nicht er, sondern jemand anderes hätte diese Seite an Desdemona hervorgeholt. Und so beginnt er sich einzureden, ihre Begierde habe nicht mit ihm zu tun. Es bleibt eine gewisse, ich nehme an, von Cavell wohl gewollte Unschärfe bei der Beschreibung der Vorgänge in Othello. Ähnlich wie die Hochzeitsnacht bleiben sie unseren Blicken entzogen. Othello, dieser Mann, der so viel auf seine eigene Vollkommenheit gibt, kann die Unvollkommenheit, die er in der Liebe findet, nicht aushalten. Folglich kann er die Liebe selbst, so wie sie ist, nicht länger ertragen. In seiner Hingezogenheit zu Desdemona entdeckt er seine eigene Liebesbedürftigkeit, er entdeckt sich damit zum ersten Mal als schwacher, verletzlicher Mann. 120 Ihm gelingt es nicht, ein Selbstbild zu entwerfen, das seine eigene Bedürftigkeit mit einschließt, vielmehr folgt er der ersten Regung seines Charakters, jede Schwäche auszuschließen. Seine Methode ist es, die Wahrheit ihrer gemeinsamen 117 118 119 120
Ebd., S. 777. Ebd., S. 778. Ebd., S. 779. Scheman: A Storied World. On Meeting and Being Met, S. 94.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
Liebe fortan zu leugnen, und er tut das, indem er Desdemonas Liebe, ihre Treue, in Zweifel zieht. Halten wir kurz inne und versuchen das, was Othello geschieht, auf etwas zu beziehen, das, wie ich behaupte, wir alle aus dem Verlauf von Liebesbeziehungen lernen durften. Ich denke, dass es Othello nicht gelingt, das Theater zu überwinden, das am Anfang einer jeden Liebesbeziehung steht. Was ich hier mit Theater meine, ist die einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterliegenden Art und Weise, wie wir uns in der frühen Phase der Liebe oder des Verliebens aufplustern, in der Hoffnung so unsere Anziehungskraft auf den anderen zu erhöhen – umso anziehender jemand ist, desto anziehender wollen wir für ihn sein. In dieser Zeit, die der des eigentlichen Werbens folgt, setzen wir alles daran, bestimmte Bilder von uns im Kopf des anderen entstehen zu lassen. Wir versuchen also an die Vorstellungskraft des anderen zu appellieren, vor allem versuchen wir aber Kontrolle über seine Vorstellungskraft zu gewinnen, denn es ist uns wichtig, dass wir es sind, die die Bilder von uns im anderen gestalten. Diese Bilder müssen nicht im landläufigen Sinne attraktiv sein, sie offenbaren nur, was wir aus irgendwelchen Gründen gerade für »anziehend« halten, was diesen Aspekt menschlicher Beziehungen gelegentlich auch sehr amüsant machen kann. Nur um ein paar Beispiele zu nennen: die erfahrene Weltenbummlerin, der ewig melancholische und unentschlossene Großstädter, die selbstbestimmte und emotional unabhängige Männerfresserin. Das Bild, an dem Othello hängt, ist wie gesagt eines der Macht und der Reinheit. Diese typisierten Bilder sind aber nicht nur an den anderen gerichtet, sondern auch an uns selbst, denn in all dem Chaos versuchen wir mittels ihnen herauszufinden oder festzulegen, wer wir sind. Doch ziemlich schnell werden diese Bilder von uns beim anderen an Kraft verlieren, ob wir wollen oder nicht werden wir weitere Facetten unserer Persönlichkeit offenbaren. Die Unabhängige wird sich vielleicht als hilflos zeigen, der melancholische Zweifler vielleicht als brutaler Egomane. Und der andere wird all das sehen. Er wird sich ein eigenes Bild von uns machen, das seines ist und nicht unseres. Das typisierte Bild des Anfangs muss in einer umfassenderen, komplexeren und mehrdimensionaleren Wahrnehmung unserer Persönlichkeit aufgehen. Nicht selten gibt es ein spezifisches Vorkommnis, durch das wir damit konfrontiert werden, dass wir keine Kontrolle über die Vorstellungskraft des anderen haben – einen Moment, an dem uns klar wird, dass dieses erste Theater nun zu einem Ende kommt. Die Erfahrung, von der ich rede, ist leidvoll, 224 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
denn sie bedeutet zu akzeptieren, dass wir uns selbst offenbaren und sie bedeutet die Demütigung unserer Machtansprüche – die Macht über unser Bild, die Vorstellungskraft der anderen – zu akzeptieren. In einer Beziehung von Dauer wird es nicht das letzte Mal sein, dass das Bild von uns eine Umgestaltung erfährt, doch es ist das erste Mal. Es markiert ein Ende, aber auch den Beginn von etwas Neuem, ich würde sagen: den Beginn wirklich gegenseitiger Liebe. Es liegt also nicht nur Leid, sondern auch Lust in diesem Moment. Es kann selbstverständlich auch das Ende dieser Beziehung bedeuten. Lassen wir es zu, dass der andere uns anders sieht, als wir es intendiert haben? Anders als wir uns selbst je gesehen haben oder sehen wollten? Hier entscheidet sich, ob die Liebe fortbestehen kann. Othello entgeht die Erfahrung, dass ihm ein anderer etwas über ihn lehrt – Schreckliches lehrt, aber auch sehr Schönes. Wenden wir uns noch einmal den zwei entscheidenden Nächten dieses Stückes zu: der Hochzeitsnacht und der Nacht in der Desdemona und Othello sterben. Othellos Idee der Eheschließung und der anschließenden Nacht war die einer unbezweifelbaren, anhaltenden Zusammenkunft, doch Desdemonas Erregung, die ja die ihre war, zeigte ihm die Natur ihres Verhältnisses – dass sie getrennt von ihm ist. Er kann sich nicht vorstellen, abhängig von einem Wesen zu sein, das derart unabhängig von ihm existiert. »Er kann ihr nicht verzeihen, dass es sie gibt, getrennt von ihr, dass sie, selbst seiner Herrschaft entzogen, seines Hauptmanns Hauptmann beherrscht.« 121 Seine Eifersucht bezieht sich nicht auf eine mögliche Untreue, sondern auf die Getrenntheit, auf die Existenz Desdemonas schlechthin. 122 In den Gesprächen mit Jago wird der Teil an ihm angesprochen und befördert, der die Liebe nicht anerkennen, sondern gesichert belegen will. Seine Suche nach sichtbaren Beweisen, sein Drang nach Wissen, ist ein Versuch, im Angesicht der absoluten Machtlosigkeit wieder Macht zu erlangen. Die Seite der Liebe zu ertragen, die ihn zur Passivität verdammt, kann er sich nicht vorstellen, denn das würde bedeuten, dass es nur an Desdemona liegt, ihn zu lieben und er nichts tun kann, als diese Liebe einfach anzunehmen. Er will etwas tun, er will Desdemonas Liebe aktiv in Besitz nehmen. Seine Eifersucht, die sich in einem unstillbaren Wissensdurst und anschließender Gewalt äußert, zeigt, was mit dem Begriff des Wissens unter dem Einfluss des Skeptizis121 122
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 778. Cavell: Disowning Knowledge, S. 9.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
mus passiert: Wissen wird zu In-Besitz-Nehmen. Diese Idee findet Cavell auch bei Heidegger wieder, für den »Wissen« in der Philosophie seit ihren Ursprüngen, aber vor allem seit Beginn des Zeitalters der Technologie, unter der Ägide von Herrschaft steht. 123 Insofern war Othellos ursprüngliche Vorstellung der ersten gemeinsamen Nacht die einer vollkommenen Inbesitznahme. Er setzt den Orgasmus mit dem Tod gleich, denn mit ihm sollte die individuelle Existenz Desdemonas beendet werden. 124 Entsprechend sagt Othello in Bezug auf Desdemonas Entjungferung: »Wenn ich deine Rose abgepflückt habe, kann ich ihr nicht lebendiges Wachstum wiedergeben, sie muss notwendigerweise verwelken.« 125 Othellos Enttäuschung rührt daher, dass die Hochzeitsnacht ins genaue Gegenteil umgeschlagen ist: einer Zurschaustellung der unabhängigen Existenz, der Lebendigkeit Desdemonas. Und es ist sogar so, dass seine Abhängigkeit von ihr und die Lust, die sie aus ihrem sexuellen Zusammenkommen zieht, in ihm das Gefühl entstehen lassen, er sei ihr Besitz. 126 Das Ausgeliefert-Sein in der Liebe ist das, was er nicht aushalten kann und so hält er fest an seiner Phantasie, er möchte die Hochzeitsnacht so vollziehen, wie er sie sich vorgestellt hat. Die Schlussszene des Stückes, in der Othello erst Desdemona erdrosselt und sich dann selbst ersticht, sollten wir genau so verstehen, schreibt Cavell: als Hochzeitsnacht in Othellos Sinne. Sehen wir Othello als Skeptiker, dann müssen wir erkennen, dass er nicht verrückt wird, weil er etwas nicht weiß, sondern weil er zu viel weiß. 127 »Der Inhalt seiner Qual ist das Gefühl, dass ein anderer existiert, folglich auch er selbst existiert, und zwar als abhängig, als ein Teil.« 128 Weil er die Bürde, die dieses von ihm getrennte Wesen für ihn bedeutet, nicht auf sich nehmen kann oder will, verwandelt er sie in etwas, das keinen Anspruch mehr an ihn hat, etwas, das kein Geheimnis mehr in sich trägt, sondern das sich ganz und gar seinem Blick offenbart: eine Leiche. Doch für ihn ist sie nicht erst gestorben, als er sie erstickt hat. Er hat sie schon vorher getötet, mit seinem Zweifel. Der Zweifel war sein Instrument, mit dem er ihre Existenz
123 124 125 126 127 128
Ebd. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 774. Shakespeare: Othello, S. 203 (V. 2). Cavell: Disowning Knowledge, S. 9. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 785. Ebd., S. 780.
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Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
zunehmend verleugnet hat. Er sucht nach sichtbaren Beweisen – Desdemona selbst hat da aber keine Stimme mehr. Als er in der letzten Szene in das gemeinsame Zimmer tritt, spricht er: »Lösch das Licht aus,/und dann lösch das Licht aus« 129, womit er zum Ausdruck bringt, dass er auf keinen Fall aus seinem Albtraum aufwachen will, dass er sich weiterhin von seinen Phantasien beherrschen lassen will. 130 Er tritt an das Bett und erwartet ein Bekenntnis. Ein Bekenntnis zwischen Freunden oder Liebenden kann Wahrheit mit Versöhnung verbinden, ein Neuanfang bedeuten, aber für Othello ist es unmöglich, irgendeine Wahrheit zu hören, denn er hat Desdemona schon längst verurteilt. 131 Nur ein Bekenntnis ihrer Schuld würde er als Bekenntnis gelten lassen. Nicht umsonst rückt Cavell diese Szene in die Nähe eines Hexenprozesses. 132 Um ein Bekenntnis anerkennen zu können, muss man dem anderen Autorität in seinem eigenen Sprechakt zugestehen. Doch Desdemona wird stumm gemacht, sie kann überhaupt nichts mehr sagen. Nur ein Bekenntnis ihrer Schuld würde Othello gelten lassen. Mit den Worten Hermiones aus dem Wintermärchen könnte Desdemona sagen: »Mein Leben hängt von euren Träumen ab.« 133 Sarah Beckwith schlägt vor, Shakespeares tragische Helden als Vertreter einer Privatsprache zu sehen. Sie leugnen die Öffentlichkeit der Sprache und machen sie zu einem Privatbesitz. Damit wollen sie auch die ganze Welt zu ihrem Privatbesitz machen. Was aber passiert, ist, dass sie ihre ganze Welt verlieren. 134 So entspricht es nur dieser schrecklichen Logik, dass am Ende nicht nur Desdemona, sondern auch Othello tot ist. »Die beiden Körper, wie sie zusammen daliegen, ergeben ein Sinnbild dieser Tatsache, der Wahrheit des Skeptizismus. Was diesem Mann gefehlt hat, war nicht Gewissheit. Gewusst hat er alles, aber er hat sich dem, was er wusste, nicht überlassen, sich davon beherrschen lassen können. Für seinen Geist hat er zuviel herausgefunden, nicht zuwenig. Was sie voneinander
Shakespeare: Othello, S. 201 (V. 2). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 773. 131 Beckwith, Sarah: »William Shakespeare and Stanley Cavell. Acknowledging, Confessing and Tragedy«, in: Elridge, Richard/Rhie, Bernard (Hrsg.): Stanley Cavell and Literary Studies. New York 2011, S. 135. 132 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 784. 133 »My life stands on the level of your dreams«. Shakespeare, William: Das Wintermärchen. Cadolzburg 2008, S. 92. 134 Beckwith: William Shakespeare and Stanley Cavell. Acknowledging, Confessing and Tragedy, S. 134 f. 129 130
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unterschieden hat – indem der eine alles ist, was der andere nicht ist –, ergibt ein Sinnbild menschlicher Getrenntheit, das man als solches als selbstverständlich akzeptieren mag oder auch nicht. Wie die Trennung von Gott oder von überhaupt allem, das wir nicht sind.« 135
Othello hat gewusst, dass Desdemonas Liebe existiert, aber er konnte seiner Schwäche, die er in der Liebe fand, nicht standhalten. Man könnte sagen, er musste sterben weil er nicht schwach sein konnte. Schwach zu sein hätte bedeutet die eigene Endlichkeit, die Grenzen der eigenen Macht anzuerkennen. Doch das gelingt ihm nicht. Stattdessen können wir bei ihm beobachten, wie seine Einbildungskraft eine »Auflösung der Realität in Deckgeschichten« vollzieht, genauer in jene »Schutzdichtungen des Skeptizismus.« 136 Othello hat damit die Welt, und alles darin, was natürlich vor allem Desdemona meint, zu einem Objekt des Wissens gemacht, weil er glaubte so eine dauerhafte Verbindung zu ihr aufrechterhalten zu können und Kontrolle über all das zu gewinnen, von dem er sich so abhängig fühlte. Sich die Welt als Objekt des Wissens vorzustellen heißt, sich als einzige Quelle der Bedeutung zu akzeptieren, heißt zu verschleiern, wie sehr unsere Existenz, unser Platz in der Welt, davon abhängt, dass wir von anderen erkannt und verstanden werden. Wir müssen es zulassen, einen Platz in der Welt zu bekommen. Das ist nichts, das wir allein, durch die Kraft unserer Hände und unseres Kopfes tun können. 137 Cavell argumentiert wie gesagt dafür, dass wir bei Shakespeare ein Wirken des Skeptizismus cartesischer und nicht Montaigne’scher Prägung erkennen können. Nichtsdestotrotz wendet er sich am Ende seiner Betrachtungen zu Othello Montaigne (1532–1592) zu und findet in einigen seiner Essays in sehr konzentrierter Form eine Vielzahl der Themen, die auch in dem Stück vorkommen, und darüber hinaus natürlich auch eine Moral, die Montaigne aus ihnen zieht und die somit auch als die Moral des Stückes verstanden werden könnte. Diese wenigen Anmerkungen zu Montaigne sind die ausführlichsten, die Cavell je zu ihm macht. Sie sind für uns so erhellend, weil er hier weniger das Verhältnis von Shakespeare und Montaigne beleuchtet, als seine eigene Position noch einmal deutlich macht, indem er sich von Montaigne abgrenzt. Der Einfachheit halber zitiere ich die Passa-
135 136 137
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 785. Bronfen: Stanley Cavell, S. 186. Scheman: A Storied World. On Meeting and Being Met, S. 94.
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Unerträgliche Abhängigkeit – »Othello«
ge, in der Cavell seine Sichtweise auf Montaigne im Zusammenhang mit Othello darlegt, in voller Länge: »[W]as man die Philosophie oder Moral des Stückes nennen könnte, scheint schon nahezu in dem Essay enthalten, den Montaigne mit Betrachtungen über einige Verse Vergils betitelt, etwa in einer Bemerkung wie dieser: Welch ungeheures ist Thier, das sich am selbsten eine Abscheu ist, sein Vergnügen nicht ertragen kann, und sich selber unglücklich machet. Der Essay handelt von der Vereinbarkeit der Geschlechtsliebe mit der Ehe, der Geschlechtsliebe mit dem Alter. Er enthält Bemerkungen über Eifersucht, Keuschheit, Einbildung, Zweifel an der Jungfräulichkeit, über die Beziehungen zwischen all dem, über die Kraft der Sprache und die Rechtschaffenheit der Sprache. Erwähnung finden auch ein Türke und gewisse Fälle von Nekrophilie. Man hat geradezu sämtliche Themen des Othello versammelt, wenn man noch Montaignes frühen Essay Von der Stärke der Einbildungskraft hinzunimmt, wo ein Mohr vorkommt und von einem ägyptischen Herrscher die Rede ist, der, als er sich seiner Braut gegenüber impotent fand, gedroht habe, sie zu töten, weil er der Meinung war, es sei Zauberei.« 138
Montaignes Moral, so Cavell, könnte man nun in dem finden, was Othello in seinem letzten Monolog äußert, nämlich dass er jemand ist, »der nicht weise, sondern zu sehr liebte.« 139 Cavell führt Montaignes Moral so aus: »… dass nämlich all diese Themen dem Denken und der Mäßigung zum Stoff gereichen sollten, nicht der Qual und der Mordtat, dass sie dem Kummer und dem Lachen ebenso anstehen wie dem Mitleid und dem Schrecken; dass sie gar nicht tragisch sind, es sei denn, man macht sie dazu, hält sie dafür; dass wir tragisch sind in dem, was wir tragisch nehmen; dass man seine eigenen Unvollkommenheiten mit Weisheit, aber einer muntern und geselligen tragen soll (so Montaigne in Von der Erfahrung, dem Schlussessay), nicht mit düsterer und misanthropischer Eloquenz. Es ist der Rat, das eigene Menschsein anzunehmen.« 140
Dieser Ratschlag zur Mäßigung und zu distanziertem Humor ist ohne Frage edel. Doch Cavell erscheint er vielleicht ein bisschen zu edel. Können wir wirklich von unseren tiefen Wünschen nach Vereinigung, der Enttäuschung dieses Wünschens, unserem Zweifel, unseren quälenden Phantasien dauerhaft Abstand nehmen? Wird hier 138 139 140
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 782. Shakespeare: Othello, S. 225 (V. 2). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 782.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
das Interesse, das wir an diesem Leben haben, unterschlagen? Cavell hegt den Verdacht, dass in Montaignes Haltung der Mäßigung und der Distanz immer noch der Wunsch, oder der Schatten des Wunsches, steckt, ein Ausnahmemensch zu sein, also der Wunsch der auch Othello umtrieb und ihn ins Verderben stürzte. 141 Sich selbst als einen Ausnahmemenschen vorzustellen ist eine Weise, das eigene gewöhnliche Menschsein nicht anzunehmen. Montaigne, so scheint zumindest Cavell ihn zu verstehen, versucht die Vision einer anhaltenden Seelenruhe zu erschaffen. Das ist eine Vorstellung von Unschuld, die Othellos Traum von Unschuld nicht unähnlich ist. Und Cavell muss diese Vision anzweifeln, er muss fragen, ob sie wirklich »echt« ist, denn für ihn kann es nie zu einer solch andauernden Ruhe kommen. Durch seine Lektüre Wittgensteins hat Cavell die Überzeugung gewonnen, dass unser Leben ein alltägliches Ringen mit dem Skeptizismus bleiben muss, ein Ringen mit eben unseren unerfüllbaren Wünschen und Ansprüchen, unseren Enttäuschungen, unserem Zweifel und unserer mächtigen Einbildungskraft, ein Ringen, in dem es im besten Fall immer wieder zu einzelnen, erkämpften, wunderbaren Momenten der Ruhe kommen kann. Eine Leugnung dieses Ringens, eine Leugnung unserer Wünsche und Verzweiflungen wäre für Cavell schlichtweg die Verleugnung unserer Menschlichkeit. Bei jemandem wie Othello, glaubt Cavell, wird Montaignes Ratschlag sowieso keine Wirkung haben, die Tiefe seiner Sehnsucht nicht berücksichtigt. Der Ruf nach Mäßigung ist damit nutzlos bei denen, die ihn am nötigsten haben. 142 Cavell denkt also nicht, dass unser unmäßiges Wünschen, auch wenn es nicht erfüllt werden kann, einfach zurückgeschmettert werden sollte. Das Menschliche darf nicht einfach abgewiesen werden. Unsere individuellen und vorübergehenden Antworten auf den Skeptizismus müssen demnach die Tiefe unseres Wünschens nach Vereinigung, und auch nach Macht, miteinbeziehen. Das Schwierige an dieser Philosophie ist, dass wir nie wissen können, wie diese Antworten aussehen werden, denn wie soll das Unendliche je in das Endliche eingehen? Montaignes Ratschlag ist, wie wir später noch sehen werden, dennoch alles andere als nutzlos für Cavell, denn er zeigt, dass die Haltung des Lachens, die der Komödie eine genauso angemessene
141 142
Ebd., S. 783. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 762.
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Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen«
Haltung gegenüber unserem Leben ist, wie die Haltung des Schreckens, die der Tragödie. 143
IV.3 Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen« Cavell versteht Shakespeares spätes Stück Das Wintermärchen als einen Kommentar zu dem früheren Othello, oder besser gesagt: Er liest die beiden Stücke so, als würden sie sich gegenseitig kommentieren. 144 Aus dieser Parallelisierung resultiert, dass manche Thematiken, die in dem einen Stück nur angedeutet werden, von dem anderen voll ausgeführt werden, wodurch die skeptizistischen Motive in beiden Stücken deutlicher hervortreten. Zunächst einmal stehen sowohl im Wintermärchen als auch in Othello Männer im Zentrum der Geschehnisse, deren verzehrende Eifersucht sie in den Wahnsinn treibt. Die Zweifel an der Treue ihrer Frauen wird von Cavell jedes Mal als ein gelebter Skeptizismus interpretiert, der jedoch nur den tieferen Wunsch verdeckt, die unabhängige Existenz des anderen zu leugnen oder zu negieren. Leontes sowie Othello verpassen beide die Chance, die Andersheit und Getrenntheit ihrer Frauen zu akzeptieren und können somit auch das Wissen, das sie von ihnen haben, nicht anerkennen. Das, was sie jederzeit selbst sehen können wird bedeutungslos für sie. Doch nicht nur durch die Ähnlichkeiten wird Das Wintermärchen zu einem Kommentar von Othello, sondern gerade durch einen entscheidenden Unterschied. Während Othello eine Tragödie ist, wird Das Wintermärchen zu den Tragikomödien oder Romanzen Shakespeares gezählt. Tatsächlich ist es zweigeteilt: In Akt I bis III entfaltet sich der tragische Wahnsinn der Eifersucht, mit dem man es auch in Othello zu tun hat, was dann jedoch in Akt IV und V überraschenderweise erst in eine »großartige pastorale Feier der Natur« 145 und dann in eine Vergebungszeremonie mündet. Dass Das Wintermärchen der Tragödie eine Wendung zum Guten schenkt, erinnert uns daran, dass es nicht so ausgehen muss wie bei Othello oder Lear, dass die Dinge auch einen anderen Lauf nehmen können, dass es uns möglich ist, die Richtung zu ändern, was dann, wenn es geschieht, wie ein Wunder 143 144 145
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 238. Bronfen: Stanley Cavell, S. 180. Cavell: Cities of Words, S. 453.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
aussehen muss. 146 Die zweite Hälfte des Wintermärchens sucht nach Antworten auf die in seiner ersten Hälfte – und in Lear und Othello – aufgeworfenen Fragen. 147 Deswegen können wir hier auch beobachten, inwiefern die Romanze eine Antwort auf die Tragödie darstellt. 148 Denn während sich in der Tragödie der Skeptizismus entfaltet, wird er in der Romanze oder Tragikomödie – vorerst – zurückgewiesen. 149
Versteinerte Körper Ein für Cavell zentrales Element von Othello und dem Wintermärchen ist, dass wir in beiden Stücken eine ziemlich genaue Darstellung davon bekommen, was mit dem Körper unter dem Einfluss des Skeptizismus geschieht. Hermione teilt mit Desdemona das Schicksal, durch den Zweifel ihres Mannes in Stein verwandelt zu werden. Othello betritt des Nachts seine Gemächer, wo seine Frau friedlich im gemeinsamen Bett schläft, in dem sie kurz darauf durch seine Hände sterben wird. Wie er sie dort liegend betrachtet, denkt er: OTHELLO: »[…] doch werde ich ihr Blut nicht vergießen und auch nicht diese Haut verunstalten, die weißer ist als Schnee und glatt wie Grabalabaster; doch muss sie sterben.« 150
Auch wenn das hier in der deutschen Übersetzung verwendete Grabalabaster durchaus passend ist, weil es von Desdemonas kommendem Tod kündet, heißt es im englischen Original doch »monumental alabaster« – Denkmalsalabaster, und das wiederum trifft es besser, worauf Othellos Gedanken hinauslaufen. Um Desdemona töten zu können, muss er sie gedanklich in eine Statue verwandeln, in »kalten gemeißelten Marmor« 151, denn wäre sie ein Mensch, dann müsste man seine Tat einen Mord nennen. Er verwandelt sie also, um sein grausames Tun rechtfertigen zu können und um sich von den Ansprüchen zu befreien, die ein echter Mensch – ein Mensch, wie er 146 147 148 149 150 151
Ebd. Trüstedt: An Art Lawful as Eating, S. 107. Cascardi: Cavell on Shakespeare, S. 203. Bronfen: Stanley Cavell, S. 168. Shakespeare: Othello, S. 201 (V. 2). Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 762.
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Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen«
einer ist – an ihn hätte. So gelingt es ihm auch, den wahnsinnigen Schluss zu ziehen, er könne sie töten, ohne ihr Blut zu vergießen. Wie wir aber im Kapitel zuvor gesehen haben, hatte er Desdemona schon zuvor keine volle Menschlichkeit mehr zugesprochen, denn weder akzeptierte er ihre Stimme, noch gestand er ihr irgendein Sein jenseits seiner eigenen Vorstellung zu. Was nur in Othellos Phantasie geschieht, wird für Leontes im Wintermärchen Realität: Hermione wird zu einer Statue. Selbst wenn man ihre Versteinerung nur als seine Projektion verstünde, würde das bedeuten, dass der Skeptizismus und die damit einhergehende Leugnung eines anderen diesen anderen zu Stein macht. Es gilt immer nach den Gründen zu fragen, warum jemand wünscht, dass ein anderer aus dem Leben verschwindet. Im Falle des Wintermärchens muss man dann darüber hinaus noch fragen, wie jemand, so wie Hermione, ins Leben zurückkehren kann. An erster Stelle steht hier wohl die Erkenntnis Leontes’, dass er es war, der sie versteinern ließ. 152 Ein weiteres Verbindungsstück zwischen Othello und dem Wintermärchen ist, dass sowohl Leontes als auch Othello die weibliche Sexualität als Herausforderung erleben. 153 Ihren Wunsch, ihre Frauen mögen zu leblosen Statuen werden, kann man auch aus ihren Schwierigkeiten mit der lebendigen weiblichen Sexualität herleiten. Dass sich der Skeptizismus bei diesen Männern im Bereich des Sexuellen entfaltet, lässt vermuten, dass eben dieser Bereich ein bevorzugter Schauplatz des lebensweltlichen Skeptizismus ist. Die Existenz oder das Auftreten der weiblichen Befriedigung wird dann zum essentiellen Objekt der skeptischen Frage: »Ist sie befriedigt und richtet sich ihre Befriedigung auf mich?« 154 Für Leontes und Othello gibt es keine Erlösung jenseits einer positiven Beantwortung dieser Frage. Also versuchen sie, eine solche Antwort anhand einer skeptischen Untersuchung zu finden. Doch so eine Antwort, schreibt Cavell, kann nicht einfach mithilfe eines intellektuellen Prozesses ermittelt oder auf der Basis der eigenen Sinne bestimmt werden. Sie muss mir von jemand anderem gegeben und geschenkt werden – und dann schließlich von mir angenommen werden. Dieses Geschenk, der Beweis ab-
152 153 154
Ebd. Hammer: Stanley Cavell, S. 83 f. Cavell: Disowning Knowledge, S. 35.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
soluter männlicher Aktivität, erfordert die Akzeptanz absoluter Passivität auf Seiten des Mannes. 155 Die Befriedigung der Frau entzieht sich den Sinnen des Mannes, sie geschieht, wie Cavell sagt, in seiner Abwesenheit. 156 Das bedeutet natürlich nicht, dass es für ihn nichts zu sehen, hören, fühlen und schmecken gäbe, sondern dass all diese sinnlichen Erfahrungen nicht als Grundlage eines gesicherten Beweises der Existenz und der Natur ihrer Befriedigung dienen können. Der Mann ist von der Sexualität der Frau unendlich ausgeschlossen, er kann niemals sie sein, nie spüren, was sie spürt, die Grenzlinie zwischen ihnen ist hier ganz klar. Natürlich können wir uns austauschen, unsere Empfindungen kommunizieren, doch anders als zum Beispiel bei einem Gespräch über Zahnschmerzen, kann man bei einem Gespräch über männliche und weibliche Sexualität nicht aus physiognomischen Ähnlichkeiten und aus Ähnlichkeiten der Erfahrung schließen, dass wir auch etwas Ähnliches empfinden. Damit ist nicht behauptet, dass wir uns sicher sein können, dass andere den gleichen Zahnschmerz haben können oder dass alle Männer ihre Sexualität ähnlich erfahren, sondern dass in der Sexualität zwischen Mann und Frau ganz offensichtlich wird, dass wir uns nicht allein auf Ähnlichkeiten berufen können, wenn es um die Anerkennung von Empfindungen anderer geht. Der Unterschied zwischen einem Gespräch über Zahnschmerz und einem Gespräch, das ich als Mann über das weibliche Erfahren des weiblichen Orgasmus führe, ist der, dass meinem Gesprächspartner jederzeit klar sein muss, dass die Kriterien, die ich im zweiten Falle verwende, nur kommunikativ vermittelt sind. Spreche ich über Zahnschmerz, dann werde ich auf meine Erfahrungen mit Zahnschmerz zurückgreifen, spreche ich über den weiblichen Orgasmus, dann werde ich auch auf meine Erfahrungen zurückgreifen, aber auf meine Erfahrungen als Mann. Alles, was ich darüber weiß, habe ich aus einer Außenperspektive erlebt oder vermittelt bekommen. Ich kann meinen Begriff, meine Kriterien von weiblicher Sexualität im Laufe meines Lebens durch einfühlsame und interessierte Gespräche erweitern, doch meine (Außen-)Position nie ändern. Wenn ich dagegen bis dato noch nie Zahnschmerzen hatte, dann irgendwann Zahnschmerzen, das was wir »Zahnschmerzen« nennen, bekomme, wird mich das in eine andere Position versetzen. Ich werde mich ab jetzt immer daran erinnern 155 156
Ebd. Ebd.
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Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen«
können, wie es sich anfühlt, Zahnschmerzen zu haben. Ich weiß trotzdem nicht mit absoluter Gewissheit, was die anderen fühlen, wenn sie Zahnschmerzen haben. Ich kann aber auf keinen Fall sagen, etwas erlebt zu haben, das wir »weiblichen Orgasmus« nennen. Ich kann die Kriterien für »weiblichen Orgasmus«, so sehr ich das vielleicht auch bedauern mag, nicht erfüllen. Wir können also zusammenfassen, dass die Sexualität zu den Bereichen gehört – sie ist nicht der einzige, aber vielleicht der wichtigste –, die uns unaufhörlich daran erinnern, wie das, was wir »wissen«, kommunikativ vermittelt und nicht selbst erfahren ist, was auch immer »selbst erfahren« in unseren verschiedenen Belangen bedeutet. Worauf ich hinaus will ist, dass die weibliche Sexualität einem Mann wie ein versteckter, nicht betretbarer Raum vorkommen kann. Für Othello oder Leontes ist sie das ganz sicher. Der Schock des Ausgeschlossen-Seins wiegt hier aber gerade deswegen so schwer, weil in der Nähe von zwei Körpern stets die Hoffnung und das Versprechen auf Zusammensein, eine Ahnung von Vereinigung liegt, so als könnte die Trennlinie zwischen uns hier doch verschwimmen, als könnten in diesem Moment absoluter Menschlichkeit die Bedingungen des Menschlichen aufgehoben werden und wir über unser Menschsein hinauswachsen. Wenn im Skeptizismus Wissen als die Verletzung der Privatheit des anderen konzipiert wird, weil man es als Überschreitung der eigenen Begrenzungen und der Begrenzungen des anderen begreift, dann kann das Sexualleben als Ort verstanden werden, an dem diese Vorstellung von Wissen ausgelebt werden soll, weil hier ebenfalls die Grenzen zwischen dir und mir überschritten werden sollen. 157 Aber einen solchen Ort gibt es auf Erden nicht. Der Moment, in dem wir zusammenkommen, ist eben menschlich und wird uns immer wieder nur auf das Menschliche zurückwerfen. Der Wunsch nach absolutem Eins-Sein mit den Empfindungen des anderen muss enttäuscht werden und wir laufen stets Gefahr, aus dieser Enttäuschung heraus den gefährlichen, gegenteiligen Schluss zu ziehen: dass die Empfindungen des anderen absolut versteckt seien. Cavell zeichnet die Region des Begehrens, der Lust und des Verlangens als einen Ort, in dem Phantasien der Verschmelzung mit Ideen und Ängsten des Ausgeschlossenseins diffus durcheinander wirken. Eine glückliche sexuelle Partnerschaft würde all diese Wünsche und Ängste in sich aufnehmen, sie anerkennen, es zum Teil ihres 157
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 745.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
Spiels machen, dass es Wünsche gibt, die nie ganz befriedigt werden können, und Ängste, die man nie ganz beseitigen kann. In einer solchen Partnerschaft würde das gelegentliche, schmerzliche Scheitern der Anerkennung mit einem neuen Versuch beantwortet werden, einer wiederholten Bereitschaft, sich gegenseitig neu zu verstehen, neu zu sehen, neu zu behandeln. Natürlich wäre so eine Beziehung nicht davor gefeit, durch schwerwiegende Irritationen, die aus unseren Ängsten und Sehnsüchten entstehen, erschüttert oder sogar zerstört zu werden. Doch sie existiert nicht trotz, sondern im Angesicht dieser Möglichkeit, sie hat sie als für uns Menschen natürlich verinnerlicht. Sexualität würde dann als eine unendliche und fröhliche Suche begriffen, eine Suche danach, wie wir noch beisammen sein können, nachdem unsere anmaßendsten Begehren zurückgewiesen wurden und wir unsere Furcht nicht länger leugnen. Es wäre eine Suche nach Momenten der Beruhigung dieser an uns zerrenden und von uns zehrenden Kräfte. Sie muss unendlich sein, weil die Beruhigungen eben immer nur momentan sein können. Leontes ist es unmöglich, ein neues Beisammensein mit Hermione zu entdecken, denn sie könnte nur die seine sein, wenn er es zulässt, was bedeuten würde, auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihr Begehren zu entlocken. Doch das ist es genau, was seine Eifersucht verhindert. Durch sein Verhalten gelingt es ihm überhaupt nicht mehr, sich selbst in eine Position zu bringen, aus der er als ihr Mann ihr Begehren entfachen könnte. Anstatt anzuerkennen, dass Intimität des Zuerkennens und Zulassens von Getrenntheit bedarf, wird Leontes in die Logik von Rache hineingezogen. Sein Wunsch nach Einigkeit und Eins-Sein, der Wunsch zu besitzen, ist es, der die Distanz zwischen ihm und seiner Frau immer größer werden lässt. 158 Anhand der Shakespeare-Tragödien will Cavell zeigen, »wie die menschliche Sexualität das Feld ist«, auf dem unsere existenzielle Endlichkeit ausgearbeitet wird, wie hier unsere Wünsche und Phantasien verhandelt werden und wir neue Möglichkeiten des Beisammenseins entdecken oder diese Chance verpassen können, »wie es mit dem menschlichen Getrenntsein genauso gut eine grandiose wie eine entsetzliche Wendung nehmen kann, wie das Schöne und das Abscheuliche hier durcheinanderspielen.« 159
158 159
Hammer: Stanley Cavell, S. 83 f. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 779.
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Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen«
Der Skeptiker als Nihilist Genau wie Othello also zieht Leontes im Wintermärchen die Treue seiner Frau in Zweifel, allerdings tut er es über den Umweg der Frage, ob seine Kinder wirklich die seinen sind. Er hat mit Polixenes einen glaubwürdigeren Nebenbuhler als Othello mit Cassio. Dennoch ist sein Wahnsinn gewissermaßen reiner als der Othellos, denn er benötigt keinen Jago, der ihn anstachelt. 160 Leontes Alptraum ist ganz und gar sein eigen, sozusagen hausgemacht. Es gibt keinen Grund für seinen Zweifel. Gleichwohl gibt es einen Grund für ihn, zweifeln zu wollen. Als Leontes sich zum ersten Mal im Stück an seinen Sohn wendet, fragt er ihn direkt ob er sein Junge sei: LEONTES:
[…] Mamilius Bist du mein Junge?
MAMILIUS: Ja, mein guter Herr. LEONTES:
Ehrlich: Also, du bist mein prächtiges Kerlchen. Was! Hast du dir die Nase schmutzig gemacht? Man sagt, sie eine Kopie der meinen. Komm, Schlingel, Wir müssen reinlich sein; nicht reinlich, sondern sauber; Schlingel: Und doch nennt man den Stier, die Kuh und das Kalb, alle Hornvieh. Immer noch Virginal spielen Auf seiner Hand! Wie nun! Ihr übermütiges Kalb! Bist du mein Kalb?
MAMILIUS: Ja, wenn ihr wollt, Mylord. LEONTES:
160
Dir fehlen ein zottiger Kopf und die Schößlinge, die ich habe, Um ganz wie ich zu sein; doch sagt man, wir ähneln uns Fast wie ein Ei dem andern; Frauen sagen das, (die alles mögliche sagen). Aber wären sie falsch Wie zu oft gefärbte schwarze Kleidung, wie Wind, wie Wasser; falsch Wie dessen Würfel zu wünschen sind, Der keine Grenze setzt zwischen Sein und Mein, doch wäre es wahr zu sagen, Dieser Junge sei mir ähnlich. Kommt, Herr Page,
Ebd.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
Schaut mich mit Eurem himmelblauen Auge an: süßer Spitzbube! Mein Allerliebster, Stück von meinem Fleisch! Kann deine feine Mutter? – kann es sein? Wollust! Dein Bestreben sticht mitten durch: Du machst Dinge möglich, die man nicht für möglich hält; Ähnelst dem Wesen von Träumen; – wie kann das sein? – Mit dem, was unwirklich ist, wirkst du zusammen Und hast Nichts zum Gefährten: dann ist es sehr glaubhaft, Dass du dich mit Etwas zusammentust; und das tust du (Und über deine Vollmacht hinaus), und ich finde es heraus (Und das zur Entzündung meines Hirns und zur Verhärtung meiner Brauen). 161
Ich habe diesen Dialog, der sich in einen Monolog Leontes verwandelt, so ausführlich zitiert, weil er deutlich vorführt, wie Leontes sich zunehmend in seinen eigenen, für andere nicht nachvollziehbaren Gedanken verstrickt und sich scheinbar wirr vor sich hin brabbelnd von den Menschen um ihn herum isoliert, sogar von denen, die ihm am nächsten stehen. Entsprechend wird Hermione später sagen: »Sir, ihr sprecht eine Sprache, die ich nicht verstehe.« 162 Nur seine Qual ist für die anderen ersichtlich. In diesen Zeilen, den Worten Leontes, wird erfahrbar, was Cavell »Shakespeares Pathos« nennt, »die Möglichkeit einer schlichten Traurigkeit, die ausreicht, eine leere Welt zu füllen.« 163 So wirr diese Auslassungen auch wirken mögen, so folgen Leontes Gedanken doch einer bestimmten Struktur. Zuerst fragt er, ob Mamilius sein Junge ist, dann später noch einmal: »Bist du mein Kalb?« Er beginnt nach Ähnlichkeiten der Physiognomien zu suchen, vergleicht erst seine Nase mit der seines Sohnes, danach ihre Köpfe. Natürlich muss er feststellen, dass sie nicht komplett gleich sind. Anschließend ruft er gedanklich Aussagen auf den Plan, die die Ähnlichkeit von ihm und Mamilius bestätigen – »doch, sagt man, gleichen wir uns wie Wassertropfen; Weiber sagen’s« –, aber nur um im nächsten Schritt den Wert der Meinungen anderer wieder zu verwerfen. So versichert er sich selbst mehrmals die Vernünftigkeit seines Zweifels und verfestigt ihn auf diese Weise. Schlussendlich führen Shakespeare, William: Das Wintermärchen. Stuttgart 1987, S. 17 ff. (I.2). Ebd., S. 79 (III.2). 163 Cavell, Stanley: »Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens«, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt 2002, S. 159. 161 162
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Von der Tragödie zur Komödie – »Das Wintermärchen«
ihn seine Gedanken zu seinen Träumen. Spätestens hier sollte klar werden, warum diese Rede eines Wahnsinnigen Cavell frappierend an die Denk-Manöver Descartes’ in den Meditationen erinnert. Descartes war sich ja selbst bewusst, dass sein Zweifel ihn in die Nähe von Wahnsinnigen rückt. 164 Was unterscheidet nun aber Descartes von dem wahnsinnigen Leontes? Cavell antwortet darauf, dass es für Leontes eine Heilung gibt, nämlich indem er seinen Sohn als den seinen anerkennt, während bei Descartes die Sache komplizierter oder vielleicht gar nicht lösbar ist: »Anzuerkennen, dass die Welt existiert, dass man selbst weiß, dass sie einem gehört, ist kein besonders klarer Prozess. Descartes’ Entdeckung des Skeptizismus zeigt, so könnte man sagen, wodurch der Wahnsinn Leontes’ möglich wird oder wodurch er das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung beispielhaft vor Augen zu führen vermag.« 165
Cavell erkennt Descartes also als jemanden, der die skeptizistischen Grundlagen beschreibt, auf denen sich ein schrecklicher Skeptizismus wie der Leontes’ entwickeln kann. Allerdings wäre Cavells Argument an dieser Stelle verständlicher gewesen, hätte er nicht versäumt zu erwähnen, dass der Unterschied zwischen Leontes und Descartes vor allem der ist, dass Descartes seinen Zweifel nicht voll ausagieren kann. Wie wir zuvor – in Kapitel I – gesehen haben, ist ein umfassender Zweifel an der materiellen Welt wie der Descartes’ nicht lebbar. Sein Problem ist allgemeinerer Natur als das Leontes’, er erforscht die immer anwesende skeptische Möglichkeit oder Gefahr, vor deren Hintergrund sich extreme Fälle wie der Leontes’ entwickeln können. Wir finden aber bei Descartes und Leontes dieselbe Grundstimmung vor, aus der heraus die beiden sich von der Welt isolieren. Wenn auch nicht so augenscheinlich wie bei Descartes, so ist Leontes Abgeschnitten-Sein von der Welt, die ihn umgibt, an dieser Stelle bereits erheblich. Anhand von Kriterien wie der Ähnlichkeit der Nasen oder der Köpfe versucht er zu ermitteln, ob Mamilius wirklich sein Kind ist. Wie wir aus Cavells Beschäftigung mit dem Wittgensteinschen Kriterium gelernt haben, können uns Kriterien aber nur sagen, wie etwas beschaffen ist, nicht ob etwas existiert. Mit den Kriterien haben wir einen gemeinsamen sprachlichen Raum geschaffen, 164 165
Ebd. Ebd. S. 160.
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IV. Die Versuchung des Skeptizismus – Cavell und Shakespeare
in dem wir sagen können, was als was zählt. Unsere Kriterien sagen uns, wie wir die Gegenstände dieser Welt genannt haben. Wir haben Kriterien, die uns sagen, dass das dort als Stuhl zählt, jenes als Haus und dieser als ein Mensch. Wir haben jedoch keine Kriterien, mit denen wir die Existenz von etwas mit absoluter Gewissheit feststellen können. Aus dieser Tatsache resultiert das, was Cavell die Enttäuschung über das menschliche Wissen nennt. Kriterien funktionieren nur solange, wie wir anerkennen, dass wir sie teilen, anerkennen, dass es ein »Wir« gibt, das diese Kriterien teilt, was heißt, dass wir die Existenz anderer anerkennen. Leontes will das aber nicht anerkennen, sondern er will es wissen. Seine Anwendung von Kriterien muss ihn zwangsläufig enttäuschen, woraus er schließt, dass er sein Kind nicht als sein Kind anerkennen muss. Mit dieser falschen Anwendung der Kriterien verlässt er sozusagen den geteilten sprachlichen Raum, in dem wir gemeinsam kommunizieren. Er kündigt seine Übereinstimmung mit anderen auf und wird damit unverständlich. 166 Er verliert die Fähigkeit zu sagen, was als was zählt, was bedeutet, dass er die Fähigkeit zu sprechen, mit anderen zu sprechen, gänzlich einbüßt. Er kann ihnen nichts mehr mitteilen – und sie ihm nicht mehr, denn egal was sie ihm auch sagen würden: Unter seinen Bedingungen gibt es nichts, das ihm beweist, dass Mamilius sein Sohn ist und dass seine Frau von ihm schwanger ist. 167 »In dem Zustand, in dem Leontes sich befindet, kann ihm niemand antworten, denn es ist genau dieser Zustand, in dem man sein Abgestimmtsein mit anderen hinsichtlich der sprachabhängigen Kriterien bestreitet. So präsentiert man uns hier ein Porträt des Skeptikers, der gerade erlebt, wie sich die Welt seinem Zugriff entzieht, ein Porträt, das im Übrigen dem des stammelnden, kraftlosen Othello entspricht […]« 168
Genau wie Descartes oder Hume, die meinten, mehr als andere zu wissen, weil sie selbst hinter die Bedingungen des Wissens geblickt haben, konzipiert sich Leontes ab jetzt als jemand, der etwas erkannt hat, das anderen verborgen blieb und dessen Existenz fortan von diesem Wissen vergiftet ist. 169
166 167 168 169
Hammer: Stanley Cavell, S. 84. Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 161 ff. Ebd., S. 163. Ebd., S. 152.
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LEONTES:
»Eine Spinne mag In den Becher getaucht sein, und man kann trinken, davongehen Und doch kein Gift aufnehmen (denn das Wissen Ist nicht angesteckt); aber wenn man Den abscheulichen Inhalt dem Auge präsentiert, bekanntmacht, Was man getrunken hat, sprengt es einem die Gurgel, die Seiten vor heftigen Würgen. Ich habe getrunken und die Spinne gesehen.« 170
Das Wissen, die Spinne, die Leontes erblickt hat, ist natürlich die Tatsache, dass unser Wissen von unserer gegenseitigen Anerkennung abhängt – ein Wissen, das gewöhnlicher nicht sein kann, denn wir alle müssen es verinnerlicht haben, wenn wir Sprache benutzen. Die Konsequenz, die er aus diesem »neu entdeckten« Wissen meint ziehen zu müssen, lautet, dass er gar nichts mehr weiß. Das findet Ausdruck in einer Rede, in der er sich als Nihilist enthüllt, der es zulässt, dass seine Welt und er mit ihr von einem allumfassenden Skeptizismus verzehrt wird, bis nichts mehr übrig bleibt als ein Nichts: LEONTES:
»Dann ist die Welt und alles, was in ihr ist, nichts, Der verdeckende Himmel ist nichts, Böhmen nichts, Meine Frau ist nichts, und nichts haben diese Nichtse, Wenn dies nichts ist.« 171
Wie kann jemandem wie Leontes, der nichts mehr sagen und dem nichts mehr gesagt werden kann, für den es keine Bedeutung gibt, weil er nichts mehr Bedeutung geben kann, noch geholfen werden? Um zu verstehen, wie es zu der wundersamen Versöhnung kommen kann, die am Ende des Stückes steht, muss man verstehen, was Leontes eigentlich quält. Wie Cavell schon zuvor häufig beschrieben hat, hält er ein Scheitern des Wissens, wie es Leontes scheinbar widerfährt, für ein eigentliches Scheitern der Anerkennung. Leontes ist demnach nicht unwissend – er will nicht wissen, er leugnet etwas. 172 Das heißt, er will die Auslöschung, die durch seinen Zweifel geschieht – die Auslöschung seiner Frau, seiner Kinder, seine eigene.
170 171 172
Shakespeare: Das Wintermärchen, S. 43 (II.1). Ebd., S. 29 (I.2). Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 163.
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Für Othello war es die Hochzeitsnacht, die in ihm die verhängnisvollen Entwicklungen in Gang setzte. Im Wintermärchen identifiziert Cavell gleich zwei Schlüsselszenen für Leontes’ Skeptizismus. Hermione bittet Mamilius darum, ihr eine Geschichte zu erzählen, und er erwidert ihren Wunsch, indem er mit dem beginnt, was er ein »Wintermärchen« nennt. So, der Sohn auf dem Schoß der Mutter sitzend und ihr leise ins Ohr flüsternd, findet Leontes die beiden vor. Es ist eine Szene großer Intimität zwischen Mutter und Sohn, die nichts Schändliches hat, weil in ihr keinerlei sexuelle Bedeutung mitschwingt, die aber in ihrer Zärtlichkeit, von der er in diesem Moment ausgeschlossen ist, dennoch äußerst provozierend für Leontes wirkt. Dazu kommt das Flüstern, über dessen genauen Inhalt Leontes nicht Bescheid weiß – und auch wir nicht Bescheid wissen. Man kann hier von einer umgekehrten Freudschen Urszene sprechen. Bei Freud war es das Kind, das sich mit seinem eigenen Alleinsein konfrontiert sieht, während die Eltern im sexuellen Akt zusammenkommen. Im Wintermärchen ist es der Vater, der seine Frau und seinen Sohn in einem Moment der Nähe ertappt, an dem er selbst nicht teilhaben kann. Wichtiger, und hier stimmt Shakespeare mit Freud überein, als das, was Leontes wirklich sieht, ist das, was er sich vorstellt, was zwischen den beiden geschieht. Ich hatte schon zuvor dafür argumentiert, dass die Imagination einer Welt, von der man selbst ausgeschlossen ist, einer Welt phantastischer Intimität, des wunderbaren Zusammenseins, deren Teil aber andere sind, das vielleicht ursprünglichste Gefühl ist, aus dem der Skeptizismus entspringt. Cavell versucht wiederholt zu belegen, dass ein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins am Beginn des Skeptizismus steht. Othellos Ausgeschlossen-Sein von Desdemonas Sexualität steht sinnbildlich für diese These. Ich möchte diese dahingehend erweitern, dass ich annehme, dass Othello sich vorstellt, Desdemona, Cassio und auch Jago würden in der gleichen sexualisierten Welt existieren. Eine Welt die er, Othello, in dem Maße als verderbt darstellen muss, in dem er glaubt, dass in ihr für die anderen tiefste Innigkeit möglich ist, eine Welt, die er nur von außen betrachten kann, während er selbst eine ganz andere bewohnt. Das unzüchtige Tun in dieser Welt, die eine Welt der anderen ist, kontrastiert Othello einmal mit den »keuschen Sternen« über ihm, denen er nicht wagt mitzuteilen was hier geschieht: »Lasst sie mich Euch nicht nennen, ihr keuschen Sterne« 173, 173
Shakespeare: Othello, S. 201 (V. 2).
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sagt er und vermittelt damit den Eindruck, dass er sich selbst eher den Sternen zugehörig fühlt – also eher zu etwas Überirdischem, als zu diesem Planeten. Vor allem aber reiht er sich ein neben die anderen skeptizistischen Shakespeare-Charaktere, wie Hamlet oder Lear, die diese Welt als einen unzüchtigen Ort wahrnehmen. Sie drücken damit, wie Cavell bemerkt, ihren Abscheu und ihren Ekel gegenüber der Welt aus. 174 Ich denke, wir dürfen annehmen, dass ihr Ekel zuallererst eine Reaktion auf die von ihnen empfundene Fremdheit dieser Welt oder ihr Fremdsein in dieser Welt ist. Die Welt ist unzüchtig, sie aber sind es nicht, also sind sie nicht – ganz – Teil dieser Welt. Der Antrieb dahinter könnte auch die Furcht vor Ablehnung durch die Welt sein. Man versucht der Ablehnung der anderen zuvorzukommen, indem man der erste ist, der die Welt und alle, die darin leben, ablehnt. Das Gefühl der eigenen Exklusivität und die Furcht vor Ablehnung werden bei Othello ganz sicher durch die Tatsache verstärkt, dass er mit seiner dunklen Haut in Venedig sowieso schon eine Außenseiterposition einnimmt und sich äußerlich von allen anderen erheblich unterscheidet. Tatsächlich erfährt Othello ja wiederholt Ablehnung. Den skeptischen Helden ist gemein, dass sie ihrem Allein-Sein eine Phantasie des absoluten Gemeinsam-Seins gegenüberstellen – wie erdrückend und nicht aushaltbar muss ihre Einsamkeit ihnen dann werden. Das Problem wird noch dadurch potenziert, dass nun alles, was diese Charaktere tun, um sich zu retten, nur ihre Einsamkeit, die sie als schamhaft empfinden, ihre Schwäche, die sie nicht akzeptieren können, noch deutlicher hervortreten lässt. Sie wird noch sichtbarer für alle und damit noch manifester und noch grausamer. Um dem entgegenzuwirken, müssen sie versuchen, ihrer Qual eine Art metaphysischen Rahmen zu geben, der wegführt von ihren gebeutelten Seelen, hin zu irgendwelchen äußeren Umständen. In dieser Aufwärtsspirale gefangen wird ihr Tun für Außenstehende von Mal zu Mal absurder. Leontes unterbricht Hermiones’ und Mamilius’ Zweisamkeit und tritt damit, wie Bronfen schreibt, in einen Wettkampf mit seinem eigenen Sohn ein. Sein Sohn wird zu seinem Konkurrenten, dessen Platz er einnehmen möchte. 175 Hier nun wird die Umkehrung der Freudschen Motive ganz offensichtlich. Nach der umgekehrten Urszene, in der ein Vater seine Frau und seinen Sohn zusammen ent174 175
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 167. Bronfen: Stanley Cavell, S. 190 f.
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deckt, finden wir jetzt mit einem Vater, der sein eigenes Kind als Rivalen empfindet und es zum Verschwinden bringen möchte, einen umgedrehten Ödipuskomplex vor. 176 Um Mamilius zu verdrängen, zieht Leontes seine Vaterschaft in Zweifel. Konsequenterweise ist das die letzte Szene, in der wir Mamilius zu sehen bekommen. Er wird von seinem tobenden Vater davongeschickt und stirbt, den Augen des Publikums verborgen, unter unklaren Umständen. Seinem Tod wird im weiteren Verlauf des Stückes kaum noch Beachtung geschenkt werden. Offenbar verhält es sich so, dass Leontes seine eigenen Nachkommen als Bedrohung empfindet, was natürlich ein spezielles Licht auf die Schwangerschaft Hermiones wirft. In diesem Sinne empfiehlt Cavell auch die eigentliche Eröffnungsszene des Stückes zu lesen, in der sich Leontes Wahnsinn Bahn bricht. Polixenes, Leontes ältester und engster Freund, macht sich daran, Sizilien nach längerem Aufenthalt in Richtung seiner Heimat Böhmen zu verlassen. Mit folgenden Worten erklärt er sich: POLIXENES: »Neun Wechsel des wäßrigen Gestirns waren Des Schäfers Zeichen, seit wir unseren Thron ohne Bürde ließen. Noch einmal so lange Zeit wäre, mein Bruder, mit unserem Dank gefüllt; Und doch würden wir auf ewig Als Schuldner von hier gehen: und darum multipliziere ich, wie eine Null (Doch an reicher Stelle stehend) mit einem Wir danken Euch viele tausend mehr, die ihr vorangehen.« 177
Polixenes fügt daraufhin mehrmals an, dass er seinen Gastgebern schon viel zu lange zur Last gefallen ist. 178 In der Interpretation Cavells enthalten diese Zeilen alles, was es benötigt, Leontes verrückt werden zu lassen. Zunächst ist da der Abschied des geliebten Freundes, mit dem er seine Kindheitstage verbracht hat, von dem er aber durch die Pflichten des Erwachsenenlebens getrennt wurde, bis dessen Besuch in Sizilien die beiden wieder für einige Zeit zusammenführte. Polixenes verweist mit seinem ersten Satz auf die Dauer sei176 177 178
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 154. Shakespeare: Das Wintermärchen, S. 9 f. (I.2). Ebd., S. 10 (I.2).
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nes Aufenthaltes: Neun Wechsel des feuchten Sterns, womit natürlich der Mond gemeint ist, liegen hinter ihnen, was bedeutet, dass Polixenes neun Monate in Sizilien verweilte. Zufällig fällt diese Zeit genau mit der Schwangerschaft Hermiones zusammen, die in wenigen Tagen gebären wird. Der Beginn des Stückes markiert also nicht nur das Ende einer von Leontes als sehr glücklich empfundenen Zeit, sondern auch die baldige Niederkunft Hermiones. Es spricht vieles dafür, dass Polixenes geht, weil er die Aufmerksamkeit seiner Gastgeber nicht von der Geburt und dem Kind abziehen möchte, und es spricht vieles dafür, dass Leontes, obwohl es ungesagt bleibt, darum weiß. 179 Wenn Leontes im Folgenden nun behauptet, das Kind sei von Polixenes und nicht von ihm, dann vermischt sein verwirrter Geist die Tatsachen, dass Polixenes neun Monate bei ihnen weilte und Hermione genau in diesen Monaten schwanger war. Cavell behauptet aber, dass sich Leontes nicht durch Polixenes bedroht fühlt, sondern durch die Schwangerschaft an sich, dem Faktum, dass er Vater wird, ein Kind bekommt, genau wie er sich davon bedroht sieht, dass Mamilius sein Sohn ist. Die Eifersucht wäre dann nur ein Vorwand, eine Art psychischer Trick. 180 Auch Hermione scheint nicht anzunehmen, dass Leontes seinen Verdacht ernsthaft glaubt, dass er ihn aber glauben will. Von ihm mit seinen Anschuldigungen konfrontiert antwortet sie: »Und ich braucht nur zu sagen, er war es nicht; und ich will darauf schwören, dass ihr mir glaubtet, wie sehr ihr auch zum Gegenteil neigt.« 181 Im Wintermärchen präsentiert Shakespeare den Skeptizismus ein weiteres Mal als eine Ersatzhandlung, die von der eigenen Schwäche ablenken soll. An die Stelle einer Anerkennung der eigenen Bedürftigkeit tritt der Versuch, diese gewaltsam zu übergehen, was wiederum in Gewalt gegen andere resultiert, da das Problem auf sie verlagert wird. So ist Leontes bereit, seine Frau zum Tode zu verurteilen und seine neugeborene Tochter in der Wildnis auszusetzen. Das Stück lässt einen gewissen Deutungsspielraum, warum genau Leontes sich von der Schwangerschaft Hermiones bedroht fühlt und folglich versucht auch Cavell in seiner Interpretation nicht, den Ursprung von Leontes Ängsten an einem einzelnen Punkt definitiv 179 180 181
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 171. Cavell: Cities of Words, S. 462. Shakespeare: Das Wintermärchen, S. 44 f. (II.1).
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festzumachen. Was Leontes seiner Meinung nach aufzehrt, sind ganz allgemein die Trennungen, die für ihn in der baldigen Geburt stecken. 182 Der Abschied seines geliebten Freund Polixenes, die Entbindung, bei der Mutter und Kind getrennt werden, das Ende einer unbeschwerten Zeit wegen der Verantwortung, die ein Neugeborenes bedeutet. Dazu die Furcht das Kind könne seine Verbindung zu Hermione unterbrechen, zwischen sie beide treten. Dann das Erwachsenwerden des Kindes: Irgendwann wird es sich loslösen, eine autonome Person werden und so wie Mamilius beginnen, seine eigenen Geschichten zu erzählen – denken wir daran, dass Leontes unbedingt Mamilius’ Geschichte unterbrechen musste. Vielleicht, vermutet Cavell, erkrankt Leontes aber auch daran, dass »die Geburt von seiner Sterblichkeit künden wird, von jemandem, der nach ihm sterben wird.« 183 So wie Cavell Leontes versteht, symbolisiert die Geburt seines Kindes für ihn den ganzen Kosmos des Teilens, des Trennens, des Fortgehens, des Verlassenwerdens und des Abschieds, in den er, wie jeder von uns, mit seiner Geburt eingetreten ist. »Als ob alle Trennungen in jeder einzelnen angerufen werden; als wollte man sagen, das Leben sei ebenso wie der Tod eine Bedingung und ein Prozess des Trennens.« 184 Leontes Eifersucht ist dann eine Rache am Leben, denn im Leben gibt es nichts ohne Trennungen, Teilungen und Unterscheidungen. Cavell greift hier auf Nietzsche zurück, der auf etwas Ähnliches hinweist, wenn er sagt, dass wir uns an der Zeitlichkeit des Lebens selbst rächen, dafür dass sie uns ständig sagt: »Es war«. 185 Leontes dagegen möchte sich eher an dem »Es wird sein« der Zeit rächen, denn es wird den gegenwärtigen Zustand des fortwährenden Trennens nur noch verlängern. 186 Das absolute Nichts, das der Skeptizismus verspricht und das Leontes in seiner oben zitierten NichtsRede beschwört, scheint ihm ein Ausweg zu sein, denn ein Ende von allem würde auch ein Ende der Trennungen bedeuten. 187 Doch seine Situation ist noch komplizierter: Das Ende von allem kann er auch nicht wollen, denn sein ursprünglicher Wunsch, alle Trennungen auf-
182 183 184 185 186 187
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 171. Cavell: Cities of Words, S. 463. Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 165. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Frankfurt am Main 2007, S. 142. Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 169. Ebd., S. 164.
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zulösen, ist eigentlich ein Wunsch danach, dass alles ist, dass nichts jenseits von ihm ist. »Wir könnten dann sagen, [Leontes] wünsche, es möge nichts Getrenntes sein, wünsche folglich nichts als Fülle. Vielleicht wünscht er aber auch das nicht, denn die Fülle, wie das Nichts bedeutet das Ende seiner (individuellen) Existenz. Jede einzelne dieser Phantasien könnte auch auf den Wunsch hinauslaufen, niemals geboren worden zu sein, ein Wunsch, der prima facie nicht nur darauf zielt, nicht geburtlich, also nicht sterblich zu sein, sondern auch besagt, Selbstmord sei keine Lösung für das Problem, dem er sich gegenübersieht […] Nach meinem Dafürhalten will Leontes weder existieren noch will er nicht existieren, er will weder einen Leontes, der von Polixenes, Hermione und Mamilius getrennt ist, noch einen, der nicht getrennt ist, will weder, dass Polixenes geht, noch dass er nicht geht.« 188
Das Nichts, in das Leontes hineintrudelt, ist so umfassend, dass er nicht einmal wünschen kann, dass Nichts sei, geschweige denn wünschen kann, dass alles sei. Das einfachste Faktum der Existenz, dass man etwas ist und deswegen etwas anderes nicht sein kann, dass man also im Sein immer auch etwas nicht ist, »dass jeder Teil ist, nur Teil, dass niemand alles ist« 189 – das ist es, was für Leontes unerträglich wird. Wir hatten zuvor schon festgestellt, dass Leontes die Fähigkeit zu sprechen verliert. Nachdem deutlicher geworden ist, dass er das Teilen nicht erträgt, sollte auch klarer werden, warum er nicht länger mitteilen kann. Im englischen Original spielt Cavell hier mit der nicht übersetzbaren Mehrdeutigkeit des Begriffs »telling« bzw. »to tell«. »To tell« kann einerseits »sagen«, »erzählen« oder »mitteilen« bedeuten, andererseits auch »zählen«, »abzählen« und »unterscheiden«. 190 Wenn Cavell schreibt, Sprechen heiße zu sagen was zählt, dann meint er damit, dass Sprechen nur im Modus des Unterscheidens, des Abgrenzens, des Trennens, des Bemessens, des Erzählens, des Zählens und des Nachzählens funktioniert. Im Sprechen muss ich sagen, was für mich als etwas zählt, was für mich als Freundschaft zählt oder als ein gutes Essen, ich muss sagen, wer ich bin und wer ein anderer ist, wer er für mich ist. Wenn ich erzähle, zähle ich die Dinge, ich muss bestimmen, was für mich wichtig ist und was nicht und ich Ebd., S. 166. Ebd., S. 165. 190 Cavell: Diswoning Knowledge, S. 200. Und: Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 155. 188 189
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muss all diese Gegenstände voneinander abgrenzen und unterscheiden. Sprechen ist ein Prozess der Bedeutungsbestimmung, der wiederum ein Prozess des Zählens ist. Einmal schreibt Cavell, dass Worte wie Rechenschieber seien. 191 Leontes muss den Dingen aber selbst Bedeutung oder einen Wert geben, aber genau das ist es, was er in seiner Situation nicht mehr kann, oder was er nicht mehr will. Er entdeckt, dass ihn auch nichts zwingt, denn wenn er den Gegenständen und den Worten die Bedeutung entzieht, haben sie für ihn auch keine Bedeutung mehr. Ein Skeptiker wie er fühlt ein Unbehagen darüber, dass die Tatsache, dass für uns etwas als etwas zählt, auf nichts anderem als unserer gegenseitigen Übereinstimmung basiert. 192 Man könnte dies die Angst davor nennen, dass unsere Worte nichts bedeuten könnten. Andererseits fürchtet Leontes – und in dieser Gleichzeitigkeit zeigt sich die Umfassendheit seines Nihilismus – dass die Worte zu viel bedeuten könnten, dass sie einmal ausgesprochen, wie unsere Nachkommen, ein Eigenleben haben, dass sie sich unserer Kontrolle entziehen, dass unsere Worte getrennt von uns weiterexistieren, dass wir aber dennoch an sie gebunden sind, da wir uns an ihnen werden messen lassen müssen. Sie sind Teil von uns und zugleich getrennt von uns. Sie legen uns fest, und wir sind dann etwas und können etwas anderes nicht mehr sein. Leontes hat Mamilius’ Geschichte unterbrochen, aber konnte sie durch nichts ersetzen, denn zu sagen, wie es um ihn steht: Das konnte er nicht mehr.
Vergebung als Wiedergeburt Zu den überraschendsten Entdeckungen Cavells in Bezug auf Das Wintermärchen gehört, dass sich das Thema des Zählens, Abrechnens und Bezahlens in der Sprache des Stückes selbst niederschlägt, die mit einer beachtlichen Anzahl ökonomischer Termini und Formulierungen geradezu geschwängert ist. Cavell belegt seine Entdeckung mit zahlreichen Beispielen, hier soll aber ein Verweis auf den Prolog ausreichen. In diesem unterhalten sich zwei Höflinge, die jeweils ihren König repräsentieren, darüber, wie sowohl Leontes als auch Polixenes ihre Schuldigkeit dem jeweils anderen gegenüber zu beglei-
191 192
Ebd., S. 174. Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear, S. 20.
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chen gedenken. Wir erfahren, dass die beiden, die sich wegen ihrer Pflichten nur noch selten sehen können, sich gegenseitig Präsente und Botschaften als Ersatz für die persönliche Begegnung zuschicken. Man findet hier einen Sinn der Schuld, die durch die Tatsache der Trennung entstehen zu scheint und die durch den Austausch von Geschenken aufgewogen werden soll. 193 Verfolgt man diesen Pfad weiter, dann lässt sich mit einiger Berechtigung sagen, dass wir mit dem Eintritt in unser Leben in solche Schuldverhältnisse mit anderen treten. Es gibt Charaktere, die diesen Umstand mehr betonen als andere, sowie es Charaktere gibt, die von ihm mehr gequält werden als andere. Vielleicht kann man eine solche Perspektive christlich nennen. Eine Rache am Leben selbst, wie sie Leontes vollführt, würde sich in solchen Fällen dann auch gegen die zwangsläufige Schuldhaftigkeit, die es für uns bedeutet, richten. »So haben wir für uns schon eine Antwort auf die Frage skizziert, warum ein Stück, in dem es über das Überwinden von Rache geht, ein Stück über Berechnungen und ökonomische Transaktionen ist: Die ganz buchstäblichen, also ökonomischen Ideen des Zurückzahlens und Quittseins lassen uns sehen und formulieren, was für eine Art der Rache Leontes braucht, legen zugleich aber auch die Transformationen nahe, die nötig sind, wenn Rache durch Gerechtigkeit ersetzt werden soll. Leontes wünscht sich einen Ausgleich, ein Auslöschen von Schuld und Schuldigkeit, das in einer Welt ohne Zählen statthätte, einer Welt ohne jede Bewertung oder Bemessung der Dinge, also etwa ohne ein Messen von Besuchen, Geschenken oder anderen Tauschakten, ohne das Geld für Dinge zu messen, die Strafe für Vergehen, ohne auch Schwestern oder Töchter an den Ehefrauen zu messen. In diesen Fällen liefe ein Bezahlen auf das Gegenteil des von ihm Gewollten hinaus, es würde nur vergrößern, was er mindern möchte; es implizierte den Begriff der Schuldigkeit und damit den der Andersheit. Diese Bedeutung des Unbezahlbaren ist es, diese Unverzeihbarkeit eigener Schuldigkeit oder, wenn man so will, diese Unverzeihbarkeit, der zu sein der man ist, mithin also des Geschenks des Lebens, die den Wunsch hervorbringt, sich an der Existenz zu rächen, am Faktum oder den Fakten des Lebens an sich.« 194
Führen wir die verschiedenen Wege nun zusammen: den des Trennens, den des Rechnens und den der Rache. Nietzsche hat in Also sprach Zarathustra den »Geist der Rache« so definiert: »wo Leid war, da sollte immer Strafe sein. Strafe nämlich, so heißt sich die Rache 193 194
Ebd., S. 168. Ebd., S. 169 f. Übersetzung D. G.
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selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.« 195 Dass Leontes über Hermione die Todesstrafe verhängt würde er in seinem Wahn ganz sicher als Strafe und nicht als Rache bezeichnen. Und auch Othello faselt von der Gerechtigkeit, die er Desdemona dadurch widerfahren lässt, dass er sie im gemeinsamen Ehebett erstickt. 196 Wenn Nietzsche durch den Zarathustra verkündet, dass dort wo Leid war, immer Strafe sein soll, dann heißt das für Leontes, dass seine Rache niemals enden kann, weil das, woran er leidet, ebenfalls niemals enden wird, schließlich sind es die Bedingungen des Lebens selbst, an denen er leidet. »[U]nwälzbar ist der Stein Es war: ewig müssen auch alle Strafen sein!« 197 heißt es entsprechend bei Nietzsche. Mit Leontes Rache, die, und das ist ganz entscheidend, auch eine Rache an sich selbst ist – auch er ist der Gewalt seiner Eifersucht ausgesetzt –, sollte alle Schuldigkeit ausgeglichen werden. Aber Rache gehört ja ganz und gar in die Sphäre des Zählens, Bemessens und Aufrechnens, in die Leontes damit noch viel tiefer hinabsteigt, wo er sie doch eigentlich verlassen wollte. Deswegen schreibt Cavell, dass das Bezahlen, das Rache ja impliziert, nur noch vergrößert, was Leontes eigentlich mindern wollte. Cavell folgt in seiner Analyse wieder Nietzsche, wenn er sagt, dass Leontes einzige Chance darin bestehe, die Logik von Gewalt und Rache hinter sich zu lassen. So eine Überwindung von Gewalt und Rache nennen wir Vergebung und Versöhnung. Ich hatte zuvor schon gefragt, was Leontes gesagt werden könnte, damit er eine Heilung dieser Art erfährt. Jetzt können wir antworten, dass ihm nichts gesagt werden kann. Cavell schreibt, dass Leontes am Ende des Stückes zur Welt zurückkehrt, »indem er etwas sieht, was ihm nicht mitgeteilt wird, indem er über das Mitteilen hinausgeht.« 198 Was sieht Leontes? – Er sieht, wie sich seine Frau von einer Statue in einen lebenden Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt. Der erste Reflex wäre aus dem »Über das Mitteilen hinausgehen« zu schließen, dass Vergebung und Versöhnung etwas ist, das über dem Alltag steht, das über das Gewöhnliche hinausgeht. Das ist in einem Sinne richtig, aber es ist auch genau das Gegenteil: Vergebung geht nicht nur über das Gewöhnliche hinaus, sondern ist geradezu die Grundlage des Ge195 196 197 198
Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 143. Shakespeare: Othello, S. 161 (IV. 1). Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 143. Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 160.
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wöhnlichen, weil erst sie einen Alltag mit anderen ermöglicht. Vergebung ist also zugleich gewöhnlich und außergewöhnlich. Wir sprachen davon, dass Leontes nichts mehr mitteilen kann und ihm auch nichts mehr mitgeteilt werden kann. Mit Mitteilen war das unterscheidende Mitteilen gemeint, das auf unseren gemeinsamen Kriterien basiert. Wir unterscheiden den einen Vogel von einem anderen anhand des unterschiedlichen Gefieders, so wie Leontes Polixenes von Mamilius anhand der Physiognomie, des Alters, der Stimmen oder Bewegungen unterscheidet. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Er kann mit den Kriterien aber nicht die Existenz von Mamilius oder die Existenz von Polixenes Liebe feststellen. Aber ohne die Annahme der Existenz bestimmter Dinge kann die kriteriale Kommunikation überhaupt nicht stattfinden. Es muss also »eine Verwendung des Begriffs vom Mitteilen geben, die tiefgreifender ist als die des unterscheidenden Mitteilens, ja, die Letzteres erklärt oder begründet, eine Verwendung die so tiefgreifend ist wie das erwähnte Esselbst-Sehen.« 199
Es geht hier um eine Form des Mitteilens, die uns die Existenz von etwas anderem mitteilt, so als könnten wir sie selbst sehen. Zugegebenermaßen ist das ein äußerst komplizierter Zusammenhang. Vielleicht hilft es, wenn ich sage, dass wir mit jedem Wort, das wir äußern, gleichzeitig sagen, »ich bin, ich existiere, deswegen bedarf ich deiner Anerkennung, deiner Vergebung.« Nur kann dieser Bedeutungsinhalt nicht geäußert werden, nicht auf die Weise, wie geäußert werden kann, warum ein Vogel eine Drossel und ein anderer eine Elster ist, sondern er muss erkannt oder gesehen werden, so wie Leontes sieht, dass Hermione von ihrem steinernen Sockel zu ihm herabsteigt. Hermione hat sich Leontes als Partnerin angeboten, die »Anziehung und Liebe und damit auch Vergebung verdient hat.« 200 Weil Leontes ihr diese verwehrte, hat er sie zu Stein werden lassen. Erst als er das in ihr sehen konnte, wurde sie wieder lebendig. Er hat also erneut ihre Menschlichkeit erblickt, das Leben in ihr gesehen, ihr wieder Menschsein zugesprochen. Hermione wird in diesem Moment gewissermaßen wiedergeboren. Wir werden Zeuge eines Schöpfungsaktes, indem er ihr Leben gibt, aber in dem auch er durch sie
Ebd., S. 161. Davide Sparti und Espen Hammer in der Einleitung zu: Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 146. 199 200
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wieder ins Leben zurückkehrt, denn er war ebenso aus Stein wie sie. 201 In einer Welt des ewigen Aufrechnens, Heimzahlens und Ausgleichens braucht Leontes eine Überwindung genau dieser Dinge. Was eigentlich unmöglich ist, wird möglich durch die gegenseitige Vergebung des Paares, denn durch sie wird ein Raum geschaffen, in dem all das außer Kraft gesetzt ist. Vergebung heißt nicht: »Ich vergebe dir, weil du irgendetwas Bestimmtes getan, gesagt oder gemacht hast« oder »Ich vergebe dir, obwohl du irgendetwas Bestimmtes getan, gesagt oder gemacht hast«, sondern einfach nur: »Ich vergebe dir.« Es ist wichtig zu beachten, dass Cavell keine eigene VergebungsBegrifflichkeit entwickelt, sondern einfach die allgemeinen – alltagssprachlichen – Verwendungen des Begriffs wachruft. Er folgt damit der Leitlinie der Philosophie der normalen Sprache, die davon ausgeht, dass es keine tiefere und breitere Verwendung eines Begriffes geben kann, als eben jene, die wir alltäglich in unseren normalen Gesprächen verwenden. Es ist also nicht überraschend, wie sehr sich die folgende aus einem Lexikon entnommene Definition mit dem deckt, worauf Cavell mit seiner Verwendung des Begriffs hinaus will: »Vergebung bedeutet den freiwilligen Verzicht, eine Schuldforderung einzutreiben; sie will Gemeinschaft wiederherstellen und führt damit weiter und geht tiefer als Wiedergutmachung und Vergeltung.« 202
Mit Vergebung endet nicht die Schuld – Leontes hat sich unwiderruflich schuldig gemacht, aber es wird dem Bemessen der Schuld ein Ende gesetzt. Vergebung ist damit das Ende aller Rache. Wenn Hermione Leontes zeigt, dass sie ihm vergibt, dann bedeutet das, dass seine Taten zwar geschehen sind, dass sie aber hier, zwischen ihnen, nicht weiter zählen werden, dass sie nicht berechnet werden, dass sie nicht gerecht werden. Indem Hermione ihm das zeigt, zeigt sie ihm auch, dass sie einen Neuanfang wünscht, dass sie die Verbindung, die verloren ging, wieder aufnehmen möchte. Die Wiederaufnahme ihrer Verbindung bedeutet, wie Bronfen betont, auch das Wiederbeginnen des Gespräches zwischen den Partnern. 203 Othello gelang es nicht,
Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 179. Gestrich, Christof/Zehner, Joachim: »Vergebung«, in: Fahlbusch, Erwin u. a. (Hrsg.): Evangelisches Kirchenlexikon. Göttingen 1996, S. 1137 ff. 203 Bronfen: Stanley Cavell, S. 189. 201 202
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dieses Gespräch mit Desdemona wieder aufzunehmen. Er konnte nur noch seine eigene Stimme hören. Vergebung geschieht immer, wie die Definition aus dem Lexikon sagt, im Sinne des (Wieder-)Entstehens von Gemeinschaft. Hermiones Vergebung wäre aber falsch verstanden, wenn man meinte, dass sie im Sinne einer utilitaristischen Rechnung die Gemeinschaft zwischen ihr und Leontes mehr zähle als seine Schuld. Vielmehr verspricht sie, fortan alles zu sehen: ihn, auch mit seiner Schuld, sich, sie beide. Denn vergeben heißt wieder zu sehen. Vergebung kann nicht einfach eingefordert werden, sie muss zugesprochen werden. Sie ist immer etwas, das nur erhofft werden kann und das von außen, von jemand anderem erteilt werden muss. 204 Wenn Cavell dennoch schreibt, dass Leontes erst sich selbst vergeben musste, bevor ihm vergeben werden konnte, 205 dann muss »sich selbst vergeben« heißen, dass Leontes sich als jemanden begreifen lernt, der der Vergebung durch andere bedarf. Sich selbst als vergebungsbedürftig zu erkennen entspricht, denke ich, dem Eingeständnis der eigenen Schuldhaftigkeit, das im christlichen Verständnis unbedingt vor der Vergebung geschehen muss, wie das »Und vergib uns unsere Schuld …« im »Vater unser« bezeugt. 206 Sich selbst zum Opfer zu machen und andere fortwährend schuldig zu sprechen, wie es Leontes in der ersten Hälfte des Stückes tut, ist ein Reflex, der aus der eigenen nicht anerkannten Schuldhaftigkeit heraus geschieht. Vorher hat er angesichts seiner Schuld nicht mehr weiter gesund existieren können. Erst als er seine Schuld und sein Bedürfnis nach Vergebung anerkennt, weiß er, dass er auch weiterhin sein darf. Sich selbst zu vergeben, heißt in Leontes Fall gleichzeitig Hermione zu vergeben, denn die Vergebung, derer sie bedarf, bezieht sich nicht auf konkrete Verfehlungen ihrerseits, sondern ganz allgemein auf die Tatsache ihrer von ihm getrennten Existenz, ihrer Andersheit und der Schmerzen, die das für ihn bedeutet. Damit ist nicht gesagt, dass Leontes deswegen ein kranker Charakter ist, weil er all das schmerzhaft empfindet. Es ist schmerzhaft und wird immer wieder für Schmerzen sorgen, ob durch die Missverständnisse, die in der Sprache entstehen oder durch die Gräben, die sich manchmal zwischen uns auftun. Und weil Getrenntheit, Andersheit und damit ein204 205 206
Gestrich/Zehner: Vergebung, S. 1137. Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 180. Gestrich/Zehner: Vergebung, S. 1137.
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hergehend Fremdheit auch – aber nicht ausschließlich – Schmerzen mit sich bringen, bedürfen wir der andauernden, wiederholten Vergebung anderer. Vergebung ist demnach für Cavell die Grundlage jeder gemeinschaftlichen Existenz. Endet sie, endet Gemeinschaft. Für Leontes kann Gemeinschaft wieder möglich werden, denn in seiner Vergebung zeigt er sich bereit seine »Rache am Leben (so hat es Nietzsche fast genannt), das Vermähltsein mit der Nichtigkeit« aufzugeben. 207 Zwar gibt es von Cavell wie gesagt keinen dezidiert der Vergebung gewidmeten Abschnitt, doch ist die Bereitschaft zur Vergebung und Versöhnung, der anhaltende Wille, Gemeinschaft fortbestehen zu lassen, die wesentliche Lebenshaltung, für die er in allen seinen Texten wirbt. Maßgebend hierfür sind seine Arbeiten zur Sprachphilosophie Austins und Wittgensteins, in denen unsere fundamentale Verbundenheit in der Kommunikation hervorgehoben wird, die zugleich aber auch unsere Getrenntheit betonen, durch die die Fehleranfälligkeit der Sprache und die bitteren Erfahrungen fundamentaler Unterschiedlichkeit sowie die ständige Möglichkeit, die Ansprüche anderer zu übersehen oder zu ignorieren, mitgebracht werden. Leichthin geäußerte Worte, deren Wirkung nicht bedacht oder intendiert wurden, einmalige Unachtsamkeiten oder Unachtsamkeiten, die so lange währen und die so sehr die Bedürfnisse anderer übergehen, dass man schon von Böswilligkeiten sprechen muss, unglückliche Zufälle, die zu Verletzungen führen, ohne dass ein eindeutig Schuldiger ausgemacht werden könnte – wir sind darauf angewiesen, dass andere uns vergeben und dass wir anderen Vergebung zuteilwerden lassen. In der Vergebung erkennen wir das unvollkommene Menschsein des anderen an. Dadurch, dass Vergebung in der Wiederholung jeden Tag geschehen muss, ist sie äußerst alltäglich. Wenn sie aber im konkreten – zugegebenermaßen besonders dramatischen – Fall wie zwischen Leontes und Hermione geschieht, hat sie dennoch den Charakter einer Zäsur, die, wie von jenseits des Alltags, sein altes »Immerzu« unterbricht, die aber auch einen neuen Alltag erst wieder möglich macht. Wann und wodurch sie geschieht, ist nicht vorhersehbar, sie ist überraschend und von uns nicht vollständig begreifbar. Cavell schreibt, dass man anders als bei der Rache nicht sagen kann, wer
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Cavell: Gewinne und Verluste: Eine Lektüre des Wintermärchens, S. 180.
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den ersten Schritt getan hat. 208 Hat Hermione zuerst Leontes vergeben oder er ihr? Wie kann Vergebung hier überhaupt geschehen? Ein Sohn ist tot, eine Tochter war 16 Jahre verloren und eine Ehe für ebenso lange Zeit unterbrochen. All das ist unwiderruflich passiert, und dennoch steht am Ende des Stückes Vergebung. Sie wird dem Zuschauer präsentiert wie ein Wunder. Cavell liest dieses seltsame Ende, in dem eine Statue zu einer Frau wird, eine totgeglaubte Tochter plötzlich zurückkehrt und in dem alles, was verloren ging, keine Rolle mehr zu spielen scheint, als ein Zeichen dafür, dass Vergebung immer ein Wunder ist – ein Wunder, das genau wie unsere Übereinstimmung gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich ist. Übereinstimmung und Vergebung versprechen uns einen neuen Tag. Vor beidem können wir nur stehen und staunen. Dass wir Vergebung nicht erklären können, nicht erklären können, warum sie jetzt geschieht, bedeutet nicht, dass wir aufhören dürfen, sie zu beschreiben. Wir müssen versuchen, sie mit jeder Beschreibung mehr zu ergründen und sie das Wunder nennen, das sie ist, eine Heldentat. Hermione kehrt zurück ins Leben, weil Leontes ihr durch seine Vergebung wieder lebendiges Menschsein zusprechen konnte. Das war es, woran Othello scheiterte. Desdemona musste eine Statue bleiben, die festgelegte Repräsentation einer einzigen Idee. Ihre Menschlichkeit konnte Othello nicht sehen, es hätte zu viel von ihm erfordert, eine Transformation seines Selbst. So ist dieses Paar dazu verdammt, ewig starr zu bleiben – als Leichen, die nebeneinander liegen. Leontes und Hermione dagegen leben. Die Vergebung, die er gewähren konnte und die ihm zuteilwurde, hat ihn ins Leben zurückgeholt. Er hat schließlich einen Weg gefunden, seine Erzählung, an die er zuvor nicht anschließen konnte, fortzusetzen. Bei Cavell heißt das »eine eigene Stimme finden«, was bedeutet, dass er akzeptiert, dass es mehrere Stimmen in ihm gibt, dass es andere Stimmen als die seine gibt, dass er akzeptiert, dass er ein anderer ist und nicht alles, dass seine Stimme nicht alle Stimmen ist, kurz: dass er Vielfalt akzeptiert. 209 Erst in der Vielfalt können er und Hermione wieder beginnen zu existieren und wieder ein echtes Gespräch aufnehmen. Cavell schlägt vor, diese letzte Szene des Stückes, die ein gegenseitiger Schöpfungsakt eines Paares ist, als Hochzeitszeremonie zu
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Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 179.
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sehen. 210 Sie zeigt, was geschehen muss, was wiederholt geschehen muss, dass Gemeinschaft, symbolisiert in der Ehe, wahr werden kann. Damit verweist Cavell direkt auf seine Arbeiten zu den HollywoodFilmkomödien der dreißiger und vierziger Jahre, die er Komödien der Wiederverheiratung nennt und in denen er die Modi der Wiedervereinigung, die in diesem Stück nur angedeutet werden, weitergehend erforscht. Eine Ehe, so wie Cavell sie beschreibt, besteht aus vielen solcher Hochzeiten. Der wiederholten Bereitschaft neu zu beginnen, den anderen neu zu sehen, sich selbst neu zu erzählen und sich auch von jemand anderem erzählen zu lassen. Eine Ehe ist eine Geschichte vieler Wiederverheiratungen, aber sie ist auch die Geschichte ebenso vieler Trennungen, denn am Anfang der Vereinigung steht die Anerkennung von Trennung. Somit ist die glückliche Hochzeitszeremonie im Wintermärchen auch eine glückliche »Teilungszeremonie.« 211 Was Leontes, Hermione, Othello und Desdemona passiert ist, ist nicht die große Ausnahme, sondern nur die dramatische Aufführung des alltäglich auftretenden, oft unsichtbaren Unvermögens, einem Gegenüber volle Menschlichkeit zuzugestehen, sie in ihr oder ihm zu sehen. Bei den Shakespeare-Protagonisten geschah es aus Furcht vor dem, was ein anderes lebendiges Wesen für sie selbst bedeuten könnte. Woanders mag Gleichgültigkeit der Grund sein. Wie oft sind Menschen für uns steinern, wie oft sind wir es? Die Konsequenzen sind nicht immer so dramatisch wie in den Tragödien, aber doch immer tragisch, manchmal eben auf die unaufgeregte Weise, in der unser Alltag tragisch ist. Dass nach dem an Wiedergeburten und Wiederentdeckungen reichen Ende des Wintermärchens ein Junge immer noch tot ist, zeigt uns, dass das alles nicht ohne Verluste abgehen kann, dass es von uns Opfer fordern wird. Doch für Cavell liegt gerade in den Toten dieser Tragödien Hoffnung, denn die Unbarmherzigkeit ihres Todes bedeutet, »dass jede Lüge, jede Verweigerung der Anerkennung, verfolgt und aufgespürt werden wird.« 212 Wenn es wahr ist, was uns die Stücke Shakespeares zeigen, dann hat das »Böse keine freie Macht über diese Welt«, sondern folgt direkt aus unseren Handlungen, deren Konsequenzen freilich »unsere besten, und schlimmsten, Intentionen übersteigen.« 213 Dass die Ergebnisse unse210 211 212 213
Ebd., S. 175. Ebd., S. 179. Cavell: Must we mean what we say?, S. 347. Ebd.
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rer Handlungen uns auf so schreckliche Weise weiter verfolgen, liegt nicht daran, dass wir »halbblind sind, und glücklos, sondern dass wir damit fortfahren, das zu tun, was diese Konsequenzen überhaupt erst ausgelöst hat.« 214 Unser tragisches Handeln unterliegt sozusagen einem Wiederholungszwang. 215 Was wir also brauchen, ist der Mut und die Klugheit »hinzusehen und aufzuhören.« 216 In der Vergebung zeigen wir uns bereit, wieder hinzusehen.
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Ebd. Bronfen: Stanley Cavell, S. 171. Cavell: Must we mean what we say?, S. 347.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Um Cavells andauernde Beschäftigung mit der Ehe verstehen zu können, muss man sich vor Augen führen, wofür sie bei ihm steht. Die Ehe ist bei Cavell ein Bild für eine glückliche Verbindung mit der Welt, dem Gewöhnlichen, unserer gewöhnlichen Sprache, mit anderen, ein Bild für Freundschaft, ja für das Soziale schlechthin, nachdem der Skeptizismus sein Werk getan hat: nämlich uns daran zu erinnern, dass wir unendlich getrennt sind und dass wir nicht im Sinne der Gewissheit Wissen über diese Welt haben. Die Ehe ist unsere Möglichkeit, in der Welt heimisch zu werden, nachdem wir darüber verzweifelten, dass wir für immer getrennt von ihr und allen darin sind. 1 Sie ist Antwort auf den Skeptizismus, die ihn nicht verwirft, sondern mit einschließt. Wenn Cavell über Ehe spricht, dann ist sie aber nicht nur ein Chiffre für etwas anderes, sondern meint auch ganz wortwörtlich die Ehe zwischen zwei Menschen. Und dabei geht es nicht darum, dass diese zwei Menschen wirklich vor einem Priester oder einer Standesbeamtin ihr Ehegelübde abgelegt haben, sondern dass diese zwei Menschen sich gegenseitig bekunden, dass sie zusammen sein wollen, dass sie auf Dauer für gegenseitiges Glück sorgen wollen, dass sie es suchen und immer wieder finden wollen. Wir müssen im Folgenden, wenn es um Ehe geht, stets diese beiden Ebenen im Auge behalten: Die Ehe als Ehe zwischen zwei Menschen, und die Ehe als Bild für etwas. Mal wird mehr das eine, mal mehr das andere gemeint sein. Die Metapher der Ehe soll hier bewusst nicht von der Tatsache der Ehe getrennt werden, weil gerade in der Gleichzeitigkeit die Kraft dessen liegt, was uns diese Philosophie sagen kann, erst durch die Gleichzeitigkeit eröffnet sich uns ihr
Vergleiche zum Beispiel: Cavell: Cities of Words, S. 45 und S. 452/Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 107.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Kosmos, nur so können wir verstehen, worum es Cavell geht, wenn er über Ehe spricht, worum es in unseren Ehen geht. So wie Cavell die Ehe beschreibt, ist sie eine Verbindung, die in der ständigen Bestätigung und Anerkennung unserer Getrenntheit existiert und die im selben Zuge anerkennt, dass hier, in dieser Verbindung, Glück zu finden ist. So heißt es in dem für Cavell zentralen Zitat: »Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, dass die Anerkennung der Andersheit der anderen, der unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.« 2
Die Anerkennung von Getrenntheit besteht nicht darin, eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen und der Welt zu entwickeln, sondern ganz im Gegenteil darin, interessiert an anderen und der Welt zu sein. Das Ziel sollte eine neue Achtsamkeit für die eigene Wahrnehmung sein. Cavell hat, wie er selbst sagt, in der Literatur das Gewöhnliche mit dem Heimischen assoziiert. Deswegen sucht er nach dem Skeptizismus in allem, das das Heimische bedroht. 3 Fündig wurde er vor allem in Melodramen 4, in Horrorgeschichten, etwa bei Poe 5 oder E. T. A. Hoffmann 6 und in Tragödien. Als besonders ergiebig erwiesen sich dabei die hier schon behandelten Shakespeare-Tragödien. Bei Lear, Othello und dem Wintermärchen ist es stets das Heimische, zum Beispiel das familiäre Leben, das durch den Skeptizismus unmöglich wurde. Othello und das Wintermärchen sind da noch präziser, denn hier wird die entscheidende Instanz des Heimischwerdens zerstört: Es ist jeweils eine Ehe, die unmöglich wird. Diese Tragödien sind Tragödien scheiternder Ehen. In der Romanze – oder Tragikomödie – Ein Wintermärchen können wir aber auch sehen, dass es eine wieder aufgenommene Ehe ist, die am Ende der glücklichen Überwindung des Skeptizismus steht. Dabei bezeichnet die Ehe nicht nur das, was nach der Überwindung des Skeptizismus möglich wird, gewissermaßen das, was man als Belohnung bekommt, sondern auch den Modus der Überwindung 2 3 4 5 6
Cavell: Cities of Words, S. 413 Cavell: Disowning Knowledge, S. 29. Cavell: Contesting Tears. Cavell: Danebenstehen, Gleichziehen. Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
selbst. Damit ist die Ehe die Überwindung des Skeptizismus. Weil die Bedrohung des Skeptizismus nie endgültig abgewehrt werden kann, unser Dringen zum Skeptizismus nie ganz zum Erliegen kommt, muss der Skeptizismus wiederholt überwunden werden. Damit muss die Ehe eine wiederholte Überwindung des Skeptizismus sein. Cavells direkteste und expliziteste Beschäftigung mit der Ehe fand im Rahmen seiner Arbeiten zu den Hollywood-Komödien der dreißiger und vierziger Jahre statt, denen hier auch mein größtes Augenmerk gelten wird. Cavells grundlegende Idee ist es, dass diese Filme ein Genre bilden, das die Shakespeare-Romanze beerbt, indem es ihre Erkenntnisse bezüglich des Skeptizismus aufgreift. Besonders eindrücklich kann er das daran zeigen, wie sie die Struktur des Wintermärchens aufgreifen: In jedem dieser Filme geht es um ein Paar, das verheiratet ist, sich dann scheiden lässt und schließlich über den Weg komödiantischer und wortgewaltiger Auseinandersetzungen wieder zusammenfindet, weswegen Cavell diese Filme auch Wiederverheiratungskomödien (comedies of remarriage) nennt. Diese Struktur von Krise, die in den Filmen die Form der Scheidung annimmt, und komödiantischer Überwindung der Krise, ist genau die Weise, die ein glückliches Existieren, eine glückliche Ehe, auch eine glückliche Ehe mit der Welt, ausmacht und möglich macht. Aber nicht nur das Erbe der Shakespeare-Romanze sieht Cavell in der Wiederverheiratungskomödie angetreten, sondern auch das des Amerikanischen Transzendentalismus. 7 In Henry David Thoreaus Walden und in den Essays Emersons wird die Welt als etwas Verlorengegangenes beschrieben. Das ist sozusagen die Krise, in der sich Emerson und Thoreau befinden. Ähnlich wie die Paare in den Komödien, deren Ehen ja »verloren« gingen, sind diese Autoren nun auf einer spirituellen Suche nach einer Möglichkeit, das Verlorene wiederzufinden. 8 Ihre Antwort ist paradox: das Verlorene muss als verloren betrauert akzeptiert werden, nur so kann es wiedergewonnen werden, wiedergewonnen als verloren. Wir können jetzt schon erkennen, dass bei Thoreau und bei Emerson damit wieder eine ähnliche Struktur hervortritt wie in den Wiederverheiratungskomödien, wo ja eine Scheidung, eine Trennung akzeptiert werden muss, um ein erneutes Zusammenkommen, eine Wiederverheiratung zu ermögliRothman, William: »Cavell on Film, Television and Opera«, in: Elridge, Richard (Hrsg.): Stanley Cavell. Cambridge 2003, S. 209. 8 Rothman: Cavell on Film, Television and Opera, S. 212. 7
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chen. Meines Wissens wurden Cavells Arbeiten zu den Wiederverheiratungskomödien noch nie so eng mit seinem zweiten Buch Senses of Walden zusammengebracht. Das ist eine Lücke, die ich gerne schließen möchte. Die Krise tritt in den Filmen in Gestalt der Scheidung auf, die auch ein Abbruch der Konversation des Paares bedeutet. Wir erinnern uns, dass sich auch in den Shakespeare-Tragödien die durch den Skeptizismus ausgelöste Krise als ein Ende gelingender Kommunikationen manifestierte. In Lear konnten die Familienmitglieder sich nicht mehr verstehen, Othello konnte keinem Wort mehr Glauben schenken und Leontes verdammte seine Frau dazu, gleich ganz zu schweigen. Die Überwindung der Krise nimmt nun in den Filmen die Form einer Konversation an, eines glücklichen Gespräches, wie Cavell es nennt. Allerdings ist es zunächst einmal ein Streitgespräch. Wer auch nur einen dieser Filme kennt, wird sich sicher vor allem an das unendliche Geschnatter erinnern, an die, gerade im Vergleich zu heutigen Filmen, schier unglaubliche Menge und Geschwindigkeit, in der die Worte den Protagonisten dieser Filme zwischen den Lippen hervorschießen und um die Ohren fliegen. So sagen uns diese Filme auf ihre ganz einzigartige Art, dass wir für eine Überwindung unserer Verzweiflung auf ein Gespräch angewiesen sind, auf die Worte anderer, dass wir es nicht allein schaffen können. Die Komödien zeigen uns, sagt Cavell, dass es eine Konversation ist, die eine Veränderung in uns hervorruft und eine neue Verbindung in Aussicht stellt. Eines der Themen, das die Paare in den Wiederverheiratungskomödien immer wieder diskutieren, ist die Frage nach dem Wesentlichen der Ehe, nach dem, was eine Ehe ausmacht, was sie legitimiert. 9 »So wie wir die Welt verstehen«, schreibt Cavell, »hat Luther die Welt umdefiniert, als er heiratete, Heinrich der Achte – eine der letzten Figuren, über die Shakespeare schreiben wollte –, als er sich scheiden ließ.« 10 Seitdem kann nichts mehr von außen – nicht Gott, nicht die Kirche, nicht der Staat, nicht der Anspruch auf Kinder und auch keine Tradition – die Legitimität einer Ehe bestimmen. 11 Das heißt, Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 109. Cavell: &»&Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, in: Cavell, Stanley: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main 2002, S. 123. ORIGINALTEXT: Cavell, Stanley: The Importance of Importance – »The Philadelphia Story«, in: Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. Cambridge 1981, S. 133– 160. 11 Rothman: Cavell on Film, Television and Opera, S. 212. 9
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
heute müssen wir selbst bestimmen, jeder für sich und jede Ehe für sich, was diese einzelne Ehe legitimiert. Das ist unsere Bürde und unsere Freiheit, nachdem die Moderne durch unsere Welt und durch uns gegangen ist. Da wir auf gesicherte und geschlossene Weltbilder verzichten müssen, sind wir darauf angewiesen, den Ereignissen und Institutionen unseres Lebens selbst Bedeutung zuzusprechen. Wir müssen also selbst sagen, welchen Wert Ehe und Beziehungen für uns haben, warum sie wichtig für uns sind, warum sie zählen, ob sie zählen. Nun konnten wir im Wintermärchen erleben, dass im Skeptizismus gerade die Fähigkeit, zu sagen, was zählt, verloren ging. Leontes konnte den Dingen nicht mehr aus sich heraus Bedeutung zusprechen, er suchte die Bedeutung in den Dingen selbst. Das Universum trägt, wie Emerson schreibt, stets unsere Farben. 12 Und da Leontes vom Nihilismus beherrscht wurde, reflektierten die Dinge um ihn herum nur noch sein eigenes »Nichts«. Da er kein Konzept von Welt mehr hatte, war seine Welt nur noch Chaos. 13 Der Skeptizismus präsentiert sich hier als der Preis, den wir im Handel um die Moderne bezahlen mussten. Um deutlicher hervorzuheben, welche Auswirkungen dieser Preis auf unsere Liebesbeziehungen hat, möchte ich am Ende dieses Kapitels Cavells Betrachtungen zur Ehe mit einigen Beobachtungen aus Eva Illouz’ »Warum Liebe weh tut« zusammenbringen, einem Buch, das sich mit den schwerwiegenden ontologischen Verunsicherungen der Paarbeziehungen auseinandersetzt und das wohl die aktuell populärste soziologische Veröffentlichung ist. Auch hier wird sich herausstellen, dass es uns nur gemeinsam, zum Beispiel in einer Ehe, gelingen kann, Bedeutung zu schaffen. Ich werde also zuerst Emersons und Thoreaus Konzepten der Trauer, der Neubewertung der eigenen Erfahrung und der Rückkehr zur Welt beschreiben (V. 1), um mich dann ausführlich den Wiederverheiratungskomödien zuzuwenden (V. 2). Zuletzt werde ich die Ehe als eine bedeutungskonstitutive Gemeinschaft in Zeiten der ontologischen Verunsicherung von Paarbeziehungen definieren (V. 3).
Emerson, Ralph Waldo: »Experience«, in: Emerson, Ralph Waldo: Essays, Representative Men etc. and Poems. London 1954, S. 208. 13 Cavell: Conditions Handsome and Unhandsome, S. 119. 12
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Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen
V.1 Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen Dem einen oder anderen wird es nur allzu natürlich vorkommen, dass ein Kapitel über die Ehe mit einem Abschnitt über Trauer beginnt – wenn auch aus anderen Gründen als jene, die ich hier anführen werde. Die Fähigkeit zu trauern, das ist die Lektion, die Cavell aus Thoreaus Walden und Emersons Essays zieht, ist die grundsätzliche Bedingung, dass ein neuer Bund mit der Welt gelingen kann. Was muss betrauert werden? Natürlich die Welt, die uns verloren ging. Am 4. Juli 1845 zieht Henry David Thoreau unweit seiner Heimatstadt Concord, Massachusetts, in eine selbst erbaute Blockhütte am Walden-See, wo er für die nächsten zwei Jahre allein leben würde. Thoreaus Rückzug in die Wälder war aus mehrerlei Gründen kein Rückzug aus seiner Gesellschaft. Erst einmal war es natürlich kein Zufall, dass es gerade der amerikanische Unabhängigkeitstag war, an dem er sein Leben dort begann. Mit seinem Experiment vollzog er seine eigene Unabhängigkeitserklärung und einen Akt der Identifikation mit den Pilgervätern, die dieses Land als erste besiedelt hatten. Es war aber auch ein Akt der Identifikation mit allen seinen Landsleuten, den Menschen Amerikas. Der Autor von Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat 14 wollte auf diese Weise die ursprünglichen Hoffnungen und Ideen Amerikas erneuern und an ihnen den aktuellen Zustand seines Landes messen. Dann war es nicht so, dass er dort am See in aller Abgeschiedenheit hauste, sondern in einer Meile Entfernung von seinem nächsten Nachbarn, und das ist, wie Cavell schreibt, gerade so weit, dass man noch gut gesehen werden kann. 15 Und das war es auch was er wollte: von seinen Mitbürgern gesehen werden, als ein Beispiel für sie, als ein Beispiel von ihnen. Aus diesem Geiste heraus hat er auch ein Buch über seine Jahre am See geschrieben. Walden, das Buch, dessen Naturbeschreibungen letztlich Thoreaus Weg ist, über die Belange seiner Mitbürger zu sprechen, ist der beste Beweis dafür, dass der vermeintliche Rückzug aus der Gesellschaft eigentlich der Versuch einer Rückkehr war.
Thoreau, Henry David: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat und andere Essays. Zürich 2010. 15 Cavell: Senses of Walden, S. 10. 14
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Trauern lernen Das Gefühl des Verlustes liegt wie Nebel über den Seiten von Walden. In der vielleicht rätselhaftesten Stelle des Buches schreibt Thoreau: »Vor langen Jahren verlor ich einen Jagdhund, ein braunes Pferd und eine Turteltaube, und immer bin ich darnach auf der Suche.« 16 Diese drei Tiere sind natürlich Symbole. Es sind keine bestimmten Dinge, die ihm verloren gingen, es ist die Verbindung zu den Dingen selbst. 17 Das ist eine Art, den Skeptizismus zu beschreiben: als verlorene Intimität zu den Dingen dieser Welt, als eine Distanz oder Fremdheit zu allem, was uns umgibt. Und so ist wohl auch einer der berühmtesten Sätze Waldens zu verstehen: »Die große Masse der Menschen führt ein Leben stummer Verzweiflung.« 18 Mit der stummen Verzweiflung, sagt Cavell, sei gemeint, dass der Skeptizismus in uns lebt. 19 Aber es ist noch ein anderes, scheinbar gegensätzliches Gefühl in diesem Buch: das Gefühl des Aufbruchs, des hoffnungsvollen Neuanfangs, des neuen Morgens. In fast schon alberner Fröhlichkeit schreibt Thoreau, dass er mit seiner Schrift nicht beabsichtige, »eine Ode an die Niedergeschlagenheit zu singen, sondern so vergnügt wie der Gockel auf seinem Steig am frühen Morgen zu krähen, und wäre es nur um meinen Nachbarn aufzuwecken.« 20
In einer weiteren Passage, in der Thoreau wieder das Thema des Morgens (morning) und der Morgendämmerung (dawning) aufgreift, heißt es: »Der Mensch, der nicht glaubt, dass jeder Morgen eine frühere, heiligere, heller im Morgenrot leuchtende Stunde umschließe als alle, die er bis jetzt entweiht hat, der verzweifelt am Leben und geht auf dunklen Pfaden abwärts.« 21
Thoreau, Henry David: Walden, oder Leben in den Wäldern. Zürich 1971, S. 29. Cavell: Senses of Walden, S. 51. 18 In der Übersetzung steht eigentlich: »Die große Masse der Menschen führt ein Leben voll Verzweiflung« (Thoreau: Walden, S. 20.), tatsächlich heißt es aber im Original »The mass of men lead lives of quiet desperation.« Ein, wie wir noch sehen werden, gewichtiger Unterschied für die Interpretation Cavells. 19 Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 9. 20 Thoreau: Walden, S. 92. 21 Ebd., S. 97. 16 17
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Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen
Diese beiden Themen, Verlust und neuer Morgen, werden von Thoreau zusammengebracht, indem bei ihm das Erreichen eines neuen Morgens (morning) und einer neuen Dämmerung (dawning) über den Weg der Trauer (mourning) führt. Mourning for a new morning – trauern für einen neuen Morgen –, wie das zentrale Sprachspiel von Walden sagt. Der neue Morgen ist bei Thoreau ein Bild für einen neuen glücklichen Bund mit der Welt, die Trauer eine Trauer um den Verlust der Welt. Daraus ergibt sich das Paradox, dass wir nur zur Welt zurückkehren können, wenn wir ihren Verlust in der Trauer akzeptieren. Wir können die Welt also nur als etwas Verlorenes wiedergewinnen. Menschsein ist immer Verlust, immer Verlassen, schreibt Cavell. Jeder Erwachsene musste das Kindsein hinter sich lassen. 22 Nicht um die Trauer um ein einzelnes Objekt geht es, sondern um Trauer als grundsätzliche Haltung gegenüber unserer Existenz, weil eben Verlust auch die Grundlage unserer Existenz ist. 23 Mit dem Anbrechen des Sommers beginnen wir ihn schon zu verlieren, den kommenden September vergessen wir nie. Und jedes Einschlafen ist auch das Verlassen eines Tages, der unwiederbringlich verloren ist. »Verlust als solcher ist nicht zu überwinden, er ist endlos, denn alles was wir finden, kann auch wieder einen neuen Verlust bedeuten.« 24 Jeder Mensch, den ich für mich gewinne ist ein weiterer, dem ich Lebewohl sagen muss. Und auch zu Menschen, die noch bei mir sind, muss ich »Lebewohl« sagen, weil ihr Leben, egal wie nahe sie mir sind, nicht meines ist, sie ein Leben jenseits von meinem haben – sie sind, wo ich nicht bin, getrennt von mir. Ich muss es dauernd sagen, jeden Tag. Blicken wir auf das, was wir verloren haben, dann sehen wir auch die Leben, die wir nicht gewählt haben. Mit jedem Pfad, für den ich mich entschieden habe, gab ich einen anderen auf. Ein Leben, das vielleicht meines hätte sein können, aber eben nicht das meine war, kann mir in meiner Vorstellung größer oder zu mir passender erscheinen als mein tatsächliches. Weswegen ich nicht selten glaube, dass das Leben, das ich mir vorstelle, mein echtes ist, und jenes, das ich wirklich führe, nur ein unechtes, nicht mein Leben. Wie viel Glück hätte gelegen auf den Pfaden, die wir nicht eingeschlagen haCavell: Senses of Walden, S. 51. Hammer: Stanley Cavell, S. 81. 24 Cavell, Stanley: This New Yet Unapproachable America: Lectures After Emerson After Wittgenstein. Albuquerque 1989, S. 114. 22 23
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
ben? Wie könnte ich mich weiter entfernen von meinem Leben als mit dieser Stimmung? 25 Cavell beschreibt in seiner philosophischen Autobiographie Little Did I Know, dass er eigentlich Musiker werden wollte und dass er an dem Tag, an dem er seine musikalische Ausbildung abbrach und sich – verhältnismäßig spät – für eine andere Laufbahn entschied, diesen anderen Mann, der auch er hätte sein können, tötete und heute sich natürlich fragt, wie es diesem anderen Mann ergangen wäre. 26 Bei Thoreau drückt sich der Verlust der Welt, der den Skeptizismus auszeichnet, vor allem in einem Verlust ihrer Gegenwärtigkeit aus, einer Distanz zu den eigenen Erfahrungen. Neben dem Gefühl der Fremdheit gegenüber der Welt verleiht er auch der Empfindung Ausdruck, dass es mal anders war, dass es eine Zeit gab, in der wir den Dingen der Welt näher waren, unserem Erleben gegenwärtiger, dass es eine Zeit gab, in der wir wirklich »dabei« waren, während wir uns heute nur noch wie Beiwohner unserer eigenen Erfahrungen vorkommen. Aber selbst wenn diese Erinnerung an eine mythische Intimität mehr als ein Mythos sein sollte, dann ist sie immer noch nur eine Erinnerung. Und damit ist sie vergangen und verloren – und wir spüren den Verlust. »Der Preis«, den wir für dieses Leben zu zahlen haben, »ist zwangsläufig, dass wir etwas aufgeben müssen, etwas loslassen müssen, unsere Armut erleiden müssen.« 27 Aber, und es ist trotz allem ein doch großes optimistisches »aber«, das Thoreau hier anbringt, wenn wir beginnen, uns unser Verloren-Sein, unseren Verlust, einzugestehen, ist das nicht nur ein Moment großen Schmerzes, das ist er ganz sicher, es ist auch der Moment erster Akzeptanz, und das bedeutet, dass etwas Neues geschehen kann, dass die Zeit für einen Wandel gekommen ist. »Nicht eher, als bis wir verloren sind – mit anderen Worten: bis wir die Welt verloren haben –, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.« 28 Ich kann das Thema der Leben, gegen die wir uns entschieden haben, hier leider nicht weiter verfolgen, aber dafür den exzellenten Text von Andrew H. Miller empfehlen, der es im Kontext der Philosophie Cavells diskutiert: Miller, Andrew H.: »For All You Know«, in: Elridge, Richard/Rhie,Bernard (Hrsg.): Stanley Cavell and Literary Studies. New York 2011, S. 194–207. 26 Cavell: Little Did I Know, S. 179 u. S. 225. 27 Cavell, Stanley: This New Yet Unapproachable America, S. 114. 28 Thoreau: Walden, S. 174. 25
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Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen
Was Thoreau also erreichen möchte, ist die offene Anerkennung unseres Verlustes der Gegenwärtigkeit der Welt. Wenn er sagt, die große Masse der Menschen führe ein Leben stummer Verzweiflung, dann bedeutet das nicht, dass er glaubt, ihre Verzweiflung auflösen zu können. Wie soll er auch, die Welt ist für sie genauso verloren wie für ihn. Nein, was er will ist, die Menschen von ihrer Stummheit zu erlösen, indem er selbst nicht länger schweigt. 29 Wie der Gockel auf seinem Steig will er es nach draußen krähen, auf dass von allen gehört werden kann, dass wir die Welt verloren haben – auf dass es allen, die ihn hören, gewahr werden kann, dass wir Menschen eben so beschaffen sind, dass wir in keinem anderen Zustand existieren können als in dem, der sich uns als Abgeschnitten-Sein präsentiert. Dass wir kein anderes Leben haben können als dieses, dass wir kein engeres Verhältnis zur Welt haben können, dass uns die Welt stets so vorkommen muss, als würden wir sie verlieren und dass das ein Tatsache ist, die betrauert werden muss: »Trauer – als Weg den Verlust der Welt zu akzeptieren (man könnte auch sagen: den Verlust ihrer Gegenwart zu akzeptieren), sie, die Welt, zu akzeptieren als etwas, das nur im Modus ihres Verlusts existiert (man könnte sagen: im Modus ihrer Abwesenheit) oder als etwas, das sich als Verlust präsentiert.« 30
Nur in der echten Akzeptanz unseres Verlusts, weiß Thoreau, liegt die Möglichkeit die Welt zurückzugewinnen, nicht in der mythischen Intimität, die wir uns erträumten, sondern zurückzugewinnen in der Distanz und der Fremdheit, die diese Welt zu uns hat. Außensein ist unser Schicksal in der Welt. 31 Nicht die Welt oder unsere Verbindung zu ihr wird sich durch den Akt der Trauer ändern, sondern unsere Haltung zu dieser Verbindung. Deswegen ist unsere Rückkehr zum Gewöhnlichen stets eine Wiederkehr des Alten, das aber dennoch neu ist. Das Alte kann für uns nur bestehen bleiben, wenn es für uns neu wird. In einem ähnlichen Themenfeld bewegt sich Cavell in seiner Lektüre von Hamlet, das er als ein Stück über die Weigerung oder die Unfähigkeit zu trauern beschreibt. 32 Hamlet erscheint der Geist seines verstorbenen Vaters, der ihm befiehlt, seinen Tod zu rächen. 29 30 31 32
Cavell: Senses of Walden, S. 56. Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 102. Cavell: Senses of Walden, S. 55. Cavell: Disowning Knowledge, S. 186.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Dadurch dass der Vater auf diese Weise verlangt, dass Rache für ihn geübt wird, raubt er Hamlet die Möglichkeit, um ihn zu trauern, ihn gehen zu lassen. 33 Rache soll für Hamlet von nun an die Stelle von Trauer stehen. Trauer bedeutet nach Freud, dass ich mich, »Strang um Strang« loslöse von einem Objekt, das verloren ging. 34 Trauer heißt, die Toten zu beerdigen. »Die Bedingung dieser Arbeit ist aber, dass du selbst leben willst.« 35 Mit der Möglichkeit zu trauern wird Hamlet auch die Möglichkeit eines – individuellen – Lebens genommen. Hamlet kann nicht ins Leben zurückkehren, weil er sich nicht lösen kann von einem toten Vater, der Rache von ihm verlangt, und auch nicht von einer Mutter, die gleich nach dem Tod des Vaters einen neuen Mann, den Mörder seines Vaters, heiratet und deren unabhängige Sexualität sich für Hamlet anfühlt, als würde er von ihr verlassen. Um einen Platz in seinem Leben einnehmen zu können, müsste Hamlet die Getrenntheit von seinen Eltern akzeptieren können. Er müsste um diese Verluste trauern, darum trauern, dass er als Sohn dieses Vaters und dieser Mutter geboren wurde. Damit würde er sein eigenes Leben auf sich nehmen – so als würde das eigene Leben aufzunehmen bedeuten, dass man es aufgibt. Hamlet bleibt ausgeschlossen von der Welt, und es ist das Verlangen nach Rache, das ihn draußen hält. Rache zeigt sich hier als Zerstörer individueller Existenz, während Trauer sie ermöglichen würde. 36 Hamlet kann seinem Zustand nur entfliehen, indem er stirbt. 37 In Freuds kurzem Essay Vergänglichkeit findet Cavell den Gedanken, dass »Trauern die Bedingung der Möglichkeit« ist, »die Schönheit der Welt zu akzeptieren, ihre Unabhängigkeit zuzulassen, ihre Objektivität.« 38 Was uns den Genuss des Schönen entwertet, sagt Freud, ist »die seelische Auflehnung gegen die Trauer«. 39 Unsere Seele weiche instinktiv vor allem Schmerzlichen zurück und fühle sich deswegen in ihrem Genuss am Schönen angesichts des dauernden Verlusts beeinträchtigt. 40 Wem die Trauer bis hierhin wie eine allzu Ebd., S. 188. Ebd., S. 186. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 189. 37 Ebd., S. 187 f. 38 Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 102. 39 Freud, Sigmund: »Vergänglichkeit«, in: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke chronologisch geordnet Band 10. Hamburg 1946. S. 359. 40 Ebd. 33 34
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wohlfeile Antwort auf die von Cavell stark dramatisierte skeptische Problematik vorkam, den erinnert Freuds Betonung des Schmerzlichen, vor dem die Seele flieht, daran, welch schwieriger und schwerwiegender Prozess das Trauern ist. Cavell resümiert: »Um das Trauern zu lernen, mag man ein ganzes Leben benötigen.« 41 Zurück zu Walden: Indem Thoreau sich offenbart, herauskräht, wie es um ihn steht, er sich mit seinen Mitmenschen identifiziert, hat er den ersten Schritt aus seinem Ausgeschlossen-Sein gewagt. Er sagt: Hier sind wir alle gleich. Hamlets Problem war, dass er sich ausgeschlossen von der Gleichheit aller Menschen empfunden hatte und sich gerade deswegen nicht als eigenständiges Individuum in dieser Welt begreifen konnte. Sich als Ausnahmemensch zu begreifen ist eine Haltung, die dem Skeptizismus in die Hände spielt. Thoreaus Gegenvorschlag ist, sich als gleich mit allen anderen, aber eigenständig zu verstehen.
Ein Gast und ein Nachbar sein Was Thoreaus am Walden-See über sein eigenes Verloren-Sein oder Verloren-Haben lernt ist, dass es schlichtweg der gewöhnliche Zustand des Menschseins ist. Nicht, dass es uns gewöhnlich vorkäme, im Gegenteil: Es ist das Außergewöhnliche des Gewöhnlichen, dass es so surreal ist. 42 Dennoch ist es normal für uns Menschen, dass wir das, was uns eigentlich am nächsten ist, verlieren und wir danach suchen müssen. Um diese Lektion lernen zu können, musste Thoreau erst damit beginnen, seinem eigenen Leben und Erleben zu trauen. Das heißt, er musste die Natur, um ihn herum so annehmen, wie sie sich ihm präsentiert, er musste ihr Objektivität zusprechen. Und, das ist wichtig, er musste auch seinem eigenen Empfinden und seinem Denken beim Erleben dieser Natur Objektivität zusprechen. »Denken als Annehmen« ist für Cavell die richtige Antwort auf den Skeptizismus. 43 »Diese Antwort besteht nicht darin den Skeptizismus zu leugnen, sondern seine Wahrheit neu zu erfassen. Es ist wahr, dass wir die Welt nicht mit Sicherheit wissen können; unsere Beziehung zu ihrer Existenz ist tiefer – 41 42 43
Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 102. Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 9. Cavell: Senses of Walden, S. 133.
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eine, in der wir ihre Existenz akzeptieren, das bedeutet: erhalten müssen. Mein bevorzugter Weg, das auszudrücken ist, dass ihre Existenz anerkannt werden muss.« 44
Thoreau nennt diesen Modus des annehmenden Denkens »interessiert sein«. 45 So sitzt er an seiner Hütte und lauscht den Geräuschen des Waldes und dem Klang der Glocken nahegelegener Ortschaften, den der Wind manchmal zu ihm trägt. Er liegt auf dem zugefrorenen See, pflegt seine Bohnen, schließt Freundschaft mit den Jahreszeiten und empfängt allerlei Gäste: Wanderer, Vögel, Eichhörnchen. 46 Dabei merkt oder akzeptiert er, dass er hier nur Gast ist. Und zwar ist er nicht nur Gast, weil der Mensch nicht in der Natur zuhause ist oder weil wir an unserem Ende diese Welt verlassen müssen, sondern weil wir sie unser ganzes Leben lang verlassen müssen, weil das Gast-Sein unser Verhältnis zu Welt ist. Schon in den eröffnenden Zeilen des Buches schreibt Thoreau, dass er nun zur Zivilisation zurückgekehrt ist, nicht länger Gast in Walden sei, dafür aber jetzt ein Gast in der Zivilisation. 47 Walden ist für Thoreau nicht ein utopisches Zuhause – es ist der Ort, an dem er gelernt hat, Gast zu sein. Als er erst einmal verstanden hat, dass er ein Gast ist, ein Fremder in dieser Welt, kann er, wie er sagt, plötzlich sehen, »wie endlos ausgedehnt« seine Verbindungen dennoch sind. Die Erkenntnis seiner Verbindungen ist gleichzeitig die Erkenntnis seiner Getrenntheit. 48 Er kann sehen, wie die Welt trotz seines Getrenntseins von ihr auf ihn reagiert – und das befreit schließlich seine Fähigkeit zu handeln. 49 Über den Weg des annehmenden Denkens oder des »Interessiert-Seins« lernt Thoreau sein Fremdsein in der Welt als gewöhnlich zu akzeptieren. Wir sind schon immer fremd gewesen – darauf will er uns aufmerksam machen. Doch die Natur so anzunehmen, wie sie sich einem präsentiert, bedeutet auch, die eigene Natur so anzunehEbd. Übersetzung von D. G. Ebd., S. 102. 46 New, Elisa: »Beside Ourselves – Near, Neighbouring, and Next-to in Cavell’s The Senses of Walden and William Carlos William’s Fine Work with Pitch and Copper«, in: Elridge, Richard/Rhie,Bernard (Hrsg.): Stanley Cavell and Literary Studies. New York 2011, S. 178 ff. 47 Fehlt leider in der deutschen Übersetzung. Hier heißt es einfach: »Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.« (Thoreau: Walden, S. 16), während im Originaltext steht: »sojourner in civilized live again.« 48 Cavell: Senses of Walden, S. 54. 49 Ebd., S. 102. 44 45
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men, wie sie sich einem selbst präsentiert. Da es hier ja um unser Erfahren von Welt geht, muss die Suche nach unseren Verbindungen, auch immer eine Suche nach unserem Selbst sein. »Das Schicksal, ein Selbst zu haben – ein Mensch zu sein – ist, dass das Selbst immer noch erst gefunden werden muss«, 50 fasst Cavell zusammen. Der Verlust unseres Selbst, oder das, was sich als Verlust präsentiert, ist genauso ein Verlust, den wir betrauern und akzeptieren müssen, wie den Verlust der Welt, oder das, was sich als ihr Verlust präsentiert. Aus der Beschreibung des Menschen als ein Wesen, das zeitlebens auf der Suche nach dem eigenen Selbst ist, folgt, dass der Mensch eine Doppelnatur hat. Der Mensch ist also sogar sich selbst fremd, was ihm wiederum als Verlust vorkommt. Thoreau will der Konzeption des Menschen als Doppelnatur auf die Tatsache hinaus, dass wir eine Instanz in uns haben, die neben uns steht, die uns beobachtet, kommentiert und kritisiert, und dass wir sehr häufig ihre Position einnehmen, die wir als abgeschnitten von Ereignissen um uns herum und unseren Erfahrungen empfinden: »Das Denken kann uns bei gesunden Sinnen außerhalb unseres eigenen Selbst versetzen. Durch eine bewusste Anstrengung des Geistes können wir abseits stehen von Handlungen und ihren Folgen; alles, das Gute und das Böse, rauscht gleich einem Strom an uns vorüber. Wir sind nicht ganz in die Natur verwebt […] Ich kann durch eine Theatervorstellung ergriffen werden; andererseits brauche ich nicht ergriffen zu werden, durch ein Ereignis, das mich scheinbar viel näher angeht. Ich kenne mich nur als menschliches Wesen, als den Tummelplatz, sozusagen, von Gedanken und Gefühlen, und bin mir einer gewissen Doppelexistenz bewusst, die mir gestattet, mir selbst so ferne zu stehen wie einem andern Menschen. Wie tiefgehend auch mein Erleben ist, so fühle ich die Gegenwart und Kritik eines Teiles von mir, der eigentlich kein Teil von mir, sondern Zuschauer ist, nicht Teil an den Erlebnissen, aber Notiz davon nimmt; dieser Teil gehört ebensowenig mir wie dir.« 51
In dieser Unpersönlichkeit der Konzeption der eigenen Doppelheit sieht Cavell den geistigen Durchbruch Thoreaus. Thoreau nimmt das Selbst in seiner Seltsamkeit und Fremdheit ohne Verlegenheit an und gibt damit ein eigenes Bild der Ganzheit des Selbst ab – »aus einem Gefühl der Zusammenhanglosigkeit, der Teilung und der Un-
50 51
Ebd., S. 53. Thoreau: Walden, S. 139.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
komplettheit heraus.« 52 Die Idee einer absoluten Intimität mit sich selbst ist eine Phantasie, die von außen an uns herangetragen wurde, wir müssen sie ablegen, sie abwehren und stattdessen darauf achten, wie wir uns für uns selbst präsentieren. Wir müssen in uns hineinhören und daraus ein Bild unseres Verhältnisses zu uns selbst entwickeln. 53 Thoreau bezeichnet das Verhältnis zu dem eigenen Doppel als »neben sich sein«, so als würde er sich selbst benachbarn. 54 Die Natur war dabei sein Lehrmeister, hier konnte er das Benachbarn lernen. Um etwas von der Natur lernen zu können, müssen wir uns bereit zeigen, uns von ihr belehren zu lassen. Ohne diese Bereitschaft wird die Natur uns allein lassen, denn sie ist nicht unser Zuhause, sondern »unser Beispiel, unser Traum vom Zuhause sein.« 55 »Die Mauser«, schreibt Thoreau, der wie Austin ein Ornithologe unter den Philosophen ist, »muss wie bei den Vögeln eine Krisis in unserem Leben sein. Der Taucher zieht sich während ihrer Dauer auf einsame Teiche zurück.« 56 Die Krise in der Natur kann für uns aber nur ein Beispiel sein, denn während sich in der Natur die Krise ganz natürlich vollzieht, ist unsere Krise nicht natürlich. Die Natur wird sie nicht für uns erledigen. Es ist an uns, unsere Krise zu überwinden. Anders als die Vögel müssen wir selbst ein »neues Kleid« anlegen. 57 Wir sind also »neben uns«, und der Gedanke von Walden ist, dass wir gerade dieses Nächst-Sein und Uns-Selbst-Benachbarn anstreben sollten, dass wir das doppelte Selbst in uns als einen Beobachter erkennen, der uns unaufhörlich überwacht – als einen Bewohner, der unermüdlich an dem Gebäude baut, das wir sind. Thoreau bezieht sich auf unsere Doppelheit, wenn er darlegt: »In unserer nächsten Nähe [Next to us] befindet sich nicht der Arbeiter, [den wir angestellt haben] und mit dem wir uns so gerne unterhalten, sondern der Arbeiter, dessen Werk wir sind.« 58
Integrität erreicht der Mensch nicht, wenn er eine gesicherte Intimität mit sich selbst erreicht, die zugleich eine »Starre« wäre, sondern 52 53 54 55 56 57 58
Cavell: Senses of Walden, S. 102 f. Übersetzung D. G. Ebd., S. 107 f. Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 44 f. Thoreau: Walden, S. 35. Cavell: Senses of Walden, S. 43. Thoreau: Walden, S. 138 f.
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sich als eine Entität begreift, die stets im Werden ist, konstant »im Bau befindlich«, ewig auf der Suche. Wenn wir uns Nächst-Sein statt Intimität wünschen, dann bezeugen wir die Bereitschaft zur Veränderung und zur Verantwortlichkeit für uns selbst, die es uns ermöglicht, zu einem neuen Morgen zu erwachen, einer neuen – anderen – Intimität. 59 Eine Perspektive, die ich bisher ein wenig unterbelichtet gelassen habe ist, dass die Fremdheit zur Welt und zu sich selbst auch eine Fremdheit zu den Worten ist, mit denen wir unser Universum ordnen. Der Ursprung des Fremdheitsgefühls liegt darin, dass die Worte, die ich benutze, schon vor mir da waren, ich sie nur geerbt habe und es außerdem nicht allein meine Worte sind, sondern die Worte aller. Es ist ein Verlust des Vertrauens in die Fähigkeit der Worte, das zu leisten, was sie leisten sollen: Kommunikation ermöglichen, auch dort wo es schwierig ist. »Unser Unglaube an die Sprache wiederholt unseren Unglauben an alle unsere geteilten Verbindlichkeiten.« 60 Thoreaus Projekt, in den Wald zu ziehen und ein Buch darüber zu schreiben, muss als sein Versuch verstanden werden, sich seine Sprache wieder anzueignen. Es ist eine besonders kreative Weise, dem Wittgensteinschen Credo zu folgen und die Worte in ihre alltägliche Heimat zu führen. Thoreau geht nach Walden und erlebt dort, was er eben erlebt, und durch sein Erleben erlangt er die Autorität, den Leuten etwas darüber sagen zu können, denn er präsentiert sich seinen Mitmenschen als Exempel seiner Worte. 61 Die Worte kehren zu ihm zurück, weil er durch sein Leben am See gewissermaßen die Objekte, auf die unsere Worte sich beziehen, wiederherstellt. Entscheidend ist aber, dass Thoreau, nachdem er im Akt des Schreibens sich seine Worte wieder angeeignet hat, das Vertrauen gewinnt, dass sie anderen Leuten etwas sagen können, was sich darin äußert, dass er seine Worte schließlich wieder verlässt. Er verlässt seinen Text und überlässt ihn dem fremden Leser – in dem Vertrauen, dass dieser ihn verstehen wird. Ob wir uns unsere Worte angeeignet haben, zeigt sich daran, dass wir sie verlassen können, dass wir sagen können, sie sind gut so, ohne mich. Mit dem Appell an eine Intimität des Benachbarns statt des Besitzens gleicht die Moral von Walden jener von Emersons mächtigem 59 60 61
Cavell: Senses of Walden, S. 109. Ebd., S. 66. Übersetzung D. G. Bronfen: Stanley Cavell, S. 125.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Essay Erfahrung: Wir können der Welt nur näher kommen, indem wir sie betrauern und nicht habgierig nach ihr greifen. 62 Wir müssen die Welt erst loslassen, um sie für uns zu gewinnen. In Walden, schreibt Cavell, »ist der Beweis dafür, dass man sich das Gefundene zu Eigen gemacht hat, […] die Freiheit, es zu verlassen.« 63 Somit ist der ganze Sinn des Projektes, dass Thoreau Walden schließlich verlässt. Dementsprechend sind die ersten und letzten Sätze des Buches Abschiedserklärungen von Walden 64 und in diesem Sinne schließt auch Cavell sein Buch zu Walden: »Walden war immer schon verloren, von den ersten Worten von Walden an […]. Der erste Mann und die erste Frau sind nicht länger hier; unsere erste Beziehung zur Welt ist nicht länger durch die Welt gesichert. Es zuzulassen, dass die Welt sich ändert, und Veränderung von ihr zu lernen, ihre Fremden zuzulassen, ihre eigene Fremdheit zu akzeptieren, sind Bedingungen dafür, sie jetzt zu kennen.« 65
Das ist der neue Bund, den wir mit der Welt eingehen. Emerson ruft uns auf, unser Verhältnis zur Welt als eine Romanze zu begreifen. 66 Genau wie jemanden, den wir lieben, besitzen wir die Welt nicht, sondern suchen nach unseren Verbindungen. Dabei haben wir die Chance, eine Ehe entstehen zu lassen. Zu diesem neuen Verhältnis gehört aber auch, dass wir die Freiheit haben, Verbindungen jederzeit kappen zu können. »Ich kann […] ergriffen werden«, sagt Thoreau, andererseits brauche ich nicht ergriffen zu werden.« 67 Es liegt in meiner Hand. Wenn Ronald L. Hall schreibt, dass nur ein Bund, »den ich entfliehen oder verweigern kann, aber freiwillig eingehe«, ein Bund ist, »der mich nicht versklavt«, 68 dann erinnert er uns daran die Schönheit einer solchen Beziehung zu sehen, die die menschliche Freiheit auf grundlegendste Weise miteinschließt.
Cavell: Philosophy the Day After Tomorrow, S. 52. Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 106. 64 Ebd. 65 Cavell: Senses of Walden, S. 119. 66 Emerson, Ralph Waldo: »Circles«, in: Emerson, Ralph Waldo: Essays, Representative Men etc. and Poems. London 1954, S. 153. 67 Cavell: Senses of Walden, S. 139. 68 Hall, Robert L.: The Human Embrace. University Park 2000, S. 145. 62 63
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Mourning for a New Morning – Trauern für einen neuen Morgen
Stimmungen Die Welt wird sich wie gesagt nicht verändert haben, wenn ich an einem neuen Morgen zu ihr zurückkehre, und doch wird sie anders sein, denn meine Haltung zu ihr hat sich verändert. Ich könnte auch sagen, meine Stimmung hätte sich geändert. Wenn Thoreau schreibt, dass das Weltall »beständig und gehorsam unseren Vorstellungen« entspricht, 69 es sich unseren Begriffen fügt, dann ist das zunächst einmal, wie Cavell findet, eine sehr elegante Zusammenfassung der Kritik der reinen Vernunft. 70 Gleichzeitig geht dieser Satz, wie Cavell ihn interpretiert, aber entschieden über die erste Kritik hinaus. Denn wenn man sagt, dass das Universum auf unsere Konzeptionen reagiert, dann reagiert es auch darauf, ob ich es als »bösartig oder großzügig, wissenschaftlich oder magisch« auffasse. Das bedeutet, dass es mehr Ebenen gibt, auf denen wir die Welt verstehen können, als Kants Kategorien der Erkenntnis nahelegen. Cavells Idee ist, dass »Stimmungen« einen genauso großen Einfluss auf unser Erfassen von Welt haben wie Sinneserfahrungen. Demnach könne der Welt ein Attribut wie »bösartig« oder »großzügig« zuzusprechen die gleiche Subjektivität oder Objektivität haben, wie einem Apfel eine bestimmte Farbe zuzusprechen. Sinneserfahrungen seien für Objekte das, »was Stimmungen für die Welt sind.« 71 Cavell sieht sich mit diesem Gedanken auch von Emerson unterstützt, dessen Erfahrung er einen Text über die Erkenntnistheorie von Stimmungen nennt. Der Text kritisiere die Empiristen, nicht weil sie sich auf Erfahrung verlassen, sondern weil ihr Begriff von Erfahrung so armselig sei. Auch die Herausforderung Kants geht Cavell zufolge hier noch ein bisschen weiter: Wenn Kant postuliert, dass wir echtes Wissen von der Welt haben können, wir dabei aber auf Erfahrung beschränkt sind, dann ist Emersons Reaktion darauf, dass das ja schön und gut ist, aber Kant dann sehr genau beschreiben müsse, was er unter Erfahrung verstehe. Sein Begriff der Erfahrung könnte ja schon von vornherein beschränkt sein, und zwar durch die Grenzen, die er dieser Erfahrung auferlegt, oder durch die Grenzen seiner bisherigen Erfahrung oder seines Wissens von der menschlichen Existenz. Wenn Kant, um das Beispiel Cavells zu benutzen, 69 70 71
Thoreau: Walden, S. 104. Cavell: Senses of Walden, S. 125. Ebd.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
mir sagt, was ich hoffen darf, dann muss ich wissen, dass er bereits Hoffnung erfahren hat, weil ich sonst vermuten muss, dass er es noch nicht getan hat, was bedeutet, dass seine Erfahrung eigentlich eine der Verzweiflung ist. 72 Was wir hiervon mitnehmen sollten ist, dass Cavell die Transzendentalisten so versteht, dass unsere Erfahrung von vornherein durch unsere Stimmung oder Haltung der Welt gegenüber eingefärbt ist. »Das Universum trägt unsere Farben«, 73 wie es bei Emerson heißt. Ob ich mein Leben als Tragödie oder Komödie wahrnehme, hängt demnach jenseits dramatischer und schwerwiegender Ereignisse entschieden davon ab, welche Haltung ich zu den Ereignissen einnehme. Das ist sicher keine Pille, die sich leicht schlucken lässt. Aber die Transzendentalisten gehören der Überzeugung an, dass wir, wenn wir uns im Sinne unserer Doppelheit selbst beobachten und auch zulassen, dass die Welt uns beobachtet, wir entdecken können, wie wir die Welt einfärben und uns dann gegebenenfalls auch für eine andere Färbung entscheiden können. Der Glaube an die Veränderungskraft des Menschen ist bei Thoreau und Emerson stark ausgeprägt, was sie, wenn man so will, zu amerikanischen Philosophen par excellence macht. Cavell hat das, als der amerikanische Denker, der er ist, von ihnen geerbt. Doch sind seine Texte im Ton melancholischer, weil er den Aspekt des ewigen Ringens mit sich selbst stärker betont. Wir dürfen aber auch Emersons Sinn fürs Tragische nicht unterschätzen. Wenn Emerson fordert, dass wir eine neue Haltung zur Schöpfung einnehmen sollen, »ein heiliges Bejahen«, 74 dann tut er das gerade mit dem Wissen, dass es Einiges gibt, das wir zu betrauern haben. Sein Essay Erfahrung schrieb er als Reaktion auf den frühen Tod seines Sohnes. Tragödie kann nicht endgültig überwunden werden, sie ist in unser Leben verwoben, sie webt unser Leben. Was aber mit einer neuen Stimmung, einer Bejahung der Welt überwunden werden kann, ist Nihilismus und Verzweiflung. 75 Glaube ich, dass die Welt in all ihren Erscheinungen grundlegend zweifelhaft ist, dann wird Zweifelhaftigkeit ihre fortwährende Antwort auf mich sein. Kei-
Ebd., S. 126. Emerson: Experience, S. 208. 74 »The sacred affirmative«. Emerson, Ralph Waldo: The Preacher. http://oll.libertyfund.org/?option=com_staticxt&staticfile=show.php%3Ftitle=1960 &chapter=123058&layout=html&Itemid=27. 75 Cavell: Senses of Walden, S. 133. 72 73
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Die Komödie der Wiederverheiratung
ne Stimmung, keine Haltung der Welt gegenüber ist zwangsläufig objektiver als eine andere. Thoreau beendet Walden mit den berühmten Abschlusssätzen: »Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind. Noch mancher Tag harrt des Anbruchs [to dawn]. Die Sonne ist nur ein Morgenstern [morningstar].« 76 Die Sonne als ein Stern des Morgens [morning] und des Trauerns [mourning] – das erinnert uns daran, dass sie, wenn sie aufgegangen ist, ihren Zenit erreichen und wieder untergehen wird. In dem Moment, in dem wir sie gewonnen haben, beginnen wir, sie schon wieder zu verlieren. Es ist dann an uns, unseren Verlust erneut zu betrauern und dafür zu sorgen, dass wir zu einem neuen Morgengrauen erwachen können, immer und immer wieder. Die Welt muss jeden Tag wiedergewonnen werden, »wiedergewonnen als verloren.« 77 Das ist der neue Bund, den wir mit der Welt eingehen können.
V.2 Die Komödie der Wiederverheiratung Anders als bei Cavells Beschäftigung mit den Shakespeare-Tragödien geschieht seine Hinwendung zu den Hollywood-Komödien der dreißiger und vierziger Jahre nicht allein unter dem Banner des Skeptizismus. Es gilt hier also noch mehr als in allen vorherigen Kapiteln, dass alle anderen von ihm angesprochenen Themen so weit wie möglich ausgeblendet werden. Die Bezüge zur skeptizistischen Problematik sind in diesen Filmen nur selten sehr direkt oder offensichtlich. Es ist vielmehr die Struktur dieser Filme, die Thoreaus und Emersons Entwurf eines Umgangs mit unserer Fremdheit in der Welt – unsere Getrenntheit von anderen – aufgreifen und in ein Narrativ verwandeln. So werden wir sehen können, dass viele der in Zusammenhang mit den amerikanischen Transzendentalisten besprochenen Motive in Cavells »Lektüren« der Hollywood-Komödien wieder auftauchen. Die Komödie ist nach dem Trauern sozusagen der nächste Schritt – sie kann nur geschehen, wenn wir begonnen haben zu trauern. Die Komödie ist der Morgen (morning), den uns die Trauer (mourning) verspricht. Erst wenn wir aufhören, uns an der Welt dafür zu rächen, dass sie getrennt von uns ist, aufhören, uns an anderen dafür zu rä76 77
Thoreau: Walden, S. 323. Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 102.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
chen, dass sie getrennt von uns existieren, erst wenn wir die Rache aufgeben und sie durch Vergebung ersetzen, erst dann, so Emersons und Thoreaus Überzeugung, können wir den Anbruch eines neuen Morgens (dawning) erleben. 78 Jedes der Paare aus den Wiederverheiratungskomödien wird am Ende einen solchen neuen Morgen erleben. Doch nicht nur den Amerikanischen Transzendentalismus sieht Cavell in den Wiederverheiratungskomödien verwirklicht, er erkennt in dem Umgang der Paare mit ihren persönlichen Schwierigkeiten eine Alternative zu den tragischen Vorgängen in den Stücken Shakespeares. Während die sprachliche Dominanz von Othello oder Leontes letztlich zur Sprachlosigkeit zwischen den Liebenden führte, streben die Paare der Komödien ein Gespräch zwischen zwei gleichberechtigten Partnern an. Und wo die Shakespeare-Charaktere auf eine als Demütigung empfundene Situation mit starrer Unveränderlichkeit und Grausamkeit antworteten, gelingt es den Paaren in den Filmen, schließlich zur Bereitschaft zu Veränderung und zu Vergebung zu finden. Und irgendwie hat das alles dann damit zu tun, dass versucht wird, Demütigung in Komödie zu verwandeln. Die Filme, um die es geht, sind folgende: Die Falschspielerin (The Lady Eve, 1941), Es geschah in einer Nacht (It Happened One Night, 1934), Leoparden küsst man nicht (Bringing up Baby, 1938), Die Nacht vor der Hochzeit (The Philadelphia Story, 1940), Sein Mädchen für besondere Fälle (His Girl Friday, 1940) Ehekrieg (Adam’s Rib, 1949) und Die schreckliche Wahrheit (The Awful Truth, 1934). Das Personal dieser Filme rekrutiert sich aus einem relativ kleinen Kreis von Schauspielern, was vor allem daran liegt, dass Katherine Hepburn in dreien von ihnen mitspielt, und der von Cavell ungemein verehrte Cary Grant gleich in vieren. Aber auch Irene Dunne, Claudette Colbert, Clark Gable und Spencer Tracy haben glorreiche Auftritte. Nur die Tatsache, dass die Filme schon ziemlich alt sind, verschleiert, dass es sich bei ihnen um sehr populäre Kulturerzeugnisse handelt. Sie waren ohne Ausnahme große Publikumserfolge. Das ist kein Rohmer, Bergman oder Pasolini, das ist Hollywood. »Hollywood at its best«, würde Cavell wohl hinzufügen. Dass diese Filme gemeinhin als Medien der Unterhaltung und nicht der intellektuellen Reflexion wahrgenommen werden, bedeutet nicht, dass sie sich nicht für die philosophische Auseinandersetzung anbieten würden. Cavell will 78
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 261.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
zeigen, dass sie beidem standhalten können: unseren Ansprüchen an Unterhaltung und einer kritischen Untersuchung. Ich will zunächst allgemeine Elemente der Wiederverheiratungskomödien beschreiben, bevor ich mich mit dreien von ihnen – Es geschah in einer Nacht, Die Nacht vor der Hochzeit, Die schreckliche Wahrheit – eingehender beschäftige. Dabei wird es nicht nötig sein, sie so umfassend wie die Shakespeare-Tragödien zu behandeln, denn die Filme sind – anders als die Stücke – nicht in erster Linie Studien des Skeptizismus. Deswegen soll anhand einiger weniger Szenen beschrieben werden, in welcher Gestalt der skeptische Zweifel in das Leben dieser Menschen einbricht, und wie auf ihn reagiert wird. Jeder dieser Filme zeigt, wie ein spielerischer Umgang mit dem Fakt unserer Getrenntheit und Andersheit, und den damit verbunden Schwierigkeiten und Ängsten, zu einem gemeinsamen Glück führen kann. In diesem Sinne möchte ich in einem letzten Schritt die in diesen Filmen propagierte Haltung herausarbeiten. Ich nenne sie eine »Haltung der Komödie« und sie soll als eine von Emersons Stimmungen, mit denen wir der Welt begegnen, verstanden werden.
Die Struktur der Wiederverheiratungskomödie Cavell geht, was diese Filme betrifft, von zwei Thesen aus: Erstens, dass sie ein Genre bilden, das er Wiederverheiratungskomödie nennt und zweitens, dass sie die Struktur der Shakespeare-Romanze aufgreifen. 79 Als wichtigste Bezugsquelle darf hier das Wintermärchen gelten, in dem es ja um ein Paar geht, das verheiratet ist und das durch schreckliche Vorgänge innerhalb der Partnerschaft getrennt wird, dem es aber gelingt, am Ende wieder zueinander zu finden. 80 Der Struktur dieses Stückes folgend, geht es in den Wiederverheiratungskomödien um meist nicht mehr ganz junge Paare, die schon einmal verheiratet waren oder gerade dabei sind sich zu trennen, die aber lange noch nicht fertig miteinander sind und jetzt die Chance haben, wieder zueinander zu finden. Die innerfilmischen Gesetzmäßigkeiten verlangen es, dass die Paare erst in allerletzter Minute, am Ende des Films, wieder zusammenkommen. Wichtig ist, dass in diesen Filmen, genau wie im Wintermärchen, keine äußeren Wider79 80
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 1. Ebd., S. 19.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
stände, wie etwa gesellschaftliche Konventionen oder familiäre Feindschaften, bewältigt werden müssen, um eine glückliche Wiedervereinigung der Liebenden zu ermöglichen. Bei diesen Paaren, die sich nicht neu kennenlernen, sondern schon eine gemeinsame Vergangenheit haben, geht es stets darum, innere Widerstände zu überwinden. 81 Was diese Menschen auf dem Weg zu einer neuen Ehe herausfinden müssen ist, wie sie zusammen leben wollen, wie ein glückliches Zusammenleben zwischen ihnen möglich ist oder ob die Scheidung nicht die bessere Wahl für die beiden darstellt. Wenn der Skeptizismus in unser Leben einfällt, ist sein Opfer das, was wir dann unser alltägliches oder gewöhnliches Leben nennen. »Und da die Ehe, wie dargelegt, ein Bild für das Alltägliche im menschlichen Leben ist (das Alltägliche als Inbegriff dessen, was durch die philosophische Tendenz zum Skeptizismus angegriffen wird), besteht die Aufgabe des Paars als Reaktion auf ihre Krise darin, ihre Sicht ihres Alltagslebens zu verändern oder wiederauferstehen zu lassen, wofür […] die Verwandlung des Selbst nötig ist, die jeden Tag geschieht. Die Form, welche die Überprüfung annimmt, habe ich ein Wiedererkennen des Außergewöhnlichen in dem, was wir gewöhnlich finden, und dem Gewöhnlichen in dem, was wir außergewöhnlich finden, genannt.« 82
Was den Paaren abverlangt wird, ist eine neue Wahrnehmung ihres gewöhnlichen Lebens, die Thoreaus und Emersons neuer Wahrnehmung der eigenen Erfahrungen entspricht. Die Ehe ist demnach ein Bild für das Gewöhnliche und das Verhältnis, das wir zu ihm haben. Eine neue Wahrnehmung wird die Welt nicht unbedingt ändern – und doch wird eine neue Sicht auf sie die Welt der Paare ändern. Unsere Getrenntheit voneinander ist eine gewöhnliche Tatsache unseres Lebens. Beginnt der Skeptizismus den Geist einzunehmen, dann wird daraus der schreckliche Verdacht, dass die Welt, die anderen und nicht zuletzt ich selbst, mir radikal unbekannt sind. 83 Da ich den anderen durch seine Fremdheit nicht mehr zu kennen glaube, meine ich, mir auch nicht mehr sicher sein zu können, dass er der andere ist, mit dem ich ein Leben verbringen will, dass er meine Vorstellungen eines guten Lebens teilt und er gemeinsam mit mir in die Richtung fortschreiten will, die für mich Glück bedeutet. Über diese 81 82 83
Cavell: Cities of Words, S. 451. Ebd., S. 452. Ebd., S. 456.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
Dinge kann ich kein absolutes Wissen im naturwissenschaftlichen Sinne haben. Deswegen kann ich auch der Phantasie erliegen, dass wenn der andere derjenige ist, mit dem ich mein Leben teile, mein Verhältnis zu ihm auch ein anderes, näheres sein müsste, ich also mehr über ihn wissen müsste. In diesem Fall werde ich – werden wir – daran scheitern, dass der Versuch, ein solches engeres Verhältnis herzustellen, mich nur weiter vom anderen davontragen wird. Dieser Moment der Unzufriedenheit mit der eigenen Erfahrung ist die Krise des Paares, die in Form der Scheidung auftritt. So schmerzhaft diese Scheidung auch ist, so sollte sie nicht ausschließlich als Übel betrachtet werden, ist sie doch unbedingt notwendig, um ein neues Verhältnis zwischen den Liebenden entstehen zu lassen. Die Ehe muss aufgegeben werden, um die Ehe entstehen zu lassen. Das erinnert nicht zufällig an die Formel der Transzendentalisten, die besagt, dass die Welt verloren werden muss, um wiedergewonnen zu werden und dass wir erst, wenn wir alles verloren haben, beginnen, uns zu finden. Die Wiederbestätigung der Ehe bedarf einer Wiederbestätigung unserer Getrenntheit, weil erst durch sie eine Wiederbestätigung von allem, was uns verbindet, geschehen kann. Die Erkenntnis der Möglichkeit der Scheidung ist so wichtig, weil wir erst so die Freiheit erlangen, um uns freiwillig für die Ehe zu entscheiden. Alles andere wäre Versklavung. 84 Kein Gott, kein Staat, kein Sex und keine Kinder können uns eine Erklärung liefern, warum diese eine Ehe weiter bestehen sollte. Und es wird auch nicht reichen, dass einmal ein Ehegelöbnis abgelegt wurde. Es ist unsere Aufgabe, die Ehe täglich erneut zu bestätigen, nach Gründen zu suchen und Gründe zu liefern, warum sie fortbestehen sollte. So als würde jeden Tag eine Scheidung und eine neue Hochzeit stattfinden. Cavell meint mit Scheidung nicht ausschließlich eine gesetzliche Trennung – so wird sie übrigens auch nicht in den Filmen dargestellt – und auch nicht unbedingt eine räumliche oder zeitliche – obwohl das unter Umständen von Nöten sein kann –, sondern eine alltägliche Bestätigung unserer Getrenntheit, dargestellt als ein Aufgeben des Wunsches nach metaphysischer Nähe. Wir finden also in der Struktur der Wiederverheiratungskomödien nahezu jedes der Elemente, die Cavell bei den Transzendentalisten herausgearbeitet hat. Da ist das ursprüngliche Gefühl der Entfremdung, der Distanz oder des Verlusts, das in eine Krise mündet. 84
Hall: The Human Embrace, S. 145.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Dann die Idee, dass nur durch die Bewältigung der Krise etwas Neues entstehen kann. Als nächstes die Vorstellung, dass es zur Bewältigung der Krise gehört, dass ein alter Bund, oder die Phantasie davon, aufgegeben und betrauert werden muss, damit ein neuer entstehen kann, der uns erlaubt, heimisch zu werden. Ein Bund nicht im Sinne einer für immer gefestigten, starren Verbundenheit, sondern ein Bund im Angesicht der stetigen Veränderung und des Verlusts. Ein Bund, der unser Außensein und unsere Getrenntheit als gewöhnlich akzeptiert. Ein Bund der anerkennt, dass wir uns, um es mit Thoreau zu sagen, benachbarn.
Ehe als Gespräch War jede der Shakespeare-Tragödien das Zeugnis eines communication breakdowns, so finden die Paare der Wiederverheiratungskomödien wieder zusammen, über etwas, dass Cavell »Konversation« oder auch ein »Gespräch« nennt. Er bezieht sich dabei auf John Miltons Streitschrift zur Scheidung, wo es heißt, der »hauptsächlichste und edelste Zweck« einer jeden Ehe sei ein »passendes und glückliches Gespräch« (»meet and happy conversation«). 85 Cavell räumt ein, dass Milton, gemäß der alten Bedeutung des Wortes, mit »conversation« sicher nicht nur »reden« gemeint habe, sondern eher etwas allgemeiner »Verkehr«. Cavell findet diesen Begriff aber gerade in seiner Mehrdeutigkeit, die auch den sexuellen Verkehr miteinschließt, besonders brauchbar, weil er auch einen Modus der Verbindung, eine Lebensform umfasst. Dennoch sollten wir uns klar machen, dass Milton auch ganz direkt »reden« meint. 86 Wie Cavell ausführt, versuchen die Film-Komödien den ganzen Bedeutungsumfang von »conversation« voll auszuloten: »In diesen Filmen bedeutet miteinander reden schlicht und einfach zusammen zu sein, ein Modus der Verbindung, eine Lebensform, und ich möchte sagen, dass die Paare in den Filmen lernen, die gleiche Sprache zu sprechen.« 87
Milton, John: »Die Lehre von der Wissenschaft und der Ehescheidung«, in: Milton, John: Politische Hauptschriften, Band 1. Berlin 1874–1879, S. 90. 86 Cavell: Pursuits of Happiness, S. 88. 87 Ebd. 85
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Die Komödie der Wiederverheiratung
Wahrscheinlich hat die Geschichte des Kinos keine Werke hervorgebracht, die mehr auf verbale Auseinandersetzung setzen als diese Komödien. Bei jedem der Filme läuft der Zuschauer Gefahr, sich ob der gewaltigen Wortorgien blutige Ohren zu holen. Tatsächlich ist der Klang des Streits, des Gezänks, des Wortgefechts der bleibende Eindruck, den diese Filme hinterlassen. Cavell lässt sich in diesem Zusammenhang zu der Annahme hinreißen, dass die Bereitschaft zu heiraten eine gewisse Bereitschaft zum Zanken voraussetze. 88 So ein Verständnis von Ehe dürfte wohl viele Paare beruhigen. Wenn Cavell schreibt, dass die Paare in den Filmen lernen, die gleiche Sprache zu sprechen, dann geht es oftmals ganz einfach darum, dafür zu sorgen, dass beide Partner verstehen, was mit bestimmten Äußerungen gemeint ist. In Es geschah in einer Nacht hängt der Mann im Motelzimmer eine Decke zwischen seinem Bett und dem Bett der Frau auf, um ihr ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Er bezeichnet die Decke als »die Mauern Jerichos« – und deutet damit natürlich an, dass diese Mauern am Ende fallen werden. Auf jeden Fall werden Frau und Mann in zukünftigen Gesprächen immer wissen, dass mit den Mauern Jerichos die trennende Decke zwischen ihnen gemeint ist. 89 Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass die Paare der Wiederverheiratungskomödien, so wie es wohl alle Paare tun, einige persönliche Bezeichnungen für Dinge erfinden, sondern dass sie nach Möglichkeiten des Ausdrucks suchen, nach Wegen sich gegenseitig verständlich zu machen. Letztlich ist es ja das, was der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen zerstört: unser gegenseitiges Verstehen. Wir vertrauen nicht mehr in das, was wir sagen und hören. So paradox es auch klingt, der Zustand, in dem unser Sprechen durch den Skeptizismus gestört oder zerstört wurde, kann nur durch Sprache überwunden werden: »Worte müssen durch Worte überwunden werden.« 90 Dabei geht es darum, wieder ein neues Vertrauen in die Worte zu fassen und in die Möglichkeiten, die sie uns geben, uns den anderen mitzuteilen. Das impliziert, dass wir eine neue Achtsamkeit gegenüber den Bedeutungen der Worte entwickeln. Das Thema der Konversation der Ehe ist die Frage danach, ob man gemeinsam herausfinden und definieren kann, was Glück ist und zu welchen Änderungen man bereit ist, um dieses Glück zu er88 89 90
Ebd., S. 86. Ebd. Cavell: Senses of Walden, S. 44.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
reichen. 91 In den Gesprächen der Paare geschieht die notwendige Prüfung der gemeinsamen Lebensform und gegebenenfalls ihre Änderung – wobei sich »Lebensform« hier natürlich auf die Lebensform einer Partnerschaft und nicht die Lebensform aller Menschen bezieht. 92 Durch das Gespräch geschieht die Veränderung des Selbst und der eigenen Wahrnehmung von Welt. Die in den Komödien beschriebene Transformation ist eine Weiterführung des Anliegens Thoreaus, nur dass hier eine gemeinschaftliche Dimension stärker hervorgehoben wird, weil ganz klar gesagt wird, dass ich auf die Worte eines anderen angewiesen bin, um mich verändern zu können. Schließlich geht es um eine Veränderung, die zum Wohle einer Gemeinschaft oder hinsichtlich ihres Wiederentstehens geschieht. Bei Emerson dagegen ist, wie Cavell ausführt, dieser Gedanke schon voll präsent. Hier wird der andere, der Freund, zu einer »Figur, die als Ziel der Reise [meiner Transformation] vorkommen kann, aber auch als Anlass und Begleitung.« 93 Cavell hat im späteren Verlauf seiner Karriere, ungefähr ab dem Erscheinen von Conditions Handsome and Unhandsome Ende der achtziger Jahre, diesen Weg der Vervollkommnung des Selbst über ein Gespräch mit einem Freund auf den Namen »moralischer Perfektionismus« getauft. Die Wiederverheiratungskomödien spielen bei der Konzeption dieses ethischen Entwurfs eine entscheidende Rolle. Auch wenn der moralische Perfektionismus aus den früheren Arbeiten Cavells zum Skeptizismus entstanden ist, wird er in dieser Arbeit so weit wie möglich außen vor gelassen, da er uns zu weit wegführen würde von unserem Problem der Getrennt- und Andersheit im Angesicht des Zweifels. Kenner der Cavellschen Materie werden hier nichtsdestotrotz einen großen Teil der von ihm aufgeführten perfektionistischen Motive wiedererkennen. Für alle anderen ist nur wichtig, dass die Frau und der Mann in den Komödien sich als Lehrer und Schüler begreifen, wobei jeder sowohl Lehrer als auch Schüler für den anderen ist. Sie wollen sich verändern und sich von einem anderen verändern lassen. Sie schauen gegenseitig zueinander auf. 94
91 92 93 94
Bronfen: Stanley Cavell, S. 217. Cavell: Cities of Words, S. 451. Ebd., S. 57. Ebd., S. 394.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
Körper und Vorstellung zusammenbringen – »Es geschah in einer Nacht« Wir lassen nun die allgemeinen Beschreibungen der Wiederverheiratungskomödie hinter uns und wenden uns den konkreten Filmen zu. Frank Capras Es geschah in einer Nacht ist die älteste der Wiederverheiratungskomödien und war im Jahre 1934, inmitten der Depression, der größte Kinoerfolg Hollywoods. Der Film hat für einige ikonische Szenen des amerikanischen Films gesorgt. Allen voran die berühmte Anhalter-Szene. Der Mann, der großspurig von sich behauptet, ein Spezialist im Trampen zu sein, streckt seinen Daumen raus, doch keines der vorbeifahrenden Autos will anhalten. Als die Frau an den Straßenrand tritt und ihren Rock hebt und ihr Bein entblößt, stoppt sofort eines. Der Film geht die für die Wiederverheiratungskomödie typischen Stationen in ziemlich verdichteter Form ab. Das Paar kennt sich erst seit ein paar Tagen, benimmt sich aber bald so, als würde es sich ewig kennen. Und auch ihre Trennung ist von nur sehr kurzer Dauer. Tatsächlich kommt keine Scheidung im eigentlichen Sinne vor, denn das Paar heiratet am Schluss des Films zum ersten Mal. Dennoch muss vorher zwischen ihnen eine Art Trennung geschehen, die ihr vorheriges Verhältnis zerschlägt, damit ein neues zwischen ihnen entstehen kann. Auf der Flucht vor ihrem schwerreichen Vater, der nicht einverstanden ist mit der überstürzten Hochzeit seiner Tochter und noch weniger einverstanden ist mit dem Mann, den sie zu ihrem Gatten auserkoren hat, trifft die etwas unbedarfte Ellie (Claudette Colbert) an einem Busbahnhof auf den von Clark Gable gespielten Journalisten Peter. Obwohl die Flucht der Millionärstochter die Klatsch-Sensation schlechthin darstellt und Peters Chef nach einer Schlagzeile verlangt, ist Peter bei Ellie nicht auf eine Story aus, sondern beginnt, sich ihrer anzunehmen. Die beiden reisen über’s Land in Richtung New York, sind mal mit dem Bus, mal zu Fuß unterwegs, übernachten in Motels oder auch auf dem freien Feld. Dabei erteilt Peter der im Alltagsleben absolut unerfahrenen Ellie eine Lektion nach der anderen. Er zeigt ihr, wie man sein Geld zusammenhält, wie man einen Donut richtig in den Kaffee tunkt und bügelt ihre Wäsche. Clark Gable, sonst abonniert auf die Rolle des Abenteurers, darf hier seine fürsorgliche Seite ausleben. Ellie nimmt jede der Lektionen Peters nach kurzem Zögern an. 285 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Die für uns interessanteste Szene kommt spät im Film und leitet die Klimax ein. Es ist die letzte Nacht von Ellie und Peter, am nächsten Tag werden sie New York erreichen. Sie liegen wieder einmal in ihren Betten in einem Motelzimmer. Zwischen ihnen hängt eine Decke über einer Wäscheleine, die sie zuvor die »Mauern von Jericho« getauft haben und die das Zimmer in ihren und seinen Bereich teilt. Auf diese Weise voneinander getrennt und vor den Blicken des anderen züchtig verborgen, fragt Ellie Peter, ob er jemals geliebt habe. Er antwortet ihr mit folgendem Monolog: »Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Wer nicht? Wenn ich dem richtigen Mädchen begegnen würde – aber wie soll man die Richtige finden? Eine die lebendig und aufrichtig ist. Solche Mädchen gibt es heute nicht mehr. Ob ich je darüber nachgedacht habe? Ich war sogar dumm genug Pläne zu schmieden. Wissen Sie, ich bin mal auf einer Insel im Pazifik gewesen. Habe es nie vergessen können. Dorthin würde ich mit ihr fahren. Es müsste ein Mädchen sein, das mit mir in die Brandung springt und es genauso herrlich findet wie ich. Wissen Sie, es gibt dort Nächte wo man sich eins fühlt mit dem Mond und dem Wasser. Man findet sich und man empfindet sich als Teil eines großen wunderbaren Ganzen. Das ist der einzige Ort wo man leben sollte. Wo die Sterne so nah sind, dass man meint, man könnte hinauf reichen und sie berühren. Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Mann, wenn ich je ein Mädchen finden könnte, das Sehnsucht nach diesen Dingen hat!« 95
Während er spricht sehen wir mehrmals das Gesicht Ellies in Großaufnahme und wir können sehen, dass sie sich von Peters Vision und damit auch von Peter, angezogen fühlt. Capras Kamera legt einen Weichzeichner über die Aufnahme, das Sichtfeld verschwimmt, wie in einem »Nebel des Glücks«. 96 Außerdem scheinen ihre Augen irgendein Licht zu reflektieren. Sind das die Sterne aus Peters Traum? Auf jeden Fall steht außer Frage, dass sie bewegt ist von Zärtlichkeit. Als er die letzten Worte spricht, steht sie am Rand der »Mauern von Jericho«, die sie – als er schließlich fertig ist – überquert. Sie wirft sich vor seinem Bett auf die Knie und bittet ihn, sie mit sich zu nehmen und erklärt ihm ihre Liebe. Peter bleibt kalt, zeigt keine Regung, ist wie paralysiert. Der Fokus der Kamera stellt in diesem Moment auf scharf. 97 Alles, was Peter 95 96 97
Es geschah in einer Nacht (1934). Cavell: Pursuits of Happiness, S. 97. Ebd., S. 98 f.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
zu Ellie sagt ist, dass sie wohl besser zu ihrem Bett zurückgeht. Sie entschuldigt sich, eilt wieder auf ihre Seite, hinter die Mauern von Jericho, und schmeißt sich aufs Bett, wo sie leise schluchzt. In diesem Moment steht die Filmkamera so, dass wir beide durch die Decke getrennten Hälften des Zimmers sehen. Cavell unterstellt der Filmkamera hier die Fähigkeit, eine bestimmte Sicht auf die Welt einzufangen. Der Weichzeichner zeigt Ellies tranceartigen Zustand an, während der Wechsel zum harten Fokus einen Wechsel zu Peters Sicht bezeichnet. Er nimmt die Szene nüchtern oder, wenn man so will, »objektiv« wahr. 98 Doch warum wird er in diesem Moment kalt? Was ist sein Problem? Seine Vision erst hat doch in Ellie diese zärtliche Leidenschaft zum Beben gebracht. Als sie zu ihm herüberkommt, scheint das seine Vision zu zerstören. »Die Frau dachte, sie würde in den Traum oder die Vision des Mannes schreiten. Das tat sie auch, und das hat ihn aufgeweckt. Warum? Weil sie nicht die Gestalt aus seiner Vision ist, oder weil sie es ist? Beides ist richtig.« 99
Sie ist die Frau seiner Träume. Das zeigt sich daran, dass er hier in dieser Nacht auf diese Weise zu ihr spricht. Gleichzeitig hat sie ihm schon bewiesen, dass er das, was er sich wünscht, mit ihr haben kann, denn die beiden haben bereits eine Nacht, nämlich die vorige, im Freien unter einem gigantischen Sternenhimmel verbracht. Und Ellie hat, trotz anfänglicher Schwierigkeiten, von ihm gelernt, es zu genießen. Somit ist seine Vision auch eine Erinnerung an etwas, das die beiden schon zusammen erlebt haben. Sie ist aber auch nicht die Frau seiner Träume. Denn sie ist nicht aus Traumfasern gemacht, sondern aus Fleisch und Blut. Und das ist es, was Peter Angst macht. Sie als das anzuerkennen, was sie ist, bedeutet anzuerkennen, dass seine Frau der Träume lebendig ist und getrennt von seinen Träumen existiert. Sie in seinen Traum treten zu lassen, würde bedeuten, die Allmacht aufzugeben, die man eben in Träumen hat, würde bedeuten, den Traum selbst zu riskieren, aber zugunsten der Möglichkeit, dass er real wird. »Sich in Richtung der eigenen Träume zu bewegen bedeutet notwendigerweise, dass man die Träume riskiert.« 100 Die Alternative wäre, mit dem eigenen Traum vom Zusammensein allein zu bleiben. Ebd., S. 99. Ebd. Übersetzung D. G. 100 Ebd., S. 100. Übersetzung D. G. 98 99
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Cavell beschreibt Peters Problem als die Schwierigkeit, seine Wahrnehmung dieser Frau mit seiner Vorstellung von ihr zusammenzubringen. 101 Man könnte auch sagen, er müsse ihren Körper – das, was dieser Körper ihm mit Sprachen, Gesten und Verhalten zeigt, und ihren Geist – die Vorstellung, die er sich von ihr macht – vereinen. Dazu müsste er aber seine Vorstellung von ihr so weit wie möglich von ihrem Verhalten abhängig machen. Er müsste sehen, was vor ihm ist, sehen was eben zu sehen ist – bzw. hören was zu hören ist usw. –, und versuchen, sich von Einbildungen zu verabschieden, die aus irgendwelchen Gründen in ihm entstehen. Ein Beispiel für solche Einbildungen könnten alle Phantasien sein, die er aufgrund ihres unermesslichen Reichtums entwickelt: dass sie verwöhnt ist, dass sie ein dummes Kind ist, dass sie snobistisch ist. All diese Vorurteile konnte sie in den vorherigen Tagen widerlegen. Wenn sie irgendwo unbedarft oder unrealistisch war, dann hat sie Bereitschaft gezeigt, sich zu ändern. Wir dürfen nicht unterschätzen, welche Macht solche Phantasien auf den Geist haben und wie sie Barrieren zwischen uns entstehen lassen. Würde es Peter gelingen, Wahrnehmung und Vorstellung zusammenzubringen, könnte die Barriere zwischen ihnen fallen, die Mauern von Jericho einstürzen. 102 Das ist alles eine ziemlich genaue Beschreibung des philosophischen Problems des Fremdpsychischen. Die Mauern von Jericho, die Decke, durch die das Paar voneinander getrennt ist, stehen nicht für unsere Getrenntheit, sondern für alles, das wir zwischen uns errichten. »Wahr ist«, schreibt Cavell, dass wir alle eigenständige Körper sind und deswegen voneinander »getrennt sind, aber nicht notwendig (durch etwas) getrennt werden.« 103 Das bedeutet, dass wir »für alles, was zwischen uns tritt, verantwortlich« sind. 104 Mit dem Errichten der Mauern von Jericho hat der Mann sein Wissen von der Frau auf der anderen Seite aufgegeben, unterdrückt es. Unser Wissen über andere zu unterdrücken heißt ihnen Gewalt anzutun: »Es trennt ihre Seelen von ihren Körpern, macht Monster aus ihnen.« 105 Cavell vermutet, dass wir mit dieser Gewalt fortfahren, weil wir glauben, dass die anderen es mit uns ebenso tun. Diesen
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Ebd. Ebd., S. 100 f. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 587. Ebd., S. 588. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 109.
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Kreislauf der Rache können wir nur durchbrechen, wenn wir unser Wissen von anderen wieder anerkennen. 106 Anerkennen heißt zu sehen, was zu sehen ist, es ist im gewissen Sinne eine passive Fähigkeit, weil wir zulassen müssen, dass der andere handelt. Und genau das ist es, was Peter so schwer fällt. Er kümmert sich um Ellie, schickt sie herum, sagt ihr ständig, was sie tun soll. Er hilft ihr damit – und sie hat seine Anleitung auch nötig, keine Frage. Doch hat er so immer die Zügel in der Hand, die Kontrolle über alles – und diese Autorität möchte er auch nicht aufgeben, was die Verwirklichung seiner Träume angeht. Es ist dieses Verhältnis, das zwischen Ellie und Peter geschieden werden muss, damit eine neue Ehe zwischen ihnen entstehen kann. Er muss zulassen, dass sie sich ihm zeigt, dass sie in seine Träume tritt und dann dort ebenso viel Autorität hat wie er. Für ihn geht es darum, eine Position aufzugeben, von der aus er meint, sein Schicksal wie ein Gott lenken zu können. Er muss ganz Mensch werden und es zulassen, dass man ihn liebt. 107 Der Skeptizismus präsentiert sich hier wieder als ein »Verhinderer« von Liebe. Nachdem sich Ellie in ihre Seite des Zimmers zurückgezogen hat, raucht Peter. Als er fertig ist, fragt er, ob es wahr wäre, was sie gesagt hat. Doch da ist es schon zu spät – Ellie schläft schon. Weil Peter aber erkannt hat, dass sie die Frau seiner Träume ist, schmiedet er einen Plan: Er will seinem Chef doch noch eine Story liefern, nämlich seine und Ellies, in der er verkündet, dass sie jetzt ein Paar sind. So bricht er ohne Ellie zu wecken mitten in der Nacht auf, um seine Geschichte für die Zeitung zu schreiben. Damit macht er aber wieder nur den gleichen Fehler wie zuvor: Er versucht allein seine und Ellies Geschichte zu erzählen. Dabei sollte er bei ihr sein und sie gemeinsam mit ihr erzählen. 108 Die bitteren Konsequenzen lassen nicht lange auf sich warten. Während er an seiner Schreibmaschine in New York sitzt, erwacht Ellie im Hotel. Weil sie denkt, er hätte sie im Stich gelassen, ruft sie ihren Vater an und kehrt zu ihrem Ehemann zurück. Das ist natürlich nicht das Ende. Ein paar Komplikationen und Eingeständnisse später gewinnt Peter Ellie zurück. Ihre Flitterwochen verbringen die beiden selbstverständlich in einem einfachen Motel.
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Ebd. Ebd. Ebd.
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Und mithilfe einer Plastiktrompete reißen sie dort die Mauern von Jericho ein.
Mensch werden heißt schwach werden – »Die Nacht vor der Hochzeit« Um eine bewusste Menschwerdung und die damit verbundene, veränderte Wahrnehmung anderer geht es auch in Die Nacht vor der Hochzeit. Der Film beginnt mit einer Streitszene zwischen Tracy (Katherine Hepburn) und ihrem Ehemann Dexter (Cary Grant), die trotz ihrer Slapstickhaftigkeit die Tiefen dieses Konflikts zu transportieren weiß. Dexter stürmt mit zwei Koffern beladen aus dem Haus und in Richtung seines geparkten Autos. Hinter ihm, mit eiskaltem Gesicht und einem seiner Golfschläger in der Hand: Tracy. Sie zerbricht seinen Golfschläger vor seinen Augen, worauf er sich anstellt sie zu schlagen, es sich aber im letzten Moment anders überlegt und sie auf den Boden schubst. Später wird sich herausstellen, dass Dexters Trinkerei das große Problem dieser Beziehung war. Zwei Jahre nach dem Ende ihrer ersten Ehe mit Dexter will es Tracy noch einmal mit dem erfolgreichen Emporkömmling George (John Howard) versuchen. Zwei Tage vor der Hochzeit taucht Dexter unter einem Vorwand auf dem Gelände von Tracys Familie auf, um Tracys Eheschließung mit George zu verhindern und um sie zurückzugewinnen. Tracy verhält sich ihm gegenüber bemüht abweisend. Zusätzliche Verwirrung stiftet die Anwesenheit des klugen Autors und Journalisten Mike (James Stewart), der sich im Laufe der Handlung ebenfalls in Tracy verliebt. Dexter hat sein Alkoholproblem in den letzten zwei Jahren offensichtlich in den Griff bekommen. Er würde viel lesen, antwortet er auf die Frage, wie ihm das gelungen sei. So liegt das Hindernis, das es zu überwinden gilt, um ein Wiederaufleben der Ehe von Tracy und Dexter zu ermöglichen, jetzt bei ihr und nicht bei ihm. Man könnte sagen, ihre Schwierigkeit sei ihre moralische Rigidität. Gleich in der zweiten Szene des Films sagt ihre Mutter, dass Tracy immer die höchsten Ansprüche an sich stellt und das leider auch von anderen erwarte. So will Tracy, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, bei der Hochzeit ihren Vater nicht dabei haben, weil dieser eine Affäre mit einer Tänzerin hatte. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird sie sich
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Die Komödie der Wiederverheiratung
wiederholt als jemand präsentieren, der die Unzulänglichkeiten und Verfehlungen anderer harsch verurteilt. Die narrative Besonderheit von Die Nacht vor der Hochzeit ist der Umstand, dass Tracy sich nicht nur von einem Mann, der sie liebt, belehren lassen muss, sondern gleich von dreien. Das ist natürlich Dexter, dann ihr Vater und schließlich Mike, der ja ebenfalls für sie schwärmt. In einer am Pool geführten Auseinandersetzung zwischen Tracy und Dexter, bei der es auch um seine Trinksucht geht, sagt er, dass ihr menschliche Unvollkommenheit ein Gräuel sei. Das Trinken sei sein Problem gewesen, ja, aber sie hätte ihm helfen müssen. Stattdessen wäre sie ein Drache gewesen. Dann vergleicht er sie mit einer Göttin, keusch und jungfräulich, und erklärt, sie könne nie ein erstklassiger Mensch werden, wenn sie nicht duldsamer gegenüber menschlichen Schwächen werde. Als Dexter von dannen zieht, kommt George angelaufen, der Tracy mitteilt, dass er ihr ein Märchenschloss bauen werde, um sie dort zu verehren. Auch wenn er das noch nicht weiß, läutet er damit das Ende seiner Beziehung mit Tracy ein. Am Abend, auf einer kleinen Feier, die auf die Hochzeit am nächsten Tag einstimmen soll, ist plötzlich Tracys Vater auch da. Tracy attackiert ihn wegen seiner Liebeleien, woraufhin er sie heftig zusammenstaucht. Ihr fehle es an Herz, sie sei eine alte Jungfer und gleiche in ihrer Enthaltsamkeit einer bronzenen Statue. Tracy wird also zuerst als eine Göttin – bezeichnenderweise ist ihr Nachname Lord –, dann als eine Jungfrau und schließlich als eine bronzene Statue bezeichnet. Eine Frau, die als Statue wahrgenommen wird muss uns zwangsläufig an Othello und das Wintermärchen erinnern. 109 Hier war die Steinernheit der Frauen ein Sinnbild für die Weigerung ihrer eifersüchtigen Männer, sie als lebendige Wesen anzuerkennen. Darüber hinaus spielte in Othello die Frage nach der Jungfräulichkeit Desdemonas ebenfalls eine gewichtige Rolle. In dem Stück geht es genauso wie in dem Film nicht um eine physische Jungfräulichkeit, sondern vielmehr um eine spirituelle Reinheit. 110 Desdemona sollte für Othello für immer diese Reinheit verkörpern. Was er nicht ertragen konnte war, dass sie sich als voll von sexuellen Begehren entpuppte. Dabei liegt die eigentliche Quelle von Othellos Unvermögen darin, dass er sich selbst als eine Inkarnation der Rein109 110
Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 123. Ebd., S. 130 f.
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heit begreift. Als wäre er selbst aus Stein und frei von den Bedürfnissen und Begehren, die die anderen umtreiben. Ein Mensch, und doch größer als ein Mensch, einer der über allen thront und zu dem wie zu einer Statue aufgeblickt wird. Desdemonas Menschlichkeit zertrümmerte den Sockel, auf dem Othello so sicher zu stehen glaubte. Das konnte er ihr nicht verzeihen, weil das für ihn bedeutet hätte, sich selbst als einen gewöhnlichen Menschen anzuerkennen. In Die Nacht vor der Hochzeit ist es die Frau, die an einem Selbstbild festhält, welches die Vorstellungen von spiritueller Reinheit und Steinernheit zu beinhalten scheint. Genau dieses Selbstbild ist es, das die sie liebenden Männer kritisieren. In dem Streitgespräch mit Dexter erinnert er sie an einen Vorfall, bei dem sie betrunken und nackt auf dem Dach stand, laut wimmernd wie eine Todesfee. Tracy mag sich daran nicht erinnern. Offensichtlich will sie diesen Teil ihrer Persönlichkeit ausblenden. Sie sagt ihm, er solle sie mit dieser unwichtigen Geschichte in Ruhe lassen. Dexter antwortet, diese Geschichte sei, ganz im Gegenteil, sehr wichtig gewesen. Wichtig ist sie für ihn deshalb, weil sie an Tracys Selbstbild einer unbefleckten Göttin kratzt. Sie zeigt ihre Fehlbarkeit, ihre Schwäche, und Dexter möchte, dass sie diese akzeptiert, um auch die Schwächen anderer tolerieren zu können, in seinem Fall natürlich die Alkoholsucht. 111 Ihre echte Anerkennung der eigenen Unvollkommenheit ist für eine Wiedervereinigung der beiden unumgänglich, da erst sie das für einen Neuanfang benötigte Verzeihen ermöglicht. Tracys Weigerung, ihr eigenes Schwachsein einzugestehen, lässt sie intolerant gegenüber den Schwächen anderer werden. Die Bedürftigkeit, die Unabgeschlossenheit und die Widersprüchlichkeit anderer kann sie nicht akzeptieren, weil sie ihre eigenen Bedürfnisse, ihre eigenen »Uneindeutigkeiten« und die Widersprüche, die sie selbst in sich trägt, nicht anerkennt. Die Anerkennung von Andersheit bedeutet, die Anerkennung der Tatsache, dass andere immer wieder anders sind und man selbst immer wieder anders ist, als man zuvor geglaubt hat, und dass man trotz dieser Kontingenz das Bild einer Persönlichkeit entwirft, die Kontingenz in das Bild der Persönlichkeit miteinschließt. Tracy kann oder will diese Brüche nicht vereinen. Ihr fehlt der Sinn dafür, dass die menschliche Existenz gleichzeitig edel und erbärmlich ist, genauso würdevoll wie peinlich. Sie träumt einen Traum der Intaktheit. Das führt dazu, dass sie, wie Dexter ihr vor111
Ebd., S. 130.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
wirft, ihre Sexualität verleugnet. Sexualität steht ja per se für unsere Bedürfnisse, unsere Widersprüchlichkeit und unsere Abhängigkeit von anderen. Nichts darf das Bild Tracys, ihren äußeren Anschein brechen. Kein Schatten soll auf das Antlitz der Göttin fallen. Die Wahrnehmung ihrer selbst als Statue führt dazu, dass sie auch alle anderen in Statuen verwandelt. Sie ist umgeben von Gesichtern aus Bronze, für immer unveränderlich, so wie sie selbst. Nachdem sie erst von Dexter und dann ihrem Vater derart in die Mangel genommen wurde, betrinkt sich Tracy maßlos mit Martinis. Über Umwege landet sie später in der Nacht mit dem ebenso betrunkenen Mike im Pool, wo beide weiter trinken – jetzt Champagner –, diskutieren und sich schließlich küssen. Mike und der Alkohol öffnen endlich Tracys Augen für ein erotisches Begehren, das sie sich bisher in ihrem Alltag verbieten wollte. 112 In der nächsten Szene sehen wir, wie George und Dexter am Haus warten, als Mike, vom Pool kommend, mit der betrunkenen, halb schlafenden Tracy in seinen Armen erscheint. So wie Tracy da in seinen Armen liegt, versteht Cavell das als Tod der bronzenen Göttin und zugleich als die Wiedergeburt Tracys als lebendige Frau. 113 Dass sie gestorben ist, sagt sie selbst, wenn sie auf Dexters Nachfrage nach ihrem Zustand mit »nicht verwundet, Sir, sondern tot« antwortet. Am nächsten Morgen, dem Morgen der Hochzeit, denkt George natürlich, sie habe ihn betrogen. Er sagt, dazu bräuchte »es auch nicht viel Phantasie.« Sie antwortet ihm darauf: »Nein, nur Phantasien einer bestimmten Art.« Dexter möchte dagegen erst einmal abwarten, wie Tracy sich selbst zu der Angelegenheit äußert. 114 Man könnte sagen, dass er, im Gegensatz zu George, Tracys eigene Stimme bewahren und seine Vorstellungen und sein Urteil von ihr vornehmlich nach dieser richten will. Zu ihrem Bedauern kann sich die schwer verkaterte Tracy aber nicht mehr erinnern, was am Pool noch vorgefallen ist. Als sie dann von Mike erfährt, dass über den Kuss hinaus nichts passiert sei, ist sie überaus glücklich. »Da sie in einer Art Offenbarung alle Männer für großartig hält, weil einer unter ihnen keinen Vorteil aus ihrer Lage gezogen hat, ist sie vorher offenBronfen: Stanley Cavell, S. 221 f. Vgl. Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 121. 114 Bronfen: Stanley Cavell, S. 221. 112 113
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bar davon ausgegangen, dass – die männliche – Sexualität an sich aus dem Ziehen von Vorteilen besteht.« 115
Dexter hat diese Vorstellung offensichtlich nicht widerlegen können. 116 Es brauchte erst Mike, um Tracys (Selbst-)Wahrnehmung von Sexualität und Fehlbarkeit entscheidend zu verändern. Somit trägt er dazu bei, dass eine neue Hochzeit zwischen Dexter und Tracy möglich wird. Der Moment am Pool bedeutet den Tod der steinernen Göttin Tracy und die darauf folgende Szene, in der Mike sie in seinen Armen trägt, ihre Wiedergeburt als Mensch. 117 Wir dürfen aber auch Dexters Rolle nicht unterschätzen. Dexter greift nicht aktiv nach Tracy, vielmehr lässt er die Dinge geschehen, indem er sich ihr als der versehrte Mann präsentiert, der er ist. Wozu auch gehört, dass er seine Liebe offenbart. Aus dieser »abwartenden« Fähigkeit entwächst seine ganze passive und deswegen noch viel unheimlichere Macht. 118 Diese Fähigkeit des Mannes ermöglicht der Frau, genau wie im Wintermärchen, wieder ins Leben zu kommen. Die Hochzeit steht im Zeichen der Verwandlung Tracys von einer Person, die nur angebetet werden kann, zu einem Menschen, der geliebt werden kann. Die Anerkennung der eigenen Schwäche stellt sich hier genau wie bei Othello als die Bedingung dafür heraus, Liebe erfahren zu können. Dexter hat Tracy bewiesen, dass er sich diese Verwandlung für sie wünscht und dass er aus diesem Grund auch der Mann ist, mit dem sie gemeinsam in die Richtung ihres Glücks schreiten kann. George dagegen hat sich disqualifiziert, weil er sie nicht zu dieser Veränderung angeregt hat, sondern sie in ein Märchenschloss sperren und anbeten wollte. Er nimmt ihr Verlangen nicht ernst. 119 Deswegen schickt sie ihn fort. Die Hochzeit von Dexter und Tracy beinhaltet das Versprechen, dass die in der Nacht enthüllten Begehren an jedem ihrer gemeinsamen Tage anerkannt und gerettet werden. 120 Dass sie zu der Textur ihrer gewöhnlichen Tage werden. Tracys eitle Wünsche nach Vollkommenheit, Intaktheit und Unabhängigkeit standen ihren eigent-
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Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 132. Ebd. Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 121 f. Ebd., S. 120. Cavell: Cities of Words, S. 73. Bronfen: Stanley Cavell, S. 221.
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lichen Wünschen und ihrem Glück im Wege. 121 Ihre »wertvolle Intaktheit«, ihre »individuelle Exklusivität« wurden für etwas weit Besseres geopfert, nämlich »für die Exklusivität eines Bundes.« 122 Dieser Bund ist die fröhliche Überwindung von Tracys vorheriger Weltentrückung.
Fremd und anders sein – »Die schreckliche Wahrheit« Wie Cavell gleich zu Anfang seiner Betrachtungen zu Die schreckliche Wahrheit schreibt, stellt es sich überraschenderweise als sehr schwierig heraus, die Handlung dieses Films zu rekonstruieren. 123 In der Tat ist es bemerkenswert, wie sehr die Ereignisse, die man beim ersten Sehen einfach akzeptiert hat, einer ausführlichen Interpretation bedürfen, um überhaupt verständlich zu sein. Ich denke, um die Vorgänge des Films zu verstehen, ist es hilfreich, wenn wir noch einmal die Erkenntnisse über eine mögliche Rückkehr zur Welt rekapitulieren, die Cavell seiner Lektüre Thoreaus entnahm: Ich, war dort das Ergebnis, kann nur selbst zur Welt zurückkehren, wenn ich auch die Freiheit habe, es nicht zu tun. »Ich kann […] nur umarmen, wenn ich die Macht habe es zu unterlassen […] Ich kann mich nur dafür entscheiden zusammen zu sein, wenn ich mich auch dafür entscheiden kann, allein zu sein […] ich kann mich nur für die Gemeinsamkeit einer Ehe entscheiden, wenn ich auch die Freiheit habe mich scheiden zu lassen.« 124
So fasst es Ronald L. Hall zusammen. Eben jener Hall sieht in diesem dialektischen Gedanken eine Wiederkehr des Kierkegaardschen Paradoxes und unterstellt dabei, dass Cavells Denken weit mehr, als diesem selbst bewusst ist, von Kierkegaard geprägt ist. 125 Auch wenn unter Berücksichtigung des Gesamtwerks Cavells die Indizien eher dafür sprechen, dass er diesen Gedanken zuerst im Zusammenhang mit Thoreau und Emerson ausgearbeitet hat, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass Kierkegaard über Wittgenstein, dem ersterer bekanntermaßen sehr wichtig war, Einzug in Cavells Philosophie gehalten 121 122 123 124 125
Cavell: Cities of Words, S. 72. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 53. Ebd., S. 233. Hall: The Human Embrace, S. 152. Übersetzung D. G. Ebd., S. 87.
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hat. Auch beim späten Wittgenstein finden wir nämlich die dialektische Idee, dass eine echte Teilnahme an der (Sprach-)Gemeinschaft nur vor dem Hintergrund der Erkenntnis eines möglichen Rückzugs geschehen kann. Das allerdings ist wiederum ein Element, das vor allem Cavell zur Grundlage seiner Interpretation des Spätwerks Wittgensteins macht. So oder so, eine gewisse Verwandtschaft im Denken, eine Vorliebe für Widersprüche, die sich nicht ausschließen, ist bei Kierkegaard und Cavell nicht zu leugnen. Dementsprechend erweist es sich als sinnvoll, ein verhältnismäßig einfaches von Kierkegaards Paradoxa ins Bewusstsein zu rufen, um Cavells recht elaborierter Interpretation von Die schreckliche Wahrheit näher zu kommen. In Die Krankheit zum Tode schreibt Kierkegaard, dass der Glaube die Verfassung ist, in der man sich von jeder Spur von Verzweiflung befreit hat. 126 Glauben ist die Aufhebung von Verzweiflung. Gleichzeitig sagt Kierkegaard aber, dass Verzweiflung »das erste Moment« des Glaubens ist, dass sie als eine »aufgehobene Möglichkeit« mit unbedingter Notwendigkeit im Glauben enthalten ist. 127 Ohne die Möglichkeit der Verzweiflung kann nach Kierkegaard kein Glauben existieren. Wie wir sehen werden, geht es in Die schreckliche Wahrheit ebenfalls um eine solche »aufgehobene Möglichkeit.« Das Vertrauen, das die Frau und der Mann als das zentrale Element einer Ehe definieren, kann nur angesichts der Möglichkeit einer Scheidung stattfinden. Ich muss darauf hinweisen, dass das Paar im Originalton das Wort »faith« benutzt, was in diesem Zusammenhang »Vertrauen«, aber eben auch »Glauben« bedeutet. Damit scheint es noch ein wenig näher an das oben aufgeführte Paradox Kierkegaards heranzurücken, wo es ja auch um faith – Glauben – geht. In einem New Yorker Sportclub setzt sich Jerry (Cary Grant) einer Bräunungsbehandlung aus, damit es, wie er laut mitteilt, so aussieht, als hätte er zwei Wochen in Florida verbracht. Einem zufällig vorbeikommenden Bekannten erklärt er: »Was eine Frau nicht weiß, tut ihr nicht weh«, und fügt mysteriöserweise hinzu: »Und was du nicht weißt, tut dir nicht weh.« Anschließend fragt er den Bekannten, ob dieser nicht für ein paar Drinks mit zu ihm nach Hause Ebd., S. 5. Kierkegaard, Sören: »Die Krankheit zum Tode«, in: Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst. München 2005, S. 158 f.
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kommen will. Dort mit noch einigen weiteren Leuten angekommen ist seine Frau Lucy (Irene Dunne) zu seiner Überraschung nicht anwesend. Sie sei wohl mit ihrer Tante Patsy unterwegs – eine Erklärung, die in sich zusammenfällt, als eben jene Tante Patsy den Raum betritt. Als Lucy kurze Zeit später eintrifft, hat sie ihren französischen Gesangslehrer im Schlepptau. Jerry und die Bekannten sind sichtlich irritiert. Sie erzählt, er und sie seien am vorigen Abend auf einer Tanzveranstaltung gewesen und auf der Rückfahrt sei mitten im Nirgendwo ein Reifen geplatzt, weswegen die beiden die Nacht in einer schrecklich unkomfortablen Bleibe verbringen mussten. Jerry tut erst einmal so, als würde er die Geschichte glauben. Die Gäste, die offensichtlich erkennen, wenn sich eine peinliche Situation anbahnt, verschwinden. Mit dem Verschwinden seines »Publikums« lässt Jerry seine Maske fallen und jagt den überraschten Gesangslehrer mehr oder weniger davon. Zurück bleibt das Ehepaar. Jerry sagt sein Vertrauen (faith) sei zerstört. Lucy antwortet, sie verstehe, was er meint – und schmeißt ihm eine Orange zu, die er ihr angeblich aus Florida geschickt hat, auf der sich aber zu seinem Unglück ein kalifornischer Aufkleber befindet. Als nächstes weist sie ihn darauf hin, dass es in den letzten zwei Wochen in Florida nur geregnet haben soll. Seine gebräunte Haut wird dadurch zum Witz. Jetzt werden die Dinge ein wenig kompliziert, denn Cavell irrt in seiner Nacherzählung der Ereignisse. Nachdem Jerry von Lucy ertappt wurde, versucht er das Gespräch wieder auf sie zu lenken, worauf sie ihm erklärt, dass er zurückgekehrt sei, um sie bei einer Wahrheit zu erwischen. Cavell schreibt nun, Jerry würde sich zu einer kurzen Rede hinreißen lassen, an deren Ende er verkündet: »Die Ehe basiert auf Vertrauen. Wenn das verloren geht, geht alles verloren.« 128 In Wirklichkeit ist es aber Lucy, die das sagt – Jerry greift es nur am Ende des Filmes noch einmal auf. Das lässt Cavells Interpretation allerdings nicht hinfällig werden, denn es ist in dieser Szene immer noch Jerry, der betont, dass er sein »Vertrauen in jeden« verloren habe. Wenn er das ernst meine, sagt Lucy, dann solle er sich scheiden lassen. Ihm scheint das zunächst zu weit zu gehen, doch dann steigern sie sich schließlich so in ihren Streit hinein, dass beide am Ende so tun, als könne ihnen das mit der Scheidung gar nicht schnell genug gehen. Lucy ruft schließlich ihren Anwalt an.
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Cavell: Cities of Words, S. 405. Und: Cavell: Pursuits of Happiness, S. 234.
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Wir wissen nicht, was Jerry in den vergangenen zwei Wochen getrieben hat. Wir wissen lediglich, dass er weg und nicht in Florida war. Aus seiner seltsam nicht eindeutigen Bemerkung gegenüber dem Bekannten schließt Cavell, dass es Jerry vielleicht weniger darum gehen könnte, irgendwelche Frauengeschichten anzufangen, als vielmehr darum, die Möglichkeit dazu zu haben und, ebenfalls sehr wichtig, sich einen entsprechenden Ruf zu erwerben. 129 Für Cavells Vermutung, dass in den zwei Wochen seiner Abwesenheit gar nichts passiert ist, spricht der Umstand, dass es ihn nicht zu beunruhigen scheint, als seine Lüge mithilfe der Orange auffliegt. Lucy wirkt ebenfalls nicht besonders bewegt, so als wüsste auch sie, dass Jerry sie nicht betrogen hat. Wir müssen also zusammenbringen, dass Jerry einerseits als verheirateter Mann wie ein Schürzenjäger aussehen will – auch oder gerade gegenüber seiner Frau –, er aber andererseits derjenige ist, der das Vertrauen in diese Ehe verloren hat, obwohl Lucy ihm keinen Grund bietet. Cavells Interpretation des Films bewegt sich entlang der Vermutung, dass Jerrys Vertrauensverlust, ebenso wie sein Wunsch ein Schürzenjäger zu sein, nicht »echt« ist, sondern nur vorgeschoben, und er damit versucht etwas zu erreichen, was er und Lucy innerhalb ihrer Beziehung bisher noch nicht etablieren konnten. Nach der Scheidung zu verlangen, schreibt Cavell, heißt, nach Freiheit zu verlangen. 130 Cavell versteht Jerrys Wunsch nach einem bestimmten Ruf und seinen vorgeschobenen Zweifel als einen Wunsch nach Freiheit. Nicht nach Freiheit von, sondern Freiheit in der Ehe. »Alles, was die Freiheit benötigt, ist sozusagen ihre eigene Möglichkeit. Solange er wählen kann, ist er frei – frei, um zum Beispiel Treue [faithfulness] zu wählen.« 131 Mit einer Möglichkeit, durch die erst eine andere Möglichkeit, nämlich ihre Negation, möglich wird, sind wir beim Kierkegaardschen Moment dieses Filmes angekommen. Wir sind aber auch bei Emerson und Thoreau, die ja betonten, dass wir uns erst dann der Welt zuwenden können, wenn wir die Möglichkeit haben, uns von ihr abzuwenden. Was wäre also, fragt Cavell, wenn es Jerry auf eine Scheidung, eine Trennung von Lucy, anlegt, um die Freiheit zu haben, sich ihr wieder zuzuwenden, ohne sich gefangen zu fühlen? Der Film würde dann zeigen, wie das Paar 129 130 131
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 244. Ebd. Ebd., S. 244 f.
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diese Freiheit innerhalb ihrer Ehe entdeckt und erforscht. 132 Das würde aber auch bedeuten, dass den beiden zu Anfang noch nicht klar ist, dass sie diese Freiheit in ihrer Partnerschaft finden können. Und wenn das wirklich das Thema dieses Filmes ist, dann würden wir Lucy und Jerry dabei zusehen, wie sie lernen, eine schreckliche Wahrheit anzuerkennen: dass sie füreinander gemacht sind. Jerry gibt zu keinem Zeitpunkt eine Erklärung für seine zweiwöchige Abwesenheit ab. Anstatt zu sagen, dass er nicht fremdgegangen ist, scheint es ihm lieber zu sein, Lucy im Ungewissen zu lassen, so als wolle er sie geradezu mit der Möglichkeit provozieren. Dieses Verhalten ist nicht nur ein weiteres Indiz dafür, dass wahrscheinlich wirklich nichts passiert ist, sondern legt auch nahe, dass zwischen Jerry und Lucy ein, wie Cavell es nennt, »sexueller Wettkampf« stattfindet. 133 Anders ist nicht zu erklären, wie Jerry versucht, seinen neu erworbenen Ruf als Casanova gegen Lucy einzusetzen und auch nicht, warum er überhaupt nach Freiheit durch eine Scheidung verlangen sollte. 134 Im weiteren Handlungsverlauf wird noch deutlicher hervortreten, dass jede von Jerrys Aktionen, mit denen er sich von Lucy distanzieren will, eigentlich seinen Wunsch in sich trägt, ihr wieder näher zu kommen. Sein Zusammensein mit neuen Frauen ist eine Waffe, die er stets auf seine Exfrau richtet und die Wahllosigkeit, die er dabei walten lässt, ist vielleicht sein Eingeständnis, dass es so wie mit Lucy eh mit keiner anderen werden kann. Wir sehen einen Mann, der versucht, eine Frau von sich zu stoßen, weil er sie wieder bei sich haben will. Wenn wir davon ausgehen, dass Jerry so verzweifelt ein Frauenheld sein will, weil er hofft damit etwas zu kompensieren, das die Beziehung zu Lucy ihm nicht geben kann, dann dürfen wir berechtigterweise annehmen, dass es ihm darum geht, sich wie ein begehrenswerter Mann zu fühlen und er seiner Frau dementsprechend vorwirft, ihn nicht genügend zu begehren. Das jedenfalls wird, wie wir gleich noch sehen werden, die Deutung Cavells sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich recht präzise beschreiben, worin der von Cavell sogenannte sexuelle Wettkampf in der Anfangsszene besteht. Nehmen wir also an, dass Jerry sich von Lucy zu wenig begehrt fühlt und das als fortwährende Demütigung empfindet. Es liegt in der 132 133 134
Ebd., S. 245. Ebd. Ebd.
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Natur von Demütigungen, dass man glaubt, sie würden in jeder Situation, von allen gut sichtbar an einem haften. So ist seine Reaktion auf seine Demütigung der Versuch, sich einen gegenteiligen Ruf zu erwerben: den eines Frauenhelds. Er lässt seine Bekannten wissen, dass er seine Frau betrogen haben könnte, um dann genau diese Bekannten dann nach Hause zu seiner Frau zu bringen, was ein Versuch ist, eine Situation zu kreieren, die wiederum sie demütigt. Sein ganzer Plan bricht jedoch schrecklich zusammen, als seine Frau erst nicht zuhause ist und dann auch noch mit einem anderen Mann anrückt, mit dem sie offensichtlich auch noch die Nacht verbracht hat. Jerrys erhoffter Ruf als Mann, dem die Frauen verfallen, muss dadurch zerstört werden. Das Publikum, das Jerry eigentlich zur Demütigung seiner Frau mitgebracht hatte, wird zum Zuschauer seiner eigenen Demütigung, wo er doch gerade versucht hatte, diese aufzuheben. Noch schlimmer muss das Ganze für ihn werden, weil er weiß, dass diese Frau, die er als Ursprung seiner Demütigung ausgemacht hat, die Frau ist, die er haben will. Was ihn fertig macht ist, dass er und Lucy unbedingt zusammengehören. Er sieht also keinen Ausweg mehr, dem Zustand der Demütigung zu entfliehen. So führt die Zuspitzung dieser Ereignisse zu der trotzigen Forderung nach Trennung. Vor einem Gericht machen die beiden ihre Scheidung dingfest. Einige Zeit später treffen sie sich in einem Nachtclub wieder. Lucy ist in Begleitung des »Landeis« Dan Leeson, der mit Öl zu viel Geld gekommen ist und der bei Lucy ganz offensichtlich eine Lückenbüßerfunktion zu erfüllen hat. Jerry bringt seine klebrig-süße Freundin Dixie Belle mit, die er auch noch nicht lange zu kennen scheint. Nach einem kurzen Gespräch springt Dixie Belle, die in dem Club arbeitet, auf und läuft zur Bühne, um dort ein Lied zum Besten zu geben. Bei jeder Wiederholung des Refrains kommt ein künstlicher Luftzug und wirbelt ihren Rock in Marylin-Monroe-Manier nach oben. Am Anfang hält sie diesen noch fest, doch beim letzten Durchgang gibt sie es auf, schlägt kokett die Hände über dem Kopf zusammen und steht nur noch in Unterwäsche da. Jerry und Lucy sind gleichermaßen peinlich berührt. Nachdem es zu mehreren solcher komischen Begegnungen kam, erfährt Lucy, dass Jerry drauf und dran ist, eine gewisse Barbara Vance zu heiraten, sobald seine Scheidung mit ihr rechtskräftig ist – was zufälligerweise mit dem Ablauf dieses Tages der Fall ist. Lucy, die Dan inzwischen den Laufpass gegeben und sich ihre andauernde Liebe zu Jerry eingestanden hat, bricht zu dessen Apartment auf – angeblich 300 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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um auf das bevorstehende Ende ihrer Ehe anzustoßen. Die Flasche Sekt, die Jerry zu diesem Anlass aufmacht, scheint aber beiden nicht zu schmecken. Das Telefon klingelt, Lucy geht ran und muss feststellen, dass am anderen Ende Barbara Vance ist, die natürlich wenig begeistert darüber ist, dass sich eine fremde Frau in Jerrys Apartment aufhält. Um sich aus der Situation zu retten, behauptet Jerry, Lucy sei seine Schwester, worauf Barbara sagt, sie wolle die Schwester gerne kennenlernen. Doch Jerry antwortet, diese hätte zu viel zu tun. Am Abend befindet sich Jerry auf einer kleinen Feier bei seinen neuen, piekfeinen Schwiegereltern, als auf einmal Lucy dort auftaucht, sich als seine Schwester ausgibt und einen ebenso aufgedrehten wie betrunkenen Auftritt hinlegt, der darin gipfelt, dass sie Dixie Belles frivole Nummer aus dem Club kopiert: »An dieser Stelle gibt es einen Trick mit einem Lufteffekt, aber das müssen Sie sich hier dazudenken«, erklärt sie den Anwesenden. Nachdem sie fertig und ihr unfreiwilliges Publikum einigermaßen entsetzt ist, verlässt Jerry mit ihr das Anwesen. Er will sie zum Landhaus fahren und dann wieder allein nach New York zurückkehren, doch nach einer äußerst turbulenten Fahrt haben die beiden einen Unfall und müssen von der Polizei nach Hause gebracht werden. Jerry ist gezwungen, ebenfalls im Landhaus zu schlafen. Zunächst liegen sie noch in unterschiedlichen Betten in angrenzenden Zimmern. Die durch einen Windzug klappernde und sich immer wieder öffnende Verbindungstür zwischen ihren Zimmern ist für beide eine willkommene Ausrede, um statt der Nachtruhe die Konversation zu suchen. Um Mitternacht, also genau in dem Moment, in dem ihre Scheidung rechtskräftig wird, entscheiden sie sich dafür, wieder in einem Bett zu liegen. Ohne Zweifel gewinnt Lucy Jerry mit ihrer Show bei den Vances zurück. Sein immer breiter werdendes Lächeln während ihres Auftritts beweist, dass er von ihrem Mut und ihrem Witz beeindruckt ist und Cavell betont, dass wir ihn durchaus so verstehen dürfen, dass er das Fest mit ihr verlässt, weil er mit ihr gehen, bei ihr sein will. 135 Auf der Autofahrt zum Landhaus, die in einem Unfall endet und die gewissermaßen eine Wiederholung der Geschichte ist, die Lucy ihm am Anfang erzählt hat, muss ihm klar werden, dass sie unmöglich mit Armand so viel Spaß haben konnte, wie sie hier mit ihm hat. Wenn Jerry das nicht von innen heraus weiß, schreibt Cavell, »dann hat er nicht verdient, hier zu sein. Die schreckliche Wahrheit ist, dass in 135
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solchen Angelegenheiten die Wahrheit nur von innen heraus gewusst werden kann.« 136 Auch wenn diese Szene der Wiederentdeckung der Tatsache dient, dass Jerry und Lucy am meisten Spaß zusammen haben können, geht ihre Bedeutung noch weiter. Die für Jerry »therapeutische« Kraft dieser Szene, die es ihm ermöglicht, sich Lucy wieder zuzuwenden, entsteht aus einem glücklichen Zusammenbringen zweier Umstände. Zunächst einmal bezeichnet Jerry Lucy als seine Schwester und beide akzeptieren diese Rolle für sie, das heißt sie beide akzeptieren, dass sie sich so gut und so lange kennen, dass sie wie Geschwister sind. Hieraus können wir auch erahnen, was die Quelle ihres sexuellen Problems ist. Sie sind sich zu nah, zu geschwisterlich, so dass Sex zwischen ihnen eine inzestuöse Note bekommen hat. Der bisherige Vorwurf Jerrys gegenüber Lucy, nicht begehrt zu werden, wäre in diesem Fall auf unerwidertes Verlangen oder auf eine Unzufriedenheit zurückzuführen, die er meinte, mit irgendwelchen Abenteuern außerhalb der Ehe lösen zu können. 137 Indem er nun öffentlich bekundet, sie sei seine Schwester, sagt er ihr, dass er versteht, was das Problem ist und entschuldigt es zu ihren Gunsten, sagt ihr also, dass er jetzt weiß, dass es nicht nur ihr Fehler ist. 138 Sie nimmt das an, nimmt wie gesagt damit auch an, dass sie seine Schwester ist. Aber in ihrer Rolle als seine Schwester beginnt sie mit ihrer Dixie-BelleNummer. Der Tanz geschieht in der Anerkennung ihres gemeinsamen Problems. Dass sie die Darbietung Dixie Belles aufnimmt, liest Cavell als ein Zeichen, dass sie akzeptiert, dass wir davon leben, andere in uns aufzunehmen. »Aufnehmen« bezieht sich hier wirklich auf alle möglichen Arten und Weisen, in denen wir andere in uns aufnehmen. Zum Beispiel auch darauf, dass wir ihre Gedanken und ihre Worte, oder wie Lucy es tut, ihren Gesang und ihren Tanz in uns aufnehmen. Ihre Aufführung ist durch komische Überspitzung so angelegt, dass sie gleichzeitig in- und außerhalb des Liedes steht, womit sie in einem Zug ihre Identifikation mit Dixie Belle und ihre Andersheit von ihr herausstellt. 139 Lucy ist dort in diesem Moment Jerrys Schwester. Im selben Augenblick aber präsentiert sie sich ihm in anzüglicher Pose und teilt 136 137 138 139
Ebd., S. 254. Ebd., S. 259. Ebd., S. 260. Ebd., S. 252.
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ihm dadurch mit, dass sie das Feld ist, auf dem er seine Leidenschaften ausleben kann, dass er bei ihr finden kann, und vielleicht nur bei ihr finden kann, was er draußen sucht. In diesem Moment bringt sie das Vertraute und das Erotische in sich zusammen. Sie setzt diese Zusammenführung im Landhaus fort, wo sie sich zuerst wie ein Kind benimmt, um dann anschließend einladend und vor Erregung bebend unter ihrer Bettdecke liegt. So verspricht sie, fortan beide Welten – das Vertraute und das Erotische – in sich zu vereinen, was einer Neuschöpfung ihrer Person gleichkommt. Es ist nun an Jerry, diese Neuschöpfung von ihr anzuerkennen. Er muss ihre Veränderung zulassen und sie anders sehen lernen. 140 Das ist die Veränderung, die von ihm verlangt wird. Othello hat das nicht gekonnt. Er hat die sexuelle Veränderung seiner Frau nicht zulassen können, ihm gelang es nicht, sie anders zu sehen und zwei Bilder von ihr zu vereinen. Der Tanz und alles, was danach geschieht, ist Lucys Antwort sowohl auf Jerrys anfänglichen Vertrauensverlust in die Beziehung zu ihr als auch auf seine später erfolgte Anerkennung der Tatsache, dass sie seine »Schwester« ist. Cavell übersetzt den Inhalt von Lucys Reaktion so: »In Ordnung, ich sehe den Punkt. Wir haben dieses Problem, dass wir uns schon ewig kennen, dass wir einander als erste gezeigt haben, was Gleichheit und Gegenseitigkeit sein könnten. Wenn das bedeutet, dass wir Bruder und Schwester sind, so kann das, in diesem Bereich, nichts Schlechtes sein. Was nun nötig ist, ist nicht, dass wir uns entfremden, sondern dass wir, ohne dabei unsere natürliche Intimität zu verleugnen, erkennen, dass wir auch Fremde sind, getrennt voneinander und unterschiedlich […] Ich werde dir zeigen, dass ich dir als deine Schwester fremder sein kann, als du jemals von mir geglaubt hast. Ich verwandele mich vor deinen Augen, sozusagen anders als ich selbst, und deswegen nicht anders. Um das zu sehen, musst du dich auch verwandeln.« 141
Die Veränderung, die von dem Paar erfordert wird, ist damit zuallererst eine Veränderung der Wahrnehmung. Jerry muss sehen, dass Lucy, trotz ihrer Vertrautheit, für ihn im gewissen Sinne genauso fremd ist wie jede Frau, die er von New York bis Florida finden kann. Und Lucy muss erkennen, dass die Tatsache, dass sie so vertraut mit Jerry ist, nicht bedeutet, dass sie ihre Bedürfnisse nach Leidenschaft
140 141
Ebd., S. 252 f. Ebd., S. 260. Übersetzung D. G.
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aufgeben muss. Für sie geht es darum, wieder Fremde füreinander zu werden, um zusammen glücklich sein zu können. Wir müssen uns nicht weit in unsere eigenen Untiefen sexuellen Verlangens begeben, um festzustellen, wie wichtig es für ein Anhalten dieses Verlangens ist, dass wir denjenigen, mit dem wir zusammen sind, als einen Fremden, als einen anderen wahrnehmen. Damit möchte ich natürlich nicht sagen, dass es sich hierbei nur um ein sexuelles Problem handelt. Es ist ein Paradox, dass wir, deren Glück so abhängig davon ist, dass wir zusammen sind, eine Form des Zusammenseins finden müssen, in der wir Getrenntheit anerkennen, also anerkennen, dass wir nicht zusammen sind. 142 So kommt Cavell an dieser Stelle zu dem Schluss, der als das Fazit seines gesamten philosophischen Werkes gelten kann, nämlich »dass die Anerkennung der Andersheit der anderen, der unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt.« 143 Lucys erster Schritt, um die Andersheit Jerrys anzuerkennen, besteht darin, ihre Verschiedenheit von sich selbst zu erkennen, »ihre Doppelnatur sozialer Kultiviertheit und erotischen Wagemuts.« 144 Es war Nietzsche, der schrieb, dass man »erkennenden Antheil am Leben und Wesen vieler« nimmt, »indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt.« 145 Lucys und Jerrys Herausforderung ist, ihre Ehe nicht als starr zu begreifen. Eine Scheidung wurde bei ihnen notwendig, weil ihr altes »inzestuöses« Verhältnis zerschlagen werden musste, um im Zuge einer Wiederverheiratung Platz für ein neues zu machen. 146 Dieses neue Verhältnis muss die Freiheit ermöglichen, nach der Jerry mit seinem nicht ernst gemeinten Wunsch nach Scheidung von Lucy verlangte. Ein »familiäres« Verhältnis wie das zwischen Bruder und Schwester kann nicht neu definiert werden. Der Grund für ein solches Verhältnis ist immer so klar wie festgelegt. Eine glückliche Ehe dagegen bedarf der täglich geschehenen Bestätigung und VerändeHall: The Human Embrace, S. 138. Cavell: Cities of Words, S. 413. 144 Ebd., S. 410. 145 Nietzsche, Friedrich: »Menschliches, Allzumenschliches«, Erster Band, in: Nietzsche Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, S. 719 (618). Vergleiche: Thomä, Dieter: »Das werdende Selbst. Identität, Alterität und Interaktion nach Emerson, Nietzsche und Cavell«, in: Thiele, Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hrsg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2009, S. 181. 146 Cavell: Pursuits of Happiness, S. 102 f. 142 143
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rung. Jerry muss jetzt lernen, dass er die Freiheit, die er außerhalb der Ehe suchte, in ihr finden muss, nämlich dadurch, dass er diese Ehe jeden Tag im Angesicht der Möglichkeit einer Scheidung freiwillig bestätigt. Worum es bei ihm geht, ist die Erkenntnis, dass die Ehe nur durch eine alltägliche Wiederverheiratung anhalten kann. 147 Veränderung kann nur stattfinden, wenn ich mich nicht als geschlossen, sondern als offen begreife. Offen für ein Gespräch mit anderen, die ich als lebendig und deswegen veränderlich und anders als ich anerkenne. Offen für ein Gespräch, in dem ich anderen zutraue, dass sie mir etwas beibringen können, auch über mich etwas beibringen können, das ich noch nicht wusste oder das mir bisher fremd oder noch nicht klar war. In derselben Passage in der Cavell schreibt, dass wir Getrenntheit und Andersheit anerkennen müssen, um Glück erfahren zu können, hebt Cavell noch einmal unser Angewiesensein auf Sprache hervor: »Eine andere schreckliche Wahrheit bezüglich der Endlichkeit ist die, dass wir Sterblichen, im Unterschied zu den Göttern, keine verlässlichen Gedankenleser sind, so dass Liebe zwischen Endlichen nur erkannt wird, wenn sie ausgesprochen wird.« 148
Dass Sprache unser Schicksal ist, heißt auch, dass wir nicht von vornherein wissen können, was die richtigen Worte sind bzw. dass es nicht reicht, einfach die Wahrheit auszusprechen, um Veränderung hervorzurufen. Wir müssen es ausprobieren. Entsprechend schreibt Cavell weiter: »Ein anderes Hindernis der Sterblichkeit, der menschlichen Rede und des Denkens liegt darin, dass man nicht so einfach durch Türen gehen oder sie öffnen kann, wie man sich das gerne vorstellen würde.« 149
Sprache auf das Aussprechen von Worten zu reduzieren, bedeutet ein primitives Bild menschlicher Kommunikation zu haben. Lucy und Jerry haben gezeigt, dass ein erfolgreiches Gespräch über etliche Umwege führt, dass es »Dichtung verlangen und hervorbringen« kann, dass es manchmal seltsamer Lieder und Tänze bedarf, »den Geschmack von schalem Champagner« oder die »Hilfe eines starken Luftzugs.« 150 Es ist eine Sache zu wissen, also zu sagen und zu hören, 147 148 149 150
Ebd., S. 259. Cavell: Cities of Words, S. 413. Ebd., S. 414. Ebd.
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dass man sich wieder fremd werden muss, aber eine ganz andere, es in sein Wesen zu integrieren und nach Wegen zu suchen, mit denen sich dieses Wissen umsetzen lässt. Das ist auch eine gute Botschaft an jene, die sich in solchen Fragen enttäuscht von dem Wissen der Philosophie abwenden. Philosophie kann niemandem die Suche nach den Wegen abnehmen, sie kann nicht vorhersagen, wohin sie führen werden, genauso wenig wie Lucy und Jerry nicht vorher wussten, wie es wieder zwischen ihnen funktionieren könnte. Sie mussten es ausprobieren. Was wir brauchen, wenn wir nicht weiter wissen, ist ein spielerischer Ansatz.
Komödie als Haltung Ich sagte zuvor, dass die von Lucy und Jerry benötigte Veränderung zuerst eine Veränderung der Wahrnehmung ist. Sie müssen etwas Altes, ihre Ehe, neu wahrnehmen, damit es fortbestehen kann. Das heißt, dass sie, um Konstanz zu erreichen, sich fortwährend für Veränderung bereit zeigen müssen. So kann das Alte bestehen bleiben und dabei immer wieder neu für sie sein. Mit dem Alten, das durch eine veränderte oder verändernde Wahrnehmung immer wieder neu ist, kommen wir nun zu einem Sinngehalt der Wiederverheiratungskomödie, der für jeden der Filme elementar bestimmend ist, der aber im herausragenden Maße in Die schreckliche Wahrheit ausgearbeitet wird. Für Cavell ist die Stärke von Die schreckliche Wahrheit, dass dieser Film, so seltsam das im ersten Moment auch klingt, keine komischen Höhepunkte hat. Allerdings hat er seiner Ansicht nach auch keine schwachen oder langweiligen Stellen. Dass es in diesem Film nicht die drei oder vier umwerfenden Szenen gibt, zu denen sich die restliche Handlung hin entwickeln muss, trägt einerseits zu der Schwierigkeit bei, die Geschehnisse nachzuerzählen, andererseits legt es nahe, dass es Regisseur Leo McCarey und seiner Autorin Viña Delmar vornehmlich nicht darum ging, einzelne witzige Ausbrüche zu kreieren, sondern vielmehr um etwas, das man eine »komische Kontinuität« nennen kann. Es gäbe, schreibt Cavell, in allen Wiederverheiratungskomödien, aber in Die schreckliche Wahrheit ganz besonders, eine »ungebrochene Linie der komischen Entwicklung, ein kontinuierliches Entfalten der Gedanken und Emotionen«, so als wäre jedes der Ereignisse in gleicher Weise dafür geeignet, uns zum Lachen zu brin306 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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gen. 151 Cavell versteht diese Kontinuität als einen Versuch, das Komische im Alltag zu finden, oder wie er es ausdrückt, »das Komödiantische bis zu seinen Wurzeln im Alltag zurückzuverfolgen.« 152 Cavell möchte uns hier darauf hinweisen, dass uns in den Wiederverheiratungskomödien eine bestimmte Perspektive auf das Leben angeboten wird, eine Einstellung zu den Ereignissen, die uns widerfahren, die Cavell mehr oder weniger eine Haltung der Komödie nennt. Die Komödie wird bei Cavell, genau wie die Tragödie, zu einer existenziellen Kategorie. Als Lucy gegenüber ihrer Tante eingesteht, dass sie Jerry immer noch liebt, begründet sie das damit, dass sie beide ein paar gute Lacher gehabt hätten. Nicht einen guten Lacher über das Leben, was Zynismus wäre, sondern eine Reihe gute Lacher, die einen Weg zum Zusammenleben ermöglichen. 153 Jerry ist der Richtige für Lucy, weil er derjenige ist, mit dem sie jeden Tag ein paar gute Lacher haben kann. 154 Was ist das für eine Haltung, die uns hier angeboten wird? Mit ihr wird ausgedrückt, dass das Leben nicht um einzelne Festtage herum gebaut ist, sondern dass jeder Tag ein Festtag sein sollte. 155 Cavell beruft sich hier auf Luther, der schrieb, dass jeder Tag Taufe sein sollte, 156 was wiederum an Thoreau erinnert, der sein allmorgendliches Bad im Walden-See als eine religiöse Übung bezeichnete. 157 Beide meinten damit, dass wir jeden Tag als Erneuerung begreifen sollten. Mit einer Haltung der Komödie wird ausgedrückt, dass in den gewöhnlichen Erscheinungen des Lebens außergewöhnliches Glück zu finden ist. Dass unser Glück davon abhängt, dass wir jeden Tag ein paar gute Lacher zusammen haben und dass wir so jeden Tag in Cavell: Pursuits of Happiness, S. 237. Ebd. 153 Cavell: Pursuits of Happiness, S. 239. 154 Hall: The Human Embrace, S. 170. 155 Ebd. 156 Cavell bezieht sich wahrscheinlich auf diese Stelle in Der Kleine Katechismus: »[Taufe] bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.« Darüber hinaus gibt es von Luther das geflügelte Wort, man müsse täglich in die Taufe »hineinkriechen«. Luther, Martin: »Der kleine Katechismus«, in: Evangelisches Gesangbuch für die evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Frankfurt am Main 1994, S. 806,4. 157 Thoreau: Walden, S. 96. 151 152
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etwas Neues verwandeln können. Dass das unsere Möglichkeit ist, einer zur dumpfen Routine geronnenen Alltäglichkeit zu entgehen. Es ist eine Haltung, in der Glück nicht vornehmlich in irgendwie gearteten Höhepunkten gesucht wird, sondern aus der Fähigkeit entsteht, im alltäglich Wiederkehrenden große Freude und tiefe Befriedigung zu entdecken. Das darf nicht als das Anpreisen eines biederen Lebensstils verstanden werden. Vielmehr können wir bei den Paaren der Wiederverheiratungskomödie sehen, dass es das genaue Gegenteil ist, nämlich die Abwendung von Biederkeit durch Kreativität, durch ein Interesse an allen Erscheinungen, durch eine Anerkennung von Tiefe. Die Wiederverheiratungskomödien sagen uns, und Cavell mit ihnen, dass das Komödiantische nicht in den Ereignissen steckt, sondern in unserer Haltung zu den Ereignissen. 158 Das zu hören muss schmerzvoll sein, angesichts der tragischen Ereignisse, die uns widerfahren und auf die wir keinen Einfluss haben. Doch um diesen Ansatz zu verstehen, dürfen wir nicht vergessen, dass der Aufruf zu einer Haltung der Komödie nicht innerhalb einer Verneinung unserer Abhängigkeit vom Zufall und von Dingen, die wir nicht ändern konnten oder nicht zu ändern wussten, geschieht, sondern gerade in Anerkennung unserer Abhängigkeit und der zwangsläufigen Tragik unseres Lebens. Diese Haltung ist ein Versuch, das Unvermeidliche des Lebens anzunehmen und dabei möglichst viel Glück zu erfahren. »Tragödie ist die Notwendigkeit, eigene Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen; Komödie die Möglichkeit, dabei eine gute Zeit zu haben.« 159 Wenn uns das Leben nicht jeden Tag die Tür zur Verzweiflung weit öffnen würde, wozu bräuchten wir dann überhaupt eine Haltung der Komödie? Verzweiflung – eine Haltung der Tragödie – ist die andauernde, berechtigte Alternative zur Komödie. Jedes Leben, jeder Mensch, kann von einer Vielzahl von Angelegenheiten erzählen, die nicht anders als tragisch genannt werden können, doch bei allen anderen Ereignissen haben wir die Wahl. Damit ist die Frage von Komödie und Tragödie eine des Namengebens. Wie ich etwas nenne, sagt nicht nur, wie ich es bezeichne, sondern welche Realität es für mich hat. Ich kann etwas Schicksal nennen, Zufall, von Gott gewollt oder eine Konsequenz meines oder deines Handelns. In jedem der Fälle wird diese Sache einen anderen Platz in 158 159
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 237 f. Ebd., S. 238.
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meinem Leben einnehmen. 160 Wenn ich also etwas den Namen Tragödie oder Komödie gebe, definiere ich a priori oder a posteriori die Realität, die es für mich hat. »Das Leben ist hart«, schreibt Cavell »doch lasst es uns nicht noch härter machen, indem wir es tragischerweise tragisch nennen, wo wir frei sind, es anders zu tun.« 161 Letzteres ist ein Ratschlag, den Cavell Montaignes Denken entnimmt. Cavell hatte diesen in seiner Arbeit zu Othello kritisiert, weil er ihm gelegentlich so vorkam, als wünsche er philosophierend über den Dingen zu stehen. Jetzt holt Cavell Montaigne aber wieder zurück in sein philosophisches Boot, da er in der von Montaigne propagierten Fröhlichkeit die den Wiederverheiratungskomödien zugrunde liegende Einstellung wiedererkennt. Überhaupt führt Cavell mit der Haltung der Komödie einige für ihn wichtige Denklinien zusammen. Bedeutender noch als Montaigne ist für ihn natürlich Thoreau. Die Wiederverheiratungskomödien, so wie Cavell sie versteht, liefern eine eigene Interpretation dessen ab, was bei Thoreau »interessiert sein« heißt. Thoreau meint damit ein Interessiert-Sein an dem Gewöhnlichen und an den eigenen Erfahrungen. 162 Interessanterweise gesellt sich zu ihm noch Kierkegaard, der »interessiert sein« in genau dem gleichen Zusammenhang benutzt. Von beiden wird dieser Begriff als eine Suche konzipiert, als wäre ein Interesse an dem Gewöhnlichen etwas, das wir immer erst noch lernen müssen. 163 Auch wenn wir vieles nicht anders als tragisch nennen können, bedeutet eine Haltung der Komödie einzunehmen, daran interessiert zu sein, wie wir es außerdem noch nennen könnten. Die Tatsache, dass Jerry und Lucy zusammengehören, kommt den beiden im Verlaufe der Handlung sicher mehr als einmal tragisch vor – haben sie doch in großem Maße keinen Einfluss darauf –, zugleich ist es auch die Quelle ihres größten Glücks. In Die schreckliche Wahrheit sehen wir dabei zu, wie die beiden zu akzeptieren lernen, dass Glück etwas ist, das ihnen passiert. Auch wenn sie dabei lernen müssen, dass man alles tun muss, damit es passieren kann. Wieder präsentiert sich die Komödie als eine veritable Haltung gegenüber dem Unausweichlichen, eine Haltung, die zugleich Ausdruck größtmöglicher mensch160 161 162 163
Hall: The Human Embrace, S. 169. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 238. Ebd. Hall: The Human Embrace, S. 169.
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licher Freiheit und Unabhängigkeit ist, weil sie stets prüft, was wir aus dem Gegebenen noch machen können, weil sie in Anbetracht der Notwendigkeit des Tragischen, die Unabhängigkeit behält, auch das Komische zu wählen. Die Haltung der Komödie greift nicht nur Thoreaus »Interessiert-Sein« auf, sondern ist auch eine Wiederkehr von Emersons »Stimmung«, weswegen Cavell auch behauptet, die Wiederverheiratungskomödie führe das Anliegen des Amerikanischen Transzendentalismus fort. Emersons Idee der Stimmung bezieht sich darauf, dass ich mit der Stimmung, die ich bewusst oder unbewusst einnehme, von vornherein meine Erfahrung von Welt gestalte. Ich habe wiederholt die Wichtigkeit von Atmosphäre betont, nun möchte ich darauf hinweisen, dass die Stimmung, die jede der Wiederverheiratungskomödien bei seinen geneigten Zuschauern erzeugt, essentieller Teil ihres Arguments ist. Der Spaß, den man beim Sehen dieser Filme hat, ist essentieller Teil der Lebenshaltung, die von ihnen vertreten wird. Solange uns die Stimmung dieser Filme verschlossen bleibt, werden wir auch keinen Zugang dazu finden, was Cavell mit der Haltung der Komödie meint. Insofern kann ich, über das hinaus, was ich bisher geschrieben habe, nur empfehlen, ein oder zwei dieser Filme zu sehen. Irgendwann kommt man bei einem ästhetischen Urteil an einen Punkt, an dem man nichts anderes sagen kann als: »Siehst du nicht? Erkennst du nicht?« Anschließend kann man nur auf Zustimmung hoffen. Cavell hofft darauf, dass es seinen Lesern, die diese Filme sehen, nicht entgeht, welche übermäßige Freude hier aus dem einfachen Umstand gezogen wird, dass zwei zusammen sind. Und er hofft darauf, dass sie ihm darin zustimmen, dass das eine berechtigte Art und Weise ist, die Welt zu sehen. Daraus, dass die Komödie von unserer Fähigkeit zu trauern abhängt und nur im Angesicht der Tragödie stattfinden kann, sollte deutlich geworden sein, dass es bei der Haltung der Komödie nicht darum gehen kann, der Welt mit weniger Ernst zu begegnen. Die Vorstellungen von Komödie, die sich heutzutage durchgesetzt haben, lassen das manchmal vergessen. Die Eröffnungsszene von Die Nacht von der Hochzeit verhüllt trotz allem Slapstick nicht, dass hier ein Mann kurz davor ist, seine Frau zu schlagen, wie er es auch zuvor schon getan hat. Es ist also nicht so, dass es in diesen Filmen um nichts gehen würde. Wir haben aber verlernt, dass man zu ernsten Angelegenheiten nicht unbedingt ein ernstes Gesicht machen muss. So würde ich sogar sagen, dass man gerade durch eine Haltung der 310 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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Komödie die Ernsthaftigkeit einer Lage anerkennen kann, also anerkennen kann, dass hier kein Schicksal am Walten ist, sondern dass etwas getan werden muss, dass wir es sind, die etwas tun müssen und dass wir uns Verzweiflung hier und jetzt nicht leisten können. In diesen Filmen kommt kaum etwas vor, dass man gemeinhin ein ethisches Problem nennen würde. Kein Armut, im Gegenteil, die Protagonisten sind meist sehr reich, keine Unterdrückung, keine gesellschaftlichen Zwänge. Der nicht ganz von der Hand zu weisende Eindruck, in den Wiederverheiratungskomödien würden sich elitäre Wohlstandskinder mit ihren Luxusproblemen herumschlagen – Kracauer hätte so etwas sagen können – ignoriert, dass es hier jeweils um zwei Menschen geht, die etwas sehr ernst nehmen. Sollten wir ihnen vorwerfen, dass sie die Zeit und die Muße haben, sich mit diesen Angelegenheiten zu beschäftigen? Gegenüber Krieg und Hunger ist fast alles relativ. Die Paare geben jedenfalls einer tiefen Ernsthaftigkeit Ausdruck, einem Gefühl, »furchtbaren Schaden anzurichten und von einem irreparablen Schaden bedroht zu sein, während die übrige Welt gar nicht merkt, was auf dem Spiel steht.« 164 Ihre Zusammengehörigkeit entsteht auch aus dem Fakt, dass beide diese Bedrohung anerkennen. Man kann ihr Problem ein privates nennen, doch am Ende, oder am Anfang, sind alle Probleme privat. Der Versuch, mit einer anderen, die unendlich getrennt ist von mir, zusammen zu sein, ein Zuhause zu gründen und glücklich zu werden, ist ein Emblem dafür, ein Zuhause in der Welt zu finden, die in ihrer Gesamtheit unendlich getrennt ist von mir. Die Ehe ist bei Cavell ein Bild für das Heimischwerden in der Welt, ein Äquivalent für die von Teilen der Philosophie geforderte Rückkehr zum Gewöhnlichen. 165 Den Skeptizismus erkennt Cavell als das, was das Heimischwerden dauerhaft bedroht. Er entsteht aus der Enttäuschung über die Art und Weise, wie sich die Welt und mit ihr die anderen uns präsentieren, nämlich als getrennt, als unabhängig von uns. Die Tragödie ist die Ausarbeitung dieser Enttäuschung. 166 Da unsere Getrenntheit nichts anderes als gewöhnlich ist, muss uns das Gewöhnliche selbst enttäuschend – oder schrecklich oder surreal oder unheimlich – vorkommen. Aus diesen Gründen kann man beginnen, das Glück im Außergewöhnlichen zu suchen. Eine Haltung der Komödie anzuneh164 165 166
Cavell: Cities of Words, S. 413. Cavell: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, S. 107. Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 26.
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men bedeutet dagegen, das Enttäuschende, das Schreckliche, das Surreale und das Unheimliche zu umarmen und Glück darin zu suchen, indem man die Welt nicht noch enttäuschender, schrecklicher, surrealer und unheimlicher macht, als sie schon ist. Das heißt nicht, dass wir gezwungen sind, Glück im Unglück zu suchen, sondern dass wir erkennen müssen, dass die gleichen Sachen, die uns unglücklich machen, uns auch sehr glücklich machen können. Deswegen schließt die Komödie ein gehöriges Maß Trauer mit ein, denn zur Bejahung unserer Existenz gehört auch eine Bejahung unseres ewigen Alleinseins. Die Komödie ist die Abwendung des Skeptizismus, eine fröhliche Bejahung der Existenz. 167 Was die Haltung der Komödie so schwierig macht und deswegen oftmals so unattraktiv erscheinen lässt, ist, dass es nie eine finale Abwendung des Skeptizismus ist. Es wird uns nicht gelingen, diese Haltung für immer anzunehmen. Auf der anderen Seite werden wir, gleich was uns zustößt, nicht für immer verzweifelt sein können. Wir werden täglich mit der Tragödie um die Komödie ringen müssen. So betrachtet sind Tragödie und Komödie die zwei extremen Sichtweisen auf unser Leben, die in ihren täglichen Abläufen nicht anders als gewöhnlich sein können. Die Entscheidung, Glück im Gewöhnlichen zu suchen, kann nur unter Berücksichtigung ihrer Alternative, nämlich Glück im Außergewöhnlichen zu suchen, getroffen werden. Für Jerry bedeutet diese Entscheidung, dass er aufgibt, sein Glück statt bei Lucy in kurzzeitigen Frauenabenteuern zu vermuten. 168 Cavell ist weise genug, eine Suche nach Glück im Außergewöhnlichen moralisch zu verurteilen, denn das würde seinem Schreiben einen unpassenden konservativen Anstrich geben. Vielmehr zeigt er, dass die Möglichkeit eines Glückes im Außergewöhnlichen schon dadurch in Frage gestellt wird, dass überhaupt nicht klar ist, wie ein solches Glück realistischerweise aussehen könnte. Denn sollte man es einmal geschafft haben, etwas Glücklichmachendes, Außergewöhnliches gefunden zu haben, dann wäre man von diesen außergewöhnlichen Ereignissen abhängig, was die restliche Zeit dazwischen zu einer wertlosen, unglücklichen machen würde. Gelänge es einem dagegen, das Außergewöhnliche tatsächlich langfristig festzuhalten, dann würde man es automatisch in etwas Gewöhnliches verwandeln. Ohne diese Argumentationswege 167 168
Hall: The Human Embrace, S. 169. Ebd., S. 171.
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Die Komödie der Wiederverheiratung
damit erschöpfend verfolgt zu haben, sollten diese zwei einfachen Logiken genügen, um den Verdacht zu verstärken, dass es sich bei der Suche nach dem Glück im Außergewöhnlichen um ein äußerst fragwürdiges metaphysisches Programm handelt. Da das menschliche Leben unumgänglich aus dem besteht, was wir, in unglücklichen Zeiten häufig abschätzig, das Gewöhnliche nennen, ist es ein Gebot der Klugheit, hier Glück zu suchen. Trotzdem können wir uns natürlich auch anders entscheiden.
Wiederholung Eine fröhliche Bejahung meiner Existenz ist in gleich mehrerlei Hinsicht auch eine Bejahung der Wiederholung. Cavell spricht von einem »der Wiederholung hingeben.« Ich muss täglich wiederholt meine – alten und neuen – Verluste betrauern, ich muss täglich wiederholt neu anerkennen, dich, unsere Getrenntheit, die Getrenntheit der Welt von mir, weil ich ebenso täglich der Gefahr oder der Versuchung ausgesetzt bin, nicht anzuerkennen. Ich muss täglich wiederholt neu sehen, dich sehen, mich sehen, also neu begreifen, wer ich bin, wer du bist und wer wir zusammen sind. Ich muss täglich wiederholt offen für Veränderung sein, für deine, meine und die meiner Welt. Ich muss der Welt täglich wiederholt ein paar Lacher abringen. Ich darf nicht glauben, dass sie mir nichts mehr zu bieten hätte. Ich muss meinen Weg zur Welt, zu dir als meine täglich zu wiederholende Aufgabe annehmen. So, glaubt Cavell, kann die Welt täglich wiedergewonnen werden, ein neuer Morgen dämmern, ein täglicher Kreislauf entstehen, ein normales Leben. 169 Wenn wir uns vorstellen müssen, dass die Paare der Wiederverheiratungskomödien über das Ende der Filme hinaus glücklich bleiben, dann sind sie es nicht deswegen, weil sie ein Hindernis bewältigt haben, das sie in einen ewigen Zustand des Glücks versetzt, sondern weil sie in ihrer restlichen Ehe das fortführen, was wir im Film gesehen haben. Ihre Ehe muss eine tägliche Wiederverheiratung werden. Am Ende liegt ihr Glück nicht in einem märchenhaften »für immer«, sondern in einem »immer wieder«. 170 War die ursprüngliche Sorge des Skeptizismus, dass ich andere 169 170
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 237. Ebd., S. 240.
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vielleicht nie wirklich kennen könnte und sie mich nicht, dann gilt es jetzt zu sehen, dass »andere kennen« nichts anderes heißen kann, als ihre Wiederholungen zu kennen – was sollte es sonst heißen. 171 Insofern ist eine Hingabe an die Wiederholung notwendig für ein Wissen von anderen und eine Reaktion auf die skeptizistische Angst. Eine andere Formulierung für diese Angst ist die Furcht, keine Heimat zu haben. Nun müssen wir akzeptieren, dass eine Heimat nur im Gewöhnlichen möglich ist, also in dem, was wir durch seine Wiederholungen kennen.
V.3 Ehe als Weltdeutung Als Lucy und Jerry in Die schreckliche Wahrheit im Zuge ihrer Scheidung vor Gericht ziehen, geht es nicht nur darum, die selbige dingfest zu machen, sondern auch um die Frage, bei wem der gemeinsame von beiden sehr geliebte Hund Mr. Smith leben soll. Der Richter beschließt, der Hund müsse selbst entscheiden. Mit einem Trick, nämlich indem sie unbemerkt ein kleines Spielzeug aus ihrer Tasche holt, bringt Lucy Mr. Smith dazu, zu ihr zu laufen. Resignierend erbittet Jerry Besuchsrecht, was ihm auch gewährt wird. Der Hund ist, wie beide dem Richter erklären, mehr oder weniger der Grund für ihre Ehe. Lucy und Jerry trafen zum ersten Mal in einer Zoohandlung aufeinander, wo beide sich im selben Moment für eben diesen Foxterrier entschieden hatten. Da sie nicht klären konnten, wer als erstes Anspruch auf den Hund erhoben hatte, hielten sie es, wie sie sagen, für das Beste zu heiraten und sich gemeinsam um ihn zu kümmern. Es sieht demnach so aus, folgert Cavell, dass es ebenso sehr von einem Hund wie von einem Gericht abhängig gemacht werden könnte, ob diese Ehe rechtmäßig ist oder geschieden werden sollte. Beides ist im gleichen Maße sinnvoll oder sinnlos. 172 Seitdem mit dem Beginn der Neuzeit das romantische Ideal mehr und mehr in unsere Paarbeziehungen eingezogen ist und sich jetzt die Überzeugung durchgesetzt hat, dass der Fortbestand einer Ehe von nichts anderem abhängen kann, als von unserer individuel171 Ein Gedanke, den Cavell Getrude Steins The Making of Americans entnimmt. Stein, Getrude: The Making of Americans. Champaign 1995. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 241. 172 Ebd., S. 243.
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len Zustimmung, kann auch nichts Äußeres mehr eine Ehe legitimieren. Also weder Staat, Kirche oder Tradition noch Familie oder sonst irgendetwas. Auch die Sexualität und, darin impliziert, der Nachwuchs fallen heute als Legitimationsgründe für eine Ehe weg. Das ist Glück und Bürde zugleich – wie wohl jedes Glück gleichzeitig eine Bürde ist. Es ist ein Glück, weil uns in unseren wichtigsten menschlichen Beziehungen die Freiheit gewährt wird, unseren eigenen Wünschen zu folgen. Es ist eine Bürde, weil wir jetzt gezwungen sind herauszufinden, was unsere Wünsche sind. Wie bis hierhin deutlich geworden sein sollte, ist es eine Grundannahme der Philosophie Cavells, vielleicht auch der Philosophie im Allgemeinen, dass wir uns nicht ohne Weiteres über unsere Wünsche, obwohl es ja unsere eigenen sind, bewusst sein können. Das ist insofern ein Problem des Wissens, als dass wir um unsere Wünsche zwar »irgendwie« wissen, aber noch lernen müssen, dieses Wissen zu erkennen und anzuerkennen, was einiger philosophischer Arbeit bedarf. Diese kann, wie zuvor dargestellt, zum Beispiel darin bestehen, Narzissmus zu überwinden. Aber selbst wenn wir ein wenig Klarheit über unsere eigenen Wünsche erlangen konnten, ist nicht sicher, dass sich diese Wünsche auch erfüllen lassen, was immer wie ein persönliches Versagen aussehen wird. Beides sorgt für eine tiefe Verunsicherung, die sich zu einer nie versiegenden Quelle von Traurigkeit und Unglück entwickeln kann. Eva Illouz ist sicher die momentan am besten wahrnehmbare wissenschaftliche Stimme, die von dieser Unsicherheit und Traurigkeit kündet. Wie ich auf den folgenden Seiten zu zeigen versuche, lässt sich an Cavells Beschreibung der ontologischen Verunsicherung von Paarbeziehungen und der damit verbundenen Verunsicherung von Selbstbildern besonders gut verdeutlichen, wenn man einige von Illouz’ Beobachtungen miteinbezieht. Ich beziehe mich dabei vornehmlich auf ihr soziologisches Buch Warum Liebe weh tut.
Die Legitimität einer Ehe Die Wiederverheiratungskomödien überbetonen geradezu die Freiheit moderner romantischer Liebe, dadurch dass in ihnen Paare porträtiert werden, die keinerlei äußeren Zwängen ausgesetzt sind. Sie sind selbstständig. Oftmals, und das ist angesichts der Entstehungszeit dieser Filme in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon ungewöhnlich, arbeiten auch die Frauen. 315 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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Dazu sind die Paare meist ausgesprochen wohlhabend und haben nie Kinder. Auf diese Weise von vornherein von jeglichem externen »Ballast« wie etwa wirtschaftlicher Sorgen befreit, können sie, die Paare und die Filme, sich ganz auf die Suche nach dem Wesentlichen der Ehe konzentrieren. Die Wiederverheiratungskomödien nehmen damit, wie Cavell es ausdrückt, an einem Gespräch mit ihrer Kultur teil, dessen zentrales Thema er so formuliert: »Wenn wir die Legitimität einer Scheidung einräumen, worin besteht dann die Legitimität einer Ehe?« 173 Während man sich in früheren Zeiten an klaren, objektiven und allen zugänglichen moralischen Idealen orientieren konnte, haben Liebende heute keinen äußeren Fixpunkt mehr, an dem sie die Richtigkeit ihrer Beziehungen und damit auch ihrer Lebensführung, bestimmen können. Es gab einmal, wie Eva Illouz ausführt, objektive Kriterien der Würde, die von allen geteilt wurden und anhand derer man sich selbst zur Rechenschaft ziehen konnte. 174 Der eigene Wert, das Gelingen des eigenen Lebens, konnte von ihnen abhängig gemacht werden. Für Männer und Frauen war klar, wie sie vor Gott und vor der Gemeinschaft richtig lebten. Solche allgemeingültigen Kriterien stehen uns in der vom Individualismus geprägten Gegenwart nicht mehr zur Verfügung. Dadurch entsteht eine massive ontologische Verunsicherung, die es uns schwer macht zu sagen, ob ein individueller Lebensentwurf gut oder nur gut genug, nur scheinbar gut oder überhaupt nicht mehr bejahenswert ist. So stehen wir vor dem Problem, dass wir nicht mehr wissen, wie die Legitimität einer Ehe zu bestimmen ist, 175 sondern nur, dass wir sie selbst zu bestimmen haben. Die Idee, dass weiterhin etwas Äußeres die Legitimität einer Ehe garantieren kann, wird in Die Nacht vor der Hochzeit ziemlich deutlich verworfen. Dort verkündet der erfolgreiche Aufsteiger George, der Konkurrent des von Cary Grant verkörperten Dexter, seine bevorstehende Hochzeit mit Tracy sei von nationaler Wichtigkeit. Er zeigt damit, dass er glaubt, etwas Äußerliches, nämlich die Öffentlichkeit, könne sein Leben wichtig machen. Er lebt, wie Cavell sagt, sein Leben »von außen nach innen.« 176 Das disqualifiziert ihn als 173 174 175 176
Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 134. Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 218. Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 123. Ebd., S. 129.
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Bräutigam für Tracy und Helden der Wiederverheiratungskomödie. Wobei wir nicht denken dürfen, dass George vormodern wäre. Er muss die Unsicherheit, das Fehlen eines festen Fixpunkts, genauso spüren wie alle anderen auch. Aber gerade aus dieser Unsicherheit heraus sucht er sich selbst Kategorien – Ansehen und Erfolg –, nach denen er meint sein Leben objektiv bewerten zu können. Er scheitert, weil diese Kategorien nicht innerhalb seiner Beziehung mit Tracy liegen und er sie auch nicht mit ihr gemeinsam ausgehandelt hat, sie also seine Kriterien nicht teilt. Das Genre der Wiederverheiratungskomödie regt nun dazu an, die Herausforderung als Paar anzunehmen und die Kriterien, nach denen eine Ehe, ein gemeinsames Leben, beurteilt werden kann, gemeinsam selbst zu schaffen. Da die Kriterien nicht länger von etwas Festgelegtem, Äußerem abhängen, wie zum Beispiel von Gott, der will, dass Mann und Frau bis zum Tode treu zusammen bleiben, sondern von unterschiedlichen, veränderlichen und veränderbaren Menschen, müssen die Kriterien quasi täglich neu verhandelt werden. In den Filmen wird suggeriert, die Legitimität der Ehe »komme durch eine gegenseitige Bereitschaft zur Wiederverheiratung zustande, durch so etwas wie eine kontinuierlich erneuerte Bestätigung.« 177 Eine Ehe kann nur im Modus der Wiederholung gelingen, indem jeder von uns jeden Tag sagt, dass diese Ehe noch das ist, was er oder sie will. Ob man etwas will oder nicht, ist natürlich eine Frage der eigenen Wünsche, weswegen Cavell auch in seinen späteren Arbeiten zum moralischen Perfektionismus so viel Nachdruck auf das Bewusstwerden der eigenen Wünsche legt. Es ist das zentrale Anliegen des moralischen Perfektionismus, den Cavell hauptsächlich auf Emersons Werk und den Wiederverheiratungskomödien aufbaut, dass wir uns über unsere eigenen Wünsche klarer werden und diese zu kommunizieren lernen. 178 Was andersherum gesehen bedeutet, dass unsere eigenen Wünsche etwas sind, über das wir uns im großen Maße nicht klar sein können. Cavell geht davon aus, dass wir auf einen Freund angewiesen sind, mit dem wir gemeinsam nach der Klarheit streben können, die uns allein nicht gegeben ist. Unsere eigenen Bedürfnisse sind bei Cavell demnach etwas, das wir nur in einem freundschaftlichen Gespräch, zusammen mit einem anderen, heraus177 178
Ebd. Cavell: Cities of Words, S. 72.
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finden und befriedigen können. Nun ist die mächtigste Manifestation, das beste Bild einer solchen Freundschaft sicher die Ehe. Die Eheleute müssen zusammen herausfinden, was sie wirklich wollen, was jeder von ihnen wirklich will und wie das bzw. ob das zwischen ihnen verwirklichbar ist.
Scheinwünsche Bei der Suche nach den eigenen Wünschen geht es bei Cavell stets darum, Scheinwünsche abzubauen, die die eigentlichen Wünsche verdecken oder deren Verwirklichung verhindern. Darin besteht die philosophische Arbeit. Bei den Scheinwünschen handelt es sich zumeist um Narzissmen, die tiefen, ernsthaften und Glück bringenden Beziehungen mit anderen im Wege stehen. Tracys Wunsch nach moralischer Unversehrtheit in Die Nacht vor der Hochzeit ist ein Beispiel für einen solchen Narzissmus. Ebenso Othellos Wunsch nach Reinheit und emotionaler Unabhängigkeit, ergo Macht, und Leontes Wunsch alles, was er liebt, für immer fest an sich zu drücken, seine Angst vor Verlust. Die Soziologie verwendet viele Mühen darauf, zu zeigen, dass unsere vermeintlich privaten Wünsche immer die Wünsche von unweigerlich und vollkommen sozialen Wesen sind, unsere Wünsche also stets von unserem Umfeld, unserer Gesellschaft, unserer Zeit und von Gruppen mit bestimmten Interessen geprägt sind – und zwar auf eine Weise geprägt sind, dass wir glauben, diese Wünsche seien den Tiefen unserer Seele selbst entsprungen. Es ist unendlich schwer zu sagen, welche dieser Wünsche, obwohl sie alle irgendwie mit anderen geteilt werden, wirklich meine Wünsche sind. Und doch lastet Cavell dem Gespräch der Ehe, der Freundschaft, die Aufgabe auf, das eine von dem anderen, die Wünsche von den Scheinwünschen, zu trennen. Wir alle haben sie schon kennengelernt, die Scheinwünsche, die furchtbaren Mythen, die so allgegenwärtig sind, dass sie andauernd an uns zerren und sich uns gewalttätig aufzwingen, das verdammte Geschwätz der anderen über das, was vielleicht irgendwen glücklich macht, aber nicht mich, und das dennoch wahnsinnige Macht über mich hat. Ich möchte behaupten, dass diese Mythen als Reaktion auf die allgemeine ontologische Unsicherheit entworfen wurden – von Menschen, die genauso wenig oder genauso viel wissen wie ich. Und 318 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Ehe als Weltdeutung
wegen der dahinter stehenden Unsicherheit werden diese Mythen auch mit der größten Abgeklärtheit, mit dem Gestus des Erkannthabens, der nicht hinterfragbaren Alternativlosigkeit vorgetragen und an mich herangetragen. Und ich frage mich, wie oft ich schon an solchen Mythengebäuden mitgebaut habe und wann ich es wieder tun werde. George aus Die Nacht von der Hochzeit will den Wert seiner Liebe an der gesellschaftlichen Bedeutung messen. Lear will echte Liebe gegen den äußeren Anschein des Verehrt- und Geliebtwerdens eintauschen. Es stellt sich in diesen Beispielen so dar, als handele es sich bei den Mythen meist um Versuche, etwas für uns sehr Wichtiges aber schwer Greifbares und Unbestimmtes in etwas Messbares zu verwandeln, das auch andere jederzeit sehen können. Nichts ist für uns so wichtig und gleichzeitig so ungreifbar wie Liebe und Anerkennung, wodurch diese Aspekte unseres Lebens zu den beliebtesten Kandidaten für solche Mythen werden. Denken wir zum Beispiel an Ideen, die den Wert eines erotischen Lebens an bestimmten Quantitäten messen, oder den eigenen Selbstwert von zählbaren Zuwendungen abhängig machen oder die eigene Selbstermächtigung mit Promiskuität gleichsetzen. Gleich eine ganze Reihe von Kulturerzeugnissen scheint das vorschlagen zu wollen. 179 Mir geht es selbstverständlich nicht darum, Promiskuität generell zu verurteilen, sondern darum zu zeigen, dass man, wenn man sich entscheidet, einen promisken oder irgendwie anders gearteten Lebensstil zu pflegen, sich immerhin so viel Wert sein sollte, seine eigenen Motivationen zu hinterfragen, also fragen sollte, ob dieser Lebensstil wirklich der ist, mit dem man sich in Richtung seiner eigenen Wünsche bewegt oder ob man hier vielleicht seine Zeit verschwendet, indem man Ideen folgt, die nicht die eigenen sind. Diese Frage sollte man sich aber natürlich bei jedem Lebensstil stellen. Es 179 Nehmen wir ein Buch wie Feuchtgebiete oder eine Serie wie Sex and the City, um nur die populärsten Beispiele zu nennen. Interessant ist, dass in diesen Fällen weibliches Selbstbewusstsein hauptsächlich über unverbindlichen Sex aufgebaut werden soll, was mir wie eine ausgesprochen perfide Form des popkulturell geförderten Selbstbetrugs vorkommt. Feministisch geprägte Autoren können das auch als einen besonders gewitzten Trick der Männer lesen, Frauen über den Weg der Emanzipation möglichst unkompliziert in ihre Betten zu führen. Die Schwierigkeit einer solchen Interpretation liegt meiner Ansicht nach darin, dass man Gefahr läuft zu unterstellen, dass Frauen meist eigentlich nicht mit Fremden ins Bett gehen wollen, Männer dagegen mehrheitlich schon. Roche, Charlotte: Feuchtgebiete. Köln 2008.
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geht also darum zu prüfen, welche der Vorstellungen, die durch den gesellschaftlichen Raum schwirren, man sich als die eigenen Vorstellungen aneignen möchte. Darüber hinaus will ich mit diesen Beispielen herausstellen, dass sich der Bereich menschlichen Lebens, der unser Bedürfnis nach Nähe umfasst, besonders für Verwirrungen und folglich auch besonders für gesellschaftliche Mythen anbietet. Eine Autorin wie Illouz betont, dass sich in diesem scheinbar so privaten Bereich gesellschaftliche Macht und Gewalt so brutal entfalten können, weil die Geschehnisse so partikular erscheinen – es geht doch nur um mein Schicksal oder maximal unser beider Schicksal, oder? Die gesellschaftliche Macht wird so verinnerlicht, dass ich sie als Schicksal akzeptiere. Sie ist dann eine Gewalt, die ich mir aus der Akzeptanz meines vermeintlichen Schicksals heraus selbst zufüge. Da dieser Bereich, wie zuvor schon gesagt, so wichtig und gleichzeitig so schwer zu greifen für uns ist, geschehen in ihm die tiefsten Verletzungen unserer Biographien. Dort, wo es um unser Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Anerkennung geht, sind wir so existenziell verletzbar, so orientierungslos und so verunsichert und deswegen so sehr gefordert, herauszufinden, was unsere Wünsche sind, dass die Worte der anderen für uns heilsam sein können, aber ebenso eine Gefahr – ein Abgrund, in den wir stürzen, wo wir doch auf der Suche nach festem Halt waren.
Konformismus Emerson hat ein eigenes Wort für die Gefahr, die die Worte anderer für uns bedeutet. Er nennt sie Konformismus. In seinem Essay Selbstvertrauen schreibt er: »Die in der Gemeinschaft meistgesuchte Tugend ist Konformismus. Selbstvertrauen ist die Abkehr davon.« 180 In vormodernen Zeiten gab es Befehle, denen man sich nicht widersetzen konnte. Das waren die Gesetze Gottes, die der Natur oder die des Standes, in den man hineingeboren wurde. Diese wurden dann Schicksal genannt. Heute, darauf will Emerson hinaus, benehmen wir uns häufig so, als wäre es Schicksal, was die anderen sagen. In diesem Sinne sei unter anderem die Wissenschaft der Statistik zu
180
Emerson: Self-Reliance, S. 40.
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Ehe als Weltdeutung
einer Schicksalsmacht geworden – als könnten Statistiken uns sagen, wie wir zu leben hätten. 181 Die Worte der anderen sind für uns so mächtig, weil wir Orientierung suchen und weil wir nicht allein sein wollen. Cavell beschreibt ein Gefühl, in dem man sich als Außenseiter vorfindet, als nicht gerechtfertigt in der eigenen Existenz, was man als einen Aufruf zur Konformität versteht, der anzeigt, dass man sich nach einer Annäherung an die anderen sehnt. 182 Das grundsätzliche Problem des Konformismus ist dann, dass man die Ideale seiner Kultur – so kurzlebig und widersprüchlich sie auch sein mögen – nicht länger hinterfragt. Deswegen appelliert Emerson an das Selbstvertrauen, die Kraft seinen eigenen Erfahrungen zu vertrauen und daraus die Welt selbst beurteilen zu können, was wiederum zu einer eigenen Erfahrung von Welt führt. Das spezifisch Emersonsche Moment der Filme, über die Cavell schreibt, ist laut ihm der, dass es um Paare geht, die sich auf einer Reise befinden von Konformität zu Selbstvertrauen, was eine Reise ist von einem Zustand, in dem man nur in der Welt herumspukt, sie als Geist heimsucht, hin zu einem wirklichen Existieren in der Welt, »was als die Erklärung des eigenen cogito ergo sum, ich denke also bin ich, ausgedrückt werden kann«, weil man lernt für sich selbst zu denken, zu urteilen und zu erfahren, anstatt nur die anderen nachzuahmen. 183 Selbstvertrauen ist die Fähigkeit, sich aus den zur Verfügung stehenden Überzeugungen und Worten diejenigen anzueignen, die wirklich meine sind. Nur damit wir das richtig verstehen: Die Abkehr vom Konformismus meint nicht, dass wir unbedingt immer zu anderen Ergebnissen kommen als andere, sondern dass wir selbst zu den Ergebnissen kommen. Unsere Worte und Überzeugungen sind unweigerlich geteilt, aber wir haben dafür Sorge zu tragen, dass wir in dem, was wir teilen, enthalten sind. Falls wir das Gefühl haben, dass wir in etwas, das unsere Gemeinschaft zu teilen scheint, zum Beispiel bestimmte Überzeugungen, nicht enthalten sind, dann müssen wir unsere Zustimmung verweigern, was nicht bedeutet, dass wir uns der Gemeinschaft ganz und gar verweigern. Tatsächlich bedeutet es das Gegenteil: dass wir mündiger Teil der Gemeinschaft werden.
181 182 183
Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 38. Cavell: Cities of Words, S. 52. Cavell: Contesting Tears, S. 220.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
Im Konformismus verstehen wir das, was alle sagen und was wir vielleicht nachahmend auch gesagt haben, als schicksalhafte Notwendigkeiten. Cavell deutet den Konformismus, wie Antje Korsmaier darlegt, explizit als einen Teil der von ihm lebenslang erforschten Skeptizismus-Problematik: »Indem der Mensch dem Konformismus in Gestalt als notwendig wahrgenommener Forderungen der Umwelt und des Schicksals nachgibt, ist sein Leben von Interessenlosigkeit, Langeweile und Verlorenheit, Entfremdung und Distanz gekennzeichnet. Es handelt sich um eben die Distanz, die das skeptische Denken mit sich bringt, indem es die natürlichen Verbindungen der Nähe und Gegenwärtigkeit zur Welt auflöst.« 184
Wenn der Skeptizismus mit einem Gefühl des Ausgeschlossenseins beginnt, dann kann eine Rückkehr zur Welt nur geschehen, wenn ich lerne, meine Erfahrungen und meine Überzeugungen, das was ich sage, was ich tue, meine Reaktionen auf das, was andere sagen und tun, das was ich zulasse und was ich verweigere zu »meinem« zu machen. Das bedarf der Reflexion, und Cavell ist überzeugt davon, dass wir es uns nicht leisten können, ein unreflektiertes, ein unhinterfragtes Leben zu führen. Deswegen können wir hier auch auf die freundschaftlichen Worte der anderen nicht verzichten. Wir stehen vor der Schwierigkeit, dass wir irgendwie urteilen müssen, denn die Alternative wäre Nihilismus. Shakespeare hat mit Leontes im Wintermärchen das Bild eines Mannes geliefert, der überhaupt nicht mehr vernünftig urteilen kann, er hat, um es mit Cavells Worten zu sagen, die Fähigkeit verloren zu sagen, was zählt, er kann nicht mehr für sich selbst bestimmen, als was die Dinge für ihn zählen. Er konnte nicht mehr sagen, was als ein Indiz dafür zählt, dass seine Kinder die seinen sind oder dass seine Frau ihn liebt. In diesem Zustand haben ihn die Worte der anderen nicht mehr erreicht und wenn doch, dann nur als Bestätigung seiner wahnhaften Ideen. Um einen Nihilismus, der eine vollkommene Entfernung von der Welt wäre, zu entgehen, wenden wir uns hilfesuchend den Worten der anderen zu. Diese Suche nach sicheren Urteilen setzt uns wiederum der Gefahr des Konformismus aus, der perfide und schleichend zu einer weiteren Distanzierung von uns selbst, von unseren Erfahrungen und damit von der Welt beiträgt. In einer Situation, in welcher der Skeptizismus zu einer Bedrohung für uns geworden ist und wir 184
Korsmeier, Antje: Sprache erfahren, S. 67 f.
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Ehe als Weltdeutung
die Hand der Verzweiflung auf unserer Schulter spüren, benötigen wir die Worte der anderen und müssen uns doch vor ihnen hüten.
Die Ehe als eine bedeutungskonstitutive Gemeinschaft Die Lehre, die Cavell aus dem Werke Emersons zieht, ist neben dem Appell an das Selbstvertrauen in die eigene Erfahrung auch der Ratschlag, darauf zu achten, mit wem man sich umgibt, wen man zu den Weggefährten zählt, wessen Worte es sind, die gelten, von wem man sich belehren lässt. »Wem schuldet man Erklärungen?« 185 lautet die Frage, die sich die Protagonisten der Wiederverheiratungskomödie stellen und die auch wir uns stellen müssen. »Als Tracy [Dexter in Die Nacht vor der Hochzeit] gesteht, sie wisse nicht, was zwischen ihr und Mike vorgefallen sei, fragt Dexter sie: Warum [sagst du das] mir, Red? Was geht mich das denn noch an? – nicht als rhetorische Frage, sondern um ihr die Augen für die Tatsache zu öffnen, dass sie ihn immer noch als Gefährten betrachtet.« 186
Im Skeptizismus geht dem menschlichen Geist die Bedeutung der Dinge verloren. Eine Rückkehr zur Welt ist damit eine Rückkehr der Bedeutsamkeit bzw. eine Rückkehr der Fähigkeit den Dingen Bedeutsamkeit zuzusprechen, zu sagen wie sie zählen, als was sie zählen. Bedeutsamkeit ist, wie Melanie Sehgal zusammenfasst, die Fähigkeit, das »Meer von Tatsachen in eine hierarchisierende Perspektive« zu bringen. 187 Für die sozialen, miteinander sprechenden Wesen, die wir sind, ist Bedeutsamkeit etwas, das wir langfristig nur schwerlich allein erreichen können. Wir sind in unseren Urteilen auf die Versicherung anderer angewiesen. Wir sehnen uns nach der Anerkennung anderer, wir sind abhängig davon, was wir nicht als etwas Schlechtes begreifen sollten, sondern als einfache Tatsache. Eine Ehe – im wortwörtlichen Sinne und als Allegorie für Freundschaft – ist bei Cavell eine Gemeinschaft der Weltdeutung. Zwei Menschen schließen sich zusammen, um der Welt Bedeutung zu geben. Der Idee der Ehe als ein Raum der Bedeutungsbildung entsprechend definiert Cavell das Gespräch der Paare in den WiederverheiCavell: Cities of Words, S. 72. Ebd. 187 Sehgal, Melanie: »A Sense of Importance«, in: Thiele, Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hrsg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2009, S. 322. 185 186
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
ratungskomödien auch als ein Gespräch darüber, was wichtig ist. Während George in Die Nacht vor der Hochzeit wie gesagt versucht, Wichtigkeit an etwas Äußerem festzumachen und sich damit als geeigneter Partner für Tracy disqualifiziert, zeigt Dexter ganz direkt, dass er selbst bestimmen will, was wichtig ist. Als er Tracy an ihre betrunkene Eskapade erinnert, um sie auf ihre eigenen Schwächen hinzuweisen, sagt sie, er solle sie mit dieser unwichtigen Geschichte in Ruhe lassen. Er dagegen beharrt darauf, dass diese Geschichte sehr wichtig sei. 188 Ziel eines Gespräches über das, was wichtig ist, ist nicht – oder kann nicht sein – in jedem einzelnen Punkt übereinzustimmen, aber Übereinstimmung stets anzustreben, und zwar durch Erklärung, Rechtfertigung und dem Versuch zu verstehen, was auch impliziert, dass gelegentliche Zusammenbrüche der Übereinstimmung ausgehalten und gemeinsam überwunden werden. In Dexters Anspruch, selbst zu bestimmen, was wichtig ist, erkennt Cavell den Anspruch eines Philosophen. 189 Für Wittgenstein, fährt Cavell fort, ist »Wichtigkeit« ein zentraler Begriff, um seine eigene Philosophie zu beschreiben. In den Untersuchungen lässt Wittgenstein einmal einen imaginären Gesprächspartner fragen: »Woher nimmt die Betrachtung ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d. h. alles Große und Wichtige zu zerstören scheint?« 190 Wittgensteins Antwort, so Cavell, lautet, »dass die Aufgabe der Philosophie genau darin besteht, unsere gegebenen Interessen zu hinterfragen (worauf Philosophen von Platon bis Montaigne und Rousseau und Thoreau ausdrücklich bestanden haben); was unser Leben verfälscht, ist unser verzerrtes Bewusstsein von dem, was wichtig ist – nennen wir es unsere Werte. Dass diese Infragestellung uns anfänglich entblößt oder niedergeschmettert zurücklässt, ist demnach unvermeidbar.« 191
Philosophie ist für Cavell demnach in der Nachfolge Wittgensteins eine Kritik von Wichtigkeit, 192 wobei wir beachten müssen, dass diese Definition vor dem Hintergrund der Möglichkeit des Verlustes jeglicher Wichtigkeit und Bedeutung geschieht, die Cavell in unseren Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 130. Ebd., S. 132. 190 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 83 (§ 118). 191 Cavell: Cities of Words, S. 70. 192 Dazu: Laugier, Sandra: »Importance of Importance. Cavell, Film und die Bedeutung von Bedeutsamkeit«, in: Thiele, Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hrsg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2009, S. 299–316. 188 189
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Ehe als Weltdeutung
Versuchen, den Dingen Bedeutung zuzusprechen und eigene Überzeugungen zu gewinnen, als die extremste Gefahr für uns ausmacht. Zusammen, in einer Ehe, zu bestimmen, was wichtig ist, heißt, den Erscheinungen und folglich dem eigenen Leben einen Sinn abzuringen. Dieser Vorgang darf nicht unterschätzt werden, denn indem wir sagen, welche Bedeutung die Dinge haben, sagen wir, was für uns wahr ist, »denn Wahrheit und Bedeutsamkeit sind doch ein und dasselbe.« 193 Ohne den Prozess der Bedeutungs- oder Wichtigkeitsbestimmung haben wir keine Wahrheiten, sondern eben nur ein unbestimmtes Meer aus Tatsachen. Der Prozess der Bedeutungsbestimmung ist, um es noch einmal zu sagen, nichts, was wir wirklich allein erreichen können. Wir brauchen andere, die unsere Urteile anerkennen und bestätigen, die anerkennen, was wir tun und sagen, wer wir sind. Im Zusammenhang mit den Wiederverheiratungskomödien konzipiert Cavell diese wechselseitige Bestätigung vor allem im Kontext einer Ehe, deren Existenz und deren Güte jeden Tag erneut von den Eheleuten wechselseitig bestätigt werden muss, um als eine wirkliche Ehe fortbestehen zu können. Diese kontinuierliche Neubestätigung markiert, wie Cavell weiter schreibt, eine »Isolation des Paares vom Rest der Gesellschaft […]; das Paar schafft sich gleichsam anderswo eine Welt.« 194 Bedeutet die Welt, die sich das Paar schafft, zwar im gewissen Sinne eine Isolation des Paares, weil eine Bedeutsamkeit geschaffen wird, die nur für diese zwei Menschen gilt, so stellt Cavell sie sich doch nicht als eine Abkehr von der Welt dar, sondern geradezu als eine Welt in der Welt, als einen von zwei Menschen bewohnten Ort, von dem aus diese Welt gesehen und begriffen werden kann. Die wiederholte gegenseitige Versicherung der Ehepartner geht damit über die Bestätigung der Ehe hinaus, denn es ist eine Bestätigung der Teilnehmer dieser Ehe, also auch eine Bestätigung ihrer Weise, alles um sie herum zu sehen und zu beurteilen. Die Ehe, verstanden als eine Chiffre für menschliche Gemeinschaft im Allgemeinen, bildet den Prozess des Suchens, Findens und des Vertrauens auf unsere Übereinstimmung ab. Eine tatsächliche Ehe – oder die Ehe als ein Bild für enge Freundschaft – wird bei Cavell aber als eine Gemeinschaft im wortwörtlich »engeren« Sinne verstanden, nämlich so, dass ich, wenn ich eine Ehe oder eine Freundschaft mit jemandem eingehe, es zulasse, 193 194
Ebd., S. 300. Cavell: Die Nacht vor der Hochzeit oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit, S. 123.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
dass diese Person meine Welt mit-konstituiert, weit mehr als es der Rest der Kultur, in der ich lebe, darf – dass ich also zulasse, dass diese Person gewissermaßen Teil von mir wird, weil sie meine Perspektive auf alles, was ich erfahre, entscheidend mitprägt. Das einmalige Ablegen eines Gelübdes ist noch kein Beweis dafür, dass eine wirkliche Ehe vorliegt. Es kann nicht einmal von außen gesehen werden, dass es sich bei einer Gemeinschaft um eine wirkliche Ehe handelt, wie Cavell wiederholt betont. Doch wenn ich eine »wirkliche« Ehe eingehe, dann habe ich einen anderen, der fortwährend bereit ist, meine Gemeinschaft zu ihm zu bestätigen, was auch heißt, mich fortwährend zu bestätigen. Ich habe dann jemanden, der mir sagt, dass mein Lebensentwurf gut ist, wie er ist, dass das, was ich jeden Tag tue, gut ist, dass es einen Wert hat und ich dementsprechend wertvoll bin. Die Ehe als einen Ort zu beschreiben, von dem man eine gemeinsame Perspektive auf die Welt, dem unbestimmten Meer der Tatsachen, gewinnen kann, ist durchaus problematisch, weil es leicht so verstanden werden könnte, als wäre dieser Ort für immer unbeweglich, die eingenommene Perspektive endgültig. Aber in einer Ehe, so wie Cavell sie definiert, ist genau das Gegenteil der Fall. Sie soll Bewegung und Veränderung ermöglichen, gerade weil mir die Sicherheit gegeben wird, dass jemand anderes meine Bewegungen und Veränderungen mitträgt, sie zusammen mit mir vollführt. Dieser andere sollte stets herausfinden wollen, wann mir Veränderung gut stünde und wie Veränderung stattfinden könnte. Er sollte meine Veränderungen als meinen Weg zu mir selbst begreifen und demgemäß meine eingeschlagenen Wege hinterfragen können – zu meinem Besten. Der andere sollte mir durch sein Anderssein helfen, meine Narzissmen zu überwinden, damit ich sehen kann, was es zu sehen gibt. Und all das, was ich hier für den anderen beschreibe, sollte ich auch für ihn sein. Ein solches anhaltendes, immer wieder aufgenommenes Gespräch zu führen, bedeutet Interesse an jemand anderem zu haben. Eva Illouz betont, dass eine der grundlegenden Änderungen in der Moderne darin besteht, dass Selbstwert in sozialen Beziehungen performativ ermittelt wird. 195 Man kann wie gesagt die eigene Wertschätzung nicht länger an objektiven Maßstäben wie zum Beispiel religiösen Regeln messen, sondern muss sie aus der Interaktion mit anderen ziehen. Durch die Pluralität der Meinungen wird es keinen 195
Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 214.
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Ehe als Weltdeutung
Lebensentwurf geben, der auf allgemeine Zustimmung treffen wird. Hinzu kommt, dass nicht alles, was ich tue, was ich bin, von allen gesehen werden kann. Obwohl ich die Zustimmung anderer anstrebe, darf – die gar nicht mögliche – allgemeine Bejahung nicht zu meinem Entscheidungskriterium werden. Die Folge wäre ein unglückliches Leben im Zeichen des Konformismus. Bejahung kann ich innerhalb von dem erreichen, was Cavell eine Ehe nennt. Hier, in diesem Raum, in dem ich allgemein bejaht werde, kann ich um die Bejahung jeder meiner einzelnen Taten und Urteile kämpfen – mit Rechtfertigung und Erklärung. Wenn man bedenkt, dass Theologen Gott als eine Instanz konzipieren, die mich als Mensch von vornherein bedingungslos bejaht, dann kann man sehen, wie hier der andere, um es mit Cavells Worten zu sagen, jetzt das »Gewicht Gottes« 196 tragen muss, denn er wird zu demjenigen, der mich von vornherein bedingungslos bejaht. Anders gesagt: Ich muss mich, abgesehen von juristischen Zusammenhängen, nicht vor allen rechtfertigen, sondern vor denen, die mir am nächsten stehen. Und ich tue gut daran, solche »Nächsten« zu haben, wenn ich nicht einsam und ohne Gemeinschaft existieren will. Die Ehe ist bei Cavell ein Ort, von dem aus wir gemeinsam bestimmen, was wichtig ist. Wichtigkeit, Bedeutung kann aus nichts außer unserem Zusammensein entstehen. Eine Ehe einzugehen ist also eine endgültige Hingabe an ein Existieren in Gemeinschaft. Bei den tragischen Ehen Shakespeares finden wir dagegen ein Bild für eine »Privatisierung der Welt, eine Zurückweisung gesicherter Bedeutung, eine Zurückweisung der Fähigkeit, gemeinsam Bedeutung herzustellen, der Fähigkeit individueller menschlicher Leidenschaft und Begegnung, kosmische Insignien hervorzubringen.« 197
So verliert Leontes im Wintermärchen vollkommen die Fähigkeit, Konzepte auf die Welt anzuwenden, weil er den Grund für mögliche Konzepte woanders sucht als in einer von ihm mitgetragenen Gemeinschaft. 198 Er begibt sich auf den Weg der Heilung, als er wieder beginnt, auf seine eigenen Erfahrungen zu achten, ihnen zu trauen, also auch den Gemeinschaften zu trauen, in denen er sich befindet,
196 197 198
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 745. Cavell: Disowning Knowledge, S. 19. Übersetzung D. G. Cavell: Conditions Handsome and Unhandsome, S. 119.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
seiner Ehe mit Hermione oder seiner Freundschaft mit Polixenes. Achtsamkeit und Vertrauen in die eigenen Erfahrungen beinhaltet auch Achtsamkeit für das, was betrauert werden muss – zum Beispiel unsere Trennungen. Eine Weigerung oder eine Unfähigkeit zu trauern ist Auslöser für die Narzissmen und die Machtansprüche, die Gemeinschaft verhindern. Als ich es gerade eben eine problematische Angelegenheit nannte, die Ehe als einen Ort der Bedeutungsschaffung zu beschreiben, da bezog ich mich darauf, dass übersehen werden könnte, dass eine wirkliche Ehe, so wie sie Cavell definiert, nicht für immer feststehende Bedeutungen kreiert, sondern auch Änderungen von Bedeutungsinhalten ermöglicht oder die Partner sogar zu solchen Veränderungen geradezu befähigt. Daran anschließend könnte ein weiteres Missverständnis sein, dass dieses Konzept der Ehe so interpretiert würde, als würden die Partner in jedem einzelnen Fall die gleichen Konzepte, die gleichen Bedeutungszuschreibungen teilen. Dass dem nicht so ist, darauf will Cavell mit seiner Problematisierung von Getrenntheit und Andersheit ja gerade hinaus. Jede einzelne Ehe bildet die größeren Gemeinschaften, in denen wir uns befinden, konzentriert und verschärft ab. Es existiert eine grundsätzliche Übereinstimmung, aus der heraus Bedeutungen geschaffen werden, die aber gelegentlich zusammenbrechen kann. Damit die Gemeinschaft fortbestehen kann, müssen Zusammenbrüche der Übereinstimmung entweder überwunden werden, indem wir uns kommunikativ wieder annähern, und Missverständnisse klären oder ausgehalten werden, nämlich da, wo diese Zusammenbrüche unvereinbare Andersheit markieren – Andersheit, die zwischen uns trotz unserer generellen Übereinstimmung existiert. Ich kann mich aus Gemeinschaften zurückziehen, ohne mich generell aus menschlicher Gemeinschaft zurückzuziehen. Ich könnte mich zum Beispiel aus einer bestimmten Partei zurückziehen, weil ich nicht länger glaube, mit den anderen Mitgliedern gemeinsame Ansichten entwickeln zu können. Das würde nicht bedeuten, dass ich mein politisches Selbst generell aufgebe. Genauso kann ich eine religiöse Konfession verlassen, ohne mein spirituelles Interesse hinter mir zu lassen. Oder ich kann eine Freundschaft beenden, ohne damit »Freundschaft« im Allgemeinen aufzugeben. Bei jedem meiner Rückzüge muss ich aber selbst überprüfen, ob sie bedeuten, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass unsere Andersheit hier so umfassend ist, dass hier gar keine wirkliche Gemeinschaft mehr besteht, 328 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Ehe als Weltdeutung
oder ob mein Rückzug nicht ein genereller skeptischer Rückzug aus der Gemeinschaft und damit der Welt ist. Die Ehe ist nun eine konzentrierte und verschärfte Form der Gemeinschaft, weil hier innerhalb meiner notwendigerweise pluralistischen Kultur Bedeutungen geschaffen werden, die mich als Individuum definieren, mitunter auch gegen die konformistischen Bedeutungszusprüche meiner Kultur, bzw. gegen das, was ich für konform halte oder was mir als konform präsentiert wird. Doch obwohl eine Ehe ein Schutzwall gegen den Bedeutungsverlust, den Skeptizismus ist, kommt es selbstverständlich auch hier aufgrund der Tatsache, dass es sich um zwei voneinander getrennte Menschen handelt, zu Zusammenbrüchen der Übereinstimmung, Erfahrungen der Fremdheit. Diese Zusammenbrüche können eine viel fatalere Wirkung als bei anderen Gemeinschaften entfalten, weil es sich bei der Ehe quasi um die »erste Gemeinschaft« handelt, jene, die ich zu meiner wichtigsten erkoren habe. 199 Deswegen legt Cavell auch solches Augenmerk auf die Natürlichkeit solcher Zusammenbrüche, weil sie eben nur, wenn sie als von uns als natürlich und unvermeidlich wahrgenommen werden, als solche auch überwunden werden können, ohne dass das Vertrauen in unsere Übereinstimmung, unsere Fähigkeit uns gegenseitig verständlich zu machen, gemeinsam eine Welt zu schaffen, generell geschwächt wird.
Die Notwendigkeit des Ausschließens Die Rede vom Schaffen gemeinsamer Bedeutung, der Möglichkeit gemeinsam eine Welt zu schaffen, impliziert trotz der Betonung von Gemeinsamkeit eine Geste des Ausschlusses. In den Wiederverheiratungskomödien findet diese Geste ihren deutlichsten Ausdruck in Die Nacht vor der Hochzeit, nämlich in jener Szene, in der Tracy George auffordert, zu gehen. Bei allem Lachhaften und Unsympathischen, das George zu eigen ist, handelt es sich hierbei doch um einen ausgesprochen bitteren Moment in diesem ansonsten so leichten und fröhlichen Film. Es ist legitim anzunehmen, dass diese bittere Note Eingang in Cavells Philosophie gefunden hat, die ja entschieden auf 199 Es wäre vielversprechend, Zusammenbrüche der Übereinstimmung innerhalb der Familie, in der man aufgewachsen ist, zu untersuchen, der biographischen »ersten Gemeinschaft.«
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diesen Filmen basiert. Indem Tracy George auffordert zu gehen, teilt sie ihm mit, dass sie ihn nicht heiraten wird und dass er fortan keinen Platz in ihrem Leben haben wird. Es ist auch eine Entscheidung für ihren ehemaligen und jetzt zukünftigen Mann Dexter. Wer will, kann in dieser Szene die Darstellung einer Oberschicht sehen, die sich eines ungeliebten Emporkömmlings entledigt, dem es, wie sein albernes Verhalten bewiesen hat, sowieso nie gelungen wäre, sich einzufügen. Für Cavell, der diese Interpretation nicht direkt verwirft, sie aber auch nicht für die plausibelste hält, bedeutet sie aber, dass Tracy klar wird, dass George nicht der Mann ist, mit dem sie Glück finden kann. Er ist eben nicht derjenige, der mit ihr das »passende und glückliche Gespräch« einer wirklichen Ehe führen kann. Tracy sagt George, dass er keinen oder zumindest keinen besonderen Platz in ihrem Leben haben wird, dass das, was er für bedeutsam und wichtig hält, nicht das ist, was sie für bedeutsam und wichtig hält und dass sie ihm auch nicht länger die Autorität zugesteht, sie das Gegenteil zu lehren. Für George ist in dieser Gemeinschaft kein Platz. Seine Gemeinschaft mit Tracy existiert nicht mehr. Wenn wir zwangsläufig entscheiden müssen, was für uns Bedeutung hat, dann kommen wir auch nicht darum herum, manches als unwichtig und anderes als falsch zu bezeichnen, woraus folgt, dass wir etwas, das jemand anderes als wichtig bezeichnet, als unwichtig oder falsch definieren müssen. Im Falle Georges heißt das, dass Tracy sein Verständnis dieser Ehe, sein Verständnis von ihr verwirft. Sie lehnt seine hohe Gewichtung auf die Außenwirkung, auf das, was die anderen sagen, ab. Natürlich müssen Unterschiede ausgehalten werden, aber es ist eine Frage der Abwägung: Welche Gemeinschaft darf an welchen Andersheiten zerbrechen? Tracy erkennt, dass in einer Ehe mit George weder seine noch ihre Begehren erfüllt würden. Da anhaltendes Glück die Folge einer Gemeinschaft von ihr und George wäre, ist hier der Moment gekommen, an dem eine Grenze gezogen werden und die Gemeinschaft geopfert werden muss. Dabei muss beachtet werden, dass George nicht generell aus Gemeinschaft ausgeschlossen wird. So wie der Film von ihm erzählt, bleibt er ein angesehener und bewunderter Mann. Er wird nicht einmal generell aus der Gemeinschaft mit Tracy ausgeschlossen, denn sie beide bleiben Teile derselben Gesellschaft, derselben Kultur, Bürger derselben Stadt. Ausgeschlossen wird er nur von dieser exklusiven Gemeinschaft – dieser Ehe, Freundschaft, der ersten bedeutungskonstitutiven Beziehung. 330 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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Da sich das Ehepaar, wie Cavell schreibt, gemeinsam eine Welt schafft, muss das Ende einer Ehe auch das Zusammenbrechen einer Welt bedeuten. Tracys Abwendung von George ist sicher nicht beispielhaft, denn sie ist eher ein Eingeständnis, dass sie und George überhaupt keine gemeinsame Welt geschaffen haben, sondern dass sie immer noch eine Welt mit Dexter teilt, dass ihre Ehe mit ihm nie wirklich aufgehört hat zu existieren, dass George bei ihr also nie den Status einer bedeutungskonstitutiven Person erlangt hat, sondern dass es weiterhin Dexter ist, auf dessen Meinung sie zählt, der von ihr Rechtfertigung erwarten kann, der sie belehren darf und den sie lehren will. 200 Was aber, wenn es keine Alternative wie Dexter gibt? Was, wie es weit häufiger der Fall ist, wenn man eine Beziehung beendet, die mal eine echte Ehe war oder die man zumindest einmal dafür gehalten hat? Wenn also das, was dem Leben bisher hauptsächlich Bedeutung gegeben hat, zerstört werden soll? Wenn Bedeutsamkeit durch Gemeinschaft entsteht und ohne Gemeinschaft Bedeutungslosigkeit droht, wie kann dann allein die Entscheidung getroffen werden, dass diese Gemeinschaft nicht fortbestehen sollte?
Das Ende einer Ehe Auch wenn man richtigerweise einwendet, dass man auch am Ende einer Ehe nicht jede Form von Gemeinschaft verliert, Freunde, Arbeit, Familie bestehen weiterhin und man ebenso richtig darauf hinweist, dass eine Scheidung normalerweise ein oft überfälliges Eingeständnis markiert, dass diese Ehe, diese Gemeinschaft, diese Welt schon lange im Sterben liegt, so sollte aus dem bisher Gesagten deutlich hervorgegangen sein, dass für Cavell die Entscheidung eine Ehe zu beenden, tatsächlich die Gefahr des umfassenden Bedeutungsverlusts, der Isolation, der Fremdheit zur Welt, des Skeptizismus in sich trägt. Das hier verhandelte Thema der Wichtigkeit, Bedeutung und Wahrheit gibt eine Ahnung, warum Trennungen die existentiellen Einschnitte in unseren Biographien sind, als die wir sie empfinden. Dennoch: Da Cavell, soviel darf man aus seiner Beschreibung einer »wirklichen Ehe« schließen, eine Ehe für »beendenswert« hält, wenn sie nicht länger eine Aussicht auf ein glückliches und passendes Ge-
200
Cavell: Cities of Words, S. 72.
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spräch zum Wohle der Ehepartner stellt, muss man feststellen, dass der Fortbestand einer in diesem Sinne dahindarbenden und unglücklichen Ehe zu einem noch größeren Ausmaß von Isolation und Fremdheit bei allen Betroffenen führen würde, weil man die Verwirklichung von Glück von vornherein verhinderte. So sind Isolation, Fremdheit und Unglück wahrscheinlich längst Teil dieser beiden Leben geworden. In Contesting Tears definiert Cavell anhand von vier Filmen 201 ein Genre namens The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman, das sozusagen den melodramatischen Gegenentwurf zur Wiederverheiratungskomödie darstellt, die Negation der dort erfüllten Möglichkeiten einer Ehe. Während die Protagonisten der Wiederverheiratungskomödie neu geschaffen werden, weil sie wieder zu ihrem verlorenen Partner zurückfinden, müssen die Frauen in den von Cavell besprochenen Film-Melodramen feststellen, dass mit den Männern, die sie geheiratet haben, ein passendes und glückliches Gespräch nicht möglich ist, ihr Begehren und ihre Bedürfnisse in dieser Gemeinschaft nicht erfüllt werden können. Während die Frauen in der Wiederverheiratungskomödie Anerkennung finden, wird ihnen diese in den Melodramen von den Männern verwehrt. Insofern schließt diese zweite Gruppe von Filmen auch an die Tragödien Shakespeares an, wo es ja ebenfalls um Frauen ging, die von ihren Männern nicht anerkannt wurden. Allerdings gibt es einen Unterschied: Im Gegensatz zu den Stücken sterben die Frauen im Anschluss an die verwehrte Anerkennung nicht, sondern müssen sich selbst von ihren Männern trennen. Die Neuschaffung ihrer Person besteht gerade im selbstbewussten und selbstermächtigten Auflösen der Gemeinschaft mit den Männern, die für sie kein Glück bedeuten. 202 An Cavells Arbeiten zu den Melodramen interessiert hier allein, wie er diesen Moment der Trennung beschreibt. Eine Scheidung folgt auf die Erkenntnis, dass zusammen mit diesem anderen kein Glück, keine Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und keine Selbstveränderung hin zum Besseren zu erreichen ist. Es ist ein Eingeständnis, dass man hier nicht verstanden wird und dass man deswegen unerkannt bleibt. Somit bedarf die freiwillige Ent201 Das Haus der Lady Almquist (Gaslight, 1944), Brief einer Unbekannten (Letter from an Unknown Woman, 1948), Reise aus der Vergangenheit (Now, Voyager, 1942), Stella Dallas (Stella Dallas, 1937). 202 Bronfen: Stanley Cavell, S. 231 ff.
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scheidung für eine Trennung die volle Anerkennung der eigenen Isolation, der Getrenntheit vom anderen. Die Anerkennung der eigenen getrennten Existenz muss wie jede Anerkennung öffentlich aufgeführt, ausgesprochen werden. Descartes’ berühmte Feststellung, »dass der Satz Ich bin, ich existiere, sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse notwendigerweise wahr ist«, 203 wird von Cavell in Anschluss an Emerson weniger als ein Argument denn als eine »Aufführung« verstanden. 204 Aus Emersons Lesart von Descartes folgt, dass »ich ein Wesen bin, das um zu existieren, sagen muss, dass ich existiere, bzw. meine Existenz anerkennen muss – ich muss sie behaupten, einsetzen, aufführen.« 205 Die Heldinnen der Film-Melodramen, aber das gilt auch für uns, müssen wenn die Entscheidung für eine Trennung fällt, ihr eigenes »Ich bin, ich existiere« aussprechen. Sie behaupten damit ihre getrennte Existenz jenseits vom anderen. Das ist auch eine Anerkennung der Tatsache, dass die anderen, die Welt, jenseits von ihnen existieren. Die gleichzeitige Anerkennung der eigenen Existenz und der eigenen Isolation erfolgt in den Filmen in einer Art hysterischen Ausbruchs. Als Reaktion auf die Verweigerung der Anerkennung durch ihre Männer geben die Frauen im Augenblick ihrer Hysterie ein Bild für die völlige Einheit ihres Körpers und ihres Geistes ab. Mit ihrer »vollkommenen Verkörperung des Geistes« erwarten sie aber nun gerade nicht die Anerkennung, die ihnen zuvor verwehrt wurde. 206 Zwar zeigen sie, was zu sehen gewesen wäre, wenn Anerkennung stattgefunden hätte, doch bewegen sie sich mit diesem Akt auch jenseits von Anerkennung, denn sie geben ihren Wunsch auf, hier Anerkennung zu finden. 207 Cavell verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf das Schauspiel Greta Garbos in Brief einer Unbekannten, die in ihrem hysterischen Ausbruch geradezu durch den Mann hindurchzuschauen scheint, als wäre er nicht mehr da, oder seine Präsenz nicht länger wichtig. 208 Auch wenn in dieser Szene von den Frauen auf Anerkennung verzichtet wird, findet trotzdem Anerkennung statt, allerdings auf der Seite der Frauen: Sie erkennen
203 204 205 206 207 208
Descartes: Meditationen, S. 79. Hammer: Stanley Cavell: Skepticism, Subjectivity and the Ordinary, S. 115. Cavell: In Quest of the Ordinary, S. 109. Hammer: Stanley Cavell, S. 116 f. Ebd. Cavell: Contesting Tears, S. 106.
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an, hier nicht verstanden zu werden, hier allein zu sein – aber immerhin: zu sein. Und sie erkennen an, dass Anerkennung Grenzen hat und dass wir für diese Grenzen selbst verantwortlich sind. 209 Dass sie nicht anerkannt worden sind, liegt nicht an einer allgemeinen Unmöglichkeit, es war nur diesen Männern nicht möglich. Aber wie kann eine Trennung, eine Anerkennung des Alleinseins, vollzogen werden? Ein Vertrauen in die eigene Erfahrung, ein Hinsehen, ein Denken als Wahrnehmen und Annehmen sagt mir, ob ich hier am falschen Platz, ob ich hier allein bin. Adäquat bewältigt werden kann diese Erkenntnis nur durch die Trauer, der einzigen adäquaten Reaktion auf unsere Endlichkeit. In Bezug auf die Trennungsszenen in den Melodramen schreibt Cavell: »Können wir uns vorstellen, dass wir es in dieser Szene mit einem von Emerson und Thoreau entlehnten Bild dessen zu tun haben, was Nietzsche den Schmerz der Individuation nennen wird; jene Leidenschaft, die Thoreau dazu veranlassen wird, sein Walden zu errichten, und die in seinem skandalösen Wortspiel mit dem Begriff des mo(u)rning zum Ausdruck gebracht wird, der Umgestaltung von Trauer (mourning) als Kummer in Morgen (morning) als Morgenröte und Ekstase?« 210
Somit bezeichnet Trauer bei Cavell wie gehabt nicht nur eine Ende, sondern auch einen neuen Morgen, der erst durch das Betrauern des Verlorenen möglich wird. Trauer findet statt in Anerkennung der grundsätzlich gegebenen Möglichkeit, dass die eigenen Begehren erhört werden können, nur eben nicht hier, nicht von diesen Menschen. Dass man hier nicht gesehen wurde, heißt nicht, dass man nie wieder gesehen wird. Trauer über die erfahrene Einsamkeit eröffnet die Möglichkeit, in Zukunft nicht länger einsam zu sein und gesehen zu werden. Trauer eröffnet mir schlichtweg die Möglichkeit, geliebt zu werden. »Eine freudige Leidenschaft für das eigene Leben beinhaltet«, schreibt Cavell, »die Fähigkeit zu trauern, die Akzeptanz von Vergänglichkeit, der Welt als jenseits von mir.« 211 Dennoch darf nicht geleugnet werden, dass die Behauptung der eigenen Existenz allein stattfindet, oder gerade durch die Wahl des Alleinseins, und nicht wie bei den Wiederverheiratungskomödien in Gemeinschaft. Die eigene Existenz ist zwar wie bei Descartes cogito Hammer: Stanley Cavell, S. 117. Cavell: Contesting Tears, S. 212. Übersetzung Elisabeth Bronfen. Bronfen: Stanley Cavell, S. 240. 211 Ebd. Übersetzung D. G. 209 210
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bestätigt, doch das Verhältnis zu allem anderen, was mir erscheint, ist, ebenfalls genau wie bei Descartes, äußerst prekär. Andererseits wehren sich die Frauen in den Melodramen dagegen, sich ein Bild anzueignen, das jemand anders in sie hineinprojiziert, während die Neugeburt in der Wiederverheiratungskomödie auch ein, wie Bronfen es nennt, »Akt einer Angleichung« an jemand anderen ist. 212 Dennoch würde ich Bronfen nicht darin zustimmen, dass damit das Happy End der Wiederverheiratungskomödie in Frage gestellt würde, 213 sondern vielmehr dafür plädieren, dass die Protagonisten der Komödien im Gegensatz zu den Frauen der Melodramen jemanden gefunden haben, bei dem sich die Angleichung lohnt.
Glück nur in Gemeinschaft? Muss man Cavell so verstehen, dass höchstes Glück nur in der Gemeinsamkeit gefunden werden kann? Vielleicht sogar nur in einer Partnerschaft? Das Problem des Skeptizismus war ja von Anfang an eines des Alleinseins. Das heißt: Was von Anfang an gesucht wurde, war das Gemeinsame. Auch Descartes wollte nicht allein sein. Was wir nur (wieder-)erkennen mussten, ist, dass das Gemeinsam-Sein anders ist, als wir es vielleicht einmal phantasiert haben. Liest man dann Ehe als eine Chiffre für unsere Verbindung zur Welt, dann muss man natürlich sagen, dass nur in der Gemeinsamkeit Glück liegen kann. Die Vorstellung eines für immer von der Welt Ausgeschlossenseins, eines für immer Alleinseins, ist die schrecklichste Vision des Skeptizismus. Der Kierkegaardianer Ronald L. Hall schreibt in Anklang an Cavell und Kierkegaard: »Wenn Alleinsein die Hölle ist, oder Verzweiflung, oder die Krankheit zum Tode, dann muss Zusammensein, wenn auch nicht das Paradies, so zumindest das wesentliche Element der Erholung […] von dieser Krankheit oder dieses Leidens sein. Die menschliche Bedingung ist, was sie ist. Die conditio humana, die Bedingung des Menschlichen, ist ein Miteinander-Sprechen. Sie trägt schon in sich die Vorstellung, dass Zusammensein notwendig ist, um menschliches Wohlergehen und somit menschliches Glück zu erreichen. Und das ist so, da bin ich mir sicher, auch wenn uns die gegenwärtige
212 213
Bronfen: Stanley Cavell, S. 233. Ebd.
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Pop-Psychologie weismachen will, dass wir erst Glück in uns selbst finden müssen, bevor wir es in anderen finden können.« 214
Das bedeutet natürlich nicht, schreibt Hall weiter, dass das Konzept des individuellen Glücks Unsinn wäre, sondern dass individuelles Glück nicht allein gefunden werden kann. Glück ist etwas, das mir geschieht, inmitten von Menschen. Mein individuelles Glück ist an die Gegenwärtigkeit anderer und meiner Gegenwärtigkeit gebunden. 215 Überhaupt gibt das ganze philosophische Gebäude Cavells, in dem die Welt durch eine geteilte Sprache konzipiert wird, in dem wir gemeinsam Bedeutung schaffen müssen, keinen Sinn mehr – wobei die meisten philosophischen Gebäude keinen Sinn mehr gäben –, wenn Gemeinschaft nicht als gemeinsame Basis und das gemeinsame Ziel aller Menschen begriffen wird. Die sehr wenigen Ausnahmen, unter den Menschen und den Philosophien, sind wohl pathologisch bedingt. Schwieriger wird die Beantwortung dieser Frage, wenn man Ehe, wie es Cavell auch tut, wortwörtlich versteht. Die Frage bezieht sich dann darauf, ob Glück nur in einer Partnerschaft, einer Ehe, gefunden werden kann. Deswegen bitte ich darum, die Antwort, die ich hier gebe, als eine »experimentelle« Antwort zu verstehen, eine, bei der ich in der Hälfte aller Momente versucht bin, sie zu verwerfen. Cavell selbst scheint mir zu vorsichtig, um hier eindeutig Stellung zu beziehen. Schließlich tritt man einer ganzen Menge von Leuten auf die Füße, wenn man diese Frage mit »Ja« beantwortet, denn die Qualität der Leben derjenigen, die allein sind wird dadurch zutiefst in Zweifel gezogen. Außerdem ist das eine äußerst erschreckende Perspektive, wenn man bedenkt, welche erschreckende Kontingenz bei dem Versuch herrscht, jemanden zu finden, mit dem man glücklich sein kann. 216 Dennoch glaube ich nicht falsch zu liegen, wenn ich behaupte, dass Cavells Konzeption des Begriffes Ehe, auch über das Thema des Skeptizismus hinaus, seine Vorstellung davon, was eine Ehe leisten kann, was sie aushalten muss, ihre Dauer, das anhaltende glückliche und transformierende Gespräch, in seiner Gänze fast nur in langen Partnerschaften zu verwirklichen ist. Zumindest muss ein großer Teil davon unverwirklicht bleiben, etwa ein großer Teil des möglichen Gespräches. Im Übrigen wird auch in den von Cavell besprochenen 214 215 216
Hall: The Human Embrace, S. 137. Übersetzung D. G. Ebd. Ebd., S. 144.
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Melodramen die Möglichkeit einer glücklichen Ehe nicht aufgegeben, sondern nur die Ehen, von denen die Filme handeln. Das Ideal der anhaltenden romantischen Liebe wird nicht aufgegeben. Die meisten Menschen hoffen wohl auf ein glückliches und aufregendes Leben in einer dauerhaften Liebesbeziehung. Sie tragen aber auch noch eine andere Hoffnung in sich. Nämlich, dass gewisse Freundschaften das zu leisten vermögen, was Cavell hier unter dem Emblem der Ehe präsentiert. Das würden sehr seltene und besondere Freundschaften sein, solche wie sie in der Philosophie immer wieder gepriesen werden. Sie müssten so ernst genommen und so gepflegt werden wie eine Liebesbeziehung. Das ist nicht in jeder Freundschaft zu verwirklichen und nicht jede Freundschaft wird Cavells Vision verwirklichen können, was nicht bedeutet, dass damit andersgearteten Freundschaften der Wert abgesprochen werden soll. In glücklichen und langlebigen Paarbeziehungen betrachten sich, wie man immer wieder hört, die Paare häufig als Freunde, »die besten aller Freunde.« Was ist dann der Unterschied zwischen einer Liebesbeziehung und einer sehr guten Freundschaft, abgesehen von dem Mehr an Zeit, das man zusammen verbringt? Natürlich die Liebe – und das ist sicher nicht nur ein Ideal –, Liebe, die uns zum Größten und Grausamsten fahren lassen kann, weil sie, weit mehr als die freundschaftliche Liebe, die existentielle Macht hat zu definieren, was für uns diese Welt ist und wer wir in dieser Welt sind. Othello hat diese Macht gespürt und ist daran zu Grunde gegangen. Es ist eben dieser eine Mensch unter allen Menschen, den man ausgewählt hat. In der Liebe zu ihm, in der Konversation mit ihm investieren wir unsere ganze Existenz. Der andere wichtige Unterschied zwischen einer Beziehung und einer guten Freundschaft ist natürlich die Tatsache, dass wir in einer Beziehung Sex haben – ich möchte hier einmal alle anderen möglichen, aber dennoch selteneren Beziehungs- und Freundschaftsmodelle außer Acht lassen. Ronald L. Hall bemerkt ganz richtig, dass die Konversation einer Ehe nicht nur in dem Austausch von Worten besteht, sondern dass Sex selbst Teil der größeren Konversation ist, eine Fortsetzung der Konversation mit anderen Mitteln. 217 Dementsprechend kann es, wenn sich der Sex in einer Partnerschaft schwierig gestaltet, sich so anfühlen, als wäre ein Teil der Kommunikation mit dem anderen im Argen. Wenn Sex tatsächlich einen wichtigen Anteil 217
Ebd., S. 137.
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an dem von Cavell vorgestellten Gespräch hat, dann muss in einer nicht-sexuellen Freundschaft dieser Anteil natürlich verloren gehen. Freundschaft könnte folglich nicht jede Dimension des Gespräches bedienen, weswegen Partnerschaft ihr wirklich überlegen wäre. Ich halte es für fragwürdig, es als eine Alternative zu betrachten, einfach mit seinen guten Freunden zu schlafen, denn die Erfahrung spricht dafür, dass Sex im Rahmen gegenseitiger romantischer Liebe eine ihm eigene, existenzielle und bedeutungskonstitutive und mitunter transzendent erscheinende Kraft hat. Dagegen kann man natürlich argumentieren, dass gute Freundschaften, was die angestrebte glückliche Konversation angeht, ebenfalls etwas bieten können, das Liebesbeziehungen nicht leisten können, zum Beispiel den Einblick in ein Leben, das sich in größerem Maße von dem meinen unterscheidet als das meines Partners. Dem ist ohne Weiteres zuzustimmen, allerdings bedeutet das nichts anderes, als dass wir beides brauchen: Beziehungen und gute Freundschaften. Dass man die auf den letzten Absätzen nur angedeutete Diskussion über den Wert von Paarbeziehungen gegenüber Freundschaften ohne klares Ergebnis ewig weiterführen könnte, sollte als ein Beweis dafür dienen, welcher Verunsicherung langfristige Liebesbeziehungen heute ausgesetzt sind. Der entscheidende wie offensichtliche Punkt ist: Jede einzelne Ehe muss den Grund ihrer Existenz selbst aushandeln und das ist keine leichte Aufgabe. Es ist die allgemeine ontologische Verunsicherung, die daraus resultierende Bedrohung durch den Skeptizismus, die die »Erfindung oder die Wiedererfindung der Ehe nötig gemacht« hat. »Die Zeremonie einer einzelnen Intimität ist alles das wir haben, das wir dem sich androhenden Rückzug der Welt […] entgegensetzen können.« 218
Autonomie und Anerkennung – Getrenntheit und Abhängigkeit Um die Anwendbarkeit der Philosophie Cavells im Kontext des von Illouz beschriebenen Problems der ontologischen Verunsicherung von Paarbeziehungen noch ein wenig weiter zu erforschen, möchte ich abschließend ein Begriffspaar Cavells neben ein ähnliches von Illouz stellen. Bei Illouz geht es um die Begriffe der Autonomie und 218
Cavell: Pursuits of Happiness, S. 19. Übersetzung von D. G.
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Ehe als Weltdeutung
der Anerkennung, bei Cavell um Getrenntheit und Abhängigkeit. Ich hoffe, dabei bei Cavell eine Art Antwort auf die von Illouz skizzierte Schwierigkeit aufzeigen zu können. Liebesbeziehungen stehen heute unter enormer Spannung, so Illouz’ Analyse, weil ihnen einerseits das Diktum eingeschrieben wurde, Anerkennung und damit Selbstwert bei den Liebenden zu erzeugen, andererseits die persönliche Autonomie ein sehr wichtiger Faktor ist, um gesellschaftlich als erfolgreich gelten zu können. 219 Wir sehen hier direkt den Widerspruch: Wir müssen möglichst autonom sein, dabei sind wir gleichzeitig unendlich abhängig, weil wir Anerkennung nur von anderen erhalten können. Anerkennung ist bei Illouz natürlich ein etwas flacherer Begriff als bei Cavell. Bei Illouz bezeichnet »Anerkennung« Lob, Respekt und Akzeptanz der anderen, während Cavells Definition all das zwar mit einschließt, er aber »Anerkennung« zu einer grundlegenden Bedingung des Verständnisses anderer macht. Ich erkenne etwas als etwas an, zum Beispiel etwas als eine Wahrheit oder eine Meinung. Ich kann im Kontext Cavells durchaus die Worte von jemandem anerkennen, nämlich als seine Worte, als Ausdruck seines »Inneren«, sie dabei aber trotzdem ablehnen. Anerkennung trägt bei Cavell aber auch zum Verständnis meiner selbst bei. Ich kann etwas an mir selbst, etwa ein Gefühl, eine Schwäche oder ein Bedürfnis anerkennen. Bei Illouz dagegen kann mir Anerkennung nur von anderen gegeben werden. Anerkennung, die wir in der Liebe erfahren, ich meine Anerkennung in der Begrifflichkeit von Illouz, trug schon immer zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei. Illouz behauptet aber, »dass das von der Liebe verliehene Selbstwertgefühl in modernen Beziehungen von besonderer und akuter Bedeutung ist, gerade weil der moderne Individualismus mit der Schwierigkeit zu kämpfen hat, ein Selbstwertgefühl zu begründen.« 220
Die »moderne« Schwierigkeit, ein Selbstwertgefühl zu begründen, ist eine Folge der modernen Schwierigkeit, Bedeutungen zu schaffen. Unser Selbst wird damit unweigerlich abhängig von einem anderen Menschen, der bereit ist, uns Anerkennung zu gewähren, was eine ziemliche Demütigung all unserer Macht- und Kontrollansprüche darstellt. Diese Demütigung wird noch dadurch vergrößert, dass uns 219 220
Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 254. Ebd., S. 210.
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V. Die Ehe als Bund mit der Welt
allerorts gepredigt wird, wir müssten möglichst autonom sein – wobei ein jeder selbst sein fanatischster Prediger ist. Moderne Beziehungen, so Illouz weiter, seien in merkwürdigen Paradoxien gefangen, weil sie Anerkennung geben müssen, diese Anerkennung aber gleichzeitig im Zaum gehalten werden muss, damit die Autonomie nicht gefährdet wird – was sowohl für die Autonomie desjenigen der anerkennt, wie für die des Anerkennenden gilt. 221 Man darf lieben, aber nicht zu sehr lieben. 222 Das Tragische ist nun, dass diese Paradoxien für Selbstzweifel, Schuldgefühle und damit für Unglück sorgen. 223 Wir werden zwischen unseren Bedürfnissen nach Autonomie und Anerkennung zerrieben. Die gesellschaftliche Reaktion darauf ist, dass propagiert wird, dass wir damit beginnen sollten, uns selbst zu lieben, also uns selbst Anerkennung zukommen zu lassen, unser Selbstwertgefühl allein aufzubauen. Der Ratschlag, Liebe durch Eigenliebe zu ersetzen, der auch von der breiten Masse der Psychologen, den nicht so heimlichen Intimfeinden von Illouz, vertreten wird, ignoriert den grundsätzlich sozialen Charakter des Selbstwerts. Anerkennung, als Lob und Respekt, ist etwas, das mir nur von anderen zuteilwerden kann. 224 Wir sind, weil wir soziale Wesen sind und als solche der Anerkennung anderer bedürfen, auch immer abhängige Wesen. Abhängigkeit ist demnach für Soziologen wie Illouz kein pathologischer Zustand. 225 Abhängigkeit ist normal. Nun zu Cavell und seinem Begriffspaar Getrenntheit und Abhängigkeit: Bei Cavell wird Abhängigkeit genau wie bei Illouz nicht als pathologisch definiert, sondern als eine Tatsache, die wir in Bezug auf andere Menschen, vornehmlich auf jene, die uns wichtig sind, akzeptieren müssen. Othello scheitert an der Akzeptanz seiner Abhängigkeit von Desdemona und ihrer Liebe. Quälend wird seine Abhängigkeit für ihn, weil er von jemandem abhängig ist, der getrennt von ihm, also auch autonom, existiert, was Othello als Schwäche empfindet. Im selben Moment hat er aufgrund seiner Abhängigkeit den Eindruck, keine freie, autonome Existenz mehr zu haben. Stärke und Autonomie meint Othello nur dadurch erreichen zu können,
221 222 223 224 225
Ebd., S. 248. Ebd., S. 254. Ebd., S. 277. Ebd., S. 247. Ebd., S. 271.
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Ehe als Weltdeutung
wenn er sich von dem, was ihn vermeintlich schwächt, befreit, indem er entweder Desdemonas von ihm unabhängige Existenz beendet, oder seine Abhängigkeit von dieser Existenz. Der Zweifel an ihrer Treue soll ihn dazu befähigen. Wie wir gesehen haben, wird menschliches Glück für Cavell möglich, wenn wir Getrenntheit und Andersheit akzeptieren. Getrenntheit zu akzeptieren bedeutet, zu akzeptieren, dass wir und andere von vornherein schon autonom sind. Und als autonome Wesen gehen wir Verbindlichkeiten ein. Wir sind also trotz aller Abhängigkeiten und Bindungen weiterhin vollständig autonome Wesen. Die Antwort auf das von Illouz skizzierte Problem, die man meiner Ansicht nach in der Philosophie Cavells finden kann, besteht in der Entlarvung eines falsch verstandenen und falsch verinnerlichten Autonomiebegriffs. Autonomie wird gesellschaftlich als Freiheit von Verbindlichkeit und Abhängigkeit verstanden. Cavells Aufforderung, Getrenntheit anzuerkennen, weist darauf hin, dass menschliche Autonomie nicht zwangsläufig durch Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten eingeschränkt wird. Ebenso sind wir auch nicht zwangsläufig autonomer, wenn wir weniger Bindungen knüpfen. Somit ist die Anerkennung von Getrenntheit eine Anerkennung meiner eigenen Autonomie innerhalb meiner Bindungen. Anders gesagt: Es ist auch Ausdruck größter Freiheit, wenn ich mich jeden Tag wieder freiwillig für eine Ehe entscheide, für eine Abhängigkeit von jemandem, den ich liebe. Meine Abhängigkeiten werden dann zu etwas, das ich will, zum Ausdruck meiner Freiheit. Da es bei dem Autonomieproblem um die Stärkung des eigenen Selbstwertes geht, es sich also um ein Problem von Stärke und Schwäche handelt, weist Cavell auf die unglaubliche Stärke hin, die in einer autonom-abhängigen Geisteshaltung liegt, denn auf der einen Seite erfüllt man den Anspruch an die eigene Freiheit, auf der anderen Seite kann man dabei die Anerkennung erfahren, die nur von der partnerschaftlichen Liebe erzeugt wird. In Abhängigkeit lässt sich Stärke und Freiheit finden. Natürlich beinhaltet diese Stärke auch die Akzeptanz von Schwäche, der Abhängigkeit von anderen, was allerdings eine Schwäche ist, die wir mit jedem anderen Menschen teilen, eine, die dem Menschsein eingeschrieben ist, wodurch eine Beschreibung als Schwäche grundsätzlich fragwürdig wird. Wenn Abhängigkeit von anderen eine Schwäche ist, dann ist das Angewiesensein auf Nahrung und Schlaf auch eine Schwäche. Zumindest machen uns all diese Dinge nicht selten schwach. 341 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
VI. Verantwortung wahrnehmen
Die beiden in diesem abschließenden Kapitel behandelten Texte sind verhältnismäßig jung und haben deswegen auch noch verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden. In beiden geht es um Erfahrungen, die unser Denken irgendwie aushebeln, die zu viel für unseren Geist zu sein scheinen, ihn gewissermaßen sprengen. In What is the Scandal of Skepticism stellt Cavell die Erfahrung des unendlichen Gottes bei Levinas seinem Konzept der Erfahrung eines endlichen anderen gegenüber. In dem zweiten Text, der nicht von Cavell, sondern von der amerikanischen Philosophin Cora Diamond (* 1937) stammt, verbindet diese wiederum die Erfahrung von Getrenntheit, wie Cavell sie beschreibt, mit der Erfahrung der Lebendigkeit von Tieren. Beide, Diamond und Cavell, kommen zu dem Schluss, dass die Lebendigkeit anderer Lebewesen etwas ist, dem wir uns »aussetzen« müssen. Erst das befähigt uns, ihnen gegenüber eine moralische Haltung zu entwickeln, moralische Urteile zu fällen und selbst eine Form der Gemeinschaft zu konstituieren. Es wäre eine Gemeinschaft, die weniger auf vermeintlich objektiven Argumenten basiert, die gewissermaßen »außer mir« liegen, sondern es wäre Gemeinschaft, die auf dem Gefühl, das wir füreinander haben, unserem Bewusstsein für unsere unterschiedlichen Leben gründet. Aus Cavells und Diamonds Text geht sehr klar hervor, was man die ethische Vision Cavells oder seine ethische Utopie nennen könnte, weswegen ich sie hier auch zusammenbringe.
VI.1 Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas In seinem späten Text What is the Scandal of Skepticism rückt Cavell sich selbst – trotz der Feststellung eklatanter Unterschiede, was Ausgangspunkt, Motivation und Vorgehensweise betrifft – in die Nähe seines Zeitgenossen Emmanuel Levinas. Seinen Zugang zu Levinas 342 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas
findet Cavell über eine Passage in der dritten von Descartes’ Meditationen, in der Descartes versucht, Gottes Existenz zu beweisen, indem er feststellt, dass die Idee eines unendlichen Wesens nicht aus einem endlichen Wesen wie ihm hervorgegangen sein kann, 1 sondern von außen, von etwas Unendlichem, sprich von Gott selbst, in ihn »eingepflanzt« worden sein muss. 2 Daraus folgt, glaubt Descartes, dass Gott existieren muss. Und wenn Gott existiert, so Descartes weiter, muss auch alles andere, was er um sich herum sieht, existieren, da ein vollkommener, allmächtiger Gott ihn nicht täuschen würde. Descartes macht also seine Existenz in der Welt von der Existenz Gottes abhängig. Cavell hatte diese Stelle in seiner Untersuchung von Othello gewissermaßen säkularisiert. Er nahm an, dass, nachdem Gottes Existenz für uns mindestens zweifelhaft geworden ist und uns Gottesbeweise wie der Descartes’ nicht mehr überzeugen können, der andere nun das Gewicht Gottes tragen müsse, was bedeutet, dass meine Existenz von der Existenz eines anderen Menschen abhängig gemacht wird. Othello hatte seine Existenz von Desdemona abhängig gemacht, aber als er feststellte, dass ihre Existenz anders war, als er sie konzipiert und erträumt hatte, da musste er ihre Existenz und auch seine Existenz enden lassen. Auch Levinas interessiert sich für diese Stelle der Meditationen nicht wegen des Gottesbeweises, sondern wegen des Gedankens, dass etwas von außen in mich eingepflanzt oder gelegt wird. Dieses, wie Levinas es nennt, »Aufbrechen des Bewusstseins« 3 ist bei ihm der entscheidende Moment in meiner Begegnung mit anderen Menschen. Denn im Antlitz des anderen entdecke ich meine unendliche Verantwortung für ihn, was zu einem »Trauma des Erwachens« 4 oder auch einer Verwüstung des Denkens 5 führt, ausgelöst durch die »Monstrosität der Tatsache, dass das Unendliche in mich hineingelegt wurde.« 6 Bei Levinas öffnet mich der endliche andere für das unendliche andere, Gott dringt durch meine Begegnung mit dem anderen in Descartes: Meditationen, S. 121. Ebd., S. 133. 3 Levinas, Emmanuel: Of God Who Comes to Mind. Stanford 1998, S. 63. Übersetzung D. G. Cavell erwähnt dieses und die folgenden Zitate in: Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 144. 4 Levinas: Of God Who Comes to Mind, S. 65. Übersetzung D. G. 5 Ebd., S. 66. 6 Ebd. Übersetzung D. G. 1 2
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VI. Verantwortung wahrnehmen
mich ein – wodurch ich mein Selbst beinahe zerstört sehe. Es liegt für mich also eine Gewalt in dem Erkennen des endlichen anderen und des unendlichen anderen – Gott –, da mein ursprünglicher Narzissmus brutal durchbrochen wird. Während bei Levinas die Erkenntnis Gottes eine gleichzeitige Erkenntnis des anderen oder meiner Verantwortung für ihn ist, kam Cavell bei seiner Betrachtung der Passage Descartes’ zu einem anderen, letztlich gegenteiligen Schluss. Ihm war in Der Anspruch der Vernunft aufgefallen, dass Descartes in seinem Gottesbeweis den anderen geradezu umgeht. Descartes wollte die Existenz Gottes beweisen, um sich sicher sein zu können, dass er nicht allein ist. Warum, fragt Cavell, versucht Descartes dann überhaupt Gott zu beweisen und wählt nicht stattdessen den Weg, der doch der »geradeste und sicherste« sein müsste, um seine Angst vor dem Alleinsein zu beruhigen: der Beweis der Existenz »eines anderen endlichen Wesens.« 7 Anders als Levinas kann Cavell den Meditationen keinesfalls eine Öffnung für den anderen entnehmen, sondern eine Abwendung von ihm. 8 Dementsprechend muss Cavell seine Frage nun an Levinas richten: Warum genügt nicht die Erkenntnis eines endlichen anderen, um das von ihm beschriebene Trauma auszulösen und um meinen Geist zu verwüsten? Warum dieser Umweg über Gott? 9 Descartes schreibt, dass, während es jenseits meiner Macht ist, mir ein unendliches Wesen wie Gott vorzustellen, mir es durchaus möglich ist, mir ein anderes, endliches Wesen, einen Menschen, vorzustellen. Cavell hat Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung: »Bedenkt man Descartes’ Auffassung von der grundsätzlichen Getrenntheit von Körper und Geist, wie intim er die Verbindung zwischen beidem bei sich selbst auch immer erleben mag, was, bedenkt man seine Forderung nach Beweisen (seiner Existenz, der Existenz Gottes und der Existenz der äußeren Welt der Dinge), ist dann sein Beweis dafür, dass die menschlichen Körper, die er wahrnimmt, im gleichen intimen Verhältnis zu einem Geist stehen, den wiederum er nicht wahrnehmen kann?« 10
Genau wie Levinas glaubt auch Cavell an ein »Trauma«, eine »Verwüstung« oder ein »Aufbrechen«, das durch die Begegnung mit dem anderen geschieht. Für ihn entsteht es aber nicht aus der im selben Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 763. Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 145. 9 Ebd. 10 Ebd. Übersetzung D. G. 7 8
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Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas
Moment erfolgten Erkenntnis des unendlichen Gottes, sondern allein aus dem Erkennen eines endlichen anderen. Wird Gott hier zwar gewissermaßen ausgesondert oder durch ein menschliches Gegenüber ersetzt, so bleiben, schreibt Cavell, »Gewalt und ein gewisser Sinn des Unendlichen doch erhalten.« 11 Der andere reicht, sagt Cavell uns hier. Der andere ist genug, um in mir all die Schrecken auszulösen, die Levinas mit der gleichzeitigen Erkenntnis Gottes verbunden sieht. Dieser andere, »dieses eine Geschöpf unter all den Geschöpfen auf der Erde, die mir ähnlich sind und das dennoch, oder deswegen, absolut verschieden von mir ist, vollständig anders« 12, dieser andere, der ist, was ich nicht bin, bedeutet für mich genug Gewalt – seine von mir getrennte, unabhängige Existenz scheint allein schon mehr zu sein, als ich auf mich nehmen kann. Die Gewalt, von der hier die Rede ist, entsteht bei Cavell genau wie bei Levinas durch die Erschütterung meines ursprünglichen Narzissmus. 13 Othello hat unter den tragischen Helden Shakespeares diese Gewalt am deutlichsten exemplifiziert. Im Angesicht Desdemonas, dem Menschen, den er, vor allen anderen ausgewählt hat, um seine eigene Existenz zu bestätigen, hat er feststellen müssen, dass dieser dennoch endlos getrennt von ihm bleibt. »Die untragbare Sicherheit dieser Getrenntheit ließ Othello es vorziehen, sich der Qual des Zweifelns über Desdemonas Treue auszusetzen.« 14 Und am Beispiel von Othello können wir sehen, was es für ein Mensch sein muss, der diese Gewalt auf mich ausüben kann. Es handelt sich bei Cavell immer um einen ganz bestimmten Menschen. Es muss ein Mensch sein, in den ich mich, wie er es ausdrückt, auf eine ganz bestimmte Weise investiere. Es muss ein Mensch sein, den ich vor allen anderen heraushebe, um an ihm oder ihr meine Fähigkeit, einen anderen zu kennen, und meine Möglichkeiten, von ihm gekannt zu werden, zu testen. Also ein Mensch, dessen Körper für mich Körperlichkeit und damit Geistigkeit als solche repräsentiert. 15 Wie konnte jemand in diese Position kommen? Keine Frage, so ein Mensch ist immer ein Fall von Liebe. 16
11 12 13 14 15 16
Ebd. Übersetzung D. G. Ebd., S. 145 f. Übersetzung D. G. Ebd., S. 146 f. Ebd., S. 146. Übersetzung D. G. Ebd., S. 149. Ebd., S. 154.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
Erkenntnistheoretiker, die sich mit dem Problem der Außenwelt beschäftigen, ist diese Methode nicht fremd: Sie greifen sich gerne einen bestimmten Gegenstand heraus – bei Descartes ist es ein Stück Wachs, bei Moore ein Briefumschlag – um ihr Wissen an ihm zu testen. Damit wird dieser Gegenstand zum Idealfall ihres Wissens. Wenn die Erkenntnistheoretiker dann feststellen müssen, dass sie mit ihren Sinnen kein absolutes Wissen über ihren Gegenstand erlangen können, kollabiert ihr Wissen als Ganzes. Das Ergebnis des Testes der klassischen Erkenntnistheoretiker ist, dass sie einräumen müssen, kein absolutes Wissen über die Gegenstände der Welt zu haben. Diese Erkenntnis ist normalerweise von Gefühlen des Erstaunens, der Überraschung und des Grusels begleitet, das aber tatsächlich ohne Folgen bleibt, denn wie sollten wir uns in unserem Alltag zu diesem Gefühl verhalten? 17 Wir können nicht leben, ohne anzunehmen, dass die Gegenstände um uns herum existieren. Wir müssen den Apfel essen, wenn wir hungrig sind, und wir müssen dem Auto auf der Straße ausweichen, wenn wir uns nicht verletzen wollen. Scheitert dagegen der Idealfall des Wissens vom Fremdpsychischen – wenn ich feststelle, dass ich etwas vom anderen nicht wusste, oder etwas vollkommen falsch angenommen habe – dann lautet die Konsequenz, dass ich über das Innere eines anderen nicht mit Sicherheit Bescheid wissen kann. Niemanden wird es überraschen, das zu hören. In der Tat ist es so offensichtlich, dass es kaum erwähnenswert scheint. 18 Aber was teste ich wirklich, wenn ich einen anderen als Idealfall meiner Kenntnis von anderen Menschen herausgreife? In Wirklichkeit ist es doch nicht in erster Linie Wissen, das hier getestet wird, sondern meine Fähigkeit zur Anerkennung. Ich bin es, der hier getestet wird. Mein Idealfall für das Wissen bezüglich des Fremdpsychischen ist in Wahrheit ein Idealfall der Anerkennung. Wenn ich also enttäuscht sage, dass ich vom anderen nicht wissen kann, dann drücke ich damit vor allem eine Haltung aus, die besagt, dass ich nicht bereit bin, den Anspruch, den unsere Getrenntheit und Andersheit an uns stellt, zu erfüllen. 19 Der Fall der Liebe wird zum Idealfall der Anerkennung, weil ich dir hier nicht ohne Weiteres ausweichen kann. Ich möchte ja mit dir zusammen sein und wünsche mir von dir gekannt zu werden und dich 17 18 19
Ebd., S. 149. Ebd., S. 149 f. Ebd., S. 150.
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Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas
zu kennen. Wenn Anerkennung zwischen uns nicht gelingt, kann ich nicht, wie ich es vielleicht bei anderen tue, einfach an dir vorübergehen, sondern muss mich irgendwie zu dir verhalten, muss mich der drohenden Gewalt aussetzen, die eine Anerkennung bedeuten würde. Da Anerkennung zwischen uns am schwersten, weil am unausweichlichsten und umfassendsten ist, wird hier meine Fähigkeit und Bereitschaft zur Anerkennung als Ganze auf die Probe gestellt. Da ich keine Gemeinschaft mehr wünsche als deine, ist es in der Liebe vielleicht so, dass ich meinen Geist insgesamt für das Reich des anderen zu öffnen vermag. Will ich diese Gemeinschaft, muss ich mich dir aussetzen. Allerdings gibt es auch keine Trennung, die mich mehr schmerzt als die von dir, was mich dazu bewegen kann, Anerkennung gerade dir gegenüber zurückzuhalten und auf die Gemeinschaft mit dir zu verzichten. Was das Eindringen der Idee Gottes in meinen Geist angeht, spricht Levinas gelegentlich von meiner Position als passiv, jenseits aller Passivität. 20 Cavell schlägt vor, dass Levinas sich damit auf das Leiden bezieht, das er selbst als das Trauern um den Verlust einer fantasierten Vereinigung mit dem endlichen anderen beschrieben hat. 21 Cavell hält also an der Vorstellung einer traumatischen Öffnung des eigenen Geistes fest, verwirft aber den Gedanken Levinas’, dass es dafür die Idee Gottes bedürfe, und hält stattdessen eine bestimmte Art der Investition in einen anderen für ausreichend. Natürlich, räumt Cavell ein, könnte man eine solche Investition als ein Äquivalent Gottes bezeichnen, also behaupten, dass Gott sich in meiner Liebe zeigt, meinem Ertragen von Getrenntheit, meinem Willen, mich vor dem anderen zu offenbaren und meinem Verzeihen, wenn der andere mich einmal nicht kennt, meinem Verzeihen, dass der andere mich nicht kennt. Cavell möchte diese Position weder verneinen noch kann er, wie er schreibt, sie sich zu eigen machen. 22 Espen Hammer argumentiert, dass Cavell normalerweise eine solche religiöse Rhetorik vermeidet, weil er die Autorität über unsere Gemeinschaften nirgendwo anders als in uns verankern will. 23 Ich möchte hinzufügen, dass ich davon ausgehe, dass Cavell in Zusammenhang mit der Verantwortung für den anderen einen Rekurs auf Gott, wie ihn 20 21 22 23
Levinas: Of God Who Comes to Mind, S. 63. Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 146. Ebd., S. 151. Hammer: Stanley Cavell: Skepticism, Subjectivity and the Ordinary, S. 146.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
Levinas pflegt, deshalb für verdächtig hält, weil er den ungetrübten Blick auf mein lebendiges Gegenüber, den ja sowohl Cavell als auch Levinas anstreben, wieder verschleiern könnte. Das heißt allerdings nicht, dass Cavell sich religiösen Bezügen generell verschließen würde. 24 Ungeachtet der Unterschiede, muss Cavell schließlich feststellen, dass er und Levinas bei dem, was man ihre philosophische Botschaft nennen könnte, einen sehr ähnlichen Ton anschlagen, und zwar bei der Frage nach meiner Verantwortung für den anderen. Levinas insistiert, dass ich in der Erkenntnis des endlichen anderen meine unendliche Verantwortung für ihn erkenne. Und auch bei Cavell findet man eine Beschreibung dessen, was man eine unendliche Verantwortung für den anderen nennen kann. In Der Anspruch der Vernunft schreibt er: »Ich reagiere« auf das Leben des anderen »(muss darauf reagieren), oder ich muss mich weigern zu reagieren. Es fordert mich auf, es fordert mich heraus. Ich muss es anerkennen.« 25 Meine unendliche Verantwortung entsteht für Cavell schon aus unserem Angewiesensein auf Ausdruck, unserer Abhängigkeit von Sprache. Ich muss den anderen lesen, versuchen wollen, ihn zu verstehen – verstehen, welcher Reaktion, welcher Handlungen und welcher Worte er bedarf. Bei Cavell ist die Lebendigkeit des anderen, die getrennt von mir passiert, eine unaufhörliche Aufforderung an mich. Eine Anerkennung seiner Getrenntheit besteht gerade darin, dass ich ihm gegenüber nicht gleichgültig bin. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung, die Verneinung der Forderung, die seine Existenz an mich stellt. Cavell ist nach eigener Aussage ganz bei Levinas, wenn er in dessen Buch Schwierige Freiheit folgende Wendung liest: »Ein Antlitz zu sehen, bedeutet sogleich zu hören Du sollst nicht töten.« 26 Besser, schreibt Cavell, hätte er die Lösung für das skeptizistische Problem der Anerkennung des anderen nicht ausdrücken können.
Es gibt eine überraschend große Anzahl von Veröffentlichungen, die aus Cavells Philosophie der Anerkennung und des Gewöhnlichen ein bestimmtes Gottesverhältnis abzuleiten versuchen. Vergleiche: Viefhues-Bailey: Beyond the Philosopher’s Fear/Hunziker, Andreas: Das Wagnis des Gewöhnlichen. Tübingen 2008./Tonning; Judith E.: »Acknowledging a Hidden God«, in: The Heythrop Journal 48. 2007, S. 384–405. 25 Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 163. 26 Levinas, Emmanuel: Difficult Freedom: Essays on Judaism. Baltimore 1997, S. 8. Übersetzung D. G. 24
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Du sollst nicht töten – Cavell und Levinas
»Aber in den alltäglichen Weisen, in denen die Leugnung in meinem Leben mit dem anderen auftritt – in einem kurzzeitigen Ärger, oder einem wiederkehrenden Groll, in einem unerwarteten Anfall von Missgunst, in einem kalten Blick, in einer Unehrlichkeit, in dem Erzählen einer Geschichte, dem Glauben einer Geschichte, in einem falschen Schweigen […] in einer Fantasie der Einsamkeit oder der Selbstzerstörung – liegt die Schwierigkeit darin, mich als leugnend zu erkennen, einzusehen, dass ich Chaos in mir trage.« 27
Cavell bezieht das Gebot, nicht zu töten, nicht nur auf einen tatsächlichen Tötungsakt, sondern auf jeden Moment, in dem wir durch unser Sprechen oder Handeln die Lebendigkeit eines anderen – bewusst oder unbewusst – missachten. Die Erneuerung der eigenen Wahrnehmung, eine Achtsamkeit für die eigene Wahrnehmung ist Cavells Empfehlung für meine Rückkehr zur Welt, nachdem der Skeptizismus durch mich gegangen ist. Die Achtsamkeit für die eigene Wahrnehmung ist auch sein vornehmlich ethisches Anliegen, nämlich als eine Achtsamkeit für den anderen, eine Achtsamkeit für sein Leben, das ich in jedem Moment in seinem Antlitz – seinen Augen, seinem Mund – erkennen kann. Nicht zu töten heißt, die von mir getrennte Lebendigkeit zum Teil meiner Sorge zu machen. Wenn ich in das Antlitz eines anderen blicke, der sonst vielleicht ungesehen an mir vorüber gezogen wäre, mich ihm aussetze, dann muss ich, so die Hoffnung, zwangsläufig sehen, was ich tun muss, was seine Lebendigkeit von mir erfordert – ich muss meine Verantwortung für ihn sehen. Das ist nicht so sehr ein Argument als eine Aufforderung, sich daran zu erinnern, wie es ist, jemand anderen wirklich zu erfahren, wie es ist, seine Lebendigkeit zu erkennen, wie es ist, am Leben zu sein. In diesem Sinne kann man auch die literarischen Ausbrüche dieser Philosophie verstehen, wie etwa im obigen Zitat der Halbsatz vom Chaos, das ich in mir trage: Es sind Versuche, bestimmte Gefühle und Erinnerungen im Leser lebendig zu machen. Eine Philosophie, die einen solchen Begriff des Tötens hat, ist von dem Bewusstsein getragen, dass ich schon getötet habe und dass ich jeden Tag Gefahr laufe, wieder zu töten, dass ich wieder töten werde – mag es durch Unachtsamkeit, Gleichgültigkeit, Egoismus, Angst oder Scham geschehen.
27
Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 151. Übersetzung D. G.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
VI.2 Sich dem Anderen aussetzen Der Appell an eine neue oder erneuerte Wahrnehmung von Lebendigkeit, an eine neue Achtsamkeit gegenüber der eigenen Wahrnehmung, die mich meine unendliche Verantwortung für den anderen erkennen lässt, zusammen mit der Beobachtung, dass dieser Appell von Cavell nicht als Argument vorgebracht wird, sondern als Aufforderung, sich an die Erfahrungen von eigener und fremder Lebendigkeit zu erinnern, führt direkt zu einem Vortrag von Cora Diamond, in dem sie eben jene Aspekte der Cavellschen Philosophie aufgreift und sich zweifellos auch für sie stark macht. In einer schriftlichen Reaktion, die ich hier ebenfalls berücksichtigen werde, kommentiert Cavell Diamonds Gedanken, ohne sich von ihnen abzusetzen. Beides, Diamonds Vortrag und Cavells Reaktion finden sich, ergänzt um einige begleitende Anmerkungen anderer Philosophen in dem schmalen Bändchen Philosophy & Animal Life. Dem Titel The Difficulty of Reality entsprechend geht es Diamond in ihrem Vortrag um Erfahrungen von Realität, die sich unserem Denken irgendwie zu widersetzen scheinen, die in ihrer Unerklärlichkeit zu schmerzvoll oder zu schwierig für uns sind, oder vielleicht auch zu erstaunlich oder ehrfurchtgebietend. 28 Eine Beschreibung für so ein Erlebnis findet Diamond bei Ted Hughes in dessen Gedicht Six Young Men. 29 Der Sprecher beschreibt dort ein Foto von sechs lächelnden jungen Männern, die an einem dem Sprecher sehr vertrauten Platz sitzen. Er beschreibt den Baum, den es dort gibt, die alte Mauer und wie die Männer auf dem Foto den durch das Tal rauschenden Fluss gehört haben müssen, den man heute noch immer dort hört. Einer der Männer auf dem Foto lacht übermütig, ein anderer kaut fröhlich auf einem Grashalm. Das Bild wurde 1914 aufgenommen und innerhalb von sechs Monaten waren die Männer tot, gefallen im ersten Weltkrieg. Der Sprecher des Gedichts beschreibt nun, wie er versucht, zusammenzubringen, was nicht zusammenzubringen ist: »dass nichts lebendiger ist als diese sechs lächelnden Männer, und nichts toter.« 30
Diamond, Cora: »The Difficulty of Reality«, in: Cavell, Stanley/Diamond, Cora u. a.: Philosophy & Animal Life. New York 2008, S. 45 f. 29 Hughes, Ted: »Six Young Men«, in: Hughes, Ted: Collected Poems. New York 2003, S. 45. 30 Ebd. S. 44. 28
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Sich dem Anderen aussetzen
Diamond interessiert sich für genau diesen Moment, in dem der Geist versucht, etwas, das ihm begegnet, zu erfassen, was sich aber auf verrückt machende Weise als unmöglich herausstellt. Das Bemerkenswerte ist nun, fährt Diamond fort, dass dieses Foto auch ganz anders beschrieben werden könnte. Man könnte sagen, dass auf dem Foto ein paar Männer sitzen, die damals gelebt haben und jetzt nicht mehr leben. 31 Nichts an dem Foto ist dann noch länger verstörend. Es ist nicht falsch, das Foto so zu beschreiben, aber liegt man damit wirklich richtiger als der Sprecher des Gedichts? Würde man dem Sprecher helfen, wenn man ihm sagte, dass das Männer sind, die zwar einmal gelebt haben, die aber jetzt eben tot sind? Würde es ihm helfen zu sagen, dass dies das Schicksal aller Menschen ist, die gelebt haben und fotografiert wurden? Worauf Diamond hinaus will, ist, dass man Tatsachen, die einen in gewissen Augenblicken erschüttern können, zu anderen Zeitpunkten einfach so hinnimmt – als nicht weiter bemerkenswert. Der entscheidende Punkt ist aber, dass jemand, der so empfindet wie der Sprecher des Gedichts, anders als sein vermeintlich »nüchternes« Gegenüber seine Erfahrung nicht richtig versprachlichen kann. Er kann sein Erleben nicht nur nicht richtig mit Worten fassen, er wird geradezu aus der Sprache geworfen. Hierher rührt das Gefühl der Isolation, die mit solchen Erfahrungen verbunden ist. Ihr zweites Beispiel findet Diamond in J. M. Coetzees Das Leben der Tiere. 32 In dieser Geschichte, die eigentlich zunächst eine Vorlesung Coetzees an der Universität Princeton war, wird wiederum die in die Jahre gekommene Autorin Elizabeth Costello zu einer Vorlesung an einer Universität eingeladen. Die Vorlesung und die begleitenden Umstände sind einziger Inhalt der Geschichte. Wir lernen Costello als eine Frau kennen, die von einem Schrecken geradezu heimgesucht wird, den sie auch zum Thema ihres Vortrages macht: Es ist der Schrecken über unseren Umgang mit Tieren. Der Schrecken über das, was auf den Schlachthöfen und in der technisierten Tierhaltung geschieht. Teil ihres Grauens ist, dass sie weiß, dass die meisten Menschen um sie herum davon verhältnismäßig unberührt zu sein scheinen. Das ist es, was diese Frau isoliert. Die amerikanische Ausgabe von Das Leben der Tiere wurde mit Ebd. S. 45. Coetzee, John Maxwell: »Das Leben der Tiere«, in: Coetzee, J. M.: Elizabeth Costello. Frankfurt am Main 2006. 31 32
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VI. Verantwortung wahrnehmen
den Kommentaren verschiedener Autoren versehen, die sich mit Coetzees Geschichte im Zusammenhang mit der in ihr verhandelten Tierproblematik auseinandersetzen. Diamond äußert deutliches Unbehagen und Unzufriedenheit angesichts dieser Kommentare, da ihre Autoren, allen voran Peter Singer und Amy Gutman, Coetzees Geschichte fast ausschließlich als eine Aufzählung von Argumenten verstünden. Singer zum Beispiel kritisiere, dass Coetzees Argumente für einen besseren Umgang mit Tieren schwach seien und dass Coetzee sie zusätzlich noch von einer fiktiven Person vortragen lasse, um nicht selbst für sie einstehen zu müssen. Coetzee würde es somit nicht gelingen, die moralische Bedeutung unseres Umgangs mit Tieren klar zu machen. 33 Eine solche Interpretation weist nicht nur auf ein im besten Falle eigenwilliges Literaturverständnis auf Seiten Singers hin, sondern heißt auch, völlig zu übersehen, wie Elizabeth Costello ihr Thema in der Geschichte vorbringt. Vor ihren Zuhörern präsentiert sie sich als eine Frau, die auf verrückt machende Weise heimgesucht wird, von dem, was wir mit Tieren tun. Ohne Ironie vergleicht Costello sich mit Kafkas »Rotpeter«, einem sprechenden Orang-Utan, der vor der gelehrten Wissenschaft einen Vortrag über den Prozess seiner Anpassung an die Menschen hält. 34 Mit Bezug auf Kafkas Geschichte teilt sie ihrem Publikum Folgendes mit: »Ich bin kein Philosoph, sondern ein Tier, das einer Versammlung von Wissenschaftlern eine Wunde zeigt und doch nicht zeigt – eine Wunde, die ich unter meiner Kleidung verberge, die ich aber mit jedem Wort, das ich äußere, berühre.« 35
Diese Frau, dieser Mensch Elizabeth Costello ordnet sich hier selbst allen anderen Tieren dieser Erde zu. Somit ist es auch dieses Leben, ihre Leben, um das es in Das Leben der Tiere geht und auf das sich der Titel der Geschichte bezieht. Indem sie sagt, sie sei ein Tier und eben kein Philosoph, zeigt sie, dass sie nicht in die Debatte über Tierethik, in den gelehrten Austausch von Argumenten, eintreten möchte, sondern davon sprechen will, wie es ist, ein Tier zu sein. Ein Tier mit einer Wunde. Was dieses Tier verwundet hat, ist unser Umgang mit Diamond: The Difficulty of Reality, S. 47 f. Und: Singer, Peter: »Reflections«, in: Coetzee, John Maxwell u. a.: The Lives of Animals, Princeton 1999, S. 87–90. 34 Kafka, Franz: »Ein Bericht für eine Akademie«, in: Kafka, Franz: Franz Kafka. Die Erzählungen, Frankfurt am Main 2000, S. 322–337. 35 Coetzee: Elizabeth Costello, S. 91. 33
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Sich dem Anderen aussetzen
anderen Tieren und zu diesem Umgang gehört auch die Art und Weise, wie wir innerhalb unserer moralischen Debatten über Tiere sprechen, wie wir beispielsweise über Bewusstseinsgrade eines Schweins diskutieren, oder darüber, welche Art von Seele es hat, oder ob es vielleicht nur ein biologischer Automat ist und wie wir dann daraus abzuleiten versuchen, welche Rechte es hat und wie wir es zu behandeln haben. Über mehrere Buchseiten hinweg verwirft Costello – für sich und für diesen Ort – die ganze philosophische Tradition rationalen Argumentierens. 36 Was Costello fürchtet ist, dass wir uns mit rationalen Argumenten geführte Debatten – die natürlich ihre Daseinsberechtigung haben – uns auf gleich mehrerlei Weisen distanzieren. Unser Verlass auf Argumentation erscheint ihr als eine Methode, mit der wir uns für uns selbst unerreichbar machen, mit dem wir das Gefühl dafür verlieren, was es bedeutet, ein lebendiges Tier zu sein. 37 Das distanziert uns auch von der Lebendigkeit anderer Wesen, denn wenn wir das Gefühl für unsere eigenen Erfahrungen verlieren, verlieren wir auch die Erfahrung von fremder Lebendigkeit. Das Gefühl fremden, von uns getrennten Leben ausgesetzt zu sein, gerät in der Debatte aus unserem Fokus. Argumentation ist auch dafür da, uns gegenseitig näher zu bringen. Indem wir uns über Argumente rechtfertigen, begründen und andere zu überzeugen versuchen. Tatsächlich lässt sich aber feststellen, dass Argumentation ebenso dafür sorgen kann, dass wir uns weiter voneinander entfernen. Im Falle der Tierethik können Argumente für den Vegetarismus ein Mittel sein, mit dem eine Gruppe von Menschen Überlegenheit über eine andere behauptet. 38 Eine solche Position ist sicher nicht dazu angetan, andere von der eigenen Sache zu überzeugen, außer diese giert es nach eben jenem Gefühl der moralischen Überlegenheit. In jedem vorgebrachten Argument steckt Selbstgerechtigkeit und anderen wird diese nicht entgehen. Ich denke, es gehört zum Wesen der Argumentation selbst, und das ist es auch was Costello sagen will, dass wir uns auf der Suche nach schlagkräftigen Argumenten zunehmend von der ursprünglichen Gemütsregung entfernen, die überhaupt erst dafür verantwortlich war, dass wir eine Debatte begonnen haben. Costellos Reaktion darauf ist, dass 36 37 38
Ebd., S. 85 ff. Diamond: The Difficulty of Reality, S. 53. Ebd., S. 55 f.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
sie nicht länger nach Argumenten sucht, mit denen sie ihre Superiorität gegenüber anderen behaupten kann, sondern sich als lebendiges Wesen selbst ausstellt. Sie versucht zu beschreiben, was sie umtreibt, versucht, von ihrem Wahnsinn zu erzählen, so seltsam der Eindruck auch sein mag, den sie damit hervorruft. Literatur scheint für dieses Anliegen geeigneter zu sein als Philosophie, geeigneter, um unser Gefühl dafür, was es bedeutet einen Körper zu haben und lebendig zu sein, wachzurufen. 39 Damit wird die Philosophie nicht disqualifiziert, aber die sehr Cavellsche Frage gestellt, inwieweit die Philosophie Literatur werden muss. 40 An diesem Punkt zieht Diamond nun auch die Verbindungslinie zu Cavell. Die Überzeugung, dass man mit Argumenten die Bedürfnisse, Anliegen und Ängste, die Schwierigkeit der eigenen Erfahrungen, kurz die Lebendigkeit, aus dem Blick verliert, findet sich ziemlich exakt so in Cavells Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus. Der Skeptiker, der die Schwierigkeit der Realität seines Gefühls des Abgeschnitten-, Getrennt- und Alleinseins versucht, in Worte zu fassen und sich dabei der Sprache des philosophischen Skeptizismus bedient, muss erfahren, wie die Sprache sein eigentliches Anliegen verfälscht oder »ablenkt«. 41 Die Philosophen, die wiederum das Unbehagen des Skeptikers mit Argumenten beruhigen wollen, ignorieren ebenfalls was diesen Menschen eigentlich umtreibt. Wenn jemand beispielsweise die Angst äußert, seine Schmerzen könnten ungesehen bleiben oder die Schmerzen eines anderen könnten ihm verborgen bleiben, weil er nicht die Schmerzen eines anderen haben könne, dann wird es diesem Menschen nicht helfen, wenn man ihm sagt, wie es die Sprachphilosophen gerne tun, er bringe zwei verschiedene Sprachspiele durcheinander. Wer sich in die Situation versetzt, aus der heraus der Skeptiker seine Angst geäußert hat, wird erkennen müssen, dass solche Worte bei ihm nicht verfangen können. Er hat ja dieses Gefühl und er weiß ja auf eine bestimmte Weise auch nicht, was der andere fühlt. Argumente wirken auch hier eher wie ein Weg, das Leiden anderer – und gegebenenfalls auch das eigene Leiden – zu übergehen. Die Sorge des Skeptikers lässt sich nicht einfach wegdiskutieren. 42
Ebd., S. 53. Cavell schließt Der Anspruch der Vernunft mit dieser Frage. Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 786. 41 Cavell: Wissen und Anerkennen, S. 66. 42 Vergleiche: Diamond: The Difficulty of Reality, S. 64 ff. 39 40
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Sich dem Anderen aussetzen
Die Lehre, die Cavell aus dem Skeptizismus gezogen hat, war folgende: »Der andere kann mir kein Zeichen oder Merkmal präsentieren, auf dessen Grundlage ich zu entscheiden vermag, welche Einstellung ich zu ihm einnehme. Es liegt an mir, das Menschsein im anderen anzuerkennen.« 43
Das heißt, dass es an mir ist, die Lebendigkeit anderer Wesen anzuerkennen. Diamond vergleicht diesen Schluss Cavells nun mit der Haltung eines Philosophen wie Singer. Was tut Singer, wenn er sich mit unserer Einstellung gegenüber Tieren beschäftigt? Er sucht nach felsenfesten Argumenten, er macht nichts anderes als nach »Zeichen und Merkmalen« zu suchen, auf deren Grundlage er entscheiden will, welche Einstellung, wir zu Tieren einnehmen sollten. Ein Philosoph wie Singer vergleicht Tiere mit uns, er will sie vermessen, um daraus unsere moralischen Pflichten abzuleiten. Damit macht er innerhalb der moralischen Debatte über Tiere ihre Körper zu bloßen Fakten. 44 Er vergrößert auf diese Weise unsere Distanz zu der Erfahrung von Körperlichkeit. Der Verdacht von Diamond ist also, dass wir mit unserer intellektualisierten moralischen Debatte, die wir allein mit Argumenten austragen, die Tiere all ihrer Lebendigkeit berauben – dass wir sie, so wie Cavell es in Anklang an Levinas beschrieben hat, in unserer Wahrnehmung töten. Doch damit nicht genug: Die von diesen Philosophen geteilte Sehnsucht nach einem »weil« – also nach etwas in der Form von: »weil Tiere diese oder jene Art von Wesen sind, ist ihr Status in unserem moralischen Denken dieser oder jener« – ist ein Versuch, etwas außer uns zu finden, anhand dessen man die Zugehörigkeit der Tiere zu einer moralischen Gemeinschaft bestimmen kann. So ein Ansatz würde bedeuten, dass »uns die Anwesenheit oder Abwesenheit einer moralischen Gemeinschaft einfach gegeben werden würde.« 45 Für Cavell dagegen sind es aber immer wir, die die Anwesenheit oder Abwesenheit einer moralischen Gemeinschaft anerkennen, es sind Ich und Du, die eine Gemeinschaft schaffen. Das ist unsere Bürde als Menschen. Nach dem, was uns Cavell lehren wollte, muss sich uns nun die Frage stellen, ob wir bei diesen Philosophen, die im Bezug auf die Tiere nach äußeren Gründen suchen und damit eine Position zu 43 44 45
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 687. Diamond: The Difficulty of Reality, S. 59. Ebd., S. 72. Übersetzung D. G.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
erlangen trachten, die »besser« ist als die menschliche, nicht eine Form des Skeptizismus vorfinden. 46 Diamond betont, dass es nicht nur Erfahrungen von unfassbaren Schrecken sind, die unser Denken aushebeln können. Auch Erfahrungen von überwältigender Güte oder Schönheit können sich einem reibungslosen Einfügen in unser Bild der Welt widersetzen. Wir glauben dann, dass diese Dinge nicht sein können – und dennoch sind sie. Diamond greift an dieser Stelle auf die Kindheitserinnerungen Ruth Klügers zurück, in denen diese beschreibt, wie sie als zwölfjährige in Auschwitz durch die plötzliche Lüge eines ihr fremden Mädchens vor den Gaskammern gerettet wurde. Das Staunen über diesen unvergleichlichen und unerklärlichen Akt der Güte sei in ihr nie verschwunden, erzählt Klüger weiter. Doch wenn sie davon berichtet, dann würden ihre Zuhörer häufig über ihr Staunen staunen. Man sage ihr dann, dass manche Menschen altruistisch seien und dieses Mädchen eben einer dieser Menschen war. Jemand hat ihr geholfen, was ist mehr daran? Niemand wird widersprechen, dass es sich hier um eine selbstlose Tat handelt, doch Klügers Erfahrung dieses Erlebnisses scheint noch darüber hinauszugehen. Und offensichtlich verhält es sich auch hier so, dass ihre Erfahrung aufgrund ihrer Unfassbarkeit isolierende Wirkung für sie hat. Klüger bleibt nichts, außer an ihre Leser zu appellieren, sich diese Szene nicht nur vorzustellen, sondern sich ihre Situation einzuverleiben – geradewegs in sich aufzunehmen, wie sie damals fühlte und heute noch fühlt. 47 Auch was unsere Begegnungen mit Tieren angeht, kann die Erfahrung der Schwierigkeit der Realität nicht nur aus dem Grauen über das, was wir Tieren antun, entstehen, wie es bei Elizabeth Costello der Fall ist, sondern, wie Diamond darlegt, auch aus »einem Gefühl des Erstaunens und Nichtbegreifens angesichts der Tatsache, dass es da Wesen gibt, die uns so ähnlich sind, und gleichzeitig so verschieden von uns sind, die so sehr dafür geeignet sind unsere Gefährten zu sein und die uns so unergründlich ferne sind.« 48
Können wir uns, fragt Diamond weiter, wenn wir so fühlen, ernsthaft vorstellen, diese Tiere, oder zumindest manche von ihnen, zu essen? 49 Ebd., S. 71. Klüger, Ruth: Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered. New York 2001, S. 103 ff. Vergleiche: Diamond: The Difficulty of Reality, S. 61 f. 48 Ebd., S. 61. 49 Ebd. 46 47
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Sich dem Anderen aussetzen
Da uns Diamond leider eines Beispiels für so ein Erlebnis schuldig bleibt, möchte ich von einer Begebenheit erzählen, die mir selbst vor zwei oder drei Jahren widerfuhr. Sie ist ganz unspektakulär – und machte dennoch oder vielleicht auch deswegen großen Eindruck auf mich. Ich denke, dass gerade durch die Diskrepanz zwischen der äußerlichen Ereignislosigkeit und meiner plötzlichen inneren Aufgewühltheit wir es mit einer der Erfahrungen zu tun haben, über die Diamond spricht. Alles war wie immer. Eigentlich gibt es nichts zu erzählen, aber es geschah sehr viel. Es war Sommer und ich war in einem kleinen Park in der Nähe meiner Wohnung. Es handelt sich dabei um einen jener Parks, in die man geht, um niemanden zu treffen. Ich saß also dort auf einer Bank im Schatten, mit meinem Buch in der Hand, da drang plötzlich ein Hecheln an mein linkes Ohr. Ich erwähne so explizit, dass es meine linkes Ohr war, weil mir das Geräusch in diesem Moment unnatürlich nah vorkam. Nah an mir. Viel näher, als es hätte sein dürfen. Ich drehte meinen Kopf und sah einen kleinen Hund aus den Büschen springen – der Verursacher des Hechelns. Er schien mich kurz zu mustern, mich dann aber sehr schnell für uninteressant zu befinden, weswegen er an mir vorbeizog, um sich durch das hohe Gras wieder von mir zu entfernen. Seine seltsam hüpfenden Bewegungen, mit denen er immer kleiner wurde, konnte ich nicht anders als »freudevoll« empfinden. Ich wusste in diesem Moment, dass ich dort nicht allein war. Was macht man aus so einem Erlebnis? Man kann die Freude, die ich in dem Hund sah, als meine Projektion bezeichnen. Man kann mir entgegnen, dass es einfach ein Hund war, der seinen Hundetrieben gefolgt ist, wie es alle Hunde tun. Ich weiß aber, dass dort dieser eine Hund war, der dort mit mir, neben mir, lebte. Ausgelöst wurde all dies durch ein Hecheln, einem Luft holen, dem banalsten Ausdruck von Leben. Dabei hecheln Hunde die ganze Zeit. Obwohl nichts anders war als sonst, hat mich dieses Tier, das sich mal für mich interessierte und dann wieder nicht, mit seinem Leben getroffen, aufgebrochen. Dieser Hund dort lebte, und ich wusste es. Wenn Diamond von dem Erstaunen spricht, angesichts von Wesen, »die uns so ähnlich sind, und gleichzeitig so verschieden von uns sind«, dann knüpft sie damit direkt an Cavells Beschreibung unserer Erfahrung von menschlicher Getrenntheit an, wo er von Geschöpfen spricht, »die mir ähnlich sind und […] dennoch […] absolut verschieden von mir.« 50 Dieses Zusammenbringen von Mensch und Tier, der 50
Cavell: Philosophy The Day After Tomorrow, S. 145. Übersetzung D. G.
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VI. Verantwortung wahrnehmen
Erfahrung des Holocausts und der Begegnung mit einem Hund erscheint auf den ersten Blick vielleicht etwas obszön. Doch Diamond ist es keineswegs an einer unguten Vermischung gelegen, durch die der Wert von Menschlichkeit herabgesetzt werden soll. Betrachtet man ihre Beispiele, der Schrecken über den Tod von Männern, die auf einem Foto so lebendig sind, das Grauen über unseren Umgang mit Tieren, das Erstaunen über ihre Existenz und die Überwältigung durch menschliche Güte, dann lässt sich erkennen, dass es bei der von ihr beschriebenen »Schwierigkeit der Realität«, in jedem der Fälle um die Schwierigkeit geht, Lebendigkeit zu erfassen. Als sei es das Faktum der Lebendigkeit selbst, das zu schwierig oder zu viel für uns ist. Es geht Diamond eben nicht darum, die Lebendigkeit der Tiere gegen die Lebendigkeit der Menschen abzuwägen, den Grad ihres Bewusstseins gegen den Grad unseres Bewusstseins – denn das wäre genau das Geschäft von Philosophen wie Singer –, sondern darum, unsere Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmungen von Lebendigkeit zu lenken. Dazu gehört, dass wir eine Sprache finden, die uns nicht teilt, nicht teilt von uns selbst und nicht teilt von anderen, eine Sprache, die nicht tötet oder die zumindest die Gefahr des Tötens jederzeit verinnerlicht hat. Lebendigkeit wahrzunehmen erfordert, dass wir uns anderen Wesen aussetzen. »Sich aussetzen« ist für Cavell unser Weg, mit dem wir etwas über andere erfahren können. »Zu akzeptieren, dass ich anderen ausgesetzt bin, scheint eine Zustimmung zu der Möglichkeit zu beinhalten, dass mein Wissen von anderen eventuell umgestoßen wird, ja dass es sogar umgestoßen werden sollte.« 51
Auf diese Weise müssen wir uns der lebendigen Präsenz anderer aussetzen, ihrer Geschichte, ihrem Antlitz, ihrer Augen, wie Levinas sagen würde. Jemand wie Costello setzt sich uns aus und bietet sich damit an, dass wir uns ihr aussetzen. Und wir müssen uns ihr aussetzen, wenn wir wissen wollen, was sie heimsucht, und wenn wir nicht möchten, dass sie noch länger isoliert bleibt. Diamonds Vorschlag bezüglich der Tiere lautet, dass wir, statt ausschließlich über sie zu argumentieren, uns auch ihnen aussetzen und anhand unserer Erfahrungen bestimmen, was unsere Gemeinschaft mit ihnen sein könnte. Sich der Lebendigkeit auszusetzen, bedeutet, wie Diamond schreibt, sich dem Tod auszusetzen. Unser Bewusstsein, dafür einen 51
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 696.
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Sich dem Anderen aussetzen
Körper zu haben, schließt mit ein, dass wir uns unserer Verwundbarkeit durch den Tod aussetzen, einer »schier tierischen Verwundbarkeit, die wir mit ihnen teilen.« 52 Unsere Verwundbarkeit anzuerkennen, kann uns Angst machen, aber diese Verwundbarkeit als geteilt, mit anderen Tieren geteilt, anzuerkennen, macht uns angesichts unseres Umgangs mit Tieren nicht nur Angst, sondern isoliert uns, so wie es Costello isoliert hat. Ist es da nicht verständlich, fragt Diamond, dass wir es vorziehen, »zur moralischen Debatte zurückzukehren, in der die Lebendigkeit und der Tod der Tiere nur als Fakten vorkommen, die wir auf diese oder jene Weise als relevant erachten, und nicht als Präsenz, die uns unserer Vernunft entheben könnte?« 53
Cavell schreibt in seiner Replik über Diamond: »Es ist die Erfahrung von Gemeinschaft, nennen wir es den Beweis, dass wir nicht alleine sind in der Welt, und nicht die Debatte über die biologischen Fähigkeiten der Tiere, die nach Diamonds Ansicht das Essen von Tieren unvertretbar erscheinen lässt.« 54
Nach meiner Begegnung mit dem Hund im Park konnte ich mir tatsächlich nicht vorstellen, ein Tier zu essen. Cavell spricht von einem ähnlichen Erlebnis, das er angesichts eines Eichhörnchens hatte, das alltäglich auf akrobatischen Wegen das für die Vögel bestimmte Futter aus dem Vogelhäuschen seines Gartens plünderte, um es anschließend mit seinen Eichhörnchenfreunden zu teilen. Allerdings, wendet Cavell ein, sei er auch, ganz im Gegensatz zu Rind oder Huhn, noch nie auf den Gedanken gekommen, Eichhörnchen zu essen. 55 Auch hatte ich noch nie ein vergleichbares Erlebnis mit einem Schwein oder einer Kuh – dafür mit einem Wildschwein, das mir im Wald über den Weg lief. Oder mit Mauerseglern, die bei gutem Wetter allabendlich ihre Kreise am Himmel ziehen und die sich offenbar nur zu ihrem Vergnügen gemeinsam fallen lassen, im Sturzflug auf den Boden zu schießen, dann beidrehen, um wieder aufzusteigen. 56
Diamond: The Difficulty of Reality, S. 74. Übersetzung D. G. Ebd. 54 Cavell; Stanley: »Companionable Thinking«, in: Cavell, Stanley/Diamond, Cora u. a.: Philosophy & Animal Life. New York 2008, S. 104. 55 Ebd., S. 105 56 Man nennt diese Spiele der Mauersegler, die tatsächlich nur bei gutem Wetter stattfinden, »screaming parties.« Wahrscheinlich sind sie von sozialer Bedeutung. 52 53
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VI. Verantwortung wahrnehmen
Was sagt uns das? Dass es Tiere gibt, deren Lebendigkeit uns davon abhält sie zu essen, während andere Tiere in diesem Sinne »essbarer« für uns sind? Sicher nicht. Ich denke eher, wir haben es so eingerichtet, dass wir gar keine Chance mehr haben, uns diesen Tieren auszusetzen. Wir halten die Schlachthäuser, wie Emerson sagt, in taktvoller Distanz zu unseren Städten. 57 Selbst wenn wir auf Schweine treffen, dann sind sie meist eingepfercht. Wie viel Lebendigkeit soll man da wahrnehmen, wenn sie nichts tun können, außer fressen und sich ein wenig im Dreck zu suhlen? Wir erleben mit Schweinen einfach keine Geschichten, die wir erzählen könnten. Tiere sind für uns meist der Besitz von irgendwem. Das ist keine gute Voraussetzung, sie als unabhängige, von uns getrennte Existenzen wahrzunehmen. Ich möchte nicht ausschließen, dass mein Erlebnis mit dem Hund auch dadurch zustande kam, dass nirgendwo ein Hundebesitzer auszumachen war und ich mir einbilden konnte, dass mir dieser Hund, genauso frei oder unfrei wie ich es bin, begegnete. Gemeinschaft kann ich nur mit einem anderen haben, den ich als anders und getrennt von mir anerkenne. Welche Gemeinschaft kann ich mir mit Tieren, menschlichen und anderen, vorstellen? Wie gesagt, man kann all diese Szenen ganz anders beschreiben – das Foto mit den lebenden und gleichzeitig toten Männern, Klügers Erlebnis im Holocaust, meine Begegnung mit dem Hund. Cavell bezieht sich in diesen Zusammenhang auf Wittgensteins Überlegungen zu »Aspekte sehen«, besonders auf die Hasenente. Wie bei der Hasenente, bei der wir immer das gleiche Bild sehen, aber dennoch einmal die Ente und ein anderes Mal den Hasen wahrnehmen, aber nie beides zugleich, können wir, schreibt Wittgenstein, zum Beispiel ein Gedicht emotional lesen oder die Zeilen einfach nur nach Informationen absuchen, und genauso können auch verschiedene Aspekte meines Erlebnisses mit dem Hund gesehen werden. Ein Aspekt würde dann den anderen verdecken, keiner wäre wahrer als der andere. 58 Die Konsequenz ist, dass mein Verhalten gegenüber Tieren nicht die Folge eines Wissens sein kann, zum Beispiel über bestimmte Merkmale oder Fähigkeiten der Tiere, sondern eine Folge meiner Einstellung zu ihnen. Natürlich könnte man sagen, dass Diamond mit ihrem VorVon Bornheim, Urs N. Glutz (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 9: Columbiformes – Piciformes. Wiesbaden 1994, S. 702 ff. 57 Emerson, Ralph Waldo: Fate. http://www.emersoncentral.com/fate.htm. 58 Cavell: Companionable Thinking, S. 95.
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Sich dem Anderen aussetzen
schlag, sich den Tieren auszusetzen, durchaus eine gewisse Art des Wissens anstrebt – eine Erfahrung, eine Wahrnehmung, aber eben kein Faktenwissen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es geht hier gerade nicht darum, den Wert des Lebens der Tiere gegen den Wert menschlichen Lebens aufzurechnen, sondern um die Wahrnehmung von – menschlicher und tierischer – Lebendigkeit überhaupt. Was wir mit den Tieren gemeinsam haben ist, dass wir leben und sterben. Und es geht darum, welche Schlüsse ich aus einer Achtsamkeit, einem Erstnehmen meiner Erfahrung von Lebendigkeit ziehe. Natürlich erfahre ich die Lebendigkeit eines Tieres anders als die eines anderen Menschen. Mit einem Tier kann ich nicht sprechen – zumindest wird es mir nicht antworten. Ein Tier ist in einem weit größeren Maße anders als ich, als es ein anderer Mensch ist. Diamond bezeichnet mit der »Schwierigkeit der Realität« die Erfahrung des Unvermögens oder der Unmöglichkeit, die Verwundbarkeit des Lebens, die Zerbrechlichkeit alles Guten fassen zu können. Cavell beschrieb in Anklang an Levinas das Trauma, das die getrennte und andere Lebendigkeit des anderen in mir auslösen kann. Ich denke, wir dürfen das als zwei Beschreibungen ein und derselben Erfahrung verstehen. Mit unserer Getrenntheit kann es stets, wie Cavell schreibt, sowohl eine Wendung zum Grandiosen und Schönen als auch zum Entsetzlichen und Abscheulichen nehmen. 59 Wir müssen uns der fremden Lebendigkeit aussetzen. Welche Verantwortung empfinde ich für den Hund, nachdem ich seine Freude gespürt habe? Welche für die Mauersegler? Welche Gemeinschaft wünsche ich mit ihnen? Sicher nicht die gleiche wie mit dir. Aber ich kann mir nicht einmal mit allen Menschen, die ich kenne, die gleiche Gemeinschaft wünschen. So bleibt die Frage von Gemeinschaft immer eine der Haltung zu einem bestimmten anderen Wesen, meiner Haltung dem Hund gegenüber, meiner Haltung dir gegenüber. Welche Verantwortung habe ich für dich, nachdem ich dein Leben in deinen Augen gesehen habe? Dein Leben, das mich schmerzt, weil es getrennt von mir stattfindet, mir fremd ist. Dein Leben, in dem Dinge geschehen und in dem du Dinge geschehen lässt, die ich nicht will. Dein Leben, das genauso endlich und genauso anders ist wie meines. Was darf ich von dir erwarten? Was machst du aus dem Leben in meinen Augen?
59
Cavell: Der Anspruch der Vernunft, S. 779.
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Schluss
Unser Verhältnis zur Welt ist keines des absoluten Wissens. Cavell zufolge ist das die Wahrheit, die uns der Skeptizismus vor Augen führt. Andere sind von uns getrennt – und wir können deswegen nicht mit totaler Sicherheit sagen, was in ihnen vorgeht. Wir sind nicht eins mit ihnen, wir sind nicht eins mit der Welt. Wir sind etwas oder jemand anderes. Cavell, will zeigen, dass Wittgensteins Kriterienlehre uns ebenfalls auf die Wahrheit des Skeptizismus aufmerksam macht. Da wir voneinander getrennt sind, haben wir unsere Sprache, um uns zu verständigen. Wir verstehen einander, weil wir bestimmte Kriterien miteinander teilen, die uns sagen, was ein bestimmtes Zeichen oder ein bestimmtes Wort bedeutet. Zum Beispiel erkenne ich, dass du Schmerzen hast, weil ich dein Weinen, dein Gesichtverziehen und deinen Wunsch, dass ich mich um dich kümmere, als unsere menschlichen Kriterien für »Schmerz« akzeptiere. Mit Hilfe der Kriterien identifiziere ich etwas als Zeichen für etwas. Zum Beispiel ein bestimmtes Verhalten als ein Verhalten für Schmerz. Doch nichts, auch kein Kriterium, kann für mich hundertprozentig sicherstellen, dass dein Schmerz wirklich existiert. Das bedeutet, dass wenn ich deine Schmerzäußerungen als einen Ausdruck von Schmerz akzeptiere, ich deinen Schmerz anerkenne. Mein ganzes Wissen von dir ist Wissen, das ich als mein Wissen anerkannt habe. Doch Wittgensteins Diskussion der Kriterien wiederholt nicht nur die Wahrheit des Skeptizismus, sondern sie geht, wie Cavell darlegt, weit darüber hinaus. Sie führt vor, dass wir zur Welt und zu anderen in einem Verhältnis der Anerkennung stehen. Wir müssen das Gewöhnliche, um uns herum anerkennen, um etwas über es zu erfahren. Und wir müssen unsere gewöhnliche Sprache, die Art, wie wir für gewöhnlich etwas sagen, anerkennen, um etwas von anderen zu erfahren. Das ist unsere menschliche Weise, Wissen zu erlangen. Und diese ist, auch das müssen wir anerkennen, fallibel. Wir können uns irren. 362 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Schluss
Da unser Sprechen auf miteinander geteilten Kriterien basiert, kann unsere Kommunikation jederzeit zusammenbrechen oder in überhaupt nicht von uns intendierte Richtungen verlaufen. Das Bewusstsein über diese Tatsache unserer Sprache, das Bewusstsein über unsere Getrenntheit, nährt in uns den Skeptizismus, den Zweifel an allen mit anderen geteilten Bedeutungen. Der Skeptizismus meint, dass wir irgendwie enger miteinander verbunden sein müssten. Dass es diese Unsicherheit zwischen uns nicht geben dürfte. Tatsache ist aber auch, dass unsere Kommunikation trotzdem in den allermeisten Fällen sehr gut funktioniert, dass sie nicht zusammenbricht oder völlig unerwartet und ungünstig verläuft. Wir Menschen können so schnell und effektiv miteinander sprechen, weil wir im Allgemeinen miteinander übereinstimmen. Menschen finden nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Großen und Ganzen die gleichen Sachen wichtig, interessant, lachenswert, unangenehm oder schrecklich. Die Philosophien Cavells und Wittgensteins bestehen somit sowohl aus einer Demütigung, wie auch aus einer frohen Botschaft, denn sie zeigen in einem Zuge, dass wir, wie Cavell es ausdrückt, »Leben von zugleich absoluter Getrenntheit und unendlicher Gemeinsamkeit leben«. 1 Dem Skeptizismus nachzugeben würde bedeuten, wegen der Enttäuschung über unsere Getrenntheit unsere Gemeinsamkeit aufzugeben. Der Skeptizismus wird angetrieben von Ängsten oder Phantasien der Isolation und des Abgeschnittenseins. Philosophische Versionen solcher Ängste sind beispielsweise der Solipsismus, also die Vorstellung, ganz allein auf der Welt zu sein, oder das Bild, eine Kluft würde uns voneinander trennen. Im Alltag äußern sich diese Ängste eher in Gedanken wie dem, dass man meint, niemandem jemals wirklich nahe sein zu können. Zumindest nicht so nah, wie es eigentlich sein sollte. Dass man verloren ist, auf ewig fremd, abgeschnitten von Anderen und ihrem Erleben. Was der Skeptiker wirklich fürchtet ist, dass er leiden kann und es niemand sehen könnte. Auf diese Ängste reagiert der Skeptiker, indem er nach absolutem Wissen sucht, weil er meint, dass er sich nur dann seiner Verbindung zur Welt und vor allem zu anderen Menschen sicher sein könnte. Er verkennt dabei, dass die Frage, ob sein Leiden erkannt wird, keine des Wissens, sondern der Anerkennung ist. In Wirklichkeit ist es erst der Skeptizismus, der uns isoliert und abschneidet, denn mit der Suche nach absolutem Wissen verwerfen wir jegliches menschliches Wissen – wir 1
Cavell: Die andere Stimme, S. 11.
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Schluss
verwerfen unser gesamtes Wissen von der Welt und von anderen, wir erkennen es nicht mehr an. Diejenigen, die den Skeptiker widerlegen wollen, sind aber genauso skeptizistisch wie er, denn auch sie beteiligen sich an der Suche nach absolutem Wissen. Sie meinen, sie müssten und könnten den Zweifel ausräumen, indem sie beweisen, dass wir mit völliger Sicherheit wissen können. Der Zweifel ist aber nicht zu widerlegen. Der Skeptizismus bleibt immer eine Möglichkeit. Die Versuche, den Zweifel durch absolutes Wissen zum Verstummen zu bringen, müssen deswegen immer in noch tieferem Skeptizismus enden. Für Cavell sind die Widerlegungsversuche des Skeptizismus Teil des Skeptizismus selbst. Deswegen nennt er jedes Denken, das die Existenz der Welt und unsere Verbindung zur Welt zu einem Problem des Wissens macht, Skeptizismus. Die Wittgensteinianer, die den Skeptizismus nicht direkt widerlegen wollen, sondern zeigen möchten, dass er einfach nicht relevant für unsere Lebensrealität ist, weil wir mittels unserer Sprache mit ziemlicher Sicherheit wissen können, was in anderen vorgeht, ignorieren wiederum den Skeptizismus als einen natürlichen Zug des Menschlichen. Dabei ist der Skeptizismus Ausdruck einer Angst, die jeden Menschen jederzeit überkommen kann. Es ist damit das Menschliche, das sie in ihrer Philosophie aus dem Auge verlieren. Diese Wittgensteinianer negieren darüber hinaus die Verantwortung, die wir für unser Sprechen haben. Sie sublimieren die Sprache und meinen, sie würde unsere Verbindungen für uns regeln. Aber es sind wir, die dafür Sorge tragen müssen, dass unsere Verbindungen bestehen bleiben. Wittgenstein selbst, das betont Cavell immer wieder, hat im Gegensatz zu vielen seiner Anhänger, stets um die menschliche Angst, die hinter dem Skeptizismus steht, gewusst. Im Gegensatz zu ihnen hat er stets unsere individuelle Verantwortung für unsere Sprache betont – und damit auch betont, dass wir täglich im Begriff sind, unsere Verantwortung zu leugnen. Für Cavell sind die Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins eine Darstellung unseres Lebens als ein ewiges Ringen mit dem Skeptizismus. Damit uns andere verstehen können, damit andere etwas von uns wissen können, müssen wir uns ausdrücken. Wir müssen uns anderen verständlich machen. Damit wir etwas über andere erfahren können, müssen wir ihre Ausdrücke lesen. Um die Ausdrücke anderer lesen zu können, muss mir gewahr sein, dass es ihnen, genau wie mir, nicht immer gelingt, sich richtig auszudrücken, dass es ihnen schwerfallen kann, sich auszudrücken, obwohl sie es vielleicht gerne 364 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Schluss
würden. Oder dass sie etwas ausdrücken, was ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie sich nicht immer auf dem »direktesten« Wege offenbaren werden. Mir muss demnach also gewahr sein, dass die Begegnung mit anderen und die Kommunikation mit ihnen eine andauernde, gegenseitige Interpretationsleistung ist. Weil wir die Verantwortung für unsere Ausdrücke tragen und dafür, die Ausdrücke anderer zu verstehen, stehen wir in einem Verhältnis der unendlichen Verantwortung zueinander. Der Skeptizismus präsentiert sich als Alternative dazu, unsere Verantwortung für unsere Sprache und andere anzunehmen. Doch ist er keine echte Alternative, denn es kann keine Alternative zur Tatsache unserer Getrenntheit und Andersheit geben. Wie sollten wir anders existieren als getrennt voneinander? Wären wir nicht getrennt, dann würde es uns als Individuen nicht geben. Wir könnten also auch gar nicht zusammen sein. Der menschliche, skeptizistische Wunsch nach größerer Verbundenheit ist demnach absurd. Er ist aber auch gewalttätig. Denn die einzigen Möglichkeiten, Getrenntheit endgültig aufzulösen, bestehen entweder darin, die von mir getrennte Existenz eines anderen zu beenden oder eben meiner von ihm getrennten Existenz ein Ende zu setzen. In Radioheads Where I End and You Begin finden wir eine Darstellung sowohl der Absurdität als auch der Gewalttätigkeit des Wunsches nach einer metaphysischen Vereinigung mit anderen – und zwar mit dem Bild des Kannibalismus. Nachdem in diesem Lied zuerst dem Bedauern über unsere Getrenntheit Ausdruck verliehen wird, mündet es in die mehrmalige manische Androhung, den anderen aufzufressen. Jemanden zu verschlingen heißt, tatsächlich sich mit ihm zu verbinden, ihn in sich aufzunehmen – es bedeutet aber auch, dass ich töten muss, dass seine Existenz enden muss. Es gibt ihn dann nicht mehr und ich kann nicht mehr mit ihm verbunden sein. Es gibt nur noch mich. Ich bin wieder allein. Dieser Akt des Aufessens ist natürlich eine künstlerische Dramatisierung. Cavell geht es aber auch darum zu zeigen, dass ich jemanden nicht im tatsächlichen Sinne töten muss, um ihn zu töten. Es reicht, seine Existenz für mich zu beenden. Ich töte ihn, indem ich den Anspruch, den sein Leben an mich stellt, ignoriere, indem ich seine Bedürfnisse und seine Nöte nicht mehr zum Teil meiner Wahrnehmung mache, indem ich meine Augen vor ihm verschließe und nicht mehr wahrnehme, wer er ist, was er mir zeigt und was es bedeutet – hier, vor mir – er zu sein. Das Töten des anderen besteht also darin, 365 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Schluss
dass ich ihn nicht mehr wahrnehme, ihn aus meinem Leben entferne. Ich töte mich damit gewissermaßen auch selbst, weil ich mich gleichermaßen aus seinem Leben entferne. Wenn wir einen anderen auf diese Weise töten, dann ersetzen wir seine fremde lebendige Präsenz durch Phantasien und Bilder von ihm, die vor allem uns selbst entspringen. Wir nehmen die Äußerungen seines Lebens nicht mehr wahr. Wir lassen dann nicht mehr zu, dass uns »das andere« berührt, obwohl es die ganze Zeit direkt vor uns liegt. Der Schriftsteller David Foster Wallace (1962–2008) sprach einmal von der enormen Anstrengung, die es bedeutet, für andere »aufmerksam zu bleiben und sich von dem ständigen Monolog im Kopf nicht einlullen zu lassen.« 2 Es ist so, als gäbe es immer etwas in uns, das uns den Blick auf das, was direkt vor uns liegt, verschleiert. Etwas, das uns in einem inneren Monolog verharren lässt und nicht sehen lässt, was ganz einfach zu sehen wäre. Bei diesem »Etwas« kann es sich um viele Dinge handeln: Narzissmus, Hochmut, Schmerz oder Scham, um nur wenige Beispiele zu nennen. Für Foster Wallace ist es die Aufgabe der Geisteswissenschaften, uns dabei zu helfen, uns aus unseren immer wieder neu einsetzenden inneren Monologen zu befreien. 3 Es geht um die Befreiung aus einem um sich selbst kreisenden Denken – Descartes nannte es einen tiefen dunklen Strudel –, das mich andere nicht mehr beachten lässt, das mich von anderen und der Welt wegschließt. Und auch Cavell stellt die Philosophie in den Dienst der Befreiung von dieser Selbstgefangennahme. Das Denken, das er dem selbstbezogenen Denken gegenüberstellt, nennt er »Denken als Wahrnehmen und Annehmen«. 4 Es ist ein Denken, das sich bereit dafür zeigt, sich aufbrechen zu lassen – von Erfahrungen der Andersheit, auch wenn diese zunächst sehr fremd erscheinen mögen. Es ist ein Denken, das andere miteinschließt, das sich der Andersheit aussetzt. Der Skeptizismus ist für Cavell ein ewiger innerer Monolog, ein vollkommen auf sich selbst bezogenes Denken. Bei Othello, Lear und Leontes, Shakespeares tragischen Helden, können wir erleben, wie sich Männer in ihren Gedanken selbst gefangen nehmen. Sie ergehen sich in Phantasien über die Frauen, die sie lieben – und kein äußerer Foster Wallace, David: Das hier ist Wasser. Köln 2012, S. 18. Ebd., S. 19 f. 4 Cavell: Senses of Walden, S. 132 f./Cavell: Conditions Handsome and Unhandsome, S. 38. 2 3
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Schluss
Eindruck, keine Äußerung, kein Wort kann das Hin und Her ihres Zweifels unterbrechen oder beenden. Die Frauen haben hier keine Stimme mehr, sie können mit den Männern nicht mehr sprechen. Der Dialog zwischen den Ehepartnern – oder bei Lear der Dialog zwischen Vater und Tochter – ist ganz und gar einem Monolog der Männer gewichen. Für Cavell sind die Protagonisten der Shakespeare-Tragödien Skeptiker kartesischer Prägung. Entscheidend ist für ihn, dass wir bei Shakespeare sehen können, dass der Skeptizismus anders motiviert ist als wie wir anfangs glaubten, anders als der Skeptiker uns und sich selbst glauben machen wollte. Die Shakespeare-Helden sagen, dass sie an der Treue der Frauen zweifeln, weil sie gute Gründe haben, weil sie es müssen. Tatsächlich müssen sie aber gar nicht zweifeln. Der Zweifel stellt stets nur eine Möglichkeit für sie dar. Eine Möglichkeit, die sie ergreifen, um von dem, was sie eigentlich umtreibt und quält, abzulenken. Und was sie quält, ist alles, was die getrennte Existenz ihrer Frauen für sie bedeutet. Othello kann nicht ertragen, dass Desdemona anders ist als er annahm. Dass sie Seiten hat, die er nicht kannte oder die er an ihr nicht vermutet hatte. Dass sie des Nachts eine Leidenschaft offenbart, die sie tagsüber verbirgt. Er kann nicht ertragen, dass sie unabhängig von ihm existiert, dass es einen Raum ihres Erlebens gibt, an dem er nicht teilhaben, sondern den er nur von außen beobachten kann. Vor allem kann er nicht ertragen, dass er selbst durch seine Liebe so abhängig ist von diesem von ihm unabhängigen Wesen. Er glaubt, diese Abhängigkeit mache ihn schwach. Von Shakespeare gewinnt Cavell also die Erkenntnis, dass der Skeptizismus ein Ablenkungsmanöver ist, mit dem der Skeptiker seine Angst vor dem eigenen Schwachsein überspielen will. Das eigentliche Problem des Skeptikers ist demnach nicht zu wenig Wissen, sondern zu viel Wissen. Der Skeptiker wird nicht angetrieben von einem Wissen, das ihm fehlt, sondern von einem, das er nicht anerkennen kann oder will. Othellos Problem ist nicht, dass er von Desdemonas Existenz nicht weiß, sondern dass er weiß, dass sie getrennt von ihm existiert. Sein Problem ist nicht, dass er nicht um ihre Treue weiß, sondern dass er weiß, dass ihn die Liebe zu ihr im gewissen Sinne schwach macht. Indem er ihre Treue anzweifelt, versucht er nur, sich dieser Liebe zu entledigen. Das alles lässt wiederum Rückschlüsse auf die Beweggründe der philosophischen Skeptiker ziehen. Descartes zweifelt demnach nicht, weil er kein sicheres Wissen über 367 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
Schluss
die Welt hat, sondern weil er unzufrieden ist mit dem, was sein Wissen von ihm abverlangt – unzufrieden mit dem, was eine getrennte Welt von ihm abverlangt. Er erkennt seine eigene Endlichkeit nicht an, erkennt nicht an, dass seine Verbindungen zur Welt nicht fest und für immer gesichert sind, sondern dass er jeden Tag selbst für sie Sorge tragen muss. Der kartesische Skeptizismus interpretiert die offensichtliche menschliche Endlichkeit als Schwäche, die er nicht akzeptieren will. Im Skeptizismus steckt also ein unerhörter, übermenschlicher Machtanspruch. Descartes machte Gott zu seinem Idealfall des Wissens. Er sagte sich, wenn er über Gott Bescheid weiß, dann ist sein Wissen als Ganzes gesichert. Auf die gleiche Weise verfahren die Skeptiker in den Shakespeare-Tragödien. Bei ihnen allerdings muss ein anderer Mensch die Rolle Gottes übernehmen. Für Othello ist Desdemona der Idealfall des Wissens, von dem er seine Möglichkeit, über die Welt zu wissen, ganz und gar abhängig macht. Als er feststellen muss, dass seine Bedingungen des Wissens hier nicht erfüllt werden, dass er nicht alles über Desdemona wusste, meint er, dass sein Wissen als Ganzes und damit seine Welt zusammenbricht. Spätestens bei Othello, Leontes und Lear zeigt sich, dass die Idealfälle des Wissens im echten Leben stets Fälle von Liebe sind. Warum sollten sich diese Männer gerade diese Frauen als Idealfälle aussuchen, wenn nicht aus Liebe? Warum sonst sollte ein einzelner Mensch für die ganze Welt eines anderen stehen, wenn nicht aus Liebe? Der Wunsch dieser Männer nach metaphysischer Vereinigung konnte nur bei den Frauen, die sie lieben, eine solche Dringlichkeit entwickeln, dass bei der Nicht-Erfüllung dieses Wunsches, ein derart tödlicher Skeptizismus motiviert wird, wie wir ihn in diesen Tragödien erleben. Der Gott, den Descartes sich schuf, war ein Besitz-Gott. In seinem Anspruch, über Gott mit Sicherheit wissen zu wollen, steckt in Wahrheit der Wunsch, über ihn verfügen zu wollen. Auch Othello will in Wirklichkeit gar nicht wissen. Denn wenn er wirklich wissen wollen würde, dann würde er ja hinsehen. Er würde seine Frau ansehen und anerkennen, was es für ihn zu wissen – und zu lieben – gibt. Was Othello aber wirklich damit erreichen will ist, seine Frau zu besitzen. Mit dem absoluten Wissen, das er anstrebt, versucht er sie komplett zu durchdringen oder sie sich einzuverleiben: Er will zu dem werden, was sie ist, und sie soll werden, was er ist. Und als er merkt, dass er endlich ist, dass er ihre Existenz nicht zu seiner machen 368 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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kann, da will er, dass sie gar nicht mehr existiert. Er brandmarkt sie mit seinem Zweifel, tötet sie mit seinen Verdächtigungen und seiner Eifersucht – und schließlich mit einem Kissen, das er auf ihr Gesicht presst. Das ist sein Weg, ob seiner Ohnmacht ihr gegenüber Macht zu behalten. Ihre Getrenntheit kann er aber auch damit nicht durchbrechen. Othello und die anderen tragischen Helden Shakespeares hängen einer Idee der Liebe als Verschmelzung an. Als sie erkennen müssen, dass die Liebe anders ist, als sie es sich vorgestellt haben, können sie dieses Wissen nicht anerkennen und ihre Leben nicht neu bewerten. Das Tragische an ihnen ist, dass sie die echte Liebe, die ihnen angeboten wird, nicht akzeptieren können – die echte Liebe, die eben nicht wie die populäre Vorstellung sagt, aus den zwei Hälften einer Seele besteht, sondern aus zwei Seelen. Echte Liebe zu akzeptieren, bedeutet zu akzeptieren, dass ich von jemandem, der völlig unabhängig von mir selbst existiert, abhängig bin. Und es bedeutet zuzulassen, dass ich von diesem anderen mit meiner Abhängigkeit und meinem Schwachsein gesehen werde. Aber das ist, was weder Lear noch Leontes oder Othello wollen: mit der eigenen, nur menschlichen Schwäche und Bedürftigkeit gesehen zu werden. Sie können ihr Menschsein genauso wenig annehmen wie Descartes. Die erste Frage, die sich diese Skeptiker stellen sollten, ist nicht »Was kann ich wissen?« oder »Wie sicher kann ich mir sein?«, sondern »Habe ich es zugelassen, geliebt zu werden?« Die zentrale Botschaft Cavells lautet, dass wir, um mit anderen glücklich werden zu können, die Phantasien einer übermäßigen Intimität, einer metaphysischen Verbundenheit aufgeben müssen. Erst auf der Basis der Anerkennung unserer Getrenntheit und Andersheit können wir einen Bund eingehen, der uns nie die Nähe und Gemeinschaft ermöglicht, der wir tatsächlich bedürfen. So einen Bund nennt Cavell eine Ehe. Wie die Shakespeare-Tragödien gezeigt haben, bedeutet Getrenntheit und Andersheit anzuerkennen auch die eigene Endlichkeit und Schwäche einzugestehen, damit gesehen zu werden, und auch, die Schwäche und Endlichkeit anderer zu akzeptieren. Leontes ist der einzige von den hier genannten Shakespeare-Charakteren, dem das doch noch gelingt und der seine Frau neu wahrnehmen kann. Deswegen steht am Ende seiner Geschichte eine erneute Hochzeit mit ihr. Wieder ist hier Cavells Begriff des Denkens als wahrnehmen und annehmen von entscheidender Bedeutung. Denn um eine Ehe 369 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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in Cavells Sinne eingehen zu können, müssen wir uns von einem besitzergreifenden Denken, dem übermenschlichen Anspruch, mit Absolutheit zu wissen, verabschieden und uns in Richtung eines Denkens bewegen, das ein Interesse am anderen als einen wirklich anderen hat. Ein Denken, das ihn wahrnimmt und annimmt und ihn intakt lässt. Ein Denken, das die Getrenntheit des anderen und meine Getrenntheit von ihm und dem Rest der Welt nicht als Zumutung, sondern als einfach nur gewöhnlich begreift. Emerson und Thoreau haben uns gelehrt, dass diesem Begreifen eine Bereitschaft zur Trauer vorausgehen muss. Trauer darüber, dass Missverständnisse und Nicht-verstehen, dass Fremdheit, Distanz und Einsamkeit zu unserem Leben gehören – selbst dort, wo wir zuhause sind. Trauer auch darüber, dass sich unsere Träume von ewiger, ununterbrochener Nähe und Geborgenheit niemals erfüllen werden. Dass wir weder alles sein können, noch immer sein können, dass wir endlich sind, dass es Leben gibt, das jenseits von uns geschieht. Trauer um die Welt, die wir verloren haben oder die stets im Begriff ist, uns verloren zu gehen. Mit der Formel »mourning for a new morning« drückt Thoreau aus, dass, wenn wir lernen, die Welt und unsere Getrenntheit von ihr trauernd anzuerkennen, für uns ein neuer Morgen anbrechen kann, der im Zeichen neuer Verbundenheit steht. Nur wenn ich die Welt als getrennt von mir akzeptiere, kann ich mich wieder von jeder einzelnen Erscheinung lieben lassen. In den Filmen, die Cavell die Wiederverheiratungskomödien nennt, können wir Paare beobachten, denen auf der Basis von anerkannten Erfahrungen der Getrenntheit und Andersheit die Gestaltung eines neuen Bundes, einer neuen Ehe gelingt. Am Anfang steht mit einer Scheidung die Krise des Paares, die klar macht, dass es so wie zuvor mit ihnen nicht weitergehen kann und wird. Um wieder zusammenkommen zu können, muss jedes dieser Paare Schwierigkeiten bewältigen, die alle mit der Tatsache unserer Getrenntheit und Andersheit verbunden sind. In Es geschah in einer Nacht muss der Mann anerkennen, dass die Frau seiner Träume die Frau ist, die ihm in Fleisch und Blut gegenüber steht. Er muss also anerkennen, dass die Erfüllung seines Lebenstraumes und sein Glück von einem von ihm getrennten Menschen abhängig ist, dass er von diesem Menschen abhängig ist. In Die Nacht vor der Hochzeit muss die Frau ihre eigene Schwäche und Bedürftigkeit sehen und akzeptieren, damit sie sie auch an anderen sehen und akzeptieren kann. Sie muss sehen, dass sie nicht immer eine starke Persönlichkeit ist, sondern dass sie auch 370 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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anders ist, so wie alle Menschen anders sind. Sie muss sehen, dass Menschsein aus Andersheiten besteht, dass wir mal stark, mal schwach, mal gesittet, mal entfesselt sind. Die Eheleute aus Die schreckliche Wahrheit müssen wiederum lernen, sich erneut als getrennt und anders wahrzunehmen, um ihr Zusammensein wieder genießen zu können. Erst als jeder von ihnen den anderen wieder als einen wirklich anderen, unabhängigen Menschen begreift, können sie die Tatsache, dass der andere bei ihnen sein will und sie begehrt, wieder als ein tägliches Kompliment verstehen. All die Ehepaare in diesen Filmen haben sich einmal getrennt und dann wiederverheiratet. Fortan werden sie jeden Tag von Neuem ihre Getrenntheit und ihre Zusammengehörigkeit bestätigen müssen. Sie müssen jeden Tag Hochzeit feiern. Nur in der Anerkennung dieser Wiederholung können sie anhaltendes Glück finden. Weil wir das, was sich in unserem Leben wiederholt, gewöhnlich nennen, ist diese Anerkennung auch eine Anerkennung des Gewöhnlichen. Die Wege, über die man zur Welt und zur Gemeinschaft zurückkehrt, nachdem man sich von ihnen entfernt hatte, können nur als individuelle Geschichten beschrieben werden. Man kann wie Thoreau im Wald unter den Bäumen sitzen und darüber ein Buch schreiben oder ganz unerwartet in einem Lied Bedeutung finden oder so wie die Protagonisten der Wiederverheiratungskomödien durch die Worte eines anderen plötzlich für das Reich des anderen geöffnet werden. Anders als bei den Ehen in den Tragödien Shakespeares bricht das Gespräch zwischen den Ehepartnern in den Filmen nie ab. Sie nehmen die Herausforderung der Kommunikation an und geben es nicht auf, sich gegenseitig verständlich zu machen und neu zu verstehen. Sie bezeugen einander ihre Bereitschaft, jeden Tag von Neuem spielerisch nach Umgangsmöglichkeiten mit ihrer Getrenntheit zu suchen. Das endet nicht selten in lächerlichen Situationen, aber wenigstens haben die beiden dann ein paar gute Lacher zusammen. Während die Tragödie unsere Getrenntheit als schrecklich interpretiert, ist die Komödie gewillt, in ihr gemeinsam Freude zu finden. Für Cavell sind Tragödie und Komödie damit nicht nur Dramenformen, sondern auch Lebenshaltungen. Dabei ist die Komödie diejenige Haltung, die durch die Bereitschaft zu trauern bedingt wird. Es geht bei Cavell im Kontext der Wiederverheiratungskomödien in gleich mehrerlei Hinsicht darum, eine Haltung zu entwickeln. Die Ehepartner müssen auch zu der Ehe, die sie führen, eine Haltung annehmen. Weil es durch den Wegfall der unbedingten Autorität von 371 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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Kirche, Familie und Tradition keine objektiven Wertmaßstäbe mehr gibt, anhand denen wir beurteilen können, ob eine Ehe richtig ist oder nicht, sind Paarbeziehungen heute einer, wie es die Soziologin Eva Illouz bezeichnet, immensen ontologischen Verunsicherung ausgesetzt. So müssen die Ehepartner sich täglich selbst prüfen, ob ihre Ehe sie, so wie sie ist, glücklich macht und deswegen gut und fortsetzungswert ist. Auch hier muss eine tägliche Wiederholung stattfinden, denn die Ehepartner müssen sich jeden Tag erneut bestätigen, dass sie diese Ehe noch wollen. Niemand wird ihnen das abnehmen und es für sie entscheiden. Diese Herausforderung an die Eheleute verweist auf eine übergeordnete Problematik: In Zusammenhang mit Shakespeare hatte Cavell den Skeptizismus zum ersten Mal als ein Problem unserer Zeit definiert. Aus der durch die Moderne gewonnenen Freiheit, selbst entscheiden zu können, wie wir leben wollen, folgt auch die moderne Pflicht, selbst entscheiden zu müssen, wie wir leben wollen. Doch wie entscheide ich innerhalb der unüberblickbaren Pluralität der Meinungen, welches Leben das richtige für mich ist? Jede Wahrheit steht neben unendlich vielen anderen Wahrheiten und ist deswegen grundsätzlich zweifelhaft. Der Skeptizismus stellt sich hier als Schwierigkeit dar angesichts dieser Vielfalt von Wahrheiten, der Vielfalt von Andersheiten, eine eigene Wahrheit für sich selbst und das eigene Leben zu finden. Als die sozialen Wesen, die wir sind, können wir nur selten Wahrheiten für uns ganz allein finden. Wir sind abhängig von der kommunikativen Bestätigung und Anerkennung durch andere. Das heißt, wir müssen innerhalb der vielen Menschen, die uns umgeben, einige finden, die uns in dem, was wir tun, bekräftigen und die uns Anerkennung zukommen lassen. Wir müssen uns gerade in unserer Verunsicherung eine Gemeinschaft innerhalb der Gemeinschaft aller Menschen suchen, damit wir mit Selbstvertrauen festlegen können, was für uns wichtig, von Bedeutung, richtig und wahr ist. Die tragischen Helden Shakespeares konnten dadurch, dass sie Gemeinschaft und Gemeinsamkeit mit anderen komplett aufkündigten – vor allem die Gemeinschaft mit ihren Ehefrauen –, überhaupt nicht mehr sagen, was von Bedeutung ist und was für sie Bedeutung hat. In gelingenden Ehen, wie Cavell sie anhand der Wiederverheiratungskomödien definiert, wird dagegen die Konversation der einander Liebenden aufrechterhalten, so dass sie zusammen, durch gegenseitige Anerkennung und Bestätigung, der Welt Bedeutung geben können. 372 https://doi.org/10.5771/9783495808245 .
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Die Ehe ist bei Cavell demnach eine bedeutungskonstitutive Gemeinschaft. Dabei muss angemerkt werden, dass die Ehe bei Cavell auch ein Bild für Freundschaft ist. Dass er also mit allem, was er über die Ehe sagt, auch Beziehungen zwischen Menschen meint, die sich freundschaftlich sehr zugetan sind. Wir müssen also zusammen mit den Menschen, die wir unsere Freunde nennen oder die wir lieben, entscheiden, was wichtig für uns ist. Der vorhin schon einmal erwähnte David Foster Wallace schreibt, dass es darum gehe, »zu entscheiden worauf man achtet, und sich zu entscheiden, wie man aus Erfahrungen Sinn konstruiert.« 5 Die skeptizistische Alternative wäre ein unreflektiertes Leben: also entweder ein Versinken im Nihilismus, einem Meer von Tatsachen, die alle gleichgültig sind – oder ein Existieren im Konformismus, in dem ich nur den anderen folge, was mich von allem, was ich tue und erlebe, distanziert. Der hier beschriebene Prozess der selbsttätigen, dialogischen Bedeutungsfindung soll nicht dazu dienen, kleine Gemeinschaften zu bilden, die dann alle weiteren Andersheiten ausschließen. Ehen, Familien, Freundschaften sind, wie Cavell sie sich vorstellt, keine abgeschlossenen Zellen, die gegen alles ihnen Fremde abgeriegelt sind, sondern echte Gemeinschaften, die schon Fremdheit in sich anerkannt haben. Nein, dadurch dass ich in der Konversation mit meinen Allernächsten – die ja auch anders sind als ich – Erfahrungen bewerte, manche Haltungen annehme und andere verwerfe, soll eine Begegnung mit Andersheit in jeder Form möglich werden. Wenn ich selbstbewusst sagen kann, was für mein Leben wichtig ist und mir bewusst bin, dass ich getrennt von anderen existiere, dann muss ich Andersheiten auch nicht länger als Bedrohung meiner Existenz empfinden. Ich kann aus dem Bewusstsein meiner Getrenntheit und Andersheit offen der Fremdheit anderer begegnen. Ich kann die Andersheit der anderen anerkennen als das was sie sind: Ausdrücke von mir getrennter Lebendigkeiten, die neben mir existieren und die manchmal mein Leben verändern können. Für einen Philosophen, der über Getrenntheit und Andersheit nachdenkt, schreibt Cavell bemerkenswert wenig über das Aufeinandertreffen von Andersheiten, die von kulturellen Differenzen oder unterschiedlichen sozialen Realitäten herrühren. Das liegt daran, dass Cavell gewissermaßen Grundlagenphilosophie betreibt. Er fragt da5
Foster Wallace: Das hier ist Wasser, S. 18.
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nach, was wir mitbringen müssen, um anderen Menschen begegnen zu können, und er schließt damit alle Menschen ein, unabhängig wie unterschiedlich sie sind. Er geht nämlich davon aus, dass die grundsätzlichen Fähigkeiten und Einstellungen, die wir brauchen, um einem Menschen aus einer fremden Kultur näher kommen zu wollen, genau dieselben sind, wie die, die wir benötigen, wenn wir unserem Nachbarn, unserer besten Freundin oder unserem Ehemann näher kommen wollen. Denn, um Thoreau zu zitieren, alles, was ein anderer von seinem Innersten preisgibt, muss zu uns wie aus einem »fremden Lande« kommen, »denn wenn er aufrichtig gelebt hat, so muss das fern von hier gewesen sein.« 6 Wittgenstein sagt, »dass ein Mensch für einen andern ein völliges Rätsel sein kann.« Das erfahre man, »wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht.« 7 Ich meine, es geht hier darum, auch die Menschen, die neben uns wohnen oder liegen, als fremde Länder zu sehen, ihre Herkünfte, Geschichten und Lebenskontexte als anders als unsere eigenen zu begreifen. Wir müssen sie immer noch kennenlernen. Damit soll natürlich nicht verschleiert werden, dass sich das Ausmaß der Andersheit durch kulturelle Unterschiede immens vergrößern kann. Wir müssen uns der Andersheit aussetzen. Fremde Lebendigkeit kann uns, wenn sie als solche erkannt wird, schockieren. Wir können überwältigt werden von dem Gefühl, dass dort dieses Leben, ganz in unserer Nähe, ganz getrennt von uns existiert – auch ohne uns existiert –, von der Tatsache, dass es so verletzlich ist, so verletzlich wie unser eigenes, dass es so wunderbare und so furchtbare Wendungen nehmen kann. Es ist von uns nicht vollständig zu begreifen. Deswegen fliehen wir immer wieder vor diesem Gefühl. Cavells Philosophie ist eine Aufforderung, es anzunehmen und es wahrzunehmen, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, um dann zu entscheiden, was es für einen bedeutet – welche Verantwortungen und welche Formen der Gemeinschaft daraus folgen. Die Antworten, die wir auf diese Fragen finden, können nicht zuallererst von äußeren Argumenten abhängen, sondern sie müssen – das heißt, sie müssen zwangsläufig – Ausdruck einer inneren Haltung sein, die wir zu einem anderen Leben einnehmen. Wie nehmen wir die Körper um uns herum wahr? Als tot, als 6 7
Thoreau: Walden, S. 16. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen Teil II, S. 568.
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wandelnde Leichen oder steinerne Statuen? Als Verstecke, in denen sich die Seelen verbergen? Oder als alles, was es jemals von anderen in dieser Welt geben wird – als den Platz, den ihre Seelen in dieser Welt einnehmen, an dem sie sich fortwährend offenbaren? Es ist unsere Entscheidung und wir müssen lernen, dass es unsere Entscheidung ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass Othello, bevor er Desdemona umbrachte, sie schon zuvor in seinem Geist tötete. Die Geschichte bestätigt, dass jedem Akt des Tötens ein anderer voranging und der Mensch täte gut daran, schon den ersten zu vermeiden. »Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, dass es nicht geschehe, oder nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, dass es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muss.« 8
Jonas, Hans: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt 1987, S. 47.
8
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Abbildungsnachweise Abbildung 1: Treppenhaus im Darmstädter Schloss, S. 98. Foto: Bastian Kühn Abbildung 2: Bild des kochenden Topfes, S. 137. Zeichnung: Anne Steppeler Abbildung 3: Transparent am Staatstheater Darmstadt, S. 153. Foto: Boris Giltburg (http://bgiltphotos.wordpress.com/) Abbildung 4: Die Hasenente von Lutz Bacher auf dem Dach des Portikus in Frankfurt, S. 160. (http://www.contemporaryartdaily.com/wp-content/uploads/ 2013/02/LutzBacher_01-b.jpg)
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