Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen [2. Auflage - Neuauflage] 9783839423004

Die Leitfrage dieser nun in Neuauflage erscheinenden soziologischen Analysen von Wissenschaft, Universität, Professionen

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German Pages 360 [358] Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Vorwort zur Neuauflage
I.
1. Differenzierung der Wissenschaft
2. Die Autopoiesis der Wissenschaft
3. Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems
4. Technik, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftli
5. Physik an deutschen HochschulenAkademische Kultur und die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin (1780-1920)
6. Differenzierung von Wissenschaft und PolitikWissenschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert
II.
7. System/Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive
8. Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert
9. Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung
10. Die Einheit von Lehre und Forschung
11. Die Form der Universität
III.
12. Professionen und DisziplinenFormen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften
13. Akademische Freiheit, Professionalisierung der Hochschullehre und Politik
14. Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion
15. Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst als Leitprofession
Quellennachweis
Register
Vorwort
Vorwort zur Neuauflage
I.
1. Differenzierung der Wissenschaft
2. Die Autopoiesis der Wissenschaft
3. Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems
4. Technik, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftlicher GemeinschaftenWissenschaftliche Instrumente und die Entwicklung der Elektrizitätslehre
5. Physik an deutschen HochschulenAkademische Kultur und die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin (1780-1920)
6. Differenzierung von Wissenschaft und PolitikWissenschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert
II.
7. System/Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive
8. Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert
9. Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung
10. Die Einheit von Lehre und Forschung
11. Die Form der Universität
III.
12. Professionen und DisziplinenFormen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften
13. Akademische Freiheit, Professionalisierung der Hochschullehre und Politik
14. Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion
15. Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst als Leitprofession
Quellennachweis
Register
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Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen [2. Auflage - Neuauflage]
 9783839423004

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Rudolf Stichweh Wissenschaft, Universität, Professionen

Für Andrea

Rudolf Stichweh ist Dahrendorf-Professor für »Theorie der modernen Gesellschaft« an der Universität Bonn und Direktor des »Forums Internationale Wissenschaft Bonn«. Bei transcript ist von ihm erschienen: »Niklas Luhmann – Wirkungen eines Theoretikers« (1999, als Herausgeber) sowie »Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie« (2005, 2. Aufl. 2013).

Rudolf Stichweh

Wissenschaft, Universität, Professionen Soziologische Analysen (Neuauflage)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Erstauflage: Frankfurt am Main 1994

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Katharina Wierichs, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2300-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Vorwort zur Neuauflage | 11

I 1. Differenzierung der Wissenschaft | 15 2. Die Autopoiesis der Wissenschaft | 47 3. Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems | 73 4. Technik, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftlicher Gemeinschaften Wissenschaftliche Instrumente und die Entwicklung der Elektrizitätslehre | 87

5. Physik an deutschen Hochschulen Akademische Kultur und die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin (1780-1920) | 115

6. Differenzierung von Wissenschaft und Politik Wissenschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert | 135

II 7. System/Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive | 153

8. Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert | 169 9. Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung | 181 10. Die Einheit von Lehre und Forschung | 199 11. Die Form der Universität | 215

III 12. Professionen und Disziplinen Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften | 245

13. Akademische Freiheit, Professionalisierung der Hochschullehre und Politik | 295 14. Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion | 317 15. Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst als Leitprofession | 331

Quellennachweis | 345 Register | 347

Vorwort

Der Band versammelt Studien zu den drei Themenbereichen Wissenschaft, Universität und Professionen, die er zugleich als eng miteinander vernetzt zu erweisen versucht. Die Logik der Analyse ist in allen drei Fällen ähnlich angelegt. Das Interesse richtet sich auf die Entstehung der spezifisch modernen Form dieser drei Funktionsbereiche: die moderne disziplinär differenzierte Wissenschaft, die aus wissenschaftlichen Publikationen als ihren kommunikativen Elementarakten besteht; die wissenschaftliche Universität des 19. Jahrhunderts, die im Kern eine Forschungsuniversität ist und diesen ihren Grundcharakter selbst in die Ausbildung von Studenten zu transportieren versucht; professionelle Handlungssysteme im Recht, der Medizin, in der Religion und der Schulerziehung, die die Bearbeitung der personalen Probleme eines universalistisch aufgefaßten Publikums mittels einer professionellen Kernrolle als Praktikerrolle organisieren. Die soziologische Theorie der Systemdifferenzierung und verschiedene Varianten der Theorien der Selbstorganisation sind die Theoriemittel, auf die sich diese Untersuchungen stützen. Im weiteren Gang der Analyse geht es um die Evolution dieser im 19. Jahrhundert entstandenen Grundstrukturen in der Geschichte der modernen Gesellschaft und um die Frage, ob strukturelle Veränderungen im 20. Jahrhundert – die Steuerung des Wissenschaftssystems durch einen in sich zunehmend diversifizierten wissenschaftspolitischen Apparat, die Transformation der Universität in eine Massenuniversität mit einem eventuellen Verlust des Primats kognitiver Rationalität, die fortschreitende Differenzierung verschiedener Formen von Beruflichkeit – noch als Form der Kontinuität der für die Moderne konstitutiven Strukturen verstanden werden können. Die Texte des ersten Teils des Buches fragen zunächst nach der Differenzierungsform der modernen Wissenschaft, die mit den begrifflichen Mitteln der klassischen Sozialtheorie des Jahrhundertanfangs (Durkheim: mechanische vs. organische Solidarität) (Kap. 1) und mit den neueren Denkmöglichkeiten der Theorien selbstorganisierter Systeme untersucht wird. In dieser letzteren Perspektive interessiert vor allem die Frage nach der basalen Einheit der Kommunikation im Sozialsystem der Wissenschaft, als die sich die wissenschaft-

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liche Publikation erweist (Kap. 2), und zweitens die Frage nach Entwicklungsschwellen in der Entstehung der modernen Form der Wissenschaft. Wie führt der Weg von einer frühneuzeitlichen Ordnung des Wissens, die heterogenste Wissensbestände verschiedener Kulturen aufnimmt, zu einem operational geschlossenen Wissenschaftssystem, das alle seine Wissensbestände seiner eigenen Wahrheitsproduktion verdankt (Kap. 3)? Ein Aspekt der Artifizialität der modernen Wissenschaft ist, daß sich ihre Beobachtungen auf Phänomene richten, die sie mittels Instrumenten in einem Labor selbst erzeugt. Die Elektrizitätslehre ist ein Paradigma einer Wissenschaft, in deren Entwicklung es gelingt, den Vorbehalt gegenüber einer von Instrumenten abhängigen Erkenntnis zu überwinden. Gleichzeitig wachsen damit der Instrumententechnik und den von ihr ausgehenden Präzisionsanforderungen eine Schlüsselstellung im Zwischenbereich von Naturwissenschaft und Technik zu, die Anschlüsse vielfach in beide Richtungen möglich werden läßt: die Produktion eines Artefakts, das der Forschung neue Beobachtungsmöglichkeiten eröffnet – die Umsetzung eines Prototyps in eine Technik, an die sich wirtschaftliche Auswertungschancen anschließen (Kap. 4). Die kognitive Umwelt der Elektrizitätslehre und zugleich ein Paradigma einer modernen wissenschaftlichen Disziplin ist die Physik. Die Etablierung der Disziplin Physik zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert muß als ein Zeit verbrauchender Institutionalisierungsprozeß beschrieben werden, an dem sich auf instruktive Weise beobachten läßt, wie die einzelnen Institutionen der universitären Disziplin Physik (Vorlesungsformen, Praktika, Seminare) in ihrer Entstehung interne Motivlagen einer kognitiven Evolution und externe Verpflichtungen oder Leistungserwartungen miteinander verflechten (Kap. 5). Die Abhängigkeit der Wissenschaft von der Berücksichtigung externer Erwartungen erhält im 20. Jahrhundert eine neue Qualität durch die Kosten wissenschaftlicher Forschung. Da die Finanzierung wissenschaftlicher Forschung primär vom Staat her erfolgt, wird die Entscheidung über die Durchführbarkeit beabsichtigter Forschungen in hohem Grade von politischen Entscheidungen determiniert. Die Analyse der neuen Steuerungsform ›Wissenschaftspolitik‹ ist fundamental für das Verständnis der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts und zugleich ein spannender Testfall für soziologische Theorien funktional differenzierter und operational geschlossener Sozialsysteme (Kap. 6). Die analytische Leistungsfähigkeit der soziologischen Differenzierungstheorie wird zu Beginn des zweiten Teils des Buches in einer Studie erprobt, die die differenzierungstheoretische Analyse von wechselnden System/Umwelt-Beziehungen der Universität als Schlüssel für eine Periodisierung der europäischen Universitätsgeschichte seit dem Spätmittelalter verwendet. Am Anfang sind Kirche und Religion, in der frühen Neuzeit die Politik und schließlich seit dem 19. Jahrhundert das ausdifferenzierte Wissenschaftssystem als dominante Bezugssysteme der Universität für die Epochenidentitäten und Diskontinuitä-

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ten der europäischen Universitätsgeschichte verantwortlich (Kap. 7). Für den Übergang zur wissenschaftlichen Universität des 19. Jahrhunderts ist ein Differenzierungsprozeß von besonderem Interesse, der die diffusen Erziehungsinstitutionen der Frühmoderne auflöst und eine klare Abgrenzung und komplementäre Zuordnung von Schule und Universität an ihre Stelle setzt (Kap. 8). Die Identität der deutschen Universität wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert durch in allgemeinere kulturelle Strukturen eingebettete Semantiken der Selbstbeschreibung bestimmt, die alle den Sinn hatten, sowohl für Ausbildungsprozesse instruktiv zu sein wie auch die Verknüpfbarkeit von Ausbildung und wissenschaftlicher Forschung in der Institution Universität zu gewährleisten. Drei dieser semantischen Komplexe werden in diesem Band einer Analyse mit Hilfe soziologischer Theoriemittel unterzogen: ›Bildung‹ und die dem Bildungsgedanken korrespondierende Gesellschaftstheorie ›Individualität‹ (Kap. 9); das Postulat der ›Einheit von Lehre und Forschung‹ als universitäre Applikation eines neuen Wissenschaftsbegriffs (Kap. 10); ›akademische Freiheit‹ in der für Deutschland typischen komplementären Dopplung in ›Lernfreiheit‹ des Studenten und ›Lehrfreiheit‹ des Professors (Kap. 13). Die Frage nach der Kontinuität der klassischen Form ›Universität‹ stellt sich, wenn man die Universität des 20. Jahrhunderts ernsthaft in ihrem Charakter als Massenuniversität begreift und der Vielfalt der Lehrangebote, Ausbildungswege und Hochschultypen, die in der Gegenwart vorkommen, Rechnung tragen will. Durch ein Testen von Denkmöglichkeiten, die durch neuere soziologische Theorien eröffnet werden (Parsons’ AGIL-Logik, Spencer-Browns Unterscheidungslogik, Heiders Medium/Form-Unterscheidung und die sich anschließenden Theorien ›lose gekoppelter‹ Sozialsysteme), versucht der abschließende Aufsatz des zweiten Teils, sich einer Antwort auf diese Frage nach Kontinuität und Einheit der Universität zu nähern (Kap. 11). Gleichzeitig mit der wissenschaftlichen Disziplin als der Einheit der Innendifferenzierung des Wissenschaftssystems des 19. und 20. Jahrhunderts entstehen die modernen Professionen (Ärzte, Juristen, Theologen und Lehrer) als Sozialsysteme von Praktikern, die um eine professionelle Kernrolle organisiert sind, welche Handlungsverpflichtungen bei der Lösung bestimmter gesellschaftlicher Zentralprobleme normiert. Professionelle sind also nicht mehr Teil eines wie auch immer zu verstehenden Gelehrtentums, und die wissenschaftliche Wahrheitssuche in disziplinären Kommunikationszusammenhängen ist in diesem Verständnis keine Profession. Gerade wenn man so analysiert und die Logiken von Disziplinbildung und Professionalisierung deutlich voneinander trennt, wird der systematische Vergleich dieser beiden Typen von Sozialsystemen um so anregungsreicher (Kap. 12). Ein Sonderfall ist dann noch einmal die Hochschullehre, weil sie zwischen dem Erziehungssystem und der Wissenschaft als eine Berufsrolle mit Verpflichtungen in beiden Systemen steht. Ein Kapitel dieses Buches untersucht die Spezialsemantik ›akademische Freiheit‹

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unter diesem Gesichtspunkt, daß sie die Sonderlage der Hochschullehre als Beruf und die Stellung des Studenten als ›Klient‹ formuliert und zugleich als eine politische Semantik dient, die es unternimmt, die Vorstellung einer politischen Autonomie der Universität zu begründen (Kap. 13). Einen noch allgemeineren Gesichtspunkt bekommt man in den Blick, wenn man die modernen Professionen nicht mehr primär auf die wissenschaftlichen Disziplinen bezieht, sie vielmehr stärker in den Kontext der Funktionssysteme (Recht, Medizin, Religion, Erziehung) stellt, an deren Ausdifferenzierung sie beteiligt sind. Es wird dann deutlich, daß Professionalisierung einen bestimmten Typus der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen verkörpert. An die Stelle des systematischen Vergleichs mit wissenschaftlichen Disziplinen tritt jetzt ein Vergleich mit anderen Funktionssystemen (Wirtschaft, Politik), für die sich ein Professionalisierungsprozeß ihrer Leistungsrollen nicht beobachten läßt. Eine Typisierung von Funktionssystemen und ihrer Ausdifferenzierungsprozesse ist ein mögliches Resultat dieses Vorgehens, wie auch die Stellung der Professionssoziologie in der Gesellschaftstheorie deutlicher werden wird (Kap. 14). Eine weitere Anreicherung der Vergleichsmöglichkeiten ergibt sich, wenn man jenseits der Wissenschaft und der modernen Professionen auf einen dritten Typus von Beruflichkeit sieht. Der öffentliche Dienst und in einem engeren Sinne der Beamtenstand haben offensichtlich in Kontinentaleuropa als eine Matrix von Differenzierungsprozessen und als ein Paradigma für professionelle Beruflichkeit gedient. Diese Wahrnehmung ist für die Analyse fruchtbar, weil sie es erlaubt, einige Besonderheiten beruflicher Strukturen in den Wissenschaften und in den Professionen auf diese temporäre Nähe und Vorbildhaftigkeit – eines sich selbst als ›gelehrt‹ verstehenden Staatsdienstes – in Prozessen struktureller Differenzierung zurückzuführen (Kap. 15). Die zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Aufsätze dieses Bandes sind für den Zweck dieser Publikation überarbeitet worden. Dabei habe ich das Argument des jeweiligen Textes bewußt nicht verändert, mich vielmehr darauf beschränkt, wo es mir möglich und sinnvoll schien, durch sprachliche Eingriffe die Grundlinien des gedanklichen Zusammenhangs deutlicher hervortreten zu lassen. Frankfurt, im Dezember 1993 Rudolf Stichweh

Vorwort zur Neuauflage

Das Buch ›Wissenschaft, Universität, Professionen‹ ist im Herbst 1994 erschienen. Diese erste Auflage ist seit fast zehn Jahren vergriffen. Ich lege hier nun eine unveränderte Neuauflage vor. Für diese Entscheidung gibt es mehrere Gründe. Die Texte dieses Buches erachte ich als für meine Arbeit weiterhin grundlegend, wie auch die Gegenstände des Buches, das Wissenschaftssystem, die Universität und die Professionen, in den achtzehn Jahren seit Erscheinen der ersten Auflage zentrale Gegenstände meiner Forschung geblieben sind. Ich beabsichtige, in ca. einem Jahr einen zweiten Band hinzuzufügen, der die Arbeit dieser knapp zwei Jahrzehnte dokumentiert. Zwei Veränderungen fallen beim Wiederlesen auf. Die Perspektive der Weltgesellschaft fehlt in diesem Buch überwiegend. Diese den beobachteten Sozialraum immens ausweitende Perspektive tritt in meine Forschungen seit den späten achtziger Jahren über die vergleichenden Arbeiten zur Soziologie des Fremden ein. Ein halbes Jahr nach Erscheinen des hier vorliegenden Buches habe ich einen ersten theoretischen Text zur Theorie der Weltgesellschaft publiziert (Zur Theorie der Weltgesellschaft, Soziale Systeme 1, 1995, S. 29-45) und die dort ausprobierte Beobachtungsweise prägt seither die Publikationen zu Wissenschaft, Universität und Professionen. Für mich ist dies eine Ausweitung des Beobachtungswinkels und nicht eine Revision der in diesem Buch entwickelten Grundannahmen. ›Wissenschaft, Universität, Professionen‹ ist geschrieben wie die meisten Bücher von Niklas Luhmann: Weltgesellschaft ist zwar im Hintergrund präsent, aber nicht ausdrücklich Gegenstand der Analysen. Die andere Verschiebung betrifft die Theorie der funktionalen Differenzierung und in diesem Fall ist die Veränderung kleiner, und man muss sie nicht zwingend registrieren. Auch das vorliegende Buch arbeitet mit der Leitidee der funktionalen Differenzierung der modernen (Welt-)Gesellschaft. Bei dem ersten der drei Gegenstände geht es um die Ausdifferenzierung eines bestimmten, einzelnen Funktionssystems (Wissenschaft); im zweiten Fall um die Erfindung einer Organisation, die Universität, die ihre gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung in der Moderne ihrer symmetrischen Stellung zwischen zwei Funktions-

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systemen (Erziehung, Wissenschaft) verdankt; im dritten Fall, dem der Professionen, um eine spezifische Form der Herausbildung von Funktionssystemen, die diesen Prozess über Professionalisierung laufen lässt, soweit es sich um Funktionssysteme handelt, in denen zentrale Probleme und Ungewissheiten der Lebensführung der Individuen der modernen Gesellschaft den Anlass für Systembildung bieten. Eine explizite Theorie der funktionalen Differenzierung, die Vergleiche zwischen möglichst heterogenen Funktionssystemen auszureizen versucht, liegt als systematischer Entwurf noch nicht vor, wie dies auch für eine Theorie der Weltgesellschaft gilt. Die Wissenschaft, die Universität und die Professionen bilden für mich weiterhin zentrale Gegenstände der Beobachtung und gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, die sich in der Verknüpfung mit den angedeuteten allgemeineren Untersuchungsperspektiven weiter entfalten lassen werden. Bonn, im September 2012

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1. Differenzierung der Wissenschaft I. V ORBEMERKUNG Vielleicht das klassische Problem, das sich wissenschaftshistorische und wissenschaftssoziologische Forschung gestellt hat, ist die Erklärung der Entstehung der modernen Wissenschaft. Implizit ist diese Fragestellung auch dort leitend, wo man sich scheinbar auf die Explikation jenes Normensystems beschränkt, das den Funktionszusammenhang der Wissenschaft intern reguliert. Denn die Beschreibung und Analyse eines für Wissenschaft spezifischen und relativ stabilen Normensystems verweist geradezu auf die Frage nach den gesellschaftsstrukturellen Vorbedingungen der Ausbildung und Stabilisierung dieses Normensystems. Wenn man den hier angedeuteten Fragezusammenhang in systemtheoretischer Begrifflichkeit reformuliert, so haben wir es mit dem Versuch einer Analyse der Ausdifferenzierung der Wissenschaft zu tun, d.h. mit einer Analyse jenes Prozesses, in dem sich Wissenschaft als autonomes Handlungssystem konstituiert und sich von anderen Funktionskontexten, wie Religion, Politik und Ökonomie abtrennt. Eine zweite Forschungsrichtung der Wissenschaftssoziologie hat im letzten Jahrzehnt an Prominenz gewonnen und jene klassische Fragestellung zurückgedrängt. Dabei handelt es sich um Studien, die es unternehmen, die Entstehung neuer Disziplinen und Spezialgebiete zu erklären und Modelle typischer Wachstums- und Entwicklungsprozesse dieser Disziplinen und Spezialgebiete zu entwerfen. Wenn wir auch hier eine systemtheoretische Begrifflichkeit verwenden, so handelt es sich nicht mehr um Analysen der Ausdifferenzierung der Wissenschaft, vielmehr um die Erforschung der Innendifferenzierung der Wissenschaft. Innendifferenzierung ist jene wissenschaftsinterne Wiederholung des Systembildungsprozesses, die Disziplinen und Spezialgebiete entstehen läßt. Eine flüchtige Durchmusterung der beiden erwähnten Forschungsrichtungen läßt schnell erkennen, daß sie eine Reihe von Fragestellungen, die sich gerade einem Soziologen aufdrängen müßten, bisher nur sporadisch behandelt haben. Dabei handelt es sich insbesondere auch um Fragerichtungen, wie sie ein intensiverer Kontakt zur soziologischen Differenzierungstheorie eröffnen

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würde. So ist z.B. das Verhältnis von Ausdifferenzierung und Innendifferenzierung bisher kaum explizit zum Gegenstand von Überlegungen geworden. Defizite lassen sich auch für die Soziologie der Innendifferenzierung des Wissenschaftssystems leicht registrieren. Wir verfügen zwar über eine Vielzahl von Studien zur Entstehung neuer Spezialgebiete,1 aber kaum je wird dabei mitthematisiert, wie die Entstehung neuer Disziplinen die vorher bereits bestehenden Disziplinen verändert. Ebenso gibt es nur selten Überlegungen über den Niedergang und das Verschwinden von Spezialgebieten.2 Eine Folge dieser quasi-individualisierenden Konzentration auf je einzelne Differenzierungsschritte ist, daß das für Wissenschaft charakteristische Differenzierungsmuster in seiner Gesamtheit, die aus Differenzierung resultierenden Integrationsprobleme und integrative Mechanismen, die als Lösungsmuster zur Verfügung stehen, kaum je in den Blick geraten. Einige Überlegungen in dieser Richtung, die das begriffliche Instrumentarium der soziologischen Differenzierungstheorie3 aufnehmen und es für die Analyse der Innendifferenzierung der Wissenschaft fruchtbar zu machen versuchen, wollen wir im folgenden vorlegen.

II. D IFFERENZIERUNG Nur gelegentlich hat die Forschung, dort, wo sie die Innendifferenzierung der Wissenschaft thematisiert, an die soziologische Theorie struktureller Differenzierung anzuknüpfen versucht und die Frage nach der für Wissenschaft charakteristischen Differenzierungsform gestellt.4 Die Autoren, die dies tun, bedienen sich der klassischen Begriffe »mechanische« und »organische« Solidarität und wählen dann in der Regel für Wissenschaft eine Beschreibung, die sie näher am Pol segmentärer Differenzierung und mechanischer Solidarität ansiedelt. Am klarsten hat dies wohl Hagstrom artikuliert, der Disziplinendifferenzierung als Segmentation behandelt und den Hinweis auf die fehlende kurzfristige Interdependenz zwischen Disziplinen zur Plausibilisierung dieser begrifflichen Entscheidung benutzt.5 Dabei stellt sich aber Hagstrom wie auch die anderen Autoren nicht die Frage, ob angesichts des Faktums, daß Diszipli1 | Siehe für einen Überblick über einige dieser Arbeiten Edge/ Mulkay 1975. 2 | Die vielzitierten Arbeiten von C.S. Fisher über die mathematische Invarian tentheorie bilden hier eine Ausnahme. Siehe z.B. Fisher 1967. 3 | Für differenzierungstheoretische Überlegungen im folgenden siehe vor allem die Arbeiten von N. Luhmann. Siehe nur zuletzt: Luh mann 1977. 4 | Namentlich Hagstrom 1965; Downey 1969; Hargens 1971 müssen hier genannt werden. 5 | Hagstrom 1965, 244f.

1. D IFFERENZIERUNG DER W ISSENSCHAFT

nendifferenzierung in der Wissenschaft eine Differenzierung auf der Basis der Ungleichheit der differenzierten Einheiten ist, die Anwendungsbedingungen des Konzepts segmentärer Differenzierung, das ja Gleichheit der Einheiten voraussetzt, noch gegeben sind. Bevor wir dieser Frage näher nachgehen, gilt es, sich des Begriffs der »Disziplin«, als der primären Einheit interner Differenzierung der Wissenschaft, zu vergewissern. Disziplinen sind Formen sozialer Institutionalisierung eines mit vergleichsweise unklareren Grenzziehungen vorlaufenden Prozesses kognitiver Differenzierung der Wissenschaft. Zur Identifizierung und Charakterisierung einer »Disziplin« verweisen wir typischerweise: 1) auf einen hinreichend homogenen Kommunikationszusammenhang von Forschern – eine »scientific community«; 2) auf einen Korpus wissenschaftlichen Wissens, der in Lehrbüchern repräsentiert ist, d.h. sich durch Kodifikation, konsentierte Akzeptation und prinzipielle Lehrbarkeit auszeichnet; 3) eine Mehrzahl je gegenwärtig problematischer Fragestellungen; 4) einen »set« von Forschungsmethoden und paradigmatischen Problemlösungen; 5) eine disziplinenspezifische Karrierestruktur und institutionalisierte Sozialisationsprozesse, die der Selektion und »Indoktrination« des Nachwuchses dienen.6 Die Disziplinenstruktur gegenwärtiger Wissenschaft ist ein relativ spätes Produkt der Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft. Die sogenannte »wissenschaftliche Revolution« des 17. Jahrhunderts und auch das 18. Jahrhundert hatten die Einheit der »natural philosophy« noch kaum tangiert. Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts kommt es im Bereich der Naturwissenschaften zur Ausgrenzung der ersten Disziplinen – Chemie und etwas später Physik sind hier wohl die frühesten Beispiele. In dem Bereich, der später (seit Dilthey) Geisteswissenschaften heißt, kommt es etwa gleichzeitig in der klassischen Philologie und der Historie zu den ersten Disziplinbildungen. Erst ein Jahrhundert später – am Anfang dieses Jahrhunderts also – formiert sich ein dritter Disziplinenbereich. Aus einer Synthese methodischer Ansätze der Geistes- und der Naturwissenschaften gehen die Handlungs- und Sozialwissenschaften hervor.7 Diese einsetzende interne Differenzierung der Wissenschaft, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts ein »System wissenschaftlicher Disziplinen« entstehen läßt, ist bisher kaum in ihrer Bedeutung als Einschnitt in der Geschichte der modernen Wissenschaft begriffen worden. Korrelationen dieses Prozesses mit der Umstellung der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung von Schichtung auf funktionale Differenzierung sind zu vermuten; ein direkter Zusammenhang besteht aber mit der gleichzeitig beginnenden, von Deutschland aus-

6 | Überlegungen zur Präzisierung des Disziplinenbegriffs finden sich u.a. in dem Sammelband CERI 1972. 7 | Parsons 1965, 1970; Apel 1968.

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gehenden Reorganisation der Universitäten.8 Diese Reorganisation macht aus einer über Jahrhunderte von Krisen gestörten, in einigen Ländern vom völligen Verschwinden bedrohten Institution der frühneuzeitlichen Gesellschaft, eine der »zentralen strukturellen Komponenten der modernen Gesellschaft« (Parsons). Die Universität wird zu dem institutionellen Ort der disziplinären Struktur der modernen Wissenschaft. Für disziplinäre Innovationen übernimmt die Rollenstruktur der Universität vor allem Selektions- und Stabilisierungsfunktionen. Disziplinen bilden sich um Gegenstandsbereiche und Problemstellungen herum. Parallel zur Etablierung der Disziplinen werden Probleme und Positionen, die zwischen den Disziplinen situiert sind, an eine der Disziplinen assimiliert – man kann sich dies etwa an dem Weg vergegenwärtigen, den am Anfang des 19. Jahrhunderts Phänomenbereiche wie Wärme, Elektrizität und Magnetismus zwischen Chemie und Physik zurücklegen, bevor es zur Abschließung der Chemie und zur Reformulierung der Physik um an diesen Phänomenen gewonnene Modellvorstellungen kommt (Feldbegriff; Energiebegriff). Andere Probleme, die sich keinem der disziplinären Raster zuordnen lassen, werden dethematisiert oder einfach vergessen; auf diese Weise wirkt Disziplinbildung, wie auch andere Teilprozesse der Ausdifferenzierung der Wissenschaft, selektiv auf die Fragen, die Wissenschaft sich noch stellen kann. Disziplinen prägen also die kognitive Schematisierung der Wirklichkeit dadurch, daß sie in dieser Interdependenzunterbrechungen verstärken. Man kann sich dies leicht an der Chemiegeschichte des 19. Jahrhunderts verdeutlichen: nach Daltons Atomtheorie (1808) und der Akzeptation des Gesetzes der konstanten Proportionen (Debatte Proust-Berthollet 1818),9 konzentriert sich die Chemie auf die Analyse der Wertigkeitsverhältnisse, in denen sich die Elemente in organischen oder anorganischen Verbindungen miteinander kombinieren. Die Analyse chemischer Bindungskräfte (Theorie der Affinitäten) und die Thematisierung des Zusammenhangs chemischer Kräfte mit physikalischen Kräften (Gravitation, Wärme, Elektrizität) verschwindet für etwa fünfzig Jahre weitgehend aus der Chemie.10 Erst nachdem um 1870 die Thermodynamik das Studium des Einflusses von Wärme auf Ablauf und Geschwindigkeit chemischer Reaktionen motiviert, kehren mit der Entstehung des neuen Spezialgebietes »physikalische Chemie« (J.W. Gibbs/W. Ostwald) derartige Fragestellungen in die Wissenschaft zurück.11 Die »physikalische Chemie« schiebt

8 | Stichweh 1977. 9 | Siehe die interessante Bemerkung von Kuhn (1970, 133) zum quasi-analyti schen Status des Gesetzes konstanter Proportionen in der Daltonischen Chemie. 10 | Siehe dazu Duhem 1889, insbsd. 219; Merz 1965, 153 et passim; du Bois-Reymond 1887, 453. 11 | Zur Entstehung der physikalischen Chemie siehe auch Dolby 1977.

1. D IFFERENZIERUNG DER W ISSENSCHAFT

sich damit gewissermaßen in jene Lücken hinein, die durch den Abschluß der Disziplinbildungsprozesse in der Chemie und Physik entstanden waren. Wie man schon am Beispiel der physikalischen Chemie als einer der ersten Subdisziplinen und als einem der ersten Übergangsfelder zwischen zwei Disziplinen sehen kann, hat die interne Differenzierung der Wissenschaft mittlerweile die disziplinäre Ebene unterschritten, so daß die kognitiven Bezugsrahmen, mit deren Hilfe Wissenschaftler Forschungsprobleme identifizieren, nicht mehr unbedingt auf der Ebene der klassischen Disziplinen angesiedelt sind. Empirische Studien dokumentieren, daß es zwischen zwei Subdisziplinen derselben Disziplin oft keine ausgeprägteren kommunikativen Verbindungen gibt als zwischen zwei Subdisziplinen verschiedener Disziplinen.12 Da die organisatorische Differenzierung der Universitäten (Departments, Fakultäten) sich oft noch an der klassischen Disziplinenstruktur orientiert, läßt sich eine Vergrößerung des »time-lag« beobachten, der zwischen der kognitiv-kommunikativen Autonomisierung disziplinärer Einheiten und deren organisatorischer Institutionalisierung in der Universität liegt. Insofern läßt sich für die Universität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frage stellen, ob sie noch hinreichende Flexibilität besitzt, um so effektiv als Instrument der Selektion und Stabilisierung disziplinärer Innovationen zu wirken, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war. Anders ausgedrückt könnte man auch fragen, ob der Universität die Gefahr droht, ihren Platz als zentraler Ort der sozialstrukturellen Institutionalisierung der Wissenschaft zu verlieren. Wir können diese Frage hier nicht weiter verfolgen, da unser Thema nicht das Verhältnis von Department-Struktur der Universität und Disziplinenstruktur der Wissenschaft ist. Vielmehr wollen wir im folgenden einige soziologische Überlegungen zur Differenzierung und Integration der Wissenschaft anstellen. Bezugspunkt dieser Überlegungen ist die Disziplinenstruktur der Wissenschaft. Analysen dieses Typs sind unabhängig von der empirischen Frage, ob die relevanten Einheiten nach wie vor die klassischen (naturwissenschaftlichen) Disziplinen sind oder ob die Grenzziehungen zwischen ehemaligen Subdisziplinen einer Disziplin bereits so ausgeprägt sind, daß man diese als eigenständige Disziplinen betrachten muß.

Funktionale und segmentäre Differenzierung Wenn man sich vergegenwärtigt, daß soziohistorisch der Beginn der disziplinären Differenzierung der Wissenschaft etwa mit der Umstellung der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung auf funktionale Differenzierung zusammenfällt, liegt es nahe, sich zu fragen, ob es sich bei Disziplinendifferenzierung vielleicht

12 | Siehe z.B. Cole/Cole/Dietrich 1978; Friedkin 1978.

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um einen parallelen innerwissenschaflichen Vorgang, d.h. um eine interne funktionale Differenzierung des Wissenschaftssystems handelt. Funktionsdifferenzierung in Sozialsystemen ist ein Vorgang, der seine primäre Referenz in den internen Prozessen des jeweiligen Sozialsystems hat. Differenziert wird nach Funktionen im System und nicht nach Leistungs- und Austauschbeziehungen, die das System mit seiner Umwelt unterhält. D.h. die Subsysteme des Systems spezialisieren sich nicht etwa auf Leistungs- und Austauschbeziehungen mit je einem anderen System in der Umwelt des Systems, vielmehr wählen sie als Ansatzpunkte für Spezifikationen systeminterne Problemvorgaben. Diese beziehen sich natürlich immer auch auf die Erhaltung der System-Umwelt-Differenz. Die hier eingeführte Annahme einer primär systeminternen Referenz der Probleme, die als Bezugspunkte für funktionale Spezifikationen dienen, unterstellt Autonomie des Systems. Von Autonomie kann insofern die Rede sein, als die Annahme impliziert, daß die Ordnung der Umwelt des Systems nicht unmittelbar nach innen übernommen wird. Für die intern differenzierten Funktionsbereiche sind denn auch die anderen Funktionsbereiche im System die primäre Umwelt. Verschiedene Funktionsbereiche stehen in einem Verhältnis funktionaler Komplementarität zueinander und erarbeiten auch gemeinsam Leistungsbeiträge, die von spezifischen Umwelten des Systems abgenommen werden. Nur sekundär sind Funktionsbereiche im System auf Umwelten des Systems bezogen. Im sekundären Außenkontakt hat dann auch die Konzentration auf die Kommunikation mit einer bestimmten Umwelt des Systems ihren Platz. Für Wissenschaft stellen sich nun zwei Fragen: Ist die Disziplinendifferenzierung als Primärdifferenzierung der Wissenschaft eine funktionale Differenzierung und zweitens, gibt es andere Formen funktionaler Differenzierung in der Wissenschaft? Zunächst könnte man dazu neigen, die erste Frage bejahend zu beantworten. Auch Disziplinen wählen eine systeminterne Problemvorgabe als Ansatzpunkt einer Spezifikation und formulieren eine distinkte Identität über Bearbeitung dieser Problemvorgabe. Die Differenz zum Differenzierungsmuster anderer Sozialsysteme liegt aber darin, daß disziplinkonstituierende Problemstellungen ihren Sinn nicht etwa aus dem Bezug auf die Erhaltung der System/ Umwelt-Differenz des Sozialsystems Wissenschaft gewinnen. Sinnvoll formulierbar werden systeminterne Problemvorgaben erst durch den Bezug auf systemexterne Gegenstandsbereiche, die zugleich Ausschnitte der (sozialen, physischen, personalen) Umwelt der Wissenschaft sind. Zwar unterliegt die Definition und Abgrenzung der Umweltausschnitte, die zu Gegenstandsbereichen der Wissenschaft werden, systemintern Rekonstruktionen; dennoch gilt, daß Disziplinen sich auf den Umgang mit Ausschnitten der natürlichen und sozialen Umwelt der Wissenschaft spezialisieren. Die Differenzierung der Umwelten des Wissenschaftssystems wird nach innen genommen und dort zur Basis der primä-

1. D IFFERENZIERUNG DER W ISSENSCHAFT

ren internen Differenzierung der Wissenschaft. Die ausdifferenzierten Disziplinen beziehen sich denn auch konsequenterweise primär nicht etwa auf die anderen Disziplinen, sondern auf die jeweiligen Umweltausschnitte. Von daher ist es auch verständlich, daß Kontakte zwischen Disziplinen über lange Zeiträume nahezu abreißen können. Produktion von Wahrheiten als Primärfunktion von Wissenschaft wird von den Disziplinen nicht in einem arbeitsteiligen Zusammenwirken erbracht, vielmehr nimmt jede Disziplin die »Wahrheiten« über ihren Gegenstandsbereich in eigene Regie. An dieser Stelle kann man bereits zweierlei zu der Frage nach der Form der Differenzierung von Wissenschaft sagen. Einerseits unterscheidet sich Disziplinendifferenzierung von funktionaler Differenzierung dadurch, daß sie nicht etwa komplementär aufeinander bezogene Teilprobleme des Systems einzelnen Subsystemen zur Weiterbearbeitung zuweist, vielmehr über eine Internalisierung der Differenzierung von Umweltausschnitten operiert. Andererseits unterscheidet sich Disziplinendifferenzierung von segmentärer Differenzierung dadurch, daß die Einheiten, die sie nebeneinandersetzt, nicht prinzipiell identisch sind, sich vielmehr über Nicht-Identität zu anderen Einheiten bestimmen. Disziplinendifferenzierung ist die Institutionalisierung kognitiver Differenz zwischen Disziplinen und insofern eine Differenzierung über Ungleichheit der differenzierten Einheiten. Disziplinen sind zwar im Unterschied zu den Subsystemen funktional differenzierter Sozialsysteme nicht durch notwendige Kooperations- und Austauschbeziehungen miteinander verbunden, sie sind andererseits aber anders als die Einheiten segmentär differenzierter Sozialsysteme nicht durch andere Einheiten desselben Sozialsystems ersetzbar. Die Differenzierung über kognitive Spezialisierung und damit kognitive Ungleichheit führt also dazu, daß Disziplinen, ähnlich wie Funktionssysteme, selbstsubstitutive Ordnungen sind. Differenzierung von Disziplinen über kognitive Ungleichheit führt zu Differenzen in der kognitiven Struktur oder im Wissenssystem von Disziplinen. Wenn man diese Differenzen formal zu charakterisieren versucht, stößt man auf Dimensionen wie Formalisierung und Mathematisierung, Präzision und Abstraktheit der Begriffsverwendung, Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit disziplinärer Begriffsstrategien. Diese Differenzen in der kognitiven Struktur ziehen Differenzen im Kommunikationsverhalten der Wissenschaftler der betreffenden Disziplinen nach sich. Jene soziologische Forschung, die von Differenzen in der kognitiven Struktur der Disziplinen ausgehend, die Disziplinen auf einem Kontinuum anordnet, dessen Pole durch die Begriffe »hard sciences« und »soft sciences« bezeichnet werden können, hat auf einige der Differenzen im Kommunikationsverhalten hingewiesen. So unterscheiden sich Disziplinen, deren Grad an begrifflicher Präzision und Mathematisierung es

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erlaubt, bei ihnen von »hard sciences« zu sprechen, von »soft sciences« durch Charakteristika wie ein höheres Konsensniveau,13 eine Konzentration der Literatur auf wenige Kern-Journale und ein relativ geringes Ausmaß der Berücksichtigung der Literatur anderer Disziplinen,14 niedrige Ablehnungsquoten für Zeitschriftenartikel,15 größeres Interesse an und größere Häufigkeit von Koautorschaft,16 höhere Unpersönlichkeit in der wissenschaftlichen Kommunikation,17 das Verschwinden des Buches als Veröffentlichungstyp, eine schnellere Integration der Literatur in den Korpus verfügbaren Wissens und eine höhere Obsoleszenz, die Nichtexistenz von konkurrierenden Schulen usw. Interessant ist nun, daß diese Differenzen in der kognitiven Struktur und im Kommunikationssystem von Disziplinen keine Differenzen im Sozialsystem der Wissenschaft zur Folge haben. Das läßt sich an den Institutionalisierungsformen ablesen, die für kognitiv differenzierte Disziplinen zur Verfügung stehen. Außeruniversitäre Forschungsinstitute und professionelle Assoziationen spielen hier eine gewisse Rolle, charakteristisch ist aber für die meisten gegenwärtigen Nationalstaaten nach wie vor die Institutionalisierung von Disziplinen in Universitäten (Departments, Fakultäten). Für Universitäten ist typisch, daß sie einen relativ vollständigen »set« aller – zumindest aller klassischen – Disziplinen aufweisen. Versuche, für einzelne Disziplinen oder Disziplinengruppen spezielle Institutionalisierungsformen in Spezialhochschulen zu schaffen, haben in der Regel dazu geführt, daß diese Spezialhochschulen sich schrittweise andere Disziplinen angliederten und sich so dem traditionellen Modell der Hochschule anglichen. Man kann hier z.B. an die Entwicklung der deutschen technischen Hochschulen von technischen Gewerbeschulen zu Volluniversitäten denken; oder an die entsprechende Entwicklung des MIT. Die segmentäre Institutionalisierung von Disziplinen an der Universität übt allein schon aus Organisationserfordernissen einen Druck in Richtung auf Homogenisierung der disziplinären Rollenstruktur aus. Die Organisationsstruktur von »departments« variiert mit der jeweils vertretenen Disziplin kaum, die jeweils vorgesehenen Berufsrollen sind in der formalen Rollendefinition im Prinzip die gleichen. So unterscheiden sich z.B. Disziplinen in der Differenzierung von Lehr- und Forschungsrollen kaum, obwohl das Interesse an Forschung vs. Lehre mit dem kognitiven Entwicklungsniveau variiert.18 13 | Lodahl/Gordon 1972. 14 | Stevens 1953. 15 | Merton/Zuckerman 1971. 16 | Biglan 1973. 17 | Storer 1967. 18 | Biglan 1973; Ein interessanter Indikator für den homogenisieren den Einfluß der segmentä ren Institutionalisierung an Universitä ten ist, daß die Gehalts differenzen von Professoren in verschie denen »departments« amerikanischer Universitäten völlig

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Kognitiv wird diese Homogenisierung der Rollenstruktur dadurch gestützt, daß Disziplinen in der Erforschung ihres Gegenstandsbereichs autonom sind und insofern eine vollständige Ausstattung mit allen für Forschung und Lehre erforderlichen Funktionsrollen aufweisen müssen. Disziplinen werden damit untereinander sozialstrukturell identisch, sie sind in dieser Sicht also über (sozialstrukturelle) Gleichheit differenzierte Segmente des Wissenschaftssystems. Beim jetzigen Stand unserer Überlegungen stellt sich der für Wissenschaft charakteristische Typus interner Differenzierung also als ein Mischtypus heraus, der Differenzierung nach kognitiver Ungleichheit mit Differenzierung über sozialstrukturell identische Elemente verbindet. Man könnte versuchen, diesen Befund in Begriffen der Parsonschen Systemtheorie zu reformulieren. Dort wird Wissenschaft als Handlungssystem konzeptualisiert, das auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems (»action frame of reference«) einen Primat der Verortung im »cultural system« mit Formen der Institutionalisierung im »social system« verbindet.19 Die von uns konstatierte Verbindung zweier Differenzierungsformen in der internen Differenzierung der Wissenschaft ließe sich also analytisch durch Zurechnung zu verschiedenen Systemkontexten auflösen. Die Differenzierung über kognitive Ungleichheit, die Differenzen von Umweltausschnitten internalisiert, kann dann als Differenzierung im adaptiven Subsystem des »cultural system« aufgefaßt werden; die Differenzierung mehrerer Klassen von Wissenschaften erscheint als wissenschaftsinterne Rekonstruktion der Differenzierung von Objektkategorien und Systemtypen (Geisteswissenschaften – »Cultural systems«; Sozialwissenschaften – »social systems«; Naturwissenschaften – »physical and biological systems«).20 Disziplinendifferenzierung ist eine weitere Auffächerung dieses Musters. In dieser tentativ übernommenen Perspektive muß dann die Differenzierung über Gleichheit des Rollen-set der Disziplinen als segmentäre Differenzierung der im »social system« institutionalisierten Komponenten von Wissenschaft aufgefaßt werden. Der postulierte Primat der kulturellen Referenz der Wissenschaft kann zusätzlich erklären, daß es im Maße der Artikulation und Ausarbeitung der kognitiven Spezifität einer Disziplin partiell doch zu einer dem Wissenssystem der jeweiligen Disziplin angepaßten Reorganisation ihrer Sozialstruktur (Rollenstruktur) kommen kann. Als Folge solcher Reorganisation treten auch sozialstrukturelle Differenzen zwischen Disziplinen auf, Differenzen, die allerdings nur das relative Gewicht von Funktionsrollen in Disziplinen betreffen. Immerhin mag es ansatzweise zu einer sekundären Differenzierung nach Funktionen insigni fikant sind (Storer 1972, 252f.). Und dies trotz der erheblichen inner- und außerwissenschaftlichen Prestigedifferenzen zwischen Diszipli nen. 19 | Siehe Parsons 1960; Fararo 1976. 20 | Siehe Parsons 1970, insbesondere 495-497.

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kommen, wie sie sich etwa mit der Trennung von theoretischer und experimenteller Physik abzeichnet.21 Solche Funktionsdifferenzierungen in Disziplinen müssen aber als voraussetzungsreiche und schwer zu stabilisierende Ausnahmefälle angesehen werden. So läßt sich z.B. in der Hochenergiephysik beobachten, daß dort, wo große Forschungsgruppen – gelegentlich über 100 Mitglieder – entstehen, die unter diesen Bedingungen notwendige Arbeitsteilung auf das nicht-professionelle Personal beschränkt bleibt; Funktionsdifferenzierung unter den Physikern (Ph.D.-Physikern), deren Anteil mit wachsender Größe der Forschungsgruppe sinkt, aber nicht stattfindet.22 Die Funktionsdifferenzierung von theoretischer und experimenteller Forschung ist selbst in der Physik erst auf der Ebene der Spezialgebiete (primäre subdisziplinäre Ebene) durchgeführt, sie ist also bestenfalls Tertiärdifferenzierung der Wissenschaft. Zudem bleiben Theoretiker und Experimentalisten durch Zugehörigkeit zu einem Belohnungssystem in einer subdisziplinären Einheit zusammengebunden: Reputation kann nur stabilisiert werden, wenn sie über die Grenzen dieser Funktionsdifferenzierung hinweg zugewiesen wird. Theorien müssen sich als empirisch auswertbar erweisen und Überprüfungsversuchen standhalten; Experimente müssen theoretische Rekonstruktionen stimulieren. Schließlich muß man sich der Voraussetzungen solcher Funktionsdifferenzierungen vergewissern. Aus den wenigen beobachtbaren Fällen kann man induktiv erschließen, daß es zur Rollentrennung von Theoretikern und Experimentalisten des Vorhandenseins mathematischer Formalismen bedarf, die eine exakte quantitative und experimentelle Überprüfung theoretisch generierter Propositionen und Prognosen ermöglichen. Auch unter diesen Umständen bleibt wegen der ausgeprägten Prestigedifferenz zwischen theoretischer und experimenteller Arbeit die Funktionsdifferenzierung eine ständige Quelle von Spannungen und Ambivalenz.23 Eine zweite Form funktionaler Differenzierung läßt sich in der Wissenschaft beobachten: die Differenzierung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Wir hatten festgestellt, daß Disziplinendifferenzierung als kognitive Differenzierung erfolgt, kognitive Differenzen jedoch nur geringe Varianzen in der Institutionalisierungsform und Rollenstruktur der Wissenschaft zur Folge haben, so daß durch Disziplinendifferenzierung das Wissenschaftssystem in 21 | Verfeinerungen, wie etwa die Unterscheidung von »mathematical«, »inter mediate« und »phenomenological« theorists oder den inter essanten Spezial fall der Ausbildung von »accelerator physics« quer zur Unterscheidung von Kern- und Hochenergiephysik, können wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Einiges an interessantem Material findet sich in den beiden Bänden von NAS 1972. 22 | Hagstrom 1976, 757. 23 | Für Belege siehe Mulkay/Williams 1971; Gaston 1973.

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eine Mehrzahl von sozialstrukturell identischen Einheiten segmentiert wird. Eine Umkehrung dieses Musters kann man für die Differenzierung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung beobachten. Während kognitiv oft nur schwer feststellbar ist, ob ein Forschungszusammenhang in den Bereich der Grundlagenforschung oder der angewandten Forschung gehört, gibt es ein ganzes Spektrum von differenten Institutionalisierungsformen, die jeweils für Grundlagenforschung und angewandte Forschung charakteristisch sind und auf diese Weise zwei Teilsysteme des Wissenschaftssystems voneinander trennen. Überspitzt gesagt, könnte man behaupten, daß für ein bestimmtes Forschungsprojekt die Frage, ob es sich denn um angewandte Forschung oder um Grundlagenforschung handelt, nicht in Ansehen der Problemstellung des Forschungsprojekts enschieden werden kann, die Antwort vielmehr davon abhängt, in welchem institutionellen Kontext die betreffenden Forscher loziert sind. Für das Verhältnis von angewandter Forschung und Grundlagenforschung läßt sich nun auch eine funktionale Komplementarität derart behaupten, daß die Ergebnisse der Grundlagenforschung für die angewandte Forschung notwendiges Arbeitswissen sind; die Grundlagenforschung andererseits oft zur angewandten Forschung in einem rekonstruktiven Verhältnis steht, d.h., daß sie die von der angewandten Forschung praktisch gelösten Probleme und technisch konstituierte neue Phänomenbereiche theoretisch nachkonstruiert. Es müssen also keine prinzipiellen Integrationsprobleme zwischen diesen beiden Teilsystemen des Wissenschaftssystems auftreten; es sei denn, es würden durch die differenten Institutionalisierungsformen kommunikative Distanzen geschaffen, die nur schwer zu überbrücken sind.24

III. I NTEGR ATION Nachdem im vorigen die Disziplinendifferenzierung der Wissenschaft als Ausbildung kognitiv ungleicher Einheiten, die sozialstrukturell segmentiert sind und zwischen denen ausgeprägte Interdependenzunterbrechungen existieren, beschrieben worden ist, gilt es nun zu klären, ob und in welchem Maße integrative Mechanismen zwischen den Disziplinen etabliert sind, deren Wirksamkeit es erlaubt, von Wissenschaft als einem die differenzierten Einheiten übergreifenden Systemzusammenhang zu sprechen. Bevor wir diese Frage selbst beantworten, mag es aber sinnvoll sein, sich zu überlegen, warum überhaupt ein Bedarf für Integration der Wissenschaft besteht. Aus einer externen Perspektive läßt sich der Integrationsbedarf aus Anforderungen der Kommunikation mit der gesellschaftlichen Umwelt der Wissenschaft erklären. Einmal darf die für Wissenschaft charakteristische Dekom24 | Zu diesem Abschnitt siehe auch Storer 1972.

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position von Problemstellungen in eine Vielzahl von disziplinenspezifischen Partialperspektiven nicht so weit vorangetrieben werden, daß unabsehbar wird, ob es möglich ist, diese Partialperspektiven in einer Weise zu rekombinieren, die es erlaubt, daß sie für die Lösung der vergleichsweise kompakten außerwissenschaftlichen Probleme fruchtbar gemacht werden. Eine derart desintegrierte Wissenschaft würde kaum noch als Kommunikationspartner für andere Teilsysteme der Gesellschaft fungieren können und daher Gefahr laufen, die notwendigen externen Ressourcenzuweisungen und Unterstützungsleistungen nicht mehr mobilisieren zu können. Ein Zweites ist, daß Wissenschaft einer integrativen Identitätsartikulation bedarf, die die Abgrenzungsleistungen gegenüber Nicht-Wissenschaft stabilisiert. Wissenschaft muß für einzelne Disziplinen eine »innere Umwelt« garantieren, die sicherstellt, daß nicht etwa einzelne Disziplinen durch Außenkontakte korrumpiert werden und außerwissenschaftliche Werte und Normen für innerwissenschaftliche Relevanzen substituieren. Eine dritte zentrale Funktion der Integration der Wissenschaft sollte hier noch benannt werden. Dabei geht es um die Institutionalisierung wechselseitigen Lernens zwischen Disziplinen. Disziplinen, die zunächst einmal autark in der Erforschung ihres Umweltausschnittes sind und ihr Selbstverständnis auch entsprechend formulieren, laufen Gefahr, sich in kognitiven Idiosynkrasien zu verlieren und in stagnative Phasen einzutreten. Andererseits sind kognitive Innovationen, seien es Theorien, Modelle, Methoden oder Begriffe, zumeist vom Ursprungskontext ablösbar und können dann in andere Kontexte transferiert werden. Von der Gewährleistung solchen Innovationstransfers hängt wohl das Maß an Kontrolle und Stimulation ab, das Disziplinen wechselseitig füreinander garantieren können. Integrative Mechanismen in der Wissenschaft haben genau die Funktion, strukturell günstige Bedingungen für Innovationstransfer bereitzustellen. Da man eine Komplementarität von Differenzierungstypus und dominanter Integrationsform annehmen kann, liegt es nahe, sich der vorherigen Analyse der internen Differenzierung zu bedienen, um Aussagen über die Integrationsform der Wissenschaft zu gewinnen. Wenn man von der segmentären Komponente in der Differenzierung der Wissenschaft ausgeht, bietet sich der Versuch an, Formen von »Kollektivbewußtsein« zu identifizieren, die die Segmente möglicherweise zusammenschließen.25 Dagegen erhebt sich jedoch sogleich der Einwand, daß die Segmente über kognitive Ungleichheit differenziert sind – und zudem diese Ungleichheit zunehmend ausgeprägter wird. Der zweifellos vorhandene konsentierte Bestand an Methoden, Normen und Werten kann für den Verlauf von Forschungsprozessen daher nur von geringer und tendenziell abnehmender Instruktivität sein. 25 | Zum folgenden Durkheim 1973.

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Um es näher an Durkheim zu formulieren: auch Disziplinen unterliegen dem Prozeß der Individualisierung; disziplinäres Sonderbewußtsein kann nur noch zu geringem Teil durch das wissenschaftliche Kollektivbewußtsein ausgefüllt werden.26 Man kann für Wissenschaft sogar behaupten, daß in kaum einem anderen Sozialsystem Werte und Normen als differente Ebenen der Generalisierung von Erwartungen so deutlich voneinander geschieden sind. Werte sind für das Gesamt wissenschaftlicher Disziplinen verbindlich. Die Mertonsche Tradition der Wissenschaftssoziologie hat sich, sie allerdings als Wissenschaftsnormen behandelnd, auf ihre Herausarbeitung und Analyse konzentriert. Für den Verlauf von Forschungsprozessen erweisen sich Werte dieses Typs als von geringer Instruktivität. Konkrete Forschungsprozesse werden eher durch disziplinspezifisch institutionalisierte Normen gesteuert, wie sie im Kuhnschen Begriff der »disziplinären Matrix« angezielt werden. Wenn man mit Parsons27 davon ausgeht, daß »mechanische Solidarität« jenen Zustand eines Sozialsystems bezeichnet, in dem Wert- und Normebene kaum voneinander geschieden sind, entfällt also mechanische Solidarität als mögliche Integrationsform der Wissenschaft. Die funktionale Vollständigkeit der Disziplinen, ihre Autarkie und die Abwesenheit komplementärer Interaktionen zwischen ihnen schließt andererseits auch den anderen klassischen Solidaritätstyp »organische Solidarität« aus.28 Auf diese neue, auf Desintegration von Wissenschaft weisende Lage hat bereits Durkheim mit der Diagnose einer anomischen Arbeitsteilung in der Wissenschaft reagiert;29 bis heute schließen sich ähnliche Befunde und häufig die Forderung nach der Etablierung von Interdisziplinarität als einer möglichen Abhilfe an. Die Frage, ob in Wissenschaft tatsächlich ein geringerer Integrationsgrad vorliegt als in anderen gesellschaftlichen Subsystemen, kann hier nicht endgültig beantwortet werden. Allerdings wollen wir auf einige zentrale integrative Mechanismen in der Wissenschaft hinweisen, deren Existenz uns die Vermutung nahelegt, daß die Diagnose einer anomischen Arbeitsteilung nicht gerechtfertigt ist.

26 | Siehe Durkheim 1973, 97: »Il est dans la nature des taches spé ciales d’échapper à l’action de la conscience collective; car, pour qu’une chose soit l’objet de sentiments communs, la première condition est qu’elle soit commune, c’est-à-dire qu’elle soit présente à toutes les consciences et que toutes se la puissent re présenter d’un seul et même point de vue.« 27 | Siehe z.B. Parsons 1974, LII. 28 | Natürlich sind beide Solidaritätstypen auf unteren Differenzie rungsebenen anzutreffen. In diesem Sinne wird denn auch in der Literatur gelegentlich von der Durkheimschen Analyse Gebrauch gemacht. Siehe für ein relativ gutes Beispiel Law 1973. 29 | Durkheim 1973, 347.

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Wenn wir zunächst auf der Ebene der Disziplinen verbleiben, so dürfte aus dem Vorhergehenden klar sein, weshalb sich einer Betrachtung, die sich auf der Ebene der Disziplinen ansiedelt, der Eindruck der Desintegration aufdrängt. Disziplinen dienen per definitionem der Artikulation von Differenz. Sie sind gewissermaßen institutionalisierte Interdependenzunterbrechung. Dennoch gibt es einen – hier bisher noch nicht diskutierten – Typus inter-disziplinärer Ordnung, der relativ stabile Austausch- und Orientierungsmuster für das Verhältnis der Disziplinen vorgibt. Gemeint ist die deutlich ausgeprägte und im Bereich der Naturwissenschaften bisher kaum soziohistorischen Variationen unterliegende Hierarchisierung der Disziplinen. Hierarchisierung liegt zunächst in der Form einer hierarchisch geordneten Wirklichkeitskonzeption vor, wie sie sich in der westlichen Wissenschaftstradition durchgesetzt hat. Hierarchische Ordnung der Wirklichkeit soll in diesem Zsammenhang heißen, daß man die Realität in elementare Einheiten zerlegt, deren Interaktion ein System und eine Systemebene definiert. Auf einer nächsthöheren Systemebene werden die Systeme der unteren Ebene dann zu Einheiten, deren Zusammenwirken die Systeme der jetzt betrachteten Ebene konstituiert. Disziplinendifferenzierung ist in gewisser Hinsicht ein Resultat der iterativen Anwendung dieses kognitiven Schemas, wenn auch heute auf einer Systemebene oft mehrere Disziplinen nebeneinander angesiedelt sind und zudem der konstruktive Charakter des hier vorgenommenen Wirklichkeitsaufbaus dadurch immer deutlicher hervortritt, daß sich in die freigelassenen Lücken zwischen den Ebenen Übergangsfelder (z.B. physikalische Chemie; Sozialpsychologie) und Hybriddisziplinen (z.B. Biophysik) schieben.30 Das hier angewendete Ordnungsschema der Wirklichkeit läßt sich auch so beschreiben, daß beim Übergang auf untere Systemebenen zunehmend Restriktionen hinsichtlich der Klassen der zu berücksichtigenden Phänomene und Variablen eingeführt werden; d.h. man konstruiert Systemebenen mit abnehmender interner Komplexität.31 Diese Vorgehensweise hat den auf verschiedenen Stufen der Hierarchie placierten Disziplinen verschiedene 30 | Ohne dem hier näher nachgehen zu können, sei darauf hingewie sen, daß auch Übergangsfelder und Hybriddisziplinen vor allem eine integrative Funk tion übernehmen. Übergangsfelder dienen der Transmission von Wissen an der Grenze zweier Disziplinen, Hybriddisziplinen wenden die Methoden einer Disziplin auf die Problemstellungen einer anderen Disziplin an. Siehe die inter essante Bemerkung von de Certaines zum disziplinären Charakter der Biophysik: »La biophysique qui dans son ensemble n’est pas en équilibre et ne peut donc être analysée comme une discipline stable, est l’ensemble des combinaisons variables que l’on peut réaliser à partir des cellules élé mentai res stables que sont cha que technique physique, chaque objet biolo gique.« (de Certaines 1976, 117). 31 | Siehe Pantin 1968, Ch. 1; siehe auch Mesarovic et al. 1970, 30f.

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Entwicklungsverläufe aufgeprägt. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß Theoriebildung, Formalisierung der Theoriebildung, innerdisziplinärer Konsens über Problemwahlen und über die Gültigkeit von Problemlösungen eng mit den restriktiven Vereinfachungen zusammenhängen, die in den Gegenstandsbereich eingeführt werden können. Disziplinen, die Systemebenen von geringerer interner Komplexität als Gegenstand ihrer Untersuchungen haben, gelingen in diesen vier Dimensionen schnellere Fortschritte, eine Entwicklungsdifferenz, die man auch als Indikator »kognitiver Reife« benutzen und damit normativ wenden kann. Sofern dies geschieht, schließt sich an den Zusammenhang von Hierarchie der Wirklichkeitsbereiche und differenten Entwicklungsniveaus von Disziplinen eine Prestigehierarchie der Wissenschaften an, in der die Disziplinen mit formalisierter Theoriebildung und hohem innerdisziplinären Konsens, die zusätzlich als besonders fundamentale Wissenschaften gelten, als Paradigmata erfogreicher Wissenschaft angesehen werden und dementsprechend von anderen Disziplinen erwartet wird, daß sie nachholend eine entsprechende Entwicklung vollziehen. Dabei kehrt die Prestigehierarchie der Disziplinen die Hierarchie der Wirklichkeitsbereiche gewissermaßen um. Es sind ja die mit besonders einfachen Gegenstandsbereichen befaßten Wissenschaften, die im System der Wissenschaften das größte Prestige besitzen. Über diese Prestigehierarchie der Wissenschaften herrscht sowohl außerhalb der Wissenschaften als auch in der Wissenschaft relativ hoher Konsens.32 Generell kann man annehmen, daß das Bewußtsein, einer »harten« Disziplin anzugehören, wissenschaftliches Selbstbewußtsein und disziplinäre Identifikation stärkt, während umgekehrt Wissenschaftler »weicher« Disziplinen in Gefahr sind, ständig an einer defektiven Identität zu leiden und tendenziell jeden Schritt am Ziel der Annäherung an die »harten« Wissenschaften auszurichten. Es läßt sich hier schon absehen, daß die Prestigehierarchie, sofern sie für Wissenschaftler orientierungs- und handlungswirksam wird, ein wichtiger Faktor der Homogenisierung des wissenschaftlichen Feldes ist. Hierarchisierung der Disziplinen intensiviert den Austausch zwischen den Disziplinen, und sie führt dazu, daß der Transfer von Techniken, Modellen und Theorien typischerweise in eine Richtung fließt. Auf diese Weise etabliert Hierarchisierung eine

32 | Lodahl/Gordon 1972 haben Wissenschaftler verschiedener Diszipli nen gebe ten, eine Reihe sozial- und naturwissenschaftlicher Disziplinen nach dem Grad ihrer jeweiligen Paradigmaentwicklung einzustufen. Die Unter suchung ergab einen erstaunlichen Konsens über Disziplinengrenzen hinweg hinsicht lich dieses Typs von Rangordnung in der Wissenschaft (s. ebd. 60). Siehe auch die Beobachtung, die Hagstrom 1965, 175 registriert, daß physikali sche Chemiker dazu neigen, sich als chemische Physiker zu iden tifi zieren.

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relativ strikte Transitivität im Informationsaustausch zwischen Disziplinen.33 Eine wichtige Zusatzbedingung für die faktische Wirksamkeit der Prestigehierarchie ist die gemeinsame Institutionalisierung einer Vielzahl von Disziplinen an der Universität, die jeden Wissenschaftler ständig mit einem gewissen Maß an Präsenz und Sichtbarkeit von Vertretern anderer Disziplinen konfrontiert. Hierarchisierung läßt aber nicht nur den Konzepttransfer vorwiegend von den »harten« zu den »weichen« Wissenschaften verlaufen; vielmehr erzeugt sie parallele Ströme personaler Mobilität. Typischerweise wandert man aus »fortgeschritteneren« in weniger »fortgeschrittene« Disziplinen und versucht die formalen Kompetenzen, die in der Herkunftsdisziplin erworben worden sind, in der neuen Disziplin zur Geltung zu bringen.34 Personaler »Aufstieg« in der Hierarchie der Disziplinen ist ein relativ seltenes Phänomen. Sofern man ein Arbeitsvorhaben wählt, das primär in den Bereich einer formal komplizierteren Disziplin fällt, versucht man in der Regel erst gar nicht, die formalen Kompetenzen der neuen Disziplin zu erlernen. Statt dessen wählt man den Weg der Kooperation mit einem einschlägig bewanderten Wissenschaftler. Die bisherigen Überlegungen zur Hierarchisierung von Disziplinen bedürfen noch einiger Qualifizierungen. So fällt auf, daß auch in innerdisziplinären Entwicklungsprozessen eine Präferenz auf die Untersuchung von Phänomenbereichen gesetzt wird, die wenig komplex strukturiert sind, daher Aussagen von hoher Generalität zulassen und denen in der Folge dann beson33 | Siehe Krauze 1972, 375. Belege für Hierarchien in Disziplinen, die teilweise auch im strikten Sinne transitiv sind, finden sich bei Carpenter/Narin 1973 (für Spezialgebiete) und Narin/Carpenter/Berlt 1972 (für Zitationshierarchien von Journalen). Die Studie von 1972 gibt auch Zahlen für den Austausch zwischen Physik und Chemie (gemessen durch Verweisungen von Journa len aufein ander). An letzteren Zahlen läßt sich zweierlei ablesen: die Domi nanz der Physik im Informationsaustausch mit der Chemie, die sich, wie die historische Analyse der Zitationsmuster bei Fussler 1949 demonstriert, erst um 1930 durchsetzt. Zum anderen die Zentralstellung der physikalischen Chemie als »core-specialty« der Chemie und als Übergangsfeld von der Chemie zur Physik, das den Informationsaustausch vermittelt. Zu den Austauschbeziehun gen zwischen Chemie und Physik siehe auch NAS 1972, Vol. 1, 279-289, Vol. 2, 1013-1017; zur Prominenz der physikali schen Chemie in der Chemie Blume/Sinclair 1974, 235. 34 | Dafür lassen sich mittlerweile aus den wissenschaftssoziologischen Fall studien fast zahllose Belege anführen. Erinnert sei hier nur an die beiden schon beinahe klassischen Studien: Ben David/Collins 1967 (Psychologie); Mullins 1972 (Molekularbiologie). Siehe auch die Bemerkungen bei Ries man/Jencks 1968, 528, über die Mobilität von Ph. D. Kandidaten. Gelegent lich gibt es auch Wande rungsbewegungen in umgekehrter Richtung. So etwa die Neigung der physikalischen Chemiker, sich in vernachlässigten Problemge bieten der Physik anzusiedeln.

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dere Fundamentalität zugesprochen wird. Ein interessantes Beispiel dafür ist die zentrale Stellung, die in der Physik des 19. Jahrhunderts das Studium von Gasen erhält. Während noch im 18. Jahrhundert Gase als nichts anderes als modifizierte Formen von Festkörpern und Flüssigkeiten gelten,35 entdeckt man am Anfang des 19. Jahrhunderts (im Zusammenhang mit dem Gay-Lussacschen Gesetz und dem Bekanntwerden adiabatischer Effekte) die Fundamentalität, die dem Studium von Gasen zukommt. Man erklärt sie mit der Abwesenheit intermolekularer Kräfte in Gasen. Während man Gasgesetze für »exakte« Gesetze hält, erkennt das 19. Jahrhundert Gesetzen über das Verhalten von Festkörpern und Flüssigkeiten nur noch approximativen Status zu. Parallel zur hier zu beobachtenden Zentrierung auf wenig komplexe Phänomenbereiche kann man feststellen, daß das Studium von Makrosystemen, die zahlreiche komplex verbundene Variablen aufweisen, vernachlässigt wird. In der Physikgeschichte kann man dies am Schicksal der Meteorologie studieren, die spätestens mit der endgültigen Durchsetzung experimenteller Laborforschung und dem Übergang zu hypothetisch-deduktiven Methodologien an den Rand der Disziplin verbannt wird (ca. 1830).36 Innerdisziplinäre Entwicklungsprozesse gehen also von höher komplexen Phänomenbereichen zu weniger komplexen Phänomenbereichen über, institutionalisieren diese als neue Subdisziplinen, die sich zusätzlich durch Fundamentalität und höheres Prestige von älteren Subdisziplinen unterscheiden. Die Hierarchie der Subdisziplinen ist damit zugleich die Entwicklungsgeschichte einer Disziplin, was man sich etwa an der Abfolge von Atomphysik, Kernphysik und Elementarteilchenphysik (Hochenergiephysik) in der Physikgeschichte dieses Jahrhunderts verdeutlichen kann. Die Entwicklungsgeschichte einer Disziplin wiederum rekonstruiert die Evolution der Materie und des Lebens; in allerdings umgekehrter Reihenfolge. Eine zweite qualifizierende Bemerkung, die wir den grundsätzlichen Überlegungen zur Hierarchisierung anschließen wollen, bezieht sich auf die Sozialund Handlungswissenschaften.37 Von einer Hierarchie sozialwissenschaftlicher Disziplinen untereinander kann wohl kaum die Rede sein. Allenfalls würde sich noch das Verhältnis von Soziologie und Psychologie dieser Interpretation fügen. Jedoch würden Soziologen wohl ungern der Behauptung zustimmen, sie seien mit einer weniger fundamentalen Disziplin befaßt, als es die Psychologie ist. Andererseits ist interessant, daß unter den subdisziplinären Spezialisierungen, die amerikanische Soziologen wählen, die Sozialpsychologie mit weitem Vorsprung die am häufigsten genannte ist.38 Insofern läge die Vermutung 35 | Hierzu und zum folgenden Fox 1971, 68f. und 249. 36 | Siehe auch Cardwell 1971, 277, und Cawood 1977. 37 | Zum Folgenden siehe vor allem auch Piaget 1974. 38 | Siehe Stehr 1974.

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nahe, daß die Sozialpsychologie in einem ähnlichen Sinne für die Soziologie die »core-specialty« ist, wie es die physikalische Chemie in der Chemie ist. Wenn auch hierarchische Interrelation unter Sozialwissenschaften selten ist, so stehen doch einzelne Sozialwissenschaften in einem Verhältnis asymmetrischer Interaktion zu naturwissenschaftlichen Disziplinen. Piaget weist auf die besondere Bedeutung der Biologie und der Neurophysiologie als »disciplines charnières« zwischen den Sozial- und den Naturwissenschaften hin. Im übrigen kann man wohl für alle Sozialwissenschaften einen Trend zur Orientierung an einem idealisierten Bild naturwissenschaftlicher Forschung vermuten, so daß im Verhältnis der beiden Wissenschaftsklassen zueinander in gewissem Maße von einer hierarchischen Interrelation die Rede sein kann. Interessant an der Abwesenheit hierarchischer Interrelation zwischen den Sozialwissenschaften ist für unsere Zwecke, daß sie gewissermaßen vom Gegenbeispiel her die Relevanz von Hierarchisierung für die Integration der Wissenschaft beweist. Es liegt nahe, zu vermuten, daß die im Verhältnis zu den Naturwissenschaften geringe Häufigkeit von Interaktionen zwischen Sozialwissenschaften und das fast vollständige Fehlen eines Bewußtseins komplementären Aufeinanderangewiesenseins auf die nicht-hierarchische Anordnung der Sozialwissenschaften zurückzuführen ist. Unsere bisherige Argumentation hat versucht, zu belegen, daß Hierarchisierung als Form des Bezugs von Disziplinen aufeinander dazu dient, die als Folge des Differenzierungsmusters drohende Beziehungslosigkeit zu kontrollieren. Sie institutionalisiert relativ regelmäßig fungierende Austauschprozesse und prägt den Handlungen des Wissenschaftlers eine doppelte Orientierung auf: einerseits bezogen auf den Stand der Disziplin, andererseits auf das internalisierte Entwicklungsideal der Disziplin. Um zum Ausgangspunkt unserer Argumentation zurückzukehren: Hierarchisierung ist offensichtlich von erheblicher integrativer Bedeutung: dennoch kann Integration von Wissenschaft nicht hinreichend in der Form einer inter-disziplinären Ordnung gesichert werden, da die Primärfunktion von Disziplinen in der Artikulation von Interdependenzunterbrechungen in einem Realitätskontinuum besteht. Die so etablierten Differenzen zwischen Disziplinen werden in den Disziplinen selbst zur Voraussetzung integrativer Prozesse, wie sie typischerweise durch Isolierung einer bestimmten Problemsicht und Fragerichtung möglich werden. Es liegt nahe, zusätzlich nach supra- und subdisziplinären Mechanismen zu suchen, die die integrativen Leistungen der Hierarchisierung der Disziplinen ergänzen können. Im folgenden wird je ein Mechanismus dieses Typs kurz dargestellt werden. Auf supradisziplinärer Ebene bietet es sich an, »transdisziplinären Konzepten«39 eine zentrale Funktion zuzuschreiben. Mit transdisziplinären Konzepten 39 | Für diesen Begriff siehe Checkland 1976.

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meinen wir nicht den oben schon diskutierten Vorgang des Transfers eines in einem spezifischen disziplinären Milieu generierten Konzepts in eine Mehrzahl von neuen Kontexten. Vielmehr meinen wir Konzepte, die von vornherein auf einer Ebene angesiedelt sind, auf der ihr Bedeutungsgehalt nicht auf spezifische Probleme einzelner Disziplinen referiert. Statt dessen visieren sie Gemeinsamkeiten an, die es erlauben, heterogen erscheinende Problemklassen mehrerer Disziplinen zu übergreifen.40 Bei der Suche nach Beispielen für transdisziplinäre Konzepte stossen wir auf zwei Beispieltypen. Einmal haben wir es bei den Modellen und Begriffen, wie sie Formaldisziplinen – vor allem Mathematik und Logik – zur Verfügung stellen mit transdisziplinären Konzepten zu tun. A. Lichnerowicz hat den Charakter der Mathematik als einer disziplinenübergreifenden Resource treffend charakterisiert: »La science ne se definit plus ici par l’étude d’un champ déterminé des phénomènes […], mais par l’unité du modèle mathématique pour différents champs, qui se prêtent un mutuel appui«.41 Unter diesem Gesichtspunkt muß man sich die Zentralität der Mathematik für die Integration der Wissenschaft vergegenwärtigen, zugleich darf man aber nicht übersehen, daß die Formalisierung disziplinärer Konzepte, die den Integrationsgrad von Wissenssystemen erhöht, den Zugang zu und das Verstehen von avanciertem wissenschaftlichen Wissen an anspruchsvollere Voraussetzungen bindet, so daß anomische Kommunikationsstörungen im Kommunikationssystem der Wissenschaft auftreten können, die die kommunikative Präsenz und Verfügbarkeit eines prinzipiell vorhandenen Integrationsniveaus des Wissenssystems gefährden. Ein zweiter Typ von transdisziplinären Konzepten begegnet uns in den Begriffssystemen des »Strukturalismus« und der »General Systems Theory«.42 Strukturalismus und General Systems Theory unterscheiden sich von den Formaldisziplinen dadurch, daß sie ihre Entstehung spezifischen disziplinären Kontexten verdanken und teilweise die Phänomene des Herkunftsbereichs (Sprache, organische Systeme) als paradigmatische Phänomene verwenden. Das erleichtert zugleich ihre inhaltliche Interpretierbarkeit. Ein zweiter Unterschied liegt wohl darin, daß Strukturalismus und General Systems Theory bereits auf begriffene Integrationsprobleme der Wissenschaft reagieren. Sie sind mehr oder minder intentional für transdisziplinäre Forschungsinteressen generiert worden. Der integrativen Leistungen transdisziplinärer Konzepte kann man sich genauer vergewissern, wenn man ihre Funktion mit der der als Lösung der Integrationsprobleme heute vielbeschworenen »interdisziplinären Forschung« vergleicht. Interdisziplinäre Forschung ist in der Regel problemorientiert. Sie 40 | Siehe Boulding 1968, 5. 41 | Lichnerowicz 1973, IV. 42 | Zu diesen Beispielen Checkland 1968.

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nimmt externe Problemvorgaben auf, die aus der gesellschaftlichen Umwelt der Wissenschaft an die Wissenschaften kommuniziert werden und versucht, die Begriffe und Instrumente einer Mehrzahl von Disziplinen in einer Weise zu kombinieren, die diese für die Lösung der Probleme fruchtbar macht. Der Problembegriff der interdisziplinären Forschung ist nicht der Problembegriff der Wissenschaft.43 Interdisziplinäre Forschung ist darauf angewiesen, ihre Probleme invariant zu halten, um Rückkommunizierbarkeit der angebotenen Problemlösung an die gesellschaftliche Umwelt zu sichern. Für Wissenschaft hingegen ist charakteristisch, daß sie die Probleme, mit denen sie anfängt, im Verlauf von Forschungsprozessen nicht garantieren kann. Evolution von Wissenschaft ist vor allem auch eine Evolution ihrer Probleme. Wissenschaft gibt nicht etwa auf eine Ausgangsfragestellung immer genauere und bessere Antworten, vielmehr ersetzt sie ständig ihre Ausgangsfragestellungen durch neue Problemformulierungen, die am Anfang noch gar nicht gedacht werden konnten. Ein neues wissenschaftliches Problem zu stellen, heißt im Prinzip, einen Differenzierungsschritt einzuleiten, so daß eine Integration der Wissenschaft über Problemorientierung nicht erreicht werden kann. Diese Überlegungen machen bereits deutlich, daß interdisziplinäre Forschung nicht etwa auf Probleme der konzeptuellen Integration der Wissenschaft – einer eventuellen disziplinären Fragmentation des Wissens – antwortet. Interdisziplinäre Forschung gehört in den Kontext angewandter Forschung und antwortet damit auf Probleme der sozialen Integration der Wissenschaft in die Gesellschaft. Ihre spezifische Leistung besteht darin, mehrere disziplinspezifische Perspektiven zum Zweck der Bearbeitung von Problemen der gesellschaftlichen Umwelt der Wissenschaft zu aggregieren. Im Anschluß daran läßt sich nun der Stellenwert der transdisziplinären Konzepte näher bestimmen: Transdisziplinarität kann beschrieben werden als ein Problem der internen konzeptuellen Integration der Wissenschaft. Transdisziplinäre Konzepte gehören daher in den Kontext der Grundlagenforschung, und sie versuchen, Strukturbegriffe, die jenseits unmittelbarer Beobachtungsdaten auf Tiefenstrukturen der Realität zielen, für eine Mehrzahl von Disziplinen fruchtbar zu machen. Wenn wir von der supra- zur subdisziplinären Ebene übergehen, haben wir es wahrscheinlich mit integrativen Leistungen von mindestens vergleichbarer Relevanz zu tun. Es war oben bereits angemerkt worden, daß die subdisziplinäre Differenzierung in »Spezialgebiete«, »Problemfelder« etc. im Prinzip die für Wissenschaft typische Differenzierungsform nach innen wiederholt. Nun stößt man aber in Fallstudien auf das Phänomen, daß Subdisziplinen nicht eng in Disziplingrenzen eingebunden sind, diese vielmehr häufig überschrei43 | Die folgenden Überlegungen sind durch die Analysen G. Bachel ards angeregt worden. Siehe z.B. Bachelard 1953.

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ten.44 Generell kann man aus Fallstudien folgende Vermutung ableiten: Mit abnehmendem Institutionalisierungsgrad und abnehmender Lebensdauer von Spezialgebieten und Problemfeldern wächst die Wahrscheinlichkeit, daß bei der Personalrekrutierung und der Problemformulierung disziplinäre Grenzen überschritten werden. Erst bei einsetzendem Institutionalisierungsprozeß, der meist eine Reformulierung des für das Fachgebiet spezifischen Problems impliziert, fügt das Fachgebiet sich enger in die disziplinäre Struktur der Wissenschaft ein – eine Eingliederung, die kognitiv entweder über Akkomodation der spezialgebietsspezifischen Problemformulierungen an das für die Disziplin typische Problemverständnis oder bei erfogreichen »revolutionären« Spezialgebieten über eine Neuformulierung des Selbstverständnisses der Disziplin erfolgt.45 Sozial impliziert Eingliederung in die Disziplin eine Etablierung in dem auf der Organisationsebene angesiedelten Rahmen der Wissenschaft – Lehrstühle, Nachwuchsausbildung usw. – und sie entsteht zugleich aus dem bei längerer Lebensdauer des Spezialgebiets zunehmenden Bedarf für eine solche Etablierung. Die damit wiederhergestellte Diskontinuität zwischen Disziplinen, die sich kognitiv durchaus auch als Lücke erweisen mag, wird eventuell erst wieder durch ein neues Spezialgebiet überbrückt. Damit zeichnet sich also unterhalb der disziplinären Ebene ein Muster der Organisation von wissenschaftlichen Gruppenprozessen ab, das dem von Campbell in Anlehnung an Polanyi beschriebenen »Fischschuppenmodell« (fast lückenlose Abdeckung eines Forschungsfeldes durch elementare Organisationseinheiten der Forschung, die sich an den Rändern jeweils überlappen) relativ nahekommt (Campbell 1969). Im Unterschied zu Campbell muß man aber betonen, daß »Brückenfelder« nur temporär als solche fungieren und im Maß ihrer Institutionalisierung bereits wieder neue Lücken entstehen. Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, noch einmal die Differenz subdisziplinärer Überlagerungsphänomene zur »interdisziplinären Forschung« zu betonen: Interdisziplinäre Forschung ist der Versuch eines Brückenschlags, der sich seine Probleme erst noch suchen muß bzw. von extern vorgegebenen »sozialen Problemen« ausgeht und daher eher auf disziplinärer Ebene ansetzt. In diesem Abschnitt jedoch geht es um das Phänomen, daß an Forschungsfronten in subdisziplinären Einheiten die Disziplinengrenzen an orientierender Kraft verlieren und daher oft überschritten werden. Man könnte diese Behauptung auch so formulieren, daß Disziplinendifferenzierung selbst ein integrativer Mechanismus ist. Wenn es zutrifft, daß an Forschungsfronten, an denen zugleich oft die Umrisse der Konstitution eines neuen Spezialgebietes sichtbar werden, eine Mehrzahl von Forschungslinien aus bis dahin unverbundenen Spezialge44 | Siehe z.B. Mullins 1972. Einige Hinweise auch bei Hildahl 1972. 45 | Für das letztere ist einmal mehr die Phagengruppe und die Ent wicklung der Molekularbiologie das geeignetste Beispiel. Siehe Cairns et al. 1967; Mullins 1972.

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bieten zusammengezogen werden, dann kann man behaupten, daß Disziplinendifferenzierung die Probleme, die sie aufwirft, auch selbst löst. Ein weiteres Charakteristikum der Forschergruppen in wenig institutionalisierten Spezialgebieten bedarf der Erwähnung. Häufig handelt es sich bei diesen Gruppen um »invisible colleges«, d.h. Netzwerke von Wissenschaftlern, die durch informelle Kommunikationsbeziehungen zusammengeschlossen werden und deren Mitglieder wissenschaftlichen Eliten angehören.46 Die besondere Prominenz von »invisible colleges« unter den hier interessierenden Gruppen erklärt sich daraus, daß an über Disziplinengrenzen vorangetriebenen Forschungsfronten, an denen folgenreiche Innovationen möglich werden, in der Regel nur Eliten die wissenschaftlich erforderliche Kompetenz und die disziplinübergreifenden Kontakte besitzen – der »normal scientist« betritt ein Forschungsgebiet erst, wenn in ihm tatsächlich »normal science« möglich geworden ist. Den gleichen Befund könnte man unter Gesichtspunkten der Integration der Wissenschaft so formulieren, daß dort, wo jenseits von Disziplingrenzen eine kognitiv-konzeptuelle Integration der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, soziale Integration in der Form der Bildung von Elitegruppierungen die Rolle eines funktionalen Äquivalents für die unzureichende kognitivkonzeptuelle Integration übernimmt. Natürlich gruppieren sich nicht alle »invisible colleges« um ein eigenes, nur von ihnen bearbeitetes Forschungsgebiet. Es gibt daneben einen zweiten Typ von »invisible college«, der sich in gut institutionalisierten, zentral in eine Disziplin eingebundenen Spezialgebieten bildet. In solchen Spezialgebieten, deren »community« entsprechend der Zentralität des Gebietes sehr groß ist, übernimmt das »invisible college« – wie Price behauptet, etwa die Quadratwurzel der Zahl der Forscher im Spezialgebiet – über informelle Kommunikation die Steuerung der Forschungsaktivitäten und verbindet indirekt alle Forscher im Gebiet miteinander. Die integrative Relevanz dieses zweiten Typs von »invisible college« bezieht sich also im wesentlichen auf große Spezialgebiete in Disziplinen. Die hier gegebene Beschreibung integrativer Mechanismen soll die Vermutung plausibilisieren, daß sich – trotz der angesichts des Differenzierungstyps von Wissenschaft zunächst skeptischen Diagnose hinsichtlich einer disziplinenübergreifenden Integration – faktisch ein Muster disziplinärer Interaktion beobachten läßt, in dem, wenn es auch über lange Zeiträume kaum Kommunikationen zwischen Disziplinen geben mag, die relevanten Innovationen dann doch sehr schnell in andere disziplinäre Kontexte transferiert werden. Ein interessantes Beispiel dafür wäre, daß trotz der seit Anfang des 46 | Für eine knappe Charakterisierung Price 1971. Im übrigen Crane 1972, die aber nicht deutlich genug die Differenz zwischen »invi sible colleges« und anderen Gruppenbildungen in der Wissen schaft herausarbeitet.

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19. Jahrhunderts ausgeprägten kommunikativen Distanz zwischen Physik und Chemie die Quantenmechanik der zwanziger Jahre fast ohne Zeitverzögerung in die chemische Forschung übernommen wurde und heute in einer Mehrzahl von chemischen Forschungsgebieten die grundlagentheoretischen Überlegungen weitgehend umstrukturiert hat. Damit sind auch die Disziplinengrenzen zwischen Chemie und Physik durchlässiger geworden, während die Physik zugleich einen Grad an theoretischer Integration erreicht hat, wie sie ihn historisch wohl nie zuvor besessen hat.

IV. D IFFERENZIERUNG UND KOGNITIVE I NNOVATION Die Überlegungen im Abschnitt 2 und 3 haben die Innendifferenzierung des Funktionssystems Wissenschaft in einer eher strukturellen Perspektive in den Blick genommen. Im abschließenden Abschnitt wollen wir nun versuchen, den prozessualen Aspekt der Differenzierung der Wissenschaft stärker herauszuarbeiten. Wenn man unterstellt, daß Wissenschaft als Prozeß aus der Sequenzierung von Forschungskommunikationen besteht, kann man das Spezifikum von Forschungskommunikationen darin sehen, daß sie versuchen, in einem Bedeutungshorizont von Verweisen auf Bekanntes (den Forschungstand), dessen fortdauernde Geltung bestätigt wird, etwas prinzipiell Neues zu artikulieren. Daran anschließende Forschungsdommunikationen bestimmen ihren Platz in einer Sequenz von Forschungskommunikationen genau dadurch, daß sie sich auf die Relation von Wissensstand und vorgeschlagener Modifikation oder Erweiterung beziehen und ihrerseits im Bezug auf dieses Verhältnis etwas Neues zu profilieren versuchen. Kognitive Innovationen als Artikulationen von Differenz in einem breiten Umfeld von Konsens sind also das Ziel von Forschungskommunikationen. Eine Prozeßanalyse der Differenzierung von Wissenschaft müßte daher vor allem das Verhältnis von kognitiven Innovationen und Differenzierungsschritten klären. Zwei Fragerichtungen bieten sich beim Versuch einer solchen Klärung an. Einmal kann man danach fragen, unter welchen Umständen kognitive Innovationen eine disziplinäre oder subdisziplinäre Differenzierung einleiten. Überlegungen dieses Typs würden einerseits auf eher »evolutionäre«, andererseits auf eher »revolutionäre« Verläufe von Differenzierungsprozessen stoßen. Evolutionäre Verläufe sind dort zu erwarten, wo kognitive Innovationen – die quantitative Vermehrung des Wissens über einen Gegenstandsbereich mag hier schon ausreichen – dazu führen, daß ein bisher als homogen behandelter Gegenstandsbereich tendenziell als aus zwei – oder aus mehreren – distinkten Bereichen bestehend erscheint. Differenzierung muß hier nicht von der Akku-

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mulation von Spannungen und von Dissens begleitet sein. Die schrittweise Trennung von Anatomie und Physiologie im 19. Jahrhundert ist hierfür ein relativ gut dokumentiertes Beispiel.47 »Revolutionären« Verläufen von Differenzierungsprozessen hingegen wird man dort begegnen, wo eine Innovation die durch den Forschungsstand und ein auf ihn bezogenes Problembewußtsein geprägten gebietsspezifischen Erwartungen relativ grundlegend verletzt. Innovationen stoßen unter diesen Bedingungen auf Widerstand und ihre Stabilisierung droht an den Kontrollstrukturen der Disziplin oder des Spezialgebiets zu scheitern. Differenzierung hat dann den Sinn, sich dem System sozialer Kontrolle in der Disziplin zu entziehen. Differenzierungen dieses Typs sind z.B. dort zu erwarten, wo Methoden einer Disziplin erstmals auf Fragestellungen einer anderen Disziplin angewendet werden (Molekularbiologie). Wir wollen diese Überlegungen nicht weiter verfolgen und uns stattdessen der zweiten Fragerichtung zuwenden. Hier ist die gesuchte Einflußrichtung gewissermaßen umgekehrt. Differenzierung wird als säkularer Trend betrachtet, der die Entwicklung der Wissenschaft in einer Globalperspektive kennzeichnet. In dieser Sicht wird dann die generelle Funktion interessant, die eine fortschreitende Differenzierung der Wissenschaft für die Häufigkeit wissenschaftlicher Innovationen und damit für wissenschaftliches Wachstum hat. Die Überlegungen dazu, die wir im folgenden anschließen, haben zudem den Sinn, einige weitere Spezifika des Differenzierungsmusters der Wissenschaft und der verfügbaren Integrationsmodi herauszuarbeiten. Um den Zusammenhang von Differenzierung, Innovationshäufigkeit und wissenschaftlichem Wachstum zu klären, ist es vielleicht sinnvoll, sich für einen Augenblick der Argumentationsstruktur von Theorien wissenschaftlicher Entwicklung und wissenschaftlichen Wachstums zu vergewissern. Sehr oft wählt man für die Erklärung von Entwicklung (oder Wachstum) ein endogenes Modell des Typs, daß man annimmt, daß die Exploration eines Forschungsgebietes für jedes gelöste Problem zumindest ein ungelöstes Problem aufwirft. Das Modell postuliert also, daß Forschungsgebiete aus sich heraus wachsen. Differenzierung hat dann in diesem Zusammenhang vor allem die Funktion, durch Auflösung des Forschungsfeldes in eine Mehrzahl von Forschungsfeldern den Übergang von extensiver zu intensiver Exploration des Feldes zu ermöglichen. Differenzierung erhöht also die Anzahl der Probleme, die in einem Forschungsfeld generiert werden können. Komplementär oder alternativ zu endogenen Modellen dieses Typs kann man exogene Modelle wählen, die Wachstum der Wissenschaft aus Wachstum der externen Förderung der Wissenschaft oder genereller aus kausal vorgeord-

47 | Zur Konstitution der Physiologie als Wissenschaft Canguilhem 1963.

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nenten Wachstumsimpulsen in der Umwelt der Wissenschaft erklären.48 Differenzierung der Wissenschaft rückt hier in die zusätzliche Funktion ein, ein Komplement zur Differenzierung der Felder der Anwendung der Wissenschaft und der Interaktion mit Wissenschaft bereitzustellen. Ein drittes Modell wissenschaftlichen Wachstums erhält man, wenn man die Ausgangsannahme des ersten Modells aufgibt: bei der Lösung eines jeden Problems werde zumindest ein neues Problem entdeckt. Führt man statt dessen die Hypothese ein, daß die Zahl der Probleme, die ein Spezialgebiet aus seiner internen Dynamik erzeugen kann, begrenzt ist, so muß man annehmen, daß Wachstum in einem Feld nach einiger Zeit abflacht und eine Sättigungsphase eintritt. Unter dieser Annahme gewinnt Differenzierung eine neue Funktion. Sie stellt nun sicher, daß voneinander getrennte Spezialgebiete differente Veränderungszyklen haben und daher auch die Sättigungsphasen gegeneinander verschoben sind. Es können dann diejenigen Forschungsfelder, die sich nicht in einer Stagnationsphase befinden, anderen Spezialgebieten – auch den stagnierenden – Anreize geben, die instrumenteller, aber auch theoretisch-konzeptueller Art sein können. Wir gelangen damit zu einem je nach Wahl der Systemreferenz als exogen oder endogen zu betrachtenden Modell kognitiven Wandels, in dem Innovationen in Spezialgebieten für andere Spezialgebiete neue Möglichkeiten eröffnen oder neue Fragen aufwerfen und derart stagnierende Spezialgebiete in wieder wachsende Spezialgebiete verwandeln. Diese Modellannahmen machen zwei Voraussetzungen hinsichtlich der Struktur des wissenschaftlichen Feldes: 1. Spezialgebiete müssen so weit voneinander getrennt sein, daß Phasen der Stagnation tatsächlich auf einige Subdisziplinen beschränkt bleiben. 2. Die kommunikative Distanz zwischen Subdisziplinen darf wiederum auch nicht so groß werden, daß der Transfer von Anregungen nicht mehr möglich ist. Zusätzlich ist man auf Übermittlungseinrichtungen angewiesen, und es bedarf einer gewissen Abnahmebereitschaft beim stagnierenden Spezialgebiet. Hinsichtlich des letzten Punktes läßt sich vermuten, daß wachsende Spezialgebiete durch einen relativ hohen Grad von »Abschließung« gekennzeichnet sind, während bei einsetzender Stagnation bei den betroffenen Forschern die Offenheit für die Aufnahme von externen Innovationen steigt. Wenn wir annehmen, daß die beiden eben erläuterten Voraussetzungen erfüllt sind, gelangen wir zu einer Konzeption der Differenzierung der Wissenschaft, in der wissenschaftliches Wachstum sich daraus erklärt, daß Spezialgebiete wechselseitig Anregungen füreinander setzen. Damit besteht die Möglichkeit, daß sich bei voranschreitender Differenzierung der Wissenschaft wissenschaftliches Wachstum deshalb beschleunigt, weil jedes Gebiet eine zunehmende Zahl externer Anregungen erhält. Das vieldiskutierte exponentielle 48 | Siehe zuletzt Blute 1972.

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Wachstum der Wissenschaft wäre dann eine Folge der durch dieses Wachstum selbst eingeleiteten internen Differenzierung der Wissenschaft. Deshalb ist die Möglichkeit einer Verlangsamung wissenschaftlichen Wachstum oder gar einer Stagnation noch nicht ausgeschlossen. Sie würde eintreten, wenn eine Mehrheit von Spezialgebieten in dauerhafte, schwer reversible Stagnationsphasen überginge. Differenzierung könnte die Wahrscheinlichkeit eines solchen Verlaufs sogar dadurch vergrößern, daß sie die Geschwindigkeit der Ausschöpfung der Möglichkeiten der Wissenschaft erhöht. Extern eingeführter kognitiver Wandel, der strukturelle Differenzierung von Wissenschaft zur Voraussetzung hat, löst in den beeinflußten Forschungsgebieten möglicherweise neue Differenzierungsprozesse aus – er bedeutet zugleich aber auch oft Entdifferenzierung, denn die Transferierbarkeit der Innovation beruht in vielen Fällen darauf, daß mit der Innovation gemeinsame Grundlagen der beiden bisher unverbundenen Spezialgebiete entdeckt werden. Nach der Übernahme der Innovation mag im beeinflußten Gebiet eine Innovationsprogression einsetzen, die es wieder stärker vom beeinflussenden Gebiet entfernt und insofern Differenzierung verstärkt. Ähnliches läßt sich beim weitreichendsten Typ wissenschaftlicher Innovation – dem Paradigmawechsel im Kuhnschen Sinn – beobachten. Ein Paradigma, vor allem wenn es in einem Bereich eingeführt wird, den bis dahin vorparadigmatische Forschung kennzeichnete, stellt eine Mehrzahl bisher mehr oder minder unverbundener Gebiete auf eine gemeinsame Grundlage. Damit hat es zunächst einen hochgradig integrativen Effekt. Ähnliches gilt nicht nur für einen Paradigmawechsel im strikten Sinne, sondern häufig bereits für die Genese neuer Theorien. In gewisser Hinsicht haben wir es hier mit einem weiteren Typ von Beziehungen zwischen kognitiven Innovationen und Differenzierung zu tun: Kognitive Innovationen leiten dadurch einen Prozeß der Entdifferenzierung ein, daß sie gemeinsame Gesetzesannahmen für zwei bis dahin distinkte Forschungsbereiche formulieren. Die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus,49 die die bis dahin differenten Spezialgebiete »Elektostatik« und »Magnetismus« übergreift, bietet sich hier als ein naheliegendes Beispiel an. An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, daß die Entdifferenzierung nicht einfach als Kombination zweier bis dahin gesonderter Spezialgebiete zu fassen ist: das neue Spezialgebiet weist eine Reihe eigener Gesetzesformulierungen auf, die nicht auf die Gesetze eines der Ausgangsgebiete zurückführbar sind. Eine theoretisch-paradigmatische Integration kann dann zur Voraussetzung für einen beschleunigt einsetzenden Differenzierungsprozeß werden. Das Paradigma wirkt als Kontrollinstanz, die es erlaubt, beliebig spezielle Fragestellungen zu verfolgen, ohne daß man Gefahr läuft, den Kontakt zur Theorie zu verlieren. Über das Paradigma sind zugleich andere, ähnlich spezielle Forschungsfelder, 49 | Siehe dazu Boisot 1972.

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in denen man selbst nicht arbeitet, erreichbar. Theorien oder die theoretischen Komponenten von Paradigmata haben die Funktion, den kognitiven Transfer zwischen Spezialgebieten über eine Vermittlungsinstanz laufen zu lassen und damit die Anregungsfunktion gewissermaßen zu normalisieren (d.h., sie sowohl in ihrem Effekt sicherzustellen und damit Übertragungsverluste zu vermeiden, als auch sie über das Paradigma auf zu beeinflussende Gebiete abzustimmen und damit Einfügbarkeit zu garantieren). Man muß dabei im Auge behalten, daß Paradigmata selbst bei großer Reichweite selten die disziplinäre Ebene übergreifen (die Quantenmechanik ist hier wieder eine Ausnahme) und daher in ihrer integrativen Wirkung weitgehend auf den innerdisziplinären Bereich beschränkt bleiben. An den Wirkungen des Paradigmawechsels kann man sich ein letztes Spezifikum des Differenzierungsmusters der Wissenschaft vergegenwärtigen, das wir abschließend kurz erörtern wollen. Beim Paradigmawechsel überwiegt ja im Verhältnis des neuen Paradigma zum alten Paradigma die Diskontinuität die Kontinuität. Deshalb verschieben sich auch die Grenzen der Spezialgebiete, es werden Randzonen abgegeben und andere Zonen neu aufgenommen, vielleicht vertauschen auch zentrale und periphere Phänomene ihre Positionen. Auf ähnliche Beobachtungen sind wir schon gelegentlich gestoßen, wir wollen sie zusammenfassen unter dem Titel einer ausgeprägten Reversibilität wissenschaftsinterner Differenzierungsprozesse. Für strukturelle Differenzierung in modernen Gesellschaften ist im allgemeinen charakteristisch, daß, nachdem eine Grenzziehung zwischen zwei Funktionsbereichen einmal erfolgt ist, weitere Differenzierungsprozesse die Form einer internen Auffächerung annehmen, einmal vorgenommene Grenzziehungen aber kaum mehr verändert werden, vielmehr nur als relativ invarianter Ausgangspunkt fungieren. Ebenfalls sind Entdifferenzierungen, die getrennte Funktionen wieder zusammenschließen, relativ selten. Resümieren läßt sich dies so, daß Differenzierung im historisch beobachtbaren Zeitraum ein relativ irreversibler Prozeß ist. Im Unterschied zu diesem in anderen Bereichen des Gesellschaftssystems beobachtbaren Ablauf ist für Wissenschaft charakteristisch, daß ein Modell, das etwa eine strikte Analogie zu Prozessen epigenetischer Zelldifferenzierung benutzt, ganz unangemessen ist: Konzeptionen, die die Abgrenzung einer Disziplin (Forschungsgebiet) gegen andere artikulieren, unterliegen einer ständigen Umformulierung und Neufundierung: Abspaltungen, die nicht etwa die Form einer Autonomisierung annehmen, sondern zu einem Anschluß an ein anderes Gebiet führen; Entdifferenzierungen in der Form einer Kombination von Forschungsfeldern; Neuaufteilungen, die sich schwer als Differenzierungen eines vorherigen Musters fassen lassen. Diese und ähnliche Phänomene sind im Wissenschaftssystem durchaus normal. Das Maß an Irreversibilität und Unilinearität, das Differenzierungsprozessen in anderen Systemkontexten eigen zu sein scheint, fehlt der Wissenschaft also;

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aber im Resultat stellt sich doch eine Struktur ein, die ein Komplement zu den Differenzierungsmustern der Systeme in der Umwelt der Wissenschaft bildet: eine stets weiter in feinere Unterteilungen vorangetriebene Auffächerung des Systems, die im Maße, in dem sie die Einheit der Wissenschaft unanschaulich werden läßt, die Wissenschaft zwingt, sich über ihren eigenen Zusammenhang Gedanken zu machen. Dafür allerdings steht der Wissenschaft wiederum nur das Mittel einer differenzierten Subdisziplin des Wissenschaftssystems zur Verfügung.

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2. Die Autopoiesis der Wissenschaft I. Die Theorie der Autopoiesis ist eine biologische Theorie, die sich die Erklärung des Lebendigen zum Ziel gesetzt hat.1 Aus der Klasse lebender Systeme sondert sie einen spezifischen Typ autopoietischer Systeme aus, benennt deren Besonderheiten und verwendet die Formulierung dieser Besonderheiten als eine Definition des Lebens. Diese Theorie soll uns hier nur in einer Form interessieren, in der sie so weit gegenüber ihrem biologischen Ausgangskontext generalisiert ist, daß es möglich ist, sinnvoll die Frage zu stellen, ob bestimmte Sozialsysteme autopoietische Systeme sind und was sich über sie sagen läßt, wenn man sie als autopoietische Systeme beschreibt. Es geht hier also nicht um Analogien, nicht um die Frage, ob Sozialsysteme Organismen sind oder gar eine Art Lebensprinzip besitzen. An die Stelle von Analogien tritt ein kontrollierbarer Zusammenhang von Generalisierung (gegenüber dem biologischen Ausgangskontext) und Respezifikation (im Blick auf Sozialsysteme), so daß Analogien primär historisches Interesse verdienen, weil sich nämlich gerade für den Fall der Wissenschaft als Sozialsystem nicht bestreiten läßt, daß Organismusanalogien für das Begreifen ihrer sich herausbildenden nichthierarchischen, zirkulären Struktur produktiv waren.2 In einer ersten Annäherung will ich den Begriff der Autopoiesis als eine strengere Fassung des Autonomiebegriffs vorstellen. Autonomie ist ein klassisches Attribut von Systemen in jeder System/Umwelt-Theorie. Gemeint sind mit dem Autonomiebegriff Eigenschaften wie: 1. Unabhängigkeit in der Selbstregulierung, und das impliziert, daß das System Regulative ausbildet – z.B. die Codedifferenz wahr/falsch als Mechanismus der Informationsverarbeitung in der Wissenschaft –, die ihm von anderen Systemen weder zugewiesen noch von diesen kontrolliert werden können. 2. Gleichzeitige Steigerung von Unabhängigkeiten und Abhängigkeiten des Systems im Prozeß seiner Ausdifferenzierung – und damit größere Freiheit für die Wahl von Abhängigkeiten. 3. 1 | Varela 1979; Maturana 1985. 2 | Ein gutes Beispiel ist Friedländer 1847, 2f.

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Das Vorliegen höherer Interdependenzen im System als im System/UmweltVerhältnis. Autopoietische Systeme sind autonome Systeme, die sich durch zusätzliche Eigenschaften auszeichnen. Vier dieser Eigenschaften möchte ich hier einleitend benennen: 1. Operationale Geschlossenheit.3 Mit diesem Begriff ist gemeint, daß Operationen des Systems sich immer zunächst auf andere Operationen desselben Systems beziehen und nur über diese vermittelt auf Phänomene oder Ereignisse in der Umwelt des Systems. Daraus folgt dann, daß Zusammenhänge oder Strukturen prinzipiell nicht von außen in das System eingeführt werden können, sie immer nur im System gebildet werden – und ebendies meint der Begriff der Morphogenese. Das klassische Beispiel für ein operational geschlossenes System ist unser Nervensystem mit einer minimalen Unterscheidungsfähigkeit hinsichtlich Umweltreizen (topologische Differenzierung des Körpers, Reizintensität) und einem Maximum an Komplexität des intern ›errechneten‹ Bildes der Umwelt.4 2. Selbstspezifikation der Elemente des Systems durch das System. Viele Systeme übernehmen ihre Elemente aus der Umwelt – oder sie benutzen die (in sich strukturreichen) Systeme einer anderen Systemebene als ihre Elemente (als für sie strukturlos). Sie prägen diesen übernommenen Elementen durch Relationierung dann lediglich eine systemeigene Struktur oder Ordnung auf, so daß ein System eine Struktur über fremdzugewiesenen Elementen ist. Für autopoietische Systeme hingegen gilt, daß der Systemprozeß selbst spezifiziert, was in ihm als Element fungieren soll, so daß bereits auf der Ebene der Elemente eine prinzipielle Diskontinuität von System und Umwelt vorliegt.5 Diese Vorstellung der durch den Systemprozeß vollzogenen Bestimmung dessen, was ein Element ist, tritt an die Stelle der klassischen Emergenzvorstellung, die noch Strukturbildungen über gegebenen Elementen und die Überraschungen (neue Eigenschaften) bei diesen Strukturbildungen thematisierte. Der für die Soziologie interessanteste Anwendungsfall des neuen Theorems ist natürlich der Übergang von personalen zu sozialen Systemen und die sich dabei stellende Frage, ob soziale Systeme Personen (oder deren Bewußtseinsakte) als ihre Elemente verwenden oder ob sie ihre eigenen Elemente – beispielsweise als Kommunikationen – selbst spezifizieren. 3. Ein autopoietisches System zeichnet sich weiterhin dadurch aus, daß es nicht nur die Elemente, aus 3 | Siehe Varela 1979, Kap. 7; Varela 1983. 4 | Dieser Befund ist heute allgemein bekannt, während mir scheint, daß seine Implikationen für die Epistemologie der Wissenschaft noch kaum bedacht worden sind. 5 | Maturanas ursprüngliche Einsicht war, daß die Farbwahrnehmung nicht etwa eine komplexe Struktur über den gegebenen physikalischen Farben ist, sie vielmehr ihre Elemente als – mit den Farbbezeichnungen unserer Sprache korrelierte – Aktivitätsbereiche in den Ganglienzellen selbst konstituiert. Maturana 1985, 17-19 u. 212; Luhmann 1984, 43f.

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denen es besteht, selbst als solche designiert, es bringt sie auch selbst hervor und ist darüber hinaus nichts anderes als ein Netzwerk von Prozessen der Produktion von Elementen. Dieses Netzwerk von Prozessen wiederum besteht aus nichts anderem als der Interaktion von Elementen, die derart rekursiv die Prozesse erzeugen, von denen sie selbst hervorgebracht werden.6 Ein einfaches Beispiel dafür ist die Zelle: sie wird beschrieben als ein Netzwerk chemischer Reaktionen, für die gilt, daß sie Moleküle – als die Elemente der Zelle – auf eine solche Weise hervorbringen, daß diese Moleküle wiederum mittels ihrer Interaktionen genau das Netzwerk an Reaktionen erzeugen – bzw. an ihm rekursiv mitwirken –, welches sie hervorgebracht hat. Eine der Implikationen dieses Begriffs autopoietischer Systeme ist, daß autopoietische Systeme prinzipiell durch keinen Zweck, kein Ziel, keinen Endzustand beschrieben werden können, der außerhalb des Prozesses läge, der sie selbst sind und in welchem sie ihre Elemente hervorbringen. Das Produkt des Funktionierens autopoietischer Systeme sind offenbar sie selbst – darin liegt eine sachliche Verwandtschaft von Autopoiesis, der Individualität des Menschen und der Nichtsubstituierbarkeit von Funktionssystemen –, und dies ist auch der Grund, warum ›Autopoiesis‹ sich als Definition des Lebens (und des Todes) eignet. 4. Ein letztes Charakteristikum ist die Autonomie in der Demarkation der Grenze des Systems. Sei dies nun in einem physikalischen Raum oder in einem sozial-kommunikativen Raum: die Elemente, die als Grenze des Systems fungieren, werden ebenso durch die Prozesse des Systems hervorgebracht wie alle anderen Elemente des Systems. Durch dieses Kriterium werden Systeme ausgeschlossen, die, wie dies beispielsweise für autokatalytische Prozesse gilt, zwar die anderen Definitionsbedingugen erfüllen, aber auf einen extern begrenzenden ›Behälter‹ angewiesen sind, damit sie ablaufen können.

II. Ist die moderne Wissenschaft als Funktionssystem im System moderner Gesellschaft in dem hier einleitend erläuterten Sinn ein autopoietisches System? Einen ersten Schritt in Richtung auf eine Antwort bietet die Überlegung, daß die frühmoderne Wissenschaft des europäischen 16. bis späten 18. Jahrhunderts mit Sicherheit nicht als autopoietisches System beschrieben werden kann. Frühmoderne Wissenschaft stellt man sich am besten als einen Wissenszusammenhang vor, der sich aus Bestandteilen zusammensetzt, die aus den heterogensten Quellen überkommen sind: tradiertes und wiedergewonnenes Wissen der Antike; in künstlerisch-handwerklichen Praktiken erworbene Kenntnisse; die seit dem 12. Jahrhundert schrittweise neugebildete Begrifflichkeit (und ma6 | So die Definition bei Maturana 1985, 158.

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thematische Innovationen); Ergebnisse vereinzelter in wissenschaftlicher Absicht angestellter Experimente (mit hoher Zuwachsrate im 18. Jahrhundert) und eine Unzahl einzelner Beobachtungen.7 Ein interessantes Analogon dazu ist das frühmoderne Recht in seiner Gemengelage aus rezipiertem römischen Recht, lokalen und nationalen Traditionen und Bräuchen, einzelnen Akten positiver Rechtssetzung des entstehenden Territorialstaates und schließlich Entscheidungspraktiken von Gerichtsinstanzen.8 Offensichtlich ist Quellenorientierung (Erkenntnisquellen, Rechtsquellen) ein charakteristisches Merkmal allopoietischer Sozialsysteme,9 wie man indirekt vielleicht auch an der Selbstreflexion gegenwärtiger Geschichtswissenschaft sehen kann, wo forcierte Quellenorientierung sich gelegentlich mit dem methodischen Selbstmißverständnis verbindet, als könne man Geschichte im unmittelbaren Bezug auf Quellen schreiben und befinde sich nicht in einem operational geschlossenen Kommunikationszusammenhang von Historikern, der Kontakt zu Quellen immer nur über den Kontakt zu anderen Äußerungen im historiographischen Diskurs erlaubt. Angesichts eines überkommenen und heterogenen Wissenskorpus, wie ihn die frühmoderne Wissenschaft besaß, ist der eigentlich relevante Erkenntnisakt der Wissenschaft enzyklopädisch-klassifikatorischer Art. D.h., es handelt sich darum, daß heterogenen Elementen des Wissens eine Struktur auferlegt wird, die das erreichbare Maß an Ordnung garantiert. Wissenschaft ist also primär Wissen in seiner Gegebenheit und in seinen Ordnungsmöglichkeiten, nicht ein sozialkommunikativer Zusammenhang der Erkenntnisproduktion. Dieses Wissen ist – und das gilt für Recht und für Wissenschaft – rezipiert und nicht selbstproduziert, ist im übrigen nicht in sich dynamisch, und die Erkenntnisleistung des Gelehrten ist das Hinzufügen einer Struktur. Natürlich löst eine solche externe Abhängigkeit auch Ambivalenz aus, die sich dort artikuliert, wo die europäische Tradition des ›scientia‹-Begriffs eine Präferenz für Vernunfterkenntnis formuliert, so daß als höchste Erkenntnisform eine gilt, die auf jeden Rekurs auf vernunftexterne Erkenntnisquellen verzichtet. Was fungiert unter diesen Prämissen als Element der Wissenschaft? Noch D’Alembert schließt konsequent: Element der Wissenschaft sind jene grundlegenden Begriffe, aus denen alle folgenden abgeleitet werden können. Das ist in bezeichnender biologischer Metaphorik noch präformationistisch (die ganze

7 | Vgl. Stichweh 1984, insb. Kap. I. 8 | Vgl. de Curzon 1920; Wieacker 1967. 9 | Siehe zu ›Allopoiesis‹ als dem Gegenbegriff zu Autopoiesis Maturana 1985, 159: »jene […] Systeme, deren Organisation die Bestandteile und Prozesse, die sie als Einheiten verwirklichen, nicht erzeugt […] Die konkrete Herstellung dieser Systeme wird […] durch Prozesse bewirkt, die nicht Teil ihrer Organi sation sind.«

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Wissenschaft ist im ersten Element/Keim bereits enthalten)10 und noch längst nicht evolutionär gedacht. Als ›Element‹ gilt nur das erste Glied in einer dann wohl endlichen Kette, und die Denkmöglichkeit, auch alle folgenden Glieder als Elemente zu betrachten und also eine unabschließbare Kette zu erhalten, findet sich hier noch nicht. Die diesen Voraussetzungen entsprechende Technik der Erweiterung des Wissens ist die Logik – z.B. in der Disputation. Die Logik sichert mittels Deduktion eine Vollständigkeit des Wissens des ohne sie nur latent Gewußten, aber es fehlt ihr jede Technik der Öffnung des Systems, die neue Information zuließe. Auf Vernunfterkenntnis spezialisierte, mittels der Logik rationalisierte Erkenntnissysteme sind operational geschlossene Systeme mit normativer (nicht unbedingt faktischer) Unterbrechung des Umweltkontakts. Wenn man gleichzeitig Walter Ongs Diagnose bedenkt, daß die Frühmoderne eigentlich nur noch Residuallogiken hervorbrachte, denen die Realkomplexität mittelalterlicher Logik weder verfügbar noch bekannt war, und daß in diesen Leerraum hinein erstmals der Begriff der Methode formuliert wurde, der zunächst nur auf Probleme der Ordnung von Material für literarisch-rhetorische Zwecke referierte,11 wird die Instabilität der frühmodernen Erkenntnissituation deutlich.

III. Ich möchte im folgenden die These vertreten, daß die moderne Wissenschaft – und das ist im wesentlichen die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts – durch eine Reihe von Umbauten entsteht, die gleichzeitig das allopoietische System frühmoderner Wissenschaft in ein autopoietisches System transformieren. Diese letztere Umstellung vollzieht sich vor allem durch die Konstitution zweier verschiedener Typen von Elementarereignissen in der Wissenschaft, die voneinander entlang des Unterschieds von Kommunikation und Handlung differenziert werden.12 Bevor dieses Argument systematisch und im Gegenwartsbezug entfaltet wird (IV-VI), scheint es sinnvoll, an die Bemerkungen zur frühmodernen Wissenschaft anzuschließen und einige Dimensionen des Umbruchs besonders herauszustellen. 10 | Siehe D’Alembert 1755, 491: »les éléments de la science […] seront comme un germe qu’il suffiroit de développer pour connoître les objets de la science fort en détail«. Zu den Implikationen für ›ele mentare‹ Lehre der Wissen schaft vgl. Schubring 1986, 16ff. 11 | Siehe Ong 1958, 7, 125, 225, 306f. et passim. 12 | Siehe allgemein zum Verhältnis von Kommunikation und Handlung Luhmann 1984, Kap. 4. Es wäre interessant, in einem nächsten Argumentations schritt die Differenzen, die zwischen dieser allgemeinen Darstellung und den Bestimmungen diese Aufsatzes liegen, aus Besonderheiten der Systembil dung im Wissenschaftsbereich zu erklären.

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1. Eine erste bemerkenswerte Entwicklung ist, daß an die Stelle eines rezipierten ein selbst hervorgebrachtes Wissen tritt. Die Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts weist alle wissenschaftsexternen Formen der Wissenserzeugung und alles Wissen, das ihr aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit überkommen ist und nicht die wissenschaftlichen Prüfinstanzen durchlaufen hat, der Tendenz nach ab. In diesem Sinne ist sie erstmals autopoietische Wissenschaft, weil sie nicht mehr die Elemente des Wissens aus der Umwelt und aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit übernimmt, um diesen dann lediglich eine wissenschaftseigene Struktur aufzuerlegen. An die Stelle der Übernahme von Elementen aus der Umwelt tritt das Phänomen, daß die Wissenschaft – und damit die Disziplin als die neue Einheit ihrer Primärdifferenzierung – alle Elemente, aus denen sie besteht, selbst produziert. Privilegiert sind in dieser Situation Teilgebiete wie die Elektrizitätsforschung, weil diese kaum eine Vorgeschichte alltagsweltlich immer schon beobachteter Phänomene besaß: denn elektrische Phänomene waren in natürlichen ›settings‹ nur extrem selten beobachtet worden. Alle Elementarphänomene und Beobachtungen, auf denen die Hypothesen und Theorien der Elektrizitätsforschung aufruhten, hatte diese mit ihren eigenen Instrumenten selbst produziert. Die Entdeckung ›natürlicher‹ Quellen der Elektrizität verdankte sich dann oft Analogien zu den an Instrumenten beobachteten Effekten, war aber im Verhältnis zu diesen zeitlich und epistemologisch ein sekundärer Vorgang.13 Disprivilegiert waren in derselben Situation Wissenschaften wie die Chemie, die eine lange Vorgeschichte technologisch-praktischen Experimentierens aufwies, aus der ihr ein immenses Wissen überkommen war. Es gibt einen bezeichnenden Aufsatz des Hallenser Chemikers und Physikers F.A.C. Gren von 1795, in dem dieser – einen Vorschlag für eine neue chemische Nomenklatur einleitend – klagend registriert, daß der Status der Chemie als Wissenschaft entscheidend dadurch beeinträchtigt werde, daß die Elemente ihres Wissens aus zu vielen Bezeichnungen, analytischen Ergebnissen, Hypothesen etc. bestünden, die sich fragwürdigen analytischen Prozeduren verdankten und nie einer ernsthaften wissenschaftlich-chemischen Überprüfung unterzogen worden seien.14 Natürlich gibt es Wissenschaften, die die Elemente ihres Wissens nicht umstandslos produzieren können, weil sie auf Quellen, vor allem auch klassische Texte verwiesen sind. Kritik wird hier der Begriff, der den Abstand zu jeder ungeprüften Übernahme formuliert und dies so erfolgreich tut, daß er auch in den Naturwissenschaften als ›Kritik der Messungen‹ reüssiert. Wichtig ist dabei vielleicht eins: Während frühmoderne Philologie den Text gern als Anlaß für eine Enzyklopädie in der Form von Annotationen nutzte, die Wahrheiten 13 | Siehe näher Stichweh 1988. 14 | Gren 1795, 173.

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des Textes durch lokale Anbauten von Sachgelehrsamkeit vermehrend, registriert Anthony Grafton an der deutschen klassischen Philologie des frühen 19. Jahrhunderts eine neue Erkenntnisdisposition als eine »preference for error over truth«.15 Gemeint ist damit, daß an die Stelle der Bewahrung überlieferter Wahrheit ein Interesse für Inkonsistenzen und Irrtümer tritt, weil an diese ein Forschungsprozeß anschließbar ist.16 Der Verzicht auf eine einfache Präferenz für die Erhaltung/Vermehrung von Wahrheit ermöglicht hier also, daß mit Hilfe des Duals Wahrheit/Unwahrheit die Selektivität des Zugriffs erheblich gesteigert wird und nur noch ein eigenselegiertes Wissen als wissenschaftlich zugelassen wird. 2. Ein zweites Merkmal moderner Wissenschaft ist in der bisherigen Beschreibung implizit enthalten. Damit die Wissenschaft alle Elemente ihres Wissens selbst hervorbringen kann, muß sie empirische Wissenschaft sein, und sie muß, da man nicht so lange warten kann, bis alle Ereignisse, auf deren Beobachtung man angewiesen ist, sich in der Zeit irgendwann selbstläufig vollziehen, experimentelle Wissenschaft sein. Das Problem der Akzeptierbarkeit von Experimenten war eines der wichtigen epistemischen Hemmnisse in der Genese der modernen Wissenschaft, das erst am Ende des 18. Jahrhunderts, d.h. nach vielen Jahrhunderten Erfahrung mit naturwissenschaftlichen Experimenten, mit einem hinreichenden Grad von Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft aufgelöst werden konnte. Um dies zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß in einer funktionalen Charakterisierung von Wissenschaft das Bezugsproblem von Wissenschaft die intersubjektiv zwingend gewisse Übertragung von Erleben ist. Das Unwahrscheinliche war nun, daß sich ausgerechnet in Ereignissen, die man durch instrumentelle Manipulation vollständig selbst herbeigeführt hatte, etwas vollziehen sollte, für dessen Beschreibung dann die Zurechnung auf Erleben sozial sollte durchgesetzt werden können. Hier liegt der Grund der Präokkupation mit wissenschaftlicher Methode, und es ist bezeichnend, daß sich parallel zur Umstellung auf instrumentenabhängige Eigenproduktion von Wissen das Bewußtsein einer prinzipiellen Differenz von Theorie und Methode durchgesetzt hat. Kommunikativ ständig problematisierbare Methoden bieten dann die Garantien, die ermöglichen, daß für die Ergeb-

15 | Grafton 1983, 181. 16 | Grafton 1983, 181: »Shared errors, rather than shared truths, enabled the textual critic to arrange his codices into groups. Inconsistencies with the known mental habits, language, and historical context of an author enabled spurious works or segments of works to be singled out. Inconsistencies in existing historical accounts enabled a historian to learn the truth behind them and eliminate myths, legends, and propaganda from the record of real events«.

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nisse einer völlig handlungsabhängigen Forschung Zurechnung auf Erleben plausibilisiert werden kann. 3. In der Umorientierung auf Selbstkonstitution der Elemente wissenschaftlicher Forschung zeichnet sich zugleich ein Umbruch im Typus des sinnvollen individuellen Beitrags zur Wissenschaft ab. Angesichts eines Wissens, das aus der Tradition überkommen ist und als traditionsgestütztes Wissen rezipiert wird, ist der angemessene Beitrag, den man sich als Gelehrter vorstellen kann, idealiter das System, d.h. ein Muster der Ordnung des Wissens in einer zunehmend vollständigen Enzyklopädie. Universitätsgelehrte des 16.-18. Jahrhunderts versuchen denn auch vielfach einen solchen systematischen Entwurf, und das ist wiederum gut koordiniert mit der Praxis ihrer Lehre. Eine Wissenschaft, die ihre Elemente selbst konstituiert, kann demgegenüber bereits das Hinzufügen eines neuen Elements als einen sinnvollen Beitrag würdigen. Darin liegt eine Neudefinition der Basiseinheit wissenschaftlichen Fortschritts, die der Grund ist für die Inklusionseffekte, die am Anfang disziplinär differenzierter Wissenschaft auftreten, und die zugleich die Form beschreibt, in der die neukonstituierten Disziplinen – an deren Wissensentwicklung nun nicht mehr jeder einzelne Gelehrte partizipiert, weil disziplinäre Differenzierung sich auf der Ebene der Gelehrten als Spezialisierung manifestiert17 – sich hinreichend viele Beiträge für ihre Fortentwicklung beschaffen. Es kommt noch hinzu, daß, während im allgemeinen für ereignisbasierte autopoietische Systeme gilt, daß sie die Reproduktion des Systems nicht durch Replikation von Elementen vollziehen können,18 die Wissenschaft gerade als methodenabhängige Praxis einen hohen Bedarf für Replikationen hat und derart kommunikative Lücken und Perioden individueller Einfallsarmut jederzeit auf fraglos legitime Weise überbrücken kann. Unter diesen Umständen gibt es für den Amateur, der die literarischen, finanziellen und bildungsmäßigen Voraussetzungen für die Beteiligung an gelehrter Tätigkeit nicht ernsthaft erfüllen konnte, in den neuen Produktionsmustern disziplinär spezialisierter Forschung kurzfristig eine Chance der Partizipation, die bald durch zunehmend anspruchsvolle methodische Standards, vorauszusetzende theoretische Kenntnisse und den finanziell-apparativen Aufwand instrumentenabhängiger Forschung wieder verlorengehen sollte. 4. Die schnell zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Theorie verändert dann noch einmal die Bedingungen für Elementstatus durch Hinzufügung mindestens einer weiteren Anforderung. Es genügt künftig nicht mehr, daß die Implikationen einer Behauptung hinreichend bekannt sind, sie außerdem mutmaßlich richtig ist und wiederholt szientifisch geprüft wurde. Die Frage 17 | Zu den kulturellen Voraussetzungen von Spezialisierung vgl. Stichweh 1991. 18 | Siehe Luhmann 1987, 28.

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der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung muß zusätzlich mit relevanten Folgen in der Wissenschaft verknüpft sein – und das ist nur möglich mittels Integration dieses Wissenselements/dieser Tatsachenbehauptung in die Wissenschaft über Theorie.19 Auch darin zeichnet sich eine Präferenzverlagerung von gesicherten Wahrheiten zu den Wissenselementen, die auch unwahr sein könnten, ab. Dies selbst ist noch keine Präferenz für eine bestimmte Form von Theorie, weist aber darauf hin, daß die Anschlußfähigkeit von Elementarereignissen in der Wissenschaft zunehmend von Theorie abhängt. Dabei darf Theorie nicht einfach als Struktur über den Elementarereignissen verstanden werden. Wie wir noch näher sehen werden, kommt natürlich auch Theorie nur in der Form von Elementarereignissen (theoretischen Behauptungen) vor, die aber die besondere Form haben, daß sie auf die Organisation von Anschlußfähigkeit spezialisiert sind.20 Die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Theorie und Empirie im 19. Jahrhundert hat zunächst ein Leitthema: sie verschiebt das Verhältnis der Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten von Theorie und Empirie auf eine solche Weise, daß die Theorie sich unabhängiger macht von jener Empirie, die – aus der Logik theoretischer Entwicklung betrachtet – okkasionell anfällt, und sich abhängiger macht von jeder Empirie, die sie aus ihren eigenen Konklusionen heraus zwingend verlangt. Theorie löst sich also von dem Erfordernis unmittelbarer Repräsentation/Nachzeichnung aller empirischen Fakten in einem theoretischen System,21 und sie bindet sich an die Richtigkeit der Prognosen, die die deduktive Entwicklung theoretischer Prämissen erzeugt. Daß auch letzteres wiederum keine einfache Sequenz aus Hinschauen und Ablesen der Entscheidung ist, braucht hier nicht betont zu werden.

IV. Die entscheidende Frage für die folgenden Überlegungen ist, wie die neu konstituierten Elemente des Wissens – die Ergebnisse von Beobachtungen und Experimentalanordnungen und ebenso konzeptuelle, theoretische und methodische Überlegungen – zu dem synthetisiert werden, was eine wissenschaftliche Disziplin als die Sozialform moderner Wissenschaft wird. Wie bildet sich aus Ereignissen und Elementen so heterogenen Zuschnitts ein Systemzusam19 | Vgl. etwa Parsons 1937, 16. 20 | Siehe Luhmann 1984, 62, zu Anschlußfähigkeit als Grundproblem auto poietischer Systeme. 21 | Siehe gute Analysen der Probleme von Theorievorstellungen, die empirische Befunde vollständig in der Theorie repräsentiert sehen wollen, bei Caneva 1975; vgl. auch Gould 1977, 21f.

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menhang autopoietischen Typs? Die Antwort ist zunächst: indem alle diese Elemente in die Form von Kommunikationen transponiert werden und als Kommunikationen aufeinander bezogen werden. Historisch gesehen ist diese Antwort nicht ohne weiteres selbstverständlich: Frühmoderne Wissenschaft stellt man sich sinnvollerweise als Text, als Enzyklopädie, als Bibliothek oder als Zusammenhang von Sätzen vor, der eine handlungsfreie kulturelle Existenz besitzt und nur gelegentlich durch kommunikative Benutzung aktualisiert und gewissermaßen verlebendigt wird. Wissenschaftliche Disziplinen kann man sich mit diesem Bild nicht mehr vergegenwärtigen. Sie sind allererst Kommunikationszusammenhänge, die aus Kommunikationen als temporalisierten Ereignissen bestehen, und sie sind, weil temporalisierte Ereignisse im Akt der Mitteilung auch schon wieder verschwinden, darauf angewiesen, unablässig neue Kommunikationen anzuschließen, so daß die Kontinuität des Diskurses einer wissenschaftlichen Disziplin nicht unterbrochen wird. Diese Form der Konstitution des Systems macht im übrigen verständlich, warum Hypothesen und Theorien in der Regel nicht eigentlich widerlegt werden, vielmehr dadurch aus der Wissenschaft verschwinden, daß sie in neuen kommunikativen Akten nicht mehr aufgenommen werden, weil man sie zur Organisation von Anschlüssen nicht mehr braucht. Allein auf die Tatsache, daß sie aus Kommunikationen besteht, kann die Wissenschaft aber nicht ihren autopoietischen Charakter gründen. Kommunikation ist das basale Element von Gesellschaft überhaupt und damit die Bedingung der Autopoiesis des Gesellschaftssystems. Für ein Funktionssystem als Subsystem der modernen Gesellschaft müssen genau zwei Bedingungen erfüllt sein, damit es nicht nur an der Autopoiesis des Gesellschaftssystems partizipiert, sondern sich gleichzeitig auf der Basis einer eigenen elementaren Operation über operationale Schließung im Gesellschaftssystem ausgrenzt. Diese eigene elementare Operation muß erstens die Ordnungsvorgaben des Gesellschaftssystems nutzen können und darf mit Möglichkeiten des Kontakts über innergesellschaftliche Systemgrenzen nicht inkompatibel sein. Da Anknüpfen an Reduktionsleistungen und innergesellschaftlicher Kontakt nur auf der Basis von Kommunikation möglich ist, muß die elementare Operation des Funktionssystems eine systemeigene Spezifikation von Kommunikation sein und also eine kommunikative Form, die in ihrer Spezifizität nur in diesem einen Funktionssystem verwendet wird. Gleichzeitig muß diese spezifische kommunikative Form sich zweitens eignen, um alles, was sich in diesem Funktionssystem an Ereignissen vollzieht, unter den Formzwang zu setzen, in die Termini dieser Form transponierbar zu sein. Das ist gerade angesichts der Heterogenität elementarer Ereignisse im Wissenschaftssystem eine instruktive Bedingung.

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Im Wirtschaftssystem wird die hier beschriebene Funktionsstelle durch das Element Zahlung besetzt.22 Eine Zahlung ist ein spezifischer kommunikativer Akt, der als Element nur im Wirtschaftssystem verwendet wird und für den zusätzlich gilt, daß alles, was in der Wirtschaft geschieht, letzlich in die Form der Zahlung gebracht wird. Vielleicht sollte man den Sinn des ›letztlich‹ hier noch genauer interpretieren. Es sind vermutlich Interaktionen und Organisationen im Wirtschaftssystem denkbar, die einen Zusammenhang wirtschaftlich relevanten Handelns zeitweise ohne die ständige Transformation in Zahlungen sichern können. Auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Reproduktion der Wirtschaft aber ist die Zahlung auch kurzfristig unvertretbar, und die Wirtschaft kann nur als ein nicht abreißender Zusammenhang von Zahlungen fortgesetzt und von außen und innen beobachtet werden. Diese Überlegung dürfte die Identifikation des basalen Elements der Wissenschaft erleichtert haben: das wissenschaftliche Analogon zur Zahlung ist die Publikation. Die Publikation erfüllt die Definitionsbedingungen eines autopoietischen Elements auf verblüffend genaue Weise. Sie ist ein Element, das auf anderen Elementen desselben Typs, i.e. anderen Publikationen, aufruht, und sie verweist auf diese anderen Elemente durch Zitation (Fremdreferenzen). Der Sinn einer jeden Publikation wiederum ist, andere Publikationen anzuregen, die an sie anschließen und diese kognitive Relation ihrerseits durch Zitationen dokumentieren müssen. Die Publikation ist ein an einem – mit zunehmender Präzision festgehaltenen – Zeitpunkt lokalisiertes und also temporalisiertes Ereignis, das als interne Relation von argumentativem Gehalt und den in das Argument integrierten Referenzen23 sich selbst als Einheit aus ›self-identity‹ und ›self-diversity‹ beschreibt.24 Vielleicht sollte man eine vorsichtige Zwischenbemerkung einfügen: die Analogie von Zahlung und Publikation, die am Anfang des obigen Arguments steht, ist in keiner Weise als sachliche Verwandtschaft zu verstehen. Es geht lediglich um die formale Analogie, daß die beiden Basiselemte dieselbe Funktionsstelle in zwei verschiedenen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft besetzen. Weder soll in unseren Überlegungen an die auf Tauschanalogien gestützen Analysen des Wissenschaftssystems angeknüpft werden, noch geht es darum, Publikation und Zitation als Teil eines Belohnungssystems der Wissenschaft zu betrachten. Natürlich sind beide in verschiedenen Hinsichten auch ›rewards‹ und also motivational relevant, aber sie interessieren hier nur 22 | Luhmann 1984a; siehe auch Luhmann 1983; Baecker 1988. 23 | In genauer Sprechweise ist ›Referenz‹ das Verhältnis von zitierendem und zitiertem Dokument; ›Zitation‹ meint dieselbe Relation, aber aus der Sicht des zitierten Dokuments betrachtet. Wie auch sonst üblich, wird ›Zitation‹ hier auch als Oberbegriff verwendet. 24 | Zu diesen Whiteheadschen Begriffen siehe Luhmann 1984a, 312.

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als die die Einheit des Wissenschaftssystems herstellenden kommunikativen Formen der Dokumentation kognitiver Ansprüche und der Nachzeichnung kognitiver Filiationen.25 Die Zitation als die Form der Handhabung von Fremdreferenzen durch Publikationen legt eine Reihe weiterer wichtiger Momente an der Autopoiesis der Wissenschaft offen: 1. Durch Beobachtung des Zitierverhaltens wird verständlich, daß und wie Publikationen andere Publikationen als auf einen Zitationsakt reduzierbares Element (i.e. als strukturlos) behandeln, obwohl diese Publikationen für sich eine innere Struktur aufweisen. Von der Technik der Vernetzung von Publikationen geht ein kognitiver Druck auf die einzelne Publikation aus, sich selbst in die Form eines zitierfähigen Elements zu bringen. Henry Small hat diesen Sachverhalt unter dem Titel gefaßt, daß zitierte Publikationen dazu tendieren, zu Begriffssymbolen (›Concept Symbols‹) zu werden.26 Das impliziert eine soziale Homogenisierung des sachlichen Sinnes von Referenzen und dies in relativ kurzer Zeit. Publikationen, die den Akt der Selbstsimplifikation in Richtung auf Elementstatus noch nicht an sich selbst vollzogen haben, müssen damit rechnen, daß der Wissenschaftsprozeß dieses Geschäft umstandslos an ihnen exekutiert.27 Offensichtlich präferiert die Wissenschaft an der einzelnen Publikation Einfachheit und toleriert Komplexität primär in der Form eines Netzwerks von Publikationen. Daß dies eine relevante Dimension weiterer Depersonalisierung der Wissenschaft oder zunehmender Differenzierung sozialer und personaler Systemreferenzen ist, liegt auf der Hand. Die Wissenschaft hat mit der Option für die Publikation als Basiselement eine Formentscheidung getroffen, die dem personalen Bedarf für Vergegenwärtigung oder Repräsentation der Komplexität eines Bewußtseins nicht Rechnung tragen kann. 2. Das Netzwerk der Interaktion von Publikationen, aus dem jede neue Publikation hervorgeht, wird durch diese neuen Publikationen selbst mittels Zitation beschrieben; aber es wird von ihnen gleichzeitig auch hervorgebracht, da dieses Netzwerk von Interaktionen keine Existenz unabhängig von den Beschreibungen, die von ihm angefertigt werden, besitzt und sich im übrigen durch die Veränderungen, die seine Beschreibungen von Publikation zu Publikation erfahren, auch ständig umstrukturiert. Da es sich bei all dem um kommunikative Akte handelt, wird deutlich, daß die These einer nach Intensität, Bewußtheit, kommunikativer Reichweite und in der Radikalität der Umstellung auf temporalisierte Er25 | Als Instrument zur Aufdeckung der ›Association of Ideas‹ wurden Zitations indizes/ Zitationsanalysen 1955 erstmals vorgestellt. Siehe Garfield 1955. 26 | Siehe Small 1978. 27 | Zur Illustration siehe die Bemerkung von Zuckerman/Merton 1986, 20.

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eignisse neuartigen kommunikativen Konstitution moderner Wissenschaft nicht hinreichend als Theorie wissenschaftlicher Gemeinschaften formuliert werden kann. Wissenschaftliche Gemeinschaften lassen sich beschreiben mit Bezug auf eine angebbare Zahl von Personen, denen man im Prinzip ein Motiv unterstellen kann, unter geeigneten Umständen in einem Interaktionssystem oder in einer Organisation aufeinanderzutreffen. Kommunikation mittels Publikationen und den in sie integrierten Referenzen hingegen implizieren typischerweise auch kommunikative Bezüge auf Beiträge von Personen, für die eine solche Unterstellung nicht sinnvoll gemacht werden kann, und dies auch deshalb nicht, weil einige von diesen Personen in der Gegenwart der jeweiligen Publikation nicht mehr leben. Mittels letzterer Überlegung wird außerdem einsehbar, wie Kommunikation in einem autopoietischen Wissenschaftssystem die allopoietische Vergangenheit der Wissenschaft integrieren kann. Man kann heute ›Aristoteles, ca. 340 B.C.: […]‹ in das Verzeichnis seiner Referenzen aufnehmen und dieses Verzeichnis weiterhin als Beschreibung eines kommunikativen Netzwerks verstehen.28 Daran ist systematisch interessant, daß die radikale Verzeitlichung wissenschaftlicher Kommunikation eine tiefenscharfe Erfassung zeitlicher Distanzen zu verbieten scheint, so daß beliebig große zeitliche Distanzen in der Gleichzeitigkeit aller Referenzen nivelliert werden können. 3. Wenn Publikationen das Netzwerk von Interaktionen, das sie hervorbringt, selbst produzieren, so gilt für die Wissenschaft wie für andere autopoietische Systeme, daß operationaler Vollzug des Elementarakts und Strukturbildung uno actu erfolgen. Es gilt darüber hinaus – und dies vermutlich nur für die Wissenschaft –, daß Publikationen zusätzlich den Übergang von der Strukturbildung zur Strukturbeschreibung vollziehen, weil man Referenzen nicht nur als Singularitäten benutzt, vielmehr dazu tendiert, als zusammengehörig wahrgenommene Referenzen zu ›Clustern‹ von zwei oder mehr Referenzen zusammenzuziehen und als solche ›Cluster‹ wiederholt in Publikationen zu zitieren. Intersubjektive Übereinstimmung in der Bildung dieser ›Cluster‹ ist das beste Indiz kognitiver Nähe, das die Wissenschaft besitzt – und darin liegt der Grund, daß es der empirischen Sozialforschung mit Hilfe der technisch vergleichsweise einfachen Methode der Kozitationsanalyse gelingt, die Struktur des Wissen-

28 | Hermeneutik als die Wissenschaft des Verstehens von Kommunikation unter der Prämisse von großer zeitlicher und sozialer (seltener sachlicher) Distanz ist dann genau wie Logik und Wissenschaftstheorie nur noch eine spezialisierte Unternehmung im Wissenschaftssystem und nicht ein universeller Mechanismus der Kontrolle aller wissenschaftlichen Kommunikation.

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schaftssystems präziser und instruktiver zu beschreiben, als dies heute vermutlich für irgendein anderes Teilsystem moderner Gesellschaft möglich ist.29 4. Ein letzter Punkt, den man hervorheben sollte, ist, daß der Zitationsakt auch eine Art Selbstthematisierung der Autopoiesis der Wissenschaft leistet. Um dies zu verstehen, müssen wir kurz rekapitulieren. Es ist offensichtlich, daß Publikation die universelle kommunikative Form ist, in die die disparaten Elemente des Wissens transponiert werden müssen, wenn sich die Umstellung auf Selbstproduktion aller Elemente des Wissens vollzogen hat. Der Grund der Autopoiesis liegt also in der Umstellung auf Selbstproduktion, auf Erkenntnisgewinn statt Erhaltung/Bewahrung des Wissens als das Telos jeder Wissenschaft,30 und in Hinsicht darauf verhält die Publikation sich als rezeptive kommunikative Form, die ihre Eignung als Elementarakt gerade dadurch erweist, daß sie sich – in Diskontinuität zu ihren allopoietisch adäquaten vormodernen Formen – geradezu mimetisch allen Imperativen der Autopoiesis anpaßt.31 Dem zentralen Gesichtspunkt des Erkenntnisgewinns trägt nun wieder der Zitationsakt dadurch Rechnung, daß er die extreme Reduktion, die er an einer vorausliegenden Publikation vollzieht (und die oben unter 1. als Präferenz für die Einfachheit eines Begriffssymbols beschrieben wurde) als Reduktion auf Erkenntnisgewinn praktiziert. Zitationsakte handhaben Zurechnungsentscheidungen, sind in genau diesem Sinne auch ›labelling‹-Prozesse,32 und das, was sie in oft extrem reduktiver Weise einer vorausliegenden Publikation zurechnen, ist ein – wiederum elementarer – Erkenntnisgewinn. In der vorausliegenden Publikation selbst muß im übrigen kein Vorauswissen identifizierbar sein, daß genau dieses Argument und kein anderes künftig als ihr Erkenntnisgewinn betrachtet werden wird. Aber das mindert nicht den kognitiven Druck auf sie, die Reduktion auf Erkenntnisgewinn bereits an sich selbst zu vollziehen: denn die Unbestimmtheit eines Eklektizismus, der vorsichtshalber der Zukunft lieber alternative Deutungsmöglichkeiten der eigenen Aussagen bietet, rechnet nicht mit der Temporalität der Wissenschaft, die es vorzieht, in einer sowieso ständig verschwindenden Gegenwart selbst systematisch zu denken, als in hermeneutischprojektiver Rückwendung den unklaren Andeutungen einer vergangenen Publikation nachzuhängen.

29 | Die Kozitationsanalyse zeichnet kognitive ›maps‹, in denen ›links‹ zwischen Publikationen durch die gemeinsame Zitation von Zweierpaaren anderer Publikationen hergestellt werden. Siehe zwei neuere Anwendungen: Small/Garfield 1985; Garfield 1986. 30 | Vgl. dazu Luhmann 1981. 31 | Zur Entwicklung der Publikation im Übergang zur modernen Wissenschaft vgl. Stichweh 1984, Kap. 6. 32 | Vg. Small 1978, insb. 338.

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V. Nachdem wir in IV den Elementarakt Publikation vor allem in seinem Umgang mit Fremdreferenzen und damit in seinen Verknüpfungen mit anderen Publikationen studiert haben, wird es jetzt interessant, genauer die Beziehungen anzuschauen, die es zwischen Publiziertem und Nicht-Publiziertem gibt. Eine der Folgen der Tatsache, daß die Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang aus Publikationen als ihren Elementarakten besteht, ist, daß in mancher Hinsicht dasjenige, was nicht publiziert wird, nicht zur Wissenschaft gehört, obwohl es vielleicht wahr ist.33 Die Wissenschaft entwickelt in Hinsicht auf diesen Sachverhalt Werte und Normen, die einerseits bestimmte Ausgrenzungen formulieren, so daß man dann beispielsweise dekretiert, daß Publikation in esoterischen Sprachen oder Drucklegung für private Zirkulation keine Publikation ist,34 also von der Wissenschaft als kommunikativ inexistent behandelt werden kann. Informationsüberlast ist ein wahrnehmbares und plausibles Motiv für solche Dekrete. Auf der anderen Seite gibt es eine Entwicklung positiver institutioneller Normierungen – beispielsweise das ›referee‹-System vieler Zeitschriften –, die die Zugangsschwellen anheben und gleichzeitig dem, was unter ihren Prämissen publiziert wird, eine Minimalform quasi-öffentlicher Beglaubigung verleihen. Der Sinn solcher Regelungen, die von der institutionellen Seite her den kognitiven Druck auf Einfachheit und Reduktion auf Erkenntnisgewinn stützen35 und auf diese Weise die Standardform des ›scientific paper‹ hervorgebracht haben, ist letztlich, den Elementarakt ›wissenschaftliche Publikation‹ deutlich abzugrenzen gegen andere Formen der Kommunikation mittels Druckmedien, die terminologisch vielfach auch als ›Publikation‹ figurieren. Explizite Restriktionen sind vor allem im Kern der Disziplin operativ, dort, wo man ein fachuniverselles (und also auch vom Fach her spezifiziertes) Publikum erreichen will. Im übrigen kann die Wissenschaft sich Liberalität erlauben, weil letztlich jede Publikation mittels ihrer Referenzen Elementarakte identifiziert, die zur Wissenschaft zu rechnen sind, so daß auf diese Weise auch gedruckte Kommunikation integrierbar ist, die ›an sich‹ keine wissenschaftliche Publikation war. Systemgrenzen werden dadurch laufend bestimmt und neu gezogen, und die Elemente an der Grenze des Systems sind dank der über Zitationen (Fremdreferenzen) sich vollziehenden Integration von derselben Art wie alle anderen Elemente des Systems. Selbst wenn sie nicht aus dem szientifischen 33 | Wir treffen hier zum zweitenmal auf eine Bedingung, die bestimmte wahre Sätze aus der Wissenschaft ausschließt. Während es in III, 4 um die theore tische Integration von elementaren Wissensbestandteilen ging, haben wir es hier mit der kommunikativen Integration potentieller Wissenselemente zu tun. 34 | Siehe Meadows 1974; Manten 1980; Stichweh 1984, Kap. 6. 35 | Vgl. dazu ein instruktives Beispiel: Granovetter 1986, 24.

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Netzwerk der Produktion von Publikationen hervorgegangen sind, sind sie auf der Basis der im Wissenschaftssystem benutzten Zitationen, d.h. in ihrer kausalen Effektivität hinsichtlich der Hervorbringung künftiger Publikationen, nicht von anderen Elementen des Systems zu unterscheiden. Kritischer als diese grenzbestimmenden Operationen, die etwas betreffen, was für die meisten Wissenschaften die meiste Zeit unproblematisch ist, ist die Frage, ob Nichtpublikation ein Ereignis im System ist. Die Frage kann sich natürlich nur auf etwas beziehen – ein potentielles Wissenselement –, das eventuell für Publikation in Frage gekommen wäre und von dem irgendjemand im System dies weiß. In der Frühmoderne taucht dieses Problem noch in der Form der fehlenden Motivation zu Publikation auf: Es gibt viele (›Nachteulen‹ nennt sie ein zeitgenössischer Zeitschrifteneditor), die etwas wissen, was publizierbar wäre – aber es fällt schwer, sie zu bewegen, dies zu tun. Es liegt auf der Hand, daß eine zum Beruf gewordene, über publikationsabhängige Karrieren strukturierte Wissenschaft dieses Problem kaum mehr kennt. Vor allem die Verzeitlichung der Elementarereignisse, die Tatsache, daß es am Tag nach Erscheinen einer Publikation schon wieder neue Zeitschriftenhefte gibt, macht es zwingend, unablässig zu publizieren. Nach dem Tag, an dem die lebensgeschichtlich letzte Publikation eines Autors erscheint, ist die weitere Zugehörigkeit zur Wissenschaft nur noch passiv und abhängig von den Referenzen anderer – und es gibt Berichte emeritierter Professoren, daß sie sich zwei Jahre nach dem Rückzug aus Lehre und Wissenschaft nur schwer vorstellen können, wie sie je eine Vorlesung gehalten oder einen Aufsatz geschrieben haben. ›Publish or perish‹ ist zuallererst eine Beschreibung der Zeitlichkeit moderner Wissenschaft und nur sekundär etwas, was mit Karriere und Konkurrenz zu tun hat – zumal dieser Imperativ ein Problem formuliert, das durch Erfolg in diesen beiden Dimensionen eher verschärft wird. Nichtpublikation ist also heute primär ein Problem für den, dessen Nichtpublikation sie ist. Sie diskreditiert nachträglich ein Forschungsprojekt, das bereits beendet worden ist; sie entwertet Theorien und Hypothesen, obwohl diese nicht widerlegt worden sind, und sie hindert am Abschließen, blockiert den Übergang zu anderem – denn die Wissenschaft übergibt im Akt der Publikation, gleichsam als eine objektive Gegenleistung, die Freiheit, jetzt etwas anderes zu tun,36 zumal das Publizierte sowieso in einen operational geschlossenen Systemzusammenhang einrückt, der nur zuläßt, daß man etwas ›beisteuert‹, sich dadurch in der Wahl der Anschlußoperationen aber nicht steuern läßt.

36 | Vgl. Crittenden/Wiley 1980, 354, zu den Problemen, die sich stellen, wenn die Zeitschriften ein Manuskript ablehnen, und einerseits ›Robustheit‹ – im Sinne von Indifferenz gegen Negationen – eine zum Überleben in der Wissen schaft erforderliche Tugend ist, andererseits die Fortsetzung der Versuche das Risiko der Fixierung mit sich bringt.

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Natürlich gibt es einen kulturell fortdauernden Reiz des Nichtpublizierten. Dieser hat mit der paradoxen Hoffnung zu tun, daß nicht in der – wahrscheinlich unbegrenzten – Vielfalt des Publizierten, vielmehr in den vermutlich viel begrenzteren privaten Mikrokosmen des Nichtpublizierten irgendwo ein Geheimnis verborgen sei. Seine Aufdeckung und Publizierung – man denke nur an Benjamins Passagenwerk oder an Einsteins fünfundzwanzigjährige Nichtpublikation – würde die motivierende Hoffnung vermutlich enttäuschen, denn das Geheimnis, das sie wirklich suchte, verbirgt sich im Innersten einer Person. Die wichtigste Form des Nichtpublizierten ist in der Gegenwart das Nochnicht Publizierte. Dabei handelt es sich um Erkenntnisse, von denen jedermann annimmt, daß sie publiziert werden könnten und daß dies wahrscheinlich auch geschehen wird. Man möchte sich aber jetzt schon informieren. Dieses Phänomen hat damit zu tun, daß die Erkenntnisereignisse des Wissenschaftssystems mittlerweile schneller verschwinden, als man sie durch Publikation zum Verschwinden bringen kann. Es gibt dafür Analoga im Wirtschaftssystem: Minimalakte, die nahezu in Sekundenbruchteilen und vornehmlich am Telefon vollzogen werden und in Hinsicht auf die offensichtlich niemand die daraus entstehenden Zahlungsverpflichtungen zu bestreiten versucht. Unter Bedingungen dieses Typs fungiert die Publikation durch reale Drucklegung dann so ähnlich wie eine Buchführung in Organisationen des Wirtschaftssystems, die quasi in historischer Absicht nachträglich eine genaue Sequenz von Zahlungen konstruiert, die als reale Überweisungsvorgänge nie vollzogen worden sind. Auch Zeitschriftenpublikation kann Historie werden, die mit nachträglich genauer Datierung kognitive Ansprüche dokumentiert, über deren Schicksal bereits entschieden ist.37 Ein letzter Gesichtspunkt, den zu erwähnen wichtig ist, ist die Existenz kumulativer Strukturen (›cumulative advantage‹) in Publikationszusammenhängen, die wiederum ein ökonomisches Analogon im Profit des Wirtschaftssystems haben.38 Man publiziert, um zitiert zu werden und dadurch erneut Zugang zu Publikationsmöglichkeiten zu erhalten. Dies muß nicht als eine Abweichung von Sachlichkeit verstanden werden, vielleicht eher als ein Umweg, den man durchschreiten muß, um am Ende schließlich sagen zu können, was

37 | Wenn man aber bedenkt, daß diese Auffassung der Publikation den Akade mien des 18. Jahrhunderts vertrauter war, als sie für uns ist, wird deutlich, daß es immer wieder in der Moderne Ungleichgewichte zwischen den technischen Möglichkeiten der Publikationsmedien und der Temporalität des Wissenschaftssystems gab. Neue Entwicklungen werden sicher nicht eine Rückkehr der Oralität mit sich bringen, weil diese die Risiken der Anschluß fähigkeit in einer auf Erkenntniserwerb eingestellten Wissenschaft nicht tragen könnte. 38 | Siehe zu Profit Luhmann 1984a, 313f.

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einem wichtig ist – wenn man es dann noch weiß.39 Aus der Sicht der Relation von Publiziertem und Nicht-Publiziertem ist der Sinn kumulativen Vorteils offensichtlich: an bestimmten Personen (und Institutionen) im Wissenschaftssystem kristallisiert hinreichend viel Vertrauen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn, so daß man ihnen – weil man den Verlust für die Wissenschaft fürchtet – kein persönliches Reservat des Unpublizierten im Bewußtsein oder im Zettelkasten konzedieren möchte und sie also unaufhörlich unter den Druck der Publikationsnachfrage setzt.

VI. Wenn man in der hier beschriebenen Weise wissenschaftliche Kommunikation als einen über Publikation als Basiselement geschlossenen Systemprozeß denkt, wird die Frage unhintergehbar, wie dieser Systemprozeß seine Zirkularität unterbricht, wie wissenschaftliche Kommunikation dem Schicksal entgeht, Sequenzen von Publikationen nur als endlose Neuarrangements früherer Sequenzen von Publikationen aneinanderzureihen. Sicher ist, daß dies nur über Umweltkontakt möglich ist, daß die Wissenschaft die Zirkularität ihrer Systemprozesse durch Beobachtung ihrer Gegenstandsumwelt unterbrechen muß und daß die Resultate dieser Beobachtungen wiederum nur über Kommunikation, i.e. Publikation, in das System eingebracht werden können. Die wichtigste Bedingung der Möglichkeit der Zirkularitätsunterbrechung moderner Wissenschaft ist die Entstehung eines eigenständigen Handlungstyps, der als operative Grundlage neben die Publikation als den kommunikativen Basisakt tritt und für den Wissenschaftler eine alltägliche Handlungswirklichkeit definiert. Dieser Handlungstyp heißt Forschung, und ›Forschung‹ als ein Begriff, der erst von der auf Selbstproduktion aller Wissenselemente umgestellten modernen Wissenschaft formuliert werden konnte, meint einen Umgang mit der Gegenstandsumwelt (Problemumwelt) der Wissenschaft unter dem absoluten Primat des Erkenntnisgewinns. Wenn man handlungs- und personennah denkt – also nicht von der Ebene des Wissenschaftssystems her –, besteht die Wissenschaft eigentlich nur aus Forschung, und dies genau deshalb, weil Forschungshandeln die tägliche Arbeitswirklichkeit des Wissenschaftlers ausmacht. Gleichzeitig wird auch deutlich, daß man auf der Ebene dieser Handlungs- und Arbeitsvollzüge das Wissenschaftssystem nicht integrieren kann, weil sie als Handlungs- und Arbeitsvollzüge nicht anschlußfähig sind, man sie nicht unmittelbar – zumindest nicht gesellschaftsweit – miteinander verknüpfen kann. 39 | Ähnlich Perrow 1986, der für Publikationskarrieren eine im Lebenslauf mehrfach wiederholte Sequenz von Anpassung an dominante Stile (Publika tion in Kernjournalen) und praktizierter Unkonventionalität (Publikation in edierten Bänden) vorschlägt.

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Für den Kommunikationsprozeß der Wissenschaft ist es unter modernen Prämissen selbstverständlich, daß er sich unablässig durch Verweise auf Forschungshandlungen unterbricht. Informationen, Behauptungen, Hypothesen in Kommunikationsprozessen werden mit Bezug auf Forschungshandlungen plausibilisiert, die selbst nicht primär Kommunikationen sind, wenn sie auch in Prozesse informeller Kommunikation unter den an den Handlungsvollzügen beteiligten Wissenschaftlern eingebettet sind. Für diese Prozesse informeller Kommunikation gilt, daß sie im strengen Sinn nicht an der Autopoiesis des Wissenschaftssystems partizipieren, weil und solange sie nicht jene Wendung auf Formalität nehmen, die die Bedingung wissenschaftlicher Publikation und damit systemweiter Integration der kommunizierten kognitiven Gehalte ist. Die Informalität kommunikativen Austauschs unter den an Forschungshandlungen beteiligten Wissenschaftlern hat also ihren Grund und ihre Rechtfertigung in ihrer Nichtpartizipation an der Autopoiesis der Wissenschaft, und sie wird durch Formzwänge zurückgedrängt, sobald einzelne Episoden aus einer solchen Kommunikation in die Form einer Publikation gebracht werden sollen. Forschung als eine Handlungspraxis hat eine natürliche Affinität zu wissenschaftlichen Instrumenten und zu Methoden, so daß Begriffe wie ›theoretische Forschung‹ oder – noch auffälliger – ›philosophische Forschung‹ nur als Sekundärkategorien formulierbar sind, d.h. durch den Transfer von Sinnmomenten, die im Umgang mit Instrumenten und Methoden erstmals Erfahrungswirklichkeit geworden sind, in eine andersartige wissenschaftliche Arbeitswelt, die durch die Abwesenheit von Instrumenten und begrenzte Möglichkeiten der Methodisierbarkeit bestimmt wird. Als Praxis des Umgangs mit Instrumenten und Methoden stützt sich Forschungshandeln auf die Erfahrungen, die sich der längeren Vertrautheit mit diesen Techniken verdanken. Vor allem aber konzentriert es sich auf Beobachtung der Phänomene, die sich bei Anwendung der Methoden und Gebrauch der Instrumente einstellen. Diese Forschungsprozesse sind teils streng geplant, teils völlig ungeplant, wobei diese Differenz von geplanten/ungeplanten Forschungshandlungen mit der von Thomas Kuhn vorgeschlagenen Distinktion nomale/revolutionäre Wissenschaft korrelieren dürfte.40 Forschungshandlungen lassen sich im übrigen durch das beeinflussen, was in disziplinären Kommunikationsprozessen gerade thematisch ist, wenn auch diese Einflußdimension eine Variable mit großen Schwankungsbreiten ist, weil Indifferenz und Autonomie sich immer wieder aus den motivationalen und kognitiven Bindungen, die durch Instrumente und Methoden erzeugt werden, regenerieren.

40 | Natürlich ist nicht Planlosigkeit die Bedingung revolutionärer Wissenschaft. Es scheint aber so zu sein, daß eine intuitive Sicherheit, die sich explorative Forschungsstrategien leisten kann, am ehesten Chancen für überraschende Durchbrüche bietet.

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In vielen Fällen sind Forschungshandlungen selbst Kommunikationen. Die Methodenvorschrift sieht in diesen Fällen vor, daß der Forscher mit seinem Gegenstand kommuniziert. Wichtig ist daran für unser Argument, daß die Angewiesenheit auf Kommunikation hier ihren Grund in der Autopoiesis des Gegenstandes – nämlich Gesellschaft – hat, während die Autopoiesis der Wissenschaft – nicht aber die Gegenstandsadäquanz der Erkenntnis – indifferent gegenüber der Frage ist, ob im Einzelfall eine kommunikative oder eine nichtkommunikative Forschungsmethode angemessen ist. Prozesse der Kommunikation im Wissenschaftssystem wiederum unterhalten eine Mehrzahl von Formen des Kontakts zur Ebene der Forschungshandlungen. Nicht nur, daß sie die eigene Zirkularität ständig durch Verweise auf die Ergebnisse von Forschungshandlungen unterbrechen. Sie transponieren gleichzeitig auch die Diskussion über Methoden und Instrumente auf die Ebene eines wissenschaftlichen Kommunikationsprozesses, der beispielsweise die Evaluation und Verbesserung von Instrumenten in Publikationen thematisiert. In Zitationsanalysen fällt häufig die zentrale Stellung von Methodenpapieren in wissenschftlichen Kommunikationszusammenhängen auf. Das weist darauf hin, daß nicht nur Spezialdiskurse für Kommunikation über Methoden ausgegrenzt werden, vielmehr gleichzeitig auch gilt, daß Spezialgebiete, die sich selbst als primär an gegenstandsbezogenen Fragestellungen interessiert definieren, in vielen Fällen durch den Bezug auf ein Instrument zusammengehalten werden: sich also konstituieren als Prozeß der Kommunikation über die an einem Instrument beobachtbaren Effekte (Laserspektroskopie, Röntgenstrahlkristallographie). Was mit Hilfe dieser Überlegungen schließlich auch verdeutlicht werden kann, ist, daß die Differenzierung von Kommunikationsprozeß und korrespondierender Ebene des Forschungshandelns im Prinzip nicht mit der Differenz Theorie/Methode oder der Differenz Theorie/Empirie zusammenfällt. Beide Seiten beider Differenzen kommen auf beiden Ebenen vor, obwohl es natürlich Affinitäten und situativ nahegelegte Präferenzen gibt – wenn beispielsweise die relativ handlungsentlastete Situation der Vorbereitung einer Publikation und der entstehende Zwang, den zunächst als Evidenz erlebten Erkenntnisgewinn nichtanwesenden Kollegen kommunikativ plausibilisieren zu müssen,41 einen habituellen Forscher auf für ihn selbst überraschende Weise motivieren mögen, die eigenen Beobachtungen in Richtungen zu überschreiten, die er als ›Theorie‹ (Phänomenologie) erlebt. 41 | Nahezu ausnahmslos scheidet in der modernen Wissenschaft die Möglich keit aus, die Faraday als ›prepublication‹ für einen engeren Kreis von Kolle gen manchmal praktiziert hat: das Instrument selbst, mit dem ein neuer Effekt realisiert worden war, in einer eigens produzierten Miniversion wie eine Publikation zu verschicken. Siehe Gooding 1985, 120-123.

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Ich möchte meine Überlegungen mit drei Bemerkungen abschließen, die Folgen der Trennung von Kommunikationsprozeß und Forschungshandeln betreffen und die vielleicht Eigentümlichkeiten der modernen Wissenschaft besser verständlich machen. 1. Es gibt in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften – angeregt vor allem durch die Organisationstheorie – eine Reihe interessanter Überlegungen zu den strukturellen Folgen des Unterschiedes zwischen zwei Typen von Systemen: ›tightly coupled systems‹ einerseits, ›loosely coupled systems‹ andererseits. Wenn wir diese Unterscheidung auf Systeme applizieren, die auf Erkenntnisgewinn spezialisiert sind, können wir interessante epistemologische Implikationen erwarten.42 Die dafür relevante Frage ist, wie sich diese beiden Typen von Systemen in Hinsicht auf die Fähigkeit, ihre Umwelt zu beobachten, unterscheiden. ›Loosely coupled systems‹ würden sich vermutlich eher eignen, Umweltereignisse in sich abzubilden – durch Abbildung (Einprägung) einer Struktur der Umwelt in das System: Sand ist das bei Weick verwendete Beispiel für eine solche strukturrezipierende, in sich nur locker verbundene Entität. ›Tightly coupled systems‹ dagegen wären eher zum Aufbau einer kumulativen Wissensproduktion imstande, die mit hochgradig selektiven Bildern der Umwelt arbeiten würde. Zu vermuten ist, daß eine irgendwie geartete Kombination zweier in ihrem Typus verschiedener Systeme vorteilhaft wäre, weil sie optimale Umweltsensibilität mit Kontinuität und Kumulativität im Wissensaufbau zu verbinden erlaubte. Es dürfte aufgefallen sein, daß die hier versuchte Beschreibung der Wissenschaft das Wissenschaftssystem als eine solche Kombination zweier Systeme verschiedenen Typs gedeutet hat. Der über Publikation generierte autopoietische Zusammenhang wissenschaftlicher Kommunikation erzeugt zweifellos eine enge Verknüpfung seiner Elemente, während Forschungshandlungen – oft schon in der Sequenz der Akte einer einzelnen Forschungsgruppe, vor allem aber als Gesamtzusammenhang aller Forschungshandlungen – offensichtlich ein ›loosely coupled system‹ bilden. Für Forschung läßt sich sogar behaupten, daß sie in gewisser Hinsicht kein Sozialsystem konstituiert, weil sie zwar einen Handlungstyp ausgrenzt, aber die Vielzahl dieser Handlungen nur indirekt über ihre Beobachtung von der Ebene des wissenschaftlichen Kommunikationsprozesses her zu einem Systemzusammenhang zusammengeschlossen wird. 2. Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, betrifft eine Frage, die sich aus der eben angestellten Überlegung unmittelbar ergibt. Wenn die beiden beschriebenen Systemebenen des Wissenschaftssystems gewissermaßen die Extremtypen möglicher Systembildung verkörpern, welcher Art ist dann eigent42 | Wichtige Anmerkungen dazu bei K.E. Weick in Anlehnung an Fritz Heider: Weick 1976, 6; Weick 1984, 19-23.

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lich die Kopplung zwischen diesen beiden Ebenen? Ich möchte die Vermutung aussprechen, daß es sich um eine lose Kopplung handelt. Selbst in der Hochenergiephysik, die man sich nicht ganz zu Unrecht als Bereich eng verdichteter Abstimmung zwischen Forschung und konzeptuellen Fortschritten vorstellt, gibt es das Phänomen, daß ein in der Theorie noch als hypothetisch postuliertes Teilchen in der Experimentalforschung bereits entdeckt und beschrieben worden ist – aber dieser Sachverhalt unbemerkt bleibt, weil die Nomenklatur, die von den beiden Seiten verwendet wird, nicht miteinander abgestimmt ist.43 Dieses Beispiel trifft allerdings nicht ganz den Sachverhalt, den ich im Blick habe, zumal es in der beschriebenen Episode auch um Nichtkommunikation zwischen Subsystemen wissenschaftlicher Publikation geht. Zentraler noch für das Phänomen loser Kopplung zwischen Forschung und wissenschaftlicher Kommunikation scheint der folgende Sachverhalt: die Relation zwischen Behauptungen, Hypothesen, Theorien, Beschreibungen und den Forschungsergebnissen, die ihnen externe Plausibilität verschaffen sollen, ist keine eineindeutige Relation. Vielmehr ist jede konkrete Verknüpfung zwischen diesen beiden Ebenen Resultat einer Zurechnungsentscheidung, die dieses Forschungsergebnis als relevant für jene Behauptung deutet. Diese Zurechnungsentscheidung kann im Einzelfall immer auch bestritten werden, und wissenschaftliche Kontroversen thematisieren typischerweise die Frage, ob spezifische hergestellte Verknüpfungen zwingend sind oder nicht. Einer der Gründe für die Unmöglichkeit eineindeutiger Verknüpfungen liegt darin, daß der Kommunikationsprozeß der Wissenschaft sinnvoll nur als Kontinuität beschrieben werden kann. Begriffsentwicklungen, Sinnveränderungen, der Zerfall und die Genese wissenschaftlicher Paradigmata können nur als Resultat minimaler evolutiver Verschiebungen gedeutet werden. Die Ebene des Forschungshandelns besteht im Vergleich dazu deutlicher aus diskreten Ereignissen, und eines der Motive für die Selbstunterbrechung wissenschaftlicher Kommunikation in Richtung auf Forschungshandlungen ist der Versuch, diskrete Haltepunkte und damit Sicherheiten in der unendlichen evolutiven Sinnverschiebung von Kommunikation zu gewinnen. Das ist natürlich auch eine Illusion: über Hypothesen wird in Kommunikationsprozessen entschieden, und man kann diese – in der Regel nicht auf einen präzisen Zeitpunkt datierbaren – Entscheidungen nicht mit Sicherheit zurechnen, als wären sie durch ein – als Handlungsdatum fungierendes – Forschungsergebnis definitiv gesetzt. Eine der Folgen dieser Illusion, daß Entscheidungen in wissenschaftlichen Kommunikationsprozessen durch externe Ereignisse zwingend determiniert worden seien, ist, daß Beobachter dazu tendieren, Doppelentdeckungen wahrzunehmen und eventuell Prioritätsstreitigkeiten nachträglich zu konstruieren. Dabei handelt es sich um den Versuch, die kontinuierliche Evolution wissen43 | Siehe Crease/Mann 1984, 83-84.

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schaftlichen Sinns in wegweisende, sich mit Namen verbindende Singularitäten aufzulösen, die in den dramatischen Fällen dann eben mehrfach vorgekommen sein sollen. Eine realistische und historische Betrachtung registriert demgegenüber, daß die Implikationen jeder einzelnen der angeblich identischen Entdeckungen anfangs sowohl unklar wie auch verschieden waren, so daß erst ein langwieriger Kommunikationsprozeß Begriffe und Theorien synthetisiert, in Hinsicht auf die die verschiedenen Forschungsakte dann später als funktional äquivalent erscheinen können. 3. Meine dritte Anmerkung betrifft das Verhältnis von Wissenschaft und Technik. Ich möchte die Vermutung äußern, daß es die oft postulierte Sequenz von grundlagenwissenschaftlichem Theoriefortschritt und dessen schrittweiser Umsetzung in Applikationen, die schließlich zu Technologien werden, in der Wirklichkeit so nicht gibt. Eine sorgfältige Unterscheidung der Autopoiesis wissenschaftlicher Kommunikation von der instrumentenbestimmten Ebene des Forschungshandelns könnte den Sachverhalt offenlegen, daß die Interaktion von Wissenschaft und Technik typischerweise von der wissenschaftlichen Instrumententechnik ausgeht44 – und dort in gewisser Hinsicht auch schon wieder beendet ist. Ein wissenschaftliches Instrument ist in dieser Sicht etwas, mit dem man explorativ Effekte zu realisieren versucht. In der Regel ist dies natürlich ›normal science‹ oder ›normal technology‹, aber gelegentlich mag man – sagen wir beim Durchprüfen von Substanzen mittels einer etablierten Technik – an einer Substanz völlig unerwartete Eigenschaften beobachten. So beispielsweise in der instrumententechnischen Vorgeschichte des Transistors, als man beim Überwechseln von der Arbeit mit Metalleinkristallen zu Silicium- und Germaniumeinkristallen auf unbekannte Eigentümlichkeiten elektrischer Leitfähigkeit stieß.45 An diese instrumententechnische Überraschung schließen nun grundlagenwissenschaftliche Kommunikation und Technikentwicklung als separate Entwicklungsstränge an: in unserem Beispiel einerseits in Richtung auf theoretischen und experimentellen Ausbau der Festkörperphysik, andererseits in Richtung auf die technische Entwicklung des Transistors. Im Verhältnis zu diesen beiden sich dissoziierenden Entwicklungsverläufen ist die wissenschaftliche Instrumententechnik eine partiell unabhängige dritte Größe in vermittelnder Stellung. Offensichtlich sind Artefakte das, was Wissenschaft und Technik verbindet, so daß die Artifizialität der Gegenstände moderner Wissenschaft die Bedingung ihrer technischen Relevanz ist: nur, daß die Erkenntnisabsicht der Wissenschaft vom Artefakt hin auf die Natur zu blicken versucht, während Realisation des Artefakts das Telos der Technik ist.

44 | Siehe Stichweh 1988 und wesentliche Überlegungen bei Price 1965; Price 1984. 45 | Dieses Beispiel bei Price 1984, 14f.

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VII. Nur in der Form einer Schlußbemerkung möchte ich den Rückweg von der Öffnung des Systems – zur gegenstandsaktivierenden Seite des Forschungshandelns hin – zur erneuten relativen Schließung beschreiben. Es gibt eine zweite Form der Unterbrechung der Zirkularität von Systemprozessen, die nicht primär über den Kontakt zum Gegenstand der Erkenntnis führt. Sie wird ermöglicht durch das Faktum der internen Differenzierung der Wissenschaft, d.h. durch die Wiederholung des Prozesses der Systembildung im System, die im Wissenschaftssystem eine Vielzahl interner System/Umwelt-Differenzen in der Form von Disziplinen und deren Subdisziplinen entstehen läßt. Kommunikationsprozesse einer Disziplin sind dann zunächst einmal in sich operational geschlossen – aber sie können durch Beobachtung dessen, was in fremddisziplinären Kommunikationsprozessen geschieht, ihre Zirkularität auch unterbrechen. Die das Wissenschaftssystem integrierende Gemeinsamkeit von Code (wahr/unwahr) und autopoietischem Element (Publikation) fungiert dann als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß man jederzeit in den eigendisziplinären Kommunikationsprozeß eine Publikation einfügen kann, die primär auf fremddisziplinäre Publikationen referiert und in deren Licht mehr oder minder weitreichende Revisionsbedarfe anmeldet. Diese Publikation kann vom eigendisziplinären Kommunikationsprozeß natürlich auch abgestoßen werden. Sie mag dann verlorengehen – und wird im günstigsten Fall viel später von den Wissenschaftshistorikern neu entdeckt, denen der aus temporalisierten Elementen bestehende Systemprozeß, weil sie die Tempoerfordernisse des von ihnen beobachteten (im Unterschied zu denen ihres eigenen) Prozesses nicht mitvollziehen müssen, ja sowieso unter der differenten Perspektive eines idealen Gedächtnisses mit unbegrenzter Zugriffsmöglichkeit auf Vergangenes erscheint. Realistisch ist im übrigen an dieser Perspektive, daß sie in einer pragmatischen Form auch in den Wissenschaften selbst vorkommt: der überraschende Rückgriff auf Vergangenes und lange schon nicht mehr Zitiertes ist eine dritte Möglichkeit der Zirkularitätsunterbrechung – gewissermaßen die Chance, eine selbstgewisse Gegenwart durch ihre eigene Vergangenheit zu irritieren. Schließlich gibt es aber auch eine in der eigenen, nicht in zukünftigen Gegenwarten liegende Chance für die vom disziplinären Kommunikationsprozeß abgestoßene, weil mit fremddisziplinären Referenzen überladene Publikation – sie kann zum Kristallisationspunkt für eine neue Systembildung im System werden.

L ITER ATUR Alembert, J.L. D’, 1755: Éléments des sciences. S. 491-497 Bd. 5 in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Paris.

2. D IE A UTOPOIESIS DER W ISSENSCHAFT

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3. Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems

I. Begriffe wie Selbstorganisation, Autopoiesis, Konstruktivismus und operationale Geschlossenheit eignen sich in der gegenwärtigen Denksituation nicht, um distinkte, deutlich miteinander konkurrierende theoretische Möglichkeiten gegeneinander abzugrenzen. Sie sind eher komplementär, Formulierungen eines neuen Verständnisses sozialer (und anderer) Systeme, erlauben aber als komplementäre Begriffe verschiedene Aspekte dieser neuen Sicht hervorzuheben. Das Folgende ist als ein Versuch zu verstehen, die Tragweite des Begriffs der Selbstorganisation für eine historische und systematische Deutung der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems zu prüfen. Der Begriff der Selbstorganisation thematisiert die Frage des Ordnungsaufbaus in einer Umwelt, in der in Relation zu der emergenten Ordnung die Unordnung zunimmt1 . Der systematische Grund für Selbstorganisation ist offensichtlich der, daß es außerhalb eines entstehenden Ordnungszusammenhangs keine überlegene Information hinsichtlich der Ordnungsmöglichkeiten und Ordnungsbedarfe in diesem Zusammenhang gibt. Der Gegenbegriff zu Selbstorganisation ist dann der der Teleologie, weil Teleologie genau den Fall meint, in dem es eine externe Instanz gibt, die eine solche überlegene Information besitzt. Man kann diesen Unterschied am Beispiel des Malens von Bildern erläutern. Ein Bild ist zweifellos ein teleologisches Produkt, weil es eine Realisation einer außerhalb seiner liegenden Vorstellung ist. Aber es weist zugleich hohe und vor allem zunehmende selbstorganisatorische Eigenschaften auf. Im Grad seiner Realisierung steigt seine Sensibilität für teleologische Fehler und andere Interferenzen der malenden Person. Eine falsche Farbnuancierung, eine unüberlegt gewählte Richtung der Pinselführung, eine unruhig skizzierte weitere 1 | Vgl. zu Selbstorganisation und verwandten Begriffen, Foer ster 1984 und 1985; ders. 1984a und 1985a.

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Figur können den erreichten Ordnungsaufbau jederzeit gefährden, so daß im Malprozeß an die Stelle der Umsetzung einer Vorstellung zunehmend die Erfahrung tritt, daß nur noch dem Bild selbst die Information entnommen werden kann, wie es fortgesetzt werden soll. Es ist offensichtlich, daß die Prominenz spontaner, automatischer Malweisen in diesem Jahrhundert sich wesentlich einem Versuch verdankt, in einer Situation, in der die Kunst mit der Abbildungsabsicht einen zusätzlichen teleologischen Halt verloren hat, durch Ausschaltung des bildexternen Bewußtseins die selbstorganisatorischen Tendenzen im Bild das Übergewicht gewinnen zu lassen. Selbstorganisation als Theorie oder Begriff weist enge Beziehungen zur Evolutionstheorie auf. Strukturelle oder interne Selektion2 ist der in der Evolutionstheorie verwendete Begriff für die selbstorganisierenden Eigenschaften lebender Systeme. Mit diesen Begriffen ist gemeint, daß eine jede Variation/ Modifikation, bevor sie als Variante eines Individuums/eines Organismus dem selektiven Druck einer Umwelt ausgesetzt sein kann, zunächst Bedingungen struktureller Kompatibilität erfüllen muss, die durch die interne Organisation des Organismus gesetzt werden, an dem sie als Variation auftritt. Eine so verstandene Evolutionstheorie, die sich für die intervenierenden Restriktionen interessiert, die zwischen den Polen von Variation und (externer) Selektion liegen – und damit für die durch Selbstorganisation des Organismus gegebenen Imperative –, ist zu deuten als eine prinzipiell nichtteleologische Theorie. Als eine solche muß sie allerdings der Tatsache Rechnung tragen, daß die selektiv relevante Umwelt des Organismus zwar keine überlegene Information hinsichtlich seiner Ordnungsbedingungen besitzt, aber dies hinsichtlich seiner Überlebensbedingungen der Fall ist. Daraus folgt, daß, sofern es eine extrem große Zahl von Individuen und Generationen von Individuen gibt, auf die der selektive Druck der Umwelt einwirken kann, sich der Eindruck aufdrängen mag, es sei möglich, die innere Ordnung des entstehenden Systems fast völlig aus seinen Überlebensbedingungen in der Umwelt zu erklären. Der Organismus könnte dann für sich selbst – oder für den ihn beobachtenden Evolutionsbiologen – in Hinsicht auf Imperative seiner inneren Ordnung eine Art ›black box‹ sein, weil alle evolutionären ›Entscheidungen‹ sowieso über die Selektion ganzer Organismen laufen und in diesem Sinne die Kenntnis von Restriktionen innerer Ordnung irrelevant ist. In diesen Umständen liegt der Grund, warum Versionen der Evolutionstheorie einen gewissen Erfolg haben konnten, die Bedingungen struktureller Selektion nicht in die Erklärung einschlossen und daher mit Selbstorganisation inkompatibel schienen. Diese Überlegung aufnehmend, kann man jetzt in einer ersten Annäherung den Steuerungsbegriff genauer bestimmen. Steuerung meint offensichtlich nicht den Versuch, Selbstorganisation des zu steuernden Systems durch Teleologie 2 | Vgl. zu diesen Begriffen Campbell 1986 und 1987.

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zu ersetzen oder zu überformen, vielmehr verfolgt sie die Absicht, Evolution zu simulieren. Das aber heißt, daß Steuerungsversuche in ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit davon abhängen, daß sie tatsächlich als eine selektiv relevante Umwelt auf hinreichend viele voneinander unabhängige Einheiten/Individuen3 einwirken und daß sie im übrigen Parameter des zu steuernden Systems beeinflussen, die in diesem hinreichend wirkungsfähig sind. Hinzu treten zeitliche Bedingungen, die die relative Stabilität von Steuerungsabsichten betreffen, da in einem zweiseitigen System/Umwelt-Verhältnis die stabilere Seite eher imstande sein wird, als Selektor zu wirken. Als letzten Begriff in dieser Vorbemerkung möchte ich kurz den der Differenzierung vorstellen. Differenzierungstheorie als eine Theorie der Systembildung4 konzentriert sich auf die Entstehung von Systemen in Relation zur Entwicklung der Systeme in ihrer Umwelt. Im Unterschied zum Paradigma der Selbstorganisation geht es hier also nicht um Ordnungsbildung in einer im weiteren oft nicht näher bestimmten Umwelt, sondern um Beziehungen zwischen mehreren Ordnungsbildungen. An der Umwelt fällt dann weniger auf, daß sie in Relation zum entstehenden System desorganisiert wird, stattdessen wird sichtbar, wie diese relative Desorganisation Freiräume für eine anders zugeschnittene Ordnungsbildung schafft. Die besondere Prominenz differenzierungstheoretischen Denkens in der Geschichte der Soziologie – beispielsweise im Vergleich zu der erst heute intensiver diskutierten Evolutionstheorie – hat offensichtlich mit einer besonderen Adäquanz dieses Denktypus für die europäische Situation der beginnenden Moderne zu tun, in welcher eine Pluralität von Funktionssystemen gleichzeitig entstand, man also auf signifikante Weise Inter-SystemDifferenzierung beobachten konnte.

II. Ist Wissenschaft ein sich selbst organisierendes System? Die Antwort auf diese Frage wird – wie für jedes Sozialsystem – im Prinzip affirmativ sein, so daß die eigentlich interessante Frage ist, wie Wissenschaft ein selbstorganisiertes System ist, und vielleicht, wie sie es in verschiedenen Epochen auf verschiedene Weise ist. Am Anfang der Überlegung sollte man noch einmal den eben schon thematisch gewordenen Sachverhalt betonen, daß die moderne Gesellschaft und jedes der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft nur ein einziges Mal entstehen, das Wissenschaftssystem also nicht das Resultat selektiven Drucks auf eine Viel3 | Hat man nicht Einheiten/Individuen etc. im Blick, sondern ein größeres System, das aus vielen Einheiten/Individuen besteht, so folgt also die Bedin gung der Dekomponierbarkeit in diese Ein heiten als Erfolgsbedin gung für jede Wirkungsabsicht. 4 | Siehe Luhmann 1986 und Stichweh 1990.

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zahl alternativer Versionen ist5. Es fehlt demnach jede Information, die sich auf Vergleiche mit anderswo realisierten Möglichkeiten einer Wissenschaft stützen könnte, so daß prinzipielle Stellungnahmen zur Wissenschaft schnell in die Verlegenheit einer pauschalierten ja/nein-Option geraten, und man ernsthaft als kritischer Beobachter von außen eigentlich nur der Wissenschaft dabei zusehen kann, wie sie sich selbst und ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt beobachtet – und wie sie das als Folge ihrer internen Differenzierung auf je verschiedene Weise tut. Es scheint zwingend, eine Charakterisierung frühmoderner Wissenschaft zu versuchen, um von dieser her einen Blick für die Transformationen in der Entstehung moderner Wissenschaft zu gewinnen. Vielleicht sollte man zunächst betonen, daß spätmittelalterliche und frühmoderne Wissenschaft vor allem fremdgeneriertes Wissen und fremdgenerierte Wissenschaft verwalten. Weder die Genese dieses meist der Antike verdankten Wissens noch die Zufälle seiner Ankunft sind etwas, das von der zeitgenössischen Wissenschaft kontrolliert werden kann. Im übrigen ordnet sich dieses Wissen auch nicht selbst. Leibniz hat diesen Sachverhalt in einem seiner vielen – in diesem Fall auf eine Enzyklopädie zielenden – Projekte (für Ludwig XIV.) dramatisiert. Er klagt, das zeitgenössische Wissen sei wie »une grande boutique ou magazin ou comptoir sans ordre et sans inventaire: car nous ne sçavons pas nous même ce que nous possedons déjà, et ne pouvons pas nous en servir au besoin […] nous sommes pauvres au milieu de l’abondance«6. Einem solchen Wissen ohne innere Ordnung droht sogar, daß es wieder verlorengeht oder vergessen wird. Erhaltung des Wissens und der Versuch seiner Organisation sind deshalb die beiden wesentlichen – im übrigen von verschiedenen Traditionen kultivierten – Tätigkeiten frühmoderner Wissenschaft. Frühmoderne Wissenschaft ist dann primär Fremdorganisation eines sich selbst nicht ordnenden Wissensbestandes. Sie ist ausdifferenziertes Beobachten von Beobachtungen, die oft vor Jahrtausenden gemacht sind, ohne daß sie sich für (eigene) Beobachtungen in gleichem Maße interessiert. Kurz möchte ich die praktische Differenz andeuten, die zwischen Erhaltung und Organisation (Ordnung) des Wissens als den beiden Leitbegriffen liegt. Organisation des Wissens wird primär durch die große enzyklopädisch-klassifikatorische Tradition betreut, die aus dem frühen Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert reicht, in dem sie sich schließlich verabschiedet, weil sie sich aus einer Klassifikation des Wissens endgültig in eine Klassifikation der Wissenschaften verwandelt hat; sie jetzt also nur noch ein sich selbst organisierendes System be5 | Die national differierenden Formen der Institutionali sie rung von Wissen schaft können nur begrenzt als Varian ten zählen, da in vielen Hinsichten eine Perspektive plausibler ist, die mit Bezug auf nationale Varianten von Zeit verschiebungen und Nachahmungsprozessen in der Entste hung eines Systems moderner Wis sen schaft spricht. 6 | Zitiert nach Couturat 1901, 149 (Hervorhebung von mir).

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obachtet, es nicht mehr durch Ordnungsleistungen als System erst konstituiert. In diesem selbstorganisierten System kann sie allenfalls eine – bis hin zu Piaget gelegentlich reaktivierte7 – propädeutische Funktion für die Wissenschaften haben8. Die Erhaltung des Wissens hat ihre wichtigste institutionelle Stütze an der eigentümlichen europäischen Vorstellung, daß gelehrte Bildung Sprachlernen ist. Sprache, Texte und Wissen gehen hier einen Zusammenhang ein, in dem die Erhaltung des Wissens von der immer erneuerten Aneignung klassischer Sprachen und Texte gesichert wird. Auch diese Vorstellung kennt Formen ihrer Kontinuierung bis in die Gegenwart – im Curriculum des humanistischen und letztlich auch in dem des neusprachlichen Gymnasiums oder in der ›explication du texte‹ als der basalen Unterrichtseinheit im französischen ›lycée‹9 . Diese beiden Wertideen konvergierten in der früh- und hochmittelalterlichen Vorstellung, daß die Sprache selbst die natürlichste Form der Enzyklopädie sei – ihre sorgfältige Analyse bereits ein vollständiges System des Wissens ergebe10. Aber das konnte man in der Frühmoderne nach der massiven Rezeption antiken Wissens, das zudem dank Buchdruck dauernd verfügbar war, nicht mehr ernsthaft glauben, und vermutlich ist die Differenzierung von Sprachlernen (= Erhaltung) und Enzyklopädie/Klassifikation (= Organisation)11 selbst ein wichtiges dynamisches Moment in der Entstehung moderner Wissenschaft: in den von der Erläuterung einzelner Worte (in einer durch Texte vorgegebenen Sequenz) abgerückten Enzyklopädien12 konnten bis dahin noch nicht formulierte Zusammenhänge wahrnehmbar werden, und die Sprachen wurden verstärkt zu einem Instrument, mit dem man auch Dinge ausdrücken kann, die nicht primär ›Reinstaurationen‹ sind. Diese Gefahr variationsinduzierenden Sprachgebrauchs wurde in frühmodernen Abhandlungen über Sprachlernen immer gesehen. Roger Ascham beispielsweise diskutiert 1570 die sechs Modi des Sprachlernens (translatio, paraphrasis, metaphrasis, epitome, imitatio, declamatio) und lehnt prinzipiell die potentiell Variation induzierenden Modi wie Paraphrase und Epitome ab, votiert dagegen für den Vorrang der Imitatio, weil auch die großen Autoren der Antike dieselben Sachverhalte wiederholt mit

7 | Vgl. Piaget 1967. 8 | Siehe zusätzliche Gesichtspunkte bei Stichweh 1984, 7-38; ders. 1991, 102-5. 9 | Vgl. zum Verhältnis von ›explication du texte‹ und sozialer Autori tät Pitts 1981. 10 | Interessant dazu in erziehungshistorischer Sicht Durkheim 1969, Kap. V. 11 | Vgl. zu dieser Differenzierung und zu der Vorläuferrolle des ›Grammaticus‹ für den Enzyklopädisten Kühlmann 1982, 288ff. 12 | Vgl. zum Grad, in dem im 16. Jahrhundert Texteditionen und Kommentare durch Kumulation von Anmerkungen zu nichtal phabe tischen Enzyklopädien wurden, Grafton 1981, 48.

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exakt denselben Worten ausgesagt hätten13. Etwas anders klingt ein verwandtes Argument nur fünfundsiebzig Jahre später bei einem in vielem außergewöhnlichen Autor, Daniello Bartoli, jenem italienischen Jesuiten, der bereits 1645 eine Galilei-Idolatrie betreibt. Auch bei Bartoli finden wir eine Sonderstellung der Imitatio, die aber ihren Grund jetzt wesentlich darin hat, daß, wenn man nichts Neues zu sagen weiß, die Imitatio das unbewußte Plagiat vermeiden hilft. Wer etwas Neues zu sagen hat, den kann man auf diesen Modus des Sprachgebrauchs nicht mehr verpflichten14 . Das Lateinische als die wichtigere der zwei (oder drei) klassischen Sprachen übernimmt eine Mehrzahl von Funktionen, die mit Ausdifferenzierung und mit Systematisierung zu tun haben. Es sichert einen Freiraum für gelehrtes Wissen, weil das, was in Lateinisch sprechenden akademischen Institutionen geschieht, von außen nicht ohne weiteres eingesehen werden kann. Gleichzeitig stützt das Lateinische Systematisierungsversuche, weil alles, was vorkommt, in die gleichen sprachlichen Formen übersetzt werden muß. Latein und Buchdruck als die formalen Bedingungen gelehrten Wissens15, in die alles transformiert werden muß, was auf diesen Status Anspruch erhebt, versetzen die Frühmoderne erstmals annähernd in die Situation, gleichsam über ein ›musée imaginaire‹ alles von der Menschheit bisher gewußten gelehrten Wissens zu verfügen. Daß dies – ähnlich wie für die Gegenwartskunst, allerdings noch unter Imperativen von Ordnung und Erhaltung – eine fördernde Rolle beim Übergang vom rezeptivorganisierenden Umgang mit Material zu einer Wissensmasse als einem kulturellem Potential, das in sich selbst Anregungen erzeugt, gespielt haben dürfte, liegt auf der Hand. Der Übergang zu den Nationalsprachen ist der nächste Schritt. Im Resultat induziert er einen Traditionsbruch, und er signalisiert eine Wertverschiebung, da Erhaltung des Wissens auf einmal als unproblematisch oder als weniger relevant erscheint, Tradition erstmals als Last erfahren wird. Die Nationalsprachen sind in vielem ein Experimentieren mit Variationschancen, da von ›Imitatio‹ keine Rede mehr sein kann, man vielfach die Worte, deren man für die Be13 | Ascham 1570, 175-230. Orale Komponenten in antiken Texten wer den hier also zum Argument gegen variationsin duzieren den Sprachgebrauch: »The old and best authors that ever wrote, were content, if occasion required to speak twice of one matter, not to change the words, but ›retos‹, that is, word for word, to express it again.« (182). 14 | Bartoli 1645, 58-64, 71ff. Siehe dort S. 72: »Chi non ha in capo un teatro di proprie Idee, e Idee di buon diseg no, prenda, conforme all’antico costume della prima, e rozza pittura, i contorni dell’om bre di figure perfette, e com pisca sù que’modelli il suo lavorio.« 15 | Schriftlichkeit und Textualität sind historisch vorge lagerte Bedin gungen desselben Typs. Vgl. zur Diffe renz von Schriftlichkeit und Textualität Morri son 1987, insb. 248, 258.

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schreibung der Sachen bedarf, erst noch erfinden muß. Darüber hinaus setzt man mit den Nationalsprachen in zweifacher Hinsicht auf Inklusion: Einmal sind sie für die Wissenschaft – man denke an Christian Thomasius – der Versuch, ein größeres Publikum zu erreichen, im kommunikativen Bezug auf welches sie als Wissenschaft wachsen kann. Außerdem rekrutiert man mittels der Nationalsprachen neue Autoren, die Latein nicht hätten schreiben können, und nimmt dafür die sich abzeichnende nationalsprachliche Heterogenität der Wissenschaft in Kauf. Diese wird tolerierbar, weil für eine Wissenschaft, deren Präferenzen sich von Erhaltung zu Variation verschieben, nationale Kontexte als evolutionäre Nischen fungieren, die Variationen eine etwas längere Lebenserwartung bieten. Wir haben bisher bewußt von Wissen oder wissenschaftlichem Wissen gesprochen. Das hat damit zu tun, daß die Differenzierung von Wissen und Wissenschaft in der Frühmoderne noch nicht so ausgeprägt ist – oder anders formuliert: die Wahrheitsfrage für Wissen noch nicht als die letzte kritische Schwelle fungiert16. Eine Orientierung, die vor allem um die Erhaltung des Wissens besorgt ist, wird das vorhandene Wissen nicht durch kritische Prüfung seiner Richtigkeit gefährden wollen. Von einer solchen Bereitschaft hängt aber eine Differenzierung von Wissen und Wissenschaft ab. Ein Moment dieses Differenzierungsprozesses kann man sich an einer am Ende des 17. Jahrhunderts geschriebenen Passage bei William Temple vergegenwärtigen: »taking Knowledge to be properly meant of Things that are generally agreed to be true by Consent of those that first found them out, or have been since instructed in them; but Learning is the Knowledge of the different and contested Opinions of Men in former Ages, and about which they have perhaps never agreed in any«17. Die Unterscheidung läuft hier entlang der Dimension Gewißheit des Wissens vs. reflexives Wissen über Meinungen. Wissenschaft wird offensichtlich verstanden als Selektion jener Teilmenge von Wissensbestandteilen, die immer für wahr gehalten wurden. Das ist natürlich selbst noch ein historisches und kein systematisch-kritisches Wahrheitskriterium. Gleichzeitig wird deutlich, wie der neue wissenschaftliche Gewißheitsanspruch gegen Gelehrsamkeit (learning) diskriminiert, weil diese nur Meinungen repetiert und zwischen ihnen nicht entscheiden kann. Verständlich wird an dieser Passage, wie sich die Bereitschaft selektiver Behandlung der Tradition durchsetzt und wie ebendies vieles bisherige Wissen in den Status der Meinungen zurückstuft. Diese Bereitschaft wird dadurch verstärkt, daß vermehrt neues Wissen vorkommt, das sowieso nicht durch Tra16 | Das meint natürlich nicht, daß die Frühmoderne der Wahrheit des Wissens gleichgültig gegenüberstünde; nur scheint ihr die Un wahrheit des tradierten Wissens nicht allzu wahr schein lich. 17 | Temple 1720, 153.

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dition gegen Unrichtigkeitsverdacht geschützt wird. Die dadurch intensivierte Prüfbereitschaft kann natürlich auf älteres Wissen zurückgewendet werden. Das verweist uns in das 18. Jahrhundert: man muß sich vor Augen führen, daß das 18. Jahrhundert die moderne Wissenschaft außer durch einen immensen Zuwachs von Wissen, der sich der Eröffnung neuer Erkenntnisquellen verdankt, gleichermaßen durch eine immense Zerstörung von Wissen vorbereitet hat, weil jetzt das zuvor angestrengt erhaltene und systematisierte Wissen unter Prüfbedingungen gerät. Mit diesen Umstellungen beginnt sich der Autonomiestatus der Wissenschaft zu verändern: an die Stelle der schwächeren Autonomiebedingung, wie sie eine Theorie der Selbstorganisation vermutlich formulieren würde, daß nur im System selbst hinreichende Information vorhanden ist, die es erlaubt, disparates Material in einem Systemprozeß zu synthetisieren, tritt schrittweise zusätzlich die Erfüllung der stärkeren Autonomiebedingung, wie sie eine Theorie der Autopoiesis fordern würde: daß das System selbst seine Elemente so konstituiert, daß der Systemprozeß in der Folge nur mit selbsterzeugten Elementen arbeitet. Dies impliziert sowohl die Prägung einer universellen Form für alle Elemente eines Systems, ohne die ein Element im Systemprozeß nicht als zugehörig erkannt würde, wie es auch die Selbstproduktion jedes einzelnen Elements durch das System postuliert. Gemeinsam ist beiden Denkansätzen (Selbstorganisation und Autopoiesis) ein Duktus des Denkens, der von der Neutralisierung externer Kausalitäten ausgeht: diese spielen bei allem, was im System geschieht, eine Rolle, können aber nie die Selbstbezüge, i.e. Anschlußzwänge, unterlaufen, die den Einbau des von ihnen beeinflußten Geschehens in Struktur und Prozeß des Systems steuern. Um zur historischen Analyse zurückzukehren: es muß noch genauer herausgearbeitet werden, wie Neuheit der Erkenntnis Erhaltungs- und Ordnungsgesichtspunkte zu überformen beginnt. Es steht außer Frage, daß das 18. Jahrhundert die Wissenschaft durch eine Mehrzahl neuer Erkenntnisquellen unter Verarbeitungsdruck setzt: Bergbau und andere Formen der Beanspruchung des Bodens (Bautätigkeit, Landwirtschaft), Reisen und Expeditionen, das Fortschreiten der kolonialen Expansion, ja überhaupt die Aktivierung des Weltzugriffs durch eine Mehrzahl sich ausdifferenzierender Funktionssysteme – in all diesen Kontexten fällt eine Vielzahl von Informationen und Erkenntnischancen an, die die Neugier und Verarbeitungsfähigkeit der Wissenschaft auf die Probe stellen. Bemerkenswert ist nun, daß die Wissenschaft darauf nicht nur mit einer Anpassung ihrer Schemata (Abstraktion, Generalisierung) reagiert hat. Die fiktive – Borges entlehnte – chinesische Klassifikation der Tiere, mit der Foucault ›Les mots et les choses‹ eröffnet18, kann vom Extremfall her gut beleuchten, warum dies keine Möglichkeit war. Die Kombination von völli18 | Foucault 1971, 17ff.

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ger Rationalität der Ordnungsschemata mit Abwesenheit einer Kontrolle über – eventuell abstruses – zugeliefertes Material bietet offensichtlich keine Chance, eine auf Organisation von Anschlußfähigkeit ausgerichtete wissenschaftliche Kommunikation auszudifferenzieren. Statt einer Beschränkung auf eine solche reaktive Anpassung der Verarbeitungsschemata wählt die Wissenschaft einen Weg, den man Internalisierung der Erkenntnisquellen oder auch Diskreditierung extern zugelieferter Erkenntnis nennen kann. Dies vollzieht sich in einer Mehrzahl von Formen und ließe sich beispielsweise gut an einer Geschichte der Textkritik zeigen. Gerade die Philologie nimmt ja den erstaunlichen Weg von einer enzyklopädisch-explikativen Bindung an klassische Texte zu einer Dekomposition der Texte – man denke an die Homerischen Epen nach Friedrich August Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ (1795) –, die keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Artifizialität rekonstruierter Texte, dies im Verhältnis zur Tradition der Kenntnis dieser Texte gesprochen, und der Artifizialität einer naturwissenschaftlichen Erkenntnissituation mehr erlaubt19. Gleichzeitig gewinnt eine solche mit einer schärferen Innen/Außen-Differenz operierende Philologie ein distanzierteres Verhältnis zur eigenen Geschichte, weil die Ordnungen des Textes, die sie jetzt destrukturiert, wesentlich auch Ablagerungen früherer Formen von Philologie sind. Ich möchte zwei weitere Formen der Internalisierung von Erkenntnisquellen erwähnen. Dies sind das naturwissenschaftliche Labor und das naturwissenschaftliche Instrument. Das Labor signalisiert nicht nur die gleichsam räumliche Ausdifferenzierung eines Arbeitsorts, an dem sich künftig wissenschaftliche Arbeit vollzieht, die sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert ›Forschung‹ nennt. Das Laboratorium erzeugt gleichzeitig eigene Traditionen des Vorkommens der Natur: Generationen von Laboratoriumstieren mit einer eigenständigen Evolution des Verhaltens oder synthetisierte Substanzen in Reinheitsgraden, die es in der Natur so nicht gibt. Man kann die schnelle Entwicklung der Chemie im 18. Jahrhundert analysieren als Überwechseln von einer zunächst intensivierten Mineralanalyse, die den ganzen Erfahrungsschatz des Bergbaus auszunutzen versteht, zur Arbeit mit weit einfacheren Laboratoriumssubstanzen, welche eine rationale und d.h. unter anderem von Utilitätsgesichtspunkten – solche schlos-

19 | Ein gutes gegenwärtiges Beispiel für die Substitution eines völlig artifiziellen – wenn auch vielleicht einen ursprünglichen Zustand rekonstruierenden – Produkts für die einer langen Tradition vertraute Version bietet die Restaura tion der Sixtinischen Kapelle. Das ist ein gutes Analogon der Homerischen Situation – mit dem radika len Unterschied, daß in diesem Fall die als mut maß lich ursprünglich rekonstruierte Form, das, wovon sie aus geht, irre ver sibel zerstört.

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sen noch die Wertungen eines Sammlers ein – distanzierte Nomenklatur erlauben20. Das wissenschaftliche Instrument ist eine Radikalisierung der gleichen Leistung21. Die durch Ausdifferenzierung des Labors gewonnenen Eigenphänomene der Wissenschaft reichert es – als Kernbestandteil eines jeden Labors – durch eine noch artifiziellere Eigenproduktion von Phänomenen an. Es wirkt offensichtlich überzeugend, daß man mit Hilfe von Instrumenten – magnetische Kompaßnadel und Quecksilber-Thermometer sind dafür vielleicht die ersten Beispiele22 – unsichtbare Phänomene sichtbar machen und sie sogar messen kann23, und diese Erfahrung mindert den Verdacht gegen bis dahin nicht einmal vermutete und also in ihrer ersten experimentalpraktischen Darstellung gleichzeitig entdeckte Phänomene, die trotz dieser Genese als ›natürliche‹ Phänomene akzeptierbar werden. Von hier aus ließe sich eine Geschichte der Sonderstellung der Reibungselektrizität in der Entwicklung moderner Naturwissenschaft schreiben, die Geschichte eines Spezialgebiets, das im 18. wie im 19. Jahrhundert zudem den Vorteil bot, daß es mit keiner der anderen Wertsphären (Religion, Moral, Politik) der entstehenden modernen Gesellschaft in seinen kognitiven Ansprüchen je kollidierte24 . Wir haben die Analyse bis an die Schwelle der Entstehung moderner Wissenschaft geführt, bis an den Punkt, wo ein Übergang sichtbar wird, an dem ein System, das zunächst durch Hetero-Genität seines Wissens bestimmt war und in der Frühmoderne schrittweise im Selbstbezug und unter opportunistischer Nutzung extern gegebener Gelegenheiten seine eigenen Strukturen aufgebaut hat, in der Lage ist, zur Eigenproduktion aller seiner Elemente überzugehen und sich auf diese Weise als autopoietisches System zu konstituieren. Für diesen Übergang sind dann genau zwei Umstellungen von wesentlicher Bedeutung, die hier nur noch benannt werden sollen, ohne sie an dieser Stelle ausführlich zu analysieren. Für die System/Umwelt-Differenz der Wissenschaft ist entscheidend, daß sie als System/Umwelt-Differenz im System durch Disziplinendifferenzierung vielfach wiederholt wird, so daß sich jetzt jedes wissenschaftliche Geschehen – wie auch immer seine genaue disziplinäre, subdisziplinäre oder 20 | Siehe Porter 1981, insb. 568f.; zu externen Gesichts punk ten in Mineralklassifikationen ebd. 554. 21 | Siehe dazu ausführlich Stichweh 1988. 22 | Kloss 1987, 15. 23 | Vgl. Hoffmann 1740, 233, als einen Überblick nützlichen Wissens, der der Mathematik, deren in vielen Hinsichten (Ordnung der Gedan ken/Be festigung des Ur teils/Hilfe in Handel und ›Kunst‹) gegebenen Nutzen er konze dieren muß, wesentlich noch vorwirft, sie sei nicht geeig net, un sichtbare Dinge zu messen. Experimen talhandeln wird bei Hoffmann noch als Teil der Mathematik, nicht der Natur lehre, gesehen. 24 | Siehe Stichweh 1988 und vgl. auch die Bemerkung bei Camp bell 1986, 127.

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interdisziplinäre Verortung aussieht – in einer inneren Umwelt anderer Systeme wissenschaftlicher Kommunikation vollzieht, wodurch die Fähigkeiten der Wissenschaft zur internen Selbstanregung ins Unbegrenzte gesteigert werden25. Auf der Elementebene des Wissenschaftssystems vollzieht sich eine operationale Schließung des Systems und damit seine Konstitution als autopoietisches System durch die Konstitution und Differenzierung von zwei Typen von Elementarereignissen, die einander komplementär zuarbeiten: neben die Ebene des Forschungshandelns, das jetzt immer massiv unter Neuheitsdruck steht – und im übrigen als Arbeitsform der Wissenschaft fungiert und als solche die Wissenschaft in ›microsettings‹ integriert und repräsentiert –, tritt als Makroebene des Wissenschaftssystems ein Kommunikationsprozeß, der als Prozeß der Kommunikation mittels Publikationen hochgradig unter Formzwänge gesetzt wird, die für alle mit Wahrheitsanspruch auftretenden Behauptungen die Form angeben, in die sie transformiert werden müssen, wenn in diesem handlungsentlasteten und über kommunikative Anschließbarkeit strukturierten Kommunikationsprozeß über ihre wissenschaftliche Zukunft entschieden werden soll26.

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4. Technik, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftlicher Gemeinschaften Wissenschaftliche Instrumente und die Entwicklung der Elektrizitätslehre

I. V ORBEMERKUNG Die folgenden Überlegungen versuchen zwei Typen von Argumentation miteinander zu verknüpfen. Einerseits präsentieren sie eine historische Studie zum Verhältnis von Elektrizitätslehre und wissenschaftlicher Instrumentenentwicklung und zu deren Bedeutung für die Genese der Disziplin Physik (und die Entwicklung der Naturwissenschaft überhaupt) im 18. und 19. Jahrhundert. In dieser historischen Sicht wird die Elektrizitätslehre deshalb wichtig, weil sie zum erstenmal in aller Radikalität physikalische Forschung als eine Vorgehensweise praktiziert, die ihren Gegenstand ausschließlich als einen instrumentell realisierten kennenlernt. Die Studie geht den Voraussetzungen und Folgen dieses Umbruchs in drei Hinsichten nach. Sie fragt erstens nach seinen Implikationen für die kognitiv-epistemologischen Begriffe in der zeitgenössischen Selbstbeschreibung der Wissenschaft; interessiert sich zweitens für Veränderungen in der kommunikativen Konstitution des Sozialsystems der Wissenschaft und in dessen Verhältnis zu seiner sozialen Umwelt, und sie fragt drittens nach der spezifischen Verknüpfung von Wissenschafts- und Technikentwicklung, die sich im Prozess der Etablierung von Elektrizitätslehre und Physik im 19. Jahrhundert herausbildet. In dieser historischen Sicht ist unsere Studie ein Versuch, eine historische Antwort auf die Frage nach dem Grund der spezifischen technischen Relevanz und Auswertbarkeit der Physik als Wissenschaft zu geben. Daneben und gewissermaßen uno actu verfolgen wir eine theoretisch-soziologische Absicht. In dieser Hinsicht geht es darum, den Zusammenhang von konstruktivistischer Epistemologie und Offenheit/Geschlossenheit eines autopoietischen So-

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zialsystems als Realprozess im Wissenschaftssystem zu studieren. In aller Kürze lassen sich vier Aspekte dieses theoretischen Arguments unterscheiden: 1. Konstruktivismus: Die Elektrizitätslehre als instrumentenabhängige Wissenschaft wird im folgenden als Wegbereiter eines neuen epistemischen Selbstverständnisses analysiert, das nicht länger Künstlichkeit des Instrumentengebrauchs und ungezwungene – weil nicht durch technische Hilfsmittel verstellte – Beobachtung der Natur polemisch einander gegenüberstellen kann und insofern dem konstruktiven Charakter wissenschaftlicher Erkenntnissuche Rechnung tragen muss. Die Wissenschaft muss künftig mit Selbstreferenzen leben, weil sie die Erfahrung macht, daß immer dort, wo sie sich externen Kontrollen zu unterwerfen sucht, sie auf sich selbst als denjenigen stößt, der den als Kontrolle fungierenden Gegenstand instrumentell erst hervorgebracht hat. Die praktischepistemologische Lösung dieses Problems, die die Wissenschaft bereits im 19. Jahrhundert findet, sind interne Differenzierungen in wissenschaftlichen Methoden und Prozeduren, die so eingerichtet werden, daß der Vergleich zwischen den Ergebnissen mehrerer methodisch unterschiedener Vorgehensweisen externe Kontrollen simuliert. Die mittlerweile als eigenständiges Erkenntnisunternehmen betriebene Epistemologie hat diese Problemlösung offensichtlich erst im 20. Jahrhundert verstanden. 2. Autopoiesis. Die Elektrizitätslehre ist eines der ersten Gebiete der Wissenschaft, in dem sich als eine irreversible Tatsache abzeichnet und durchsetzt, daß die Wissenschaft keine Strukturbildung über aus diversen Fremdkontexten zugewiesenen Elementen der Erkenntnis ist, sie vielmehr von vornherein nur mit Elementen der Erkenntnis arbeitet, die sie nach ihren eigenen Regeln selbst produziert hat. Diese Homogenisierung ihrer Elemente über Formzwänge im Produktionsprozess (Methodisierung wissenschaftlicher Forschungsakte, Standardisierung von Publikationen als der elementaren Kommunikationsakte) eröffnet im Wissenschaftssystem interne Freiräume für Verzichte auf übermäßige Strukturbildung, die durch ›loose-coupling‹ zwischen Elementen und d.h. durch interne Differenzierung der Wissenschaft ausgenutzt werden. 3. Strukturelle Kopplung. Die hier im Vordergrund unserer Überlegungen stehende Instrumententechnik und Experimentiertechnik schafft einen Bereich struktureller Kopplung zwischen Wissenschaftssystem und Technik, für den gilt, daß viele Ereignisse und Artefakte in diesem Bereich beiden – im Übrigen extrem heterogenen – Kontexten gleichermaßen zugehören, so daß die Differenz von Wissenschaft und Technik im Ereignis oder Artefakt verschwindet und erst im jeweils nächsten Ereignis, das nach zwei verschiedenen Regelsystemen für Anschließbarkeit konstituiert wird, wieder hergestellt werden kann.

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4. Offenheit/Geschlossenheit: Die Existenz von Instrumententechnik und Experimentiertechnik als einem Bereich struktureller Kopplung zwischen Wissenschaft und Technik erlaubt zu verstehen, wie Offenheit und Geschlossenheit miteinander kompatibel sind. Das Wissenschaftssystem ist einerseits völlig geschlossen, weil es an Ereignisse in diesem Bereich struktureller Kopplung nur nach eigenen Regeln anschließt, also beispielsweise nie ein Instrument oder eine Patentbeschreibung als Element im eigenen Kommunikationsprozess verwendet. Andererseits gibt es in und dank dieser Zone struktureller Kopplung weitreichende Offenheit in beide Richtungen: eine elementare wissenschaftliche Versuchsanordnung, die ein bis dahin unbeobachtetes Realphänomen darstellt, mag zum direkten Paradigma einer Technik werden, und umgekehrt gilt, daß die Wissenschaft unbegrenzt mit den ›Erfindungen‹ der Technik spielen kann, um zu sehen, was sich eventuell Überraschendes daran beobachten lässt.

II. U NBEOBACHTBARKEIT, I NSTRUMENTENABHÄNGIGKEIT UND DIE D ICHOTOMIEN DER FRÜHMODERNEN N ATURLEHRE Es ist bekannt, daß die relative ›Verspätung‹ der Elektrizitätslehre in der Entwicklung der Naturwissenschaft damit zu tun hat, daß in der der Alltagswelt eigenen Betrachtung der Natur ›Elektrizität‹ – und d.h. zunächst: das Phänomen der Anziehung und/oder Abstoßung kleiner leichter Körper durch bestimmte Substanzen – nur sehr selten als solches beobachtet wird.1 Natürlich gab es immer die Möglichkeit einzelner Erfahrungen mit elementar-alltäglichen und mit makroskopischen Phänomenen, die wir heute ›elektrisch‹ nennen. Aber diese Erfahrungen verdichteten sich nicht zum gemeinsamen Begriff ›Elektrizität‹; damit fehlte die im Gebrauch des Begriffs liegende Chance einer Erklärung, und ebendies dürfte begünstigt haben, daß Erfahrungen mit Elektrizität entweder unter die Wahrnehmungsschwelle absanken oder alternativ die Angstschwelle2 und gleichzeitig eine Schwelle der Unglaubwürdigkeit3 überschritten. Elektrische Phänomene sind also alltagsweltlich zu selten oder zu insignifikant, zu bedrohlich oder schließlich zu unwahrscheinlich. Es ist dieser Sonder1 | Vgl. Cohen 1956, 286. 2 | Vgl. Schröder 1982, 36-40, der mittels eines Vergleichs differenter Muster der Reaktion auf Polarlichter im 16. und 18. Jahrhundert (die man in diesem Zeitraum für ein elektrisches Phänomen hielt) soziohistorische Differenzen in der Wahrscheinlichkeit angstbezogener Wahrnehmung von Naturphänomenen beschreibt. 3 | Siehe D’Alembert 1759, 86: »Toutes les histoires anciennes sont pleines de phénomènes de l’électricité et de l’aurore boréale; ce n’est que depuis peu que les physiciens ont donnée une attention suivie à ces phénomènes, regardés jusque-là comme des espèces de prodiges que racontoit la crédulité des historiens.«

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stellung geschuldet, daß die Sache Elektrizität sich ausgerechnet den griechischen Namen eines in der Natur nicht gerade häufigen Stoffes, des Bernsteins, anheften sollte, und dieselbe Sonderstellung erklärt auch die Marginalität elektrischer Beobachtungen in der Naturlehre und Naturphilosophie bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts hinein. In dem Augenblick, in dem Elektrizität dann erstmals wissenschaftlich auffällig und wichtig wird, ist sie bereits ein durch ein Instrument (zunächst meist eine mittels geeigneter Substanzen geriebene Glaskugel oder -röhre) produzierter Effekt, und diese sie hervorbringenden Instrumente verdanken sich nicht etwa einer gleichsam mimetischen Rekonstruktion natürlicher Formen der Produktion von Elektrizität. Vielmehr gilt umgekehrt, daß erst die instrumentelle Produktion von Elektrizität die Suche nach analogen Mechanismen der Entstehung ›natürlicher Elektrizität‹ stimuliert. Man denke beispielsweise an die Bedeutung der Erfahrungen mit dem Entladungsschlag der Leidener Flasche für die Erkenntnis der elektrischen Natur des Blitzes. Es hat deshalb auch das Studium natürlicher Elektrizität nur selten einen den elektrischen Theoretiker interessierenden Teil der Elektrizitätslehre gebildet – so wichtig es als Teil angewandter Elektrizitätslehre sein konnte, wenn etwa am Ende des 18. Jahrhunderts für die in Bädern arbeitenden Ärzte Kenntnisse der elektrischen Beschaffenheit der Luft gesundheitsrelevant schienen. Es entspricht diesem von vornherein asymmetrischen Verhältnis von instrumentell realisierter und natürlicher Elektrizität, daß es in der Elektrizitätslehre im Unterschied zu anderen Gebieten der Naturlehre – man vergleiche hier etwa die Entwicklung des Erdmagnetismus oder die der Physiologie – nie ein Beobachtungsparadigma gegeben hat, das konkurrierend neben ein Experimentalparadigma hätte treten können. Jene berühmte Episode, in der Goethe erst im letzten Moment und nur in der Gewissheit, daß er nichts sehen werde und sich sogleich schaudernd abwenden wird, durch das lichtzerlegende Prisma blickt, ist in der Geschichte der Elektrizitätslehre undenkbar. Natürlich kann auch Beobachtung instrumentengestützt stattfinden, und sie wird als eine an Präzisionsinstrumenten geschulte und durch diese vermittelte Beobachtungskunst – die zudem die Astronomie im Rücken hat –, in die Physik des 19. Jahrhunderts reintegriert. Aber diese beobachtungsaffinen Instrumente, die mit zunehmender Sensibilität ein sich unabhängig von ihnen abspielendes Geschehen registrieren und messen, haben in der Elektrizitätslehre lange nur eine sekundäre Rolle gespielt. Primär zielten elektrische Instrumente im 18. Jahrhundert auf die Produktion von dann genauer zu beobachtenden elektrischen

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Effekten,4 und die durch diese Orientierung an Effekten mitbedingte Verzögerung der Entwicklung einer Elektrometrie, die schon 1747 der erste Historiker der Elektrizität registrierte,5 hat bis zu Coulomb das akademische Ansehen der Elektrizitätslehre tangiert. Im Übrigen richtet man das der Beobachtung und Messung dienende Instrument nicht primär auf die natürlichen Quellen der Elektrizität, bemüht sich vielmehr um den Nachweis und die Messung von Ladungen und Spannungen, die ihrerseits instrumentell produziert sind. Darin zeichnet sich die der Elektrizitätslehre eigentümliche Tendenz ab, an die Stelle des selbstgenügsamen einzelnen Instruments den wissenschaftlichen Apparat zu setzen, von dem Derek Price sagt, er konstituiere »a sort of ›spare parts box‹ or erector set of modular units that can be connected and combined in different ways and modes.6« Die interne Komplexität des Apparats wirft dann weit mehr Forschungsfragen auf als die direkte Relation von Apparat und Forschungsgegenstand, und man kann mit dieser internen Komplexität nur dauerhaft umgehen, wenn man einzelne dem Apparat zugehörige Instrumente, die in ihrem Operationsmodus schon hinreichend lange beobachtet und diskutiert worden sind, als vorläufig unproblematisch (i.e. als unproblematisch in ihrer Relation zu ihrem individuellen Erkenntnisobjekt) behandelt.7 Beobachtung vs. Experiment jedenfalls ist unter diesen Umständen keine konstitutive Dichotomie mehr, die zwei radikal verschiedene Zugangsweisen zur Natur voneinander trennt. Es handelt sich nur noch um einen der Unterschiede, die innerhalb eines jeden Apparats vorkommen.8 Fundamentaler noch als Dichotomie und als epistemisches Hemmnis war der Unterschied von Natur und Kunst. Diese Gegenüberstellung von Natur und 4 | Dazu instruktiv Hackmann 1978 und ders. 1979. 5 | Gralath 1747, leitet auf S. 525f. einen Vorschlag für die Konstruktion eines Elektrometers mit der Bemerkung ein: »Die Naturforscher sind seit einiger Zeit in Ansehung der electrischen Versuche vornehmlich darauf bedacht gewesen, wie man die Electricität verstärken, und dadurch theils neue Wirkungen entdecken, theils die bekannten merklicher machen möchte.« 6 | Price 1980, 82. Price sieht den Übergang vom Instrument zum Apparat zuerst in der Reibungselektrizität und der Optik des späten 18. Jahrhunderts vollzogen. 7 | Pinch 1985 nennt dies (siehe 28-31) ›black-boxing‹ des Instruments und postuliert, daß jede Instrumentenentwicklung eine anfänglich gegebene ›open-box‹ durch Stabilisierung einer schließlich nicht mehr problematisierten Relation zu einem bestimmten Erkenntnisobjekt (›evidential context‹) in eine mit fragloser Technizität zu verwendende ›black-box‹ transformiert. Der Geigerzähler ist eines der Beispiele, an denen Pinch dies erläutert. 8 | Natürlich gibt es Problemsituationen, die der ›kosmischen‹ Physik beispielsweise, für die der Unterschied Beobachtung/Experiment auch im 19. Jahrhundert deskriptiv adäquat ist – vgl. Stichweh 1984, 45, und ebd. 476-479.

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Kunst hatte vielfach gemeint, daß sich aus artifiziell oder experimentell erzielten Effekten nicht auf die Beschaffenheit der Natur zurückschließen lasse, und sie hatte durch diese Option den philosophischen Teil der Naturwissenschaft über Jahrhunderte gegen jede Erfahrungserkenntnis immunisiert, diese in das Ghetto der der Kunst (›mechanische Künste‹) verwandten Mathematik und ihrer Anwendungen einschließend. Bemerkenswert ist nun, daß – soweit ich sehe – gegen die elektrischen Entdeckungen der Einwand, sie seien ein reines Produkt künstlicher Veranstaltungen und zwängen die Natur zu Äusserungsformen, die ihr nicht wesensgemäß seien, nie erhoben worden ist. Vielleicht darf man vermuten, daß, angesichts der für das 18. Jahrhundert gegebenen Großartigkeit elektrischer Erscheinungen und angesichts ihres instantanen Erfolges bei einem großen Publikum, die Vorstellung, so erstaunliche Wirkungen seien allein der Kunstfertigkeit des Menschen zu verdanken, nahezu häretisch gewesen wäre, weil sie die Kreativität des Schöpfers der Natur als zu eng begrenzt gedacht hätte. Für diese Hypothese mag sprechen, daß sich die späten Ausläufer der Physikotheologie durch die Elektrizitätslehre in einem Maße angesprochen fühlten, wie dies bei ihnen in Hinsicht auf die technischen Errungenschaften des Menschen nie der Fall war.9 Es scheint daher wahrscheinlich, daß zur Einebnung der Differenz ›Natur vs. Kunst‹, an deren Stelle seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Dichotomie ›Wissenschaft vs. Kunst‹ (und letztere ist dann ›schöne Kunst‹) tritt, der einerseits eminent künstliche, weil instrumentengeleitete, und andererseits offensichtlich die Natur zur Beantwortung von Fragen zwingende Charakter der Elektrizitätslehre erheblich beigetragen hat. Man kann dies durch eine weitere Überlegung stützen. Das Experiment tritt ebenfalls in der Form einer Dichotomie in die Naturwissenschaft ein: Es kommt vor als mechanisches (mathematisches/statisches) oder als chemisches Experiment. Zwischen Mechanik und Chemie liegt nur eine sehr allgemeine Lehre (›Naturlehre‹, ›physique générale‹), die einige Eigenschaften wie Impenetrabilität und Schwere aufzählt, die prinzipiell allen Körpern zukommen. Diese Lehre hat kein experimentelles Komplement, und man kann sie, wie im 18. Jahrhundert zunehmend deutlich wird, auch nicht als Wissenschaft entwickeln, weil der Katalog allgemeiner Eigenschaften zu uninstruktiv ist, als daß aus ihm die Klasse der Ursachen hervorgehen könnte, die sich für die Erklärung eventuell beobachteter Wirkungen eignen.10 Die ›physique générale‹ ist, um es in Guyton de Morveaus ungeduldigen Worten zu sagen, nur »un langage dont 9 | Ein interessantes Beispiel aus dem radikalen württembergischen Pietismus, wo man die Möglichkeit von Visionen durch elektrische Erscheinungen plausibilisiert sieht und auserwählt/verworfen als Polarisierung der Gemeinde denkt, bei Vann 1984, 253. Vgl. zum englischen Pietismus und Elektrizität Barry 1985, 155f., und siehe allgemein zur Physikotheologie der Elektrizität Benz 1971. 10 | Siehe dazu interessant Thomasius 1729, 299f.

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on étoit convenu pour exprimer en termes scientifiques, ce que tout le monde scait.«11 Die die Zuordnung aller Experimente steuernde Dichotomie Mechanik/ Chemie kann man im Übrigen näher bestimmen: Sei es mit Hilfe des Unterschiedes von Natur und Kunst, wo dann die Chemie, die in anderen Hinsichten oft als Teil der Kunst gilt,12 relativ zur Mechanik als mit natürlichen Experimenten befasst gesehen wird,13 sei es mit Hilfe der Dichotomie Außenseite/Innenseite der Körper.14 Welche dieser Bestimmungen auch immer gewählt wird, es ist jedenfalls evident, daß die elektrischen Experimente keiner der beiden Seiten zugeordnet werden können: Zu Mechanik/Kunst schon allein deshalb nicht, weil der Bezug zur Tradition des mechanischen Instrumentenbaus fehlt, und zur Dichotomie Außenseite/Innenseite deshalb nicht, weil der Elektrisierer sowohl Bewegungen der Körper (Anziehungen/Abstoßungen) hervorbringt, wie er auch nicht umhin kann, über Fluida zu sprechen, die aus Körpern mutmaßlich aus- und auch einströmen. Die elektrischen Experimente finden also ihren Platz in der Systematik der Wissenschaften notgedrungen dort, wo man bisher nur die uninstruktiven allgemeinen Charakterisierungen untergebracht hatte, und sie negieren dort alle überkommenen Dichotomien, wie sie auch den ersten zukunftsweisenden Strukturkern der kommenden Physik bilden.15 Vielleicht sollte man abschließend die Dichotomie Geschichte/Philosophie diskutieren, die den Unterschied von Erkenntnis einzelner Dinge (Faktenerkenntnis) und Ursachenerkenntnis meint. Man findet auch relativ spät noch Versuche, die Experimentalphilosophie, obwohl man sie ›Philosophie‹ nennt, zur Historie zu rechnen.16 Zweifellos aber war der Begriff der Geschichte überfordert, wenn er außer vergangenen Ereignissen und gegenwärtigen Zuständen zusätzlich das erst noch hervorzubringende Experimentalgeschehen fassen sollte. Viel zwangloser lässt das Experiment sich mit der Vorstellung einer Hypothese verbinden, die eine Frage an die Natur ist, welche von der Natur auf die eine oder andere Weise beantwortet wird. Das aber ist eine genuin philosophische Struktur, weil eine Hypothese einen wie auch immer geordneten Ableitungszusammenhang voraussetzt. Johann Heinrich Winkler beispielsweise, der sich sorgfältig bemühte, seine Bücher über Elektrizität in einen historischen und in einen philosophischen Teil zu gliedern,17 d.h. zunächst die Versuche zu 11 | Guyton de Morveau 1764, 271f. 12 | Siehe Stichweh 1984, 102. 13 | Siehe beispielsweise Thomasius 1729, 321. 14 | So beispielsweise Menn 1777, 5, als ›Oberfläche der Dinge/Eingeweide der Dinge‹. 15 | Siehe näher Stichweh 1984, insb. Kap. IV und II. 16 | So etwa Reinhard 1770, der (S. 28) Physik/Naturlehre als Philosophie klassifiziert und dem deshalb deren üblich gewordene Verbindung mit Experimentalphilosophie als willkürlich erscheint. 17 | Winkler 1744; ders. 1745; ders. 1746.

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›erzählen‹ und erst danach die beobachteten Phänomene zu erklären, machte zwei Dinge deutlich: Die Differenz Geschichte/Philosophie eignete sich nicht mehr, der Experimentalphilosophie als Ganzer ihren Platz in der Systematik der Wissenschaften anzuweisen. Sie konnte allenfalls innerhalb einer Einzelwissenschaft als Modus methodischer Ordnung dienen. Zweitens liegt das Gezwungene von Winklers Darstellung offen zutage, weil die einzelnen Versuche (im ersten, historischen Teil) so präsentiert werden müssen, als seien sie absichtslos unternommen worden.

III. W ISSENSCHAF TLICHE I NSTRUMENTENENT WICKLUNG UND AUSSERWISSENSCHAF TLICHE TECHNIK Was ist der Grund dafür, daß sich die Instrumente und Experimente des Elektrizitätsforschers so effektiv den organisierenden Dichotomien der frühmodernen Naturlehre entziehen? Warum sind sie so traditionsresistent? Ein wichtiger Sachverhalt, den wir jetzt genauer explizieren müssen, ist gerade schon am Vergleich zu den Instrumenten der Mechanik/angewandten Mathematik aufgefallen: Die Instrumente der Elektrizitätslehre (nach 1740 sind zunächst ›Elektrisiermaschinen‹ wichtig, die durch Reibung eines Kissens aus geeigneten Materialien an rotierenden Glaskugeln große Ladungen erzeugen und diese Ladungen auf einem System von isolierten Leitern akkumulieren, um sie auf diese Weise für elektrische Experimente verfügbar zu halten)18 sind rein wissenschaftliche Instrumente im Unterschied zu technischen Instrumenten, die die Wissenschaft aus einer vorgängigen technischen Praxis übernimmt. Damit bietet die Elektrizitätslehre das wahrscheinlich erste Beispiel einer allein auf autonome wissenschaftliche Instrumentenentwicklung angewiesenen Wissenschaft. Wie ungewöhnlich diese Situation ist, kann man sich anhand einer These von Charles Coulston Gillispie vergegenwärtigen. Dieser hat einen nicht unerheblichen Teil der Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts mit dem suggestiven Begriff der ›Naturgeschichte der Industrie‹ zu beschreiben versucht.19 Damit ist gemeint, daß die philosophische – i.e. Erklärungsansprüche stellende – Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts sich zu den technisch-handwerklichindustriell bereits realisierten Leistungen des Menschen ähnlich reaktiv-abhängig verhält wie die Natur›philosophie‹ (i.e. Biologie) des gleichen Zeitraums zu der Vielfalt der Phänomene in den drei Naturreichen. Sie beschreibt, klassi18 | Für Beschreibung, Analyse und Abbildungen der wichtigsten elektrischen Instrumente des 18. Jahrhunderts siehe Meya und Sibum 1987, Kap. 1-5; Heilbron 1979; Hackmann 1978; Kloss 1987. 19 | Gillispie 1957.

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fiziert und versteht mühsam den Grund für das Gelingen praktisch längst vorliegender Problemlösungen, aber es fehlt jene kognitive Autonomie, die den Gegenstand der Erkenntnis wissenschaftsspezifischen Strategien der Wissenserzeugung unterwirft und über dafür geeignete Instrumente verfügt. Noch im 19. Jahrhundert verdanken Fortschritte der Wärmelehre sich der rekonstruktiven Analyse rein technisch konstruierter Wärmekraftmaschinen, und der szientifische Erfolg eines technischen Praktikers wie Fraunhofer verrät, um wie viel differenzierter vielfach die technische Wirklichkeitserfahrung gegenüber den analytischen Möglichkeiten der Wissenschaft war. Auch in dieser Hinsicht wird dann der Startnachteil der Elektrizitätslehre, daß sie nämlich – wie oben diskutiert – weder auf alltagsweltlich immer schon vorhandene reiche Erfahrungen mit Elektrizität zurückgreifen kann, noch eine technische Tradition im Rücken hat, die mit Elektrizität – wenn auch auf ungeklärte Weise – immer schon praktisch sich bewährende Mechanismen hervorgebracht hat, dieser Startnachteil wird schließlich zum szientifischen Vorteil. Dies deshalb, weil Instrumentenentwicklung hier erstmals unter rein szientifischen Gesichtspunkten erfolgt, der Wissenschaftler dafür eventuell einen bisher nicht vorhandenen Grad an feinmechanischer Kompetenz benötigt, und der eigentliche Instrumentenmacher nur bei der mechanischen, optischen etc. Realisierung des Instruments assistieren kann, er im Übrigen die Produktion in Serie übernimmt und dabei vermutlich auch verbesserungsrelevante Erfahrungen macht.20 Unter diesen Umständen dienen die Instrumente des ›Elektrisierers‹ zunächst zu nichts anderem als der Produktion der für Forschung benötigten elektrischen Effekte. Dabei macht der Elektrizitätsforscher wissenschaftsintern die gleiche Erfahrung, wie sie sonst das Verhältnis von handwerklich-technischer Tradition und wissenschaftlicher Analyse bestimmt. Das wissenschaftliche Instrument erweist sich nicht als passives Reagens, das eine Wirklichkeit zum Sprechen brächte, hinter die es ganz zurücktritt, so daß die Forschung sich deren Verständnis widmen könnte. Vielmehr – und diese Erfahrung wird für die Elektrizitätslehre erstmals in dramatischer Weise an der aus der Sicht bisheriger Theorien nicht antizipierbaren Wirkungsweise der Leidener Flasche (Kondensator) spürbar – drängt das Instrument sich vor, wird zur eigentlichen unverständlichen Wirklichkeit, und der Test der Theorie ist jetzt, ob sie das Instrument begreift. Die am Instrument beobachteten elektrischen Effekte interessieren nicht zunächst als Ausdruck einer instrumentenunabhängigen Natur, 20 | Auch unter diesen Umständen wird die für einen Wissenschaftler gegebene Chance instrumenteller Innovation durch die im lokalen Instrumentenbau verfügbare feinmechanische Kompetenz limitiert (s. Stichweh 1984, 291f.). Zur Zentralstellung Londons im Instrumentenbau und -handel des 18. Jahrhunderts vgl. Turner 1976 und ders. 1978/9. Viele Elektrizitätsforscher vertrieben ihre Instrumente selbst. So Andreas Gordon im deutschen katholischen Raum (siehe ein Beispiel bei Mühl 1961, 36).

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dienen vielmehr zur Bestätigung und Widerlegung von Hypothesen über die Wirkungsweise des Instruments und erst über deren Verständnis kommt die Natur ins Spiel, zu der nach der Nivellierung der Differenz von Natur und Kunst das Instrument allerdings insofern gehört, als Instrumente Formen der Realisierung von Naturgesetzen sind und sich daher zu deren Verständnis eignen. Zwei Phänomene haben die bisherigen Überlegungen besonders betont. Einmal den konstruktiven und in diesem Sinn künstlichen Charakter elektrischer Forschungen und also die relative ›Unnatürlichkeit‹ der ihnen zugrundeliegenden Beobachtungen, und zweitens die Abwesenheit einer technischen Vorgeschichte des Umgangs mit Elektrizität, die von der Elektrizitätslehre mühsam hätte nachkonstruiert werden müssen. Das Zusammenwirken dieser beiden Bedingungen zieht nun eine dritte Besonderheit nach sich. An elektrische Forschungen sind in ungewöhnlichem Maße technische Entwicklungen anschließbar, die aus der Praxis des Umgangs mit Instrumenten und der auf diese bezogenen wissenschaftlichen Theorie hervorgehen, so daß die Elektrizitätslehre, gerade weil sie nicht technikrekonstruierend ist, die erste technikgenerierende wisssenschaftliche Disziplin wird. Jürgen Teichmann hat in einem Aufsatz über die Geschichte des Telegraphen, in der Absicht, die ›technische‹ Identität der Elektrizitätslehre herauszuarbeiten, besonders auf den Sachverhalt hingewiesen, daß es lineare Stromleiter in der Natur im allgemeinen nicht gibt.21 Lineare Stromleiter werden nun aber von der Elektrizitätslehre instrumentell realisiert, sie bestimmen als Idealisierungen die konzeptuelle Entwicklung der Disziplin, und sie ermöglichen technische Anwendungen. Schon die Erfindung des Blitzableiters verdankt sich der an einem Instrument abgelesenen Möglichkeit, einen artifiziell geschaffenen Weg für den natürlichen Weg des Blitzes zu substituieren. Moritz Hermann Jacobi hat in einem Vortrag von 1834 den Techniker als denjenigen beschrieben, der es prinzipiell auch dort vorzieht, einen idealisierten Bedingungen genügenden schiffbaren Kanal zu bauen, wo es eigentlich natürliche Wasserwege gibt.22 In genau diesem Sinne ist die Elektrizitätslehre eminent technisch und zwar deshalb, weil sie nur auf wenige Erfahrungen mit ›natürlichen Wasserwegen‹ zurückgreifen kann und daher immer schon Idealisierungen an die Natur herantragen muss, die sie dann sowohl instrumentell wie konzeptuell ausarbeitet. Während im 18. Jahrhundert der Blitzableiter ein isoliertes, aber dennoch die Erfolgsgeschichte der Elektrizität prägendes Beispiel einer genuin wissenschaftlichen Technologie ist,23 wird im 19. Jahrhundert von der Telegraphie bis zur schließlichen Genese von Elektrotechnik und Technikwissenschaft die Elektrizitätslehre zu jenem Teil der Physik, der es erlaubt, die

21 | Teichmann 1981, 301. 22 | Jacobi 1834. 23 | Siehe Stichweh 1984, 279-282; Meya und Sibum 1987, 82-95.

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bei der Entstehung akademischer Naturwissenschaft weitgehend abgeschnittene Beziehung zur Technik wiederherzustellen (s. unten VII).

IV. E LEK TRIZITÄT UND A UTOPOIESIS In einer Zwischenüberlegung möchte ich das bisherige Argument mit einem Konzept aus der neueren biologischen und sozialwissenschaftlichen Systemtheorie resümieren. Dies ist der Begriff der Autopoiesis. Autopoiesis meint eine bestimmte Form der Autonomie von Systemen, die dadurch möglich wird, daß ein System die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert, sie also nicht etwa als vorgefertigte Elemente aus der Umwelt übernimmt und dann nur zu einem Systemzusammenhang verknüpft.24 Ein System ist unter der Bedingung von Autopoiesis ein Zusammenhang der Produktion und Reproduktion seiner eigenen Elemente, und es ist nur genau dies und nichts anderes. Autopoiesis ist nicht etwa mit Umweltkontakt inkompatibel; aber der Begriff impliziert, daß jede Beobachtung der Umwelt und jede Interaktion mit Umwelt gesteuert wird durch Erfordernisse der Produktion und Reproduktion der Elemente des Systems. Ich möchte nun behaupten, daß in genau dem hier skizzierten Sinn die Naturwissenschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert den Übergang von einem fremdzugewiesene Elemente übernehmenden und integrierenden (allopoietischen) System zu einem autopoietischen System vollzieht, und daß sie dies tut, indem sie sich von allen wissenschaftsexternen Formen der Wissenserzeugung abkoppelt und alles Wissen abweist, das ihr aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit überkommen ist und nicht die wissenschaftlichen Prüfinstanzen durchlaufen hat.25 Die Elektrizitätslehre ist dann die in einem prototypischen Sinn autopoietische Wissenschaft, weil sie alle Wissensbestandteile und damit alle Elementarphänomene, auf denen sie aufruht und die sie weiter ausarbeitet, mit Hilfe ihrer Instrumente und darauf bezogener Interpretationen selbst hervorbringt und keine epistemische Vergangenheit immer schon verstandener Phänomene besitzt, gegen die sie sich mühevoll absetzen müsste. Das unterscheidet sie beispielsweise von der Chemie, für die der Hallenser Chemiker und Physiker F.A.C. Gren 1795 – einen Vorschlag für eine neue chemische Nomenklatur einleitend – bedauernd registriert, daß ihr Status als Wissenschaft entscheidend dadurch beeinträchtigt werde, daß die Elemente ihres Wissens aus zu vielen Bezeichnungen, analytischen Ergebnissen, Hypothesen etc. bestünden, die sich fragwürdigen analytischen Prozeduren verdank24 | Siehe dazu Varela 1979; Maturana 1982; Luhmann 1984. 25 | Siehe ausführlich Stichweh 1987, wo auch das hier vernachlässigte Erfordernis diskutiert wird, daß der autopoietische Prozess der Produktion und Reproduktion der Elemente als Kommunikationsprozess organisiert werden muss.

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ten und nie einer ernsthaften wissenschaftlich-chemischen Überprüfung unterzogen worden seien.26

V. I NSTRUMENTENABHÄNGIGKEIT UND P UBLIKUM Ein nächster Schritt unserer Überlegungen betrifft das Verhältnis von Instrumentenabhängigkeit und Publikumsbezug der Elektrizität. Die bisherigen Ausführungen hätten den Eindruck erwecken können, als sei die Elektrizitätslehre schon im 18. Jahrhundert ein esoterisch ganz auf sich selbst zurückgezogenes Geschäft gewesen. Daß dies nicht so war, es vielmehr eine publikumssüchtige Schaustellerei der Elektrizität gab, die elektrische Ereignisse für eine Zeitlang in den Mittelpunkt der Themen geselliger Unterhaltung rücken konnte, ist bekannt.27 Die Bedingungen der Möglichkeit dieser eigentümlichen Entwicklung scheinen in instruktiver Weise mit Instrumentenabhängigkeit und Traditionslosigkeit der Elektrizitätslehre zusammenzuhängen, und dies soll hier in zwei Hinsichten erläutert werden. Einmal ist bereits deutlich geworden, daß es eine technische Unterdeterminiertheit elektrischer Instrumente – im Sinne der Abwesenheit einer Rückbindung an eine vorwissenschaftliche handwerklich-technische Tradition elektrischen Instrumentenbaus mit ihr eigenen Standards hinsichtlich Solidität und Funktionalität – gab. Diese Unterdeterminiertheit elektrischer Instrumente zusammen mit deren zunächst geltender Nutzlosigkeit in praktischen Hinsichten ist die Voraussetzung für die im 18. Jahrhundert beobachtbare Doppelorientierung in der Entwicklung elektrischer Instrumente. Diese sollen sich einerseits zur Untersuchung von Problemen eignen, die spezifisch der Elektrizitätslehre als Wissenschaft zugehören, und sie sollen gleichzeitig eindrucksvolle Effekte ermöglichen, die ein großes Publikum zu unterhalten vermögen. Das bis ca. 1785 in der Elektrostatik dominierende wissenschaftliche Paradigma, das die Produktion immer größerer Ladungen auf Kosten von deren präziser quantitativer Bestimmung und manchmal auch qualitativer Beschreibung favorisierte, war die ideale Kompromissformel dieser beiden Interessenrichtungen.28 Diese Doppelorientierung in der Entwicklung elektrischer Instrumente wird durch ein weiteres Motiv gestützt, das in die Tradition schulischer/universitärer Vermittlung der Naturlehre gehört. Frühe Rechtfertigungen des naturwissenschaftlichen Experiments konzedieren vielfach noch, daß Experimente sich nicht zum Zweck des Erkenntnisgewinns eignen, der nur in der Form eines 26 | Gren 1795, 173. 27 | Vgl. Schaffer 1983; Stichweh 1984, 266-273. 28 | Siehe Hackmann 1978, insb. 9 und 54; ders. 1979, insb. 214.

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deduktiv verknüpften Systems von Propositionen möglich sei. Aber man könne gesicherte Erkenntnisse für diejenigen Personen, die nicht imstande seien, den deduktiven Begriffszusammenhang gedanklich nachzuvollziehen, in der Form eines Experiments veranschaulichen29 und den betreffenden Personen auf diese Weise wenigstens eine historische Kenntnis der Wissenschaft ermöglichen.30 Entsprechend waren Anpassungen in der Instrumentenkonstruktion legitim, die um der Anschaulichkeit willen über das szientifisch Notwendige hinausgingen. Abbé Nollet, der vermutlich einflussreichste Experimentalpraktiker des 18. Jahrhunderts, führt dort, wo er die Wertgesichtspunkte diskutiert, in Hinsicht auf die jedes Instrument optimiert werden soll, außer Genauigkeit (zu erreichen durch Solidität der Ausführung), Einfachheit (um der Zurechenbarkeit beobachteter Wirkungen willen) und Multifunktionalität (im Kontext des ›Apparats‹ – s.o. II) wesentlich auch Transparenz an.31 Um der Transparenz willen soll das an sich so fragile Glas in der Konstruktion der Instrumente der Experimentalphysik dem Metall und anderen opaken Materialien vorgezogen werden.32 Der Experimentalvortrag der Elektrizität um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist also immer einer, der ein Publikum von maximaler Extension einzubeziehen versteht, wenn er es auch gelegentlich mit Ambivalenz tut. So Nollet in einem Brief an Jallabert, wo er sagt, die zunehmende Anwesenheit von Fremden, die von weither gekommen seien, entschädige ihn ein wenig dafür, daß er in Anwesenheit vieler Damen nicht wagen könne, die elektrischen Sachverhalte bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen.33 29 | S. Thomasius 1729, 310-2: »Die Experimente dienen zwar, bereits erkandte Wahrheiten zu erleutern, aber nicht, verborgene und unerkandte Wahrheiten zu erfinden« (310). Vgl. noch die einleitende Bemerkung bei Fischer 1803, 1. 30 | Dies war einer der Gründe, warum man glaubte, Experimentalwissenschaft zur ›Geschichte‹ – im Unterschied zur ›Philosophie‹ – rechnen zu können. Wissenschaftsgeschichtlich ist für die Beharrungsfähigkeit dieser Vorstellung wichtig, daß noch bei ’s Gravesande, Desaguliers und Musschenbroek in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ausarbeitung der Experimentalnaturlehre wesentlich dem Zweck der Beschleunigung der Diffusion der Newtonischen Theorie durch Veranschaulichung ihrer Einsichten diente. Vgl. auch Levere 1973, 110, der sogar mit Bezug auf Lavoisier noch vermutet: »The suasive role of instrumentation in the chemical revolution may be greater than the formative role« (ebd.). 31 | Nollet 1770, XV-XVII. 32 | Siehe auch Finn 1971, 52f., zu den strukturellen Effekten der nahezu ausschließlichen Nutzung von Glas (statt Schwefelkugeln) in elektrischen Experimenten nach 1740. Man lernt faktisch nur eine Art von Elektrizität kennen, obwohl man seit Dufay von der Existenz zweier Arten von Elektrizität (Glas- und Harzelektrizität) wusste. 33 | Brief vom 4.12. 1740 in: Benguigui 1984, 102. Vgl. ebd. 107, und siehe die Kritik an den deutschen Elektrisierern (insb. Bose): »les Allemands ne s’arrêtent qu’aux faits

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Man kann sich die Besonderheit dieser Entwicklung anhand eines Vergleichs mit der Akustik vergegenwärtigen. Der große deutsche Akustiker Ernst Florens Chladni,34 der um die Wende zum 19. Jahrhundert mit den beiden von ihm erfundenen Musikinstrumenten Euphon und Clavicylinder herumreiste und mit einer Kombination von akustischen Lehrvorträgen und Darbietungen an diesen beiden Instrumenten seinen Lebensunterhalt zu verdienen versuchte, war zweifellos eine traurige Gestalt, und er war dies genau deshalb, weil der Reiz seines musikalischen Vortrags dem eines Klaviervirtuosen hoffnungslos unterlegen war. Dem Elektrizitätsforscher der Mitte des 18. Jahrhunderts bleibt das gleiche traurige Schicksal deshalb erspart, weil er die beiden Rollen, die in der Akustik historisch schon fast immer getrennt waren, noch in einer Person vereinen kann. Neben ihm steht kein Virtuose, der ein publikumsgeeigneteres Instrument überlegen beherrscht, und er kann das Interesse an Virtuosität und das an Wissenschaftlichkeit noch mit ein und demselben Experimentalapparat befriedigen. Die zweite Determinante des Publikumserfolgs der Elektrizität, die neben den bisher diskutierten Gesichtspunkt einer – technisch-praktischer Unterdeterminiertheit verdankten – Doppelorientierung in der Instrumentengestaltung tritt, lässt sich gut von dem eben eingeführten Beispiel her verstehen. Im Unterschied zu Akustik und Optik, die sich mit der musikalischen Behandlung von Tönen bzw. dem künstlerischen Umgang mit Licht und Farben konfrontiert sehen, konkurriert und kollidiert die Elektrizitätslehre mit keiner bildungsrelevanten Tradition.35 Das macht vieles verständlich: ihre instantane und widerstandslose Rezeption, da sie nur als überraschend und in ihrer Traditionslosigkeit wohl auch als kommunikativ entlastend gesehen wurde. Entsprechendes gilt für die Tatsache, daß sie von Religion und Theologie offensichtlich entweder als Stützung oder als harmloses Naturwunder wahrgenommen wird und – wenn man vom Blitzableiter absieht, mit dem schließlich auch vor allem Kirchen armiert wurden – kaum religiöse Befürchtungen motiviert hat. Verständlich wird auch, daß die Elektrizitätslehre gerade im Salon goutiert wird, also dort, wo es darauf ankommt, daß in belanglos taktvoller Kommunikation niemand verletzt wird, der etwa mangelnde Bildung aufwiese, und wo derjenige, der diese Konvention nicht respektiert, als ›Pedant‹ oder ›Langeweiler‹ perhorresziert wird. les plus frappans et négligent les circonstances les plus instructives, quand elles ne font pas spectacle » (Brief vom 24.12. 1745, S. 136). 34 | S. zu Chladni zuletzt Ullmann 1984. 35 | Ironisch und indirekt mag dies vielleicht die erleichterte Notiz Goethes – den sein Zorn über die Optik ein Leben lang nicht verließ –, bei Entdeckung des Galvanismus belegen: »Galvanismus wird entdeckt. Vorteil, nicht vom Metier zu sein. Man hat nichts altes festzuhalten, das Neue nicht abzulehnen, noch zu beneiden« (zit.n. Meya und Sibum 1987, 128).

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Die zeitweilige Prominenz von Elektrizität in der Erziehung von Mädchen, wo es darum ging, daß zuviel Ernsthaftigkeit und zuviel Personenveränderung als Folge eventueller Spezialisierung auf Kognition blockiert werden mussten, wird schließlich ebenso plausibel wie der sich uns in manchen Hinsichten aufdrängende Eindruck der kulturellen Harmlosigkeit der ganzen elektrischen Episode. Dieser klingt auch in zeitgenössischen Wahrnehmungen insofern an, als man elektrische Phänomene unter dem Titel des ›Amusement‹36 oder der ›Kuriosität‹ thematisierte, wobei der letztere Begriff noch nicht den heute dominierenden Sinn der Singularität einer Abweichung hatte, vielmehr näher an den Positivwertungen des ›Curiositas‹-Motivs lag.37 Selbstverständlich rezipiert zeitweise auch die ernsthafte, bewahrenswerte Semantik elektrische Termini. So wiederholt Herder die für ihn zentrale Metapher der ›Kette der Wesen‹ auch in der Form ›elektrische Kette‹. Man darf annehmen, daß Herder von den spektakulären Versuchen gehört hat, in denen der Entladungsschlag einer Leidener Flasche durch eine große Zahl untereinander verbundener Personen geleitet wurde – und der Sinn seiner Metapher ist denn auch, zu sagen, daß ein Volk oder eine Person den historischen Fortgang des Schicksals nur an einem einzigen Punkt berührt.38 Natürlich ist dies primär sprachliche Rezeptivität, ohne daß sich Herder gedanklich ernsthaft beeinflussen ließe. Aus einem albernen Versuch, der seinen Reiz darin hat, daß eine große Zahl von Beteiligten (vorzugsweise: Hunderte von Mönchen) erschreckt hüpft,39 wird ein geschichtsphilosophisches Konzept, das den geschichtlichen Fortgang ohne die Illusion der Vervollkommnung denken können will. Gerade die Instrumentenabhängigkeit der Elektrizitätslehre verstärkt zeitgenössisch zweifellos den Eindruck, daß es bei ihr um nicht allzu Ernsthaftes geht. Noch bei Hegel findet sich im Zusammenhang der Entwicklung seiner Ideen über Schulorganisation die Vorstellung, daß der Umgang mit Instrumenten, das Experimentieren, eine Art von Spielen ist und daß, wenn dies schon in der Schule vorkommen muss, es wenigstens hinreichend früh erledigt werden soll, so daß der Geist, wenn es an den Ernst des Denkens geht, nicht mehr 36 | ›Amuser avec utilité‹ ist die Formel, die der Abbé de Lannoy 1767, 114, für den Bildungssinn der Naturlehre findet. 37 | Allerdings nicht ohne Ambivalenz: Bunsen 1752, 4, registriert diese, wenn er von dem kuriosen Charakter elektrischer Phänomene spricht und sagt, es habe Leute gegeben, die sich so vornehm und gelehrt gefühlt hätten, daß sie gefürchtet hätten, »sie möchten etwas von ihrem Respect verlieren, wenn sie wegen einer Sache (welche sie sich nur als einen schöne Raritaeten Kasten vorstellen) einen Fuß aus der Stelle setzten, und dieselbe ihres eingebildeten hohen Augenscheins würdigten.« 38 | Herder 1774, 554. 39 | S. Heilbron 1979, 316ff. Der Reiz des Bildmotivs scheint relativ zeitlos. Fellini hat wiederholt eine hüpfende Kette von Mönchen choreographiert.

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durch spielerische Versuchung an seiner Reife gehindert wird. Nach all dem überrascht nicht, daß die elektrische Episode so schnell vorübergeht, wie sie begann, und daß sie kulturell so folgenlos ist, wie sie voraussetzungsvoll war. Als sie vorbei ist, bewahren Bildung und Kultur kaum eine Erinnerung daran,40 und im 19. Jahrhundert ist gerade der Elektrizitätsforscher, man denke prototypisch an Wilhelm Weber, ein reiner Physiker, den außerhalb seiner Disziplin kaum jemand kennt, während Hermann von Helmholtz’ außergewöhnliche Stellung im deutschen 19. Jahrhundert sich entscheidend auch der Tatsache verdankt, daß seine beiden großen Bücher, die ›Lehre von den Tonempfindungen‹ und das Handbuch der ›physiologischen Optik‹, die Physik in Gebiete hineintragen, die unter den Titeln ›Musik‹ und ›bildende Kunst‹ als kulturell konstitutiv empfunden werden, und daß sie dies auf eine Weise tun, die dort keine Sensibilität und kein Anspruchsniveau verletzt.

VI. W ISSENSCHAF TLICHE G EMEINSCHAF TEN So wie die Instrumentenabhängigkeit der Elektrizitätslehre das Verhältnis des Elektrizitätsforschers zu seinem außerwissenschaftlichen Publikum bestimmt, ja ein solches Verhältnis überhaupt erst herstellt, so gilt auch, daß sie den Typus von Beziehung verändert, die ihn mit seinem wissenschaftlichen Kollegen verbindet, mit diesem in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zusammenschließt. Dies ist nun wieder in einer Mehrzahl von Hinsichten der Fall. Die relative Traditionslosigkeit der Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert hat auch die Implikation, daß man in diesem Fach neu und vergleichsweise voraussetzungslos anfangen kann; daß man für diesen Anfang in der ersten Zeit des Faches nur einen einfachen Apparat und ein Minimum von Kenntnissen benötigt.41 Diese Chance eines Neubeginns bietet sich sowohl einzelnen Personen wie auch ganzen Wissenschaftsregionen oder –nationen, und sie ist in der Geschichte der Elektrizitätslehre auch ergriffen worden. Einmal lässt sich beobachten, daß die Entwicklung der Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert das Verhältnis von Zentren und Peripherien in der Naturlehre beeinflusst hat. Innovative elektrische Entwicklungen verdanken sich häufig Wissenschaftsregionen, die bis dahin an den wegweisenden Entwicklungen in der Naturlehre nur unterproportional partizipiert hatten. So etwa Italien, Schweden und Russland und auch der gerade 40 | Natürlich wiederholt der Galvanismus dieselbe Konstellation sehr kurzfristig in vermutlich viel kleineren gesellschaftlichen Kreisen noch einmal. Weil in diesem Fall eine überdauernde Literatur – die der Romantik – sich beeindrucken ließ, weiß die gegenwärtige Erinnerung von dieser Episode mehr. 41 | Siehe zu der bei Benjamin Franklin zugespitzten Konstellation von weitgehender Unkenntnis als Bedingung des Erfolgs Finn 1969.

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im Bereich mechanische Künste/Instrumentenentwicklung seit dem 17. Jahrhundert zurückgefallene deutsche Sprachraum und schließlich – damit in die Wissenschaftsgeschichte eintretend – die nordamerikanischen englischen Kolonien.42 In all diesen Fällen war offensichtlich die relativ leichte Zugänglichkeit des Forschungsgebiets handlungsmotivierend, und sie verband sich mit der in Peripherien vielfach größeren Offenheit für neue Themen, da man noch nicht in andere Themen viel investiert hat und im Neuen eine eigene Chance erblickt. Gleichzeitig verändert sich der Typus wissenschaftlicher Arbeit. Vielleicht hat die Elektrizitätslehre – und sei es nur aus Gründen ihrer Traditionslosigkeit – zum erstenmal das völlige Abstreifen der Gelehrsamkeit, das Abschneiden der Suche nach weiteren literarischen Belegen und der Hoffnung auf relevante Informationen in diesen praktiziert. Damit ist der Elektrizitätsforscher allein seinem Instrument konfrontiert und auf die Suche nach den unrealisierten Möglichkeiten, die es besitzt, verwiesen. Diese sich von Gelehrsamkeit distanzierende Umstellung auf instrumentenzentrierte Experimentalforschung kann natürlich auch ökonomische oder – anders formuliert – in den Kommunikationsbedingungen für literarische Information gelegene Gründe haben. So wie heute die steigenden Kosten der apparativen Ausstattung der Naturwissenschaften dazu führen können, daß man auf personalintensive oder theorieintensive Forschung umstellen muss – gegenwärtige Physiker sehen in letzterem Zwang manchmal einen Vorteil ihrer sowjetischen Kollegen43 –, gilt umgekehrt für das 18. Jahrhundert, daß unter den dort gegebenen Bedingungen von Buchproduktion und Buchmarkt und angesichts des Nichtvorhandenseins oder der Nichtbenutzbarkeit von Bibliotheken die Anschaffung eines Experimentalapparats weit billiger sein konnte als das Heranziehen aller relevanter literarischer Quellen. Die Umstellung der Naturwissenschaft auf die Höherwertung der Neuheit eigener Erfindung wäre insofern auch eine Reaktion auf den Druck ökonomischer Knappheit. Die Ideologen des ›philosophischen Instruments‹, von denen Joseph Priestley vermutlich der wortmächtigste war, und die schon im Begriff den Anspruch dokumentierten, daß man mit Instrumenten denken könne, haben gern behauptet, daß instrumentengestützte Forschung einer großen Gruppe bisher faktisch ausgeschlossener Amateure mit begrenzten zeitlichen und ökonomischen Ressourcen die Möglichkeit der Partizipation einräume.44 Priestley selbst entschied sich, wie Maurice Crosland dokumentiert hat, nach dem ökonomischen Fiasko seiner ›Geschichte der Optik‹, auf die vorgesehenen weiteren Bände zur Geschichte der Naturwissenschaft zu verzichten, und konzentrierte 42 | Im Brief vom 1.9. 1747 registriert Franklin, es seien in vier Monaten bereits mehr als einhundert Glasröhren für elektrische Experimente verkauft worden (Franklin 1758, 241). 43 | Diese Passage wurde 1987 geschrieben. 44 | Vgl. Priestley 1772, XV und XVIII.

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sich in der Folge in den Untersuchungen über die Verschiedenheit der Luftarten auf die eigene experimentelle Forschung.45 In seinen Mitteilungen jener Jahre taucht dann immer wieder die Bemerkung auf, daß diese Form der Arbeit weit weniger kostspielig sei als seine vorherige auf literarische Quellen gestützte Forschung. Das sozial-kommunikative Komplement dieser sich nicht nur in der Elektrizitätslehre durchsetzenden Entwicklung ist die in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstehende Fachzeitschrift, die preiswert sein soll und Kürze und Vollständigkeit der Information bieten will und zu deren wesentlichen Leistungen gehört, daß sie zwei potentiell konfligierende Gesichtspunkte zu kombinieren erlaubt: den arbeitenden Wissenschaftler mit den Fortschritten seiner Kollegen in Verbindung zu halten und ihn andererseits, da er außer der – idealiter einen – Fachzeitschrift nichts zu konsultieren braucht, zeitlich freizusetzen für die eigene experimentelle Arbeit. Die Selbstreflexion der frühen Experimentalforschung ist, wie schon diese Erläuterungen zeigen, teilweise geleitet durch einen egalitären – oder besser: inklusiven – Impuls, der im Übrigen auch im intendierten Publikumsbezug der Elektrizitätsschaustellungen identifizierbar war und im Bereich der eigentlich wissenschaftlichen Arbeit weitere Reflexionsformeln kannte. So gab es die Vorstellung, daß instrumentenabhängige Forschung bereits die vereinzelte Beobachtung als eine im wissenschaftlichen Verkehr kommunikationswürdige Einheit zulässt und auf diese Weise nicht nur einer größeren Zahl von Personen der Zugang zu eigenen Publikationen eröffnet wird, sondern sich auch der Charakter des wissenschaftlichen Fortschritts selbst ändert. Wissenschaftlicher Fortschritt besteht dann nicht mehr aus den großen Schritten weniger großer Männer, stattdessen aus den kleinen Schritten einer Unzahl von Partizipanten. Für die Frühzeit eines Gebiets wie der Elektrizitätslehre mögen dies Realeffekte sein, die aber höchst gefährdet waren, weil jederzeit der Ausbau apparativer Anforderungen und die Entwicklung einer komplex vernetzten theoretischen Begrifflichkeit wieder die Mehrzahl kurzfristig involvierter Personen von weiterer Partizipation ausschließen konnte. In der Kritik jener Chemiker, die Priestley nahestanden, an der Entwicklung der französischen Chemie tauchte charakteristischerweise das Motiv auf, die französische Chemie habe bereits einen Grad der Komplikation in Apparatur und deren Aufbau erreicht, der mit Kontrolle und Wiederholbarkeit der Untersuchungen unvereinbar sei.46 Gemeint war natürlich, daß erneut nur für eine schmale Elite Kontrolle und Replikation eine realistische Möglichkeit ist. Im übrigen reflektieren sich hier Probleme einer jeden Experimentalforschung im 18. Jahrhundert. Die Abwesenheit einer konsensuell benutzten Sprache für die Beschreibung von Beobachtungen, das Nichtverfügen über Experimentalnormen hinsichtlich zulässiger Fehler, das Nichtvor45 | Crosland 1983. 46 | Schaffer 1984.

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handensein eines dank industrieller Serienherstellung standardisierten Experimentalapparats – die Mehrzahl dieser Faktoren ließ die Wiederholbarkeit und zuverlässige Kontrolle eines Experiments zu einem unwahrscheinlichen Ereignis werden, so daß man auf Hilfsmittel zurückgreifen musste wie etwa das später an Bedeutung verlierende Postulat der Einfachheit des Instruments oder die Praxis, wichtige Experimente vor Zeugen durchzuführen, deren Zahl und manchmal Namen man noch in Zeitschriften des frühen 19. Jahrhunderts häufig angeführt findet. Es fallen hier also Bedingungen, die den Umständen der Instrumentenherstellung der Zeit und dem Grad der konsensuellen Ausformulierung einer Methode der Experimentalforschung geschuldet sind, mit Motiven zusammen, denen an einer möglichst weitgehenden Inklusion aller genuin interessierter Personen in Chancen der Partizipation an Wissenschaft gelegen war. Dieses inklusive Moment war vermutlich in Deutschland besonders prononciert, wo das gelehrt-wissenschaftliche Kommunikationssystem, wie man unschwer an der überwältigenden quantitativen Dominanz des deutschen Sprachraums in der Hervorbringung wissenschaftlicher Zeitschriften sehen kann,47 in der zweiten Jahrhunderthälfte enorm expandierte und dies sicher auch die methodischen Probleme besonders hervortreten ließ.48 In den neu gebildeten Rekrutierungsmustern der disziplinär spezialisierten Forschung des 19. Jahrhunderts dauert der inklusive Impuls der frühen Experimentalforschung in weitgehend umgeformter Gestalt fort. Man kann dies analytisch mit dem Kuhnschen Begriff ›normale Wissenschaft‹ und mit der Vorstellung zu erfassen versuchen, daß normale Wissenschaft ein institutionell und als solches vor allem durch Ausbildung ermöglichtes Phänomen ist. Das aber heisst, daß in der modernen Wissenschaft der Zugang zur Forschung nicht mehr an extrem voraussetzungsreiche Bedingungen persönlich-intellektueller Begabung oder famliär-finanzieller Ausstattung gebunden ist. Diese werden substituiert durch nicht weniger anspruchsvolle Konditionen des Durchlaufens langwieriger Ausbildungswege und des Sichbehauptens in unübersichtlichen Forschungsorganisationen. Die Instrumente lässt der organisationsförmige Charakter moderner Forschung – ungeachtet aller Zuwächse apparativer Komplexität und Größenordnung – in gewisser Hinsicht auch wieder zurückweichen, da er stärker Prozesse sozialer Kommunikation in der Forschungsorga-

47 | Vgl. Stichweh 1984, 404f. 48 | Siehe eine bezeichnende englische Reaktion bei Oliver Goldsmith 1759. Goldsmith merkt S. 280 an, der Leser der ›Acta‹ deutscher wissenschaftlicher Gesellschaften finde dort »only […] an obscure farrago of experiments, most frequently terminated by no resulting phenomena. To make experiments is, I own, the only way to promote natural knowledge; but to treasure up every unsuccessful enquiry into nature, or to communicate every experiment without conclusion, is not to promote science, but confuse it.«

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nisation vor die Unmittelbarkeit des Kontakts zu den zugleich unanschaulicher gewordenen und industriell produzierten Instrumenten treten lässt.

VII. S TRUK TURELLE K OPPLUNG IM V ERHÄLTNIS VON TECHNIK UND N ATURWISSENSCHAF T : E LEK TRIZITÄTSLEHRE , TECHNIK UND TECHNIK WISSENSCHAF T IM 19. J AHRHUNDERT Während sich im 19. Jahrhundert die Entstehung ›akademischer Naturwissenschaft‹ vollzieht, d.h. die einer Naturwissenschaft, die – im Unterschied zu den utilitaristisch-technologischen Präferenzen des 18. Jahrhunderts – weit stärker durch die Orientierung an einer inneren akademischen Umwelt anderer – gerade auch geisteswissenschaftlicher – Disziplinen bestimmt ist,49 während natürlich auch die Elektrizitätslehre als wesentliche Subdisziplin der neuen Disziplin Physik an diesem Prozess partizipiert und beispielsweise ›elektrische Weltbilder‹ entwirft, die die heimliche Symmetrie von klassischer Philologie und klassischer Physik kultivieren, gilt gleichzeitig für die Elektrizitätslehre auch, daß sich von ihr her jenes neue Verhältnis der Naturwissenschaft zu Technik und ›Technikwissenschaft‹ entwickelt, das offensichtlich in vielen Hinsichten formprägend für das 20. Jahrhundert geworden ist. Diesen Prozess, der bis 1870 vor allem durch die Entwicklung der elektrischen Telegraphie bestimmt war und dann nach der Mitte des Jahrhunderts zunehmend auch durch das Hervortreten der Starkstromtechnik, wobei letztere den Anlass zur akademischen Institutionalisierung der ›Elektrotechnik‹ (in Deutschland ab 1882) und ihrer Ausformung zu einer technikwissenschaftlichen Disziplin gab, will ich hier nicht im Detail analysieren, sondern nur einen für unser Argument zentralen Gesichtspunkt betonen: die Beobachtung des Prozesses erlaubt präzise zu sehen, wie das wissenschaftliche Instrument in die Position des entscheidenden Verbindungsglieds zwischen Wissenschaft und Technik einrückt.50 Es handelt sich beispielsweise im Fall der Telegraphie nicht darum, daß zunächst neue theoretische Einsichten gewonnen werden, diese die anschließende Konstruktion eines Instruments stimulieren und letzteres dann zu Techniken ausgefeilt wird. Vielmehr ist der Ausgangspunkt die Erfindung eines wissenschaftlichen Instruments: der Volta-Säule. Von dieser zweigen nun Pro49 | Vgl. zum ›akademischen‹ Charakter der Physik Stichweh 1984, insb. Kap. VII; ders. 1994. 50 | S. dazu allgemein Price 1984, insb. 15; ders. 1984a; am Fall der Telegraphie Buchheim 1980; insb. 55; zur Geschichte der Telegraphie im Kontext von Elektrizitätslehre/Elektrotechnik siehe dies. 1979; Schreier 1978; Lindner 1982; ders. 1981; Teichmann 1981.

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zesse in verschiedene Richtungen ab: einerseits ein Verwissenschaftlichungsprozess, der das Verhältnis des neuen galvanischen Fluidums zur vertrauten Reibungselektrizität des 18. Jahrhunderts betrifft und zur Elektrodynamik führt. In diesem Prozess beobachtet man die Phänomene der Säule, unterwirft sie natürlich auch gezielten Suchprozessen und drängt im Übrigen die Frage nach der Identität von galvanischem und reibungselektrischem Fluidum zugunsten der Beschreibung der Bewegungs-/Fortpflanzungsprozesse des neuen Agens zurück. In Letzterem deutet sich ein Identitätswechsel der Physik an, der von Substanzhypothesen für beobachtete Phänomene zur genaueren Beschreibung von Bewegungen führt. Andererseits ist die Volta-Säule ein Instrument, das als Instrument eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu allen Mitteln der Stromerzeugung, die dem 18. Jahrhundert zur Verfügung standen, aufweist: Konstanz der Erzeugung des Stroms; niedrige Spannung bei relativ großer Stromstärke, so daß die Probleme der Isolation im Prinzip lösbar werden; Bindung der Elektrizität an einen Leiter; hohe Geschwindigkeit der Fortleitung über große Entfernungen.51 Unter diesen Bedingungen war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Konkurrenzverhältnis von optischer und elektrischer Telegraphie, das bei den ersten Versuchen des späten 18. Jahrhunderts selbstverständlich zuungunsten der Reibungselektrizität entschieden worden war, sich umkehren musste. Die weitere Geschichte der theoretischen Elektrodynamik – und gleichzeitig die der Telegraphie – ist eine Geschichte, die immer wieder durch überraschende Entdeckungen interpunktiert wird (Elektromagnetismus – Oersted 1820; elektromagnetische Induktion – Faraday 1831). Für alle diese Entdeckungen ist charakteristisch, daß sie genau zwei Momente kombinieren; sie stellen ein neues Phänomen dar, bei dem es sich um einen bis dahin unentdeckten Realsachverhalt in der Natur handelt – und sie stellen dieses Phänomen in der Form einer experimentellen Anordnung dar, die als Experimentalanordnung quasi der Prototyp eines wissenschaftlichen Instruments ist (in den zitierten Fällen: des Elektromagneten bzw. des Rotationsapparates für die kontinuierliche Stromerzeugung). Divergente Prozesse weiterer Entwicklung schließen an diese experimentellinstrumentellen Entdeckungen an. Das in der Form eines basalen Instruments realisierte Phänomen muss theoretisch verstanden werden, d.h. es muss in den Kontext dessen, was wir bereits über die Natur wissen, auf überzeugende Weise eingeordnet werden, was natürlich immer einen reorganisierenden Effekt auf bisheriges wissenschaftliches Wissen impliziert. Zweitens konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das Instrument als Instrument, das konstruktiv verbessert werden muss, um das in ihm vergegenständlichte Phänomen auf zuverlässige, konstante, hinreichend isolierbare, in einer erwünschten Größenordnung liegende und schließlich messbare Weise hervorzubringen. Diese Entwicklungen 51 | Siehe Lindner 1982, 261f.; Buchheim 1980, 54.

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des Instruments sind im Prinzip bereits technischer Natur, unabhängig davon, ob sie im institutionellen Rahmen wissenschaftlicher Instrumententechnik erfolgen, und aus ihnen gehen langfristig jene Techniken hervor, die zur Grundlage von Telegraphie und Elektrotechnik werden. Man kann dann noch einen zweiten Verwissenschaftlichungsprozess dazwischenschalten, der in wissenschaftlicher Forschung die Probleme thematisiert, die sich bei der Transformation eines wissenschaftlichen Instruments in eine Technik stellen – und dieser sekundäre Verwissenschaftlichungsprozess führt in Deutschland nach 1880 zur Entstehung der Technikwissenschaften.52 Es liegt auf der Hand, daß die Technikwissenschaft eines Instruments sich durchaus für andere Wissensbestände interessiert als für diejenigen, die in erster Instanz durch das Instrument problematisiert und von diesem her theoretisiert worden sind. Forschungen über Eigenschaften von Materialien, Fragen der Größenordnung53 und ein realitätsbewusstes Abgehen von Idealisierungen spielen hier eine Rolle.54 Gleichzeitig bleibt es dabei, daß im Verhältnis zu diesen technikwissenschaftlichen Fragestellungen das konstruktive Detail und die aus Forschungen nicht ableitbare konstruktive Idee wieder ein Problem anderer Art sind. Diese Entwicklungsskizze können wir nun auswerten und erhalten auf diese Weise eine theoretische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Technik. Dieses Verhältnis ist offensichtlich keine deduktive Asymmetrie, in welcher wissenschaftliche Einsichten schrittweise durch zunehmende Spezifikation und Anreicherung in eine Technik umgewandelt würden. Vielmehr haben wir es mit heterogenen Wissenssystemen zu tun, die miteinander in bestimmten Hinsichten strukturell gekoppelt sind und für die der Bereich Instrumententechnik/Experimentiertechnik als Bereich struktureller Kopplung fungiert.55 In diesem Bereich struktureller Kopplung gibt es immer wieder Ereignisse (die Konstruktion und die Veränderung von Instrumenten), die als Er52 | Zur Begriffsentwicklung von ›Technik‹ und ›Technologie‹ und zur Entstehung der Technikwissenschaften siehe Stichweh 1984, 446-451 und 466-471; zum Begriff der ›Anwendung‹ ebd. 448 und 471f. Zur Entstehung der Technikwissenschaften siehe auch Lohmann 1978; ders. 1980. 53 | S. frühe und interessante Bemerkungen zur Relevanz dieses Problems (wie zu verwandten Fragen) bei D. Diderot 1751, insb. 503. 54 | S. für den Fall der Telegraphie die Übersicht bei Buchheim 1980, 60. 55 | Luhmann hat für den hier zu analysierenden Sachverhalt zunächst den Begriff der Interpenetration vorgeschlagen und ihn für die Beziehung von personalen und sozialen Systemen ausgearbeitet. Mittlerweile präferiert er den von Maturana geprägten Begriff der strukturellen Kopplung, der der radikalen Heterogenität zweier autopoietischer Systeme besser Rechnung trägt. Siehe Maturana 1982; Luhmann 1977; ders. 1984, Kap. 6; ders. 1988.

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eignisse am Aufbau beider Systeme mitwirken. Insofern handelt es sich um eine strukturelle und um eine operative Kopplung, eine, die außer strukturellen Verwandtschaften des Stils (Technizität, Präzisionsstandards) auch einzelne Ereignisse/Elemente betrifft. Die beiden Systeme unterscheiden sich dann dadurch, daß sie an diese Ereignisse auf verschiedene Weise anschließen und über eine Sequenz von Anschlussereignissen das am Anfang stehende Ereignis in divergente Sinnhorizonte transportieren. Die Autonomie eines Systems erweist sich also nicht darin, daß es prinzipiell kein Ereignis/Element mit einem anderen System teilt,56 vielmehr darin, daß sich immer wieder die Möglichkeit der Trennbarkeit57 durchsetzt, man sich von einem geteilten Ereignis als Ausgangspunkt mittels heterogener Systemimperative für die Organisation von Anschlussfähigkeit in divergente Richtungen fortbewegt. Instrumententechnik und Experimentiertechnik als Bereiche struktureller und operativer Kopplung bieten offensichtlich eine Form der Repräsentation und Selbstsimplifikation der Komplexität der Wissenschaft, die der Technik Anschlüsse nach eigenen Gesichtspunkten erlaubt. Natürlich sind mit diesem Modell die Beziehungen von Technik und Naturwissenschaften längst nicht vollständig beschrieben. Gerade die Entstehung von Technikwissenschaften, die damit einhergehende interne Differenzierung von Technikentwicklung und Technikwissenschaft, analoge interne Differenzierungen in der Naturwissenschaft beispielsweise entlang der wie auch immer näher zu bestimmenden Trennlinie ›reine vs. angewandte Wissenschaft‹ – diese und andere Differenzierungsprozesse sind der Auslöser vielfältiger Interaktionen zwischen den ausdifferenzierten Subsystemen aller Art. Aber dies sind eben Austauschbeziehungen zwischen Subsystemen und Interaktionen zwischen Systemen und damit die Normalität, die man überall antrifft, wo die zunehmende Autonomie eines Systems der Grund seiner intensiveren Verflechtung mit anderen ebenfalls ausdifferenzierten Systemen wird. Dies zu analysieren war hier nicht unsere Absicht, wo es vielmehr um die Herausarbeitung einer in gewisser Hinsicht singulären Bedingung der modernen Naturwissenschaft ging: die Genese der spezifischen Instrumentenabhängigkeit der Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, die Instrumententechnik/Experimentiertechnik als einen Handlungsbereich entstehen lässt, der nicht sinnvoll in Austausch56 | Wobei ein (dritter) Beobachter erforderlich ist, der entscheidet, daß es sich um dasselbe Ereignis handelt. 57 | Diesen Begriff hat Niklas Luhmann in einer Diskussion über Differenzierungstheorie im Oktober 1986 besonders betont. Vgl. Garvey 1979, 31, wo sich ansatzweise ebenfalls eine Unterscheidung von technischen Innovationen und heterogenen Ereignissequenzen, in die sie sich je nach Perspektive einordnen, findet. Nur das Wissen um die technische Innovation wird von allen involvierten Gruppen geteilt, während man die Ereignissequenz, die ein anderer Tätigkeitstyp dazu konstruiert, nicht kennt.

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beziehungen zwischen Systemen zerlegt werden kann. Vielmehr sollte er als eine Zone struktureller Kopplung beschrieben werden – und als eine solche kann er natürlich mit anderen Fällen struktureller Kopplung verglichen werden –, deren Entstehung und Extension der wichtigste soziohistorische Grund der technischen Relevanz moderner Naturwissenschaft ist.

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5. Physik an deutschen Hochschulen Akademische Kultur und die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin (1780-1920)

I. V ERWISSENSCHAF TLICHUNG DER U NIVERSITÄTSBILDUNG UND DIE A BGREN ZUNG VON S EKUNDAR - UND TERTIÄRERZIEHUNG Die vermutlich wichtigste Erfindung der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts ist, daß sie die in England und Frankreich als Disjunktion verstandene Alternative von spezialistischer Fachbildung vs. persönlichkeitsformender Allgemeinbildung in eine Form gebracht hat, die beide Seiten der Alternative in einem Ausbildungsweg zu verbinden versprach1 . Diese Form heißt Wissenschaftlichkeit der Universitätsbildung, und ihre synthetisierende Leistung ruht auf der wissenschaftlichen Disziplin, da die wissenschaftliche Disziplin in Deutschland als Einheit aus Spezifität einer Problemstellung und Universalität des Geistes der Behandlung einer jeden Problemstellung gedacht wurde. Forschung ist der korrespondierende Handlungstyp, der in seinen auf den Handelnden rückwirkenden Konsequenzen den Geist des Forschers vollständig reorganisiert, indem er ihn sukzessive von allen unbefragt übernommenen Prämissen reinigt, im übrigen gerade auch bei der kleinsten Fragestellung die Anspannung aller Kräfte und die Konzentration einer Diversität von Geistesanlagen auf einen Punkt verlangt. Wir begegnen hier einem Argument, das auch für die spezialisierteste Unternehmung zu erweisen versucht, daß sie formal bildend ist und das Ganze einer Person zu durchdringen imstande ist. Gleichzeitig formuliert dieses Argument eine Anspruchshaltung an jeden wissenschaftlichen Beitrag, der, wie eng geschnitten er in seinem thematischen Bezug auch sein mag, immer auch auf eine einen Unterschied ausmachende Weise von universalistischem – und d.h. in Deutschland philosophischem – Geist durchdrungen sein soll. Dies ist zunächst historische Semantik, als solche aber auch Teil einer akademischen Kultur, weil es sich um innerakademisch verbreitete Situationsdefinitionen handelt, denen wir von 1792 bis 1914 in immer neuen Formulierungen 1 | Vgl. Sybel 1868; Wahlberg 1874, 228.

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begegnen und die ein intellektuelles Milieu konstituieren, in dem sich die Bildung von Disziplinen vollzieht, deren eigene Semantik auf die Evolution dieser Formulierungen zugleich zurückwirkt2. Neben dieser universitäts- und wissenschaftssemantischen Erfindung möchte ich im Moment eine institutionelle Erfindung von hoher Formalität betonen: Dies ist die Einführung des Abiturs, das in Preußen – und damit dem wichtigsten Staat – 1812 zum schultypenvereinheitlichenden Sekundarschulabschluß wird. Die Bedeutung des Abiturs sehe ich nicht in der sowieso nur begrenzt möglichen Homogenisierung der in die Universitäten eintretenden Population; wichtiger scheint mir, daß das Abitur an die Stelle der in der Frühmoderne entstandenen Diversität akademischer Unterrichtsanstalten eine scharfe und rein formale Demarkation von Sekundar- und Tertiärerziehung setzt. Während angesichts von Lateinschulen, akademischen Gymnasien mit verschiedenen Graden von Privilegierung, Ritterakademien, Kollegien, Fürstenschulen, Klosterschulen, Universitäten etc. der Übergang von Sekundar- zu Tertiärerziehung als kontinuierlich und durch eine Diversität von Funktionsausrichtungen verwischt erscheinen konnte, wird jetzt die Vielzahl der in der Frühmoderne entstandenen Schultypen homogenisiert, und d.h. für viele, daß sie herabgestuft werden, während gleichzeitig ein Freiraum für eine Neubestimmung des Sinns der Universität entsteht, die in der Folge über Wissenschaftlichkeit der Ausbildung vorgenommen wird. Gemeint ist natürlich nicht, daß das Abitur die Ursache dieser Umstellungen ist. Betonen will ich vielmehr, daß das Abitur als eine praktisch erfolgreiche Summierungsformel fungiert, die eine Vielzahl von Vorentwicklungen und Reformantizipationen in einem einfachen Akt zusammenzieht, der die Grenze zwischen zwei Epochen der Bildungsgeschichte und zwei Typen von Erziehungseinrichtungen irreversibel markiert. Die Differenzierung von Gymnasium und Universität impliziert nun nicht, daß die Universität gegenüber Handlungen und Erziehungsresultaten des Gymnasiums künftig indifferent ist. Nichts wäre für das deutsche 19. Jahrhundert falscher. Gerade die für die Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen entscheidende philosophische Fakultät ist in zumindest zwei Hinsichten essentiell vom Gymnasium und den beiden anderen in der Folge bedeutsamen Oberschultypen (Realgymnasium, Oberrealschule) abhängig: Oberschulen sind der künftige Beschäftigungsort der meisten Absolventen disziplinärer Fachstudien, und sie sind wesentliche Institutionen der Vorbildung späterer Studenten, die in Einzelfällen bereits an der Schule wissenschaftliche Vorbildung war. Besonders für die Rekrutierung des Forschungsnachwuchses gilt, daß – angesichts der im Vergleich zur Länge des Schulbesuchs oft dramatischen Kürze des Universitäts-

2 | Vgl. zu einigen Themen dieser historischen Semantik Stich weh 1987; ders. 1991.

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studiums3 – eine quasi-wissenschaftliche Vorbildung manchmal eine entscheidende Erfolgsbedingung war. Die innerdisziplinäre Bildung wissenschaftlicher Schulzusammenhänge (i.e. paradigmageleiteter Forschungstraditionen) ist unter diesen Umständen im 19. Jahrhundert gelegentlich ein Drei-Generationen-Phänomen4 . Die Generation der ersten Universitätslehrer des Faches bildet Studenten aus, die ihre Berufsstellung am Gymnasium finden und von dort ihren einstigen Lehrern nun hinreichend vorgebildete Gymnasialabsolventen schicken, die als Universitätsstudenten der dritten Generation erstmals die Intensität und Länge der Vorbildung erfahren, die für szientifische Durchbrüche erforderlich ist. Daß als Startpunkt einer solchen Drei-GenerationenSequenz nur eine autodidaktische Ausbildung der ersten Generation fungieren kann, dürfte deutlich sein, und im übrigen wird am Beispiel dieses Phänomens verständlich, wie sehr die Geschichte einer Disziplin im 19. Jahrhundert noch mit ihrer Schulgeschichte zusammenhängen kann5, und dies unabhängig von der ihrerseits interessanten Frage, ob die Gymnasiallehrer noch über Publikationen in das Kommunikationssystem einer Disziplin integriert sind.

II. P HYSIK , A K ADEMISIERUNG DER U NIVERSITÄT UND DIE I NTENSI VIE RUNG VON I NTER AK TION Aus dem Prozeß der Entstehung der modernen, wissenschaftlichen Universität hat der erste Abschnitt zwei mir interessant scheinende Momente herausgehoben: 1. die Frage der Abgrenzung der Universität gegen eine heterogene Vielfalt anderer Unterrichtsanstalten; 2. die Frage nach dem Zusammenhang von Vorstellungen über Universitätsbildung mit auf Individuen hin gedachten Sinndeutungen für Fachspezialisierung. Diese sind wiederum mit der wissenschaftssystematischen Deutung des einzelnen Fachs als Teil der disziplinären Ordnung der Wissenschaft verknüpft. Diesen Prozeß des Umbaus der Universität und der Evolution ihrer semantischen Grundlagen will ich in der Folge nicht in seiner Gesamtheit analysieren6, vielmehr den speziellen Fall der Physik betrachten. Die Physik verdient unter den Naturwissenschaften deshalb besonderes Interesse, weil sie sich weder – wie beispielsweise die Geologie – aus einer Viel-

3 | S. für ein Beispiel W. Wien 1927, 9f., der betont, daß er erst zwei Semester Physik studiert hatte, als er (1884/5 bei Helm holtz) bereits mit einem Dis sertationsthema befaßt war. 4 | Vgl. Olesko 1980, 431ff.; Meyer 1873, 48. 5 | Für den klassischen Fall, Mathematik, siehe Pyenson 1983; Schu bring 1984. 6 | Vgl. aber Stichweh 1984, insb. Kap I, 62-93.

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zahl von Anwendungsbezügen heraus entwickeln kann7, noch – wie die Mathematik –, die den anderen etablierten Bildungswert neben den klassischen Sprachen vertritt, ihren fraglos gesicherten Platz in der Schule hat. Physik, sobald sie sich aus der ›Naturlehre‹ des 18. Jahrhunderts herausgelöst hat, ist immer schon akademische Wissenschaft – im Sinne der Abwesenheit von Interaktionen mit außerwissenschaftlichen Leistungsabnehmern –, und sie ist in einem engeren Sinne Universitätswissenschaft, im Unterschied zu manchen schon allein als Schulwissenschaft existenzfähigen Fächern. Der Aufstieg der Physik in der deutschen Universität ist in dem Augenblick vollzogen, in dem die Abhängigkeit von der Universität reziprok geworden ist – das Fach ein nicht mehr substituierbarer Teil universitärer Kultur ist. Im Augenblick ihres größten Ansehens am Anfang des 20. Jahrhunderts kann die deutsche Universität den Ausweis ihrer Besonderheit gerade in zwei physikalischen Theorien – der Relativitätstheorie und der Quantentheorie – erblicken, die, wie Arnold Sommerfeld noch 1918 gemeint hat, in der »Grundsätzlichkeit und Kühnheit der Fragestellung« nur als »spezifische Erzeugnisse deutschen Geistes und deutscher Geistesrichtung« denkbar schienen8. Daß ausgerechnet dies wenige Jahre später bestritten werden konnte, war das Ende einer Epoche der Universitätsgeschichte. Die universitäre Etablierung der Physik ist ein Zeit verbrauchender Prozeß, der nicht sinnvoll durch Identifikation einer einzelnen, gewissermaßen weichenstellenden Innovation beschrieben werden kann. Viel eher handelt es sich um Institutionenbildung im Sinne der sukzessiven Herausbildung einer Mehrzahl institutioneller Arrangements (Institut, Seminar, Laboratorium etc.), in denen sich physikalisch relevante Kommunikation und Forschung vollziehen. Diese institutionellen Arrangements wiederum sind auf Berücksichtigung dreier Systemreferenzen ausgelegt: die Wahrnehmung von Serviceverpflichtungen gegenüber nichtphysikalischen universitären Studiengängen, die Aufgaben des physikalischen Fachstudiums und schließlich die Systemreferenz der wissenschaftlichen Disziplin als eines Kommunikationszusammenhangs von Spezialisten. Parallel zu der Entstehung dieser institutionellen Arrangements, die wir im folgenden genauer diskutieren werden, vollzieht sich ein Umbau der gesamten Universität, ohne den sie nicht möglich wären und dessen innerphysikalisches Äquivalent sie sind. Dieser Umbau führt von der in extremem Maße vorlesungsdominierten Universität der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu der interaktionsintensiveren Universität späterer Jahrzehnte, die auch die Pro-

7 | Siehe dazu Guntau 1984. 8 | Sommerfeld 1918, 132 bzw. 131.

5. P HYSIK AN DEUTSCHEN H OCHSCHULEN

zesse individueller wissenschaftlicher Arbeit in die Interaktionssysteme der Universität und in die formale Organisation hineinholt9 . Aus der Sicht des Wissenschaftssystems und damit in der Systemreferenz der wissenschaftlichen Disziplin trägt die Entstehung einer interaktionsintensiveren Arbeitsuniversität zu der Bildung wissenschaftlicher ›communities‹ bei. Wenn man den Begriff der ›community‹ ernst nimmt und mit Thomas Haskell davon ausgeht, daß er etwas in der Wissenschaft Reales bezeichnet, was aber nicht mehr als moralisch-normative Qualität und interpersonelle Affektion, sondern nur als eine über Intensität wechselseitiger Beobachtung und Kommunikation garantierte epistemisch vereinheitlichende Kraft beschrieben werden kann10, wird verständlich, daß der Umbau auf eine interaktionsintensive Arbeitsuniversität die dafür lokal wichtigste Bedingung ist. Gleichzeitig drängt sich die Vermutung auf, daß die deutsche Universität diese Umstellung nie weitgehend genug vollzogen hat; Ansätze dazu, wie wir noch sehen werden, bei stark zunehmender studentischer Frequenz sogar zurückgebildet worden sind und darin der fortdauernd vielleicht gravierendste Strukturdefekt der deutschen Universität liegt.

III. B ERUFSROLLEN , K ARRIEREN , B ERUFUNGEN Das anfangs wichtigste Strukturelement einer Disziplin in der Universität ist der Lehrstuhl und damit die Existenz einer Berufsrolle, an die Erwartungen adressiert werden, zu deren Identifikation man den Blick auf die Disziplin braucht. Der allgemein geltende Satz, daß ein System die Ebene situativer Ausdifferenzierung durch die Entstehung spezialisierter Rollen überschreitet, wird in seiner Bedeutung in diesem Fall noch dadurch verstärkt, daß die deutsche Universität viel stärker als andere Hochschulsysteme sich selbst als aus Lehrstühlen als Strukturelementen bestehend bestimmt. Die Bedeutung der Berufsrolle in der einen Systemreferenz, der der Disziplin, wird hier also dadurch akzentuiert, daß sie in einer anderen Systemreferenz, der der Universität, als ein besonders prominentes Element fungiert, das andere Möglichkeiten der Zerlegung der Universität in Subsysteme ausschließt. 9 | Vgl. B. vom Brocke 1980, 49f. am Beispiel der nach 1870 neuge grün deten Universität Straßburg, die als Experimen tier feld und dann als Vorbild für die »moderne, durch Seminare ergänzte Ar beitsuniversität« (49) fungiert habe. 10 | S. Haskell 1984, insb. 204. Seite 211 formuliert Haskell mit Bezug auf Peirce: »He seems to have meant by commu nity intense ›communica tion‹, rather than neighborliness or avoidance of conflict, a ›Kommunika tions gemeinschaft‹, as Karl-Otto Apel calls it, that implies an attitude of re spect ful attention between, but not affection« (Hervorhebung von mir, R. S.).

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Die Existenz eines spezialisierten Lehrstuhls für Physik ist in dem uns interessierenden Zeitraum (1780-1920) zunächst noch keine Selbstverständlichkeit11. Zwar ist das Fach an jeder Universität und – im Unterschied zu anderen Naturwissenschaften, die sich erst langsam aus der medizinischen Fakultät herauslösen –, ausnahmslos in der philosophischen Fakultät und später auch an den Technischen Hochschulen vertreten. Aber es heißt bis 1810 fast ausschließlich Naturlehre, was auch der Sache nach etwas anderes war, und außerdem verbindet die Lehrstuhlbezeichnung die Physik – von seltenen Ausnahmen abgesehen, für die Lichtenbergs Göttinger Lehrstuhl das auffälligste Beispiel ist – immer mit anderen Fächern, die entweder in symmetrischer Stellung zugeordnet sind, wie Mathematik und Chemie, oder später dann mit Fächern, die als subordiniert erfahren werden, wie Mineralogie, Meteorologie und kurzfristig auch Technologie. Eine Rollenverbindung von Physik und Chemie oder alternativ Physik und Mathematik ist die um 1800 übliche Konstellation. Von diesen beiden Alternativen entspricht die Rollenverbindung mit Chemie mehr der kommunikativen Wirklichkeit der sich konstituierenden Disziplin Physik, die experimentalphysikalisch bestimmt ist und unter partieller Inklusion der Chemiker zustande kommt. Im Falle der anderen Rollenkombination drängt sich der Eindruck auf, daß von der Verbindung von Mathematik und Physik ein immobilisierender Einfluß ausgeht, weil – ähnlich wie bei der Verbindung heterogener Korrekturfächer in der Schule – ihre Vertreter mit der Bewältigung ihrer Lehraufgaben bereits hinreichend beschäftigt sind. Diese Ausgangssituation wird in den folgenden Jahrzehnten verändert: Erstens durch einen Prozeß der Rollendifferenzierung, da irgendwann zwischen 1810 und 1880 an jeder deutschen Universität bei Neubesetzung des Lehrstuhls oder Neuberufung eines zusätzlichen Ordinarius die jeweilige Rollenkombination aufgelöst wird; zweitens durch einen Prozeß langsamen Wachstums der Zahl der Ordinariate. Vereinzelt entsteht nach 1850 aus kontingenten Umständen und namentlich an größeren Universitäten (Göttingen, Leipzig, Berlin, Königsberg, Straßburg) ein zweites Ordinariat für Physik, so daß beispielsweise 1890 die 21 Universitäten des Deutschen Reiches (einschließlich der katholischen Akademie Münster) 30 Ordinarien aufweisen, deren Lehrstühle ausschließlich disziplinär spezifiziert sind12 . Das eigentliche Wachstum der Rollenausstattung der Physik vollzieht sich aber nicht im Bereich der universitären Ordinariate, im übrigen in diesem nicht durch Duplikation derselben Lehrstuhlbezeichnung und schließlich auch nicht durch Neugründung von Universitäten13. Es sind aber drei andere Wachstumsimpulse wahrnehmbar. Einer ist die Gründung 11 | S. näher Stichweh 1984, 318-334. 12 | S. näher Stichweh 1984, 318-334. 13 | Zwischen 1826 (München) und 1914 (Frankfurt) ist Straßburg als Reichsuniversität im okku pier ten Elsaß-Lothringen die einzige Neugrün dung.

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der Technischen Hochschulen und ihre in den sechziger Jahren einsetzende Akademisierung. Es gibt 1900 neun und 1910 elf Technische Hochschulen und außer dem rein quantitativen Zuwachs korrigieren sie, da sie zunächst meist von außerpreußischen Staaten gegründet werden, ein wenig auch die regionale Disparität, die darin liegt, daß nach 1870 die Hälfte der deutschen Universitäten zum preußischen Staatsgebiet gehört14 . In der ›allgemeinen Abteilung‹ der Technischen Hochschulen gibt es einen Lehrstuhl für Physik. Hinzu kommt seit 1882 die Elektrotechnik als Lehrstuhl und vielfach als selbständige Abteilung, ein Bedarf, der anfangs durch Rufe an Physiker gedeckt wird15. Ein zweiter Wachstumsfaktor ist eine interne Differenzierung der Physik, die Stellen – oft Extraordinariate – für ›theoretische‹ oder, wie es manchmal auch heißt, ›mathematische‹ Physik entstehen läßt, die ausbildungspraktisch das sichtbar werdende Fachstudium bedienen. Im Jahr 1900 beispielsweise existieren im Gebiet des Deutschen Reiches 15 Extraordinariate und Ordinariate für theoretische oder mathematische Physik16, zu denen eine erhebliche Zahl von Privatdozenten hinzukommen dürfte. Als dritter wachstumsfördernder Impuls fungiert die nach 1850 immer deutlicher wahrgenommene Notwendigkeit experimentalpraktischer Übung der Studenten. Der dabei entstehende Betreuungsbedarf führt zur Einrichtung der Stelle des Assistenten, den als Forschungsgehilfen des Professors keine staatliche Administration zu bezahlen bereit gewesen wäre. Proportional zum Ausbau experimentalpraktischer Übungen wächst die Zahl der Assistenten, so daß eine große Universität wie Leipzig 1909 bereits 7 Assistenten hat17, die nicht alle für das Experimentalpraktikum angestellt sind, aber bei großem Andrang der Studenten alle zur Anwesenheit verpflichtet sind. Nach der Etablierung der Physik auf der Ebene der Lehrstühle erfolgt der weitere Ausbau der Physik also in Richtung auf Positionen unterhalb des Ordinariats. Das relativiert die Bedeutung der Lehrstühle nicht, zumal die subordinarialen Positionen streng zugeordnet sind. Was damit entsteht, ist eine Voraussetzung für eine geregelte innerdisziplinäre Karriere: es existiert jetzt eine abgestufte Sequenz von Positionen, die als Überleitungspositionen fungieren, ein Minimaleinkommen gewährleisten, eine Fortsetzung der Ausbildung nach dem Studium erlauben, den Fortgang der wissenschaftlichen Forschung motivieren und hinorientieren auf den finalen beruflichen Status des Universitätsprofessors der Physik18.

14 | Darauf weist T. Schieder in Mann/Winau 1977, 23 hin. 15 | S. Dettmar 1940, 278-283. 16 | S. die Tabelle bei Olesko 1980, 524-527. Zu der Zahl von 15 Positionen kann man noch 7 oder 8 Positionen im übrigen deutschen Sprachraum hinzufügen. 17 | Wiener 1909, 58-60. 18 | Vgl. Stichweh 1984, 388-391.

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Die Zentralstellung des Lehrstuhls als Strukturelement tritt auch darin hervor, daß der Ausbau der subordinarialen und institutionellen Struktur der Physik eng verknüpft ist mit dem Akt der Berufung, der als die operationale Form fungiert, in der im Zusammenspiel von staatlicher Administration, beratender wissenschaftlicher Expertise und Universität (besser: Fakultät) Strukturfragen der Universität thematisiert und entschieden werden können19. Ein Berufungsakt kann sowohl die Durchsetzung eines Rufes wie auch die Abwehr einer auswärtigen Berufung sein, wobei die Verhandlungen in letzterem Fall schwieriger sind, weil das Thematischwerden oder zumindest Mitbedenken von Momenten wie Illegitimität, Untreue, Ungleichheit des Tausches (man zahlt ja dafür, daß man dasselbe behalten kann) schwer zu sistieren ist. Die Dominanz der wissenschaftspolitischen Orientierung an Berufungsvorgängen führt dazu, daß die Entwicklung der Universität diskontinuierlich erfolgt, thematische Aufmerksamkeit sich von Ereignissen abhängig macht, die sie nicht zu berechnen versucht, also Planung – im Sinn von Zweckprogrammierung – unmöglich ist. Die vielfach als skandalös empfundene Besonderheit des preußischen ›Systems Althoff‹ (1882-1907) besteht dann darin, daß Althoff den operationalen Vorrang von Berufungsvorgängen einkalkuliert hat, sie – die Vielzahl preußischer Universitäten als Infrastruktur benutzend – zu berechnen und zu manipulieren versucht hat, um auf diese Weise eine Ebene politischer Planung über eine formal nicht angetastete operationale Basis zu legen20. Die operationale Relevanz von Berufungsvorgängen plausibilisiert die Vermutung, daß die Entwicklung und das Wachstum einer Disziplin wie der Physik sich besser noch als durch das Wachstum der Rollenausstattung durch die Zählung der Häufigkeit von Berufungsvorgängen messen ließe. Ich besitze dafür keine quantitativ exakte Evidenz21, aber qualitative Kenntnis der Entwicklung drängt den Eindruck auf, daß die schnelle Entwicklung der Physik nach 1870 wesentlich damit zusammenhängt, daß sich aus den großen Universitäten, den bis dahin marginalen und in der Berufungspolitik provinziellen kleinen Universitäten und den Technischen Hochschulen nach 1870 ein über Berufungsvorgänge eng vernetztes System gebildet hat, in dem die Häufigkeit der Berufungsvorgänge – und die damit gegebenen Innovationschancen – wichtiger sind als das Wachstum der Zahl der Berufsrollen. Interessant wäre im übrigen auch die Klärung der Frage, welche Strukturentscheidungen ein über Berufungsvorgänge innovierendes System nicht treffen kann; ob beispielsweise die ›öffentlichen Güter‹ der Universität (Zentralbibliotheken) in Deutschland relativ vernachlässigt worden sind. 19 | Eine interessante Diskussion der Bedeutung von Berufungs vor gängen bei Meyer 1873, 51-54. 20 | Zum ›System Althoff‹ siehe zuletzt v. Brocke 1980. Siehe auch Weber 1973. 21 | Vgl. immerhin zur Illustration drei Beispiele in Stichweh 1984, 391-393.

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IV. E XPERIMENTALVORLESUNG UND E XPERIMENTALPR AK TIKUM – DIE ›Z WEI K ULTUREN ‹ DER U NIVERSITÄTSPHYSIK Die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts kennt keine Studenten mehr, die nicht außer dem Interesse an Bildung auch – wie ungenau auch immer fixierte – berufliche Absichten mit dem Universitätsbesuch verbunden hätten. Vermutlich sind Söhne von Landwirten die größte Gruppe, die hier noch eine Ausnahme macht, zumal landwirtschaftliche Studien zeitweise an Fachschulen abgedrängt wurden. Die im individuellen Planungshorizont liegenden Motive, an der Universität unter anderem auch Physik zu hören, erfahren im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Spezifikation durch die Differenzierung zweier Publika: die Fachstudenten der Physik und Mathematik einerseits, die Absolventen anderer Studienrichtungen, die aus näher zu bestimmenden Gründen eine physikalische Veranstaltung besuchen, andererseits. Die Differenzierung dieser beiden Publika impliziert nun nicht, daß das letztere zugunsten des ersteren an Bedeutung verlöre. Das gilt nur aus einer innerdisziplinären Sicht, also der Perspektive des Wissenschaftssystems. Die inneruniversitäre Wahrnehmung der Physik hingegen wird bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts entscheidend dadurch bestimmt, daß große Studentengruppen, die außer den Studenten aller naturwissenschaftlichen Fächer auch Mediziner, Kameralisten, häufig die Theologen und gelegentlich die Juristen umfassen, zum Besuch der sogenannten großen Vorlesung über Experimentalphysik verpflichtet sind. Die Technischen Hochschulen haben dieses Muster übernommen. Bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein scheint an ihnen die Vorlesung über Experimentalphysik für alle Studenten obligatorisch gewesen zu sein22. Die Vorlesung über Experimentalphysik, die die zentrale Rollenverpflichtung des Ordinarius für Physik ist, steht in vieler Hinsicht in Widerspruch zum Selbstverständnis oder Geist der deutschen Universität: Sie ist manchmal spektakulär, zunehmend aufwendig im Instrumentengebrauch, bei ihren besten Praktikern von hoher Eleganz, untheoretisch und vor allem unmathematisch, schließlich – gemessen an den Selbstbeschreibungen der Universität – mit Sicherheit nicht formal bildend. Sie polarisiert die Ordinarien der Physik in diejenigen, die sie nur soeben bewältigen, und diejenigen, die aus der zunehmenden Perfektion der Darstellung ihre eigentliche Lebensaufgabe machen. Für die Fachstudenten der Physik ist sie eine chronische Frustration, weil es wenig alternative Angebote gibt, und sie scheint von Studenten anderer Studienrichtungen im wesentlichen in ihrem Unterhaltungswert goutiert worden zu sein. Daß sie dennoch nie ernsthaft in Frage gestellt worden ist, ist in hohem Grade erklärungsbedürftig und hat vielleicht seinen Grund darin, daß sie der 22 | S. Päsler 1979, 179 für die TU Berlin, wo die Studenten aller Fakultäten (mit Ausnahme der Architekten) sie hören mußten.

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Universität in einer sich schnell industrialisierenden, zunehmend von Technik und auch Naturwissenschaft bestimmten Gesellschaft, zu der gerade die neuhumanistische Universität wenig Berührungspunkte besaß, zumindest das Gefühl eines indirekten Kontakts in zwei Hinsichten erlaubte: Sie vermittelte das absolute Minimum naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung in einem Fach, das nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als das allgemeinste unter den naturwissenschaftlichen Fächern gesehen wurde, und sie war in der Zentralstellung des Instrumentengebrauchs eine szientifisch legitime und zugleich anschauliche Form des Bezugs auf die Möglichkeiten moderner Technik. Emil Warburg hat diesen letzteren Gesichtspunkt in einer Bemerkung von 1881 registriert, wo er sagt, die Experimentalvorlesung müsse instrumentell so aufwendig sein, weil sie und nur sie die moderne Technik inneruniversitär repräsentiere23. Denkbar verschieden von der intellektuellen Orientierung der Experimentalvorlesung ist die des Experimentalpraktikums, d.h. einer Veranstaltung, in der Studenten mittels Durchführung von Experimenten den Umgang mit physikalischen Instrumenten praktisch üben. Nach einer Reihe von Vorentwicklungen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgt die Durchsetzung dieser Einrichtung nach 1866 in der Form, die Friedrich Kohlrausch ihr in Göttingen gibt und in einem überall benutzten »Leitfaden der praktischen Physik« wenig später (1870) schriftlich fixiert. Die radikale Differenz zum Geist der Experimentalvorlesung legt Kohlrausch offen, wenn er in einer Einleitung zur zweiten Auflage des Leitfadens insistiert, daß Unterrichts- oder Vorlesungsversuche, d.h. Versuche, die primär ein Phänomen in seiner qualitativen Beschaffenheit zur Anschauung bringen, im Experimentalpraktikum nicht geübt werden sollen, weil sie in Spielerei auszuarten drohen24 . D.h., eben die Versuche, die der Professor in der Experimentalvorlesung demonstriert, werden als für die wissenschaftliche Übung nutzlos verworfen, und dies, obwohl der Fachstudent der Physik und Mathematik in seiner voraussichtlichen späteren Berufstätigkeit als Oberschullehrer genau diese Versuche vorführen können muß. An die Stelle von Unterrichtsversuchen tritt die Übung an Präzisionsmessungen25, beispielsweise die Bestimmung physikalischer Konstanten (Erdmagnetismus, Schwere), die als formal bildend, persönlichkeitsformend und deshalb als eine angemessene Vorschule für Forschung empfunden werden. Natürlich spielt hier eine Rolle, daß sich an Präzisionsmessungen mathematisch anspruchs23 | Warburg 1881, 92. Interessant ist, daß hier auch für Zusam men hänge der Lehre der Eindruck formuliert wird, daß das Verhältnis von Physik und ihrer gesellschaftlichen Umwelt über das wissen schaftliche Instru ment vermittelt wird. Vgl. zum Verhältnis von Physik und Technik Stichweh 1988. 24 | Kohlrausch 1872, IV. 25 | Zur Sonderstellung der Präzisisionsmessung in der deut schen Physik des 19. Jahrhunderts siehe Stichweh 1984, 231-241, et passim.

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volle Fehlerrechnungen anschließen lassen und insofern das Gesamt der für Physik mittlerweile erforderlichen Kompetenzen geübt werden kann. Wie ehrgeizig der Ausbildungssinn des Experimentalpraktikums interpretiert werden konnte, dokumentiert Emil Warburg, der sich vom Experimentalpraktikum die Selbständigkeit des Denkens erhofft, die in der Rezeptivität der von der Quantität des Stoffs geprägten Vorlesung zu kurz komme, im übrigen das Gefühl für ein wissenschaftlich verantwortliches Vorgehen geweckt und gestärkt sieht und schließlich resümierend von »Heranbildung eines ernsten, männlichen wissenschaftlichen Charakters« spricht26. Otto Wiener hebt – die Grundzüge von Kohlrauschs Praktikum rekonstruierend – die »scharfe Kritik der Messungen« hervor, wobei der Begriff der ›Kritik‹ oft eine wissenschaftslegitimatorisch orientierte Analogie zur Strenge der Textkritik der klassischen Philologie meint, und er betont den Gesichtspunkt der »militärischen Disziplinierung des Beobachters«27. Es ist evident, welcher Unterschied zwischen diesen beiden Typen von Ausbildung liegt, die allerdings die Gemeinsamkeit besaßen, daß sie die beiden überzeugendsten Weisen waren, für einen nichtphysikalischen Beobachter die Unverzichtbarkeit universitärer Physik zu demonstrieren. Das Experimentalpraktikum mußte allerdings zuvor ein Vorurteil überwinden, das eine instrumentell-praktische Schulung als Vorbereitung auf industriell-technische Tätigkeit und deshalb als nicht zur Universität gehörig empfand28. Vielleicht wird auch aus diesem Grund der esoterisch-szientifische Charakter des Experimentalpraktikums so betont. Im übrigen gilt, daß allein der Faktor der Zeitbelastung, die die Arbeit an Präzisionsmessungen mit sich bringt, die Studenten zu Studienentscheidungen zwang und insofern zur Ausdifferenzierung des Fachstudiums beitrug29 – und dies auch gerade in der Hinsicht, daß das Experimentalpraktikum den Physiker stärker vom Mathematiker trennt. Das Publikum des Experimentalpraktikums ist dabei nicht unbedingt auf Fachstudenten, i.e. Lehrerstudenten der Physik und Mathematik, beschränkt. Es nehmen auch Chemiker, Mediziner und Pharmazeuten teil, bei denen man teilweise unterstellt, daß sie Meßoperationen erlernen sollen, die im Beruf später wieder vorkommen. Der obligatorische Charakter ihrer Teilnahme – und Entsprechendes gilt für viele institutionelle Momente der Universitätsphysik – variiert aber stark mit den lokalen Traditionen der Universität30, und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beginnt eine Differenzierung der Experimentalpraktika, die Anfängerpraktika, Fortgeschrittenenpraktika, ein Praktikum für Mediziner/ 26 | Warburg 1881, 93. 27 | Wiener 1906, 4. 28 | Vgl. am Beispiel der Chemie um 1840 Turner 1982, 137. 29 | Diesen Gesichtspunkt betont in kritischer Absicht Anon. 1884, 643. 30 | Das hebt A. Kundt 1893, 30, hervor.

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Pharmazeuten/Chemiker, schließlich auch Spezialisierungen wie elektrotechnische Praktika (Göttingen, Leipzig) oder ein Handfertigkeitspraktikum, das Technologien der Materialbearbeitung und Instrumentenkonstruktion übt31, entstehen läßt. Die faktische interne Differenzierung vieler dieser Praktika muß man sich, gerade bei einer nicht mehr kleinen Zahl von Assistenten, als relativ groß vorstellen – und irgendwo in einem dieser Praktika ist auch immer der Ort, wo ein Student den manchmal unmerklichen Übergang von der Repetition vielfach vorgenommener Messungen zu der Arbeit an einem noch nie gelösten Forschungsproblem vollzieht.

V. S EMINAR , THEORE TISCHE P HYSIK , I NSTITUT – E NT WICKLUNGSLINIEN DES F ACH STUDI UMS Einer der Reize der Physik als Wissenschaft ist, daß sie diskursiv-intellektuelle Milieus abstraktester Spekulation genauso hervorbringt, wie sie einen handwerklich-praktischen, auf inkrementalistische Weise Werkzeuge optimierenden Aspekt besitzt. Vermutlich liegt in diesen Unterschieden der Grund dafür, daß die Differenzierungslinie theoretische vs. experimentelle Physik heute eine universelle Relevanz besitzt, für die es keine Entsprechungen in anderen Disziplinen gibt. Milieus des intellektuell-diskursiven Typs32 verdanken ihre Entstehung und interaktive Realisierung in der deutschen Physik des 19. Jahrhunderts dem Lehrkursus der theoretischen Physik und dem Seminar, welches letztere allerdings auch anders strukturierte Varianten aufweist. Theoretische Physik und Seminar markieren eine neben dem Experimentalpraktikum partiell unabhängige Entwicklungslinie, die zum Fachstudium hinführt, das erst am Ende des Jahrhunderts die verschiedenen Typen von Interaktionssystemen, auf denen es aufruht, zu einem stärker integrierten Studienverlauf verschmilzt, wobei im übrigen auch Verluste institutioneller Möglichkeiten auftreten. 31 | In Berlin seit 1912 – s. Deubner 1983, 593. 32 | Der Diskursbegriff ist allerdings im Fall der Physik mit Vorsicht zu ver wen den. Wenn der Diskursbegriff, wie es ein französischer Staatssekre tär unübertrefflich formuliert hat, eine Analyse bezeichnet, deren Schlußfol ge rungen im Ungewissen bleiben (zit. b. Schriewer 1983, 369, Fn. 14), haben wir es bei physikali scher Theorie mit dem exakten Ge genteil zu tun: Einer Art von Theoriebil dung, deren Freiheits grade sich gerade der Benut zung mathemati scher Formalismen als einer Technik präziser Kontrolle langer Ketten von Schlußfolge rungen verdanken. Das wiederum setzt das soziokul turell sehr unwahr schein liche Vertrauen vor aus, daß bei der Selbstbindung an den Vollzug oder Nachvoll zug langer Ketten von Schluß folge rungen der Kontakt zur Reali tät nicht verloren geht. S. dazu instruktiv Ong 1958, 73f. et passim.

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Das Seminar ist eine Erfindung der deutschen Universität, die in ihrer anspruchsvollsten Version gleich am Anfang des 19. Jahrhunderts von Schleiermacher beschrieben wird, der im Seminar keine Lehre stattfinden lassen will, weil auf diese alle Mitglieder der Universität ein gleiches Anrecht besäßen, und der dann das Seminar positiv charakterisiert als »dasjenige Zusammensein der Lehrer und Schüler, worin die letzteren schon als produzierend auftreten, und die Lehrer nicht sowohl unmittelbar mitteilen, als nur diese Produktion leiten, unterstützen und beurteilen«33. Im negativen Teil von Schleiermachers Charakterisierung – dem Ausschluß von Lehre im Seminar – wird bereits ein weiteres wesentliches Strukturelement des Seminars implizit eingeführt: Das Seminar ist eine formale Organisation in der formalen Organisation Universität, die im Unterschied zu allen anderen Veranstaltungen der Universität34 über selektive Zulassung von Studenten konstituiert wird35. Selektivität der Zulassung erfordert eine Formalisierung des Zugangs über eine Art von Aufnahmeprüfung (Colloquium, Probearbeit) und Zulassungsbeschränkungen (Obergrenze der Zahl der Mitglieder). Hinzu kommen eine Formalisierung des Mitgliedschaftsstatus über Regelungen von Rechten und Pflichten und gelegentlich eine sequentielle Erlangung von Mitgliedschaftsrechten (Spaltung in ordentliche und außerordentliche Mitglieder). Viele Seminare sind mit Geldprämien oder Stipendien verbunden, die allen Mitgliedern des Seminars zukommen oder für besondere Leistungen verliehen werden. Der Zugang zur Literatur wird über Sonderkonditionen der Mitglieder des Seminars in der Universitätsbibliothek oder über eine eigene Handbibliothek des Seminars geregelt. Schließlich gibt es in den Naturwissenschaften Modelle und Apparate, die spezifisch zum Bestand des Seminars gehören. In seiner Arbeitswirklichkeit war das Seminar eine komplizierte Synthese aus dann doch abgehaltener Lehre, die Defizite zu kompensieren versuchte, die eigenständiger Arbeit im Wege standen; aus Lehrerbildung, da der Blick auf die Schule als künftiger Beschäftigungsort meist der Anlaß der Gründung eines Seminars war und dieser Gesichtspunkt immer im Auge behalten werden mußte, und schließlich einem Forschungsbezug, an dem sich Strukturwandlungen wissenschaftlicher Forschung im Prozeß disziplinärer Differenzierung ablesen lassen. Das Seminar war ja einer der ersten Orte, an dem eine interaktive Ver33 | Schleiermacher 1808, 264-6, das Zitat auf S. 265. 34 | Das Kolleg, das der Professor oder Privatdozent gegen Ent gelt ›privatim‹ oder ›privatissime‹ liest, ist in diesem Sinn keine Veranstaltung der Univer sität. Man kann auch, wie dies Schubring 1985, 147f. tut, das Seminar quasi als Nachfolgeein richtung des Privatkollegs sehen, und man wird dann vor allem den Gesichts punkt betonen, daß Zahlungs fähig keit als Selektions krite rium durch eine Lei stungsbewer tung des aufzunehmenden Studenten ersetzt wird. 35 | S. näher Stichweh 1984, 364-375.

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dichtung möglich war, auf die eine tendenziell kollektiv betriebene Forschung angewiesen ist. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo es aus Projektmitteln bezahlte Forschungsmitarbeiter noch nicht gab, fungierten vielfach die Studenten als wissenschaftliche Mitarbeiter des Professors36. Dies wird gestützt durch eine mit der disziplinären Differenzierung und der korrespondierenden Ausdifferenzierung einer über Methoden betriebenen Forschung einhergehende Erleichterung des Zugangs zu Forschungsarbeit, die man als Institutionalisierung ›normaler Wissenschaft‹ im Kuhnschen Sinn dieses Begriffs beschreiben kann. Es ist bezeichnend, daß es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Professoren gibt, die stolz darauf sind, daß sie viele Kandidaten promovieren, die andernorts als nicht hinreichend begabt abgewiesen worden sind und die dank extremer Spezialisierung jetzt sogar herausragende Resultate erzielen37. Die Chancen und vielleicht auch Notwendigkeiten, die in der Form des Seminars lagen, sind zeitgenössisch wiederholt gesehen worden. So beklagt Heinrich v. Sybel 1868 in einer Rede, daß die nach wie vor dreijährige Studienzeit der meisten Studenten den Ansprüchen der Wissenschaft nicht mehr genüge, und er setzt seine Hoffnungen auf den Ausbau der Seminare38. Die Prämien, die bis jetzt nur ›Ehrengeschenke‹ seien, will er in regelrechte Stipendien zur Unterstützung längerer Studien insbesondere nach bestandener Doktorprüfung umwandeln und erhofft sich dafür eine Dotierung der Universitäten, die der der unvergleichlich reicheren englischen Universitäten ein wenig näherkomme. De facto aber absorbiert die deutsche Universität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Seminar wieder an das allgemeine Studiengeschehen. Vielleicht der wichtigste Grund für diese Entwicklung ist, daß fortgeschrittene Lehre und enger geschnittene Fachstudien ein selbstverständlicher Teil des Lehrangebots der Universität wurden und vielfach auch im Seminar nichts anderes als fortgeschrittene Lehre abgehalten worden war. Gleichzeitig findet in den Naturwissenschaften die Forschung eine selbstverständlichere Chance der Anschließbarkeit im Experimentalpraktikum, und der zunehmend aufwendige Apparat kann für ein exklusives Seminar nicht dupliziert werden. Statt daß die Prämien in Richtung auf Forschungsausbildung ermöglichende Stipendien umgewandelt werden, streicht man sie in Preußen 1885, um einer wahrgenommenen Gefahr der Überfüllung der Universitäten zu steuern39, so daß die Assistentenstelle die Funktion des von Sybel erhofften postdoktoralen Stipendiums übernehmen muß. Es ist in gewisser Hinsicht bemerkenswert, daß die vielleicht berühmteste Einrichtung der deutschen Universität im 20. Jahrhundert nur noch dem Na36 | Noch 1925 betont Wilhelm Wien (1925, 106), wie wichtig dies ange sichts des zeitraubenden Charakters moderner Forschung sei. 37 | So Johnson 1985, 251, zu Wilhelm Ostwald. 38 | Sybel 1868, 37. 39 | S. Schubring 1983, 24, 30f.; ders. 1985, 153-5.

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men nach existiert, das Seminar faktisch aber nur eine universell zugängliche und interaktionsintensivere Form der Lehre in den späteren Semestern ist. Eine der Einrichtungen, die zur Verdrängung des Seminars beitragen, ist der Lehrkursus der theoretischen Physik. Nachdem ihn Franz Ernst Neumann in Königsberg nach 1830 im Alleingang erfunden und über Jahrzehnte praktiziert hatte, setzt er sich nach 1865 an den deutschen Universitäten durch. Diese Durchsetzung erfolgt teilweise entlang einer Dimension offiziell/inoffiziell. Während der Ordinarius, der die Experimentalvorlesung hält, die offizielle Physik vertritt und für alle externen Instanzen als die einzig wahrnehmbare Ansprechadresse fungiert, sammeln sich um die ›Theoretische Physik‹ des Extraordinarius die Fachstudenten40. Theoretische Physik und Experimentalphysik treten hier einander nicht als komplementäre Weisen der Exploration desselben Gegenstandsbezugs gegenüber, sie repräsentieren vielmehr den Bezug auf verschiedene Publika. Die Theoretische Physik ist im Verhältnis zur Experimentalphysik daher nicht ein Teil der Physik; vielmehr besitzt zunächst nur sie eine Weise des Zugriffs, die das Ganze physikalischen Wissens systematisch rekonstruieren und die Einheit der Physik vergegenwärtigen kann. Dazu dient ein vier- bis später sogar sechssemestriger Lehrkursus meist vierstündiger Vorlesungen, der allein schon in dieser Intensität der Einbindung des Studenten mit Universitätstraditionen bricht, die maximal zweisemestrige Vorlesungen von oft nicht mehr als zwei Stunden kannten. Der Sinn von Friedrich Kohlrauschs Experimentalpraktikum liegt in dieser Sicht darin, daß es einen analogen ganzheitlichen Zugriff auf der Ebene der Experimentalphysik einzurichten versucht und dadurch das Verhältnis dieser beiden methodischen Zugriffe physikintern resymmetrisiert. Die Liste der disziplinbildenden und das Fachstudium einrichtenden Institutionen ließe sich verlängern. Ich will hier nur noch als ein letztes Beispiel das Kolloquium erwähnen, das vermutlich 1843 bei Gustav Magnus in Berlin seinen Ausgang nimmt. Das Kolloquium, wie auch wir es heute kennen, versammelt an einem Tag der Woche alle Physiker der Universität und der Stadt und die fortgeschrittenen Studenten, um eigene Arbeiten und vor allem auch – dem Schwierigkeitsgrad, den die Physik gerade auch für Physiker hat, angemessen – die eben erschienene Fachliteratur vorzustellen und zu diskutieren. Während von uns heute das Kolloquium oft als lästige Notwendigkeit und als intellektuell provinziell erfahren wird, ist in Berichten des 19. Jahrhunderts eher die Emphase spürbar, daß die intellektuelle Wirklichkeit der Physik auch lokal in der Form eines Sozialsystems verfügbar gehalten werden kann. Sozialer und physischer Ort der verschiedenen Interaktionssysteme, die hier vorgestellt worden sind, ist das Institut. Das physikalische Institut nimmt seinen Anfang bei der Apparatesammlung oder dem Kabinett, das seit den ers40 | S. am Beispiel von Marburg Kurylo 1965, 71.

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ten Vorlesungen über Experimentalnaturlehre am Anfang des 18. Jahrhunderts entsteht, und es entwickelt sich durch die Aufnahme immer neuer Funktionszuweisungen41. Dieser Entwicklung schuldet der Begriff ›Institut‹ seine in Deutschland auffällige Multidimensionalität. Er meint sowohl einen Baukörper, der als physisches Behältnis für die verschiedensten Funktionen dient und der zunehmend zur visuellen Metapher für die Bedeutung der Physik wird, wie auch eine formale Organisation, deren Leitung man mit dem Ruf auf einen Lehrstuhl übernimmt. Die Kopplung von Ordinariat und Institut läßt aus dem Institut zusätzlich eine Art Eigentumstitel werden, der impliziert, daß man andere von Nutzungen ausschließen kann. Schließlich ist das Institut ein physikalisches System, das mit seiner sich industrialisierenden und elektrifizierenden städtischen Umwelt zunehmend interagiert, so daß die Physik als Wissenschaft zusätzlich diese Interaktionen baupraktisch kontrollieren muß42, damit die Experimentalforschung möglich ist, der sie sich als Wissenschaft wesentlich verdankt.

VI. P HYSIK UND W ELTBILD Warum ist die Physik ein selbstverständlicher Bestandteil der Universitäten und Technischen Hochschulen des 19. Jahrhunderts? Die vorstehenden Überlegungen haben die dafür wesentlichen Momente offengelegt: die Relevanz der Physik als Fachstudium für die Lehrerausbildung, die Serviceleistungen physikalischer Lehre für eine Reihe anderer Studentengruppen, denen sie eine Art naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung oder im Experimentalpraktikum eine versuchspraktische Minimalschulung bot, schließlich die Kompatibilität der im akademischen Milieu dominanten Werthaltungen mit Selbstauffassung und Wirklichkeit der Physik. Letzteres meint Momente wie formalbildenden Charakter der Wissenschaft, Allgemeinheit ihrer Gesetzesannahmen, die ›Desinteressiertheit‹ ihrer Motive für Wissenserwerb. Nach 1870 schließlich kommt der Physik auch ein Seiteneffekt der industriellen – und in den Technischen Hochschulen akademischen – Etablierung der Elektrotechnik zugute, da Zurechnungen dominieren, die der Physik daran einen Anteil zuschreiben oder sie für künftige industrielle Fortschritte wesentlich halten. Die Universität, so technik- und nützlichkeitsfeindlich sie sich seit dem Neuhumanismus auch gegeben hat, nimmt solche unerwarteten Huldigungen dann doch gern entgegen. Perspektiven, die so modernitätsfeindlich sind, daß man erschrickt, wenn man unerwarteterweise nützlich war und sich daraufhin entschließt, daß man künftig etwas anders machen muß, damit sich dies nicht wiederholt, fin41 | S. Riese 1977, 215-7; Stichweh 1984, 375-388. 42 | Vgl. zu Institutsbauten Forman/Heilbron/Weart 1975, 90-114.

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den vielleicht in der Mentalität und den Entwicklungsbedingungen des englischen Bildungswesens eine gewisse Nahrung, sind mir aber aus Deutschland nicht bekannt. Ein ähnlich gelagerter Effekt wie der der Elektrotechnik wird schließlich durch die völlig unerwartete Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 bewirkt – eine Entdeckung von singulärer und instantaner Popularität, die eine suggestive Verbindung zwischen Physik und einem der anderen Zentralwerte der modernen Gesellschaft herstellte. In den Jahren nach 1900 vollzieht sich dann etwas Neues. Vermehrt finden wir Vorträge und halbpopuläre Aufsätze von Physikern, die sich für die Natur des physikalischen Weltbildes oder für die Bedeutung der Physik für das moderne Weltbild interessieren43 . Mit Weltbildrelevanz ist dabei beides gemeint: Daß die Physik einen Stand der Erkenntnis erreicht hat, der sie in die Lage versetzt, etwas über die Beschaffenheit der letzten Elemente zumindest aller physischen Wirklichkeit zu sagen, wie andererseits auch die weiterreichende These, daß sich aus physikalischen Erkenntnissen wesentliche Folgerungen für Grundmomente unserer Weltauffassung wie etwa die Kausalitätsvorstellung oder unsere Ideen von Raum und Zeit ergeben. Gerade Behauptungen des zweiten Typs werden von Physikern nach der Relativitäts- und Quantentheorie zunehmend selbstbewußt vorgetragen. Selbst wenn man sich skeptisch angesichts pointierter Thesen verhält, wie es etwa Wilhelm Wien 1926 tut, als er gegen die kurz zuvor aufgestellte Behauptung Bohrs, in der Quantentheorie offenbare sich das grundsätzliche Versagen all unserer raumzeitlichen Bildvorstellungen, zu bedenken gibt, man müsse mit Behauptungen, die über die Grenzen des physikalischen Gebiets hinausgehen, vorsichtiger sein, weil man die Erkenntnisgrundlagen der Naturwissenschaften schlechthin in Frage stelle, so klingt dies eher wie ein Einmahnen einer besonderen Verantwortlichkeit, die die spezifische Relevanz der Physik für die Grundlagen von Naturerkenntnis und Weltbild beinahe noch akzentuiert44 . Man könnte versucht sein, und dies ist auch wiederholt geschehen, dieses Nachdenken über Physik und Weltbild als eine spezifische Form deutscher intellektueller Hybris zu verstehen. Ich möch43 | Siehe nur statt vieler v. Laue 1921. 44 | Ganz anders optiert allerdings Schrödinger, der in einem Brief an Wien vom 25.8.1926 (abgedruckt in Wien 1930, 74) Bohrs Vorstel lung a priori ver wirft und die Physik als sich in eine quasi ›natürliche‹ Weltauf fassung einfügend inter pretiert: »Die Physik besteht doch nicht nur aus Atomfor schung, die Wissenschaft nicht nur aus Physik und das Leben nicht nur aus Wissenschaft. Der Zweck der Atomforschung ist unsere diesbezüglichen Erfahrun gen unserem übrigen Denken einzufügen, dieses ganze übrige Denken bewegt sich, soweit es die Außenwelt betrifft, in Raum und Zeit. Gelingt also die Einfügung in Raum und Zeit nicht, so ist der ganze Zweck verfehlt, und man weiß nicht, welchem Zweck damit überhaupt gedient sein sollte […]«. Wiens Position in Wien 1926, 127f.

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te demgegenüber vermuten, daß dieses nach 1900 einsetzende Denken in dem Sinne eine adäquate Selbstauffassung der Physik ist und war, als tatsächlich seit dem Anfang unseres Jahrhunderts und verbunden mit der weitreichenden kulturellen Wirkung von Relativitäts- und Quantentheorie die gesellschaftsweite Legitimation der Physik als Wissenschaft ihren Schwerpunkt gewechselt hat und dieser jetzt zu nicht unerheblichen Teilen bei der Weltbildfunktion der Physik liegt. Im Vergleich dazu treten unmittelbarere Leistungsbeziehungen wie beispielsweise der ›kuriose‹ Experimentalvortrag des 18. Jahrhunderts und die Experimentalvorlesung des 19. Jahrhunderts als dessen inneruniversitäres Äquivalent und schließlich auch die in unserem Jahrhundert relevanten industriell-technischen Auswertungschancen physikalischer Erkenntnisse zurück – zumindest sind sie nicht so allgegenwärtig wie in Disziplinen, denen die Stützung durch eine Weltbildfunktion fehlt. Diese These wird nicht dadurch unplausibel, daß die Realkomplikation der Sinn- und Sachgehalte der weltbildbeeinflussenden physikalischen Theorien kaum jemandem verständlich ist. Das dürfte für frühere weltbildprägende Dogmatiken nicht anders gewesen sein und ist keine Limitation auf den möglichen Einfluß der Physik.

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6. Differenzierung von Wissenschaft und Politik Wissenschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert

I. Die Überlegungen dieses Textes beschränken sich auf eine der beiden Einflußrichtungen, die die Interaktionsfläche von Wissenschaft und Politik bestimmen. Es geht ausschließlich um Wissenschaftspolitik, also nicht um wissenschaftliche Politikberatung, oder, um dies abstrakter zu sagen, nicht um die Beeinflussung politischer Entscheidungslagen durch mutmaßliche wissenschaftliche Wahrheiten, die als mehr oder minder gesichertes Wissen in politische Entscheidungsprozesse eingeführt werden. Eine Form der Politikberatung darf ich allerdings nicht außer acht lassen: jene Politikberatung durch Wissenschaftler, deren Ziel es ist, die Wissenschaftspolitik zu beeinflussen. Diese will entweder die Grenzen des Wissenschaftssystems weiter in das politische System hinein verschieben und will insofern den autonomen Spielraum der Wissenschaft vergrößern, oder sie geht als wissenschaftspolitischer Lobbyismus darauf aus, mittels einer Koalition mit politisch Mächtigen innerwissenschaftliche Positionsgewinne zu erlangen, die die Fachkollegen nicht konzedieren würden. Ein für die folgenden Überlegungen wichtiger Sachverhalt wird bereits in dieser Vorbemerkung deutlich: Wissenschaftspolitik ist zu erheblichen Anteilen eine Politik, die von Wissenschaftlern, die dauerhaft oder temporär in politische Rollen wechseln, als eine politische Steuerung des Wissenschaftssystems betrieben wird. ›Wissenschaftspolitik‹ als Begriff1 und als eigenständiger Politikbereich ist im wesentlichen eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Gerade am Beispiel Deutschlands läßt sich gut zeigen, daß im 19. Jahrhundert Wissenschaftspolitik und Hochschulpolitik noch weitgehend deckungsgleich sind. Die Wissenschaftspolitik des 19. Jahrhunderts schafft sich keine eigenen (Forschungs-) 1 | Vom Brocke 1992, 274, verortet die Entstehung des Begriffs am Anfang des 20. Jahrhunderts und nennt Beispiele bei Adolf von Har nack.

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Organisationen, mittels deren sie politisch gesetzte und als spezifisch wissenschaftlich verstandene Ziele zu verwirklichen versucht. Sie stützt sich vielmehr auf die (reformierten) Universitäten und damit auf eine seit Jahrhunderten etablierte organisatorische Infrastruktur. Für Deutschland-Preußen folgt aus dieser Deckungsgleichheit von Wissenschafts- und Hochschulpolitik weiterhin, daß Wissenschaftspolitik im Kern Berufungspolitik war. Schließlich hat die deutsche Universität sich weit stärker, als dies für andere Universitätssysteme galt, selbst als aus Lehrstühlen als ihren Strukturelementen bestehend bestimmt. Wegen der Autonomie der Lehrstuhlinhaber und wegen der nur unbedeutenden Finanzmittel, die ihnen für Lehre und Forschung zur Verfügung gestellt wurden, hieß dies aber, daß Strukturfragen der Universität und damit auch der Wissenschaft nur aus Anlaß von Berufungsvorgängen thematisch wurden und nur aus diesem Anlaß entschieden wurden. Später, am Ende des 19. Jahrhunderts, als in Fächern wie Physik und Physiologie erstmals größere Institutsbauten entstehen, handelt es sich um Entscheidungen, die als Bauprojekte erhebliche finanzielle Mittel beanspruchen.2 Aber auch dann ist auffällig, daß diese Entscheidungen fast ausnahmslos aus Anlaß von Berufungen getroffen werden, also eine nennenswerte finanzielle Investitition des Staates nur durch Erwartungen motiviert werden kann, die sich mit einer konkreten Person verknüpfen, um deren Berufung es jeweils geht. Eine Wissenschaftspolitik, die eigentlich nur aus Anlaß von Berufungsvorgängen handelt, ist diskontinuierlich. Sie macht sich von Ereignissen abhängig – Tod des Lehrstuhlinhabers, Ausscheiden aus gesundheitlichen Gründen oder wegen eines auswärtigen Rufs –, die sie in Abwesenheit einer regulären Emeritierung nur in engen Grenzen zu berechnen und schon gar nicht zu beeinflussen imstande ist. Wenn man in Anlehnung an Niklas Luhmann davon ausgeht, daß es in Entscheidungsprozessen vier Ebenen der Fixierung von Entscheidungsprämissen gibt, Personen, Rollen, Programme und Werte,3 dann fällt sofort auf, daß diese Wissenschaftspolitik lediglich auf den beiden Ebenen der Personen und Rollen operiert. Damit bleibt sie den beiden Ebenen von geringerer Generalität der Erwartungsbildung verhaftet: Sie ist einerseits mit der Rollenausstattung der Wissenschaft befaßt, denkt neue Fächer und Probleme in der Form von Lehrstühlen, die sie entweder schafft oder aus Anlaß von Berufungsvorgängen neu definiert oder schließlich wieder entfallen läßt. Auffällig ist weiterhin, daß diese Rollenplanung der Wissenschaft stark von Personen und deren konkreten Begabungen her gedacht wird, zumal sie aus Anlaß von Berufungsvorgängen erfolgt. Diese Fixierung der Wissenschaftspolitik auf die Ebene der Personen und Rollen hat natürlich auch etwas mit dem Zusammenfallen von Wissenschafts- und Hochschulpolitik und insofern mit 2 | Siehe Forman/Heilbron/Weart 1975; Stichweh 1984; Cahan 1985. 3 | Luhmann 1987, 85-90.

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dem Verzicht auf organisatorische Innovationen, die nur für wissenschaftliche Forschung bestimmte Organisationen schaffen würden, zu tun. Personen und Rollen sind – im Unterschied zu Programmen und Werten, die zwischen dem Wissenschaftssystem und der Hochschulerziehung differenzieren – die beiden Ebenen, auf denen die Überschneidung von Erziehung und Wissenschaft in der Universität am unproblematischsten zu realisieren ist. Dies gilt zumindest solange, wie die universitäre Rollenausstattung (d.h. die Lehrstuhldefinitionen) sich an die gleichzeitig entstehende disziplinäre Struktur der Wissenschaft anlehnt; die Disziplin also als Einheit der Strukturbildung im System der Hochschulerziehung und zugleich im Wissenschaftssystem fungiert. An diesem Merkmal der Verknüpfung zweier Systeme über Rollen, die in beiden Systemen ähnlich definiert sind und für die Personen ausgewählt werden, denen die Fähigkeit zugeschrieben wird, in beiden Systemen zu kommunizieren, hält – stärker noch als andere Hochschulsysteme – die deutsche Universität bis heute fest.4 Es ist interessant, sich in diesem Licht das sogenannte ›System Althoff‹ (1882-1907) an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert anzusehen.5 Gerade die vielfach als skandalös empfundene Besonderheit des Systems Althoff bestand ja darin, daß Althoff einerseits den operationalen Vorrang von Berufungsakten als die Handlungsform der Wissenschaftspolitik nicht angetastet hat, daß er andererseits über diese Basisstruktur eine Langfristplanung künftiger Berufungsvorgänge zu legen versucht hat, die die Gesamtheit preußischer – und manchmal auch außerpreußischer Universitäten – als eine Infrastruktur benutzte, in der sich Personalbewegungen vollziehen, die Althoff im planenden Vorgriff auf mutmaßliche spätere Personalbewegungen hin zu kalkulieren und zu steuern versuchte. Es ist deutlich, daß wir es in dieser Sicht – die andere Aspekte des Althoffschen Wirkens allerdings ausklammert – mit der letzten Wissenschaftspolitik des 19. Jahrhunderts und nicht mit einer Vorform der Wissenschaftspolitik des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Der gerade von Max Weber so extrem empfundene Skandal der Korruption der Integrität einer Vielzahl von Personen rührt genau daher, daß ein bestimmtes Muster der Fixierung von Entscheidungsprämissen hier in seinen Möglichkeiten überdehnt worden war.

II. Nach dem bisher Gesagten wird es nicht überraschen, daß ich das eigentlich Neue in der Wissenschaftspolitik des 20. Jahrhunderts in genau zwei Umstellungen sehe. Erstens verhält sich die Wissenschaftspolitik des 20. Jahr4 | Siehe näher Stichweh 1992; ders. 1993. 5 | Siehe dazu Vom Brocke 1980; ders. 1991; ders. 1992; Weber 1973.

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hunderts nicht mehr konservativ zu einer vorausgesetzten organisatorischen Infrastruktur, gründet vielmehr in vielen Fällen eigene neue Organisationen für die Verwirklichung der Ziele, auf die sie sich als Wissenschaftspolitik festlegt. Das können Forschungsorganisationen selbst sein, können aber auch Organisationen der Implementation wissenschaftspolitischer Programme sein. Die entscheidende Anschlußfrage für jede Wissenschaftssoziologie ist, worin die Limitationen der Form ›Organisation‹ bestehen. Warum stützt sich eine moderne Wissenschaftspolitik nicht primär auf Organisationen, die ausschließlich für wissenschaftliche Forschung bestimmt sind, oder warum scheitert sie, wenn sie dies zu tun versucht? Ich will diese Frage hier nicht ausführlich diskutieren; aber ein wichtiger Grund scheint darin zu liegen, daß wissenschaftliche Forschung von der organisatorischen Einbettung in einen Kontext der Wissensverwendung profitiert, ja vielleicht sogar von dieser Einbettung abhängig ist. Dies ließe sich an der Vernetzung von Hochschulerziehung und Wissenschaft erläutern.6 Ein anderes instruktives Beispiel ist das der Industrieforschung, die ja ebenfalls in der Form denkbar wäre, daß Unternehmen Forschungsaufträge an spezialisierte Forschungsorganisationen vergeben. Daß auch in diesem Fall ein Modus dominiert, in dem der wissenschaftlich-technische Erkenntnisprozeß in der Regel in dem Unternehmen verankert ist, das seine Resultate dann auch nutzt, scheint mit der unauflöslichen Gemengelage von öffentlichen (i.e. kommunizierbaren) und privaten (i.e. inkommunikablen) Momenten in jedem Wissensprozeß zu tun zu haben.7 Diese Gemengelage hat die Form einer zweiseitigen Abhängigkeit. Anschlußfähiges öffentliches Wissen entsteht in einem Kontext von Praktiken, Erfahrungen und Traditionen, die selbst nur schwer transferierbar sind und insofern nicht mitkommuniziert werden – und umgekehrt hängt die praktische Auswertbarkeit dieses öffentlichen Wissens von seiner – oft aufwendigen – Anpassung an einen solchen lokalen Kontext ab. Die wissenschaftspolitische Folgerung aus Überlegungen dieses Typs ist, daß eine Wissenschaftspolitik, die sich vor allem auf die Gründung eigenständiger Forschungsorganisationen stützt – also beispielsweise Großforschungsinstitute in der BRD oder Akademien der Wissenschaften in den sozialistischen Ländern – irrelevante Wissenschaft zu produzieren droht. Der zweite fundamentale Umbruch im 20. Jahrhundert ist, daß die Wissenschaftspolitik von der Ebene der Personen und der Rollen auf die Ebene der Programme und Werte wechselt. Letzteres heißt natürlich nicht, daß die beiden bis dahin dominanten Steuerungsebenen einfach ausfallen. Nach wie vor schafft man Stiftungslehrstühle, um wissenschaftliche Innovationen anzuregen, oder man setzt eine Person in eine bestimmte Institution in Erwartung der strukturellen Effekte, die die Anwesenheit dieser Person dort auslösen wird. 6 | Stichweh 1984, 83-90; ders. 1988, 68-72. 7 | Dazu sehr interessant Nelson 1989; ders. 1990.

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Ein faszinierendes Beispiel der Fortdauer der wissenschaftspolitischen Grundmuster des 19. Jahrhunderts ist das sogenannte Harnack-Prinzip der MaxPlanck-Gesellschaft: Es handelt sich bei der Max-Planck-Gesellschaft ja um eine Großorganisation der Grundlagenforschung, die sich in Forschungsinstitute als autonome Suborganisationen aufgliedert und die die Gründung und Auflösung dieser autonomen Suborganisationen abhängig macht (oder zumindest gelegentlich behauptet, daß sie dies tut) von der Verfügbarkeit einer in ihren wissenschaftlichen Gaben als außergewöhnlich gesehenen Person. Charismatische persönliche Eignung, die heutzutage allerdings mit Kollegialität kompatibel sein muß, fungiert hier also als Grund der Organisationsbildung. Steuernde Eingriffe dieses Typs, die ihre handlungsleitenden Erwartungen im Blick auf Personen und Rollen bilden, sind im 20. Jahrhundert nicht mehr der Kern der Wissenschaftspolitik. Dieser Kernbereich wird jetzt durch Diskussionen über Programme und Werte besetzt und fast nur an solche Diskussionen denkt man, wenn man heute von ›Wissenschaftspolitik‹ spricht. Aus diesen beiden gerade angedeuteten Umbrüchen – vermehrte Organisationsbildung und Programme als präferierte Steuerungsebene – folgt nun eine dritte weitgehende und sich im 20. Jahrhundert vollziehende Umstellung: Dies ist eine Differenzierung von Wissenschafts- und Hochschulpolitik, die jetzt politisch realisierbar ist, ohne daß die in der Organisation Universität vorliegende Kopplung von Wissenschaftssystem und Hochschulerziehung aufgegeben werden müßte. Diese Kopplung kann gerade deshalb fortbestehen, weil sie durch Personen und Rollen als die Elemente, die beiden Systemen gemeinsam sind, stabilisiert wird.

III. Wie wird Wissenschaft über Programme politisch steuerbar? Da Macht – in der Form einer unmittelbar an einen Forscher ergehenden politischen Anweisung – als Steuerungsmedium entfällt, muß die Politik sich auf die Geldabhängigkeit wissenschaftlicher Forschung als politische Einflußchance stützen. Das aber setzt voraus, daß wissenschaftliche Forschung finanziell alimentiert wird, und dies ist seinerseits eine sehr späte Entwicklung. Wenn man sich beispielsweise die Etats physikalischer Hochschulinstitute in der Weimarer Republik ansieht, so weisen diese keine spezifisch für Forschung bestimmten Mittel auf, so daß man Bewilligungen, die ausschließlich für Forschung gemeint waren, allenfalls indirekt erschließen kann, beispielsweise bei Mittelzuweisungen für Apparate, die ihrer Art nach nicht für Lehrtätigkeit gedacht sein konnten.8 Auch in den Vereinigten Staaten tauchen eigenständige Mittel für die Durchführung von Forschung erst in der Zwischenkriegszeit erstmals auf, wobei private Stiftungen 8 | Siehe Forman 1974, 41-2.

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und die Industrie als Geldgeber fungierten.9 Diese private Herkunft der Mittel läßt zugleich die wissenschaftliche Forschung aus der Beobachtungsperspektive der Universität erstmals als eine Quelle zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten erscheinen, so daß Forschung jetzt Finanzierungschance statt Belastung eines knappen Budgets ist.10 Am amerikanischen wie am deutschen Beispiel aber erhellt, ein wie spätes Phänomen die explizite Förderung wissenschaftlicher Forschung in der Hochschule ist. Zwar sind zum gleichen Zeitpunkt bereits Großorganisationen für wissenschaftliche Forschung vorhanden – ich denke etwa an die Physikalisch-technische Reichsanstalt (1887) und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (1912). Aber die Bereitschaft zur Gründung großer und neuer Organisationen verdankt sich entweder einer Wissensnachfrage, die durch die Wissensbedarfe staatlicher Administration (technische Expertise als Voraussetzung staatlichen Handelns) verursacht ist, oder sie verdankt sich Anwendungshoffnungen in Wirtschaft und Industrie, so daß sich in diesen Organisationen kein prinzipiell neues Muster einer wissenschaftspolitischen Beeinflussung des Wissenschaftssystems abzeichnet; eher geht es um eine Ausgliederung bestimmter zweckorientierter Forschungen, in deren Rahmen Grundlagenforschungen als Overhead-Kosten fungieren. Selbst die Max-Planck-Gesellschaft, Nachfolgerin der KaiserWilhelm-Gesellschaft, ist erst in den fünfziger und sechziger Jahren eine Organisation mit einem Primat im Bereich der Grundlagenforschung geworden.11 Die moderne, über Programme und Werte steuernde Wissenschaftspolitik, entsteht nicht über die Gründung von Großorganisationen der Forschung,12 sondern aus viel bescheideneren Anfängen. Ein entscheidender Ausgangspunkt sind Kapitalsammelstellen für private Mittel. Wegen der Diversität der Geldgeber bieten sie den Vorteil, daß die vielfältigen Schenkungsmotive der Stifter sich nicht problemlos zu einem natürlichen Eigeninteresse der Kapitalsammelstelle als Organisation aggregieren lassen. Daraus folgt eine Offenheit dieses Organisationstypus für externe Bestimmungen durch innovative wissenschaftspolitische Impulse. Sowohl die städtischen deutschen Hochschulgründungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wie letztlich auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft selbst verdanken sich solchen in einem Fonds akkumulierten Schenkungen,13 wobei für die Stiftungsuniversität Frankfurt größere Mittel zusammengekommen waren als

9 | Geiger 1990, 17. 10 | Geiger ebd. 19. 11 | Siehe dazu Hohn/Schimank 1990. 12 | Vgl. zur Frage der organisatorischen ›Selbständigkeit‹ des Wissen schafts systems Braun/Schimank 1992. 13 | Vgl. Vom Bruch 1992; Rasch 1989.

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für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.14 Für den uns interessierenden Strukturwandel ist ein plausibler Ausgangspunkt die »Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie« von 1899, eine Summe von nicht mehr als 1,5 Millionen Mark, die aus Anlaß des hundertjährigen Jubiläums der Berliner Bauakademie (der späteren ›Technischen Hochschule‹) vom VDI bei der Industrie eingesammelt wurde.15 Dieses Geld stand für Forschungsvorhaben an den Technischen Hochschulen zur Verfügung. Über eingehende Anträge entschieden Ausschüsse von Fachgutachtern. Diese Technik der Stückelung der Mittel und der begutachtungsabhängigen Zuweisung an einzelne Antragsteller wurde in deutschen Industriestiftungen in den Jahren danach zur Regel, und dieses Muster wurde in der »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft« (der Vorläuferorganisation der DFG) erstmals verstaatlicht – und zwar unabsichtlich verstaatlicht. Die »Notgemeinschaft« war ja als eine Kapitalsammelstelle für private Stifter gemeint, die die fehlende Unterstützung kompensieren wollte, die der Staat in der Krise nach 1918 der Wissenschaft nicht geben konnte.16 Erst als private Mittel ausblieben, sprang das Reich ein, auch wegen des Interesses an der Ausweitung der kulturpolitischen Kompetenzen gegenüber den Ländern – und zugleich handelte sich das Reich die bereits etablierte Struktur der »Notgemeinschaft« ein: Die Verteilung der Mittel über Ausschüsse von Fachgutachtern, obwohl es sich um staatliche Gelder handelte. Daß das Reich dies akzeptierte, hat auch mit verfassungsrechtlichen Problemen zu tun, da das Reich keine kulturpolitische Zuständigkeit besaß, also allenfalls noch der Notgemeinschaft Geld geben durfte, aber sich aus dessen Verteilung besser heraushielt. Damit aber war im Ansatz ein prinzipiell neues Muster der Interaktion von Wissenschaft und Politik ausgebildet: Eine Stückelung der Gelder in kleine Beträge; Ausschüsse von Fachgutachtern, die eine Selbstverwaltungsebene der Wissenschaft ausgrenzen, und schließlich eine darüberliegende Programmstruktur, die Prioritäten unter Klassen von Problemstellungen formuliert und die die eigentlich wissenschaftspolitische Ebene definiert. Das Entsetzen der Politik über diese Entwicklung hat der preußische Jurist und Kultusminister Carl Heinrich Becker 1929 – als es bereits zu spät war – treffend formuliert: »An Stelle einer sachver ständigen neutralen Ver waltung traten die Organisa tionen der Inter essenten selber […] zur Unterver teilung der zur Verfügung gestellten Mittel. […] Bei der Herkunft der Mittel aus dem Reichsetat […] ist es auf die Dauer nicht erträglich,

14 | Vgl. Vom Brocke 1990, 109ff. 15 | Richter 1979, 34; Herrmann 1990, 362. 16 | Ein ähnlicher Versuch, einen ›National Research Fund‹ zu etablie ren, schei tert in den USA in den zwanziger Jahren – siehe Geiger 1990, 19.

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W ISSENSCHAFT , U NIVERSITÄT , P ROFESSIONEN diese die For schung in Deutschland entscheidend bestimmenden Fonds, einer doch im Grunde privaten Stelle zur Verfügung zu stellen.«17

Das Entsetzen des Politikers und Verwaltungsmanns, das 1929 noch in der Hoffnung auf Abhilfe formuliert wurde, ist aus heutiger Sicht offensichtlich deplaciert. Die Umstellung der Wissenschaftspolitik auf Programme der Forschungsförderung, die als Programme Rahmen festschreiben, aber in keiner Weise Einzelentscheidungen präjudizieren, hat das Wissenschaftssystem im Resultat fundamental umstrukturiert. Um dies verständlich zu machen, möchte ich zwei historische Umbrüche in der modernen Wissenschaft betonen, die beide auf Elementarisierung wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion (im Sinne einer Zerlegung der Erkenntnisproduktion in Elementarakte) hinführen. Der erste dieser beiden Umbrüche, für den eine unmittelbare externe Auslösung nicht erkennbar ist, vollzieht sich in den Jahrzehnten um 1800, und er führt hin auf die Etablierung des Zeitschriftenaufsatzes (oder anderer wissenschaftlicher Publikationsformen) als die Normalform einer jeden in der Systemreferenz des Wissenschaftssystems erfolgenden wissenschaftlichen Kommunikation. Diese Umstellung hat weitgehende Implikationen hinsichtlich Standardisierung der Argumentation, Punktualisierung der anzutretenden Beweislast, Indikation des kognitiven Netzwerks mittels Zitationen etc.18 Bemerkenswert ist nun, daß die Durchsetzung einer über Programme gesteuerten finanziellen Förderung der Forschung durch die Politik einen zweiten und analogen Umbruch in der Wissenschaft induziert hat: eine Elementarisierung der Arbeitsform der wissenschaftlichen Forschung in der Form wissenschaftlicher Projekte. Projekte implizieren eine geldanaloge ›Stückelung‹ des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Sie müssen sich eine präzise Problemstellung vorgeben, sie sind zeitlich befristet, sind insofern abschließbar, und sie können bei Abschluß des Projekts in ihrem Erfolg evaluiert werden.19 Ähnlich wie am Beginn moderner Wissenschaft um die Wende zum 19. Jahrhundert Fragestellungen ausgegrenzt wurden, die einem theoretischen und/oder methodischen Zugriff nicht zugänglich waren, werden als Folge der Elementarisierung der Forschung Fragestellungen problematisch, die nicht in Projekte zerlegt werden können. Projekte aber sind die Form, in der wissenschaftspolitische Programme (die ja nichts anderes sind als die Möglichkeit einer jeweils unbegrenzten Zahl von Projekten) und die Arbeitsform der Wissenschaft miteinander koordinierbar sind – also die Wissenschaft sich für eine neue Steuerungsform öffnet. Wie weitgehend der Einfluß dieser neuen Steuerungsform sein kann, mag man sich etwa daran vergegenwärtigen, daß beispielsweise amerikanische Universitäten die tenure-Entscheidung für junge 17 | Becker 1929, 457. 18 | Siehe Stichweh 1987; ders. 1984, Kap. VI. 19 | Siehe eine frühe Diskussion der neuen Form ›Projekt‹ bei Dodds 1954.

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Wissenschaftler faktisch (natürlich nicht den geschriebenen Regeln nach) mit deren Fähigkeit verknüpfen, externe Mittel einzuwerben, daß sie also eigentlich die tenure-Entscheidung an eine externe Instanz delegieren.20 Ein noch extremeres Beispiel zitiert Edward Hackett: Ein biomedizinisches Department, das seinen ›postdocs‹ explizit verbietet, bei Professoren zu arbeiten, die keine ›research grants‹ haben, und das eine Ausdehnung dieser Politik auf ›graduate students‹ erwägt.21 Das Motiv ist hier offensichtlich die Vorstellung, daß verantwortungsbewußt nur derjenige ausbilden kann, der Projektmittel einzuwerben versteht. In einer generelleren Perspektive gesehen ist der für die Wissenschaft als Folge einer solchen Umstellung auf die Projektstruktur anfallende Legitimationsgewinn enorm, weil die Wissenschaft sich gleichsam im Einzelakt, von Projekt zu Projekt, einer Evaluation unterzieht, die nicht nur wissenschaftliche Standards prüft, sondern in jedem einzelnen Fall auch den Kontakt zu Forschungsprogrammen affirmiert, die letztlich extern stimuliert sind. Natürlich erfolgt diese Öffnung des Wissenschaftssystems nicht an einer beliebigen Stelle, und sie ist insofern mit Autonomie nicht inkompatibel. Auf der Ebene der Programme – im Unterschied zur darüberliegenden Codestruktur, die wahr/unwahr als Form wissenschaftlicher Kommunikation normiert22 – war Wissenschaft immer schon extern anregbar. Während die Wissenschaft das Spektrum der als wissenschaftliche Problemstellungen denkbaren Fragen in der Moderne zunehmend streng limitiert, ist die Wahl zwischen alternativen Problemstellungen, sofern für diese jeweils die Bedingung erfüllt ist, daß sie wissenschaftlich mögliche Problemstellungen sind, nur in engen Grenzen eine wissenschaftliche Frage. Alternative Problemstellungen sind im Verhältnis zueinander vielfach inkommensurabel.23 Also ist die Steuerung der Problemwahl durch wissenschaftspolitische Forschungsprogramme nur die Systematisierung einer externen Abhängigkeit, die als Beeinflussung durch vielfältige wissenschaftsexterne Motive und Interessenlagen immer schon vorlag und die immer eine unhintergehbare strukturelle Kopplung der Wissenschaft mit anderen funktionalen (oder: ständischen, personalen) Relevanzen verkörpert hat. Mit diesen Überlegungen zur Institutionalisierung des ›research grant‹ und der Projektförmigkeit der Forschung als komplementärer Aspekte einer strukturellen Kopplung von Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert ist nur eine, allerdings zentrale, Facette der neuen wissenschaftspolitischen Situa20 | So US-Congress, OTA, 1991, 31-2, 219-20. 21 | Hackett 1990, 157. 22 | Zu dieser Unterscheidung ausführlich Luhmann 1990. 23 | Es ist bemerkenswert, daß die neuere Diskussion über ›Kriterien wissenschaftlicher Wahl‹ mit einem Aufsatz beginnt (Weinberg 1963), der das Moment der Inkommensurabilität (ebd. 159) explizit betont. Das ist ver mutlich ohne Kenntnis von Thomas Kuhns im Jahr davor erschienenen Buch geschrieben.

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tion beschrieben. Bereits auf den bisher skizzierten Grundlagen zeichnet sich eine komplexe Konstellation ab: 1. Im politischen System rezipierte gesellschaftliche Wertungen – also beispielsweise eine gesellschaftliche Zentralität des Wertes ›Gesundheit‹ –, die die Präferenzen für bestimmte wissenschaftspolitische Programme steuern. 2. Die Ebene wissenschaftspolitischer Programme selbst (z.B. ein Programm für Krebsforschung) – als ein in der Entstehung und Ausformulierung dieser Programme seinerseits durch Wissenschaft beratenes Geschehen. 3. Selbststeuerungsmechanismen der Wissenschaft (z.B. Fachgutachtergremien), die die Interpretation der Programme, als Zuweisung von ›grants‹ zu Projekten, verwalten. 4. Die Projektstruktur der Forschung selbst, mit den sich herausbildenden Eigentümlichkeiten eines opportunistischen Umgangs mit Förderungsmöglichkeiten. Wir haben es hier zugleich mit einer Hierarchie von Entscheidungsebenen zu tun, die eine Risikominderung durch Risikoverteilung auf die verschiedenen Ebenen leistet. Selbst wenn sich ein »War on Cancer«, wie ihn schon die Regierung Nixon erklärt hat, als nicht gewinnbar erweisen sollte, heißt dies nicht, daß nicht in der Interpretation der Programme Spezifikationen gelingen können, die sowohl im System der Krankenbehandlung wie in der Grundlagenforschung Erfolge zeitigen. Nur in einem einzigen Fall wird diese Hierarchie von Entscheidungsebenen ausgeschaltet. Dies gilt für die sogenannten Megaprojekte, die, wie schon ihr Name verrät, in einer Art Kurzschluß die Ebenendifferenz vom Einzelprojekt zur gesellschaftlichen Wertsetzung übergreifen. Das Megaprojekt geriert sich – auch wenn es in der Durchführung in viele Schritte zerlegt werden muß – als ein einziges großes Projekt, über das nur als Ganzes entschieden werden kann24 und das zudem vielfach unmittelbar einen gesellschaftlichen Wert verkörpert – also beispielsweise: die Landung des Menschen auf dem Mond die Neugier des Menschen oder das ›Human Genome Project‹ das Geheimnis des Lebens oder gar den Gral.25 Die Möglichkeit von Megaprojekten ruht auf einer ihrerseits bemerkenswerten strukturellen Kopplung von Wissenschaft und Politik. Wissenschaftlich gesehen inszeniert das Megaprojekt eine Art ›Putschversuch‹ einer Fachgemeinschaft gegen viele andere Fachgemeinschaften, der über eine Semantik des Wachstums (die Vorstellung ›zusätzlich mobilisierbaren Geldes‹) verschleiert wird. Politisch bindet das Megaprojekt vielfältige Interessen an sich, weil es zumindest in der Konkurrenz der Regionen (manchmal auch in

24 | Diese Unterstellung ist vor allem dann der Sache nach überzeugend, wenn die eigentlich große Investition – z.B. bei einem Teilchenbe schleuniger – vor dem ersten Forschungsakt liegt. 25 | Zur Semantik des Grals wie überhaupt zur Wissenssoziologie des ›Human Genome Project‹ bemerkenswert Lewontin 1992.

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der der Nationen) einen Vorteil verspricht; es anders, als dies sonst meist in der Wissenschaft der Fall ist, um »reales Geld« geht.26

IV. Abschließend sei hier nur noch ein für die Form der Differenzierung von Wissenschaft und Politik wichtiger Aspekt hervorgehoben. Dieser betrifft die Frage der Zentralisierung vs. Dezentralisierung der politischen Entscheidungsstruktur. Dies läßt sich am besten am Beispiel der Vereinigten Staaten beobachten, die seit den dreißiger Jahren zur weitaus größten und auch in qualitativen Hinsichten bedeutendsten wissenschaftlichen Nation der Welt geworden sind – und als Folge davon auch wissenschaftspolitische Innovationen und Dilemmata in einer Deutlichkeit hervortreten lassen, die anderswo keine Parallelen kennt. Eine ernsthaft so zu nennende Wissenschaftspolitik des Kongresses und der Zentralregierung gibt es in den USA seit der Erfahrung des zweiten Weltkrieges. Die amerikanische Kriegsanstrengung brachte auch eine unerhörte Ausweitung von Forschung und Entwicklung mit sich.27 Als Koordinationsorgan aller wissenschaftlichen amerikanischen Unternehmungen im zweiten Weltkrieg fungierte das ›Office of Scientific Research and Development‹ (OSRD) unter der Leitung von Vannevar Bush. Vannevar Bush war es auch, der 1945 mit seinem Memorandum »Science – The Endless Frontier« den Ausgangspunkt der Wissenschaftspolitik der Nachkriegszeit markierte.28 Der wichtigste der dort entworfenen Vorschläge war der der Errichtung einer ›National Science Foundation‹. Diese war analog zum OSRD als ein zentrales Koordinierungsorgan gedacht, das ähnlich wie sein Vorgänger eine Form ziviler Kontrolle der in hohem Grad militärisch ausgelegten amerikanischen Forschung leisten sollte und zugleich im bundesstaatlichen Regierungssystem der Vereinigten Staaten quasi als ›Science Department‹, also als zentralisiertes Wissenschaftsministerium, das für die Förderung des ganzen Spektrums wissenschaftlicher Fächer zustän-

26 | Siehe dazu U.S. Congress, OTA, 1991, 167. 27 | Siehe Forman 1987, 152: »In F Y ’38 (fiscal year, R.S.) the total U.S. Budget for military research and development was $23 million and represented only 30 Prozent of all Federal R&D; in fiscal 1945 the OSRD alone spent more than $100 million, the Army and Navy together more than $700 million, and the Manhattan Project more than $800 million – an increase in current dollars over seven years by a factor of more than seventy, or more than fifty in constant dol lars.« Der Anteil der militäri schen Forschung an den Gesamtaus gaben des Bundesstaates für Forschung und Entwicklung habe in den Nachkriegsjahren 90 Prozent betragen. 28 | Siehe zu Bush, Reingold 1987, Kevles 1990, Goldberg 1992.

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dig ist, wirken sollte.29 Bezeichnend ist, daß die Gründung der ›National Science Foundation‹ erst sechs Jahre später zustandekam und daß es sich in der Folge um eine Organisation mit deutlich verringertem und verändertem Anspruch handelte. Offensichtlich traf eine zentrale Förder- und Steuerungsinstitution die Interessenlage keiner der beteiligten Parteien. Für die verschiedenen fördernden Agenturen gab es kein plausibles Motiv, Geldmittel an die NSF abzutreten. Und die auf Fördermittel angewiesenen Wissenschaftler andererseits mußten fürchten, daß es einer zentralen Agentur nie gelingen würde, ein finanzielles Fördervolumen zu mobilisieren, das mit den kumulierten Mitteln einer größeren Zahl finanzierender Institutionen (die zudem das Militär im Rücken hatten) vergleichbar war.30 Die 1951 schließlich gegründete NSF hat dann ganz im Widerspruch zu den ursprünglichen Absichten in Richtung auf weitere Diversifikation der Forschungsfinanzierung gewirkt. Sie ist eine relativ kleine Organisation geworden, die bei bundesstaatlichen Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung von 68 Milliarden $ (Ausgaben für Grundlagen- und angewandte Forschung ca. 22 Milliarden $; Zahlen jeweils für 1990) über ein Budget von 2 Milliarden $ verfügt und ausschließlich mit einem – zudem durch die Zuständigkeiten anderer Organisationen limitierten – Spektrum von Grundlagenforschung befaßt ist. Daneben ist eine Vielzahl autonomer Organisationen und Departments mit oft weit höheren Budgets (für Grundlagen- und angewandte Forschung) getreten, die alle im Rahmen des Bundesstaats, also nicht als Organisationen der Einzelstaaten, Wissenschaftsförderung betreiben.31 Zu nennen sind insbesondere: NIH (National Institutes of Health), DOD (Department of Defense), NASA (National Aeronautics and Space Administration), DOE (Department of Energy), USDA (United States Department of Agriculture).32 Schließlich ist eine Mehrzahl von Koordinierungs- und Beratungseinrichtungen entstanden – also beispielsweise das OMB (Office of Management and Budget), OSTP (Office of Science and Technology Policy) und OTA (Office of Technology Assessment). Auch diese bewirken keine Zentralisierung des Entscheidungsprozesses; sie haben in gewisser Hinsicht eher den Effekt, daß 29 | U.S. Congress, OTA, 1991, 62, Fn. 30. 30 | Vgl. dazu Kevles 1990, 259, der notiert, daß bis zum Koreakrieg allgemein noch ein baldiger Transfer der Mittel für Grundlagenfor schung zur NSF erwartet wurde. Das im Koreakrieg erneut erreichte Förderungsniveau ließ dies dann unplausibel erscheinen (s. ebd. die Bemerkung von DuBridge). 31 | Eine Wissenschaftsförderung der Einzelstaaten, die erst in letzter Zeit an Bedeutung gewinnt, kommt hinzu. 32 | Teich 1990, 68-9, nennt eine Zahl von mehr als 30 bundesstaatli chen ›agencies‹ und ›departments‹, die eigene Programme für die Förderung von Forschung und Entwicklung besitzen. Von der Ge samtsumme entfällt aber mehr als 90 Prozent auf die sechs gerade ge nannten Agenturen.

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sie die Diversität wissenschaftspolitischer Expertise, aus der Interessenten eine jeweils passende Option auswählen können, vergrößern. Also verringern sie die Entscheidungsspielräume der einzelnen Organisationen nicht. Ein ›Science Budget‹ der Vereinigten Staaten, das in Veröffentlichungen gelegentlich genannt wird, ist unter diesen Umständen immer nur eine rechnerische Größe, eine post-hoc-Zusammenstellung einer Vielzahl von Entscheidungen, für die es Koordinationsmechanismen gibt, die aber als Entscheidungen jeweils autonom getroffen werden. Im übrigen wird die im administrativen Bereich beobachtbare interne Differenzierung der Wissenschaftsförderung durch eine ihrerseits extreme Differenzierung in den mit Wissenschaft befaßten Entscheidungsprozessen des Kongresses ergänzt.33 Welche Folgerung ist aus dem skizzierten Muster für die Interaktion von Wissenschaft und Politik zu ziehen? Beide Seiten der beschriebenen Relation sind offensichtlich weniger durch eine klare und innerhalb des jeweiligen Funktionssystems vereinheitlichte Präferenzstruktur zu charakterisieren, als vielmehr durch das Faktum weit vorangetriebener Differenzierung: Einerseits ein Hochschul- und Wissenschaftssystem, das allein 3400 Hochschulorganisationen34 und daneben eine verwirrende Vielfalt von Forschungseinrichtungen aufweist – auf der anderen Seite ein bundesstaatlicher Programmierungs- und Wertsetzungskomplex, für den in einem ähnlichen Grad gilt, daß systeminterne, wechselseitige Independenzen von entscheidender Bedeutung sind. Außer diesem Moment der in beiden Systemen vorliegenden Independenz – keine Organisation in einem der beiden Systeme kann mehr als ein begrenztes Gebiet kontrollieren – ist zugleich auch das Moment der Redundanz zu betonen. Für jede Art von Fragestellung und jede denkbare Auswertungsrichtung gibt es immer eine Mehrzahl institutioneller Adressen, die sich engagieren. Das kann als unnütze Verdopplung kritisiert werden, mag in einer evolutionären Perspektive aber auch die oft erörterterten Vorteile der Redundanz bieten. Jede wissenschaftliche Innovation kann in ihren szientifischen Anschlußmöglichkeiten und zugleich in den Möglichkeiten ihrer praktischen Auswertung aus einer Mehrzahl voneinander nur geringfügig verschiedener Perspektiven exploriert werden. Möglicherweise gewährleistet dies eine vollständigere Ausschöpfung eines Suchraums, der dann sowohl in seinen wissenschaftlichen wie in seinen technischen Chancen intensiver vermessen wird.

33 | U.S. Congress, OTA, 1991, 82, weist darauf hin, daß fast die Hälfte der 303 Ausschüsse und Unterausschüsse des Kongresses mit einem Aspekt der Forschungsförderung befaßt ist. 34 | Die natürlich nicht alle in der Forschung involviert sind. Beispielsweise haben im Jahr 1990 1714 Hochschulen von den NIH Forschungs mittel erhalten (U.S. Congress, OTA, 1991, 189, Fn. 2).

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7. System/Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive

I. Die Überlegungen, die ich im folgenden vorstellen werde, verdanken sich einem Forschungsprojekt, das mit soziologischen Denkmitteln die politische Geschichte der frühmodernen europäischen Universität zu rekonstruieren versucht. Nicht das Projekt selbst werde ich hier darstellen1, vielmehr eine allgemeinere Annahme, die die analytische Option des Projekts – die Konzentration auf die Interaktion von Hochschulerziehung und Staatsbildung als den für die Universität des 16.-18. Jahrhunderts zentralen Zusammenhang – mit Hilfe eines thoretischen Modells für die Periodisierung der europäischen Universitätsgeschichte zu plausibilisieren versucht. Natürlich kann und sollte sich die Periodisierung der Universitätsgeschichte an die der ›allgemeinen Geschichte‹ anlehnen: die Unterscheidung von Spätmittelalter, Frühmoderne und Moderne beispielsweise ist eine Periodisierungskonvention2 , die sich auch bei Forschungen über Universitätsgeschichte als fruchtbar erweist3 und also durch diese Forschungserfahrungen ihrerseits ge1 | Als zwei Texte, die Aspekte des Projekts skizzieren, siehe Stichweh 1987 und Stichweh 1987a. Eine ausführliche Darstellung in Buchform ist erschienen als Stichweh 1991. Der vorliegende Aufsatz skizziert einen differenzierungsgeschichtlichen Rahmen für das Argument von Stichweh 1991; vgl. Stichweh 1993a. 2 | ›Frühmoderne‹ als Epochenbegriff für die europäische Geschichte des 16.-18. Jahrhunderts ist im deutschen und französischen Sprachraum nicht definitiv durch gesetzt. Siehe den Ta gungsband Schnur 1986, wo in den Diskussionen wiederholt die Frage gestellt wird, ob dieser Begriff zwin gend sei. 3 | Siehe bemerkenswert Verger 1986, wo diese Periodisie rung (als Dreitei lung des Bandes) der Sache nach benutzt wird, aber das Wort ›mo dern‹ bereits für den Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahr hundert ›ver braucht‹ wird, so daß für das 19. und 20. Jahr hundert kein Epochenbe griff mehr zur Ver fügung steht und die entspre chenden Abschnitte mit ›napoleo nische Fakul tä ten‹ und ›Massenuniversität‹ überschrieben werden.

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stützt wird. Darüber hinaus sollte aber aus der Sicht der Soziologie ein theoretisch weiterreichender Vorschlag möglich sein, der die Fruchtbarkeit einer historiographischen Periodisierungskonvention gleichzeitig erklären würde. Dieser hier vorzustellende Vorschlag stützt sich auf die Einsicht, daß der eigentliche Kernprozeß in der Entstehung der modernen Gesellschaft die Durchsetzung funktionaler Differenzierung – d.h. die Ausbildung autonomer Funktionssysteme für Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc. – und damit das relative Zurücktreten der hierarchischen oder stratifikatorischen Ordnungsmuster des vormodernen Europa ist4 . Die europäische Universitätsgeschichte ist in diesen Kontext zu stellen, und das heißt, daß Universitätsentwicklung als Teilprozeß der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für Erziehung analysiert werden sollte und dies vor dem Hintergrund der Entwicklung der anderen großen Funktionssysteme. Welche dieser anderen entstehenden Funktionssysteme sind für die Universität als Bezugskontext relevant? Religion/ Kirche, Politik/Recht und die Wissenschaft drängen sich hier unmittelbar auf, und die Vermutung liegt nahe, daß die Reihenfolge der Nennung zugleich eine historische Sequenz sich einander ablösender relativer Relevanzen angibt. Für die weitere Diskussion in diesem Text und für die anschließende Forschung möchte ich dieser Vermutung explizit die Form einer Hypothese geben, die im übrigen eine empirische Generalisierung ist: Die Ausdifferenzierung von Universitätserziehung als Teilprozeß der Entstehung eines Funktionssystems für Erziehung ist in einer ihrer wesentlichen Hinsichten5 beschreibbar als eine Sequenz von System/Umwelt-Beziehungen der Universität6 . Diese Sequenz ist von der Art, daß sich Perioden der europäischen Universitätsgeschichte dadurch unterscheiden, daß jeweils ein anderer der funktionalen Komplexe in der Umwelt der Universität einen relativen Primat in den System/Umwelt-Beziehungen der Universität beanspruchen oder durchsetzen kann: Religion/Kirche in Hoch- und Spätmittelalter; Politik/Recht in der Frühmoderne; Wissenschaft in der modernen Gesellschaft. Eine Periode der Universitätsgeschichte ist dann jeweils eine Phase verdichteter Interaktion zwischen dem Universitätssystem und einem Bezugskontext in der Umwelt, eine Phase, die durch fortschrei4 | Siehe Luhmann 1977; ders. 1980/1. 5 | Andere wichtige Gesichtspunkte sind: funktionale Spezifikation in Rich tung auf Erziehung (Lehr-/Lernpro zesse); entstehende Innen differenzierung im Sinne deut lich markierter Schwellen zwischen Sekundarschulwesen und tertiären Einrichtungen; die interne Neutralisierung ständischer Unterschei dungen; Inklusion in Terti ärerzie hung (die sogenannte Massenuniversität) – vgl. Stichweh 1987, Abschn. II. 6 | Es gibt Beziehungen der Hochschulerziehung zu ihrer Umwelt (wobei diese dann als relativ zum Universitätssystem weniger organisiert aufgefaßt wird) und Beziehun gen zu Systemen in ihrer Umwelt. Der Schwerpunkt liegt hier auf Beziehun gen des zweiten Typs. Zu dieser Unterscheidung siehe Luh mann 1984, Kap. 5.

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tende Differenzierung der beiden beteiligten Systeme und weiterhin dadurch abgeschlossen wird, daß jeweils ein anderes System in der Umwelt den relativen Primat in den System/Umwelt-Beziehungen der Universität übernimmt. Diese Entwicklung hat natürlich eine kumulative Komponente, weil jede der Perioden sowohl strukturelle Sedimente in der Universitätserziehung hinterläßt (siehe den weiter unten diskutierten Universalismus der Universität Paris, der schwer revozierbare Sinnmomente enthielt), wie es auch fortdauernde Beziehungen oder die Möglichkeit der Wiederanknüpfung von Kontakten zu einem zunächst an Bedeutung verlierenden System in der Umwelt der Universität gibt. Man kann also vermuten, daß sich die Autonomie der europäischen Universität dem Durchlaufen einer Sequenz von Abhängigkeiten – im Sinne enger interaktiver Kopplung an jeweils ein Fremdsystem – verdankt.

II. Diese abstrakt skizzierte Hypothese bedarf in mehreren Hinsichten der Erläuterung. Zunächst einmal ist der Begriff der System/Umwelt-Beziehung inhärent problematisch. Dies hinsichtlich zweier eng miteinander verbundener Gesichtspunkte. Einmal ist das Operieren mit funktionalen Distinktionen (Politik/Wirtschaft/Religion) der Möglichkeit nach anachronistisch, weil es Unterscheidungen, die uns selbstverständlich geworden sind, in analytischer Absicht in Zeiträume rückprojiziert, für die diese Differenzen noch nicht so fraglos Bestandteile eines jeden orientierten Verhaltens waren. Dieses Problem wird zweitens dadurch verschärft, daß gerade für die Bereiche verdichteter Interaktion, die uns besonders interessieren, gilt, daß die Intensivierung des Kontakts zweier Systeme dazu führt, daß System/Umwelt-Beziehungen und systeminterne Beziehungen nur schwer voneinander zu unterscheiden sind. Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Bei Studien über Politik und Universität in der Frühmoderne fällt schnell die besondere Prominenz des Begriffs der Beratung (conseil, council, Konsultation) auf. Beratung ist die Form, in der Gelehrsamkeit und Wissenschaft in die Urteilsbildung des Monarchen einfliessen, ein Sachverhalt, den François Loryot für so bemerkenswert hielt, daß er in der beratenen Politik die Verwirklichung des Platonischen Ideals der Regierung durch Philosophen sah7. Eine solche Auffassung mag zur Folge haben, daß Beratung als der eigentliche Zielpunkt aller Gelehrsamkeit und allen Studiums beschrie-

7 | So etwa Loryot 1614, 571: »[…] leur Republique fust l’heureux, que cher che tant Platon, en laquelle les Rois philosophent par eux memes, ou par leurs Côseillers d’Estat, ou les Philosophes regnent par eux, ou par leur Roy, auquel ils donnent conseil.«

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ben wird8 . Dem heutigen Interpreten legen frühneuzeitliche Auffassungen dieses Typs nahe, Beratung als die System/Umwelt-Beziehung von Universität und Politik, als die wichtigste Leistung9 , die das universitäre Geschehen für den politischen Prozeß erarbeitet, zu deuten. Diese These wird dadurch konterkariert, daß Beratung zugleich eine eminent politische Kategorie ist. Die politische Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts geht in der Lehre der Regierungsformen meist selbstverständlich von der Monarchie aus und diskutiert die beiden anderen Möglichkeiten (Demokratie, Aristokratie) nur als Residualkategorien mit vorwiegend negativer Wertung. Aufgabe des Monarchen ist es, Entscheidungen zu fällen, was er am besten einsam – d.h. im Entscheidungsmoment selbst unbeeinflußt – tut, und in Hinsicht auf diese zentrale Aufgabe wäre eine eigene wissenschaftliche oder sonstige sachliche Kompetenz des Monarchen eine Fehlspezialisierung10. Die politisch wichtigste Frage ist dann, wie man die Entscheidungen des Monarchen beeinflussen kann, welche Form des Einflusses legitimerweise als Komplementärkategorie zum Begriff der Entscheidung fungiert. Opposition scheidet aus, weil sie Hochverrat wäre11; Gewaltenteilung – beispielsweise die Trennung von jurisdiktionellem Handeln und Machtausübung – würde die Dignität jedes Amtes, um so mehr die des Monarchen gefährden12 . Entsprechendes gilt für in der Moderne vertraute Sachverhalte wie ›countervailing powers‹, Interessenartikulation, Mitbestimmung etc., so daß nur die Beratung als legitime Form nicht-konfrontativen Einflusses bleibt, die sich im übrigen von der ihr assoziierten Kategorie der Information (intelligence etc.) dadurch unterscheidet, daß sie einen Zeitindex trägt, die Vorbereitung auf künftige Situationen und damit auch die Fähigkeit meint, auf als zukünftige antizipierte Situationen, falls sie gegenwärtig überraschend eintreten sollten, schnell reagieren zu können13 . Beratung ist hier offensichtlich eine systeminterne Kategorie der Politik, ja sogar einer der beiden Zentralbegriffe eines jeden politischen Prozesses. Die Beispiele für die erwähnte theoretische Schwierigkeit ließen sich leicht vermehren. Jedes Theoretisieren über die ›Einheit von Lehre und Forschung‹ – und dies gerade anfangs im Neuhumanismus, wo diese Einheit selbst für 8 | Beispielsweise von Elyot 1531, II, 433: »The ende of all doctrine and studie is good counsayle, wherunto as unto the principall poynt, which Geometrici ans do call the Centre, all doctrines (whi che by some autours be imagined in the fourme of a cerkle) do sende their effectes […]«. 9 | Zu diesem Begriff von Leistung im Unterschied zum Funk tions begriff siehe Luhmann 1977a. 10 | Vgl. Frachetta 1681, 24-28. 11 | Siehe instruktiv Minogue 1986. 12 | Vgl. Béthune 1633, 129. 13 | Vgl. Elyot 1531, II, 427; Seyssel 1515, 142, 133.

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Elementarakte postuliert wird – in der modernen wissenschaftlichen Universität belegt gleichermaßen, wie System/Umwelt-Beziehungen und systeminterne Beziehungen ununterscheidbar werden können. Gleichzeitig dürfte deutlich geworden sein, daß dies nicht ein Problem der Theorie ist, es sich vielmehr um ein Realproblem handelt, das die Theorie lediglich zu formulieren erlaubt. Die forschungspraktische Lösung des eingangs gestellten Problems kann also nur darin bestehen, die semantische und handlungspraktische Evolution von System/ Umwelt-Unterscheidungen – und die anderer instruktiver Differenzen – zum Gegenstand der Forschungsanstrengung selbst zu machen, so daß der ›bias‹, der in der anfänglichen Rückprojektion gegenwärtiger Distinktionen läge, mit einer eingebauten Fähigkeit zur Selbstkorrektur ausgestattet würde.

III. Es gibt ein weiteres Problem, das unmittelbar im verwendeten Begriff der System/Umwelt-Beziehungen liegt. Was für eine Art von Beziehungen (Interaktionen etc.) muß man sich eigentlich ansehen, um die Frage beantworten zu können, ob einer der externen funktionalen Komplexe einen relativen Primat in den System/Umwelt-Beziehungen der Universität besitzt? Es ist evident, daß eine einigermaßen systematische Klassifikation von Beziehungen erforderlich ist, damit die Dimensionen, auf denen die argumentativ jeweils eingeführten Beziehungen zu verorten sind, nicht ad hoc variieren können. Tentativ möchte ich drei Dimensionen unterscheiden, die intern weiter aufgefächert werden können. Ich nenne sie: 1. Kontrolle der Organisation; 2. Erziehungs- und Ausbildungsgeschehen; 3. Betreuung und Produktion von Wissen. Vielleicht ist es interessant, zu registrieren, daß die ersten beiden Dimensionen eine Verwandtschaft zu der von John W. Meyer und Brian Rowan für Erziehungsorganisationen vorgeschlagenen Unterscheidung von Formalstruktur und Aktivitätsstruktur aufweisen14, während die dritte Dimension eine Besonderheit der europäischen Universität als Erziehungsorganisation formuliert. Zusätzlich sollte man dann fragen, ob das von Meyer und Rowan postulierte ›decoupling‹ zwischen Formalstruktur und Aktivitätsstruktur auch für Universitäten gilt und ob die Hypothese, daß die Formalstruktur quasi eine Abbildung der Umwelt in das System ist, während gleichzeitig durch ›decoupling‹ ein von Umwelteinflüssen relativ freigesetztes Erziehungsgeschehen möglich wird, sich an unserem Untersuchungsgegenstand bestätigt. 1. Kontrolle der Organisation kann natürlich immer auch eine Mehrzahl von Organisationen oder interorganisatorische Zusammenhänge meinen, da viele 14 | Siehe Meyer/Rowan 1978.

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der entstehenden Territorialstaaten über ganze Universitätssysteme verfügen und Papst und Kaiser – genauer: Kurie und Reichshofrat – bis ins 18. Jahrhundert hinein (es bleibt zu prüfen, mit welcher Wirkungsfähigkeit) supraterritoriale Netzwerke kontrollierten. Vier Dimensionen von Kontrolle scheinen mir besonders relevant und als Indikatoren für System/Umwelt-Beziehungen instruktiv: A) Verfassung; B) Verwaltung; C) Modi der Selektion von und Mitgliedschaftsbedingungen für Personal; D) Finanzierung. A) Die Verfassungsebene liegt in Universitäten und Collèges in Privilegien, Statuten, Stiftungsbriefen und Gründungsmythen in relativ ausgefeilter Form vor. Sie reflektiert externe Einsetzung und den wiederholbaren, also modifizierbaren Versuch einer Funktionsfestschreibung. B) Verwaltung meint das tatsächliche Prozedere in Entscheidungssituationen. Interessant ist dabei vor allem, wo eigentlich das Entscheidungszentrum der Universität ist: bleibt es unbesetzt, und wenn, mit welchen Folgen15, oder liegt es bei einem jener Ämter wie Kanzler oder Kurator, für die gilt, daß sie bei gleicher Amtsbezeichnung auf dem ganzen Spektrum von völliger Externalität zu weitreichender (kultureller) Internalisierung variieren können. C) und D) Daß Selektionskriterien für Personen, Mitgliedschaftsbedingungen und Finanzierungsmodi jederzeit Gelegenheiten der Fixierung und Aushandlung von System/Umwelt-Beziehungen bieten, bedarf kaum der Erläuterung. 2. Hinsichtlich des Erziehungs- und Ausbildungsgeschehens der Universität möchte ich im Blick auf System/Umwelt-Beziehungen gleichfalls vier Aspekte systematisch unterscheiden: A) Die Rekrutierung der studentischen Population; B) Relative Primate der verschiedenen Fächer; C) Nachuniversitäre Berufe und Karrieren; D) Interaktionssysteme, in denen Lehr-/Lernprozesse stattfinden. A) Die Herkunftskontexte der Studenten sind für eine Untersuchung, die sich für System/Umwelt-Beziehungen der Universität interessiert, genau soweit von Belang, wie sie selbst eine systemisch organisierte Umwelt der Universität sind, also nicht nur als Verteilungen auf einer vertikalen Schichtungsdimension vorkommen. Diese Bedingung kann für Familien erfüllt sein, vor allem wenn sie in ihrem Selbstverständnis in einen ständischen Kommunikationszusammenhang eingebunden sind. Andere historisch wichtige Beispiele für Prägung durch Herkunftskontexte bieten jene Studenten, die bereits bei Studienbeginn Klerikerstatus besaßen, und die Mitglieder der Mendikantenorden. Letztere nutzten nach abgeschlossenem artistischen Studium sehr selektiv universitäre Studienangebote, aber sie verblieben der Organisationsmitgliedschaft nach weiterhin in den ›studia generalia‹ der Orden und wohnten in ordenseigenen Häusern (Collèges). An Beispielen dieses Typs wird deutlich, wie sehr Her15 | Vgl. Shils 1970.

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kunftskontexte (und das gilt entsprechend für die fortdauernde Intervention der Familie oder des Vaters in das Studium des Sohnes) die Autonomie der Universität restringieren können. B) Das relative Gewicht akademischer Fächer oder ganzer Fächergruppen (Fakultäten) ist eine offensichtliche Form der Abbildung relativer Relevanzen externer Systeme in die Universität. C) Nachuniversitäre Karrieren oder Abgabekontexte wirken in manchem auf ähnliche Weise wie Herkunftskontexte, aber ihre Wirkungschance ist deshalb begrenzter, weil sie als eine erst noch kennenzulernende Realität während des Studiums eine Abstraktion bleiben. Eine der Hinsichten, in denen sich langfristig eine Ausdifferenzierung des Hochschulwesens beobachten läßt, ist deshalb der säkulare Trend zur Umorientierung von Herkunftskontexten auf Abgabekontexte, da mit dieser Umstellung die Definitionsmacht der Universität wächst. Zugleich macht diese Überlegung deutlich, daß minimale Autonomie der Universität dort vorliegt, wo Herkunftskontext und Abgabekontext völlig homogen sind (beispielsweise: der junge Adlige, der sich in der Universität auf die künftige Verwaltung des eigenen Besitzes vorbereitet). Die gerade in der Frühmoderne häufige Patronage ist insofern ein Übergangsphänomen, weil sie eine gewisse Homogenität von Herkunfts- und Abgabekontext (man kehrt in die Region zurück, wo der Patron Amt oder Berufsweg vorgesehen hat) mit individuellem sozialen Aufstieg (Wechsel der ständischen Situierung) verbindet. D) Interaktionssysteme schließlich, in denen Lehr-/Lernprozesse organisiert werden, sind der eigentliche innere Kern der Universität. Sie sind von außen relativ uneinsehbar – sei es, in der Gegenwart, wegen ihrer schieren Quantität, sei es, in der Vormoderne, weil Latein die in ihnen gesprochene Sprache ist. Natürlich werden in ihren Kommunikationsprozessen die Umwelten der Universität thematisch, aber als Interaktionssysteme unterbrechen sie sich nicht, um Instanzen der Umwelt zu Wort kommen zu lassen. Die Präokkupation mit der Fortsetzung des Lehr-/Lernprozesses blockiert offensichtlich die explizite Pflege von Beziehungen zu Systemen der Umwelt und zugleich jede Durchgriffschance für aus der Umwelt kommende Interessen. Beobachtungen dieses Typs stützen die Vermutung eines relativen ›decoupling‹ einer zentralen ›Aktivitätsstruktur‹, weil zwar alles, was im Lehr-/Lernprozeß als ›Material‹ fungiert – Themen, Personen, Räume, formale Eigenschaften des ›setting‹ – Umweltindizes trägt, aber der Lehr-/Lernprozeß aus diesen seinen infrastrukturellen Voraussetzungen einen relativ geschlossenen Kommunikationszusammenhang fertigt. 3. Die europäische Universität war zu keinem Zeitpunkt und in keinem ihrer Erziehungsmodelle je primär an Verhaltensschulung oder an Ausbildung handlungspraktischer Kompetenzen orientiert. Formulierbares Wissen – und

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nicht etwa ›tacit knowledge‹ – war ihr Wissensideal,16 und das erklärt, daß die Betreuung (i.e. Reproduktion) und die Produktion von Wissen einen dritten eigenständigen Bereich neben der Kontrolle und dem Erziehungsgeschehen ausmachen. Dieser Gesichtspunkt sollte im übrigen so formuliert werden, daß er nicht umstandslos die Frage nach jeweils dominanten System/UmweltBeziehungen zugunsten des Wissenschaftssystems präjudiziert. Wissen als etwas, das in einer Pluralität funktionssystembezogener Typen vorliegt, müßte also sorgfältig von wissenschaftlichem Wissen unterschieden werden, um danach die Frage stellen zu können, ob es im Typus des universitär präferierten Wissens und in den Idealen der Kultivierung (Reproduktion und Produktion) von Wissen Affinitäten zu Funktionssystemen in der Umwelt der Universität gibt.

IV. Ich möchte diese explorativ gemeinten Überlegungen mit einer Minimalskizze der europäischen Universitätsgeschichte abschließen, die die Identifikation von Primaten in den System/Umwelt-Beziehungen der Universität zur Bestimmung der Phasenübergänge in der Universitätsgeschichte benutzt und auf diese Weise zum Periodisierungsproblem zurückkehrt. Die erste hier zu bestimmende Diskontinuität, die das Gründungsmoment der europäischen Universität identifiziert, sollte vermutlich nicht in den Akt des Zusammenschlusses einer Mehrzahl lokaler Lehrer oder lokaler Schulen zu einer Korporation gelegt werden. Das würde die Autonomie dieser Korporation überschätzen und den zeitgenössisch durchaus konventionellen Charakter der Bildung einer solchen ›universitas‹ nicht hinreichend beachten.17 Folgenreicher war vielleicht jener Moment, in dem in Paris am Anfang des 13. Jahrhunderts im Konflikt zwischen dem Bischof und dessen Kanzler und der Universität der Papst für die Universität Stellung nimmt und sie in bestimmten Hinsichten seinem direkten Schutz unterstellt18. Damit beginnt eine Entwicklung, die aus dem, was bis dahin eine Aufgabe der lokalen Kirche (Erziehung, Priesterbildung) neben anderen ihrer Aufgaben war, eine Universalmacht in analoger Stellung neben Papst und Kaiser werden läßt. Der Zusammenhang zwischen dieser universellen Bedeutung der Universität und ihrer relativen Subordination wird in der berühmten Formulierung des Alexander van Roes (ca. 1280) ausgesprochen: So wie der Kirche das römische Reich als Schutz in weltlichen Dingen zur Seite stehe, so sei auch die Universität (von Paris) ein Adjunkt der

16 | Vgl. dazu die bemerkenswerten Befunde von Cullen 1978. 17 | Vgl. Weijers 1987. 18 | Siehe Verger/Vulliez 1986, 29ff.

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Kirche in spirituellen Dingen19 . Dabei ist ein Unterschied von Politik (Reich) und Universität evident: während Reich und Kirche seit dem frühen Mittelalter nie anders als im Verhältnis hierarchischer Komplementarität20 zueinander gedacht werden konnten, d.h. die Kirche der Politik, wie es noch im 16. Jahrhundert ein calvinistischer Autor formuliert, »in eusserlichen/weltlichen und bürgerlichen sachen« Gehorsam schuldig ist und die Politik der Kirche in »innerlichen/geistlichen und himlischen sachen« unterworfen ist21, war das Verhältnis von Kirche und Universität im Konfliktfall immer eines unilateraler Subordination. Natürlich sind Rechtsschulen und medizinische Schulen weniger selbstverständlich in den kirchlichen Zusammenhang integriert als eine theologisch und kirchenrechtlich bestimmte Universität, aber es müssen mindestens drei kirchliche Organisationsmittel betont werden, die für alle Fakultäten und Universitäten bis zum Ende des Mittelalters von hoher Bedeutung waren. Das ist einmal die Kontrollmöglichkeit, die für die Kirche mittels des Kanzleramts hinsichtlich der Verleihung von Graden entsteht; ein zweites ist die Tatsache, daß das ganze Mittelalter hindurch der bei weitem wichtigste Modus der Finanzierung der Universitäten die Einbettung universitärer Positionen – und das gilt nicht nur für die als Universitätslehrer tätigen Personen, sondern vielfach bereits für die Studienfinanzierung – in das Pfründensystem der Kirche war; drittens sind Pfründen, Grade, Privilegien und Exemtionen vielfach mit dem Klerikerstatus verknüpft – eine Verbindung von Klerikerstatus und Zugang zu gelehrt-wissenschaftlicher Tätigkeit, die die englischen Universitäten in vielen ihrer Positionen bis 1870 bewahrt haben. Klerikerstatus ist dann für das Mittelalter allerdings nicht als Restriktion des Zugangs zur Welt zu verstehen, ist viel eher als etwas zu sehen, das einen privilegierten Zugang zu Wirkungsmöglichkeiten eröffnet22 . Inwiefern der Herkunfts- und der Abgabekontext hoch- und spätmittelalterlicher Studenten kirchlich bestimmt waren, ist ansatzweise deutlich geworden: bereits bei Einschreibung gehörte eine nicht kleine Zahl von Studenten dem Weltklerus oder einem der Orden an23. Präferierte Studienfächer sind unter diesen Umständen – natürlich war die propädeutische Artistenfakultät quantitativ in der Regel die größte – Theologie und Recht (kanonisches Recht, zunehmend auch Zivilrecht), wobei an vielen Universitäten auch die Kleriker häufiger Recht 19 | Zitiert bei Lytle 1981, 74. 20 | Siehe Dumont 1983, Kap. 1 und 2. 21 | Zepper 1596, 30. 22 | Stievermann 1986, 257 betont, daß die kirchenrechtlichen Vor schriften, die die Tätigkeiten im Dienst des Landesherrn ein schränken, faktisch kaum be achtet worden seien. 23 | Zahlen für zwölf deutsche Universitäten bei Overfield 1984, wo zugleich der kontinuierliche Abfall des Anteils der Kleriker zwi schen 1380 und 1520 deutlich wird.

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als Theologie studierten. Das weist darauf hin, daß die kirchliche Administration und die kirchliche Rechtsprechung früher gelehrte Kompetenz verlangten, als dies für priesterliche Tätigkeit der Fall war. Im übrigen absorbieren auch die territorialstaatlichen Verwaltungen zunehmend Juristen, die bis ans Ende des 15. Jahrhunderts fast ausnahmslos Pfründeninhaber und Kleriker waren24 . Wie Moraw an den Juristen am deutschen Königshof beobachtet hat, war das Tätigkeitsfeld dieser Klerikerjuristen im territorialstaatlichen Dienst lange Zeit primär das Interaktionsfeld mit der kirchlichen Administration und ein beträchtlicher Teil seiner Population wechselt in der Karriere in die kirchliche Administration hinüber und beendet die Laufbahn auf einem Bischofssitz25. Es ist hier sichtbar geworden, daß ein Primat der Kirche in den System/Umwelt-Beziehungen der spätmittelalterlichen Universität zunächst eine massive sozialgeschichtliche Realität war, die eine wesentliche Bedingung ihrer Möglichkeit in den konkurrenzlosen Finanzierungsmöglichkeiten des Pfründensystems hatte. Natürlich gab es einen diese Struktur wertmäßig und normativ stützenden Hintergrund und zwar in der Unhintergehbarkeit des Bezugs auf das kulturell am höchsten bewertete Wissenssystem der Universität – die Theologie – und auf die religiösen Überzeugungsgrundlagen der Kirche. Das wirft die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie auf und zugleich die Frage nach einer potentiellen Autonomie der Universität, die die Wissenschaftlichkeit der Theologie gegen unmittelbarere Leistungszumutungen der Kirche hätte verselbständigen können. Ohne diese Frage hier beantworten zu können, möchte ich zwei Dinge anmerken. Zweifellos bedeutet der Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert, den man auch als Wechsel von einer Klostertheologie zur Universitätstheologie analysieren kann, eine Art Verwissenschaftlichungsschub, der damit zu tun hat, daß der Punkt, an dem Antworten auf theologische Probleme in Anweisungen zur Devotion übergehen, sehr weit herausgeschoben wird26. Andererseits hat die Verwissenschaftlichung der Theologie in der spätmittelalterlichen Universität ihre Grenze gerade darin, daß die Theologie selbst die fortgeschrittenste Wissenschaft ist, sie also gegen den von Kirche und Religion ausgehenden Erwartungsdruck nicht den Anpassungsdruck an auf anderen Gebieten schnell voranschreitende Verwissenschaftlichungsprozesse setzen kann. Die Rezeption des erstmals vollständigen aristotelischen Systems war hier kurzfristig wohl eine Ausnahme, der sich vielleicht die bedeutendsten Leistungen mittelalterlicher Theologie verdanken – dauerhaft aber gibt es vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Theologie nie eine Situation, in der eine Umwelt anderer 24 | Siehe für den Hof des deutschen und englischen Königs Moraw 1986, 91 bzw. Lytle 1984, 226. 25 | Moraw 1986, 144f. bzw. 91 – einen Bischofssitz erlangt 1/3 der Juristen, die zwischen 1273 und 1347 zeitweise am deutschen Königshof tätig waren. 26 | Dieses Argument betont Evans 1980.

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fortschreitender Wissenschaften sich Erkenntnisnormen setzend in einer solchen Weise aufdrängt, daß dies für die Kirche die Gewißheit gefährdet, mit der sie sich auf die Theologie als das ihr zugehörige Wissenssystem verlassen kann. Eine detaillierte Analyse wird herausarbeiten müssen, wie der Ausbau des territorialstaatlichen Zugriffs auf die Universitäten und auch auf die Kirche, beispielsweise die Durchsetzung territorialer Grenzziehungen gegenüber Diözesangrenzen und den Grenzen von Ordensverbänden27, bereits im 14. und dann vor allem im 15. Jahrhundert kontinuierlich fortschreitet. So wird beispielsweise in England die Zuweisung von Pfründen durch die Präsentation von Listen infragekommender Kandidaten bei der päpstlichen Kurie schon zwischen 1380 und 1430 durch nationale Formen der Patronage ersetzt28. An dieser Stelle möchte ich aber nur drei sozial- und geistesgeschichtlich gleichermaßen bedeutsame Markierungen in diesem komplizierten und langfristigen Umbau hervorheben: 1. Die Entwicklung der entscheidend durch die Universitäten geprägten Konzilsbewegung und ihr schließliches Scheitern um die Mitte des 15. Jahrhunderts, das erstmals dauerhaft Indifferenz und Dissoziation zwischen Kurie und Universitäten hinterlassen zu haben scheint, wie auch eine Umorientierung der in der Konzilsbewegung engagierten Gruppen auf den Territorialstaat ein Begleitphänomen dieses Prozesses war29; 2. Die Erfindung des Buchdrucks, dessen weitreichendster Effekt vielleicht war, daß die in heterogenen Traditionen und Formen fortgepflanzten Textkorpora jetzt alle in die homogene Form der Veröffentlichung durch Drucklegung überführt werden und als Folge davon füreinander auf ganz andere Weise sichtbar und relevant werden; 3. Die Reformation, die nicht einfach ein Organisationsgefüge aus dem kirchlichen in den staatlichen Bereich verschiebt, vielmehr eine Überleitungsformel findet: Schulen und Universitäten sind jetzt Teil einer politischen Zuständigkeit für geistliche Angelegenheiten30 . Schul- und Universitätsreform ist dann wesentlich auch Kirchenreform, und die Kirchenreform bezieht einen Teil ihrer Legitimität aus der Intensivierung der Bemühungen um das Erziehungswesen. In den katholischen Ländern, wo eine supraterritoriale Organisation der Kirche erhalten bleibt, beobachten wir als Anpassungsmuster eine gewisse Dualisierung des Erziehungswesens31. Einerseits gibt es auch hier – namentlich im Bereich juristischer Studien – eine Intensivierung territorialstaatlicher Leistungserwartungen, andererseits treten an die Stelle des direkten Einflusses der Kurie die Orden, vor allem die Jesuiten, die Supraterritorialität und den Kontakt zur Kurie mit einer flächendeckenden Organisation verbinden können, die am jeweiligen 27 | Stievermann 1986, 254. 28 | Swanson 1985, 59f. 29 | Siehe instruktiv Oberman 1984, 26-31, und Knoll 1984. 30 | Siehe eine der klassischen Formulierungen Seckendorff 1655, 28Off. 31 | Vgl. Hammerstein 1986, 701ff.

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Wirkungsort hohe Sensibilität gegenüber lokalen oder territorialstaatlichen Erwartungen erlaubt. Im Zentrum der frühmodernen Universitätssituation steht zweifellos die System/Umwelt-Beziehung zur Politik, eine Beziehung, die über Recht und die politische Relevanz juristischer Studien vermittelt wird32. Eine Vielzahl von Momenten kommen dabei zusammen: Ein Frequenzanstieg der juristischen Fakultät relativ zu den anderen Fakultäten; eine Verschiebung vom kanonischen Recht zum Zivilrecht; eine Ergänzung zivilrechtlichen Denkens durch lokale und nationale Rechtstraditionen; eine Politisierung des Rechts durch Verselbständigung staatsbezogener Rechts- und Lehrgebiete und die Formulierung inneruniversitärer Rollenkategorien (›Politicus‹), die bewußt eine Differenz zu hergebrachten juristischen Studien artikulieren wollen; schließlich seit dem 18. Jahrhundert eine von der gelehrten Betreuung des Rechts und den Rechtsstudien ausgehende Kodifikationsbewegung, die die heterogenen Rechtsmaterien zu einem homogenen territorialstaatlich orientierten Korpus verschmilzt. Wie die vorstehende Skizze implizit deutlich gemacht haben dürfte, gibt es auch im protestantischen Bereich eine gewisse Dualität, die auf die Existenz der zwei Vermittlungslinien Politik – Kirche – Erziehung und Politik – Recht – juristisch/ politische Studien zurückgeht. Das in dieser Dualität liegende Spannungsverhältnis wird langfristig durch eine definitere Trennung von Schulwesen und Universitätsausbildung, d.h. durch Differenzierung sekundarer und tertiärer Bildungswege, aufgelöst, wodurch die Universität noch stärker aus der kirchlichen Einflußzone herausgenommen wird. Gleichzeitig vollzieht sich im politisch-juristischen Bereich, im Verhältnis zu den neueren Studiengegenständen Polizei und Kameralistik, eine Neuorientierung. Diese erlaubt nicht nur, die Pluralität politischer Handlungsfelder und die zunehmende Orientierungsrelevanz des Ökonomischen besser wahrzunehmen, als dies für hergebrachte juristische Studien möglich war. Gleichzeitig bietet sich mit Polizei und Kameralistik der Politik ein Blickwinkel, der die Relevanz der Vielzahl neuer wissenschaftlicher Wissenssysteme registrieren und diese Wissenschaften unter dem Wertgesichtspunkt der Nützlichkeit rezipieren kann (›medizinische Polizei‹;

32 | Siehe als charakteristische Formulierung dieses Zusammen hangs Reifen berg 1619, 216f.: »[…] aber wer wil das Regiment erhalten? Faust und harnisch thuns nicht/ es müssens die köpffe und bücher thun. Die Juri sten und Gelehrten in disem Weltlichen Reich seind dieselbe Perso nen/so das buch Recht/und dadurch das weltlich Reich erhalten. Ein frommer Jurist und treuer Ge lehrter/ist alhie des Kaisers Prophet/Priester/ Engel und Hei land«. Interessant auch, daß hier kirchliche Vokabeln nur auf tauchen, wo es um Motivation der als bestandskritisch erlebten Treue und um Metaphern der Funktionswichtigkeit geht.

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der propädeutische Charakter der Naturwissenschaften in der Kameralistik)33 . Parallel dazu bildet sich in den historisch-geographischen Wissensgebieten der philosophischen Fakultät – am prononciertesten in Göttingen – ein differenzierter und einigermaßen systematisierter Wissensbestand, dessen politische Relevanz nichtnegierbar ist und der nicht einfach als Propädeutikum für spätere Fakultätsstudien verstanden werden kann. Diese Überlagerung eines primär in Termini von Recht und juristischen Studien gedachten Interaktionsverhältnisses zwischen Staat und Universität durch eine Vielzahl neuer – auch für die Politik interessanter – Wissenschaften, die nicht mehr ernsthaft in ein juristisches Studienmodell eingeordnet werden konnten, besitzt ihren stärksten institutionellen Rückhalt in den deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts. Sie wird beschleunigt und dramatisch markiert in dem Augenblick, in dem ein deutscher Staat (Preußen) in einer Krise seines Staatswesens den Sinn seiner Universität nicht mehr in ihrer Nützlichkeit, sondern in ihrer Wissenschaftlichkeit sehen will, und sich damit darauf festlegt, daß Handlungsketten, die von der Universität in die praktischen Handlungsfelder des Staats hinüberreichen, sich möglicherweise ins Unbestimmte hinein verlängern34 . In der Folge hängt die wissenschaftliche Universität, die damit erstmals sichtbar geworden ist, von genau zwei Bedingungen ab: Erstens der Bereitschaft der Politik, auf hinreichend viel Prärogativen zu verzichten, um Selbststeuerungsmechanismen im System/Umwelt-Verhältnis von Wissenschaft und Universität Spielraum zu lassen (beispielsweise: eine pauschalierte Forschungsförderung, die es Selbststeuerungsmechanismen überläßt, wo und wie geforscht wird und wo dadurch inneruniversitär Stellen entstehen; oder ein Berufungsverhalten bei Professuren, das im allgemeinen universitäre Entscheidungen, die wiederum eng mit dem Reputationsmechanismus der Wissenschaft verknüpft sind, ratifiziert35). Die zweite Bedingung ist die Fähigkeit der Universität, der Politik und anderen Drittsystemen – namentlich der Ökonomie – auf glaubwürdige Weise zu demonstrieren, daß die enge Symbiose von Wissenschaft und Universität lebensfähig ist, d.h., daß sie nicht nur 33 | Hierzu und zum folgenden vgl. Stichweh 1984, insb. Kap. 1 und 7. 34 | Siehe wenige Jahre vor diesem Umbruch die Bestimmung der staatlichen Relevanz der Wissenschaft durch einen der besten preußischen Analyti ker des prinzipiellen Staats bezugs der Erzie hung: »Die Erziehung […] für die Wissen schaften hat […] ohne Zweifel eine sehr ausge breitete und wichtige Wirkung auf den Staat; allein sie hat ihren Zweck nicht im Staate. Die Wissenschaf ten sind ihnen selbst Zweck. Diese halten sich über die Schranken und die Formen eines jeden Staats erhaben. […] Sie nut zen, ohne es zu wollen, und werden Wohlthäterinnen der Staa ten, wie der gesammten Menschheit, ohne dahin ge trachtet zu haben […]« (Voss 1799, I, 141). 35 | Es liegt auf der Hand, daß hier Bedingungen genannt werden, die allenfalls im 20. Jahrhundert realisiert werden; vgl. Kap. 6.

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in diesem einen System/Umwelt-Verhältnis einen Leistungsaustausch ermöglicht, vielmehr auch für dritte Systeme Leistungsangebote hervorbringt, die von diesen dritten Systemen hinreichend geschätzt werden, um sie von Störinterventionen abzubringen. Idealiter ist dann sogar bei diesen dritten Systemen die Überzeugung einer Vorteilhaftigkeit der engen System/Umwelt-Beziehung von Wissenschaft und Universität präsent. Vermutlich ist der dafür wichtigste Umbruch die Entstehung wissenschaftlicher Berufe, soweit sie sich von der Universität her vollzieht. Gemeint ist jener Prozeß, in dem es der Universität – nachdem sie die Struktur des gerade entstehenden Systems wissenschaftlicher Disziplinen als ihre interne Struktur rezipiert hat – gelingt, aus den disziplinären Ausbildungsprozessen heraus Berufe zu entwickeln, die in die außeruniversitäre/ökonomische Systematik der Berufe erfolgreich eingefügt werden, und d.h., daß diese Berufe Handlungsfelder hervorbringen oder besetzen, auf denen sie den praktischen Beweis ihrer Nichtsubstituierbarkeit zu führen verstehen.36

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36 | Siehe dazu Kap. 12 und Stichweh 1993.

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8. Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert

I. Während es in der Gegenwart problemlos möglich ist, eine Tagung zu organisieren, die international vergleichend nach der Grenzziehung und den Interaktionen zwischen Schule und Universität fragt, und bei dieser Frage natürlich nicht unterstellt wird, daß die Grenzziehung in allen nationalen Erziehungssystemen an derselben Stelle vorgenommen wird, aber die Prämisse doch ist, daß es eine Grenzziehung dieses Typs überall gibt1, ist nicht von vornherein sicher, daß sich ein vergleichbarer Unterschied im frühmodernen Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts überhaupt beobachten läßt. Die Frage, die sich stellt, ist, wie es zu der scharfen Demarkation von Schule und Universität, die für die Moderne charakteristisch ist, kommen konnte. Man kann nicht annehmen, daß für eine solche Demarkation ein Sachzwang gilt. Zwar gibt es in Lern- und Erziehungsprozessen überall eine sequentielle Organisation des Typs, daß man erst das eine und dann etwas anderes lernt und eine solche Sequenz in vielen Fällen nicht umkehrbar ist. Aber aus einer sequentiellen Organisation dieses Typs folgt nicht die scharfe Diskontinuität zwischen Schule und Universität, die in vielen Staaten heute beobachtbar ist. Eine Vermutung, die ich im folgenden skizzieren möchte, ist, daß für diese in ihrer Entstehung kontingente Diskontinuität von Schule und Universität die preußischen Bildungsreformen und die deutsche Entwicklung formprägend geworden sind. Damit ist nicht gemeint, daß politische Entwicklungen diese Weichenstellung in irgendeinem Sinne verursacht hätten. Politische Entwicklungen verhalten sich auch in diesem Fall rezeptiv zu Entwicklungstrends, für die sie kausal nicht verantwortlich sind. Aber es kommt in Deutschland/Preußen um 1800 herum zu einer Engführung von Politik, Wissenschaft und Erziehungstheorie, die eine Lösung erzeugt, die als Vorbild dann über Preußen hinaus überzeugend wirkte, weil sie ein Problem löste, das sich auch anderswo stellte. 1 | Siehe als Beispiel den Sammelband Clark 1985.

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Zwei Thesen sollen eingangs kurz entwickelt werden: 1. Die institutionelle und curriculare Entwicklung des Erziehungswesens im 17. und 18. Jahrhundert deutet nicht unbedingt auf eine deutliche Scheidung von Schule und Universität voraus. Vielmehr scheinen die Grenzen eher uneindeutiger zu werden. 2. Dort, wo wir Grenzziehungen von Schule und Universität finden, erfolgen sie nicht primär in curricularen, sondern in rechtlichen, politischen und institutionellen Termini. Eine sich aus diesen beiden Thesen ergebende und im folgenden näher zu erläuternde Schlußfolgerung wird dann sein, daß noch das frühmoderne Europa durch Schulorganisationen gekennzeichnet ist, die in vielen Hinsichten versuchen, vollständige Schulorganisationen zu sein, und d.h. zunächst, daß sie ein sehr weites Spektrum von Altersklassen und von für diese Altersklassen relevanten Erziehungsangeboten abdecken. Dies alles gilt natürlich nur für den Bereich gelehrter Erziehung, d.h. für die Erziehung, deren entscheidende Kondition die war, daß ein Großteil des Wissens, an dessen Vermittlung man eventuell interessiert war, in Sprachen (Latein, Griechisch) vorlag, die zunächst einmal erlernt werden mußten2 . Gelehrte Erziehung ist also die Form der Erziehung, in der Wissenserwerb Sprachlernen voraussetzt3 – und in vielen Fällen kollabiert die hier vorausgesetzte Differenz, so daß Sprachlernen zu der Form wird, in der Wissenserwerb erfolgt. Die Instabilität dieser Differenz ist sicher einer der Gründe, warum eine deutliche Unterscheidung von Schule und Universität so schwer vollziehbar war. Was meint die These einer zunehmenden Uneindeutigkeit des Unterschiedes von Schule und Universität im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts? Das institutionelle Wachstum des 17. und 18. Jahrhunderts nimmt nicht primär die Form der Neugründung von Universitäten an, obwohl auch dies vorkommt und sich Neugründungen nach wie vor die Chance bietet, schnell das innovative Zentrum eines ganzen (nationalen) Universitätssystems zu werden. Viel 2 | Vgl. Thomas Elyot 1531, I, 32, der dies als den wesent lichen Unterschied zur Antike sieht: ›Doctrine‹ und ›sciences‹ liegen nicht mehr in der Mutter sprache vor; also muß man zunächst Latein und Griechisch lernen und das ist der Grund, weshalb die moderne Erziehung so viel Zeit verbraucht. 3 | Vgl. noch Heyne 1780, 15-16: »Auf dem Fuße, auf welchem unsre Gelehr samkeit einmal stehet, da unsre Religion sich auf heilige Bücher, die in toten Sprachen geschrieben sind […] gründet; da selbst unsre Rechtsgelahrtheit der Kenntniß und des Gebrauchs fremder Rechte, die in einer gelehrten Sprache abgefaßt sind, nicht entbehren kan; da für diejenigen, die in einer jeden Wis senschaft über die bloß mechanische Erlernung hinausgehen und eine gelehrte Kenntniß sich erwerben wollen, Ueber sicht des sen, was in vorigen Zeiten darinn geschehen ist, eine nothwendige Sache bleibt; und endlich schöne Künste und Wissenschaften gleichsam Spößlinge des Alterthums sind; so lange dieses alles sich also verhält: so läßt sich das ge lehrte Studi um kaum anders als mit der Erlernung der todten Sprachen anfangen.« (Hervorhe bung bei Heyne).

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auffälliger aber ist die Entstehung neuer Typen von Schulorganisationen: Kollegien und Collèges – und zwar innerhalb und außerhalb von Universitäten –, Ritterakademien, akademische Gymnasien, Écoles militaires, Pädagogien und Pensionate, wobei auch die letzteren manchmal einen eigenen Unterrichtsbetrieb aufweisen. In Hinsicht auf diese neuen Schulorganisationen läßt sich nicht problemlos von einer Sekundarisierung – i.e. einer deutlichen Zuordnung zu einem schulischen Bereich – sprechen. Vielmehr zeichnet sich in vielen Fällen ein Trend zur Aufstufung der Lehrangebote ab, so daß man zum grammatisch-rhetorischen Curriculum zunächst Philosophie hinzunimmt, dann auch einzelne juristische oder theologische Vorlesungen, schließlich einigermaßen vollständige Fakultätsstudien hinzufügt. Gerade an italienischen ›Collegii dei Nobili‹ und an deutschen akademischen Gymnasien fällt diese Tendenz besonders auf. Wenn der Unterschied dieser neuen Schulorganisationen zur Universität nicht der von Schule und Universität, von sekundarem und tertiärem Sektor des Erziehungssystems ist, wie läßt er sich dann beschreiben? Man findet hier primär politische, rechtliche und institutionelle Kategorien. In Friedrich Lucaes Handbuch europäischer Akademien von 1711 heißen die Universitäten ›Scholae Primariae‹, die akademischen Gymnasien ›Scholae Secundariae‹4 . Der Unterschied ist hier einer des Rangs und nicht der Zuständigkeit für verschiedene Lebensalter und Curricula. Begründet wird dieser Unterschied mit der Tatsache, daß die Universitäten kaiserliche und/oder päpstliche Privilegien aufweisen und daß ihnen aus diesen Privilegien unter anderem das Recht zur Verleihung von akademischen Graden erwächst. Darüber hinaus führt Lucae die akademische Freiheit der Universitäten an, die u.a. für die Studenten die ›Willkühr‹ der Wahl der von ihnen zu besuchenden Vorlesungen impliziere5. Ähnliche Überlegungen, die beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung von Kandidaten auf wichtige Staatsämter eine funktionale Äquivalenz von Universitäten und akademischen Gymnasien unterstellen, findet man in Deutschland im 18. Jahrhundert häufig6. Für den Landesherrn entsteht in dieser Hinsicht ein strategisches Kalkül: er kann sich für ein akademisches Gymnasium entscheiden, das ihm Durchgriffsmöglichkeiten bis in Details der Schulorganisation, die relative Abwesenheit von Disziplinproblemen und eine obligatorische Teilnahme der Schüler an allen Unterrichtsveranstaltungen bietet. Er kann alternativ aber auch eine Universität etablieren oder fortsetzen, bei der er eine gewisse korporative Autonomie, Unruhen der Studenten und die Tatsache, daß viele seiner Landeskinder ›verkommen‹, in Kauf nehmen muß und im Gegenzug überterritoriale Attraktivität für adlige oder wohlhabende Studenten und die 4 | Lucae 1711, 775. 5 | Vgl. ausführlicher zu ›akademischer Freiheit‹ Stichweh 1987. 6 | Siehe etwa Anon. 1769, 731.

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reichsrechtliche Relevanz der verliehenen akademischen Grade einhandelt. Der Dissens über solche Optionen konnte im 18. Jahrhundert denkbar groß sein. Es ist bezeichnend, daß von Wien aus gesehen die Universität Göttingen als eine Finanzspekulation unter Vernachlässigung des politischen Eigeninteresses des Staates Hannover erscheinen konnte7. Ein so aufgefaßtes strategisches Kalkül wird den Landesherrn in den Texten des 18. Jahrhunderts häufiger explizit präsentiert. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts finde ich dann ganz andere Argumentationsmuster. Beispielsweise wird bei einem anonymen Autor von 1798 die Unverzichtbarkeit von Universitäten – im Leistungsvergleich zu akademischen Gymnasien – damit begründet, daß nur die Universitäten die »Wissenschaft selbst zu vervollkommnen, und sie der Nachwelt in Werken und Zöglingen zu erhalten« imstande seien8. Wissenschaftlichkeit und nicht der fortgeschrittene Charakter der Materien per se wird hier also das abgrenzende Kriterium. Was in diesen Diskussionen des 18. Jahrhunderts deutlich wird, ist, daß der Unterschied der neugegründeten Schulorganisationen des 17. und 18. Jahrhunderts zur Universität vielfach besser durch Differenzen rechtlich-politischer Einbettung als durch die Differenz sekundar/tertiär beschrieben wird. Die Universitäten sind dann relativ autonome Korporationen, die ihre Privilegierung noch den mittelalterlichen Universalmächten Kirche und Reich und ihre Autonomie der weiten Kontrollspanne dieser Universalmächte verdanken. Den neuen Schulorganisationen wiederum entsprechen neue politisch-kirchliche Gegenüber: Der Territorialstaat, die vergleichsweise straff organisierten Orden der Gegenreformation und vereinzelt auch der private Unternehmer. In allen drei Fällen entsteht ein viel unmittelbarerer Kontrollanspruch. Schindling hat für Straßburg darauf hingewiesen, man habe die Klassenpräzeptoren und die Professoren gleichzeitig auch Schuldiener genannt und damit ihre Stellung zu den Schulherren des Magistrats der Stadt gekennzeichnet9 . In den neuen Schulorganisationen zeichnet sich also die Verstaatlichung und kirchenorganisatorische Instrumentalisierung des Erziehungswesens ab und längerfristig tangiert diese natürlich auch die Universitäten. Es gibt eine weitere interessante Semantik, die eine historisch wirksame Restriktion auf eine mögliche Differenzierung von Schule und Universität offenlegt. Fast das auffälligste Thema der frühmodernen Erziehungstheorie ist ja die Frage, ob private- oder öffentliche Erziehung vorzuziehen sei. ›Privaterziehung‹ meinte jede Erziehung im Haushalt der Eltern, ›öffentlich‹ war das Zusammenziehen einer Mehrzahl von Kindern in einer Organisation. Die prominente Stellung der Universität in der europäischen Erziehungsgeschichte 7 | Wahlberg 1865, 48. 8 | Anon. 1798, 137. 9 | Schindling 1977, 30.

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des Spätmittelalters und der Frühmoderne verdankt sich wesentlich auch der Tatsache, daß die Universität die einzige Erziehungsform bot, die alternativenlos nur als öffentliche vorstellbar war10. Interessant ist nun, daß in den akademischen Gymnasien die unteren Klassen ›schola privata‹ hießen und die höheren universitätsanalogen Lehrangebote ›schola publica‹ genannt wurden11, man also eine curriculare Differenz durch eine institutionelle Differenz zweier Erziehungskontexte beschrieb. Mittels dieser Beobachtung kann man sich verdeutlichen, daß die Schule als eine autonome Erziehungsinstitution mit besonderen Eigenschaften u.a. deshalb nicht intensiv zum Gegenstand des Nachdenkens wird, weil alle ihre Lehrangebote auch im Bereich der Privaterziehung abgedeckt werden konnten. Den vermutlich wichtigsten Grund der Nichtdifferenzierung von Schule und Universität kann man sich vor Augen führen, wenn man sich das Faktum der Aufstufung von Collèges und akademischen Gymnasien in Richtung auf philosophisch-artistische Studien und schließlich sogar Fakultätsstudien ansieht. Diese Aufstufung verrät ja, daß man keine fundamentale curriculare Diskontinuität wahrnahm, die ihr im Wege gestanden hätte. Wie sieht dieses frühmoderne Curriculum aus? In den Collèges Frankreichs oder Italiens beobachten wir im 17. und 18. Jahrhundert zunächst eine Sequenz von sechs Klassen, von denen etwa vier der Grammatik, eine den ›studia humanitatis‹ und die letzte der Rhetorik gewidmet ist. Daran schließt sich der zwei- bis dreijährige Kursus der Philosophie an, der Dialektik (i.e. Logik), Naturlehre und Ethik umfaßte, und diesen folgen die eigentlichen Fakultätsstudien12 . Variationen im Detail sind natürlich zahlreich; wichtig aber ist hier nur die Organisationsform eines solchen Kursus: für die thematische Heterogenität, die in ihm vorkommt, wählt er die Form einer hierarchischen Sukzession. Der Übergang vom einen Fach zum anderen wird im Prinzip als Kontinuität gedacht, und die klassischen Sprachen übernehmen eine Art von Stützungsfunktion dafür, daß dies möglich ist. Der Korpus oder Kanon von Texten, die man für Schule und Universität verwendet, ist limitiert, so daß im Fortschreiten von Klasse zu Klasse und von Thema zu Thema immer wieder dieselben Texte vorkommen können13 und dies die erfahrbar werdende Diskontinuität verringert. Für die Abwesenheit einer genuinen Diskontinuitätserfahrung gibt es ein weiteres bemerkenswertes Indiz: dies ist das Phänomen, daß selbst der Übergang von Lern- zu Lehrrollen in der Frühmoderne nicht als zwingende Diskon10 | Auch dafür finden sich Ausnahmen. Siehe etwa die Vor schläge zur Rückfüh rung tertiärer Ausbildung in die Familie in Bury 1777. 11 | Siehe Beispiele dafür in Menk 1981, 27, 116-118, 183-184. Vgl. zu Eng land Rothblatt 1987, insb. 164-5; siehe auch Stichweh 1991, insb. Kap. IV, 3. 12 | Siehe Beispiele in Brockliss 1987, 42; Brizzi 1976. 13 | Zur Wiederkehr der immerselben Texte in der Lateinschule siehe Strauss 1988.

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tinuität gedacht worden ist. Daß dies nicht geschah, war die Bedingung der Möglichkeit der zumindest in den katholischen Orden bis weit in das 18. Jahrhundert fortgesetzten Lehrpraxis, in der ein Schüler fast unmittelbar, nachdem er eine Klasse durchschritten hatte, die Themen der gerade durchlaufenen Klasse an jetzt geringfügig jüngere Schüler weitergab, während er gleichzeitig in einer höheren Klasse im Schülerstatus weiterlernte. Damit wird die spätestens in der modernen Gesellschaft markante Rollenasymmetrie von Lehre und Lernen durch ein kontinuierliches Wechseln aus Lehr- in Lernrollen relativiert. Die Verwandtschaft von Lehre und Lernen als frühmodernen Handlungsvollzügen wird gut deutlich in einer deutschen Enzyklopädie von 1706, in der der Autor (Johann Christian Lange) den Unterschied von ›doctrina‹ und ›disciplina‹ als zweier Weisen der Organisation von schulischem Sachwissen erläutert. ›Doctrina‹ definiert Lange als die Lehre »nehmlich in Ansehung eines lehrenden/ und in Absicht auf ein vernünfftiges Subjectum, welches der Lehre fähig ist/ oder durch lehren erudiret werden kann.«14 ›Disciplina‹ meint dann denselben Wissenszusammenhang aus der Sicht des Lernenden. Bemerkenswert ist hier die Formel »durch Lehren erudiret werden kann«, weil sie verrät, wie gering die Differenz von Lehren und Lernen ist. In der Moderne ist die Differenz von Schule und Universität ja unter anderem deshalb so groß, weil für den der Schule zugehörigen Lernenden die Wissensbasis seines Lehrers in einer Institution (der Universität) verankert ist, von der der Schüler keine Vorstellung und schon gar nicht irgendeine Anschauung besitzt. Die Hinsichten, in denen eine Differenzierung von Schule und Universität im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht vollzogen wird, ließen sich leicht vermehren. Erwähnt sei hier nur noch das Phänomen der Verteilung auf Altersklassen, das uns in Collèges und in Universitäten gleichermaßen eine extreme Spanne vorfinden läßt, die mindestens von 11-30 reicht und in vielen Fällen noch jüngere und noch ältere Schüler aufweist. Mit dieser Altersverteilung geht die Uneindeutigkeit eines möglichen Zeitpunkts für einen Übergang vom Gymnasium zur Universität einher. Die deutsche Literatur beklagt noch zu Ende des 18. Jahrhunderts gern, die oberen Klassen der Schulen seien verwaist, weil die Schüler sehr früh und außerdem zu individuell verschiedenen Zeitpunkten die Schule verließen15. In anderen Fällen wird deutlich, daß der Zeitpunkt des Wechsels nicht curricular, sondern eher durch disziplinarische Gesichtspunkte bestimmbar wird. So warnen englische Autoren vor zu langem Verweilen in Schulen, weil dies Unterbeschäftigung der Schüler mit sich bringe und diese zu Verwahrlosung führe. Auch in diesen Texten wird immer wieder sichtbar, daß, auch wenn es institutionelle Differenzen von Schule und Universität gibt,

14 | Lange 1706, 10 (Hervorhebung von mir). 15 | Anon. 1785, 5.

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kein scharf demarkierter Punkt des Übergangs wahrnehmbar ist, viel eher eine breite Übergangszone existiert, die Kontinuität garantiert.

II. Welche Bedingungen gibt es für die Entstehung der ganz anders gearteten Interrelation von Schule und Universität, wie sie dann das 19. und 20. Jahrhundert bestimmt? In dieser neuen Auffassung werden Schule und Universität zwei autonome Subsysteme des Erziehungssystems und der Übergang vom einen zum anderen ist für jeden, der ihn vollzieht, eine der entscheidenden, wenn nicht sogar die bestimmende Diskontinuität in der individuellen Geschichte seines Lernens. Ich möchte im folgenden die These vertreten, daß die historischen Bedingungen, die eine neue Form der Differenzierung von Schule und Universität ermöglicht haben, im wesentlichen in curricular-wissenschaftlichen Entwicklungen liegen und daß das differenzerzeugende Prinzip eine radikal neue Form der Organisation von Curricula ist. Die Frage war in den bisherigen Überlegungen bereits die, wie frühmoderner Unterricht mit thematischer Heterogenität kompatibel ist. Die Antwort lag in dem Hinweis auf eine hierarchische Sukzession der Fächer und weiterhin in dem Hinweis auf die diskontinuitätsmininimierende Leistung klassischer Sprachen und kanonischer Texte. Wie wird bisher noch nicht berücksichtigtes und eventuell sogar neuentdecktes oder erstmals formuliertes Wissen in eine solche Organisation integriert? Das Problem ist, daß neue Themen und Fächer nicht umstandslos in eine hierarchische Kette von Lehrgegenständen eingefügt werden können, und dies schon allein deshalb nicht, weil die Zahl der Klassen praktisch nicht vermehrbar ist. Die Frühmoderne hat denn auch typischerweise nicht die Lösungsmöglichkeit einer Verlängerung der Hierarchie gewählt. Sie hat stattdessen auf zunehmende thematische Heterogenität sowohl in den neuen Schulorganisationen wie in den Universitäten mit anderen Lösungsmustern reagiert. Zwei dieser Lösungsmuster möchte ich erwähnen. Einmal kommt es statt einer Erweiterung der Curricula zu der Entstehung von Nebencurricula. Nebencurricula entwickeln sich in den Universitäten als Privatunterricht neben dem durch das Prinzip der Öffentlichkeit bestimmten formellen Kern des universitären Unterrichtsgeschehens. In den Collèges nehmen sie vielfach die Form intern ausgegrenzter Akademien an, in denen vielfältige ›neue‹ Themen untergebracht werden können, ohne daß man mit formalen curricularen Festlegungen (beispielsweise der ›Ratio Studiorum‹ im Jesuitenorden) kollidiert. Das andere Lösungsmuster, das sich bietet, ist die Angliederung neuer Sachgehalte oder Wissensbestände an den Sprachunterricht. Lose Verbindungen, wie sie in Texten immer gegeben sind, werden dann genutzt, um beispielsweise geographisches und historisches Wissen mit dem Unterricht,

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insbesondere der 5. und 6. Klasse des Collège (i.e. studia humanitatis, Rhetorik) zu verknüpfen16. »Verkettung des wissenschaftlichen und Sprachunterrichts« ist eine Formulierung des späten 18. Jahrhunderts für diese Technik17. ›Disziplinen‹ und ›Sprachen‹ ist eine andere Semantik, die man am Ende des 18. Jahrhunderts häufig findet und die sowohl Konkurrenz zweier Wissenssysteme wie Koordinationsbedarfe indiziert18. Die beiden Entwicklungstrends, die einerseits das hierarchische frühmoderne Curriculum sprengen, andererseits eine neue Form einer Differenzbestimmung von Schule und Universität ermöglichen, sind damit ansatzweise bereits sichtbar geworden: 1. die zunehmende (interne) Differenzierung des gelehrten Wissens und der Wissenschaften19; 2. eine Neufassung des Wissenschaftsbegriffs (u.a. das Überwechseln vom Plural ›Wissenschaften‹ zum Singular ›die Wissenschaft‹; eine Objektivierung des Wissenschaftsbegriffs im Sinne der Ausschaltung des subjektiven Sinnmoments ›Wissenschaft von etwas haben‹), die mit einer Anspruchssteigerung hinsichtlich dessen einhergeht, was noch als Wissenschaft soll gedacht werden können. Von ›hohen Wissenschaften‹ spricht um die Mitte des 18. Jahrhunderts Zedlers Lexikon; dieser Begriff verbindet sich suggestiv mit dem Begriff ›hohe Schulen‹, und schließlich folgt aus diesen gedachten Aufstufungen ein Plaidoyer, das den Professor an Universitäten nicht mehr mit dem Lehrer an Gymnasien und verwandten Schulen verwechselt wissen will20. Das Wachstum der Zahl der Wissensgebiete löst schließlich die Möglichkeit ihrer hierarchischen Sequenzierung auf. An die Stelle einer Hierarchie tritt eine horizontale Ordnung der Wissensgebiete und der Wissenschaften. Eine horizontale Ordnung von Wissensgebieten kann man aber nicht mehr in einer kontinuierlichen Gradation auf Schule und Universität verteilen. Es bleibt dann nur noch eine Möglichkeit für die Verteilung der Fächer auf unterschiedliche Typen von Organisationen: man läßt alle Fächer zweimal vorkommen – als Schulfächer im jetzt auch begrifflich manchmal so genannten sekundaren Bereich21 und als wissenschaftliche Disziplinen in der Universität. Die Funktion des Wissenschaftsbegriffs wird in diesem Zusammenhang in der Folge präzise die, daß er die Differenzbestimmung von Schule und Universität leistet. Die Universität wird neudefiniert über Wissenschaftlichkeit all ihres Geschehens, insbesondere

16 | Vgl. zu diesen Anbauten an Curricula Guyton de Morveau 1764, 306321; Brockliss 1987, 153-159. 17 | Nonne 1799, zit.n. Jäger 1987, 201. 18 | Siehe Schäffner 1988, insb. 850. 19 | Vgl. Stichweh 1984. 20 | So zitiert bei Grave 1982, 187. 21 | Siehe Compère 1985, 185-187.

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auch Wissenschaftlichkeit ihrer Ausbildung22 (die ›Einheit von Lehre und Forschung‹ ist eine der Formeln, die dies beschwört); und die Schule besteht aus einer der Tendenz nach ebenfalls horizontalen Ordnung von Fächern, die gleichsam einen Auszug der disziplinären Ordnung der Wissenschaft institutionalisiert. Dabei kann die relative Autonomie der Schulfächer gegenüber den Disziplinen der Universität variieren23; aber das ändert nichts daran, daß die Autonomie eines Schulfaches immer eine Form der Selektion und der selektiven Bedeutungssteigerung von Sachgehalten ist, die auch in der Universität wichtig sind. Es dürfte bereits hinreichend deutlich geworden sein, daß hier eine ganz neue Ordnung des Verhältnisses von Schule und Universität entsteht: an die Stelle einer kontinuierlichen Gradation, die keine scharfe Systemgrenze zuließ, tritt eine radikal horizontale Ordnung des Wissens, die aber wiederholt wird, also zweimal vorkommt, so daß an einem Punkt in diesem Systemaufbau, nämlich zwischen den beiden differenten Formen, die diese Ordnung des Wissens annimmt, sich eine Ebenendifferenz herausbildet, die eine in dieser Schärfe bis dahin nicht gekannte Diskontinuität erzeugt. Weitere formale Erfindungen von ähnlicher Trennschärfe stützen und intensivieren die Herausbildung dieser Diskontinuität. Man mag hier an das Abitur denken, das zunächst durchaus kontrafaktisch war, da es auch nach 1788 weiterhin viele Wege zur Universität gibt, die nicht über das Abitur führten, und umgekehrt dieses ja auch zunächst keine Aufnahmeberechtigung implizierte24 . Dennoch spannt das Abitur, nachdem es einmal eingeführt worden ist, für die sich anschließende institutionelle und curriculare Entwicklung eine einfache Alternative auf, die als Selektor relevant ist. Irgendwann gibt es nur noch schulische Organisationen, die auf das Abitur hinführen, und andere ›schulische‹ (i.e. universitäre) Organisationen, die das Abitur voraussetzen. Die ganze neu entstandene heterogene Schulvielfalt des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich gerade in den Zwischenbereichen von Schule und Universität angesiedelt hatte, ist mit dieser scharfen Trennung inkompatibel25. Ein weiteres – bereits erwähntes – diskontinuitätsverstärkendes Moment ist die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer, d.h. die räumlich-institutionelle Separierung von Ort der Berufsausübung und dem Ort der Ausbildung für diesen Beruf und außerdem die strikte zeitliche Sequentialisierung des Involviertseins in diesen beiden Kontexten. 22 | Vgl. etwa Wolf 1835, 97: »Erst auf Universitäten muss der Unter richt wissenschaftlich seyn; auf den Schulen muss er vorberei tend, im Allgemei nen bildend und elemen tarisch seyn.« (Hervorhe bung bei Wolf). S. 98 nennt er wissenschaftlich »jede Kenntniss, die man bis zu ihren letzten Quellen systematisch verfolgt.« Vgl. zu Philoso phie/philosophischer Behandlung als Kriterium der Unterscheidung Böhme 1824, 206-7. 23 | Siehe am Beispiel der Schulmathematik Schubring 1988. 24 | Siehe Schäffner 1988, insb. 840. Vgl auch Wolf 1835. 25 | Vgl. auch Pyenson 1983, 8; Stichweh 1994.

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Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das historische Detail der skizzierten Umstellung auszuarbeiten. Zunächst ging es mir auch nur darum zu zeigen, wie verschieden die Lösungsmuster sind, die die Frühmoderne des 17. und 18. Jahrhunderts einerseits und die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts andererseits für das Verhältnis von Schule und Universität finden. Interessant wird es danach auch, nationale Lösungen zu vergleichen, d.h. zu fragen, wie universell das beschriebene Modell, das ja zunächst preußisch-deutsch war, geworden ist. Wie verhält es sich beispielsweise mit nordamerikanischen Erziehungssystemen, die das College als eine Zwischeninstitution zwischen Schule und Universität beibehalten haben? Diese Sonderlage korreliert mit einer geringeren institutionellen Trennschärfe von Begriffen wie ›school‹, ›college‹ und ›university‹ im amerikanischen Englisch26. Auffällig ist andererseits aber, daß es auch im amerikanischen Fall kein hierarchisch sequentialisiertes Curriculum mehr gibt, man vielmehr statt einer zweimaligen eine dreimalige Wiederholung der im Prinzip identischen Ordnung von Fächern praktiziert. In allen Erziehungssystemen scheint also an die Stelle einer Hierarchie der Fächer eine Hierarchie der Formen der Behandlung des Wissens getreten zu sein27. Auf jeder dieser zwei (oder drei) Stufen in der Behandlung des Wissens fungiert Hierarchie gleichzeitig nicht mehr als das interne Ordnungsprinzip (der Fächer in ihrem Verhältnis zueinander). Während es ehedem eine Zentralstellung der klassischen Literatur (oder eines anderen Faches) gab, gilt stattdessen jetzt, wie es in der österreichischen Unterrichtsreform von 1849 heißt, das Prinzip der »wechselseitigen Beziehung aller Unterrichtsgegenstände aufeinander«28 .

L ITER ATUR Anon. (J.F. Eberhard) 1769: Freymüthige Betrachtungen über das vor einiger Zeit herausgekommene Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Teutschland. Th. 1. Frankfurt und Tübingen. Anon. 1785: Kurzer Abriß der Universitätsstudien. o.O. Anon. 1798: Über Universitäten. Jahrbücher der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Dritten. Jahrgang 1798, 3. Bd. des Jahrgangs, 136-148, 257-271, 374-391.

26 | Siehe dazu Rothblatt 1987, 175. Die frühmoderne euro päische Semantik kennt gleichfalls diese Vertauschbar keit von Begriffen wie ›Schule‹, ›Univer sität‹ und ›Akademie‹. 27 | Vgl. Schubring 1988, 150-152. 28 | Entwurf der Organisation 1849, zit.n. Jäger 1987, 201-202.

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9. Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung

I. Die folgenden Überlegungen werden eine analytische Perspektive auf die Entstehung der disziplinären Struktur der modernen Wissenschaft skizzieren. Die Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen ist ein Prozeß der Systembildung im Wissenschaftssystem, der systemintern noch einmal System/Umwelt-Differenzen entstehen läßt, so daß in der Folge aus der Sicht eines jeden, der am Kommunikationsprozeß einer wissenschaftlichen Disziplin partizipiert, alles, was in anderen Disziplinen geschieht, zunächst einmal Umweltereignis ist und als solches in der Regel irrelevant sein wird, wie es auch unter bestimmten Umständen hochgradig relevant werden kann. Die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen vollzieht sich in der Wissenschaftsgeschichte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert historisch erstmals1 . Eines der zahlreichen Korrelate dieses Prozesses der Disziplinbildung ist Spezialisierung. Spezialisierung als einen Vorgang, der Rollen oder Personen betrifft, sollte man sorgfältig unterscheiden von disziplinärer Differenzierung als dem Prozeß der Bildung eines Sozialsystems. Im Prinzip sind dies zwei Dimensionen, die – in Grenzen, die erst noch zu bestimmen sind – unabhängig voneinander variieren können. Die beiden extremen Optionen in diesem Variationsspektrum hat die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts durchaus noch ausprobiert. Einerseits gibt es im 18. Jahrhundert das Phänomen, daß man jenseits enzyklopädischer Systematisierung die relative Autonomie einer Mehrzahl von Problemtraditionen (oder Wissenschaften) bereits deutlich wahrnimmt, aber der einzelne Wissenschaftler mit seinen Beiträgen gewissermaßen springt, d.h. mal hier und mal dort etwas hinzufügt, ohne daß seine Beiträge für ihn oder jemanden anderen einen inneren Zusammenhang

1 | Siehe Stichweh 1984; ders. 1992; ders. 1993.

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aufwiesen2 . Auf der anderen Seite ist die Akademie des 18. Jahrhunderts ein Versuch, spezialisierte Rollen für einzelne Wissenschaftler zu schaffen und gleichzeitig das Gesamt wissenschaftlicher Ergebnisse noch in einem Kommunikationssystem zusammenzuhalten3 . Diese beiden Versuche, einerseits eine Mehrzahl von Wissenschaften zu unterscheiden, aber Spezialisierung für Personen zu vermeiden, oder andererseits Spezialisierung rollenmäßig vorzusehen und gleichzeitig an der Vorstellung eines homogenen Kommunikationszusammenhanges festzuhalten, waren letztlich nicht erfolgreich. Moderne Wissenschaft setzt den Spezialisten voraus, und sie bildet zusätzlich Disziplinen mittels der kommunikativen Zusammenfassung einer Mehrzahl von Spezialisten; d.h., aus einer Rollenist eine Systemdifferenzierung geworden, die eine ihr koordinierte Rollendifferenzierung rückwirkend stabilisiert. Es gibt dann in der modernen Wissenschaft eine eineindeutige Zuordnung von Disziplinen zu ›disziplinären Gemeinschaften‹ und damit fällt erstmals die wissensmäßige und soziale Differenzierung der Wissenschaft zusammen. Ampère hat dies 1834 als normativen Gesichtspunkt für künftige Wissenschaftsklassifikationen formuliert: »qu’on doit […] placer en général, dans un même groupe, les verités dont les mêmes hommes s’occupent«4 . Natürlich sollte man hier Qualifikationen einführen. Gerade, weil Disziplinen letztlich aus Kommunikationen bestehen und weil sich dieser Kommunikationsprozeß auf der Ebene der Weltgesellschaft aus institutionellen und interpersonellen Bindungen auch herauslöst, kann man heute Kommunikationen beisteuern, ohne sich in die betreffende disziplinäre Gemeinschaft involvieren zu wollen. Aber das ist dann Interdisziplinarität (als persönliche Weise des sich Orientierens) und setzt voraus, daß man ein Spezialist für etwas anderes ist und gerade dank dieser Eigenschaft in einem fremddisziplinären Zusammenhang etwas mitzuteilen hat.

II. Die problematische Figur des Spezialisten und ihr Verhältnis zu Umbauten auf der Ebene der Wissenschaft als System soll hier näher betrachtet werden. Damit man ein Spezialist sein kann, muß man es sein dürfen und man muß es 2 | Siehe die Beschreibung einer solchen Situation am Bei spiel der auf dem Land lebenden, in den Professionen arbeitenden externen Mitglieder der Bayerischen Akademie im 18. Jahrhundert bei Kraus 1978, 63. 3 | Daß man jedem Mann nur einen kleinen Teil der Wissen schaf ten zugewiesen hat, ist für Albrecht v. Haller der eigent liche Nutzen der Akademien. (Brief vom 20. 4. 1775 in: Fischer 1899, 84). 4 | Ampère 1856, 95.

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sein wollen und schließlich muß man in der Lage sein, der eigenen Existenzform eine plausible Deutung und Darstellung zu geben. Es gibt also ungesicherte normative, motivationale und legitimatorische Voraussetzungen, die vermutlich gerade im Prozeß der erstmaligen Durchsetzung wissenschaftlicher Spezialisierung nur gesichert werden können, wenn es gelingt, ›Spezialisierung‹ in gesellschaftliche Deutungszusammenhänge einzurücken, die bereits vor ihrer Verbindung mit diesem Thema semantisch hohe Plausibilität besaßen. Dieser Vermutung werde ich vor allem am Beispiel der deutschen Entwicklung nachgehen, wo sowohl disziplinäre Differenzierung wie auch individuelle Spezialisierung sich schneller wie vielleicht auch gegen geringeren Widerstand durchsetzten als dies in vergleichbaren Ländern wie England und Frankreich der Fall war. Dies sei einleitend mit einer für unsere Untersuchung späten Formulierung von Wilhelm Wundt belegt. Wundt vergleicht ebenfalls Deutschland mit England und Frankreich; er meint, daß »die gerühmte deutsche Universalität doch weniger eine individuelle als eine collective Eigenschaft« sei und er schließt daraus, »daß unsere Gelehrten, im Besitz ihrer sicheren Aufgaben, sich für ihre Zwecke an der praktischen Arbeitstheilung genügen lassen, die thatsächlich eingetreten ist und sich bewährt hat«5. Die Frage wird im folgenden sein, welche semantischen oder Denkvoraussetzungen dieser hier am Ende des 19. Jahrhunderts bereits zur Selbstverständlichkeit gewordene Sachverhalt der Spezialisierung hat, wobei die kausale Relevanz solcher Denkvoraussetzungen eventuell davon abhängt, daß sie nicht eigens für das von ihnen formulierte Problem erfunden worden sind. Die sozialgeschichtlich vermutlich wichtigste normative Restriktion für die Zulässigkeit gerade gelehrt-wissenschaftlicher Spezialisierungsprozesse findet sich in der europäischen Literatur über Standeserziehung vom 16. bis 18. Jahrhundert immer wieder formuliert. Hoher ständischer Status wurde als inkompatibel mit Spezialisierung gedacht, weil spezialisierte Kenntnisse weder auf die Handlungserfordernisse einer im späteren Leben mit ›Befehlen‹ befaßten Person vorbereiten noch für eine in ›Konversation‹ eingebettete Lebensführung eine angemessen breite Kompetenzgrundlage bieten; und schließlich wurde auch gern darauf verwiesen, es könne jemand, der nur eine Sache besonders gut beherrsche, leicht mit einem ›Bauers-Kind‹ verwechselt werden, weil eine solche Sonderbegabung auch bei standesniederen Leuten häufig vorkomme6. In einer bereits sehr abgeschwächten Formulierung beschreibt Moser 1743 die typischen Erwartungen an Rechtsstudenten: ›größere Weitläufigkeit‹ für die Standesperson und ›größere Solidität im einzelnen‹ für den ›Privatmann‹7. 5 | Wundt 1889, 28. 6 | Das letzte Argument bei Weise 1685, 23, der seiner seits einen französi schen Autor referiert. 7 | Moser 1743, 130f.

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Hier liegen massive Restriktionen auf die Möglichkeit von Spezialisierungsprozessen, die eine Person von Stand – wie es Condorcet beinahe erfahren hätte – lange noch hindern konnten, Wissenschaftler zu werden. Der Abbau dieser Restriktionen kann in diesem Argument nicht im einzelnen analysiert werden. Es läßt sich aber soviel vermuten, daß die immer vorhandene Tendenz der europäischen Universität, eine gewisse Suspension von Standesansprüchen nahezulegen, und die im Vergleich zum Ausland weit stärkere Neigung der deutschen Universität, in mancher Hinsicht sogar standesnivellierend zu wirken8, auch für die Differenzierungsgeschichte der Wissenschaft in Deutschland eine sie beschleunigende Rolle gespielt haben dürfte. Hinzu kommt der semantische und der Nachfragedruck, der von einer Welt der Berufe ausgeht, die sich außerhalb von Wissenschaft und Universität und neben der ständischen Ordnung formiert und die zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz und Wahl des Berufs erlebt wird9 und im übrigen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vollzug von ›Arbeitsteilung‹ reflektiert wird10. Es ist durchaus bezeichnend, wenn Vorschläge, die im späteren 18. Jahrhundert auf eine Spezialisierung der Lehrstuhlausstattung an Collèges und Universitäten drängen, dies mit dem expliziten Blick auf die Vielzahl der im Kommerz und den Künsten entstehenden Berufe tun11. Ähnlich wie dies für die Wahrnehmung der Berufswelt gilt, wird parallel im 18. Jahrhundert auch die Wahrnehmung der Bevölkerung umstrukturiert. Die immer schon erwünschte große Zahl der Bevölkerung wird zunehmend nicht mehr als unstrukturierte Quantität und als solche vor allem als militärisch relevant gesehen; sie wird vielmehr als Verschiedenheit gesellschaftlich verfügbarer ›Mittel‹ und als Chance der Verteilung der Verrichtungen erlebt12 und insofern über ›organische Solidarität‹ und Spezialisierung gedacht.

8 | Vgl. zu diesem Thema Stichweh 1987, Abschnitt II, 3; ders. 1991, Kap. IV, 4, und XVI, 2. 9 | Schon Seckendorff 1655, 330, registriert, wie sehr in Deutschland die Neigung des Kindes und ›begebende Fälle und gelegenheiten‹ die dem Kind zugemessene Erziehung bestim men. Fichte favorisiert später dann den Berufs begriff gegenüber der Vorstellung eines Berufsstandes, weil sich mit er sterem die Freiheitsvorstellung verbinde – siehe dazu LaVopa 1986, 256. Vgl zu ›Beruf‹ Conze 1972, 496-503. 10 | Zur Semantik von ›division of labor‹ siehe in struktiv Gelfand 1976, insb. 531-536. 11 | So etwa Rolland d’Erceville 1768, 114-118. 12 | Siehe Beispiele bei Osterloh 1970, insb. 43 u. 98 (Son nenfels/ Wolff). Vgl. Stichweh 1991, Kap. V, 5.

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III. Wie überhaupt konnte das Nachdenken über Wissenschaft im 18. Jahrhundert eine Differenzierung der Wissenschaft und eine Spezialisierung der Gelehrten/ Wissenschaftler beschreiben? Für das Problem der Differenzierung oder besser der Klassifikation der Wissenschaften scheint es zwei dominante Denkmodelle gegeben zu haben. Das eine ist die seit Bacon und dann D’Alembert zumindest in England und Frankreich vorherrschende Neigung, eine Mehrzahl menschlicher Verstandes- oder Erkenntnisvermögen zu unterscheiden (meist: Gedächtnis, Verstand, Einbildungskraft) und diesen die Wissenschaften und Künste zuzuordnen als jeweils durch den Primat der Ausübung eines dieser Erkenntnisvermögen bestimmt. Hume spricht an einer Stelle von einer ›mentalen Geographie‹ und betont, wie wichtig es sei, die verschiedenen Operationen des menschlichen Geistes zu ordnen und zu unterscheiden, während eine vergleichbare klassifikatorische Anstrengung, die sich auf die externen Sinnesobjekte richte, wertlos sei13. Die Korrespondenz von mentaler Geographie und Geographie der gelehrten Welt legt es nahe, auch die einzelnen Wissenschaftler diesen Unterscheidungen, die an ihrer Verstandesausstattung gewonnen sind, zuzuordnen, also Personen unter dem Gesichtspunkt zu analysieren, daß an ihnen jeweils eine dieser Verstandesfähigkeiten besonders ausgeprägt ist und dies ihre Eignung für eine spezielle Wissenschaft begründet14 . Auf diese Weise gelangt dann auch das 18. Jahrhundert zu einer Zuordnung von Einteilungsprinzipien für die Wissenschaften zu einer möglichen Gliederung des gelehrten Personals15 – nur, daß dies im Unterschied zur Situation des 19. Jahrhunderts eine primär semantische Operation ist, und das schon allein deshalb, weil Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Ausstattung von Personen mit Verstandesvermögen sich vermutlich kaum eignen, als katalytische Momente zu dienen, die die Genese eines Sozialsystems anstoßen. Das zweite – in Deutschland dominante – Denkmodell für die Differenzierung oder Klassifikation der Wissenschaften trifft Unterscheidungen nach der Form des Umgangs mit Erkenntnissen. Ein Interesse an Erkenntnis kann sich entweder auf Erkenntnis einzelner Dinge = Faktenerkenntnis richten, oder es kann versuchen, Sachverhalte aus ihren Gründen und Ursachen zu verstehen, oder sich schließlich für Klarheit, Gewißheit und definitorische Bestimmtheit

13 | Hume 1748, 13. Wenig später sollte sich diese Bewertung umkeh ren, und in der Folge werden die binären Klassifi ka tionen der Natur ge schichte para digmatisch für die Form der Be schreibung der Verschiedenheit der Wissen schafts gebie te. 14 | Siehe Huarte 1752 (zuerst 1575), der seinerseits Bacon beeinflußt hat. Zur deutschen Huarte-Rezeption siehe Franz bach 1968 und Kühlmann 1982, 340f. 15 | Vgl. D’Alembert 1751, 100.

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interessieren16. Geschichte, Philosophie und Mathematik sind die Namen dieser drei Erkenntnisformen, die man im übrigen auch auf basale mentale Operationen (im menschlichen Erkenntnisvermögen) beziehen kann, worauf sich aber nicht eigentlich das Interesse dieser Tradition richtet. Da im Prinzip jedes ›materiale Object‹ der Erkenntnis unter Gesichtspunkten jeder dieser drei Erkenntnisformen behandelt werden kann17, hat diese Denktradition keinen unmittelbaren Bezug zur Spezialisierung der Gelehrten. Es handelt sich eher um eine Stufenordnung der Erkenntnis, die Personen vielfach danach evaluiert, ob sie philosophischer Einsicht fähig sind oder sich mit historischer Kenntnis einer Sache begnügen müssen. Die ganze Vielfalt menschlicher Erkenntnisobjekte wird dann letztlich im zentralen Gebiet der Philosophie gesammelt18, und die Erklärungsgewißheit des Philosophen, wie sie bei Christian Wolff selbstbewußt formuliert wird, gibt zu spezialisierender Beschränkung – zumindest in der Form einer für wissenschaftliche Erkenntnis geltenden Norm – wenig Anlaß. Man muß an dieser Stelle daran erinnern, daß Plädoyers für Spezialisierung bis ins 18. Jahrhundert hinein mit der nach dem Sündenfall gegebenen Schwäche des menschlichen Verstandes argumentierten19, und die Neuansätze an der Wende zum 19. Jahrhundert werden dann in der Lage sein müssen, eine spezifische Unbegrenztheit gerade auch des Menschen und Spezialisierung in einer Begründung vereinen zu können. Beide hier vorgestellten Denkmodelle fallen schließlich derselben Kritik anheim: sie trennen etwas, was in jeder wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit immer nur verbunden vorkommt. So etwa Dugald Stewart 1815 gegen D’Alembert: »the three faculties to which he refers the whole operations of the under standing are perpetually blended together in their actual exercise, insomuch that there is scarcely a branch of human knowledge which does not, in a greater or less de gree, furnish employment to them all« 20.

16 | Vgl. näher Stichweh 1984, 14-31. 17 | S. etwa Wolff 1735, 598ff. 18 | Nur wenige Erkenntnisobjekte sind der zusätzlichen Gewißheit einer ›mathematischen Methode‹ zugänglich. 19 | Siehe etwa Huarte 1752 in ›Der Verfasser an den Leser‹ (n.p.): »da das menschliche Genie so schwach und einge schrenckt und nicht mehr als zu einer Sache aufgelegt ist, so habe ich allezeit geglaubt, daß es kein Mensch in zwo Künste zur Vollkommenheit bringen könne, ohne in einer zu fehlen« (Hervorhebung bei Huarte). 20 | Stewart 1815, 9. So auch Bentham 1816, 74, der zusätzlich (S. 74-76) eine Liste von 17 unterscheidbaren Verstandesvermögen präsentiert, um das Argument auch mittels seiner Überspezifikation zu erschüttern. Vgl. auch Wundt 1889, 6.

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Parallel zu diesem Argument setzt sich eine Präferenzverschiebung durch, die statt dreistelliger Systeme binäre Klassifikationen benutzt (Ampère, Spencer, Bentham). Diese neue Option kann, wie es etwa Bentham tut, auf Pierre Ramée zurückgreifen21, sie ist im übrigen naturgeschichtlich (Linné) beeinflußt, und sie ist vermutlich durch die wahrnehmbar werdende Dezentralität der Wissenschaft und den Abbau einer hierarchischen Gesellschaftsordnung mitbestimmt. Streng binäre Klassifikationen zahlen aber, wie bei den zitierten Autoren leicht zu sehen ist, für ihre szientifische Rigorosität den Preis der Irrealität: sie verlieren jeden Kontakt zu den Kontingenzen realer Differenzierung und Spezialisierung. Epistemologisch folgenreicher und wohl auch der Wirklichkeit der Wissenschaft näher ist die Deutung, die in Deutschland nach 1782 die ternäre Ordnung Geschichte, Philosophie, Mathematik ablöst22 . Ähnlich wie oben bei Stewart und Bentham, aber viel bewußter, fungiert Einheit hier als der entscheidende Begriff. Dort, wo man bisher verschiedene Erkenntnisquellen (Sinnenkenntnisse, Vernunfterkenntnisse) unterschieden hatte, ordnet man jetzt diesen die Einheit einer ›Erkenntniswurzel‹ (die »Erkenntniskraft des menschlichen Geistes«) vor23, oder man relativiert eine früher vorgenommene Einteilung nach ›empirisch, rational und empirisch-rational‹ mit Bezug auf die »Einheit des menschlichen Erkenntnisvermögens«, die die Bedingung der Mitteilbarkeit im Reich der Wissenschaften sei24 . Einheit (des Erkenntnisvermögens) ist aber nicht nur die Gemeinsamkeit am Grunde aller Wissenschaften, systematische Einheit wird auch zum Definiens jeder einzelnen Wissenschaft für sich und damit von Wissenschaft überhaupt, und Einheit löst in dieser Stellung apodiktische Gewißheit und kausale Ursachenerkenntnis als die beiden klassischen Definitionsvorschläge für Wissenschaft ab25. So kann dann beispielsweise ein Geograph postulieren, daß auch »Inbegriffe von Erfahrungskunden«, sofern sie nur »in systematischer Einheit als ein Ganzes« abgefaßt sind, Wissenschaften sind26. Einheit hieß nun aber nicht Ununterschiedenheit der Wissenschaften, obwohl diese Position in der Romantik vorkam. Genauso wie Einheit epistemologisch gegen Mannigfaltigkeit gesetzt war, gilt wissenschaftstheoretisch, daß Einheit als Leitbegriff für Wissenschaft überhaupt auf die auseinanderstrebende Vielfalt der Wissenschaften reagierte und der sichtbar werdenden dezentralen Struktur 21 | Bentham 1816, 102ff. 22 | Wie diese empirisch – durch die Realität einer Wissen schaft wie der Experimentalphysik – unterlaufen wird, wird in Stichweh 1984, 14-31, et passim, betont. 23 | So etwa Jäsche 1816, 1ff. Die frühere Bestimmung in Jähsche (derselbe Autor) 1795, 332ff. 24 | So sich selbst revidierend Krug 1805, 23f. 25 | Siehe McRae 1961, 128f. 26 | Fabri 1808, 52.

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von Wissenschaft, die sich keiner hierarchischen Ordnung mehr fügte, Rechnung zu tragen versuchte. Bezeichnend ist, daß man gelegentlich die Begriffe Freiheit, Einheit und Abwesenheit von Rangordnung zusammengestellt findet. So etwa bei Samuel Simon Witte 1794: »die Wissenschaften freye Wirkungen des Verstandes sind, die mit jeder Unter drückung der Freyheit ihren Werth verlieren würden und wegen der Einheit des Verstandes und der Vernunft, woran sie alle hängen, keinen Vorrang gestat ten« 27.

IV. Was hat dies nun mit Spezialisierung zu tun? Die Antwort auf diese Frage muß, um von Spezialisierung – und d.h. von den Optionen, die sich für Personen ergeben – sprechen zu können, den Weg über den Bildungsbegriff wählen. Ich will dies an einem Beispiel einführen. Karl Friedrich Burdach unterscheidet 1809 die Wissenschaft von der ›Kunde‹ (i.e. der ›Geschichte‹ des 18. Jahrhunderts28) durch das »Princip der Einheit«. Die zur Kenntnis/Kunde des Mannigfaltigen hinzutretenden synthetisierenden Leistungen seines Verstandes kann der Mensch, der mit Wissenschaft befaßt ist, aber nicht von außen erwerben, und er kann also, wenn diese für Wissenschaft konstitutiv sind, die Wissenschaft »nicht erlernen, nicht von aussen empfangen, denn sonst ist sie bloss Kunde der Wissenschaft; sondern jeder muss sie in sich selbst zeugen und erfin den, und Unterricht in der Wissen schaft ist bloss Erregung des Geistes dazu« 29.

Die Umstellung von ›Erziehung‹, ›Nachahmung‹, ›Einprägung‹, ›Unterricht‹ und den an diese älteren Begriffe geknüpften Transportvorstellungen für die Genese von Fähigkeiten auf die Vorstellung, daß eine individuelle Einheit, die sich ent27 | Witte 1794, 26 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch Fried länder 1844, 48, der ›Freiheit des Geistes‹ als Aus gangs punkt aller Wis senschaft bestimmt und nach der Möglichkeit eines Zusammenhanges der Wissenschaften unter dieser Voraussetzung fragt: »Daß die einzelnen Wissen schaf ten unter sich im engsten Verbande stehen, wird wol kein Vernünftiger ver abreden. Die Gränze der einen ist der Anfang der andern. Von einem Rang verhältnisse unter ihnen kann umso weniger die Rede sein, da ihnen ja eine gemeinsame Aufga be, Vollkom menheit nach Innen und Au ßen, gestellt ist, die sie freilich nach ihrer Art zu lösen stre ben.« Vgl. dagegen noch Jähsche 1795, 328f., der die Grenzbe stimmung einer Wissen schaft deshalb vor nehmen will, um Auf schlüsse über ihren Rang zu erhalten. 28 | Vgl. zu diesem Geschichtsbegriff Seifert 1976. 29 | Burdach 1809, 8 (Hervorhebung von mir).

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wickelt und verändert, dies immer nur im Selbstbezug tun kann, daß jede Rezeptivität notwendigerweise Aktivität ist, diese Einsicht ist die spezifische Leistung der Bildungsidee als Entwicklungstheorie30, die sich an der gerade zitierten Stelle unproblematisch mit der Einheitsidee der Wissenschaft verknüpft31, weil auch diese ein Bewußtsein voraussetzt – und sei es auch ein transzendentales Subjekt. ›Bildung‹ war im übrigen nicht monologisch gemeint. Ihre spezifische Wirkung in den Institutionen der Wissenschaft hat sie gerade über Veränderung und Steigerung der Anforderungen an den Dialog (oder Vortrag) erreicht. Der Einsicht, daß es immer nur die Eigenaktivität des Anderen ist, die man anregen kann, tritt bald das Postulat hinzu, daß eine Eigenaktivität nur durch eine andere Eigenaktivität angeregt werden kann, man also beispielsweise dem Studenten nichts darbieten darf, das für einen selbst nur fremd, weil umstandslos von anderen übernommen ist32 . Zwischen den beiden Seiten eines Dialogs liegt jetzt Freiheit (des Auffassens); und jede Kommunikation unter der Bedingung von Freiheit steigert immens die Anforderungen an den, der etwas mitteilen will33. Freiheit ist überhaupt die heimliche Leitidee von Bildung. Ohne dies hier ausführen zu können, möchte ich vermuten, daß der Einfluß der Bildungstheorie um und nach 1800 sich wesentlich der Tatsache verdankt, daß sie quasi als Gesellschaftstheorie fungiert hat und daß sie als solche ein universalistisches theoretisches Lösungsangebot für alle Fragen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft formuliert hat. Dieses Deutungsangebot war zudem in dem Sinne adäquat, als es unter den spezifisch deutschen Verhältnissen die einzige Möglichkeit bot, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf eine Weise zu denken, die mit der Möglichkeit von Freiheit kompatibel war. Freiheit gab es dann als gelebte Freiheit zumindest in den Institutionen der Bildung und im übrigen als jene innere Freiheit, die der Bildung verdankt wird und die gegen eine widerständige, weil restriktive Welt stabilisiert werden soll34 .

30 | Siehe Herder 1774; ders. 1785. Zu Herder siehe Vierhaus 1972, 15ff. 31 | Vgl. etwa Jäsche 1816, 1-6 zu ›Einheit einer Erkennt nis wurzel‹ und ›Bildung zur Humanität‹ als den Einheits prinzipien der Wissen schaften. 32 | So etwa Wucherer 1813, 14f.: es »wird das nachgespro chene Wort, gleich dem Echo der Felsenwand, am gegen überstehen den Felsen sich brechen, und verhallen, ohne irgend einer Wirkung kenntliche Spur zurückzulassen.« 33 | Siehe etwa Thilo 1809, der aus der Tatsache der Freiheit, die zwischen Universitätslehrer und Student liegt und die zunächst akademische Freiheit ist, den Bedarf für eine Theo rie des akademischen Vortrags und für eine Kunstlehre der Darstellung ableitet, welche dazu ver helfen sollen, »durch Gewinnung eines freien Einflusses auf den Geist, den Verlust der äussern Gewalt erset zen« zu können (20f.). 34 | Vgl. Stichweh 1987 und Rosenkranz 1844, insb. 740.

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V. Das, woran sich ein Bildungsprozeß vollzieht, das Subjekt einer jeden Bildung ist natürlich immer ein Individuum35, und die Bildungstheorie gelangt zu einer Universalisierung von ›Bildung‹, d.h. zu einer Ausdehnung der Anwendbarkeit des Begriffs auf Entitäten, die nicht Personen sind, durch eine entsprechende Universalisierung des Sinns von ›Individuum‹. Schon und gerade bei Herder ist ein Individuum nicht fraglos eine Person, sondern die Bedingungen von Individualität können von einer Sprache, einer Nation, einer Kultur oder einem Staat gleichermaßen erfüllt werden. Individualität wird dann durch zwei weitere Charakterisierungen näher bestimmt, und diese werden in der Folge wichtig für das semantische Umfeld der Akzeptation von Spezialisierung. Ein Individuum wird erstens gerade in seiner Einzigartigkeit geschätzt, die also nicht als partielle und deshalb irrelevante Besonderung abgetan wird, vielmehr gerade das an ihm ausmacht, was es nur bei ihm und sonst in der Welt nicht mehr gibt. Herder sieht die Individualität beispielsweise einer Sprache in ihren »Idiotismen«, womit er jene Schönheiten einer einzelnen Sprache meint, für die prinzipiell gilt, daß sie »kein Nachbar durch eine Uebersezzung entwenden kann, und die der Schutzgöttin der Sprache heilig sind«36. Das Argument wiederholt sich für andere Arten von Individuen. So heißt es in Herders Auslegung der Propheten des Alten Testaments, man müsse jeden der Propheten einzeln und solange lesen, bis man gleichsam in ihm wohne und sich der »innere Idiotismus Eines Schriftstellers« erschließe, der Herder wiederum als ein Heiligtum gilt37. Wahrscheinlich ist es für diese Deutung von Individualität als Einzigartigkeit wichtig, daß auch ›überindividuelle‹ Einrichtungen als Individuen gesehen werden. Darin liegt die Möglichkeit, die zumindest eine Denkmöglichkeit ist, daß Individualität in Institutionen nicht rückstandslos verschwindet, vielmehr Institutionen eine individuelle Form aufgeprägt werden kann. Samuel Eck formuliert diesen Sachverhalt 1908 mit Bezug auf Schleiermachers Vorstellungen: »Es gibt keine allgemeingil tigen, für Alle durchaus gleichen Ideale von Freund schaft, Ehe, Familie, Staat. Das Ideal ist gerade dieses, daß jeder Freund schaftsbund, jede Ehe und Familie, jeder Staat sein besonderes, von innen heraus eigentümlich gestaltetes Leben habe und füh re« 38 .

35 | Siehe zu Individualität: Luhmann 1981, insb. 146ff., 248ff; ders. 1982; Dumont 1983; ders. 1985. 36 | Herder 1767, 162. 37 | Siehe Sehmsdorf 1971, 26. 38 | Eck 1908, 39.

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Der entscheidende nächste Schritt ist dann die Überlegung, daß eine über Einzigartigkeit beschriebene Individualität ein Verhältnis zum Ganzen der Welt besitzt und begründet. Bei Humboldt beispielsweise findet sich die Formulierung, daß einer jeden Sprache eine Weltansicht eigen sei39. Offensichtlich generiert Einzigartigkeit eine Art Beobachtungschance, die auf alles andere zuzugreifen erlaubt, ohne daß die Identität eines Individuums gefährdet wird. Häufig werden die sachlichen Voraussetzungen für diese Rekombination der Welt im Individuum in einer Mischungstheorie formuliert: die Welt oder die Menschheit besteht aus einer Zahl von Elementen, und jedes Individuum bietet, wie es Schiller sagt, eine ›veränderte Mischung‹ dieser Elemente, die aber hinreichend komplex ist, um das Gesamt der Welt im Individuum anschaubar zu machen40. In dieser Denkfigur kommen Einzigartigkeit, eine Fülle der Elemente, die weltadäquate Komplexität sichert, und schließlich die Rekonstruierbarkeit aller übrigen Weltgehalte mittels dieser Voraussetzungen zusammen. Vermutlich hängt diese Denkfigur als Theorie letztlich davon ab, daß sie sich die Zahl der Elemente als unendlich vorstellt oder über Emergenz unendliche Möglichkeiten entstehen sieht. Zumindest formuliert es Schleiermacher so: »[…] daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles, was aus ihrem Schosse her vorgehen kann« 41 .

Systematisch betrachtet ist dann noch Folgendes wichtig: es war genau diese These einer eigenständigen Weltansicht oder eines Weltverhältnisses eines jeden Individuums, die es erlaubte, Spezifikation und Universalismus als in der Figur des Individuums miteinander kompatibel zu denken42.

39 | Vgl. zu den Voraussetzungen Leventhal 1986, 252. 40 | Schiller 1795, 15f. Schiller sieht diese Leistung allerdings in seiner Zeit als gefährdet oder nicht mehr gewährleistet. Er glaubt nur noch ›Bruchstücke‹ wahrnehmen zu können, während das Griechentum noch ›veränderte Mi schun gen‹ hervorgebracht habe. Kon sequent diagnosti ziert er, daß in der Jetzt zeit ein zelne Menschen auf einzelne Gemüts kräfte spezia li siert seien. 41 | ›Monologen‹ 1800, 40, zit.n. Eck 1908, 35. 42 | Man mag versucht sein, in dieser Formulierung des Zusammenhanges von Individualität und Weltverhältnis eine Antizipation einer Sy stem/Umwelt-Theorie wahrzunehmen. Parallel dazu kann die Bildungs theorie unter dem Ge sichts punkt be schrieben werden, daß sie der Sache nach allen Im plikatio nen einer Theorie der Autopoiesis Rechnung trägt.

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VI. Die bisherigen Abschnitte haben eine Reihe von Komponenten eines semantischen Feldes beschrieben, die dazu beitragen konnten, eine persönliche Option für wissenschaftliche Spezialisierung, die sich im übrigen auch aus ›empirischen‹ Gründen – i.e. Gründen der Verfaßtheit zeitgenössischer Wissenschaft – aufdrängte, normativ und motivational zu entproblematisieren oder sie sogar nahezulegen. Wesentlich war vermutlich folgender nächster Schritt: Auch eine einzelne Wissenschaft ist natürlich ein Individuum und hat als solches ein Weltverhältnis, was zunächst meint, ein Verhältnis zum Ganzen der Welt der Wissenschaft. Diese Überlegung wird in einer juristischen Enzyklopädie von 1847 sehr präzise formuliert: »Jede Wissenschaft hat ihr eigenthümliches Wesen, wodurch sie ein Indivi du um wird, ein für sich bestehendes Glied. Ein Individuum kann aber nie gedacht werden ohne ein Ganzes, ohne ein Universum, denn sonst büßt es sein ei genthümliches Wesen ein, wodurch es zum Individuum wird. Die ein zelnen Wissenschaften haben daher ihre Existenz in dem Vereine der Wis senschaften. […] Das Ganze aber ist nichts von den einzelnen Getrenntes, sondern diese innere Wechselbeziehung selbst, diese Ge sammtheit der Erscheinungen, worin kein Individuum ohne das andere ist« 43.

Zwei weitere Denkentwicklungen komplettieren dieses Bild. Einmal kann man das Verhältnis der Wissenschaft zum Ganzen noch ausgedehnter denken, und es wird dann zum Weltbild, d.h. zu der Vorstellung, daß die Gesamtheit der Wissenschaften oder sogar eine einzelne Disziplin sich auf der Basis dessen, was sie erkennen, in ein produktives Verhältnis zum Gesamt menschlichen Auffassens der Welt setzen können. Das Postulat eines wissenschaftlichen Weltbildes oder beispielsweise auch jene Kühnheit der Physiker, die im Übergang zum 20. Jahrhundert zunehmend eine spezifische Weltbildfähigkeit ihrer Wissenschaft reklamierten44, hat also einen Hintergrund in der Individualitätsvorstellung und in deren Ausdehnung auf Wissenschaft und Disziplin. Ein Zweites ist die Unendlichkeitsvorstellung, die natürlich auch für Wissenschaft schnell überzeugt. Man kann dies in den Wissenschaftsklassifikationen nachvollziehen, wo beispielsweise Jeremy Bentham 1816 die im Begriff der Enzyklopädie liegende Metapher eines Kreises (en-kyklios-paideia), die man beispielsweise wegen ihres nichthierarchischen Charakters anderen Bildern vorziehen mochte, erstmals deshalb kritisiert, weil sie Limitiertheit (die des Kreisumfangs) signalisiert. Bentham schlägt alternativ einen Feldbegriff vor, der Unbegrenztheit nahelegt

43 | Friedländer 1847, 49. 44 | S. zum Verhältnis von Physik und Weltbild Stichweh 1994, Ab schnitt VI.

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und im übrigen erlaubt, wechselseitige Durchdringung verschiedener Felder (›thought/action‹ und ›art/science‹) zu denken45. Es scheint plausibel, daß eine auf diese Weise als individualisiert, weltbezogen und unendlich gedachte Wissenschaft zum Bezugspunkt für eine Person werden kann. Vielleicht die klassische Formulierung hat hier Wilhelm v. Humboldt gefunden, der zugleich auf instruktive Weise das Verhältnis zur Tradition des 18. Jahrhunderts verdeutlicht, die ja oft die einzelne Person als mit einer bestimmten Verstandeskraft ausgestattet dachte. Für Humboldt stellt sich dies als Einseitigkeit der Person dar und zugleich fürchtet er die Zerstreuung der Person in der Vielzahl von Gegenständen, mit denen sie sich befaßt. Diesen miteinander verbundenen Gefahren von Einseitigkeit und Zerstreuung entgeht der Mensch nur, wenn er »statt der Gegenstände, auf die er wirkt, die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt«46. Universalität der Ausbildung (aller Kräfte) einer Person wird also nur durch Übung an einem spezifischen Gegenstand möglich, der sich als Gegenstand aber nur eignet, wenn er die oben beschriebenen Attribute (hinsichtlich Weltbezug etc.) besitzt. Dies ist der Ausgangspunkt der das ganze 19. Jahrhundert bestimmenden These der formal bildenden Qualität einzelner wissenschaftlicher Fächer. Nicht der Umfang der Kenntnisse, sondern der Geist des Umgangs mit ihnen sichert dem Individuum ein Verhältnis zur Welt. Schillers Formel aus seiner Jenaer Antrittsvorlesung, »Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Kopf. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen[…]«47, wurde das ganze 19. Jahrhundert hindurch unzählige Male wiederholt. Heinrich von Sybel beispielsweise hat 1868 die Fähigkeit, jede Spezialbildung als allgemeine, formale Bildung zu erweisen und sie in dieser Auffassung zu betreiben, als das unterscheidende Charakteristikum der deutschen Universität bestimmt48. Diese neuhumanistische Semantik der Spezialisierung wird schon, bevor sie im Einzelfall motivational auch versagen kann, durch eine ethische Begleitsemantik gestützt, wie sie für die Bildungstheorie klassisch dann im ›Wilhelm Meister‹ aufgenommen wurde. Um die Motivlage in einer charakteristischen Wendung vorzustellen: Gottlieb Schlegel schreibt 1790, jeder ergreife »einen Zweig der Gelehrsamkeit, mit welchem er im männlichen Alter für seine Mitbürger Früchte 45 | Bentham 1816, 73 – dies ist vor dem Feldbegriff der Physik. Vgl. auch Carl Stumpfs Wellentheorie: »Die Gegenstände der Wissenschaften liegen nicht wie konzentrische Kreise um einen einzigen Mittelpunkt, sondern bilden mehrere Wel lensysteme, die von selbständigen Mit telpunkten ausge hend sich schnei den« (Stumpf 1907, 88). 46 | Humboldt 1792, 22. Siehe dazu, wie überhaupt zu ›Bildung und Ar beitstei lung‹, Pascal 1962. 47 | Schiller 1789, 260. 48 | Sybel 1868, 45.

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bauen will49 . Männlichkeit/Erwachsenwerden und die Erwartung einer Dientleistung für andere sind die beiden wichtigen Themen, an denen deutlich wird, daß es hier um moralische Begriffe geht, die das Verhältnis betreffen, das man zu sich selbst und zu anderen unterhält. Dieses Denken findet seinen immer wiederkehrenden Zentralbegriff in dem der Pflicht, der ja auch die Individualitätssemantik begleitet hat. Das, was den Prozeß der Bildung eines Individuums und der Ausbildung seines Weltverhältnisses von Selbstgenuß unterscheidet, ist, daß auch Individualität normative Erwartung und spezifischer noch Pflicht ist. Man muß realistisch davon ausgehen, daß schon sehr bald im 19. Jahrhundert in ausdifferenzierten wissenschaftlichen Disziplinen Spezialisierung motivational kein Problem mehr war. Spezialisierung ist dann ein so selbstverständliches Resultat wissenschaftlicher Sozialisation und eine so selbstverständliche Bedingung der Partizipation, daß der ganze Begründungsaufwand seinen Wirkungsschwerpunkt auf die Seite der nachträglichen Außendarstellung der Wissenschaft verschiebt50. Dies war natürlich nicht rückstandslos so, und man muß sinnvollerweise annehmen, daß die Bildungs- und Individualitätssemantik für deutsche Wissenschaftler im 19. Jahrhundert und darüber hinaus in vielem verhaltensbestimmend blieb. Aber zugleich taucht ein in dieser Schärfe neues Problem auf: daß der Wissenschaftler mit einer Tätigkeit befaßt ist, die für ihn selbstverständlicher wird, während sie zugleich für andere unselbstverständlicher wird, so daß er in der Außendarstellung weiterhin Formeln benutzen wird, die im Selbstbezug eventuell weniger wichtig geworden sind. Vielleicht sollte man abschließend registrieren, daß die Ermöglichung von Spezialisierung natürlich ein prominentes Opfer gefordert hat. Dies ist die Philosophie. Ich will hier noch einmal Alexander Friedländer zitieren, der die Bedingungen dafür spezifiziert, daß eine Wissenschaft als ein Individuum ein Verhältnis zum Ganzen hat, was ja nur möglich ist, wenn dieses Ganze nicht eine von den Individuen separierte Entität ist. Wie also entsteht dieses Verhältnis zum Ganzen: »Nicht dadurch […], daß sie (die Wissenschaften) sich in einem Dritten – der Philoso phie -«, die eine solche separierte Repräsentation des Ganzen war, »auflösen und als Individuen ver nichtet werden, sondern dadurch, daß sie als solche nach ihren eigenen Gesetzen vereiniget wer den. – An die Stelle der Philosophie tritt daher das Zusammenwir ken der besonderen Wissen schaften« 51.

49 | Schlegel 1790, 4. 50 | Siehe das Beispiel zur ›Konjekturalkritik‹ bei Turner 1983, 475. 51 | Friedländer 1847, 49.

9. B ILDUNG , I NDIVIDUALITÄT UND DIE KULTURELLE L EGITIMATION VON S PEZIALISIERUNG

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10. Die Einheit von Lehre und Forschung I. Die Geschichte der europäischen Hochschulerziehung kennt zwei einander ablösende Modelle für die Interrelation von Hochschullehrer und Student in ihrem Verhältnis zu Wissen. Das Denken und die Praxis der frühen Neuzeit waren konzentriert auf das Lehren und das Lernen von Wissen. Wissen, das gelehrt werden soll, muß zunächst gesammelt, memoriert, systematisiert und aktiv aufrechterhalten werden (gegen die Korruption der Texte, die Unverläßlichkeit des Gedächtnisses etc.). Für diese wissenssystematisierenden Leistungen gab es in der frühen Neuzeit zwei verschiedene Begriffe, je nachdem, welche der beiden Seiten in der Rollendifferenz von Lehre und Lernen gemeint ist. Für die Seite der Lehre ist ›doctrina‹ der die Systematik des Wissens bezeichnende Begriff, für die Seite des Lernens ›disciplina‹. Auch wenn diese Formen aktiven Umgangs mit Wissen zu dessen Aufrechterhaltung unverzichtbar waren, so wurde andererseits doch unterstellt, daß Wissen konsensuell bekannt ist. Das vorhandene Wissen ist nicht eigentlich diskussionsbedürftig. Man muß es sich lediglich aneignen.1 In manchen Hinsichten mag es sogar zutreffend sein, von einer Einheit von Lehre und Lernen in frühneuzeitlichen Universitäten und Kollegien zu sprechen. Schließlich ist jenes Lernen, das sich vollzieht, indem man einem Lehrer zuhört, nicht die einzige Möglichkeit. Ein deutscher Enzyklopädist weist 1706 auf die andere Möglichkeit hin: eine Person kann durch Lehren ›gelehrt‹ werden.2 Dies bezieht sich auf die Praxis einer obligatorischen Lehre, die junge Studenten betraf, die in einer der höheren Fakultäten (Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin) studierten und gleichzeitig als Lehrer in den Klassen der Artisten-

1 | Vgl. Temple 1720, 153: »[…] taking Knowledge to be properly meant of Things that are generally agreed to be true by Consent of those that first found them out, or have been since instructed in them.« 2 | Lange 1706, 10: »[…] ein vernünfftiges Subjectum, welches der Lehre fähig ist/oder durch lehren erudiret werden kann«.

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fakultät tätig sein mußten, die sie selbst gerade erst absolviert hatten.3 Diese Praxis wurde von einigen der katholischen Orden, insbesondere den Jesuiten, bis ins 18. Jahrhundert hinein fortgesetzt. In der Diskussion über die Verdienste und Nachteile jesuitischer Erziehung ist sie immer einer der großen Streitpunkte gewesen. Einige Autoren wendeten ein, der jesuitischen Erziehung scheine es darum zu gehen, die Lehrer und nicht etwa die Schüler auszubilden,4 und Antoine Arnauld fügte dieser These 1603 hinzu, es sei, wenn man sich auf junge unerfahrene Lehrer stütze, unmöglich »große Persönlichkeiten« heranzubilden.5 In einer ähnlichen argumentativen Wendung nimmt Pierre Ramus 1562 eine Korrelation zwischen der Liebe zu »großen Dingen« und den »öffentlichen« Vorlesungen der königlichen Professoren der Universität wahr, und er setzt diese erhoffte Wirkung polemisch den »privaten« Übungen in den Kollegien entgegen.6 Die auf diese Weise realisierte Einheit von Lehre und Lernen mochte im übrigen eine Disjunktion zwischen Lehre und der kreativen Produktion neuer Argumente nach sich ziehen. Arnauld notiert, daß bei den Jesuiten die bemerkenswertesten intellektuellen Begabungen die Lehrtätigkeit verlassen, da von ihnen erwartet werde, daß sie als Autoren theologischer Werke auftreten.7

II. Zwischen 1790 und 1850 formulieren in Deutschland Neuhumanismus, Romantik und Idealismus die neue Idee einer Einheit von Forschung und Lehre.Diese Idee setzt mindestens sechs fundamental neue Konzepte und Ideale voraus: 1. Einen radikal umstrukturierten Wissenschaftsbegriff; 2. ›Forschung‹ als einen neuen Begriff, der den dominanten Typus wissenschaftlichen Handelns beschreibt; 3. Vorstellungen hinsichtlich einer Unwahrscheinlichkeit der Kommunizierbarkeit von Wissen; 4. Eine Kritik des Begriffs der Erziehung – soweit dieser als ein normatives Ideal für Universitäten gemeint sein könnte; 5. Theoretische Vorstellungen über den akademischen Vortrag und über akademische Lehre; 6. Eine Präferenz für Einheit oder Einheiten – im Unterschied zur Segmentation oder Hierarchisierung von Realitätsausschnitten.

3 | Vgl. zu Studenten als ›apprentice teachers‹ Ong 1958, 88-9. 4 | Siehe Chalotais 1763, 18. 5 | Arnauld 1603, 5: »[…] ils ne laissent ordinairement en toutes leurs classes (excepté la premiere) que de jeunes hommes qui s’ap prennent plustost qu’ils n’enseignent […] que les enfans demeu rans ainsi jusques à quinze ou seize ans entre les mains de gens peu scavans, ne deviennent gueres grands personnages.« 6 | Ramus 1562, 135-9. 7 | Arnauld 1603, 6.

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1. Forschung Der Forschungsbegriff, so wie er sich im 18. Jahrhundert vorbereitet, kombiniert zwei wesentliche Voraussetzungen miteinander. Eine Präferenz für Neuheit, Erfindungen und Erweiterungen des Wissens wird ergänzt durch eine selbstreferentielle Komponente. Was auch immer jemand wissenschaftlich wissen möchte – eine jetzt geltende, an ihn gerichtete, Erwartung verlangt, daß er selbst das Subjekt der Wissenssuche ist.8 Das impliziert Aktivität und Ruhelosigkeit. Für die Möglichkeit der Teilnahme an Wissenschaft genügt es nicht mehr, ein geduldiger Beobachter oder ein aufmerksamer Zuhörer zu sein.9 Die beiden unverzichtbar gewordenen Komponenten oder Imperative des Forschungsbegriffs können in bestimmten Grenzen füreinander substituiert werden – z.B.: »Ich habe es zwar nicht selbst herausgefunden, aber es handelt sich um das allerneueste Forschungswissen« – oder alternativ: »Diese Einsichten sind zwar nicht eigentlich neu, aber ich habe sie durch eigenes Suchen (›research‹, ›re-chercher‹) erneut herausgefunden und bestätigt.« Das aber heißt zugleich, daß das klassische traditionsgestützte Argument – »Ich habe dieses Wissen nicht selbst herausgefunden, und es gab auch keinen Grund dies zu tun, da es sich um Wissen handelt, das schon seit langer Zeit bekannt ist« – in der Wissenschaft keinerlei Gültigkeit mehr beanspruchen kann.10

2. Wissenschaft Wissenschaft ist der neue Begriff für die objektive Einheit alles forschungsbasierten Wissens. Da es unablässig neue wissenschaftliche Entdeckungen gibt11 und darüber hinaus eine kontinuierliche Prüfung des bereits vorhandenen wissenschaftlichen Wissens, ist der wissenschaftliche Status allen Wissens immer nur vorläufig etabliert. Wissenschaftliches Wissen ist das temporäre Resultat selektiver Prozesse, die sich sowohl auf aktuelle Forschungsresultate wie auch auf die gelehrte Tradition beziehen. Das aber heißt, daß in manchen Hinsichten Methode wichtiger wird als Wissen und als die Resultate wissenschaftlicher Forschung. Während die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wis8 | Siehe für »eigenes Denken und Forschen« als Beschreibung eini ger, aber eben nicht aller Universitätslehrer Ulrich 1779, III, 275, 375, 383-4, 392. 9 | Humboldt 1798, 254, vergleicht »den ruhigen, klaren, männlich festen und prüfenden Blick des blossen Beobachters mit dem scharfen, durchdringen den, unruhig suchenden des eigentlichen Forschers«. 10 | Vgl. zum Forschungsbegriff Stichweh 1984, insb. 73, Fn. 125; vgl. ders. 1987. 11 | Bei Gründung der ›Königlichen Sozietät der Wissenschaften‹ in Göttingen (1751) wurden nur diejenigen Wissenschaften berück sichtigt, für die man unterstellte, daß sie »einer beständigen Erfindung fähig sind« (zit. b. Joa chim 1936, 53).

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senschaft als eine Sekte gedacht werden konnte, die der (lange schon etablierten) Wahrheit anhängt, scheint die moderne Wissenschaft einen methodengerecht zustandegekommenen Irrtum gegenüber einer dem Zufall verdankten Wahrheit zu präferieren.12 Unter diesen Umständen wird es zum Anzeichen einer gewissen Reife einer wissenschaftlichen Disziplin, wenn diese nicht länger primär daran interessiert ist, einen immer umfangreicheren Wissensvorrat aufzuhäufen, sich eher darauf konzentriert, ihre analytischen Instrumente und ihre kritische Kompetenz zu kultivieren.13 Diese selbstreflektive und selbstreferentielle Wendung in der Wissenschaftsentwicklung wäre ohne die als erste genannte Komponente des Forschungsbegriffs nicht möglich gewesen: Erst eine Präferenz für die Produktion einer immer größeren Zahl neuer Wissenspartikel garantiert ein kontinuierliches Wissenswachstum trotz zunehmender Selektivität. Dieser Trend der Wissenschaftsentwicklung hat eine unmittelbare Konsequenz für die Praxis der Universitätslehre. Wenn man diesen selbstreflektiven, methodenbasierten Charakter der modernen Wissenschaft mit zu vermitteln versucht – wie soll es dann noch möglich sein, Lehre von Forschung zu unterscheiden? Die einzige Alternative zu einer praktizierten Einheit von Lehre und Forschung scheint die Dogmatisierung einer Wissensbasis zu sein, der dieses Merkmal des Dogmatischen an sich verlorengegangen ist.

3. Übermittlung des Wissens – Kommunikation des Wissens Ist es möglich, wissenschaftliches Wissen und ein Wissen über wissenschaftliche Methoden mittels der Methoden akademischer Lehre von einem Lehrer an einen Schüler zu übermitteln? Es gab eine ältere Auffassung, die sich den Vorgang so vorstellte, daß die Information des Lehrers im Bewußtsein des Studenten dupliziert wird.14 Ein solcher Prozeß einer ungestörten Übertragung (aus einem Bewußtsein in ein anderes) ist aber mit ›Freiheit‹ nicht kompatibel, 12 | So Ritschl 1879, 27: »Besser methodisch irren, als unmethodisch, d.h. zufällig das Wahre finden.« Vgl. dazu Grafton 1983, 181. 13 | Vgl. Plessner 1924, insb. 132. Siehe auch Peters 1854, 3-9, über dogmati sche und kritische Methode: »Die dogmatische Methode ist die des bloßen Inhal tes […].« Zur kritischen Methode: »Eben so wesentlich als der Inhalt ist ihr dessen organische Entfaltung. Sie ist also die Methode der umfassendsten […] wissenschaftlichen Untersuchung, […] die jeden künftigen Inhalt […] zuvor als Frage erschei nen läßt, die aber nicht allein die Wahrheiten selbst, son dern auch alle mögliche Handgriffe, Verfahrensarten, Wege […] findet.« (9) 14 | Vgl. G. Schlegel 1790, 12: »Der Lehrer muß den Verstand der Schüler in Uebung setzen […] daß […] sein Unterricht in ihrem Verstande gleichsam abgebildet […] werde […] muß auch manches mit eigentlicher Absicht dem Ge dächtniß übergeben werden.« (Her vorhebung von mir).

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und gleichzeitig wurde seit ca. 1790 ›Freiheit‹ der deutsche Leitbegriff für die Autonomie eines jeden kognitiven Systems. Das aber hieß, daß man sich einen Transfer von Wissen oder Information aus einem kognitiven System in ein anderes nicht mehr vorstellen konnte.15 In unzähligen deutschen Texten aus den folgenden Jahrzehnten findet man detaillierte Beschreibungen des komplexen Zusammenspiels kommunikativer Akte (Mitteilungen) mit ihrer Rezeption und Aneignung durch das kognitive System einer anderen Person und schließlich der ›Realisierung‹ dieser kommunikativen Beziehung in der autonomen kognitiven Produktion dieser zweiten Person.16 Vier Aspekte dieser Beziehung zwischen Lehrer und Student als einer Interrelation zweier kognitiver Systeme sind besonders auffällig: 1. Die Wirkung des Lehrers auf den Studenten wird oft als eine ›Anregung‹, ›Erregung‹ oder ›Aufregung‹ beschrieben, die in dem Studenten einen entsprechenden mentalen Zustand induziert. 2. Diese anregende oder erregende Wirkung ist nur deshalb möglich, weil der Lehrer in Anwesenheit seines Studenten ein kreatives Tätigkeitsmuster entfaltet, das selbst in Akten der Reproduktion des Wissens eine unaufhörliche Kreation von Wissen impliziert.17 Friedrich Ritschl, der am Ende der fünfziger Jahre darauf besteht, daß es darum gehe, die »Lust des Schaffens« mitzuteilen,18 und der die beabsichtigten Effekte dieser Art von Kommunikation zu klassifizieren versucht, wählt dafür den Begriff ›moralische Wirkung des wissenschaftlichen Lehrers‹. 3. Was auch immer der Student in diesem Interaktionszusammenhang von Universitätslehrer und Student lernt, er lernt es prinzipiell im Selbstbezug, mittels seiner eigenen und als autonom zu verstehenden kognitiven Produktionen,

15 | Vgl. als eine moderne Formulierung dieses Problems Maturana/ Varela 1980, 5: »[…] knowledge as an experience is something personal and private that cannot be transferred, and that which one believes to be transferable, objective knowledge, must always be created by the listener: the listener understands, and objecti ve knowledge appears transferred, only if he is prepared to understand.« (Hervorhebung ebd.). 16 | Vgl. Zeller 1845/6, 274-5: »Nun enthält aller Unterricht ein Dop peltes: einestheils ist er eine Mittheilung von Seiten des Lehrers, zu der sich der Schüler empfangend und aneignend verhält, an derntheils aber eine Erregung zur selbstthätigen Erzeugung des Wissens, welcher auf der Seite des Schü lers eine freie Produktion entspricht.« 17 | Vgl. interessante Formulierungen bei Witte 1794, 11-2; Fichte 1811, 180-1; Zeller 1845/6, 278; Zeller 1879, 93. Siehe Savigny 1832, der den »wahren Grund« der Wirksamkeit der Universitäten zu identi fizieren ver sucht: »Dieser wahre Grund also besteht in der Anre gung des wissenschaft lichen Denkens durch die Anschauung einer gleichartigen, aber bereits ausgebildeten Thätigkeit in dem Geiste des Lehrers.« 18 | Ritschl 1879, 22-3: »Die Lust des Schaffens theilt sich mit und belebt und regt an wunderbar, und der Respect vor der Wahr heit.«

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für die der Lehrer lediglich als eine Quelle der Stimulation fungiert.19 4. Ein Verständnis, das Wissenschaft als Methode auffaßt, und ein Verständnis, das Wissenschaft als irgendwie inkommunikables Wissen denkt, stützen einander wechselseitig. Präzise wird dies in einer Lachmann-Biographie ausgesagt, in der der Biograph die dem Studenten in Lachmanns Seminar zugemutete Leistung benennt: »Methode; nicht Kenntnisse sammeln, am wenigsten durch die directe Mittheilung des Lehrers.«20 Die beiden divergenten Pole, Methode und Kenntnisse, werden andererseits dadurch miteinander in Beziehung gesetzt, daß beide prozessuale Aspekte der Wissenschaft sind, und die Interrelation von Lehrer und Student wird als Interrelation zweier Wissensprozesse reformuliert. Das bedeutet einmal mehr, daß es sich nicht um den Transfer der Resultate eines Systems in ein anderes handelt. Eine radikalisierte Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation21 – wie sie in den Jahrzehnten um 1800 ausgesprochen wird – impliziert, daß die Beziehung von Lehrer und Student als ein Spezialfall der allgemeineren Beziehung zweier Forscher, die miteinander über wissenschaftliche Probleme und Problemlösungen kommunizieren, aufgefaßt wird. Das gerade gefundene Forschungsresultat des einen Wissenschaftlers ist in dem Augenblick, in dem es einem anderen Forscher kommuniziert wird, für diesen eine Art von Lehrakt, und der Empfänger dieser Mitteilung wiederum produziert in seinen Übernahme- und Verstehensakten in gewisser Hinsicht selbsterzeugtes Wissen. Es gibt in der modernen Wissenschaft kein scharfes Kriterium, das eine solche produktive Rezeption von eigenständiger Forschung streng zu unterscheiden erlaubte.22

4. Erziehung in Universitäten Die Einheit von Lehre und Forschung als ein normatives Ideal für Universitäten scheint mit der Vorstellung inkompatibel zu sein, daß die Universität eine Erziehungsinstitution ist. Wie in dem gerade diskutierten Fall der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation liegt der Grund dafür in der Autonomie eines kognitiven Systems oder in der ›Freiheit‹ eines jeden menschlichen Individuums. Karl Salomo Zachariä sagt dies 1802 mit einer charakteristischen Formulierung: Nicht an die Möglichkeit von Erziehung zu glauben heiße, an der Möglichkeit zu zweifeln, eine freie Existenz durch externe Ursachen zu be19 | Vgl. Zeller 1845/6, 278, als Aufgabenbeschreibung des Lehrers: »[…] er soll durch seinen Unterricht bewirken, daß seine Zuhörer die wissenschaftliche Überlieferung als ein Selbsterworbenes besitzen.« 20 | Hertz 1851, 85, zit.n. Kolk 1989, 56. 21 | Vgl. Luhmann 1981. 22 | Vgl. Simon 1977, 135.

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stimmen.23 Statt daß Erziehung und Pädagogik diese Aufgabe abverlangt wird, wird dann die Wissenschaft selbst zum Medium der disziplinierenden Bildung des Menschen24, und dies meint erneut Wissenschaft in ihren prozessualen Aspekten und nicht einen abgeschlossenen wissenschaftlichen Prozeß und den Transfer seiner Ergebnisse. In vielen zeitgenössischen Beschreibungen deutscher Erziehungseinrichtungen fungiert Wissenschaftlichkeit als das Abgrenzungskriterium, das Universitäten von Schulen trennt,25 und ›Wissenschaftlichkeit‹ wird vielfach durch den formal bildenden Charakter des Wissens ergänzt oder erklärt.26 Als formal bildend erachtete Disziplinen wie Philologie (inklusive Kritik als ihrer Methode) und Mathematik werden favorisiert, und Schleiermacher sagt, daß die Präferenz für formale Bildung, Methoden und für die Prinzipien des Wissens (für das ›Lernen des Lernens‹) verständlich macht, warum man auf Universitäten – im Vergleich zu Schulen – nur eine relativ kurze Zeit verbringt.27 Es ist vielleicht bezeichnend für die deutsche Situation, daß – wie Manfred Riedel notiert hat – erst in den zwanziger und in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, in einer Situation, die aus historisch jeweils verschiedenen Gründen als eine Krise der Einheit von Lehre und Forschung erlebt wurde, ›Erziehung‹ als drittes normatives Ideal für Universitäten (neben ›Lehre‹ und ›Forschung‹) von Autoren und Politikern wie Carl Heinrich Becker bzw. Hermann Heimpel wiederbelebt wurde.28

5. Vorlesung und Dialog Die Einheit von Lehre und Forschung – sofern man sie ernst meint – sollte zuallererst für die vorherrschenden Veranstaltungsformen der Universität gelten. In dieser Hinsicht könnte es als ein kontraintuitiver Befund erscheinen, daß sich parallel zu der Genese der Semantik einer Einheit von Lehre und Forschung in deutschen Universitäten eine dezidierte Präferenz für die Vorlesung als paradigmatische Form universitärer Lehre feststellen läßt. Gert Schubring zitiert ein 1804/5 für das preußische Oberschulkollegium geschriebenes Gutachten, das eine Abgrenzung 23 | Zachariä 1802, 20. 24 | So mit Bezug auf die Germanistik der ersten Hälfte des 19. Jahr hunderts Kolk 1989, 58. 25 | Vgl. Wolf 1835, 97, 101. 26 | Vgl. zur Kombination disziplinärer Studien (i.e. Spezialisierung) mit einer als formal bildend gedachten Erziehung als unterschei dendes Merkmal deut scher Universitäten Sybel 1868, 45-6. 27 | Schleiermacher 1808, 238-9. 28 | Riedel 1977, 233, der dieses Ideal so kennzeichnet: es beabsichti ge eine Einführung in traditionelle gesellschaftliche Normen, die von der Wissen schaft nicht vermittelt werden könnten.

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von Schulunterricht und Universitätslehre versucht. Während der Schulunterricht durch den ›kontinuierlichen Diskurs von Lehrern und Schülern‹ beschrieben wird, ist mit Bezug auf die Universitätslehre von einem ›zusammenhängenden Vortrag‹ des Professors die Rede, und d.h., daß dem Studenten explizit ein Hörerstatus zugeschrieben wird.29 In zeitgenössischen Selbstbeschreibungen der Universitätslehre finden sich oft abschätzige Bemerkungen über jene Universitätsprofessoren, die nur dialogisch zu lehren imstande sind.30 Die Autonomie oder ›Freiheit‹ des Studenten ist einer der wichtigen Gründe für die Entwicklung dieser Präferenz für die Vorlesung. In einem Buch von 1809 über akademische Vorlesungen postuliert der Autor, der Professor habe seine Darstellungskunst zu steigern, da ein freier Einfluß auf den Geist des Studenten die verlorengegangene äußere Gewalt (i.e. die explizit erziehende Gewalt) zu vertreten habe.31 Aber wie kann eine akademische Vorlesung die Einheit von Lehre und Forschung realisieren? In Wilhelm von Humboldts berühmtem Fragment von 1810 »Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« findet sich eine bemerkenswerte Passage. Humboldt stellt fest, daß in Deutschland sogar Universitätsprofessoren zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen haben: »[…] diese Männer sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Musse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genos senschaft.« 32

Die Beschreibung der Vorlesung als eine Art von Studium läßt vermuten, daß die Vorlesung nicht so sehr als eine Gelegenheit, Forschungsresultate zu präsentieren, gesehen wird, vielmehr als ein Forschungsakt sui generis. Wenige Zeilen später fügt Humboldt eine Anmerkung hinzu, die als das Zentraltheorem der Einheit von Lehre und Forschung gesehen werden kann: Reproduktion der Wissenschaft ist Produktion von Wissenschaft: »Ueberhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbstthätig aufzufassen, und 29 | Schubring 1988, 151-2. 30 | Vgl. Zeller 1845/6, 280-1, der das kürzlich abgehaltene jährliche Treffen der ›Philologenversammlung‹ beschreibt. Dort hätten sogar diejenigen, die in ihrer eigenen Lehrpraxis darauf ange wiesen seien, von der dialogischen Lehrmethode Gebrauch zu machen, eine Rede von August Böckh bejubelt, in der sich Böckh ironische Bemerkungen über den akademi schen Dialog erlaubte. 31 | Thilo 1809, 20-1. 32 | Humboldt 1810, 262 (Hervorhebung von mir).

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es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stossen sollte.«33 Unzählige Reformulierungen dieses Theorems einer als Produktion zu verstehenden Reproduktion sind in der Literatur zu finden. Ich möchte hier nur noch Schleiermachers 1808 publizierte Version zitieren: »Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.«34 Es ist leicht, moderne Reformulierungen derselben Idee zu finden. Beispielsweise gibt es bei Whitehead die Vorstellung einer inhärenten Verfallstendenz eines jeden Wissens (solange wir es mit Akten invarianter Reproduktion zu tun haben), im Verhältnis zu der die Universitätslehre als gegenwirkende Kraft gedacht wird: »Knowledge does not keep any better than fish. You may be dealing with knowledge of the old species; but somehow or other it must come to the students, as it were, just drawn out of the sea and with the freshness of its immediate importance.«35 Unter den einflußreichen Universitätstheoretikern am Anfang des 19. Jahrhunderts favorisiert nur Fichte explizit eine dialogische Lehrmethode.36 »Fortlaufende Unterredung« und »gegenseitiges Lehrverhältnis« sind die Charakterisierungen der universitären Lehrmethode, die Fichte anführt.37 Fichtes Modell, das sich an Oxford und Cambridge, also an eng verknüpften korporativen Strukturen, die Professoren und Studenten in ein und dieselbe Korporation einfügen, und schließlich an englischen Beispielen einer universitären Erziehung durch Tutoren orientierte, war in Deutschland zu keinem Zeitpunkt institutionell erfolgreich. Aber der Dialog als eine Unterrichtsform findet in den Seminaren deutscher Universitäten seit dem frühen 19. Jahrhundert eine erste institutionelle Verwirklichung. In dem Maße, in dem sich das Seminar – das typischerweise als eine Lehrerbildungsinstitution gegründet wurde – für die Forschungsinteressen seines Direktors öffnet, entsteht eine zweite, dialogische und kooperative, institutionelle Realisierung der Einheit von Lehre und Forschung.38 In meinen abschließenden Bemerkungen über Formen der Institu33 | Ebd. 34 | Schleiermacher 1808, 252. Vgl. Zeller 1845/6, 288: »das Wissen vor den Augen der Zuhörer zu produciren, sie in die innere Entstehungsgeschichte desselben, in die Werkstätte des forschenden Geistes blicken zu lassen.« 35 | Whitehead 1962, 147. Vgl. zum Problem des Denkens der eigenen Gedan ken im Akt ihres mündlichen Vortrags (»aggressive unity with one’s own thoughts«) Cooley 1927, 175. 36 | Vgl. zu Vorlesung, Dialog und den in Dialogform geschriebenen Abhandlun gen der Romantik Ziolkowski 1990, 252-268. 37 | Fichte 1807, 132-3. 38 | Vgl. Clark 1989, insb. 122-3.

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tionalisierung wissenschaftlicher Forschung werde ich auf diesen Typus von Institution zurückkommen.

6. Einheiten Die ›Einheit von Lehre und Forschung‹ ist in eine Mehrzahl von Einheitsbegriffen eingebettet, die alle auf die Universität zentriert sind. Der wichtigste unter diesen Einheitsbegriffen ist vermutlich die Vorstellung, daß ›systematische Einheit‹ sich als Definiens des Wissenschaftsbegriffs eignet. Seit Kant unterscheidet dieses Kriterium eine Wissenschaft von den empirischen Wissenssystemen des 18. Jahrhunderts.39 Zweitens meint das Wort ›Universität‹, das seiner Herkunft nach ja ein mittelalterlicher Terminus für Korporationen aller Art war, in den Jahren um 1800 typischerweise die Einheit aller Wissenschaften.40 ›Einheit des Ortes‹ ist ein weiteres selbstverständliches Implikat der deutschen Universitätstradition, in der föderale Universitätssysteme, die eine Vielzahl räumlich verstreuter Unterrichtsanstalten mittels eines zentralisierten Prüfungswesens zu einer Organisation zusammmenfassen, völlig unbekannt sind.41 Im Kontext dieser Pluralität von ›Einheiten‹ ist die Einheit von Lehre und Forschung ein weiterer Versuch, jene Differenzierungen zu unterbinden, die die intellektuell vereinheitlichenden Funktionen der Universität gefährden könnten. Es ist vielleicht bezeichnend, daß in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die einsetzende Annäherung von Naturwissenschaft und Industrie, die durch die Entstehung von reinen Forschungsinstituten sowohl begleitet wie durch diese gefördert wurde, mit der legitimierenden Formel »Einheit von Arbeit und Forschung« beschrieben werden konnte.42

III. Während die in Deutschland vorherrschende Idee ›akademischer Freiheit‹ typischerweise so gefaßt wurde, daß man annahm, daß sie eine Komplementarität von Lehrfreiheit und Lernfreiheit impliziere,43 ist das analog zu ›Einheit von Lehre und Forschung‹ konstruierte Postulat einer Einheit von Lernen und For-

39 | In der Tradition des 18. Jahrhunderts fungieren ›Geschichte‹, ›Kenntnis‹ und ›Kunde‹ als Namen für diese empirischen Wissens systeme, denen, wie es Karl Burdach (1809, 8) sagt, das »Prinzip der Einheit« fehlt. 40 | Schleiermacher 1808, 246: »Die Universität muß also alles Wissen um fassen […]«. 41 | Vgl. zu föderalen Hochschulsystemen Rothblatt 1987. 42 | Vögler 1926, 1048. 43 | Vgl. Stichweh 1987a.

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schung kaum als eine explizite Forderung zu finden.44 Das mag ein Zufall sein. In jedem Fall könnte es einer Suchperspektive, die nach einer Einheit von Lernen und Forschung Ausschau hält, gelingen, Momente sozialer Wirklichkeit aufzudecken, die vielleicht von einigem Gewicht sind. Vielleicht lassen sich diese Realitäten unter dem Titel einer Institutionalisierung wissenschaftlicher Forschung als kooperatives Unterfangen analysieren. Ein Wertkonflikt dieser beobachtbaren Wirklichkeit kooperativer Forschung mit der Rhetorik der Autonomie läßt sich nicht ausschließen – und vielleicht liegt in diesem Wertkonflikt der Grund für die relative Vernachlässigung der Einheit von Lernen und Forschung als einem explizit formulierten Konzept. ›Einheit von Lernen und Forschung‹ heißt, daß es im Prozeß des Erlernens einer Wissenschaft bereits möglich ist, etwa zu ihrem wissenschaftlichen Fortschreiten beizutragen. Ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten ist hier vorstellbar und historisch auch beobachtbar. Zum einen eine Forschungsbeteiligung von Studenten, die noch ganz am Anfang ihrer Studien stehen. Beispiele aus den Naturwissenschaften zeigen, daß es durchaus denkbar ist, daß ein Student ein halbes Jahr nach Studienbeginn bereits im Labor steht und mit einem kleinen Stück Forschungsarbeit befaßt ist.45 Am anderen Ende dieses Spektrums steht die Forschungstätigkeit für eine akademische Abschlußarbeit, die auf dem erst in der Moderne möglichen Muster aufruht, daß die Abschlußprüfung am Ende der Universitätsstudien dem Studenten einen kleinen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung abverlangt. Dies läßt sich als Austauschphänomen analysieren: Die Universität verleiht einen akademischen Grad und verlangt als Gegenleistung eine kleine Forschungsleistung – und dies ungeachtet der individuellen Motivation des Studenten. Die dem Studenten zugemutete Forschungsanstrengung tritt hier an die Stelle der beträchtlichen Geldsummen, die frühneuzeitliche Universitätsstudenten für ihre Grade zu zahlen hatten.46 Dieses Spektrum von Möglichkeiten der Forschungspartizipation für Studenten setzt eine neue soziale und intellektuelle Organisation der Suche nach neuem Wissen voraus. Wissenschaftliche Probleme müssen in kleine Probleme zerlegbar sein, und kleine Probleme müssen die Form von Projekten annehmen können. Das heißt, daß die wissenschaftlichen Resultate in einem gewissen Grad vorausgesehen werden können und aus diesem Grund erwartet werden kann, daß die Projekte in einer endlichen Zeit abgeschlossen sein werden. »Normal science« ist seit Thomas Kuhn der Name für dieses Phänomen. Weite44 | Vgl. aber für eine Analyse, die eine solche Komplementarität einer ›Einheit von Lehre und Forschung‹ und einer ›Einheit von Lernen und Forschung‹ unterstellt, Simmer 1970, 189-193. 45 | Vgl. Anmerkungen zu einigen gegenwärtigen amerikanischen und englischen Modellen bei Garfield 1987. 46 | Vgl. dazu Stichweh 1991, Kap. XVII.

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re Voraussetzungen sind: Methoden, die in einer großen Zahl von Forschungsprojekten immer erneut verwendet werden können; standardisierte Instrumente, und schließlich Theorien, die jedes Problem in die Form einer Hypothese kleiden.47 Unter diesen institutionellen Voraussetzungen werden Studenten – aus der Sicht ihrer Professoren – eine Opportunität, die ein kleines Stück von Forschungsarbeit realisierbar werden läßt.48 Diese Einheit von Lernen und Forschung erlebte in deutschen Universitäten vermutlich ihren Höhepunkt in dem Augenblick, in dem Forschung (seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) schon ein kooperatives Unterfangen geworden ist49 und andererseits noch keine institutionellen Möglichkeiten der Finanzierung von Forschungspersonal zur Verfügung stehen.50 Aus diesen kurzen Bemerkungen zur Einheit von Lernen und Forschung mag im übrigen erhellen, wie die vermutete Komplementarität der ›Einheit von Lehre und Forschung‹ zu der ›Einheit von Lernen und Forschung‹ letztlich aufzufassen ist: Während die Semantik einer Einheit von Lehre und Forschung ihren Schwerpunkt darin hat, daß sie die Implementation der epistemischen Grundlagen moderner Wissenschaft in der Universität formuliert, eignet sich die ›Einheit von Lernen und Forschung‹ besser, um uns einen Eindruck von der Arbeitswirklichkeit wissenschaftlicher Forschung in modernen Universitäten zu vermitteln.

47 | Siehe als interessante Fallstudie Holmes 1989. 48 | Dies läßt sich in Göttingen schon um 1750 beobachten. Albrecht von Haller notiert, daß sich seit 1746 eine beträchtliche Studen tenzahl eingestellt habe und daß er diese Gelegenheit ergriffen habe, um die Struktur seiner eigenen Forschung zu modifizieren: »So oft jemand um die medicinische Würde anhielte, und zu dem Ende eine Probeschrift auszuarbeiten im Begriffe stand, so war es mir leicht, ihn zu überreden, daß er sich ein schweres Stück aus der Zergliederungskunst zum Vorwurf nahm, und wozu er fast zween ganze Winter anwenden mußte. Es gereichte dieser Vorschlag nicht nur denen Candidaten zur besondern Ehre, son dern ich selbst konnte meine eigne Zergliederung ins kurze fassen. Man könnte in der That auf keine andere Weise näher zu der Vollkommenheit derer anatomischen Kenntnisse gelangen, als wenn man diesen guten Rath auf einer hohen Schule, die mit allen Bequemlichkeiten dazu versehen wäre, viele Jahre, und durch ganze Jahrhunderte befolgte […]« (Elementa Physiologiae, Vol. 1, Bern 1757, Praef., zit. b. Toellner 1968, 862; Hervorhebung von mir). 49 | Vgl. zu Studenten als Forschungsmitarbeitern Wien 1925, insb. 106. 50 | Vgl. zur Entstehung der Forschungsfinanzierung Stichweh 1988, 72-84; siehe auch Kap. 6.

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11. Die Form der Universität I. Gibt es die Universität überhaupt? Macht es angesichts der extremen Diversität von Hochschuleinrichtungen in Gegenwartsgesellschaften noch einen Sinn, einige oder alle dieser Organisationen ›Universität‹ zu nennen? Welche Wertung oder Parteinahme liegt in jedem Versuch dieses Typs? Einer der Gründe, warum sich Talcott Parsons und Gerald M. Platt mit ihrer 1973 publizierten Theorie der Universität1 Kritik und vielfach auch Nichtbeachtung zugezogen haben, ist, daß sie ihrer Studie über einen sehr spezifischen Organisationstypus – eine kleine Gruppe vorwiegend privater, zu einem geringeren Teil staatlicher Hochschulen, die sowohl Colleges für nichtgraduierte Studenten wie auch die klassischen Professionsfakultäten und schließlich auch ›graduate schools‹ mit prononcierter Forschungsorientierung aufweisen – den Titel »The American University« gegeben haben. Zwei kontrastierende Beobachtungen sind hier anzuführen: Einerseits die verblüffende Kontinuität des Namens ›Universität‹ und die organisatorische Beharrungsfähigkeit einzelner Universitäten2 – und anderseits die sich im Blick auf die Gegenwartssituation aufdrängende Frage, ob es in der Vielfalt von Organisationen der Hochschulerziehung noch einen intellektuell-organisatorischen Kern gibt, der es erlaubt, diese Vielfalt von Formen als auf diesen Kern hin orientiert zu verstehen. Ich werde meine Leitfrage nach der Identifikation oder der Beschreibung der Universität im folgenden so stellen, daß ich frage: Wie unterscheidet man die Universität? oder auch: Wie unterscheidet sich die Universität? Diese Umformulierung hat den Vorteil, daß Prozesse der (Fremd-)Beobachtung 1 | Parsons/Platt 1973. 2 | Außer der katholischen Kirche und einer nicht kleinen Zahl von Universitäten wird man kaum Organisationen finden, die seit fünfhundert Jahren oder noch länger kontinuierlich existieren. Analog sind für die Vereinigten Staaten die mehr als 350 Jahre von Harvard College (gegr. 1636) ein außer gewöhn lich langer Zeit raum. Siehe Daten in Jílek 1984.

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und Selbstbeobachtung in einer gesellschaftlichen Umwelt explizit als die die Unterscheidungen treffenden Instanzen involviert sind und daß die Ausgangsfrage, die auf eine im Direktzugriff festgestellte Identität zu zielen schien, reformuliert wird als Frage nach einer Unterscheidung und nach einem Kriterium der Unterscheidung, die eine Universität von anderem – und zwar mit zwei verschiedenen Optionen: von beliebigen anderen Sachverhalten (Universität und Welt) und von näher bestimmten anderen Sachverhalten (Universität und Schule) – abzugrenzen erlauben3. Jede Unterscheidung weist zwei Seiten auf. Diese können unabhängig voneinander variieren, wenn im Moment nur die eine Seite der Unterscheidung ausgewechselt wird (also die Universität von der Fachhochschule und nicht mehr von der Schule unterschieden wird). Gleichzeitig wird dabei der Sinn der anderen Seite der Unterscheidung immer mitverändert, so daß eine Unabhängigkeit der beiden Seiten nicht wirklich gilt. Es könnte bereits an dieser Stelle auffallen, daß wir es im folgenden typischerweise mit zwei Unterscheidungen zu tun haben werden, die ineinandergeblendet werden? Die Universität wird erstens von etwas anderem unterschieden, das nicht Universität ist, und diese Unterscheidung der Universität von anderem wird zweitens mittels einer weiteren Unterscheidung vollzogen. Beispielsweise kann man im Mittelalter die Unterscheidung von Universität und Kloster mittels einer Unterscheidung artikulieren, die einen auf Devotion verpflichteten Umgang mit Glaubenswahrheiten von einem theologischen Denken unterscheidet, für das eine vergleichbare Verpflichtung zur Devotion nur nach Lösung des gelehrten Problems gilt4 . Veränderungen in beiden Hinsichten: Hinsichtlich des Gegenstandes der Unterscheidung (Universität vs. Kloster, Schule, profitorientiertes Unternehmen) und hinsichtlich des Kriteriums der Unterscheidung (devot/gelehrt, nützlich/gelehrt, wissenschaftlich/›nur gelehrt‹ etc.) sind sowohl historisch wie soziologisch von Interesse. Bestimmungen, die von einem Beobachter so vorgenommen werden, daß er Unterscheidungen mit zwei Seiten wählt, innerhalb der Unterscheidung für eine der beiden Seiten optiert, eventuell eine der beiden Seiten der Unterscheidung variiert – und vielleicht im nächsten Schritt die Einheit der gerade verwendeten Unterscheidung mittels weiterer Unterscheidungen zu beobachten versucht5, werden heute oft Formen genannt6. Im Sinne dieses Sprachgebrauchs haben wir es in den folgenden Überlegungen mit der Form 3 | Vgl. zur Logik von Unterscheidungen Varela 1979, 107-8; Luhmann 1991, 63-5. 4 | Vgl. Evans 1980. 5 | Also beispielsweise die den Unterschied von Schule und Universität über greifende Einheit darin sieht, daß beide mit Erziehung im Unterschied zu wirtschaft lichem Handeln (oder: Rekrutierung politischer Loyalitäten) befaßt sind. 6 | Hierzu und zum folgenden Spencer-Brown 1972; Luh mann 1988; Luh mann/Bunsen/Bae cker 1990; Luh mann 1990a, insb. 75-87; ders. 1991a; ders. 1991b.

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der Universität oder – der modernen Situation vermutlich angemessener – mit Formen der Universität zu tun. Es geht dabei immer um Unterscheidungen, die Operationen anzuschließen erlauben und selbst bereits Operationen sind, weil sie eine temporäre Option für die eine Seite der Unterscheidung uno actu mit dem Treffen der Unterscheidung vollziehen. Danach sind viele Anschlußoperationen möglich: eine Affirmation der gerade gewählten Bezeichnung der einen Seite der Unterscheidung; das Auswechseln des Gegenbegriffs; eine interne Differenzierung der jeweils bezeichneten Seite durch eine weitere Unterscheidung; ein Wechseln auf die andere Seite der Unterscheidung; die Suche nach einer Einheit, die die Unterscheidung übergreift und die sich wieder als eine Unterscheidung erweist.

II. Für die Gesellschaft des europäischen Spätmittelalters und der Frühmoderne schien die Frage nach der für die Universität konstitutiven Unterscheidung relativ unproblematisch zu sein. Universalismus vs. Partikularismus des Wissens hat offensichtlich über Jahrhunderte hinweg als Leitunterscheidung fungiert7. Das meinte eine systematische Präferenz für Wissen, das durch keine Verwendungseinschränkung näher festgelegt war, keinen lokalen, ständischen oder sonstwie partikularen Index trug. Damit war zum Zeitpunkt der Entstehung der europäischen Universität vermutlich zunächst eine Abgrenzung gegenüber Ordensschulen (›Partikularstudien‹) und gegenüber Priesterseminaren von nur regionaler Bedeutung gemeint. Unabhängig von diesem Entstehungskontext erweist sich die Unterscheidung von Universalismus vs. Partikularismus als eine stabile Selbstidentifikation der Universität bis mindestens ans Ende des 18. Jahrhunderts. Unter den durch diese Unterscheidung markierten Prämissen war es beispielsweise konsequent, wenn englische Universitäten nicht ein Rechtssystem von nur partikularer Bedeutung, ›Common Law‹, lehrten, vielmehr am universellen ›Civil Law‹ festhielten. Ähnlich sogar noch deutsche Rechtsfakultäten des 19. Jahrhunderts, soweit sie territoriale Rechtskodifikationen in der Universitätslehre ignorierten oder marginalisierten und an der im 17. und 18. Jahrhundert systematisierten gemeinrechtlichen Tradition festhielten oder ›Pandektenwissenschaft‹ als ›System des heutigen römischen Rechts‹ lehrten. Im Einzelfall läßt sich anhand der Unterscheidung eines universalistischen von einem partikularistischen Umgang mit Wissen nur schwer entscheiden, ob es sich bei einer konkreten Organisation um eine Universität oder um eine Schule anderen Typs handelt. Im spätmittelalterlichen und frühmodernen Europa trat dann eine sich in zwei Schritten vollziehende Operationalisierung 7 | Siehe ausführlicher Stichweh 1991, insb. Kap. I.

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der Leitunterscheidung hinzu. Einmal durch die Differenz privilegiert/nichtprivilegiert. Universitäten lehnten sich in dem von ihnen beanspruchten Universalismus an die beiden anderen Universalmächte des Mittelalters – katholische Kirche und römisch-deutsches Reich – an, und sie wurden von diesen in ihren universalistischen Auftrag eingesetzt und zugleich mit den dafür erforderlichen Berechtigungen (Immunitäten, Privilegien) versehen. Zweitens gehörte zu den auf diese Weise zugewiesenen Berechtigungen entscheidend auch die, akademische Grade zu verleihen. Die beanspruchte Geltung dieser Grade war wiederum europaweit. Universitäten unterschieden sich also dadurch (von anderen ›Schulen‹), daß sie Grade verleihen durften. Jeder potentielle Universitätsbesucher konnte sich zwar auch für diese anderen Schulen entscheiden (Ritterakademien, akademische Gymnasien, Ordenskollegien etc.), die weit nützlicheres Wissen, Weltläufigkeit und standesrelevante Kompetenzen zu vermitteln imstande sein mochten – aber er verzichtete damit auf den akademischen Grad und dessen universelle Geltung. Die an sich erforderliche Detaillierung und historische Differenzierung dieser Aussagen soll hier unterbleiben, da es uns um die moderne Universität geht. Wichtig ist an dieser Stelle nur, die relative Einfachheit eines im Spätmittelalter entstandenen Musters und zugleich seine zeitliche Stabilität anzudeuten. Zu letzterem noch ein Wort: Zweifellos geriet die frühmoderne Universität des 16. bis 18. Jahrhunderts immer stärker unter partikularistisch auszulegende Nützlichkeitserwartungen, wurden Privilegierungen unerreichbar oder nicht mehr erstrebt (aus Gründen konfessioneller Spaltung und territorialer Souveränität) und wurden Grade zunehmend von Institutionen verliehen, denen die erforderlichen Privilegierungen fehlten. Entscheidend ist aber, daß in zwei Hinsichten auch von einer Stabilität des Musters auszugehen ist. Erstens lassen sich zu den gerade zitierten Beispielen immer auch Gegenbeispiele finden: Die oben schon erwähnte Resistenz von Rechtsfakultäten gegen territorial spezifizierte Rechtssysteme; späte Fälle der Privilegierung von Universitäten – beispielsweise die protestantische Gründung Göttingen (1734), die die Privilegierung durch den kaiserlich-katholischen Reichshofrat in Wien anstrebt und erhält; schließlich die bei den ›unberechtigt‹ Grade verleihenden niederländischen Universitäten festzustellende ›Überkompensation‹ ihres Mangels, die sich in der Übernahme zeremonieller Momente der Graduierung und in dem Versuch einer Überbietung der privilegierten Universitäten in der Dimension wissenschaftlicher Leistungen manifestiert. Gleichermaßen wichtig ist eine zweite Beobachtung hinsichtlich der Kontinuität der Leitunterscheidung Universalismus/Partikularismus. Bei allen Abschwächungen, Provinzialisierungen und Pragmatisierungen ist bis ans Ende des 18. Jahrhunderts ein neues Muster der Unterscheidung von Universitäten nicht abzusehen, so daß man entweder gar nicht unterscheidet oder die alten Unterscheidungen weiterver-

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wenden muß. Die Unterscheidung Universalismus/Partikularismus überlebt also auch wegen der Abwesenheit einer Alternative. Einer großen Herausforderung sieht sich die Unterscheidung von Universalismus und Partikularismus im frühmodernen Europa konfrontiert. Dies ist die Erfindung des Buchdrucks, die unweigerlich nach sich zieht, daß die Universalität des Wissens nur in der Vielzahl der jetzt verfügbaren Bücher angemessen repräsentiert ist und nur in dieser Weise als Universalität angeeignet und fortgesetzt werden kann. Das verändert den Status der Universitätslehre drastisch. Der Universitätslehrer ist nicht mehr einer der wenigen, der die geringe Zahl der verfügbaren Bücher kennt und besitzt und aus ihnen – sie allenfalls explizierend – liest. Stattdessen wird sichtbar, daß Universitätslehre ein partikularistischer – weil über eine Person laufender – Zugriff auf universalistisches Wissen ist. Erst das bringt überhaupt einen Begriff des Studiums hervor, der die mündliche Mitteilung des Lehrers in dieser Mischung aus partikularistischen und universalistischen Momenten von einer gelehrten Kommunikation (die an andere Gelehrte adressiert ist und letztlich immer in die Schriftform transformiert wird) prinzipiell unterscheidbar macht8. Eine Passage bei Richard Mulcaster bringt diese Diskontinuität – und die Nichtreflexion ihrer Konsequenzen – gut zum Ausdruck. Mulcaster betont die jetzt als stellvertretend empfundene Lektüre des Universitätslehrers (im Englischen heute noch ›reader‹ oder ›lecturer‹) und analysiert die Situation des Studenten: »[…] having in one lecture the benefit of his readers universall studie, and that so fitted to his hand, as he may straight way use it, without further thinking on.« Wenige Zeilen später resümiert Mulcaster die Leistung des Universitätslehrers und die darin liegende Ökonomie: »his reader is his library«9. Die Universalität der Studien des Universitätslehrers wird betont und gleichzeitig wird sein Einfluß auf das von ihm vermittelte Wissen minimiert, so daß Mulcaster behauptet, dieses Wissen könne man in einem technischen Sinne, ohne Dazwischenschalten eigener Reflexion, für sich nutzen. Dieses Thema der radikalen Herausforderung der Leitunterscheidung Universalismus/Partikularismus durch den Buchdruck kann ich hier nur als spannendes Forschungsthema notieren. Die Vermutung ist, daß die frühmoderne Universität sich dieses Problem in vielfältigen Formen versteckt hat und erst die akademische Revolution des frühen 19. Jahrhunderts – u.a. mit einer Theorie des akademischen Vorrags10 – in bewußterem Zugriff

8 | Dazu interessant Savigny 1802/3, 69. 9 | Mulcaster 1581, 252 (Hervorhebung von mir). 10 | Diese muß die Individualität des Vortragenden als etwas analysieren, das eine Synthese von Besonderem und Allgemeinem zuläßt und eine analoge Synthese im Gegenüber stimuliert. S. interessant Thilo 1809.

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darauf reagiert hat. Aber dies ist ein bemerkenswerterweise unerforschtes Terrain, so daß ich es nur als Problemstellung markieren will11 .

III. Es war nicht unplausibel, die gerade skizzierte Entwicklung als eine zu sehen, die letztlich auf die Abschaffung der Universitäten hinauslaufen wird, und genau diese Diagnose stellten viele Beobachter und Akteure in den Jahren um 1800. Zu beobachten war eine schleichende Erosion der ehedem konstitutiven Unterscheidung von Universalismus vs. Partikularismus des Wissens und eine Verweigerung der Reflexion auf die prinzipielle Herausforderung derselben Leitunterscheidung durch den Buchdruck. Beide Probleme schienen auf den Tod der Universität hinzudeuten. Weiterhin war offensichtlich, daß nach der Durchsetzung des Nationalstaats und als eine Folge der diese begleitenden definitiven Nationalisierung der Hochschulsysteme – selbst die neugegründete amerikanische Republik diskutiert unter allen ihren ersten sechs Präsidenten über die Errichtung einer ›National University‹ in Washington12 – eine unmittelbare Fortsetzung des universalistisch-alteuropäischen Musters nicht denkbar war. Was also macht man mit der Universität, wenn sich dann doch bald herausstellt, daß sie bereits eine selbstsubstitutive Ordnung ist, weil sie einen unverzichtbaren Funktionsbezug13 hat, daß sie also nicht mehr abgeschafft werden kann und man auch nicht umstandslos neugegründete Universitäten an die Stelle der alten Universitäten setzen kann? Man kann die Universität dann nur noch reformieren. Reformiert/unreformiert oder alternativ reformierbar/unreformierbar ist seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Diskussionen unserer Tage eine entscheidende Figur der Selbstund der Fremdbeobachtung der Universitäten14 – und der eingeschlossene ausgeschlossene Dritte dieser Unterscheidung ist ohne jeden Zweifel der Staat. Man kann der Meinung sein, daß Universitäten – wie auch andere Korporatio-

11 | Siehe vorläufig einige Überlegungen in Stichweh 1991, Kap. XIV. 12 | S. Madsen 1966. 13 | Bei temporärer Abwesenheit von operativ wirksamen Wissensidealen läßt sich diese Funktion mittels der Minimalunterscheidung von Aufbewahrung vs. Ver wahrlosung (junger Erwachsener) artikulieren. Der Zusammenhang von Universitätsbesuch und Konjunkturzyklus belegt die Relevanz dieser Unterscheidung. 14 | Vgl. zu der Selbstverständlichkeit, mit der die Unterscheidung reformiert/unreformiert als Periodisierung der englischen Universitätsgeschichte fun giert, Gascoigne 1989.

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nen – in sich reformunfähig sind, also von außen reformiert werden müssen15; alternativ gibt es die Möglichkeit, aus der Universität heraus dem Staat Reformwünsche einzuflüstern, um mittels einer externen Instanz interne Opposition oder statutarische Nichtnegierbarkeiten zu überwinden – eine sich in Oxford und Cambridge seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholende Konstellation16. Natürlich kann man auch die unablässige Reform von innen heraus betreiben, um staatlichen Eingriffen immer ein Stück voraus zu sein. Schließlich ist es denkbar, die Unreformierbarkeit der Universität zu behaupten, um auf diese Weise eine neue Institution als eine Reform der Universität einzuführen. Dafür sei hier der Vorsitzende des Wissenschaftsrats der BRD zitiert, der in einer öffentlichen Stellungnahme davon sprach, die Universitäten hätten in den letzten zwanzig Jahren bewiesen, »daß sie reformunfähig sind«, während die Fachhochschulen »die erfolgreichste Studienreform« dieses Zeitraums seien17. Bemerkenswert ist an dieser Formulierung, wie sie an die Stelle der (die Fachhochschule ausgrenzenden) Unterscheidung Universität/Fachhochschule die hochschulsystemintern gemeinte Unterscheidung reformunfähig/reformiert setzt und wie auf diese Weise mittels Wechsel der Unterscheidung die Grenzen der Universität durch Inklusion eines neuen Hochschultyps neu gezogen werden. Dies scheint eine generellere Implikation der Unterscheidung reformiert/ unreformiert zu sein. Bisher dominante Universitätsmuster können jederzeit als unreformiert oder unreformierbar abgewiesen werden. Ihnen tritt eine reformierte Universität gegenüber, die faktisch eine Ausweitung des Begriffs der Universität mit sich bringt. Zu konstatieren bleibt weiterhin, daß alle Optionen oder Bezeichnungen im Spektrum reformiert/unreformiert den Sinn haben, den Staat in die Universität entweder hineinzuholen oder ihn herauszuhalten. Dies wird auch durch das originelle deutsche Wort Reformuniversität indiziert, das eine ganze Organisation als inkorporierte Reform vorstellt und zugleich eine Selbstermächtigung und Selbstverpflichtung des Staates formuliert, sich einerseits einzumischen, andererseits aber auch (mittels Außerkraftsetzung eigener sonst geltender Regeln) herauszuhalten. Welches Ziel aber verfolgt man bei der Reform der Universität, und wie läßt sich sichern und feststellen, daß nach ihrer Reform die Universität noch eine Universität ist und nicht einfach eine nachgeordnete Staatsanstalt? Es gibt eine klassische Antwort auf diese Frage, die allerdings erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts formulierbar scheint. Die Rede von der Reformation der Universität war ja älter. Die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert kennt in vielen Fällen ›Reformationen‹ der Universität (meist durch den Landesherrn), wobei 15 | So die bekannte Formulierung von Hamilton, 1853 2: »All expe rience proves that univer sities, like other corpo ra tions, can only be reformed from without […]« (448). 16 | S. Rothblatt 1976, 260. 17 | Mohr 1990 zit. D. Simon, den seinerzeitigen Vorsitzenden des Wissen schaftsrats.

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der frühmoderne, inkrementalistische, die Behebung eingeschlichener Fehler meinende Begriff einer Reform unterstellt wurde. Insofern war an der gerade analysierten Unterscheidung nur die Zuspitzung zu einem dritte Möglichkeiten ausschließenden Dual reformiert/unreformiert neu und spezifisch modern. Im Unterschied dazu konnte man erst nach der Wende zum 19. Jahrhundert sagen, Ziel einer Reform sei die Verwirklichung der Idee der Universität. Statt um die Behebung von Fehlern scheint es nun also in einem Parsonschen Sinn um Wertimplementation zu gehen. Dafür fungiert auch eine zunehmende Distanz zwischen wertenden und deskriptiven Stellungnahmen zur Realität als eine der Voraussetzungen. Es gibt zwei klassische Orte für die Idee einer ›Idee der Universität‹: die Berliner Vorlesungen (1808/9) des zur Romantik konvertierten Dänen Henrik Steffens und die Dubliner Vorlesungen (1852) des zum Katholizismus konvertierten Engländers John Henry Newman18. An beide Texte schließen sich unzählige Wiederaufnahmen an, so daß in unseren Tagen Michael Cohen und James March ironisch folgern konnten: »Almost any educated person can deliver a lecture entitled ›The Goals of the University‹. Almost no one will listen to the lecture voluntarily.«19 Eine Idee ist keine Unterscheidung. Aber sie unterstellt eine Unterscheidung, die von Idee und Wirklichkeit20. Die Wirklichkeit der Universität ist nicht die Wirklichkeit ihrer Idee, sie ist immer irgendwo anders. Die Eigenbeweglichkeit universitärer Evolution in der Moderne hat sehr schnell die Idee einer ›Idee der Universität‹, die zunächst eine Gestaltungsabsicht signalisierte, in eine Defensivbegrifflichkeit verwandelt. Insofern haben wir es eher mit dem Einmahnen von vergessen geglaubten Werten als mit Wertimplementation zu tun. Schon bei Newman ist deutlich, daß er letztlich die spätmittelalterliche Unterscheidung universalistisch/partikularistisch reinstaurieren will: »The view taken of a University in these Discourses is the following:- That it is a place of teaching universal knowledge.«21 Wie die weiter unten folgenden Überlegungen zeigen werden, hat die moderne Universität nie eine Vorahnung davon besitzen können, was aus ihr werden sollte, und insofern kann von einer Ausschöpfung eigengenerierter kultureller Gehalte der Universität, von der Implementation einer der Wirklichkeit vorausliegenden Idee keine Rede sein. Der Grund, warum Newmans Vorstellung einer Transmission universellen Wissens unhaltbar wurde, liegt darin, daß diese Vorstellung gesichertes Wissen unterstellt, während zur gleichen Zeit die Bestimmtheit und Bestimmbarkeit 18 | S. Steffens 1809; Newman 1947. 19 | Cohen/March 1974, 195. 20 | Vgl. den insofern treffend gewählten Titel von Weischedel 1961. 21 | Newman 1947, XXVII (Hervorhebung ebd.). Unmittelbar anschließend nimmt er eine Abgrenzung gegen die von ihm abgelehnten Momente vor: Wissenschaftliche Entdeckung und religiöse Schulung.

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von Wissen für viele gerade fraglich wurde. Owen Chadwick hat diese neue Erfahrung von Fraglichkeit der englischen Universität seit ca. 1850 zugeschrieben: »To receive assured knowledge, that had been the ideal. But one of the new elements in assured knowledge was the proposition that less knowledge was assured than had hitherto been supposed.«22 Dieselbe Einsicht und Erfahrung wird in der deutschen Universitätsentwicklung seit 1800 mittels einer Unterscheidung formuliert, die sich als folgenreicher erweisen sollte als die sie einkleidende Semantik einer Idee der Universität. Der Unterricht auf Universitäten muß wissenschaftlich sein, und daß er dies ist, unterscheidet die Universität von Schulen und anderen Bildungsstätten23. Im Prinzip sind hier drei oder sogar vier Unterscheidungen hintereinandergeschaltet. Erstens ist deutlicher als je zuvor – und in einer schultypenübergreifenden Abstraktion, die im 18. Jahrhundert so noch gar nicht möglich war – die Schule der Bezugskontext, von dem sich die Universität abzugrenzen hat, und es wird damit uno actu die Zuordnung der Universität zum Erziehungssystem vorgenommen und die Unterscheidung Schule/Universität als eine interne Differenzierung des Erziehungssystems analysiert24 . Zweitens läßt sich die Grenze zur Schule – im Unterschied zur spätmittelalterlichen Situation – nicht mittels der Unterscheidung Universalismus/Partikularismus markieren. Vielmehr ist der Universalismus der Universität – im Unterschied zu dem gleichfalls vorauszusetzenden Universalismus der Schule – jetzt dadurch ausgezeichnet, daß er universelles Wissen dem Imperativ wissenschaftlicher Behandlung unterwirft25. Was mit diesem Imperativ näher gemeint ist, läßt sich nur mittels einer dritten Unterscheidung explizieren. Wissen soll in einem Geiste behandelt werden, der die Frage der Wahrheit oder Unwahrheit des Wissens immer erneut zu suspendieren bereit ist; Zurechnungen auf eine dieser beiden Seiten prinzipiell als provisorisch, als im Licht neuer Evidenz revidierbar erachtet. Das kann zu einer Reflexion auf die Grenzen des Erkennens führen und insofern kommt diese Neubestimmung 22 | Chadwick 1963, 7. 23 | S. statt vieler Wolf 1835, 97: »Erst auf Uni versitäten muss der Unterricht wissenschaftlich seyn; auf den Schu len muss er vor bereitend, im Allgemei nen bildend und ele men tarisch seyn.« Eine genauere Analyse müßte zusätz lich der Tatsache Rechnung tragen, daß der Unter richt auf Univer sitäten auch philosophisch (Gegen begriff: geschichtlich, empi risch, speziali stisch) sein sollte, und daß diese zwei Grenz begriffe teils komplementäre Aspekte wissenschaftli chen Erken nens hervor heben, teils aber auch kon kurrierende Momente betonen (z.B. Philo sophie als Abgren zung gegen Einzelforschung bei Schleiermacher). 24 | Vgl. dazu Stichweh 1991a. 25 | Luhmann 1992, 93, Fn. 11, fügt hinzu, daß es sich um einen »spezifisch wissenschaftli chen Universalismus« handelt, damit die Kombination zweier ›pat tern variables« betonend.

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der Universität als wissenschaftlicher Universität erst in einer vierten Unterscheidung, die wir Erkennen/Reflexion nennen können, an ein vorläufiges Ende. Carl Heinrich Becker hat 1925 in dieser reflexiven Wendung das entscheidende Merkmal der deutschen Universitätsentwicklung seit Kant gesehen. Sie habe »die unentwegte Erkenntnisfreudigkeit, die vor nichts zurückschreckte, in eine kritische Haltung gegenüber dem Erkenntnisvorgang und den Erkenntnismöglichkeiten« umgebogen26. Die sich hier abzeichnende Formbildung in der Universität, die Mitverwendung der Form der Wissenschaft, d.h. des binären Codes Wahrheit/Unwahrheit, durch universitäre Organisationen, die zugleich deutlicher als Organisationen im Erziehungssystem markiert werden, hat sich als ein irreversibler Umbruch erwiesen. Ich will diesen relativ bekannten Vorgang an dieser Stelle nicht näher diskutieren und nur noch auf eine weitere und weitreichende Konsequenz hinweisen. Wissenschaftlichkeit der Universitätsbildung kann nicht Sozialisation in die Resultate der Wissenschaft sein. Dann würde sie sich von einer Popularisierung der Wissenschaft nur dem Umfang und der Systematizität nach unterscheiden, wäre aber keine Partizipation an Wissenschaft als einem Prozeß des Erkenntnisgewinns. Insofern ist das Postulat der Einheit von Forschung und Lehre, was ja vor allem heißt, daß die Differenz von Forschung und Lehre nicht als Formbildung in der Universität verwendet werden darf27, ein strenges Implikat der wissenschaftlichen Universität28, und es wäre deshalb interessant, gegenwärtige Universitätssysteme in der Hinsicht zu vergleichen, wie einfallsreich sie mit Realisierungen einer ›Einheit von Forschung und Lehre‹ in Lehrkontexten sind, in denen dies als besonders unwahrscheinlich gedacht werden könnte29.

IV. Eine Unterscheidung, die für die evolutionäre Dynamik – wenn auch nicht für die Selbstbeschreibung – der modernen Universität von ähnlicher Bedeutung ist wie die Frage der Wissenschaftlichkeit der Universität und die in al26 | Becker 1925, 11. Eine exzellente Fallstudie, die in der Ent wicklung einer wissenschaftlichen Diszi plin (Physik, insb. Mecha nik) die Wendung zu einer reflexi ven Evaluation der eige nen Erkennt nis möglichkei ten identifiziert, ist Olesko 1980. 27 | S. ähnlich Platt/Parsons 1970, 137, für die die Einheit von For schung und Lehre im wesentli chen darin besteht, daß man auf die Ab wer tung der Lehrfunktion verzichtet, die darin liegt, daß man eigene For schungsprofessuren schafft. Vgl. Par sons/Platt 1973, 354. 28 | Vgl. näher Stichweh 1993. 29 | S. einige Beispiele in Garfield 1987.

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len Universitätsreformen latent oder manifest thematisch war, ist die Frage der Inklusion/Exklusion potentieller Studenten. Die europäische Universität hat zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Inklusionsvorgängen mit einigem Erfolg vollzogen: Der Abbau ständischer Vorregulierungen des Studienzugangs; das sich Einstellen auf Studienberechtigungen, die aus sehr ungleichartigen schulischen Abschlüssen hervorgehen, nachdem am Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst einmal die ›Homogenisierung des Anfangs‹ das Problem gewesen war30; Zulassung des Frauenstudiums; Stipendien für Studenten aus einkommensschwächeren Familien; Regionalisierung der Universitäten und der damit mögliche Zugang für Studenten mit lokaler oder regionaler Orientierung31 . Als Folge dieser Inklusionen ist jetzt jedermann (und jede Frau) als ein Universitätsstudent vorstellbar; aber die europäischen Universitäten haben nie die Vorstellung aufgegeben, daß es sich bei der eintreffenden Population um wenige und nicht etwa um viele Studenten handeln wird, und wenn es schon viele werden sollten, dann wenigstens nicht alle Mitglieder eines Jahrgangs. Daß die hier unterstellte Struktur ein ständisches Muster reproduziert, nämlich eine ständisch-professionelle Lage im Gesellschaftssystem entstehen läßt (die Gebildeten, die Akademiker, das Bildungsbürgertum), die sich in jeder Generation neu bildet, ist unübersehbar, hat aber die beschriebene Präferenzstruktur nie tangiert. In vielen Selbstbeschreibungen geht es um die Bildung gesellschaftlicher Eliten, und eine Elite ist etwas, darauf hat Joseph BenDavid hingewiesen, worunter sich ein Europäer intuitiv eine kleine Zahl vorstellt, ein Amerikaner aber eher eine größere Zahl. Auch wenn man eines Tages konzediert, daß zwanzig Prozent eines Jahrgangs eine den vorhandenen Begabungen angemessene Studentenfrequenz sein können, glaubt man im gleichen Zug, bei dreißig Prozent eine Grenzziehung markieren zu müssen und dies durchhalten zu können. Meine These ist die, daß Inklusion nie wirklich zum Programm der europäischen Hochschulen geworden ist, daß dem Moment der Inklusion zwar in der Form des Abbaus vielfältiger sachfremder Hemmnisse des Hochschulzugangs Rechnung getragen wurde, aber nie die Vorstellung zum Programm wurde, jedem, der sich für Studienmöglichkeiten interessiert, einen Studienplatz anzubieten und zusätzlich ein eventuell vorliegendes Interesse bewußt zu befördern. Stattdessen sollten Begabungen zwar ausgeschöpft werden, aber der Begabungsbegriff sich auch als Limitation des Studienzugangs eignen. Die Folge ist, daß Zulassen/Nichtzulassen zur heimlichen Leitunterscheidung der Universitäten wird. Die Einheit dieser Unterscheidung heißt vermutlich Zulassen, 30 | Vgl. Luhmann 1990; Stich weh 1991a. 31 | Die Zulassung von Frauen zum Studium kennzeichnet die moderne Situation am deutlichsten, da es in den anderen Hin sichten jeweils spätmittel alterliche und frühmoderne Analoga gab.

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d.h. Zulassungsrestriktionen sind immer nur für begrenzte Zeit haltbar und danach sehen sich Politik und Universität einer Entwicklung konfrontiert, die sie eigentlich nicht gewollt haben. Man wird immer nur in eine Richtung enttäuscht: Es kommen zu viele Studenten und nicht etwa zu wenige. Es ist interessant, sich dasselbe Phänomen auf der Ebene von Organisationen (Zahl und Neubildung von Universitäten) zu vergegenwärtigen. Eine erste typischerweise anzutreffende Unterstellung ist, daß es Universitäten nur in kleiner Zahl geben sollte (die Vorstellungen darüber, was eine kleine Zahl ist, sind wandelbar, aber die Struktur der Präferenz selbst nicht)32 . Die Vielzahl nordrheinwestfälischer Gesamthochschulen ist ein allseits bekannter Sündenfall der Politik. Ähnlich auch beim Umbau des Universitätswesens in der früheren DDR. Außer den jeweiligen Interessenten am Ort sind sich die Beteiligten darüber einig, daß es wenige Universitäten sein sollten, und dies, obwohl gleichzeitig bekannt ist, daß die ständig wachsenden Großstadtuniversitäten unerträgliche infrastrukturelle Belastungen mit sich bringen33 . Ein zweites Moment ist, daß insbesondere Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder versuchen, Studenten an neugegründete subuniversitäre Institutionen abzudrängen34 . Jahrzehnte später muß man diesen neuen Institutionen dann doch eine Übergangsberechtigung für ihre Studenten, eventuell das Promotionsrecht und schließlich Universitätsstatus gewähren, muß sie also in das Universitätssystem inkludieren. Es besteht kein Zweifel, daß auf diese Weise innovative Hochschulinstitutionen entstehen können, aber es ist bemerkenswert, daß diese neuen Hochschulinstitutionen sich nicht einer Sensibilität für neue Wissensformen und einer darauf gerichteten Gestaltungsabsicht verdanken, daß man vielmehr auf ein Exklusionsmotiv als Auslöser dieser Innovationsimpulse angewiesen ist. Vergleichbares läßt sich auch an der gegenwärtigen bundesdeutschen Diskussion über den Ausbau der Fachhochschulen beobachten. Eine weitere Form, in der die Unterscheidung Inklusion/Exklusion von der Universität operativ gehandhabt wird, ist die Möglichkeit, Studenten zwar zuzulassen, aber ihnen weder in curricularer Hinsicht noch hinsichtlich der Leistungsanforderungen irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Friedrich Paulsen hat dies mit der Unterscheidung von Schülernaturen und Wissenschaft 32 | S. als einen interessanten Beleg die Stellungnahmen Karl Büchers zu den Universitätsgründungen und Gründungsplänen deutscher Großstädte in den Jahren vor 1914: Bücher 1912; ders. 1913. 33 | Anders optiert hat in dieser Hinsicht England, das – bei relativ niedrigem Anteil der Studentenschaft an einem Altersjahrgang – seit ca. 1870 sehr viele neue Universitäten gegründet hat und als eine Folge davon Univer sitäten aufweist, die im internationalen Vergleich sehr klein (< 10.000) sind. S. Goldschmidt 1991, 11. 34 | S. für ein französisches Beispiel Boudon 1977, 95.

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beschrieben und die faktische Nichtbeachtung eines beträchtlichen Teils der anwesenden Studentenschaft gerechtfertigt: »Die Überwindung des bloßen Schülerhabitus gegen die Wissenschaft bleibt die allgemeine Zumutung, wenn wir auch wissen, daß nicht alle ihr zu entsprechen imstande sind. Kein Zweifel, es könnte für die bloßen Schülernaturen in mancher Hinsicht besser gesorgt sein, wir tun es nicht, weil wir es nicht für einen Gewinn ansehen, wenn es auf Kosten der Höherstehenden geschehen müßte.«35 Gegenwärtige Hochschulsysteme, die der faktischen Universalität des Zugangs in anderer Weise Rechnung tragen wollen, müssen an die Stelle dieser normativ festgehaltenen Erwartung von Wissenschaftlichkeit das Evaluationsprinzip des »value added« setzen36. Damit ist gemeint, daß nicht mehr ein normativer Standard fixiert wird, der das akzeptable Minimum eines erfolgreichen Universitätsbesuchs definiert. Stattdessen fungiert die Frage, ob überhaupt irgendetwas vom Studenten hinzugewonnen worden ist, als einziges noch universell anwendbares Prinzip der Evaluation.

V. Nur eines der großen Hochschulsysteme der Welt, das der Vereinigten Staaten, hat in den gerade benannten Hinsichten ganz anders optiert. Von vornherein gab es in den USA eine Zahl von Colleges und Universitäten, die die entsprechenden Quantitäten in den traditionellen europäischen Hochschulsystemen um ein Vielfaches überstieg. 1860 – bei Beginn des Bürgerkrieges – waren es bereits 250 Colleges, von denen 180 heute noch existieren37; 1910 waren daraus beinahe 1000 Colleges und Universitäten geworden, mit einer studentischen Population von 1/3 Million, während zum gleichen Zeitpunkt Frankreich über 16 Universitäten und 40 000 Studenten verfügte. Der naheliegende Einwand, es handele sich bei den französischen Universitäten um Einrichtungen von unvergleichlich höherem akademischen Niveau, ist (für das Jahr 1910 noch) berechtigt, wird andererseits dadurch entkräftet, daß allein das Lehrpersonal der amerikanischen Hochschulinstitutionen 1910 nahezu die Zahl der französischen Studenten erreichte38. 35 | Paulsen 1904, 31; vgl. auch zu dieser wohl kalku lier ten Nicht beach tung eines nicht kleinen Teils der Studentenschaft Stich weh 1987, 128-29; s. auch Bücher 1913, 486, für den große Vor lesun gen in großen Univer sitä ten den Vorteil haben, daß sie schwächere Studen ten ihre Unzu läng lichkeit früher erfahren lassen. 36 | So Trow 1979, 279. 37 | Diese und die folgenden Zahlen bei Trow 1979, 271-2. 38 | Goldschmidt 1991, 13, beziffert die ge genwärtige Zahl amerikanischer Colleges und Universitä ten auf 3400.

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Das amerikanische Hochschulwesen ist insofern ein klassischer Fall von Polykontexturalität39. Alle Unterscheidungen, die in anderen Ländern zur Markierung der Grenze der Universität verwendet werden, eignen sich als instruktive Unterschiede für die Analyse der Binnendifferenzierung des amerikanischen Hochschulsystems40. Man kann dies an einigen Kandidaten ausprobieren: 1. Wissenschaftlich/Nichtwissenschaftlich: Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Universitätsbildung hat in den USA nicht zur wissenschaftlichen Transformation eines vorhandenen Universitätssystems geführt, ist vielmehr in der Form neuer Institutionen (›school of arts and sciences‹/›graduate school‹) implementiert worden41 . 2. Säkular/Kirchlich: Da die Binnenstrukturen des amerikanischen Hochschulwesens von vornherein die Pluralität importierter Konfessionen und Denominationen reproduzierten42, konnte die Trennlinie säkular/kirchlich sich nie als Grenze des Hochschulwesens auswirken, während sie beispielsweise in Frankreich eine Grenze im Erziehungswesen hervorgebracht hat, die lange Zeit deutlicher markiert war als die Unterscheidung von Sekundarschulwesen und tertiärer Hochschulerziehung. 3. Privat/Öffentlich: Auch in dieser Hinsicht gilt für das amerikanische Hochschulwesen die Abbildung gesellschaftlicher Pluralität in die Struktur des Hochschulsystems, so daß es niemandem untersagt sein konnte, eine tertiäre Erziehungseinrichtung zu gründen, also Staat und Privatleute miteinander konkurrieren. 4. Einheit des Orts/Föderale Strukturen: Die amerikanische Universität als Campusuniversität kennt sowohl das Motiv einer Einheit des Orts, die der Zusammenfassung einer Vielzahl von Fächern auch durch deren räumlichen Zusammenhalt und eine eventuelle architektonische Schließung nach außen Ausdruck und/oder Stützung verleihen will43, wie sie andererseits in Staatsuniversitäten föderale Strukturen hervorgebracht hat, die eine Mehrzahl lokaler Campus‹ (University of California) zu einer Organisation zusammenfaßt.44 5. Neugründung/Erhaltung von Organisationen: Einerseits läßt sich, wenn man die Geschichte des amerikanischen Hochschulwesens beobachtet, eine Präferenz für die Neugründung 39 | Im Sinne von Günther 1973, 291. 40 | Vgl. auch Platt/Parsons/Kirshstein 1978, 3-22, zur inter nen Differenzie rung des amerikanischen Hochschulwe sens. S. auch Light 1974, 17-18, und Veysey 1973, 5-8, die beide den Ge sichtspunkt betonen, daß eine Mehrzahl von Hoch schuli deolo gien, die in verschiedenen Län dern zu ver schiede nen Zeitpunkten ent stan den sind, im amerikani schen Fall sukzessive in stitutiona lisiert worden ist und daß sie in modifi zierter Form heute noch koexi stie ren. 41 | Vgl. als Überblick zur Entstehung und zur Pluralisierung der Forschungsuni versität Geiger 1991. 42 | Vgl. als Fallstudie zum Import religiöser Diversität Sloan 1971. 43 | S. Turner 1984. 44 | Zur Geschichte föderaler Hochschulsysteme Rothblatt 1987.

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von Universitäten beobachten, und dies im Sinne eines Auswechselns ineffizient gewordener Organisationen, das analog zum Wirtschaftssystem operiert.45 Andererseits scheint für entstandene und dann bedeutend gewordene Institutionen ein Erhaltungsimperativ zu gelten, so daß gleichzeitig auch das Motiv einer Bildung von Traditionen institutionalisiert zu sein scheint.46 6. Liberale/berufsbezogene Erziehung: Gerade auf der Ebene der ›Two-Year Colleges‹ fällt diese Differenz auf, daß die einen sich um eine ›liberale Erziehung‹ bemühen, die der Möglichkeit nach auf die wissenschaftliche Universität hinführt, während es den anderen gerade um eine berufsbezogene Ausbildung geht, die das Verbleiben im Hochschulsektor verkürzt.47 Ein gutes Indiz der Polykontexturalität des amerikanischen Hochschulwesens ist, daß die Semantik der Schul-/Hochschultypen ganz undifferenziert geblieben ist: ›School‹, ›College‹, ›University‹ können (im Unterschied zum britischen Englisch) auch heute noch austauschbar verwendet werden48, wobei weiterhin bemerkenswert ist, daß diese Begriffe keine Korrelation mit der im übrigen für das amerikanische Hochschulwesen zentralen Unterscheidung von privaten und öffentlichen Institutionen aufweisen49. Das parallele Operieren einer Vielzahl von Unterschieden im amerikanischen Hochschulwesen beschränkt sich im übrigen nicht auf die Möglichkeit der Beobachtung von Unterschieden zwischen verschiedenen Hochschulorganisationen. Dieselben Unterscheidungen können auch innerhalb ein und derselben Hochschule operativ sein. Martin Trow, dem wir die besten Analysen der Gleichzeitigkeit von Elitenerziehung, Massenerziehung und universeller Erziehung in amerikanischen Universitäten verdanken, hat in seinen Überlegungen immer betont, daß sich gerade in den großen staatlichen Universitäten ein Nebeneinander aller drei Erziehungstypen beobachten läßt50. Dieser Sachverhalt eignet sich im übrigen als Illustration eines auch sonst in Sozialsystemen beobachtbaren Strukturbildungsmusters: Neue Strukturen verdrängen ihre Vorgänger45 | Vgl. die Zahlen bei Trow 1979, 272. 46 | Vgl. dazu die faszinierende rechtliche und ökonomische Analyse der Alterna tive von (im Wirtschaftssystem üblicher) Schuldenfinanzierung vs. (die Universitäten charakterisierender) Kapitalansammlung bei Hansmann 1990. Die Kapitalakku mu lation von Privatuni versitäten hat offensichtlich den Sinn einer gegen wärtigen Siche rung künfti ger Reputation der Uni ver sität. Für die Stu denten zieht dies höhere Studiengebühren nach sich, was ihnen aber den Vorteil bietet, daß sie darauf rechnen können, auch noch in späteren Le bensjahr zehnten den Namen ihrer ›Alma Mater‹ als den einer auch dann noch ange sehenen Institution zitieren zu können (s. insb. S. 27). 47 | Dazu Brint/Karabel 1991. 48 | Darauf weist Rothblatt 1987, 175, hin. 49 | Vgl. für England Rothblatt ebd. 164-5. 50 | Siehe Trow 1979; ders. 1979a; ders. 1991.

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strukturen nicht, treten vielmehr zu diesen hinzu, komplizieren die Formen der Strukturbildung in einem System – und für jede Organisationsanalyse wird es dann zu einer zentralen Frage, wie einer Organisation eine sowohl von den anderen Unterscheidungen separierte wie auch gleichberechtigte Berücksichtigung einer Mehrzahl unbestreitbar legitimer Unterscheidungen gelingen kann.

VI. Die die Diskussion der letzten Jahre bestimmende Antwort auf die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit eines Universitätssystems für eine Mehrzahl von Unterscheidungen heißt ›Loose coupling‹ oder ›Decoupling‹51 . Allen Diagnosen dieses Typs ist eines gemeinsam: Die Vorstellung, daß reale Systeme ›dialektisch‹52 oder ›paradox‹ verfaßt sind – und d.h., daß scheinbar Widersprüchliches in ihnen gleichzeitig oder nacheinander möglich ist und daß diese Ermöglichung über Differenzierungen (vor allem interne Differenzierungen) des Systems läuft. Gemeinsam ist allen diesen Analysen weiterhin, daß sie sowohl Kopplungen (Interaktionen) im Verhältnis des jeweiligen Systems zu seiner Umwelt wie auch interne Kopplungen (Interaktionen) im System im Blick haben – und daß sie eine Begrifflichkeit zu finden versuchen, die diese beiden Hinsichten übergreift und Zusammenhänge zwischen ihnen sichtbar zu machen erlaubt. Autonomie eines Systems meint dann Balancen zwischen diesen beiden Dimensionen, meint beispielsweise den Sachverhalt, daß eine hohe Responsivität des Systems im Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Umwelt nur dann mit Autonomie des Systems kompatibel ist, wenn sie durch eine große interne Unterschiedenheit im System ausbalanciert wird, die jeden speziellen ›response‹ des Systems auf konkrete und eventuell neue Umwelterwartungen lokal zu begrenzen erlaubt, so daß wegen dieser Lokalisierung der Effekte die Autonomie des Systems nicht tangiert wird. Jede neue Umwelterwartung nimmt insofern, sobald sie in einen ›response‹ des Systems transformiert worden ist, die Form einer neuen institutionalisierten Differenz an, die, weil sie zu vielen schon vorhandenen relevanten Unterscheidungen hinzutritt, das System immer nur partiell restrukturiert und die innere Autonomie des Anschließens an die bisher geltenden Unterscheidungen nicht tangiert. Responsivität und Polykontexturalität eines Systems wären insofern als miteinander evoluierend, als wechselseitig füreinander zur Voraussetzung werdend, zu verstehen.

51 | Zu ›Loose coupling‹ Weick 1976; Orton/ Weick 1990; Tyler 1987; Firestone 1985; Rubin 1979; zu ›Decoup ling‹ (von Formal struktur und Aktivitäts struktur – siehe näher unten) Mey er/Scott 1983; vgl. auch Trow 1975. 52 | Weicks Terminus; s. dazu Weick 1979; Orton/Weick 1990, insb. S. 205.

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Diese Deutung eines Zusammenhangs von extern orientierter Responsivität und intern freigegebener Polykontexturalität läßt sich als gemeinsamer Denkhintergrund der verschiedenen gegenwärtig vertretenen Theorien des ›loose coupling‹ identifizieren. Das gilt auch für die von John W. Meyer und Brian Rowan vorgeschlagene Unterscheidung von Formalstruktur und Aktivitätsstruktur, die eine offiziöse, zeremonielle, nach außen gerichtete Seite der Universität begrifflich von einem durch diese relativ informationsarme Formalstruktur faktisch nicht zu kontrollierenden inneruniversitären Realgeschehen (Aktivitätsstruktur) trennt, das eine weit höhere Komplexität aufweist53. Das Verhältnis von Formalstruktur und Aktivitätsstruktur darf natürlich nicht als das einer völligen Dissoziation gesehen werden, so, als gehe es auf der Ebene der Formalstruktur nur um Mythen oder um Zeremonien, die eingerichtet worden sind, um dem nichtrationalen Geschehen in Universitäten einen äußeren Anschein von formaler Rationalität zu verleihen54 . Das würde ein ›Decoupling‹ der Universität von ihrer Umwelt, ein völliges Freisetzen des universitären Binnengeschehens implizieren – und dies dank einer für die Umwelt entworfenen zeremoniellen Selbstdarstellung, die unabhängig vom Binnengeschehen variiert, also allen Umweltdruck absorbiert. Eine solche Unterstellung würde u.a. auch verkennen, daß die Formalstruktur der Universität nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichtet ist. Schließlich gibt es auch im Binnenverhältnis des Systems einen Bedarf für Einheitsformeln, die garantieren, daß ein zunehmend polykontexturales System tatsächlich noch ein System ist. Unter diesen Umständen scheint es mir sinnvoll, die Beziehungen zwischen Formalstruktur und Aktivitäten der Universität mittels der theoretischen Unterscheidung von Medium und Form zu deuten. Dieses theoretische Paradigma sollte zugleich eine Antwort auf die Frage erlauben, wie eine über eine Multiplizität von Differenzen bestimmte Universität noch als ein System gedacht werden kann, wie also Einheit des Systems möglich sein soll. Die Unterscheidung von Medium und Form zielt auf den Sachverhalt, daß aus einer sehr großen Menge von Elementen (eines Systems), die untereinander nur sehr schwache Verbindungen aufweisen, festere Formbildungen hervorgehen, die sich durch Invarianz der Verbindungen zwischen einigen dieser Elemente auszeichnen55. Medium nennen wir dann den Sachverhalt, der als Bedingung der Möglichkeit solcher Formbildungen fungiert. Damit haftet dem Begriff des Mediums eine gewisse Uneindeutigkeit an. Er kann sowohl 53 | S. insb. die beiden Aufsätze von Meyer und Rowan in Meyer/Scott 1983, 21-44 und 71-97. 54 | Vgl. dazu Tyler 1987, 316, der die Decoupling-Theorie als eine ironische Umdeutung von Webers Rationalisierungsthese sieht, da Rationali tät ins mythisch-zeremonielle verschoben werde. 55 | S. Heider 1927; Luh mann 1986.

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das Phänomen einer auseinanderliegenden Vielzahl von Elementen selbst meinen, diese also als ein formbares Medium bezeichnen; der Begriff des Mediums kann aber auch auf einen gegenüber den Systemelementen selbständigen Symbolvorrat hinweisen, der sich elementaren Operationen eines Systems in einer Weise zuordnen läßt, daß dank dieser Zuordnungen und nur mittels ihrer komplexere Strukturen (als Verkettungen von Operationen/Aktivitäten des Systems mit Symbolen, die ihrerseits Operationen des Systems werden) aufgebaut werden können. Existiert in diesem Sinne ein Medium der Universitätserziehung, das Formalstruktur und Aktivitätsstruktur zu vermitteln erlaubt und dem dies dank eines Symbolvorrats gelingt, der Formbildungen über elementaren Lehr-/Lernaktivitäten ermöglicht? Eine weitere bei der Antwort auf diese Frage zu berücksichtigende theoretische Erwartung ist die, daß ein eventueller Zusammenhang von Medium und Form auch in umgekehrter Richtung interpretierbar sein sollte, d.h., es wäre auch die Frage zu stellen, wie man mittels der Einführung neuer Formen einen steuernden oder selegierenden Einfluß auf die Variationspotentiale der elementaren Lehr-/Lernebene gewinnt. Die Frage nach einem Medium der Universitätserziehung ist oft mit dem Hinweis auf die Interaktionsabhängigkeit des Erziehungsgeschehens verneinend beantwortet worden. Die Vorherrschaft von Interaktionssystemen erlaube zwar eine Professionalisierung des Handelns im Sinne der Ausbildung einer Kunstlehre, die auf den Umgang mit der Ungewißheit künftiger Interaktionssituationen vorbereitet. Aber sie lasse die Ausbildung eines Mediums, das Entscheidungen in einem Interaktionssystem mit anderen Entscheidungen in anderen Interaktionssystemen verknüpft, nicht zu. Ein Einwand gegen diese Argumentationstradition drängt sich unmittelbar auf: Es scheint einen ›natürlichen‹ Kandidaten für ein Medium der Universitätserziehung zu geben. Seit der Entstehung der europäischen Universitäten wurde universitäres Lehr-/Lerngeschehen auf ein ›Prüfungsgeschehen‹ hingeführt, das einerseits das Ende eines Studiums oder eines Studienabschnitts oder eines Studienjahres signalisierte, andererseits zugleich ein wesentliches Moment der Außendarstellung der Universität war. Man denke nur an die öffentliche Disputation als Einheit dieser beiden Relevanzen in ein und demselben Akt56. In einer dritten Hinsicht hatte dasselbe Prüfungsgeschehen zusätzlich auch noch den Sinn, den Prozessen universitärer Erziehung in ihren durch Prüfungen dokumentierten Resultaten in der außeruniversitären Welt dauerhafte Geltung zu verschaffen (Grade also als eine Form der extern wirksamen Stabilisierung der Resultate der Universitätserziehung). Grade, Prüfungen und Leistungsnachweise in diesem Sinn waren also zunächst ein für herausgehobene Situationen reservierter Symbolvorrat. Daneben gab es vereinzelt Erziehungssysteme, wie beispielsweite die das katholische 56 | Hierzu und zum folgenden Stichweh 1991, insb. Kap. XVII.

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Europa überziehenden Schulkollegien der Jesuiten, die zu einer Universalisierung des Zusammenhangs von Erziehungsaktivitäten und symbolischen Verstärkungen des Leistungsvergleichs tendierten (d.h. fast jede schulische Aktivität mit Momenten der Leistungsbewertung und der Institutionalisierung von Konkurrenz verknüpften). Erst in den amerikanischen Colleges des 19. und 20. Jahrhunderts aber hat sich schrittweise eine dauerhafte Verknüpfung folgender drei Relata etabliert: Jeder im Lehrplan vorstellbare Sachzusammenhang von Wissen muß so dekomponierbar sein, daß er in einer zweiten Hinsicht in der Form eines ›course‹ institutionalisiert werden kann, und an diesen ›course‹ muß sich drittens eine Evaluation der Teilnahme anknüpfen lassen, die als ›grade‹ formalisiert wird. Am Anfang des 20. Jahrhunderts konnte Thorstein Veblen diese dreistellige Konstellation (Sachthema, Kursform, Leistungsevaluation) noch als Ausdruck eines penalen Charakters der amerikanischen Universität im Unterschied zur akademischen Freiheit europäischer Hochschulsysteme denken, und er konnte diese von ihm perzipierte amerikanische Sonderlage zugleich als ein erwartbares schulisches Korrelat einer Kultur beschreiben, der er eine Tendenz zuschrieb, die ernsthafte Absorption eines (jungen) Erwachsenen durch eine Leidenschaft für Wissen nur als soziale Devianz auffassen zu können57. Diese Diagnose dürfte durch die mittlerweile analoge Entwicklung europäischer Hochschulsysteme überholt sein, so daß ich in Anlehnung an die in Deutschland etablierte Terminologie vorschlagen möchte, Scheine als Medium der Universitätserziehung zu analysieren58. Ohne daß ich an dieser Stelle eine ausführliche Diskussion anschließen will, sei notiert, daß sich die Funktion von Scheinen – ihre Eignung als Medium, das zunehmend komplexe Formbildungen im Universitätsgeschehen zuläßt – in mehrfacher Hinsicht näher bestimmen läßt: 1. Die Orientierung am Akt der Scheinvergabe steuert die Wahl von Lehrthemen und die weitere Dekomposition der gewählten Lehrthemen in jeweils scheinfähige Subthemen. 2. Auf der Seite der Teilnehmer an Lehrveranstaltungen steuern Scheine die Teilnahmemotivation; sie lenken sachliche Interessen in spezifischere Richtungen, und sie erzeugen eine Art von Konformität mit den geistigen Prämissen der Universität. Letzteres gilt deshalb, weil ein Student, um einen Schein erlangen zu können, zwar nicht die Meinungen des Lehrenden teilen muß, aber doch die in der Universitätslehre behandelten Themen und die Art des Prozessierens von Fragestellungen nicht für völlig abwegig halten darf (oder diese Meinung jedenfalls nicht kommunizieren darf). 3. Die Tatsache, daß 57 | S. zu diesem Zusammenhang Veysey 1973, 25-6. 58 | Vgl. auch zu ›courses‹ und ›credits‹ als Medium der Universitäts erziehung Clark 1983, insb. 62, 105, Fn. 59 auf S. 281. Clark führt die Reserva tion ein, daß es in vielen nationalen Hoch schul syste men ein solches Medi um nur rudimentär gebe. Vgl. Trow 1991, insb. 160-1.

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Scheine auf beiden Seiten motivierend wirken, verknüpft Lehre und Lernen zu einem System. Der Universitätslehrer, der seine Lehrthemen und deren weitere Dekomposition auf Scheinfähigkeit hin zu spezifizieren bereit ist, handelt sich damit gleichzeitig seitens der Studenten Teilnahmemotivation, eine Bereitschaft zur Aktivitätsübernahme und im Resultat eine Art garantierten Minimalerfolgs seiner Lehrveranstaltung ein. 4. Im Medium von Scheinen sind dann komplexere Formbildungen möglich, die für die Seite der Lehre als Curricula beschrieben werden können und auf der Seite der Studenten als – durch erlangte (und durch vermiedene) Scheine markierte – Studienkarrieren anfallen. 5. Curricula und typisierte Studienkarrieren definieren zusammen eine Art Formalstruktur der Universität. Beiden ist gemeinsam, daß sie Beschreibungen sind, hinter denen sich faktische Aktivitäten verbergen können, die man bei Kenntnis nur dieser Beschreibungen nicht ohne weiteres vermutet hätte. Umgekehrt gilt aber auch, daß diese formalstrukturellen Momente nicht mit schlechthin beliebigen Aktivitäten kompatibel sind. Vielmehr muß man annehmen, daß sie restringierend oder selegierend auf Aktivitäten einwirken, wenn sie sie auch nicht in einem präzisen Sinn instruieren können59. In diesem Moment liegt die Chance, die Aktivitätsstruktur der Universität durch Einführung neuer Formen (curriculare Unterscheidungen, Fakultäts- und Fächerstrukturen) über mehrere Ebenen hinweg zu beeinflussen. Zu notieren ist an dieser Stelle, daß die Unterscheidung von Medium und Form relativ auf eine bezeichnete Systemebene ist. Etwas, das im Blick auf eine gerade gewählte Systemebene eine Formbildung ist, mag für die nächsthöhere Systemebene Medieneigenschaften besitzen, also sich als Element darbieten, das mittels Verknüpfung vieler Elemente strukturiert werden muß. 6. Scheine erlauben das Überschreiten von Grenzen in einem polykontexturalen, zudem aus vielen Organisationen bestehenden Universitätssystem. Dies ist deshalb möglich, weil man die nicht handhabbare Frage des Vergleichs inkommensurabler Studienwege an verschiedenen Hochschulorganisationen in die praktisch handhabbare Frage der Anerkennung/Nichtanerkennung von Scheinen übersetzen kann.

VII. Scheine als ein Medium der Universitätserziehung betreffen nur einen der Funktionsbezüge der modernen Universität. Die Universität, soweit sie auch die dominante organisatorische Infrastruktur des Wissenschaftssystems und damit zugleich eines großen Teils der heute unter dem Titel Forschung durchgeführten Wissenschaft ist, bleibt in einer Analyse des gerade skizzierten Typs ausgespart. 59 | Vgl. zum Unterschied von Instruktionstheorien und Selektionstheo rien Dar den/ Cain 1989.

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Insofern muß die nicht stillzustellende Frage, ob es nicht in der Vielfältigkeit der in der modernen Universität relevanten Unterscheidungen eine Leitunterscheidung gibt, die diese verschiedenartigen Unterscheidungen in irgendeinem Sinn übergreift oder integriert, sich anderswo umsehen. Es liegt auf der Hand, daß ›wissenschaftlich/nichtwissenschaftlich‹ – die in der Tradition der ehedem dominanten deutschen Universität suggerierte Antwort – sich heute nur noch bedingt als Leitunterscheidung eignet. Wenn man beispielsweise dem Sachverhalt Rechnung tragen will, daß allein amerikanische Colleges und Universitäten gegenwärtig ca. 300 ›programs‹ für ›creative writing‹ aufweisen,60 wird erneut deutlich, daß wissenschaftlich/nichtwissenschaftlich heute nur noch eine unter mehreren Unterscheidungen ist. Vielleicht sollte man sich an dieser Stelle noch einmal bei dem eingangs als erfolglos erwähnten Buch von Talcott Parsons und Gerald M. Platt erkundigen, da dieses ja eine Theorie der amerikanischen Universität zu bieten verspricht61 . Worauf stützt sich diese Überzeugung, und läßt sich in Parsons’ Argumenten ein eventueller Kandidat für eine Leitunterscheidung jeden Universitätsgeschehens identifizieren? Ist außerdem eine Unterscheidung denkbar, der ein Wiedereinschluß des von ihr Ausgeschlossenen (der anderen Seite der Unterscheidung) überzeugend gelingen könnte? Auch dieses letzte Kriterium diskriminiert vermutlich gegen die Leitunterscheidung wissenschaftlich/nichtwissenschaftlich, da man nicht zwingend wird plausibilisieren können, daß auch beliebige nichtwissenschaftliche Denkzusammenhänge in der Universität immerhin einer wissenschaftlichen Durchdringung zugeführt werden. Die Sonderstellung, die Talcott Parsons der Universität zuwies, sei einleitend mit einem relativ frühen Zitat aus der Textsammlung »Theories of Society« (1961) illustriert. Dort spricht Parsons von dem für moderne Gesellschaften charakteristischen außergewöhnlichen Zuwachs an Wissen und setzt sein Argument mit folgender These fort: »The university system constitutes the main institutionalized focus of trusteeship of this great development of secular knowledge and learning. It is perhaps the most important structural component of modern societies that had no direct counterpart in earlier types of society.«62 Wie weitreichend dieser Anspruch ist, wird am Vergleich zu Max Webers verwandter Deutung der modernen Gesellschaft deutlich. Während in Webers Katalog von Instantiierungen des okzidentalen Rationalismus die Universität nur en passant vorkommt63, ist sie hier zur wichtigsten strukturellen Innovation der Moder60 | Diese verleihen zur Zeit ca. 1000 akademische Grade jährlich und haben insgesamt bisher vielleicht 75 000 ›Schriftsteller‹ ausgebildet. Siehe Myers 1993. 61 | Parsons/Platt 1973. 62 | Parsons 1961, 261 (Hervorhebung von mir R.S.). 63 | S. Weber 1988 9, 1-12; Hochschulen (»rationalen und syste ma ti schen Fachbetrieb der Wis senschaft«) erwähnt er kurz auf S. 3.

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ne geworden. Der Grund dafür scheint zu sein, daß bei Parsons (und vor allem beim späten Parsons) die Theorie der Rationalität und die Theorie der Universität zusammenfallen, und d.h. unter anderem auch, daß für die Universität und für die Theorie der Rationalität Rationalität/Nichtrationalität als die Leitunterscheidung fungiert. Dieses Einsetzen mit der Leitunterscheidung Rationalität/Nichtrationalität64 unterscheidet Parsons von den meisten heute geläufigen Theorien der Rationalität, die immer noch Rationalität/Irrationalität präferieren. Man kann dies u.a. bei Herbert A. Simon studieren65, wo auch die Implikation deutlich wird, daß das gesamte schrittweise verfügbar werdende Wissen über Mechanismen und Gesetze der Verhaltenssteuerung und Informationsgewinnung des Menschen in den Begriff der Rationalität integriert wird, so daß Rationalität zu einem differenzlosen Begriff zu werden droht66. In manchen philosophischen Theorien wird Rationalität zu einem logischen Implikat von Eigenschaften (Intentionen, Beliefs), die man Menschen notwendigerweise zuschreiben muß, wenn überhaupt von Menschen die Rede sein soll67. Parsons hingegen nimmt Qualifizierungen und Erweiterungen unseres Wissens über Bestimmungsgründe des Handelns nicht in den Rationalitätsbegriff auf, verschiebt den Reichtum weiteren Unterscheidens vielmehr auf die andere Seite, die für ihn die der Nichtrationalität ist. Wenn aber nicht mehr der mit einer Negativwertung versehene Begriff der Irrationalität als Gegenbegriff zu Rationalität fungiert, kann es sich als interessanter erweisen, statt einer unkontrollierten Expansion des Rationalitätsbegriffs die Formen der Nichtrationalität – etwa: Affektivität, Expressivität, Spontaneität, Informalität – als von Rationalität zu unterscheidende Möglichkeiten sorgfältig zu studieren. Diese Auslegung der Parsonsschen Unterscheidungslogik erlaubt uns zugleich zu verstehen, warum Rationalität/Nichtrationalität auch als Leitunterscheidung der Universität fungieren kann. In dieser Unterscheidung, sobald man sie auf die Universität anwendet, signalisiert die ›ausgeschlossene‹ Seite der ›Nichtrationalität‹ zugleich die wissensthematische Inklusivität der modernen Universität, also den Sachverhalt, daß es kaum eine Wissensform oder Tätigkeit mehr gibt, die nicht auch in der Universität berücksichtigt, gelehrt oder erforscht werden kann. ›Rationalität‹ als die unmittelbar die universitäre Identität definierende Seite meint demgegenüber den spezifischen Beitrag der Universität, also die Restriktion, unter die die Universität jede Wissens- und Tätigkeitsform setzt, oder den ›Mehrwert‹, 64 | Vgl. dazu auch Stichweh 1980. 65 | S. zuletzt Simon 1990. 66 | S. als ein Beispiel dieser Logik der Ausweitung dessen, was in den Rationalitätsbe griff einschließbar ist, Putnam 1981, 377-78, der den Erfolg der modernen Wissenschaft aus infor meller Rationalität (ihrer Metho den) er klärt. 67 | Das arbeitet Stich 1985 am Beispiel von Daniel Dennett heraus.

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den sie hinzuzufügen reklamiert. Hinter dieser Vorstellung ist bei Parsons das Vertrauen auf die Universität als institutionellen Treuhänder des okzidentalen Rationalisierungsprozesses zu erkennen. Das steht erneut in scharfem Kontrast zu einer Weberschen Position, die die völlige Diskrepanz zwischen der formalen Rationalität universitären Prozedierens und der letzten Irrationalität einer Wertentscheidung für die Universität betonen würde.68

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III

12. Professionen und Disziplinen Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften

I. V ORBEMERKUNG Professionssoziologie und Wissenschaftssoziologie scheinen sich darüber einig, daß Prozesse der Institutionalisierung moderner Wissenschaft angemessen als ›Professionalisierung der Wissenschaft‹ beschrieben werden können. Gleichzeitig assimiliert man alte und neue Professionen an das Paradigma ›wissenschaftlicher Berufe‹ und konstituiert so als Resultat zweier begrifflicher Entscheidungen ein relativ homogenes Expertentum oder eine Wissensklasse, deren strategische Relevanz für moderne Gesellschaften man dann behaupten kann.1 Das Problem einer solchen Begrifflichkeit ist, daß sie eine Generalisierung wählt, die zuviel an bereits vorhandener Kenntnis über strukturelle Differenzen nicht mehr zu rekonstruieren erlaubt. Die folgenden Überlegungen wollen dies am Beispiel der Differenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen und professionellen Handlungssystemen erläutern. Sie stellen ab auf differenzerzeugende Struktureigentümlichkeiten zweier verschiedener Typen von Sozialsystemen und arbeiten deshalb besonders den Typus und die Begrenztheit von Professionalisierung als eines Lösungsmusters für spezifische Probleme in modernen Gesellschaften heraus. Die leitende Überzeugung dabei ist, daß man zu einem fruchtbareren Kontakt von Professionssoziologie und Wissenschaftssoziologie gelangt, wenn man nicht etwa die Begrifflichkeit der einen Teildisziplin auf den Gegenstand der anderen projiziert, stattdessen dafür optiert, unter Rückgriff auf die in dieser Begrifflichkeit enthaltenen Einsichten die verschiedenen Gegenstände der beiden Teildisziplinen systematisch miteinander zu vergleichen. Vielleicht eignet sich eine erste historische Skizze zur besseren Explikation unserer Argumentationsabsicht. Wir entlehnen sie der Geschichte der Univer1 | S. für diesen Typus von Literatur Holzner/Marx 1979.

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sität und damit der Geschichte jener Institution, die auch im folgenden als der wesentliche Überschneidungsbereich von Professionen und Disziplinen eine weichenstellende Rolle spielen wird. Bereits in der Universität des 18. Jahrhunderts begegnen uns die Begriffe ›Disziplin‹ und ›Profession‹ in einer Bedeutung, die – bei aller Diskontinuität der im folgenden zu vergegenwärtigenden Entwicklung – doch auch Komponenten heute üblicher Unterscheidungen vorausnimmt. So meint kurz nach 1730 an der gerade entstehenden Universität Göttingen ›Profession‹ den expliziten Lehrauftrag des ›Professors‹, welcher eine Mehrzahl von Disziplinen, d.h. systematisierten Gebieten der Lehre, umfassen mag und dessen Zuweisung im übrigen unter deutschen Bedingungen ›akademischer Freiheit‹ keineswegs verbietet, daß ein Professor gelegentlich oder dauerhaft auch Disziplinen vorträgt, die an sich zum Lehrauftrag eines anderen Ordinarius gehören.2 ›Professionell‹ ist also die berufliche Wirklichkeit des Lehrkörpers der Universität oder die akademische Rollenstruktur, der eine disziplinäre Ordnung des Wissens gegenübertritt, die im Bezug auf die Komplementärrolle des Studenten entworfen ist.3 Diesem letzteren Kontext verdankt der Begriff der ›Disziplin‹ die Konnotation einer die Subjektivität ausschaltenden und in diesem Sinn disziplinierenden Form der Aneignung des Wissens, während im Begriff der ›Profession‹ ja auch das subjektive Moment des Bekenntnisses liegt, des weiteren die Ausübung dieses Bekenntnisses durch den Professor und zugleich die entscheidungsabhängige staatliche Ratifikation dieser Tätigkeit durch Erteilung des Lehrauftrags an den Professor.4 Was das 19. und 20. Jahrhundert von dieser Ausgangssituation trennt, ist zunächst die überraschende Karriere der wissenschaftlichen Disziplin. Diese wird aus einer Ordnung gesicherten Wissens für Zwecke der Lehre zu einem Sozialsystem spezialisierter wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation,5 und sie ist als solches in einer Infrastruktur akademisch-wissenschaftlicher Berufe verankert. Deren Genese und zunächst inneruniversitäre Durchsetzung und der Erfolg disziplinär gesteuerter Wahrheitsproduktion zwingt dann auch die die alteuropäische Gelehrsamkeit repräsentierenden Professionen (Recht, Theologie, Medizin) zu völlig neuen Strukturbildungen. Auf diese letztere Entwicklung hat die Soziologie seit den dreißiger Jahren mit Ausarbeitung der theoretisch oft einfallsreichen Soziologie der Professionen reagiert, während die erst nach dem zweiten Weltkrieg nachentwickelte Wissenschaftssoziologie die Soziogenese der gegenwärtigen Form ihres Gegenstandes nun ausgerechnet mit dem Begriff der Professionalisierung der Wissenschaft erfassen wollte. In gewisser Hinsicht wäre keine inadäquatere Begriffsbildung denkbar gewesen, da 2 3 4 5

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Rössler 1855, B 37, B 81. Vgl. Swoboda 1979, 57. Vgl. zum äquivoken Sinn von ›professio‹ Wolff 1755, 179. Stichweh 1984

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das fast auffälligste Phänomen im Prozeß der Entstehung moderner Wissenschaft eben gerade ihre Deprofessionalisierung ist, d.h. ihre nahezu vollständige personale und wissensmäßige Herauslösung aus dem Verband der vormodernen Professionen. Die theoretisch interessanteste Version dieser denkgeschichtlichen Fehllenkung findet sich im Werk von Talcott Parsons und zwar in der Form einer thematischen Asymmetrie und in den ihr korrelierten begrifflichen Optionen. Während Parsons über viele Jahrzehnte immer wieder in systematischer Absicht über Probleme der Professionstheorie gearbeitet hat, gibt es in seinem Werk vergleichsweise wenige Ansätze für eine Analyse der Besonderheit des Sozialsystems der Wissenschaft (u.a. keine Berücksichtigung von Wahrheit als Kommunikationsmedium) und kaum Anzeichen dafür, daß ihm dies Defizit in seiner Systematizität bewußt war.6 Entsprechend umfassend wird bei Parsons der Prozeß der Professionalisierung gesehen, den er schließlich als koextensiv mit den Rationalisierungsprozeß im Weberschen Sinn dieses Begriffes behandelt,7 und entsprechend generell ist die Definition einer Profession, die in einer der wiederkehrenden Formulierungen durch ihre »fiduciary responsibility for any important segment of a society’s cultural tradition«8 beschrieben wird. Was an dieser Definition überrascht, ist, daß sie zwar perfekt die integrierte Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts beschreiben könnte, sich heute aber vielleicht eher als eine Definition der spezifischen kulturellen Leistung der historisch verfahrenden Geisteswissenschaften eignen würde. Daran wird deutlich: Parsons hat die Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen und professioneller Handlungssysteme analytisch nicht angemessen berücksichtigt. Er hat allerdings in der späten theoretischen Abhandlung über die Universität und deren Zentralwert ›kognitive Rationalität‹9 eine Theorie der Inklusion der differenzierten Systeme durch Generalisierung einer gemeinsamen Wertgrundlage vorgelegt. Die folgenden Überlegungen wollen als ein erster Versuch verstanden werden, die hier angedeutete Ungleichgewichtigkeit in der Entwicklung soziologischen Denkens, die sich für Professionssoziologie und Wissenschaftssoziologie gleichermaßen als analytische Restriktion erwiesen hat, durch eine genauere Differenzbestimmung um ein weniges zu korrigieren.

6 | Vielleicht ist es bezeichnend, daß der einzige ernsthafte Versuch, Fararo 1976, von einem relativ Fernstehenden stammt. 7 | Parsons 1968; ders. 1969; vgl. Stichweh 1980: VI-VII. 8 | Parsons 1959, 325 9 | Parsons/Platt 1973

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II. H OCHSCHULSYSTEME UND DIE D IFFERENZIERUNG VON D ISZIPLINEN UND P ROFESSIONEN Vielfach ist in den vergangenen Jahren die Soziogenese von Professionen so beschrieben worden, als verdanke sie sich innerprofessionellen Initiativen und Strategien, gleichsam einem kollektiven Mobilitätsprojekt, das primär auf die Monopolisierung professioneller Märkte und die Höherbewertung der dort erbrachten Leistungen gerichtet ist.10 Eine der gewichtigen Schwächen dieses Ansatzes ist, daß er Hochschulsysteme als relevante institutionelle Umwelt der Professionen vernachlässigt und vor allem nicht sieht, daß die Entstehung der modernen Universität als ein von innerprofessionellen Strategien kausal unabhängiger Prozeß die Sozialgestalt der modernen Professionen in entscheidender Weise geformt hat. Die vormoderne Universität mit ihrer Orientierung auf die drei oberen Fakultäten (Theologie, Recht, Medizin) ist wesentlich eine Institution professioneller Studien, denen die wissenschaftlichen Fächer der philosophischen Fakultät als Propädeutika und Hilfswissenschaften zugeordnet sind.11 Die in Deutschland im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entstehende wissenschaftliche Universität kehrt diese Rangordnung exakt um, indem sie Raum gibt für die Ausbildung eines umfangreichen Systems wissenschaftlicher Disziplinen und diesem die professionellen Wissenssysteme als Fälle der Anwendung wissenschaftlichen Wissens und der Ausarbeitung praxisbezogener Wissensbestände nachordnet. Dieser Umbruch reflektiert sich in zeitgenössischen Universitätstheorien und Wissenschaftsklassifikationen, die beispielsweise als primären Klassifikationsgesichtspunkt für Wissenssysteme die Differenz von freien – i.e. theoretisch und praktisch unabhängigen – und gebundenen – i.e. theoretisch (durch dogmatische Setzungen im Recht und in der Theologie) und/oder praktisch (durch staatlich gegebene Handlungsbestimmungen) abhängigen – Wissenssystemen benutzen.12 Seither gilt die Vermutung, daß »der wahre wissenschaftliche Geist und das wahre wissenschaftliche Leben eigentlich nur im Reiche der freyen Wissenschaften anzutreffen«13 sind, und d.h., daß die Ausbildungsdynamik der Professionen wesentlich durch die Orientierung an den Modellen der wissenschaftlichen Disziplinen bestimmt wird, da sich »Licht, Ordnung, Gründlichkeit und Zusammenhang der Erkenntnis […] in den gebundenen Wissenschaften nur vermittelst der freyen erhalten«14 lassen.

10 | S. beispielsweise Larson 1977. 11 | Hierzu und zum folgenden Turner 1980; Stichweh 1984, insb. 34-39. 12 | Krug 1805; vgl. Kant 1798. 13 | Krug 1805, 21 14 | Ebd. 22.

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Den hier als möglich gedachten engen Abhängigkeiten entziehen sich die Professionen, wie wir im folgenden näher sehen werden, durch Neukonstituierung entlang von Klientenorientierung und Handlungsbezug und universitätsintern durch Formen innerorganisatorischer Ausdifferenzierung, die die professionellen Fakultäten auch unter deutschen Verhältnissen dem Charakter einer Spezialschule annähern, was u.a. didaktische Formen der Lehre und eine sorgfältig gestufte Lehrorganisation impliziert.15 In den USA vollzieht sich die gleiche Entwicklung mit einer Verzögerung um ein Jahrhundert. Bis etwa 1775 war College-Ausbildung nur im Fall der Ausbildung späterer Kleriker berufsvorbereitende Bildung, im übrigen war sie Allgemeinbildung. In der revolutionären Periode intensiviert sich die Differenzierung säkularer Bildungsvermittlung von kirchlich-religiösem Wissen,16 so daß das College, die ihm assoziierten Schulen und unabhängige Spezialschulen verschiedensten Niveaus vermehrt auch auf andere Berufe vorbereiten. Gleichzeitig bleibt die gelehrte Bildung – d.h. die Kenntnis klassischer Sprachen – weitgehend auf die Mitglieder der etablierten Professionen beschränkt,17 während sich parallel um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch Prozesse wissenschaftlicher Disziplinbildung vorbereiten, an denen auffällt, daß sie in ihren Erwartungen, Zielsetzungen und Vorbildern in keinem Fall durch die Orientierung an Berufsmodellen, wie sie etwa durch die Professionen vorgegeben waren, bestimmt worden sind.18 Der Umbruch erfolgt dann im Zeitraum von 18801920 mit der Entstehung der amerikanischen Universität, d.h. der Gründung von ›graduate schools‹, der Reorganisation der ›undergraduate‹-Ausbildung mittels der institutionellen Form des ›department‹, schließlich einem erheblichen quantitativen Wachstum der Hochschulinstitutionen und – als Folge dieser drei Prozesse – der Entstehung akademisch-wissenschaftlicher Berufe, die eine professionsunabhängige berufliche Infrastruktur der wissenschaftlichen Disziplinen sichern.19 Erst der Erfolg der amerikanischen Universität kehrt dann in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts auch die Ausbildungsdynamik 15 | S. Phoebus 1849, 33f. 16 | Hughes/DeBaggis 1973, 171 17 | Veysey 1979, 58; Baltzell 1979, Ch. 17 18 | Diese Beobachtung bei Reingold 1976. 19 | Siehe vor allem Veysey 1979, 62-4, und das dort präsentierte Zahlenmateri al, dem sich entnehmen läßt, daß der Anteil der praktizierenden Mitglieder der drei klassischen Professionen an der amerikanischen Bevölkerung (zwi schen 25 J. und 64 J.) von 1,12 Prozent 1880 auf 0,81 Prozent 1920 und 0,77 Prozent 1960 fällt, während der Anteil der Hochschulprofessoren einschließlich anderer in Hochschul institutionen tätiger Natur- und Sozialwissenschaftler von 0,02 Prozent 1890 auf 0,07 Prozent 1920 und 0,23 Prozent 1960 steigt. D.h. aber, daß sich die Relation von professioneller zu akademisch-wissenschaftlicher Berufstätigkeit von 50:1 auf 3:1 verschiebt.

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in den Professionen in einer Weise um, die von innerprofessionellen Interessengruppen weder antizipiert noch intendiert worden ist: Während das ganze 19. Jahrhundert hindurch Versuche der Anhebung von Ausbildungsstandards an einzelnen professionellen Schulen regelmäßig dazu führten, daß die Studenten zu den weniger anspruchsvollen Hochschulen wechselten, etabliert sich jetzt im Hochschulsystem eine Ausbildungsdynamik, wie sie davor etwa in Deutschland (insbesondere im Verhältnis von Universitäten und technischen Hochschulen) zu beobachten war. Die sich am weitesten vorwagenden Institutionen (Johns Hopkins University) bestimmen das Tempo und bewegen die anderen zu einer progressiven Aufstufung ihrer Anforderungen.20 Die Anhebung der Ausbildungsstandards und die durch sie konditionierte Exklusion minderqualifizierter Praktiker erzeugt gleichzeitig Effekte in Richtung auf Homogenisierung der Profession durch Vermeidung innerprofessioneller Statushierarchien mit verschiedenen Ausbildungsgraden und Lizenzen.21 Die eben entworfenen historischen Skizzen dürften bereits verdeutlicht haben, in wie entscheidender Weise Hochschulsysteme für die modernen Professionen eine relevante Umwelt sind, durch die sie in mehrfacher Hinsicht beeinflußt werden. Zu oft hat sich professionssoziologischen Studien diese Einsicht bis dahin entzogen, weil sie die Differenz der Systemreferenzen Hochschule und Profession nicht als solche reflektiert haben und daher professionelle Ausbildung zu unproblematisch in den Gesamtzusammenhang der Profession eingeordnet haben. Ein systematischer Überblick dieser Intersystembeziehungen muß sich zunächst noch einmal das Faktum vergegenwärtigen, daß es die Genese der wissenschaftlichen Universität ist, die die Differenzierung von Disziplinen und Professionen heraufführt, und daß in der Folge die Universität die Interaktionen zwischen diesen beiden noch genauer zu beschreibenden Komplexen vermittelt. Des weiteren fungiert die Universität forthin als selektive Instanz, an welcher die Berufsgruppen, die professionellen Status anstreben, sich orientieren müssen, und d.h., daß sie die Universität überzeugen müssen, daß sie Problemstellungen und inhärente Ausbildungschancen und -bedarfe aufweisen, die zu den in der Universität institutionalisierten Traditionen wissenschaftlicher und professioneller Ausbildung passen. So findet sich in einer neueren empirischen Untersuchung der bemerkenswerte Befund, daß es einen relativ engen Zusammenhang von personenbezogener Komplexität professioneller Arbeit, zeitlicher Länge universitärer Ausbildung der entsprechenden Profession, direkter Lehre über Fragen professioneller Ethik als Teil des Curriculums der ›professional school‹ und schließlich Publikationsneigung der entsprechenden Berufsgruppen gibt.22 Dies scheint darauf hinzuweisen, daß 20 | Starr 1982; Veysey 1979; Haber 1974. 21 | Vgl. Kohler 1979, 34f. 22 | Blau/Margulies/Cullen 1979, 350f. und FN 18, S. 362; Cullen 1978, 103f., 128f.

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sich der Kernbereich professioneller Berufe durch eine spezifische Synthese von Bearbeitung komplexer personaler Probleme, Ausbildungslänge und Vermittlung ethischer Codes konstituiert und diese Synthese entscheidend durch ihre Institutionalisierung in der und Ratifizierung durch die Universität gestützt wird. Der inhaltliche Sinn der Synthese wäre dann die Vorstellung, daß die Erlangung umfangreicher Ausbildung und die szientifische Auswertung von Handlungserfahrungen gleichsam eine ethische Verpflichtung gegenüber einem besonders gefährdeten Klienten sind. Indirekt gestützt werden diese Befunde durch einen weiteren interessanten Beleg hinsichtlich der selektiven Funktion der Universität. Zunehmende Komplexität im Umgang mit Sachen – d.h. hochgradige Komplikation manueller Verrichtungen – führt dazu, daß die Wahrscheinlichkeit der Plazierung eines Ausbildungsgangs an der Universität abnimmt – und dies im Vergleich zu weniger anforderungsreichen Berufen des gleichen Typs.23 Das deutet darauf hin, daß es eine prinzipielle Nichtintegration der Bereiche manueller Arbeit in die Ausbildungsangebote der Universität gibt, wodurch zugleich strikte Grenzen für die Ausdehnung von Professionalisierungsprozessen institutionalisiert werden. Eine der entscheidenden institutionellen Formen, mittels deren sich die Dominanz der Hochschule in der Profession und der Einfluß von Universität und Wissenschaft auf die Profession realisiert, ist die Bildung und Ausgrenzung innerprofessioneller Eliten. Während sich in der Vormoderne Professionseliten im Kontakt mit statushohen Klienten rekrutierten (Hofprediger, Leibärzte, dominante Lokalpraktiker in amerikanischen Großstädten etc.), sind seit der Entstehung der wissenschaftlichen Universität Professionseliten in hohem Grade akademische Eliten. D.h., Hochschulprofessoren des jeweiligen professionellen Wissensgebiets besitzen hohen innerprofessionellen Status und leisten als Professoren die Integration in die Universität und die Übermittlung disziplinärer Wissensbestände an die Profession.24 Eine Asymmetrie von universitär institutionalisierter Wissenschaft und Profession liegt dann darin, daß für Professoren in ›professional schools‹ praktische Erfahrungen mit professioneller Arbeit eventuell verzichtbar sind, umgekehrt aber nicht gilt, daß Elite- und gar Professorenstatus in einer Profession heute noch ohne vorheriges akademisches Studium erreichbar wäre.25 Diese Asymmetrie wird nun aber von den Professionen dadurch resymmetrisiert, daß sie die Balance von akademisch-szientifi23 | Cullen 1978, 94, 84f. vgl. Stichweh 1984, Kap. 7, zur Genese der ent sprechenden innerakademischen Werte. 24 | Vgl. McClelland 1983, 320, zur deutschen Entwicklung und der vermitteln den Stellung der Professoren als einer Gruppe mit Bindungen an Profession, wissenschaftliche Disziplin und den Staat. 25 | S. Parsons 1969a, 18.

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schen und professionell-klientenbezogenen Werten auch an der Spitze wiederherstellen, indem sie fast ausnahmslos duale Eliten bilden.26 D.h. neben eine akademisch-szientifische Elite tritt eine praktizierende Elite, die zwar häufig auch an Universitäten berufen wird, aber ihren Elitestatus der Tatsache verdankt, daß sie die Kernrolle professioneller Arbeit in besonders exzellenter Weise praktiziert, und für die gilt, daß die Wiedergabe und Reflexion der handlungspraktisch gesammelten Erfahrungen auch ihre Publikationen entscheidend prägt.27 Disziplinen, denen eine vergleichbare Dualität von Verpflichtungen fehlt, da die Ausübung der Hochschullehrerrolle ja nicht handlungspraktische Anwendung der disziplinären Wissensbestände ist,28 können im Unterschied zu den Professionen eindimensionale Eliten bilden und benutzen allenfalls zusätzlich eine Gerontokratie für die Pflege von Außenkontakten. Professionen hingegen leisten in gewisser Hinsicht durch die interne Differenzierung ihrer Eliten eine interne Reproduktion der Differenzierung von Disziplinen und Professionen. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozeß bekanntlich in der Medizin, wo den Laboratoriumswissenschaften (mit einer Präferenz für Stellenbesetzung durch Nichtmediziner) klinische Professuren mit Zusatzverbindungen zur Praxis gegenüberstehen;29 diese Differenz durch die Existenz zweier verschiedener wissenschaftlicher Kommunikationssysteme (›clinical-‹ vs. ›researchdisciplines‹) gestützt wird und schließlich bereits auf der Ebene des Studiums ratifiziert wird, wo etwa amerikanische ›medical schools‹ lange schon Ph.D.Programme – also nicht M.D.-Programme – in den Grundlagenwissenschaften anbieten und diese die eindrucksvollen Wachstumsraten aufweisen.30

III. G ESCHÄF TSMANN , G ELEHRTER UND S TA ATSBE AMTER : L INIEN DER A USGRENZUNG MODERNER P ROFESSIONEN Die bisherigen Überlegungen haben nur eine der Differenzierungslinien betrachtet, die für die Entstehung der modernen Professionen bedeutsam sind: die Auflösung der integrierten Gelehrtenkultur des 18. und teilweise noch 19. 26 | Hughes 1973, 285. 27 | Hughes ebd. merkt an, daß der katholische Klerus als einzige Profession drei Eliten ausbildet: Theologen für die akademische Deutung von Glaubens beständen; klerikale Praktiker, denen cha rismatisches Wirken hohe Reputa tion verschafft; Spezialisten des kanonischen Rechts für Fragen der Kirchen administration. Ein Grund für das Fortleben dieser Besonderheit ist ver mutlich, daß nur in diesem Fall eine ganze Profession von einer Organisation erfaßt wird. 28 | Vgl. zur Sonderstellung der Hochschullehre Stichweh 1987, insb. IV. 29 | S. etwa Starr 1982, 122f. 30 | Thorne 1973, 75.

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Jahrhunderts und die resultierende Differenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen und professionellen Handlungssystemen. Es gibt aber zwei weitere Bezugskontexte, die differenzierungsgeschichtlich eine vergleichbare Stellung einnehmen, da sie ebenfalls eine Struktur von Berufsrollen definieren, die einerseits eine mögliche und temporär auch realisierte Form der Institutionalisierung professionellen Handelns beschreibt, andererseits aber gerade im Prozeß der Entstehung moderner Professionen zurückgelassen und abgewiesen worden ist. Dies sind die soziale Rolle des Geschäftsmanns, der nachfrageorientiert Güter und Dienstleistungen auf ökonomischen Märkten anbietet, und die des Staatsbeamten, der primär mit der Bearbeitung eines Problems öffentlicher Ordnung befaßt ist und dem diese Zuständigkeit durch die zentralen Entscheidungsinstanzen des jeweiligen politischen Systems übertragen wird. Je nach Zeitpunkt und nationalem soziopolitischen Kontext wechselt der Schwerpunkt in der Artikulation von Abgrenzungsleistungen. Während in Deutschland um 1800 die disziplinäre Differenzierung der Wissenschaft und die daraus resultierende Neuorientierung der Professionen differenzierungsgeschichtlich bestimmend ist, läßt sich die englische universitäre Reformbewegung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine defensive Reaktion auf den Industrialisierungsprozeß beschreiben,31 die professionelle Serviceideale als Ethik einer akademischen Kultur gegen das Bild einer profitorientierten Geschäftswelt profiliert32 und ein halbes Jahrhundert später den Triumph verzeichnet, daß die Geschäftswelt die Versöhnung mit der Universität durch Übernahme liberaler Charakterbildung und professioneller Rhetorik erkauft.33 In Deutschland spielt das Problem des potentiell gewerblichen Charakters professioneller Tätigkeit zunächst eine geringere Rolle,34 da der selbstverständliche Staatsbezug universitärer Ausbildung zusammen mit Faktoren wie dem protestantischen Staatskirchentum den Professionellen oft fraglos als Staatsdiener erscheinen ließ. Gegen dieses staatsbezogene Selbstverständnis artikulieren sich erst langsam Vorstellungen wie die für den Fall des Klerus von Schleiermacher vertretene, der Geistliche verdanke seine Stellung der Dienstverpflichtung gegenüber den Laien und nicht gegenüber der Regierung. Schleiermacher sieht sich bezeichnenderweise dem Vorwurf konfrontiert, er

31 | Vgl. Armstrong 1973, 144ff. et passim. 32 | Rothblatt 1968, 86-93; vgl. Pattison 1868, insb. 101f. 33 | Rothblatt 1968, 270-3. 34 | Die Ausnahme sind hier die Ärzte – siehe dazu materialreich Nasse 1823 mit der für Deutschland wahrscheinlichen Tendenz, das Problem durch eine Art Beamtenstatus lösen zu wollen. Vgl. Wenig 1969, 76ff.

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wolle ›eine unabhängige Republik innerhalb des Königreichs Preußen‹ (Marheineke) errichten.35 Deutlich wird an diesen Beispielen, daß die Entstehung der modernen Professionen sich der Ablösung aus und Negation von drei alternativen Rollenmustern verdankt, was nicht notwendigerweise heißt, daß künftig kein Professioneller mehr in Prozessen disziplinär gesteuerter Forschung engagiert ist, in staatlichen Bürokratien arbeitet oder seine Kompetenzen einer rein kommerziellen Auswertung zuführt. Vielmehr meint dies nur, daß ein Kernbereich professionellen Handelns entsteht, den wir in einer ersten Annäherung durch seine von den anderen Bereichen differierende Marktstruktur beschreiben wollen. Während Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert immer als öffentliches Gut behandelt worden ist,36 das im Prinzip für jeden verfügbar ist und von jedem angeeignet werden kann, ohne daß diese Aneignung andere Personen von der Nutzung ausschließt, institutionalisieren ökonomische Märkte einen Modus der Verteilung von Ressourcen und Leistungen, der von zahlungskräftiger Nachfrage abhängig ist und für den Nachfrageverhalten die Information ist, die primär die Zurverfügungstellung von Leistungen steuert. Professionen entwickeln einen Typ professioneller Märkte, der gewissermaßen in der Mitte zwischen diesen beiden Mechanismen der Leistungserbringung und -verteilung liegt. Von ökonomischen Märkten übernehmen sie den Individualismus der Orientierung am einzelnen Kunden oder Klienten und d.h. die Vernachlässigung kollektiver Relevanzen, Gesamtniveaus der Versorgung etc.37 Mit der Wissenschaft teilen sie die Orientierung an Wissensbeständen, die, obwohl ihrem Charakter nach oft esoterisch, dennoch prinzipiell nicht so angeeignet werden können, daß Prozesse der Aneignung andere interessierte Personen von der gleichen Möglichkeit ausschließen würden. Aber diese Wissensbestände können in den Professionen nicht voraussetzungslos entwickelt werden, müssen vielmehr auf die Bearbeitung personaler Probleme des Klienten enggeführt werden. Das verlangt die personenbezogene Arbeit des Professionellen und erzeugt die professionstypischen Knappheiten, die Knappheiten der Zeit und der Aufmerksamkeit des Professionellen sind. Den entscheidenden Schritt der Differenzierung von der Struktur und der Interaktionstypik ökonomischer Märkte vollziehen Professionen nun, indem sie die Orientierung an der subjektiven Nachfrage des Kunden/Klienten durch die Einführung des Konzepts eines objektiven Bedarfs, mediatisieren dessen Feststellung in die Definitionskompetenz des Professio-

35 | Bigler 1972, 164ff. et passim, und vgl. zur Herauslösung der Anwaltschaft aus einer Beamtenstellung Gneist 1867. 36 | Vgl. Wuthnow 1979, 230. 37 | S. dazu näher unter V.

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nellen fällt.38 D.h., der Professionelle definiert den spirituellen, rechtlichen oder Gesundheitszustand des Klienten und entscheidet, ob es eines Eingriffs bedarf. Das hat zur Folge, daß manche – auch zahlungskräftige – Nachfrage unberücksichtigt bleibt, andererseits die Objektivität des Bedarfs Ansprüche auf professionelle Dienstleistungen erzeugen und zugleich rechtfertigen mag, die in der Folge schwer abgewiesen werden können und dann ökonomisch eventuell durch Versicherungssysteme ermöglicht werden. Das Konzept der Objektivität eines Bedarfs, das im übrigen durch die Verpflichtung des Professionellen gegenüber einer sachlichen Wertordnung gestützt wird,39 bedingt also die Kombination zweier struktureller Eigentümlichkeiten:40 1. Hohe Autonomie des Professionellen, der diese Objektivität verwaltet und dies zugleich in der Weise tut, daß seine Intervention immer ein von ihm gewähltes Handeln ist, nicht etwa passive Reproduktion des in der Struktur der Welt Angelegten. 2. Objektiv begründete Ansprüche des Klienten, die ihrer Natur nach egalisierend wirken, so daß deutlich wird, daß die hier skizzierte Klassifikation, die von ökonomischen Märkten über professionelle Märkte hin zur Produktion und Distribution öffentlicher Güter reicht, zugleich eine Dimension zunehmender Egalität bezeichnet. Kontrolliert werden die der Möglichkeit nach unbegrenzten Ansprüche durch Knappheit, die beispielsweise durch Begrenztheit der Zahl der Professionellen, Praxiszeiten und Warteschlangen signalisiert wird. Wirksam ist außerdem gerade in diesem Kontext das in der Folge noch näher zu betrachtende Prinzip der Individualisierung der Professionellen-Klienten-Beziehung: Der Klient muß, obwohl er letzlich nicht weiß, ob er ein ernsthaftes Problem hat, und obwohl er Zugangsschwellen überschreiten muß, die für ihn hoch sein mögen, selbst und meist aus eigener Initiative kommen, und es sucht nicht etwa die Profession ihre Umwelt aktiv nach möglicherweise vorhandenen Bedarfen ab.41 Es kommt dann hinzu, daß der jeweils gerade anwesende Klient einen Anspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit des Professionellen hat und seine Ansprüche in der Regel nicht durch einen anderswo eventuell vorhandenen dringenderen Bedarf gebrochen werden.42 Bevor wir weitere Momente der Genese und der Struktur professioneller Handlungssysteme diskutieren, sei abschließend zu der Klassifikation von 38 | S. Boulding 1966; vgl. Stevens 1974, 511; Arrow 1969, 61. 39 | Vgl. Gneist, 1867, 55. 40 | Vgl. Boulding 1966, 280, 294. 41 | Diese Dimension unterliegt Variationen zwischen Gesellschaften. Heiden heimer 1981 stellt am Beispiel sozialpolitischer Hilfeleistun gen fest, daß man in Deutschland hohe Leistungsniveaus mit Passivität der Verwaltung in der Identifikation der Leistungsberechtigten kombiniert, in den USA hin gegen niedrige Lei stungsniveaus mit einer aktiven Suche nach Klienten. 42 | S. am Beispiel des Rechts Fried 1976, 1061f.; Lochner 1975, 464.

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Märkten zweierlei angemerkt. Diese erlaubt erstens, die entscheidenden Linien der Differenzierung zu reproduzieren, und d.h. zu sehen, daß der Professionelle sich in einem intermediären Bereich ansiedelt, der ihn gleichermaßen von dem auf ökonomischen Märkten operierenden Geschäftsmann, dem mit der voraussetzungslosen Entwicklung eines nicht auf einen Klienten bezogenen Wissens befaßten Wissenschaftler und dem ebenfalls mit der Produktion und Distribution öffentlicher Güter und mit der Regulierung aller drei Typen von Märkten befaßten Staatsbeamten trennt. Gleichzeitig ist zweitens zu betonen, daß die Abgrenzung dieser drei Typen von Märkten einen analytischen Charakter in dem Sinn hat, daß sie die Institutionalisierung eines konkreten Typus sozialen Handelns nicht präjudiziert. So kann die Zurverfügungstellung medizinischer Versorgungsleistungen auf allen drei Typen von Märkten erfolgen, und es ist eine empirisch-historische Frage, ob sich in diesem Bereich ein Primat professioneller Handlungsstrukturen etabliert.

IV. D ESTR ATIFIK ATION Eine der Voraussetzungen der Entstehung der modernen Professionen, die in der bisherigen Argumentation noch nicht angesprochen worden ist, ist der Prozeß der Destratifikation. Die Genese der modernen Gesellschaft verdankt sich ja entscheidend jenem Umbau, der an die Stelle einer durch Schichtung und damit Hierarchie im Aufbau bestimmten Ordnung gesellschaftlicher Kommunikation eine horizontale Ordnung von Funktionssystemen treten läßt, die spezifische Problemhinsichten gesellschaftlicher Kommunikation als eigenständige Funktionssysteme ausdifferenziert und für die Orientierung in diesen das Wissen über die natürlich fortbestehende Schichtung relativ irrelevant werden läßt.43 Entsprechend gilt für die Wissenschaft als eines dieser Funktionssysteme im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, daß an die Stelle wissenschaftstheoretisch und institutionell gestützter Hierarchien eine horizontale Ordnung disziplinärer Sozialsysteme tritt, die als Zusammenhang interdisziplinärer Orientierung und Kommunikation zugleich dem Gesamtsystem der Wissenschaft eine singuläre Autonomie im Gesellschaftssystem sichert.44 Das betrifft zugleich die Professionen, die ehedem in der Hierarchie der Fakultäten an der Spitze einer innerwissenschaftlichen Ordnung standen, und ist einer der Faktoren ihrer Umorganisation, die eine extern determinierte, zur Hierarchie tendierende innerprofessionelle Diversität ersetzt durch eine um eine Leistungs- und Arbeitsrolle gebildete homogene Profession, die Spezialisierungs-

43 | Luhmann 1980/1981. 44 | Stichweh 1984.

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muster und Eliten künftig nach innerprofessionellen Gesichtspunkten erzeugt.45 Vormoderne Professionshierarchien unterscheiden eine Mehrzahl von Statusgruppen. So etwa die englische medizinische Hierarchie, die bereits in der Bezeichnung der drei Gruppen sorgfältig den Ranggesichtspunkt zur Geltung bringt: »the profession of physic«, »the craft of surgery«, »the apothecary’s trade«.46 Unterhalb dieser drei Gruppen47 gibt es dann eine Unterschicht wandernder Quacksalber, die im Unterschied zu dem ja als Allgemeinpraktiker auftretenden modernen Quacksalber oft hochgradig spezialisiert sind und die als Spezialisten für vielleicht eine einzige Operation (das Stechen des Stars etc.) lange die eigentlich riskanten Operationen übernehmen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts werden sie verdrängt.48 Vielleicht das einzige Beispiel einer bis in die Gegenwart überlebenden Unterscheidung dieses vormodernen Typs bietet die englische Trennung von ›barrister‹ und ›solicitor‹, die die Dimension oben/unten (höhere/niedere Gerichte) mit der Dimension innen/außen (innergerichtliche/vorgerichtliche Praxis) kombiniert und früher außerdem über die Frage informierte, ob jemand als ein ›gentleman‹ zu betrachten sei.49 Professionshierarchien dieser Art waren durch eine Mehrzahl von Gesichtspunkten determiniert: Eine wertende Unterscheidung von Wissen und Handeln, wie sie etwa die Arbeitsteilung von Ärzten, Chirurgen und Apothekern bestimmt; die Schichtzugehörigkeit der Professionellen und die Schichtzugehörigkeit ihrer Klienten; eine räumliche Differenzierung, die oft scharf zwischen der Praxis in Großstädten und der auf dem Lande unterscheidet und darin Differenzen politischen Ordnungsbedarfs und politischer Ordnungsfähigkeit für Zentrum und Peripherie reflektiert;50 segregierte Ausbildungswege ohne wechselseitigen Kontakt und ohne Chancen des Überwechselns. Die Moderne löst alle diese Unterscheidungen auf. Wissen vs. Handeln wird in gewisser Hinsicht zur Differenzbestimmung von Disziplinen und Professionen, die man genauer vielleicht so beschreiben kann, daß die wissenschaftlichen Disziplinen auch im Gesellschaftsbezug primär in der Weise operieren, 45 | S. eine informative Beschreibung dieses Prozesses für die USA bei Haber 1974, 238-44, mit der These, daß in den USA die Selek tivität des Ein wande rungsprozesses – Mitglieder von Oberschich ten, die die Elitepraktiker stellen, wandern selten aus – die Destratifikation der Professionen wesent lich er möglicht hat. 46 | Peterson 1978, 12. 47 | In Preußen gibt es um die Wende zum 19. Jahrhundert sieben Gruppen medizinischer Praktiker; nach der Reform 1825 bis zur Schaffung des Einheitsstandes 1852 drei Klassen von Ärzten (Wenig 1969, 6f., 44f.). 48 | Rosen 1944; Gelfand 1976. 49 | Vgl. Rüschemeyer 1973, 11; Haber 1974, 239, s.a. Ranieri 1985, 97f. 50 | S. etwa Alexander 1980.

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daß sie Erleben auf Erleben übertragen, also Welt- und Gesellschaftsbilder beeinflussen, die Professionen hingegen ihre Klienten durch Handeln beeindrucken und vertrauensmäßig binden und teilweise ein Anschlußhandeln des Klienten motivieren wollen.51 Dem entspricht die Homogenisierung der Professionen um eine handlungsorientierte zentrale Leistungsrolle, die institutionell durch Orte gemeinsamer Praxis vorbereitet wird, wie sie etwa das im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewinnende Hospital bietet, das für Studenten und dort praktizierende Ärzte durch vielfältige Formen des Kontakts und der Kooperation Rangabstufungen zwischen Medizin und Chirurgie schnell irrelevant werden läßt, gleichzeitig eine innerprofessionelle Elite (›consultants‹) neukonstituiert, die ihren Status jetzt eben der Tatsache verdankt, daß sie mit dem Hospital als einem Zentrum professioneller Lehre und Praxis assoziiert ist.52 Wie radikal der hier beschriebene Umbruch ist, mag man sich daran verdeutlichen, daß im Fall der Medizin der Status der neuen innerprofessionellen Elite nicht einmal dadurch beeinträchtigt wird, daß im Hospital im 19. Jahrhundert typischerweise Personen aus unteren Sozialschichten behandelt werden. Die Destratifikation der Professionen wird offensichtlich wesentlich durch Umbauten im Klientenbezug gestützt. Dazu gehört einmal ein Rückgang des Anteils aristokratischer Klienten auch in der Individualpraxis, da Klienten sich zunehmend aus wohlhabender werdenden Mittelschichten rekrutieren. Ein Zweites ist eine Zunahme der absoluten Zahl der Klienten eines jeden Professionellen,53 die seine Abhängigkeit von jedem einzelnen Klienten reduziert. Entscheidend ist schließlich, daß prinzipiell gilt, daß Klienten nicht mehr primär durch ihre ständische Qualität (oder deren Abwesenheit) definiert werden und damit das Erfordernis einer analogen Gliederung der Profession in Stände entfällt. Diese Entwicklung wird außer- und innerprofessionell vorbereitet: Im Gesellschaftssystem durch Umstellung auf funktionale Differenzierung mit den entsprechenden Folgen für die kommunikative Relevanz von Schichtzugehörigkeit; in den Professionen durch Spezifikation professionstypischer Problemperspektiven, die dazu führen mag, daß beispielsweise medizinische Elitepraktiker

51 | Erst wenn der Wissenschaftler in angewandter Forschung direkt für prakti sche Bedarfe eines Klienten arbeitet, d.h., wenn er – in dem in Abs. VIII spezifizierten Sinne – als ›Professioneller‹ tätig ist, beeinflußt er ebenfalls im wesentlichen das Handeln seines Klienten. Zum Unterschied von Erleben und Handeln s. Luhmann 1978. Das hier verwendete Argument zur Diffe renz von Disziplinen und Professionen reformuliert eine Unterscheidung, die N. Luh mann in Hinsicht auf die Differenz von Natur- und Humanwissenschaften eingeführt hat, s. Luhmann 1981. 52 | Peterson 1987, 15ff.; Gelfand 1976, 529. 53 | Zu den Voraussetzungen dieses Prozesses Starr 1982, Kap. 2.

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fast häufiger mit statusniedrigen Patienten befaßt sind, weil diese die komplexeren Probleme aufweisen.54 Das Resultat dieser Mehrzahl von Tendenzen ist eine Umkehr der Asymmetrie im Professionellen-Klienten-Verhältnis zugunsten des Professionellen. Dies verweist ihn stärker auf die interne Ordnung seiner Profession, die, obwohl sie durch Spezialisierung und Elitenbildung in vielfältiger Weise intern gegliedert ist, dennoch in einer zentralen Hinsicht die Homogenität der Profession wahrt: Professionen vermeiden bis heute – oder zumindest verbergen sie – Formen der Arbeitsteilung, die aus den Arbeitsvollzügen heraus zu Relationen der Über- und Unterordnung führen.55 Das wahrt die Universalität einer professionellen Kernrolle und hat zur Folge, daß dort, wo unterordnende Arbeitsteilung technisch erforderlich wird, jeweils neue Berufsgruppen entstehen, deren Qualifikationsprofil sich scharf von dem der Profession unterscheidet.56 In diesem Punkt optieren die Professionen wie die wissenschaftlichen Disziplinen, die ebenfalls nicht riskieren, eine funktionale Differenzierung der Arbeitsvollzüge offen zu institutionalisieren, so daß die Autorenliste eines Aufsatzes über experimentelle Hochenergiephysik – im Unterschied etwa zu den immer feiner werdenden Unterscheidungen im Vor- und Nachspann eines Kinofilms – zwar bis zu einhundertvierzig Namen aneinanderreiht, aber keinerlei Aufschluß gibt über die wirklich vorhandenen und komplementär einander zugeordneten Arbeitsverteilungen.

54 | Heinz/Laumann 1978, 1117, vergleichen unter diesem Gesichts punkt Recht und Medizin. Bemerkungen zur Medizin bei Bosk 1979; Thomas 1983. 55 | Wie prekär die Stabilität dieser Enthierarchisierung ist, wird beispielweise deutlich in den großen Rechtsfirmen der USA (200-500 Rechtsanwälte), in denen die Struktur einer Großorganisation die Tendenz zu Hierarchisierungen begünstigt. Die Firmen ver suchen dies dadurch aufzufangen, daß der Status des ›associate‹ als Ausbildungsposition gilt (vier bis zehn Jahre) und inso fern den Ausbildungspositionen im medizinischen Bereich (›intern‹, ›resi dent‹) oder der Wissenschaft (›post-Ph.D.‹) ähnelt. Gleichzeitig aber gibt es quantitative Verschiebungen in der Relation ›associa tes‹: ›partners‹ (1975 100:100, 1979 100:63) und eine Tendenz zur Herausbildung permanenter Positionen unterhalb des ›full-part ner‹, die terminologisch ver schleiert wird (›participating associa te‹, ›nonequity partner‹, ›special part ner‹). Diese Entwicklung ist Beleg sowohl für den Imperativ, derartige Hierarchisierungen zu vermeiden, wie auch für die Instabilität einer homoge nen, nicht durch formelle Rangabgrenzungen gegliederten Profession (Galan ter 1983, insb. 156, 174). 56 | S. dazu näher Abs. VIII.

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V. D IE S TRUK TUR PROFESSIONELLEN H ANDELNS Der zuletzt diskutierte Gesichtspunkt des Vorhandenseins inhärenter Restriktionen auf die Zerlegung professioneller Arbeit in stärker routinisierbare Elemente ist oft geradezu als identitätsdefinierendes Merkmal der Professionen benannt worden.57 Dieser Sachverhalt weist auf die Möglichkeit hin, daß es nur bestimmte Problemsituationen sind, die katalytisch die Ausgrenzung einer Profession erlauben und die zugleich die Restriktionen auf Formen subordinierender Arbeitsteilung erklären. Was sind die Eigenschaften dieser Problemsituationen? Professionen sind typischerweise befaßt mit der Bewältigung kritischer Schwellen und Gefährdungen menschlicher Lebensführung. Diese für den Klienten problematischen Situationen involvieren Instanzen und Kräfte – man kann sich das am Beispiel der klassischen Professionen Recht, Theologie und Medizin leicht vergegenwärtigen –, deren Kontrolle außerhalb der Handlungsmöglichkeiten der Normalperson liegt,58 so daß die Vermittlung, Intervention und Hilfe eines Experten gesucht wird. Was den Experten auszeichnet, ist akademisches Wissen eines relativ esoterischen Typs, das zudem oft wissenschaftlichen Status hat und dennoch in entscheidender Hinsicht insuffizient ist: Der Tendenz nach gibt es eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen, eine Relation, die es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen. Ein wesentliches Moment der Problemsituation ist damit Ungewißheit hinsichtlich der Dynamik der Situation, hinsichtlich der zu wählenden Handlungsstrategie und schließlich dem mutmaßlichen Ausgang, und ebendiese Struktur läßt auf der Seite des Professionellen die Relevanz subjektiver Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme hervortreten, die zugleich mit dem Vertrauen des Klienten als seiner komplementären und möglicherweise erfolgsrelevanten Investition interagieren. Entscheidend für den professionellen Umgang mit Ungewißheit ist, daß man, anders als in der Wissenschaft, nicht auf demonstrative Offenlegung, das Mitkommunizieren des noch unsicheren Status des Wissens setzen kann. Eine solche Option, die gerade in der Relativität der Wahrheit die Unbegrenztheit des eigenen Fortschreitens erfährt, ist für die Professionen durch das Faktum oft existentieller Betroffenheit des Klienten ausgeschlossen, welches eher dazu zwingt, Ungewißheit zu verdecken, sie in Formen abzuarbeiten, die das Vertrauen des Klienten nicht erschüttern. Es dürfte einleuchten, daß in diesem Zusammenhang die relative Homogenität der professionellen Leistungsrolle einen zweifachen Sinn hat: Dem 57 | Vgl. Cullen 1978, 8; Rüschemeyer 1983, 52. 58 | Vera 1982, 92; Naegele 1956, 60f.; Scott 1983, 23.

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Klienten garantiert sie ein Gegenüber, das für einen vergleichsweise großen Bereich seiner Probleme zuständig ist,59 die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme signalisiert und damit einen Ansatzpunkt für die Bildung personalen Vertrauens bietet; gleichzeitig schaltet sie die Wahrnehmung innerprofessionell differierender Kompetenzniveaus durch den Klienten aus,60 weil sie die Gleichrangigkeit und potentielle Gleichzuständigkeit eines jeden einzelnen professionellen Praktikers betont und dies durch weitere Momente, wie die Weigerung von Professionellen, Kollegenverhalten zu kommentieren, oder durch Berufskleidung, die symbolisch Vertretbarkeit akzentuiert, verstärkt wird.61 Aus diesen Überlegungen wird bereits deutlich geworden sein, daß die durch die Problemsituation determinierte Struktur der Interaktion von Professionellem und Klient die Definition des im Einzelfall jeweils vorliegenden Problems nahezu vollständig in die Hand des Professionellen legt. Hier finden sich die strukturellen Voraussetzungen für das bereits oben diskutierte Konzept eines objektiven Bedarfs als Bedingung professioneller Intervention und als generatives Merkmal professioneller Märkte. Die Autonomie des Professionellen in der Problemdefinition wird in der Moderne zusätzlich gesteigert durch Prozesse der Verwissenschaftlichung. Man mag sich dies vergegenwärtigen an der Entwicklung medizinischer Diagnose, die immer stärker die Symptombeschreibung des Patienten nur noch als einen Anlaß für die Durchführung einer Untersuchung nimmt, welche für die vom Patienten genannten Symptome schrittweise objektive – und d.h. im Beschreibungsraum des Professionellen liegende – Symptome zu substituieren sucht.62 Die Verwissenschaftlichung der Handlungsgrundlage ist allerdings nur ein Merkmal in der Entstehung der modernen Professionen – und sie ist vielleicht insofern nicht das letzlich entscheidende Merkmal, als Verwissenschaftlichung in gleichem Maße die Wahrnehmung der Komplexität der Problemsituation und die Technologien der Diagnose und Abhilfe betrifft und insofern das Bewußtsein der Diskrepanz zwischen der Komplexität der Situation und dem handlungspraktisch relevanten Wissen eher steigert, so daß außer Erfolgssicherheit einiger Technologien vor allem die Verschärfung grundlegender Dilemmata ein wahrscheinliches Resultat ist. In dieser Sicht wären die modernen Professionen 59 | Darin liegt eine klientendeterminierte Restriktion auf innerprofes sionelle Spezialisierungsprozesse – Laumann/Heinz 1979, 239, und unten Abs. VI. 60 | Vgl. Hughes 1952, 361f. 61 | Vgl. zu Ritualen und Berufskleidung der Richter Paterson 1983, 283: »[…] the trappings of judges encourage notions of their interchangeability and equal competence, in the eyes of beholders – thus negating their subjectivities and enabling the individual judge to obtain collective absolution by transferring part of his sense of guilt for his errors from his own shoulders to those of the larger company of his colleagues.« 62 | Vgl. Peterson 1978, 14; Starr 1982, 136f.

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so etwas wie eine Reaktion auf Kontingenzsteigerung durch Wissenschaft, die u.a. die prekären Grenzübergänge im Verhältnis von Wissensbasis, Handlungsvollzug und Handlungserfolg genauer hervortreten läßt: Die Wissensbasis selbst wird zu komplex, um noch ein unproblematisches Verhältnis zur Handlungspraxis unterhalten zu können; in den Handlungsvollzügen wird in dem eben erläuterten Sinn mitrealisiert, auf wieviel Nichtwissen und Ungewißheit sie aufruhen, und schließlich werden Handlungserfolge präziser zurechenbar, womit auch ihr Nichteintreten wahrnehmbar wird. In dieser der Möglichkeit nach krisenhaften Situation entstehen die modernen Professionen durch zwei weitere Umbauten, deren Bedeutung entscheidend auch darin liegt, daß sie sowohl die Differenz markieren, die zwischen vormodernen und modernen Professionen liegt, wie sie auch Differenzbestimmungen angeben, die den Prozeß der Differenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen und professionellen Handlungssystemen verständlich machen. Diese beiden miteinander denkbar eng verbundenen Umbrüche sind die Ausdifferenzierung der Klientenorientierung und die Durchsetzung des Primats des Handlungsbezugs und werden im folgenden näher erläutert werden. Im Selbstverständnis moderner Professionen ist auf eine kaum hinterfragbare Weise verankert, daß professionelle Arbeit sich auf einen Klienten bezieht, dessen Problem es zu lösen und dessen Interessen es zu vertreten gilt, so daß bei Sichtbarwerden konfligierender Interessen in der Regel die Orientierung am Klienten den Vorrang genießt. Wie schnell sich die Fraglosigkeit der Klientenorientierung bereits in der Studiensozialisation durchsetzen kann, wird in einem Detail einer amerikanischen Untersuchung über Rechtsstudenten deutlich. Während diesen am Anfang ihres Studiums Ralph Nader der Prototyp eines Juristen scheint, sehen sie ihn schon zwei Jahre später – und dies, obwohl sich ihre politische Bewertung von Naders Aktivitäten nicht verändert hat – nicht eigentlich mehr als Juristen, weil ›er keinen Klienten hat‹.63 Verständlich wird an einem solchen Beispiel, daß die Dominanz der Klientenorientierung im Handeln des Professionellen nicht nur ein bemerkenswertes strukturelles Faktum ist, vielmehr zugleich eine begriffliche Selbstsimplifikation und Selbstrechtfertigung der Professionen, die es erlaubt, mit einer vergleichsweise einfachen Ethik zu leben. So werden im ›Code‹ der ›American Bar Association‹ jene nicht seltenen Fälle innerorganisatorischen Konflikts oder divergierender Interessenlagen, die den in der Organisation beschäftigten Juristen vor das Dilemma stellen, daß er allenfalls per eigener – zudem folgenreicher – Entscheidung weiß, ob er die Organisation oder eines ihrer Mitglieder (und welches) als seinen Klienten ansehen will, nicht thematisiert.64 Auf der gleichen Linie liegt vielleicht auch, daß die bereits am Anfang unseres Jahrhunderts entwickelte 63 | Erlanger/Klegon 1978, 26. 64 | S. mit instruktiven Beispielen Hazard 1978, Kap. 3.

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Vorstellung, ein Anwalt, der in einer Transaktion für mehrere der darin involvierten Klienten arbeitet, vertrete nicht diese Klienten, repräsentiere vielmehr die Situation, praktisch nicht rezipiert worden ist – und dies, obwohl sie eine Vielzahl von Anlässen vermittelnden Handelns treffend beschreibt und eine Selbstidentifikation über Objektivität nahegelegt hätte.65 Diese Präferenz für ein Selbstverständnis, das Parteilichkeit des Engagements für einen Klienten favorisiert, referiert auf eine Entwicklung, die erst in der Moderne möglich war. Professionen des 18. und teilweise noch des 19. Jahrhunderts zeichnen sich dadurch aus, daß sie als Korporation gegenüber dem Staat die Lösung eines Problems der öffentlichen Ordnung übernehmen – dies beispielsweise ist der Sinn von ›medizinischer Polizei‹.66 Die Verpflichtungen der Professionen beziehen sich primär auf den Staat und nur über diesen vermittelt auf dessen Untertanen,67 und so ist es vielleicht bezeichnend, wenn Duellmandate des 17. und 18. Jahrhunderts dem medizinischen Personal, das die im Duell verletzten Personen behandelt, gebieten, sofort polizeiliche Meldung zu machen. Das ›Allgemeine Landrecht‹ (1794) markiert hier schon den – rechtsstaatlichen – Umbruch: es enthält scharfe Strafbestimmungen gegen Duelle und verpflichtet die Ärzte zum Schweigen.68 Damit beginnt eine – gerade in Deutschland verzögerte – Entwicklung, die den extremen Individualismus der modernen Professionen heraufführt: alle Verpflichtungen der Professionen sind Verpflichtungen des individuellen Professionellen gegenüber dem individuellen Klienten. Die Tendenz zur Organisationsbildung auf beiden Seiten der Relation von Professionellem und Klient modifiziert diese Aussage nicht, da sie in keiner Weise eine Rückkehr zum korporativen Muster69 impliziert. Signifikante Seiteneffekte dieser individualistischen Reorganisation lassen sich beobachten: So etwa der niedrige innerprofessionelle Status der mit verbleibenden korporativen Aufgaben befaßten Praktiker (öffentliche Gesundheitsvorsorge/Gemeindepsychiatrie) und die gelegentliche, an als schutzbedürftig wahrgenommenen Interessen des Klienten orientierte, Weigerung, an staatlicherseits der Profes-

65 | Hazard 1978, Kap. 4. 66 | Hierzu und zum folgenden Abbott 1983, 860ff. 67 | S. in charakteristischer Formulierung Joseph II. zu dem an das Wiener Krankenhaus berufenen P. Frank: »Sie haben die Regenten gelehrt, wie sie ihre Unterthanen gesund erhalten mögen […]« (zit.n. Nasse 1823, 217). 68 | Hufen 1955, 198f. 69 | Dieses existiert natürlich auch in modernen Gesellschaften in vielfältigen Formen fort: Die Professionen in kommunistischen und faschistischen Gesellschaften (Rüschemeyer 1973, 14 u. 199 n. 21); die ›Grands Corps‹ der französischen Administration (Armstrong 1973, 214ff.) und das Offi ziers korps.

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sion vorgeschriebenen Tätigkeiten mitzuwirken (Register/Meldepflicht für bestimmte Typen von Krankheiten).70 Der Umbruch von polizeilicher Gesamtverantwortung für ein Problem zu strikt klientenbezogenem Prozedieren fordert natürlich eine komplementäre Ausdifferenzierung der Klientenrolle. In diesem Prozeß treten zwei kontrastierende Momente hervor. Einmal wird der Klient als individueller Handlungsträger gefordert und vorausgesetzt. Er muß selbst kommen, das Problem explizieren, in manchem wird ihm auch anstrengende Mitarbeit abverlangt und schließlich muß er vielfach selbst bezahlen.71 Andererseits wird er in entschiedenerer Weise als jemand konzipiert, der sein Problem nicht selbst lösen, sich in gewisser Hinsicht nicht einmal vertreten kann. Man kann sich dies am Beispiel der Entwicklung des angelsächsischen Strafprozesses vergegenwärtigen. Während noch bis ins 18. Jahrhundert hinein die Unterstellung gilt, daß ein Angeklagter sich am aufrichtigsten und informiertesten selbst verteidigt, führt die nach 1730 beginnende Vertretung auch des Angeklagten durch einen Rechtsbeistand zu einer exakten Umkehr der Aktivitätsverteilung.72 Die Juristen verlassen die relativ passive Position, die sie oft auf den Vollzug routinemäßiger prozeduraler Akte beschränkt hat; parteilich engagiert dominieren sie die ›adversary procedure‹ des Strafprozesses, während der Angeklagte zum nahezu vollständigen Schweigen verurteilt wird. Seine Ausschaltung verdankt sich u.a. seinem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, und darin liegt dann auch die Unterstellung, daß er sich auf die Vertretung seiner Interessen eigentlich nicht versteht. Ein weiteres Korrelat des professionellen Individualismus in der Übernahme und Auslegung von Verpflichtungen ist eine individualistische Institutionalisierung von Kontrollstrukturen. D.h., daß es an Mechanismen fehlt, die die Leistung der gesamten Profession gegenüber der Gesellschaft gemäß Kriterien, die auf solche aggregierten Resultate applizierbar sind, einer rationalen Bewertung unterziehen. Weder wird das Engagement für einzelne Klienten daran gemessen, ob es nicht anderswo dringendere Bedarfe gibt,73 noch existieren genuin professionsinterne Mechanismen, die beispielweise für die Medizin kontrollieren, wie sich durch Aggregation individueller ärztlicher Handlungen das

70 | Abbott 1983, 861. 71 | Die Psychoanalyse ist der radikalste Fall der Institutionalisierung dieser individualistischen Prämissen: Sie hat alle vier hier er wähnten Momente der Rolle des Patienten ideologisiert, und sie wählt durch die extreme zeitliche Beanspruchung ihrer Patienten und die darin liegende Minimierung von deren Zahl ein therapeu tisches Muster, das die Abweisung jeglicher Zuständigkeit für das gesamtgesellschaftliche Problem psychischer Krankeit strukturell determiniert. 72 | S. Langbein 1978, insb. 306-14; zu Deutschland vgl. Raeff 1983, 137. 73 | Fried 1976.

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Wachstum des Gesamtsystems medizinischer Handlungsvollzüge ergibt.74 Letzteres heißt u.a., daß die einzelne ärzliche Verschreibung in der Regel nicht in Relation zu dem Niveau der Gesamtmedikation gesetzt wird, von dem gelten mag, daß es auch in rein medizinischer Sicht irrational ist, obwohl jede einzelne Verschreibung für sich wohlbegründet ist. Kontrollen sind entweder Strukturkontrollen, die Antezedenzbedingungen der Handlungsausführung regeln, im Unterschied zu Prozeß- und Ergebniskontrollen,75 oder sie betreffen einzelne Fälle und einzelne Professionelle. So mag man in medizinischen Ausbildungssystemen junge Ärzte mit großer Sorgfalt im Hinblick auf die Ausschaltung von Fehlerquellen beobachten und muß sich dennoch resignativ zu der Tatsache verhalten, daß diese Fehler andernorts ständig gemacht werden und man insofern dieselben Probleme in Form ›ruinierter‹ Patienten überwiesen bekommt. Eine ›korporative‹ Leistungssteigerung kann sich die medizinische Profession allenfalls als Resultat der Aggregation individueller Leistungsniveaus denken, die durch Ausbildungsprozeduren angehoben werden.76 Entsprechend individualistisch ist, wie wir noch sehen werden, auch der Operationsmodus professioneller Ethik gedacht. Die Überlegungen zur Ausdifferenzierung der Klientenorientierung dürften nahegelegt haben, daß diese nur möglich und sinnvoll ist, wenn zugleich der moderne Professionelle dezidiert als jemand begriffen wird, der das Geschehen in der Professionellen-Klient-Dyade durch Handeln strukturiert, sich selbst primär als Handelnden identifiziert und im Handeln seine Kompetenzen realisiert. Handlungsbezug wird dabei in den moderen Professionen in zweifacher Weise neu bestimmt: durch Aktivierung und durch funktionale Spezifikation. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wird der Professionelle vielfach über zugeschriebene statt über erworbene Attribute definiert, werden seine Attribute zudem wegen ihrer Präsenz und in ihrer Präsentation geschätzt, nicht weil sie als notwendige Voraussetzungen in ein wirkungsorientiertes Handeln eingehen. Das aber heißt, daß ständische Qualität, Charakter, Stil und ein als Besitz geschätztes Wissen sich besser als anderes eignen, das wahrscheinliche Mißtrauen des statushohen – und des in dieser Frage gleichmotivierten statusniederen – Klienten auszuräumen,77 und sie des weiteren nur begrenzt durch erfolgreiches Handeln validiert werden müssen. Ein zweiter wichtiger Gesichts74 | Hierzu und zum folgenden Luhmann 1983. 75 | S. Scott/Meyer 1983. 76 | S. Bosk 1979, insb. 181-8. 77 | S. instruktiv Peterson 1978, 38f., 122-4; Starr 1982, 86. Peterson (Kap. 3) zeigt für das viktorianische England die eminente Bedeu tung der Wahrung eines äußeren Anscheins von Wohlhabenheit gerade auch bei den ihre Praxis erst eröffnenden Allgemeinprak ti kern, die noch über gar kein Einkommen verfügen, sich dieses durch die Erzeugung des Anscheins monetärer Un abhängigkeit erst sichern müssen.

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punkt ist, daß das eventuell tatsächlich stattfindende Handeln des Professionellen, seine von ihm und anderen perzipierte Zuständigkeit, durchaus nicht in einem durch fachliche Kompetenz eng umschriebenen Sinne limitiert sein muß. Die gelehrte oder liberale Ausbildung des Professionellen ist eher zu verstehen als Vorbereitung auf eine diffuse Zuständigkeit für nahezu alle gesellschaftlichen Probleme von einiger Bedeutung. Das gilt natürlich vor allem für die oberen Ränge der Professionshierarchien und stabilisiert deren Einfügung in ein über Schichtung geordnetes System gesellschaftlicher Kommunikation,78 so daß die spätere funktionale Spezifikation professioneller Problemhinsichten zugleich durch Konzentration auf einen präziser umrissenen Problembezug auf die Destratifikation der Professionen hinwirkt. Funktionale Spezifikation der Handlungsbezüge und Aktivierung der Handlungsorientierung werden in der Folge wechselseitig füreinander zur Voraussetzung. Aktivierung der Handlungsorientierung muß dabei nicht heißen, daß der konsultierte Professionelle immer sogleich etwas tut, meint vielmehr nur, daß die Relation Handeln/Nichthandeln den entscheidenden Bezugspunkt der Orientierung des Professionellen in Hinsicht auf den Klienten bildet. In der amerikanischen Medizin beispielweise führt nach 1830 eine Spezifikation der Krankheitsentitäten und die durch sie ermöglichte Einsicht in den selbstlimitierenden Charakter der meisten Krankheiten zu einer skeptischen Haltung hinsichtlich der Wirkungsmöglichkeiten des Arztes, die am Ende des 19. Jahrhunderts als ›therapeutischer Nihilismus‹ auch theoretisch formuliert wird und als solcher die Lehre der Eliteuniversitäten noch einige Zeit prägt.79 Das aber bedeutet, daß nicht die Unbedingtheit einer Präferenz für Handeln gegenüber Nichthandeln, vielmehr die Reflektiertheit einer Wahl zwischen Handeln und Nichthandeln hier den Bezugspunkt einer sich formierenden Profession bildet. Der Prozeß funktionaler Spezifikation der Handlungsbezüge folgt einer in gewisser Hinsicht überraschenden Logik. Während die vormodernen Professionen diffuse Rollenverbindungen zur Gesellschaft als Basis ihres innergesellschaftlichen Status präferieren mußten, wählen die modernen Professionen eine Option, die direkt analog zu der Orientierung wissenschaftlicher Disziplinen an einer innerwissenschaftlichen Umwelt anderer Disziplinen ist80 und 78 | Vgl. Aubert 1976, 2, zu norwegischen Juristen des 19. Jahrhun derts, ihre Ausbildung sei »a general training in the ability to run a society« gewesen und dies habe dazu verholfen, »to estab lish and consolidate a social net work in the higher social strata.« S.a. Salomon-Bayet 1981, 42, zu französi schen Medizinern um 1830: »Que font ces médecins? Ils dévelop pent une région, en pensent l’économie et en équilibrent les forces sociales […] l’influ ence économico-politique du médecin est plus évidente que son effica cité théra peutique.« Vgl. Baltzell 1979, Kap. 17. 79 | Rosenberg 1979, 14-21; Thomas 1983. 80 | Stichweh 1984.

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wohl auch ohne das Vorbild der wissenschaftlichen Disziplinen nicht zu verstehen ist. An die Stelle der Orientierung an innergesellschaftlichem Status tritt die an inter- und intraprofessionellem Status, der wesentlich von einer Variable abhängt, die Andrew Abbott kürzlich als ›professional purity‹ überzeugend bestimmt hat.81 ›Professional purity‹ meint das Abstreifen extraprofessioneller Momente – ist insofern ein Analogon der wissenschaftlichen Postulate ›Reinheit‹ und ›Fundamentalität‹ – und erzeugt eine ›Regression‹ auf den professionellen Kernbestand der in der Wirklichkeit stets diffus gegebenen Probleme.82 Das begünstigt innerprofessionelle Spezialisierungsprozesse und Überweisungszusammenhänge, die immer stärker nach innen verweisen. Eine der Bedingungen professioneller ›Reinheit‹ ist die funktionale Spezifikation des Ortes professioneller Arbeit. Während beim Hausbesuch des Arztes auch vielfältige außermedizinische Information anfiel, die danach in Termini ihrer medizinischen Bedeutsamkeit mitberücksichtigt werden konnte, legen die Praxisräume des Arztes und die Örtlichkeiten eines Hospitals bereits durch ihre Ausstattung das Abstreifen aller diffusen Information nahe. Vielleicht sollte man ein letztes Korrelat von Klientenorientierung, funktionaler Spezifikation und Aktivierung des Handlungsbezugs hervorheben, ein Korrelat, das gerade auch an der Ausweisung und funktionalen Spezifikation eigener Orte professionellen Handelns hervortritt. Dies ist der Arbeitscharakter professionellen Handelns, der eine völlig neue Intensität beruflicher Beanspruchung mit sich bringt und auch deshalb für die Professionen jede Möglichkeit des Verbleibens in einer integrierten Gelehrtenkultur dethematisiert. Während beispielsweise der medizinische Praktiker bis in unser Jahrhundert hinein den weitaus größten Teil des Tages auf den Wegen zwischen den Patienten verbrachte und auch deshalb wenig handeln konnte, wird heute – u.a. durch daraufhin organisierte Arbeitsorte und Hinzufügung immer neuen Hilfspersonals – ein extremes Quantum rein professioneller Arbeit möglich, dessen Bewältigung das Selbstbewußtsein gegenwärtiger Professioneller zu nicht unerheblichen Teilen trägt. Auf diese vielfach intensivierte Relation von Professionellem und Klient bezieht sich der Kontrollmechanismus professionelle Ethik, dessen Diskussion die Explikation der Struktur professionellen Handelns abschließen soll. Während professionelle Ethik zunächst in einen Zusammenhang schichtgetragener Lebensführung eingebettet war und beispielsweise in den USA der Begriff einer medizinischen oder juristischen Ethik noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts austauschbar mit dem Begriff der ›Etiquette‹ verwendet wur-

81 | Abbott 1981. 82 | So könne z.B. die Psychiatrie mit der »depressed, unemployed welfare mother with 10 dependents and no skills« nur wenig anfangen (Abbott 1981, 826).

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de,83 werden in unserem Jahrhundert vermehrt detaillierte Kataloge formaler Verhaltensregeln wie der ›Code of Professional Responsibility‹ (1972) der ›American Bar Association‹84 explizit fixiert. Auch in Abwesenheit eines solchen geschriebenen Code gibt es innerprofessionell vertraute Verhaltensnormen von durchaus gleichem praktischen Gewicht. Über jedes Detail normativer Regulierung hinaus stellt sich zudem die prinzipiellere Frage, ob die Existenz dieser Normierungen möglicherweise Indiz eines allgemeineren Phänomens ist, eines spezifischen Primats normativ-moralischer Gesichtspunkte im professionellen Handeln, der diesen Handlungsbereich zugleich aus einer anders geordneten Umwelt disziplinärer Systeme der Wissensproduktion und ökonomischer Märkte heraushöbe. Von vornherein ist es wichtig zu beachten, daß die normativen Codes der Professionen im Hinblick auf eine Mehrzahl von Bezugskontexten formuliert und festgehalten werden. Sie schützen nicht nur den Klienten in einer Situation existentieller Ungewißheit und Bedrohung und sichern ein daran verantwortlich orientiertes Handeln des Professionellen. Gleichzeitig sind sie Formen der Selbstbindung der Professionen, die es dem professionellen Praktiker erlauben, das durch einen Klienten zugemutete illegitime Handeln unter Verweis auf den Code abwehren zu können, ohne aus persönlichem Engagement dem Klienten die Immoralität seiner Zumutung darstellen zu müssen. G. Millerson zitiert das Beispiel von Professionen, die selektiv Codes nur für diejenigen Praktiker institutionalisieren, die in besonders verletzlichen Situationen mit Klienten oder auch Dritten befaßt sind.85 Weiterhin ordnen Codes den inneren Zusammenhalt der Profession, verbieten beispielsweise Konkurrenz und Werbung, und sind gerade deshalb oft ungeschrieben, weil sie so den Gerichten weniger Handhabe bieten, disziplinäre Entscheidungen der Profession von außen her zu überprüfen.86 Schließlich dient die formulierte Ethik auch als eine Rhetorik der Selbstdarstellung und findet sich daher besonders häufig bei jenen Professionen, die relevante Interaktionen mit politischen Instanzen aufweisen.87 Ungeachtet dieser Differenzierungen steht außer Frage – und wird durch die oben bereits zitierte empirische Interrelation von Komplexität personenbezogener Arbeit, Ausbildungslänge und expliziter Lehre professioneller Ethik eindrucksvoll bestätigt –, daß das primäre Problem professioneller Ethik die Verantwortung gegenüber dem Klienten ist. Die Unfähigkeit eines jungen Arztes, mit anderem medizinischen Personal hinreichend konfliktfrei zusammen83 | Abbott 1983, 870. 84 | S. dazu ausführlich Hazard 1978. 85 | Millerson 1964, 169. 86 | Millerson 1964, 160. 87 | Cullen 1978, 158.

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zuarbeiten, scheint aus dem Grund Zweifel an seiner Qualifikation aufzuwerfen, weil man aus ihr auf sein potentielles Verhalten gegenüber Patienten schließt.88 Damit stellt sich die Frage, wie man die Institutionalisierungsform professioneller Ethik genauer zu verstehen hat. Interessanten Aufschluß darüber bietet eine Studie, die bei amerikanischen Rechtsanwälten jene Fälle untersucht hat, in denen ein Klient für die Konsultation nur einen geringen Betrag oder auch gar nichts bezahlen kann.89 Die meisten Anwälte antworten auf die Frage, warum sie ›no fee/low fee‹-Fälle übernehmen, nicht etwa mit dem Rekurs auf ethische Obligationen oder professionelle Pflichten.90 Vielmehr sagen sie, diese Arbeit ›helfe ihrer Praxis‹. D.h. aber, daß ethische Bindungen professionellen Handelns nicht primär in der Motivstruktur des einzelnen Professionellen verankert sind, vielmehr gegeben sind in der Form einer institutionalisierten sozialen Erwartung an den Professionellen, die positiv dadurch sanktioniert wird, daß Übernahme solcher Fälle in vielfältiger Weise beim Aufbau der Praxis hilft. Geradezu klassisch wird diese Institutionalisierungsform durch die Tatsache verdeutlicht, daß beinahe in jedem Fall von ›no fee/low fee‹-Praxis eine dritte Person als Vermittler des Kontaktes zwischen Professionellen und Klient tritt,91 die außer dieser zutage liegenden Vermittlungsleistung zugleich die fundamentalere Leistung erbringt, daß sie – gleichsam als Repräsentant der Gesellschaft – den beiden anderen die Legitimität und Erwartbarkeit eines solchen Typus professioneller Praxis signalisiert. Ex negativo kann man sich die Institutionalisiertheit einer ethischen Einbindung professioneller Praxis auch vom Beispiel des Geschäftsmanns her vergegenwärtigen: Weder wird von ihm erwartet, verbilligt zu verkaufen; noch dürfte er beim Aufbau seines Geschäftes hoffen, sich durch selektive Preissenkung für einzelne bedürftige Kunden Ansehen zu verschaffen; vielmehr würde diese Praxis von allen anderen Kunden als Diskriminierung enpfunden. Verständlich geworden ist im Vorstehenden, daß nicht das Warum des Handelns, die internalisierte altruistische Motivation, das Problem professioneller Ethik ist. Vielmehr geht es um das Wie des Verhaltens und der Handlungsausführung. Altruismus ist nicht individuelles Motiv, aber soziale Erwartung, und es ist das Verhalten des Professionellen, nicht seine Überzeugungen, das diesen Erwartungen entsprechen muß. Instruktiv belegt wird dies durch eine Untersuchung, die nach den Korrelaten des Prestiges juristischer Spezialgebiete fragt.92 In dieser treten die beiden Dimensionen ›altruistische Motivation‹ und ›ethisches Verhalten‹ disjunkt auseinander. Während vermutete altruistische Moti88 | Bosk 1979, Ch. 2. 89 | Lochner 1975. 90 | Ebd. 442-8. 91 | Ebd. 434-42. 92 | Laumann/Heinz 1977.

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vation des typischen Praktikers eines Spezialgebiets – und das sind jene Spezialgebiete (›civil rights‹ etc.), die den sozial engagierten Anwalt fordern – deutlich negativ korreliert mit dem Prestige des gleichen Spezialgebiets (-.51), weisen die Spezialgebiete, die durch vermutetes ethisches Verhalten ihrer Praktiker beschrieben werden, zugleich ein besonders hohes innerprofessionelles Prestige auf(+.53).93 An diesem Befund treten zwei weitere wichtige Momente professioneller Ethik hervor. Das eine ist die prinzipielle Differenz von gesellschaftlicher Interaktionsmoral und professioneller Ethik. Professionelle Ethik unterzieht nicht etwa professionelle Akte einer Bewertung in Standards alltäglicher, interaktiver Moral. Sie muß mit der Technizität professionellen Handelns kompatibel sein und verschiebt daher professionsintern den Schwerpunkt noch einmal von der moralischen Qualität der Akte auf das Wie der Handlungsausführung. D.h. es geht nicht primär um den Vollzug von Handlungen, die sich bereits in ihrem inhaltlichen Sinn als ethisch relevant zu erkennen geben – obwohl diese, wie das obige Beispiel des kostenfrei konsultierten Anwalts erweist, gerade im Kontakt zur sozialen Umwelt der Profession sehr wichtig sein können –, vielmehr muß sich über das ganze Gebiet professioneller Arbeit ein Stil verantwortungsbewußten und äußerst sorgfältigen Prozedierens erstrecken, dem dann ethische Qualität zukommt. Ein zweites wesentliches Moment ist der Zusammenhang ethischen Verhaltens mit innerprofessioneller Schichtung und Elitestatus. Dieser in manchen Beobachtungen registrierte Zusammenhang94 legt die Vermutung nahe, daß sich ein Primat normativer gegenüber technischen Gesichtspunkten im professionellen Handeln95 über Modi der Rekrutierung in Elitestatus und -institutionen durchsetzt. Charles Bosk hat in einer Studie über Medizi93 | Ebd. 180f. 94 | S. Laumann/Heinz ebd.; Heinz/Laumann 1978, 1133; Lochner 1975, 439; Hazard 1978, 152f., und eine allgemeinere Diskussion bei Abbott 1983. 95 | Bosk 1979, 170, erläutert diesen Primat an der im Fall des Miß lingens verwendeten medizinischen Formel, man habe ›alles Mögli che‹ getan. Dies ist – insofern es die subjektive Dimension mora lischer Anstrengung der Praktiker einbringt – ein primär morali scher Modus der Selbstrechtfertigung, im Unterschied zu einer technischen Rechtfertigung, die etwa das Niveau eingesetzter technischer Kompetenz anführen würde. Zugleich wahrt diese Formel natürlich den Zusammenhalt der Profession, da jede tech nische Argumentation implizit auf potentielle Differenzen in Kom petenzniveau und technischer Ausstattung verweisen würde. Vgl. Vera 1982, Kap. 6, zu katholischen Theologen, die, während sie ihren aus dem Amt geschiedenen ehemaligen Amtsbrüdern unge wöhnliche intellektuelle Qualitäten konzedie ren, deren Ausscheiden als Versagen gegenüber den die Person beanspru chenden morali schen Standards der Profession konstruieren. Vera ebd., 105, schließt auf eine »[…] unified moral base that emphasizes perso nality involvement over intellectual technique.

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nersozialisation in einer amerikanischen Eliteinstitution gezeigt, daß diese auf technische Fehler junger Ärzte mit restitutiven Sanktionen, auf normative Fehler (normative Standards hinsichtlich Arbeitsbereitschaft, Engagement, soziale Beziehungen in der Klinik) aber mit repressiven Sanktionen reagiert.96 D.h. technische Unzulänglichkeiten sind ein Anlaß für weiteres Lernen, allenfalls wird bei zu häufigem Vorkommen dem jungen Arzt das Überwechseln in ein anderes medizinisches Spezialgebiet empfohlen. Normative Fehler aber führen zur Degradierung. Zwar nicht die Ausübung des Arztberufes, aber die weitere Mitgliedschaft in einer Eliteinstitution wird dem auf diese Weise Fehlhandelnden verwehrt. Institutionalisierte Reaktionsmuster dieses Typs mögen im Resultat eine vertikale Dimension innerprofessioneller Schichtung erzeugen, für die gilt, daß die Konformität mit normativen Standards von oben nach unten abnimmt. Differenzverstärkend tritt wahrscheinlich hinzu, daß nur die Ausstattung von Eliteinstitutionen (die großen Rechtsfirmen, das System elitärer Universitätskliniken) dem einzelnen Professionellen jenen Freiraum läßt, der verantwortungsbewußte Arbeit mit einem Grad von Sorgfalt erlaubt, wie ihn die professionelle Ethik eigentlich verlangt. Den Normalpraktikern in weit restriktiveren Arbeitssituationen bleibt dann nur, wie es ein amerikanischer Anwalt formuliert, »to make good guesses as to the level of malpractice at which they should operate in any given situation«97.

VI. K LIENTENORIENTIERUNG , H ANDLUNGSBEZUG UND DIE D IFFERENZEN VON D ISZIPLIN UND P ROFESSION Der Prozeß der Entstehung der modernen Professionen läßt sich als einer der Institutionalisierung von Rollenbeziehungen zwischen ihnen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt beschreiben.98 Im Vergleich dazu erzeugt die Ausdifferenzierung der Wissenschaft und ihre Innendifferenzierung in Disziplinen ein Sozialsystem, das seine institutionelle Gestalt gerade durch das Abstreifen von Rollenverbindungen zur gesellschaftlichen Umwelt erlangt. Disziplinen sind relativ selbstgenügsame Sozialsysteme, die primär mit internen Operationen befaßt sind und im übrigen ihre innerwissenschaftliche Umwelt beobachten. Solche über Klientenorientierung und Handlungsbezug der Professionen vermittelten Differenzen sollen im folgenden noch einmal unter drei Gesichtspunkten systematisch dargestellt werden: Dem der jeweiligen Differenzierungstypik, der innersystemischen Integrationsformen und schließlich der Modi der

96 | Bosk 1979, 163f., 169. 97 | Zit. b. Hazard 1978, 152f. 98 | Goode 1960, 903.

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Selbstdarstellung und des Verhaltens gegenüber der jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt.99 Schon im Zusammenhang der Diskussion der Destratifikation der Professionen haben wir uns mit der Tendenz zur Entstehung und Erhaltung einer professionellen Kernrolle befaßt, die sich einer Aufteilung in Arbeitsvollzüge versperrt, die zu innerprofessionell subordinierender Arbeitsteilung führen könnte. Eine analoge Restriktion auf Formen hierarchischer Arbeitsteilung kennen auch die wissenschaftlichen Disziplinen, aber anders als in diesen wirkt sich in den Professionen die professionelle Kernrolle – und dies als Folge des Klientenbezugs – zusätzlich auch als Restriktion auf die Möglichkeit horizontaler Spezialisierung auf Problemgebiete aus. Das erzeugt die Institution und wohl auch den Mythos des Allgemeinpraktikers, eines Praktikers, der gegenüber dem Klienten das Gesamt der Handlungsmöglichkeiten der Profession vertritt.100 Sein wissenschaftliches Äquivalent, der Theoretiker, ist bezeichnenderweise ausgeprägt innenorientiert und vermeidet die angewandte Forschung, während der Allgemeinpraktiker dort plaziert ist, wo die Profession – ohne Zwischenschaltung von Überweisungszusammenhängen – am unmittelbarsten ihrer gesellschaflichen Problemumwelt konfrontiert ist. In den verschiedenen Professionen variiert die relative Bedeutung des Allgemeinpraktikers. Die Medizin – mit im übrigen wissenschaftsnahen Spezialisierungsmustern – kennt ihn in zwei Formen: Als Allgemeinmediziner und als Facharzt für innere Medizin. Damit reproduziert sie gewissermaßen die entlang der Dimension innen/außen konstituierte Differenz von wissenschaftlicher Medizin und Familienmedizin in der Institution des Allgemeinpraktikers, rekrutiert vermutlich über diese beiden Rollenausprägungen verschiedene Typen von Klienten und eröffnet komplexe Überweisungszusammenhänge nach innen. Recht und Theologie weisen zwar als Wissenssysteme eine vielfältige Spezialgebietsdifferenzierung auf, ordnen dieser aber – außer in akademischen Kontexten der Lehre – keine analoge Rollendifferenzierung der praktizierenden Profession zu. D.h. Theologen und Juristen sind der Selbstdarstellung der Profession nach meist Allgemeinpraktiker, was im Fall der Theologie der Realität und der Klientennachfrage entsprechen dürfte,101 im Recht aber eine anders geartete Realität verbirgt. Die ›American Bar Association‹ beispielsweise erkennt nur die traditionellen Spezialisierungen auf Patentrecht und Seerecht – daneben noch auf Warenzeichen – explizit an, hält im übrigen offiziell am Rollenbild des Allgemeinpraktikers fest, und dies obwohl 45  Prozent der praktizierenden Juristen ihre faktische Spezialisierung als eine notgedrungen ausschließliche bezeichnen und zudem

99 | Vgl. zwei anders angelegte Vergleiche dieses Typs Hughes 1952; Shoben 1963. 100 | Vgl. Hughes 1973a, 14. 101 | Vgl. Gustafson 1963, 725-9.

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gerade die Rechtsgebiete mit hohem Prestige der Praktiker typischerweise den reinen Spezialisten fordern und hervorbringen.102 Klientenorientierung und Handlungsbezug nehmen natürlich – außer daß sie die Möglichkeit und den Grad der Spezialisierung des einzelnen Praktikers Restriktionen unterwerfen – auch auf die Form der Differenzierung des Systems Einfluß. Während beispielsweise für den Prozeß disziplinärer Differenzierung der Wissenschaft gilt, daß es der Tendenz nach nur ein Systembildungsprinzip gibt, es nämlich relativ abstrakte Problemstellungen sind, die autokatalytisch eine disziplinäre Identität erzeugen, wenn auch am Anfang disziplinärer Entwicklung häufig konkretere Identifikationsgesichtspunkte wie der Bezug auf Wirklichkeitsausschnitte oder Methoden verwendet werden, kennzeichnet den Differenzierungsprozeß der Medizin eine fortdauernde Heterogenität der Systembildungsprinzipien. Medizinische Spezialgebiete können sich konstituieren als eine wissenschaftliche Disziplin (Pathologie), oder mit Bezug auf ein Organ (Kardiologie), eine Funktion (Psychiatrie), eine Krankheit (Krebs), eine Technologie (Radiologie), Eigenschaften individueller oder institutioneller Klienten und deren organisatorische Verarbeitung (Gerontologie, Arbeitsmedizin), schließlich soziale Probleme (öffentliche Gesundheitsvorsorge).103 Hinzu kommt eine zu diesen Unterscheidungen querliegende Dimension, die in den Spezialgebieten noch einmal klinische und Forschungsdisziplinen voneinander trennt104 und auf diese Weise die Differenzierung von Disziplinen und Professionen innermedizinisch reproduziert. Obwohl am Anfang moderner Medizin genau wie am Anfang moderner Wissenschaft die Konstitution eines homogenen Systems steht, das sich dann nach internen Gesichtspunkten differenziert,105 verrät die bemerkenswerte Heterogenität im Differenzierungsprozeß sowohl den zugleich multidisziplinären Charakter moderner Medizin wie auch die höhere Empfänglichkeit für Determination durch externe Impulse. Einfacher und gleichzeitig eine ausgeprägte Klientenabhängigkeit offenlegend ist die Differenzierungsform des Rechts. Dieses kennt als Wissenssystem den Primat einer Sachgebietsdifferenzierung, die erst sekundär die Rechtsthemen gemäß den Typen von Klienten einteilt, um deren Probleme es sich jeweils handelt.106 Die 102 | S. Laumann/Heinz 1977, 165, 169-70, Spalte 14, die Anteile der reinen Spezialisten in verschiedenen Rechtsgebieten; 190 die Korrela tion von Prestige und Anteil der Spezialisten (+.52). 103 | S. Kervasdoué/Billon 1978, 745; Schwartzbaum/Mc Grath/Rothman 1973, 365. 104 | Vgl. Geison 1979, 75. 105 | Dazu überzeugend Rosen 1944; Gelfand 1976. 106 | Heinz/Laumann 1978, 1114, die wiederum zwei Formen dieser Sekundärdifferenzierung unterscheiden: 1) entgegengesetzte Partei en, die einander direkt konfrontiert sind – ›criminal defense versus prose cution‹; 2) distinkte Kategorien von Klienten – ›cor porate tax planning versus personal income tax work‹.

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Profession der Juristen hingegen ist primär gemäß Kliententypen differenziert: d.h. die wichtigste Trennlinie in der Profession ist diejenige, die zwischen den für Großorganisationen und den für Individuen und deren persönliche – und d.h. hier kleine – Firmen arbeitenden Juristen verläuft. Typen von Klienten wiederum haben spezifische Typen von Problemen, und die Spezialisierungsmuster einzelner Juristen ergeben sich aus den Problemkonglomeraten, die ihre Klienten typischerweise aufweisen.107 Wenn zusätzlich gilt, daß Transaktionen und Rechtsstreitigkeiten zunehmend zwischen Einheiten verschiedener Größenordnung stattfinden108 und zugleich auch die sozialen Differenzen zwischen Juristen (hinsichtlich einer Mehrzahl sozialstruktureller Hintergrundsvarablen) um so größer werden, je mehr sich ihre Klienten unterscheiden,109 liegt die Vermutung auf der Hand, daß die Profession der Juristen eine Vielzahl rechtsexterner sozialer Trennlinien nach innen übernimmt. Diese knappe Diskussion der Differenzierungsmuster hat eine aus externer Beeinflußbarkeit resultierende, im Vergleich zu wissenschaftlichen Disziplinen denkbar große Heterogenität offengelegt und zugleich den Allgemeinpraktiker als die für Professionen typische Restriktion auf Spezialisierungsprozesse mitberücksichtigt. Der Allgemeinpraktiker soll für Klienten Ansprechbarkeit und letztlich Durchschaubarkeit der Profession sichern und wird zugleich in seiner Funktion durch die ebenfalls klientenbezogene externe Stimulierbarkeit der Differenzierungsprozesse in mancher Hinsicht unterlaufen. Damit drängt sich bereits die Frage auf, welche Formen kommunikativer Integration sich den Professionen – und dies im Vergleich zu wissenschaftlichen Disziplinen – bieten. Vielleicht sollte man eingangs betonen, in wie hohem Grade der Wissenschaftler als Mitglied einer Disziplin von seinen Kollegen abhängig ist. Alle Kommunikation und d.h. vor allem Publikation als der basale soziale Akt in einer Disziplin richtet sich an sie; Kritik und Evalution und damit die wesentlichen Formen sozialer Kontrolle liegen in der Hand von Kollegen, und d.h. auch, daß Karriere nur mit ihrer Hilfe möglich ist. Professionelle hingegen arbeiten im Umgang mit Klienten und manche arbeiten nie in Anwesenheit auch nur eines anderen Professionellen, erledigen zudem ihre Fälle ohne innerprofessionelle Konsultation.110 Das eröffnet die Chance einer klientenabhängigen Karriere, die durch Überweisungszusammenhänge unter Klienten strukturiert wird, ermöglicht zudem klienteninduzierten sozialen Aufstieg des Professionel-

107 | Heinz/Laumann 1978; Laumann/Heinz 1979; vgl. Fried 1976, 108f.; Hazard 1978, 91. 108 | Galanter 1981, 27. 109 | Heinz/Laumann 1978, 1135-7. 110 | Vgl. Tuma/Grimes 1981, 189.

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len, der dann auch innerprofessionell Karrierechancen beeinflussen mag.111 Ein extremer Fall schließlich ist die Chance klientenabhängiger Ausdifferenzierung. Ein Dissident, der essentielle Bestandteile des professionellen Wissenskorpus negiert, muß nur eine außerprofessionelle Klientel finden, die an seine Problemlösungsfähigkeit glaubt, sich ihm anvertraut und derart die Genese eines neuen quasi-professionellen Sozialsystems trägt. Auf dieses Risiko reagieren die oft rigiden Monopolansprüche der Professionen, denen im Verhalten der wissenschaftlichen Disziplinen wenig entspricht, weil in Abwesenheit von Klienten der Dissident immer gleich auf die innerwissenschaftliche Gruppe der Fachleute verwiesen ist und dies die Abweichung in die Wissenschaft zurücksteuert. Natürlich kennt auch die Wissenschaft den Appell an ein außerwissenschaftliches Publikum, den die Naturwissenschaften mit aller Schärfe sanktionieren; und ihr ist die Figur des Intellektuellen vertraut, der einen Publikumsbedarf an Situationsdefinitionen befriedigt. Aber sie kann sich insgesamt wohl deshalb weniger betroffen fühlen, weil sie nicht das Problem der Professionen kennt, daß man den Deutungen des tolerierten Quacksalbers täglich in der Praxis in den Meinungen und vor allem in der nichtkommunizierten Kooperationsverweigerung der Klienten begegnet. Neben diesen größeren Risiken extern unterlaufener Kontrolle gibt es die nicht weniger folgenreiche Anomie des Alltags. Veraltende Wissensbestände, persönliche Idiosynkrasien des Praktikers, in der Ausschließlichkeit ihrer Einwirkung auf einen Klienten problematisch werdende Differenzen individuellen Stils werden in den Professionen nicht durch ein dauerhaft benutztes und Differenzen als Differenzen thematisierendes Medium innerprofessioneller Kommunikation ausgeglichen.112 Das erklärt die bis zu einer Generation reichenden Verzögerungen in der Diffusion beispielsweise medizinischer Innovationen.113 C. Bosk hat sogar in einer Eliteinstitution und bei relativ geringen kommunikativen Distanzen einer Mehrzahl von Stationen jene dort erstaunliche Beobachtung gemacht, die im übrigen jeder aus der Schule kennt: Quasi-normative Irrtümer, d.h. Verstöße gegen innerprofessionell nicht konsensfähige idiosynkratische Erwartungen des leitenden Arztes, werden in der Medizinersozialisation nahezu genauso rigide sanktioniert wie die Nichtbeachtung allgemein geteilter normativer Standards der Profession. Welche Möglichkeiten kommunikativer Korrektur stehen den Professionen zur Verfügung? Das wesentliche Medium innerprofessioneller Kommunika111 | Das inner wissenschafliche Analogon dazu war die heute nahezu inexistente Eheschließung des jungen Gelehrten mit einer Profes so rentochter. 112 | S. schon Nasse 1823, 143: »[…] ist es Sitte, daß ein jeder sich, den Genossen fremd, einsam einspinne in das Gewebe seiner Meinun gen, und darin hause sein Leben lang.« 113 | Kervasdoué 1981.

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tion ist die Überweisung. Überweisungen stellen den Kontakt zwischen Professionellen dadurch her, daß sie primär einen Klienten transportieren und nur sekundär Information. Darin manifestiert sich auch bereits eine Grenze ihrer möglichen informativen Relevanz. Zwar liegt in der Antizipation, daß man eine Überweisung schreiben müssen wird, schon ein Moment sozialer Kontrolle, das das Niveau professioneller Leistung anheben mag. Und es scheint nicht unrealistisch, anzunehmen, daß zunehmend komplexe Überweisungszusammenhänge, die in einer Profession der Tendenz nach zu den enger definierten Spezialgebieten – und in diesem Sinne von außen nach innen – verweisen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß eine angemessene Diagnose und Problemlösung gefunden wird.114 Das hilft dem einzelnen Klienten, aber die Rückwirkungen bleiben deutlich begrenzt. Dies nicht nur, weil oft keine Rückkommunikation erfolgt und im übrigen Netzwerke von wiederholt aneinander überweisenden Professionellen kristallisieren, die die Wahrscheinlichkeit von Überraschungen wieder verringern. Entscheidend ist schließlich, daß, angesichts einer durch Klientenbezug und Abwesenheit innerprofessionellen Kontakts sowieso gefährdeten professionellen Solidarität, die für die Reputation potentiell riskante Überweisung nur dann motiviert werden kann, wenn der sekundär hinzutretende Informationsaustausch einen Kommunikationsstil wählt, der wenig Möglichkeiten der Korrektur von Fehlern bietet. Es fehlt also ein explizites Medium innerprofessioneller Kritik und damit bleibt der Zwang zum Lernen oft auf das am Anfang liegende Hochschulstudium beschränkt. Eine andere Form möglicherweise integrativer Vergesellschaftung ist die professionelle Assoziation bzw. die disziplinäre Gesellschaft. Beide sind formale Organisationen mit expliziter Regelung des Ein- und Austritts und einem gewissen Grad normativer Bindung des Mitgliederverhaltens. Während ehedem professionelle Assoziationen darunter litten, daß auch Nichtmitgliedern eventuell erarbeitete Vorteile zugute kamen,115 hat heute der Kernbereich der Professionen – komplexe Arbeit mit Personen und relativ viele selbständige Praktiker – einen hohen Organisationsgrad und ein überdurchschnittliches finanzielles Engagement der Mitglieder erreicht.116 Zwischen professionellen Assoziationen und disziplinären Gesellschaften hat sich eine Differenzierung vollzogen, die der der beiden Sozialsysteme entspricht.117 Professionelle Assoziationen sind ty114 | Die Gefahr zunehmender Divergenz mehrerer Diagnosen (Bosk 1980, 73) scheint mir gering, da Diagnosen sich an den bereits geschriebe nen Diagnosen orientieren, die Gefahr also eher Gestalt bildung ist und demgegenüber die Chance darin zu sehen ist, daß irgendwo in einer langen Überweisungskette einmal begrün deter Dissens auftaucht. 115 | Starr 1982, 92, 111. 116 | Cullen 1978, 135-7, 149. 117 | Vgl. zum folgenden bei Millerson 1964, insb. Kap. 2, die Unter schei dung ›study associations‹ vs. ›qualifying associations‹.

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pischerweise befaßt mit der Überwachung der Grenze, die zwischen der Profession und ihrer gesellschaftlichen Umwelt liegt, und d.h., daß sie vor allem auch an Fragen der Ausbildung des Nachwuchses orientiert sind. Disziplinäre Gesellschaften hingegen kontinuieren die relative Indifferenz gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt wie sie auch disziplinären Gemeinschaften als ihrem organisationsunabhängigen Gegenstück eigen ist. Sie operieren parallel zu diesen, fungieren als organisatorische Infrastruktur für die andernorts nicht plazierbaren disziplinären Aktivitäten, und stärker noch als für die Ausgestaltung der Ausbildung des Nachwuchses engagieren sie sich, wie es Nash formuliert, für die »continuing mutual education of scientists«.118 Gemeinsam ist disziplinären Gesellschaften und professionellen Assoziationen, daß sie eine primär rezeptive organisatorische Form sind. Disziplinen und Professionen kennen zwar einzelne effektive Organisationen, erweisen sich aber als Ganze – mit Ausnahmen im Bereich der Religion – bis heute nicht eigentlich als organisierbar, so daß eine als Folge relativer Klientenabhängigkeit heterogene Profession dieses Problem durch Formation einer professionellen Assoziation nicht lösen kann. Vielmehr muß sie um der Erhaltung der Assoziation willen vorsichtig operieren, wie es das Verhalten der ›American Bar Association‹ ironisch kommentiert, von der Heinz/Laumann119 sagen, sie formuliere definite Stellungnahmen nur dort, wo das Thema den größten Teil der Profession und die meisten ihrer Klienten nicht eigentlich interessiere. Unter den durch den Klientenbezug der Professionen induzierten Differenzen zwischen Disziplinen und Professionen betrifft eine der auffälligsten die Selbstdarstellung und das Verhalten des einzelnen Wissenschaftlers bzw. Professionellen in seiner personalen – nicht aus Kollegen bestehenden – gesellschaftlichen Umwelt. Auch in dieser Dimension gibt es einen instruktiven soziohistorischen Differenzierungsprozeß. Noch das ausgehende 18. Jahrhundert kennt und verteidigt den Typus des Gelehrten, der in einer geselligen Veranstaltung »das Amtsgesicht, die hochgelahrte oder hochehrwürdige Mine« aufsetzt und im übrigen dort nur erscheint, »um zu belehren, keinesweges aber, um zur Aufheiterung der Gesellschaft das geringste beyzutragen«.120 Dieser Selbstdarstellungszwang, dessen auferlegte Disziplin im übrigen durch Privilegien entgolten wird,121 entfällt für die moderne akademisch isolierte Wissenschaft. Die 118 | Nash 1963, 298. 119 | Heinz/Laumann 1978, 1141. 120 | Büsch 1777, 367. 121 | Büsch ebd., 368f., beklagt den Fortfall dieser vorteilhaften Kom bination: »Aber die Zeiten sind vorbey, da der Gelehrte, als von Amts wegen, in Gesellschaften erschien, und da man noch dem Doctor der Rechte ein Goldstück unter den Teller legte, wenn er eine Hochzeit mit seiner Gegenwart beehrte. Wir müssen uns jetzt auf Gegenbe wirthung einlassen, wenn wir unter Menschen mit Menschen leben wollen.«

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soziale Marginalität des Wissenschaftlers, die mit Abwesenheit externen Kontakts zu tun hat, erlaubt ihm die Kultivierung unkonventioneller Lebensstile und eine kommunikationsfreudige gesellige Informalität. Allenfalls wird ihm im gesellschaftlichen Umgang eine Leistung abverlangt, die konträr zu den vormodernen Erwartungen liegt: Die strikte Rationalität, die sein ganzes Arbeitsleben bestimmt, muß er vom Stil seines Privatlebens isolieren und dafür eine zweite Identität erwerben, die die Attribute seiner ersten Identität negiert.122 Ganz anders ist die Situation des Professionellen. Seine soziale Marginalität ergibt sich nicht aus Abwesenheit von Kontakt, vielmehr ist es für ihn die Besonderheit des Kontakts, die in der Folge verhaltensbestimmend wirkt.123 Die relative Intimität des Kontakts von Professionellem und Klient, die Tatsache, daß sie in vielen Fällen außeralltägliche oder bedrohliche Erfahrungen wie Krankheit, Schuld, Angst oder auch finanzielle Risiken persönlicher Lebensführung involviert, kann dazu führen, daß diese Interaktion schwer anschlußfähig, kaum in Formen geselligen Kontakts überführbar ist. Das erzeugt für den Professionellen Momente der Kontinuität zur Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts. Er wird immer von der Besonderheit der Situationen her erlebt, in denen andere als Klienten mit ihm zusammen sind. Das zwingt ihn auch außerhalb der Arbeit, den Ernst dieser Situationen und die Vertrauenswürdigkeit seiner Person mit zu vergegenwärtigen, nötigt ihm einen repräsentativen Lebensstil auf und unterwirft ihn einer ständigen Observation durch ein potentiell mißtrauisches Publikum. Für ihn und für andere mag das ein Motiv sein, den privaten Kontakt eher zu meiden. Prototypisch ist vielleicht der Fall des Pastors, der sich in Gesellschaft immer unwillkommen vorkommt, weil er dem Ton des Zusammenseins die gesellige Note nimmt. Aber auch in anderen Professionen macht man die Erfahrung, daß der Weg in die ›Normalität` versperrt ist, weil ihn die Erwartungen des Publikums nicht zulassen.124 Das mag dann den Rückzug in eine rein professionelle Sozialkultur motivieren,125 aber das gewährt nur temporäre Entlastung von jener den Professionen eigenen Anforderung, daß der für moderne Gesellschaften charakteristische Primat der Selbstidentifikation über Beruf von 122 | Vgl. Meier 1951, 172: »The mark of the successful scientist is that he has disciplined himself to compartmentalize his life so that neither side will seriously influence the other.« 123 | S. Naegele 1956, insb. 60f.; Waller 1932, insb. 49, 387, 455f. 124 | S. einen englischen Richter gegenüber der ›Sunday Times‹: »You cannot lunch in a pub because you might be sitting up at the bar with someone you will be seeing in court. You cannot have rows in shops, you can’t shake a fist if someone cuts you out at the traffic lights, you have to watch your invitations. All this is necessary mainly because others expect it. The lay public imposes restrictions on judges which they might not impose on themsel ves.« (zit.n. Paterson 1983, 282). 125 | Vgl. a. zu den Freizeitaktivitäten von Professionellen Gerstl 1961.

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ihnen nicht in der vielleicht ironischen Selbstdistanz des Wissenschaftlers und auch nicht – wie etwa im Fall des Handlungsreisenden – als Faktizität einer rollengeprägten Person gelebt werden kann, vielmehr als bewußtgehaltener Sachverhalt im außerberuflichen Handeln immer als Selektionsgesichtspunkt mitgeführt werden muß.

VII. D IE H IER ARCHIE PROFESSIONELLER A RBEIT : V ERMIT TELNDE P ROFESSIONEN ODER S EMI PROFESSIONEN Die Destratifikation der Professionen und ihre Organisation um eine professionelle Kernrolle, die sich einer Zerlegung in Richtung auf subordinierende Arbeitsteilung widersetzt, waren hier wiederholt unser Thema. Eine der Folgen dieser strukturellen Prämisse ist, daß bei zunehmender Komplexität professioneller Arbeit die Arbeitsvollzüge des Professionellen durch neue Berufsgruppen unterstützt werden, die sowohl die relativ problemlos technisierbaren Handlungen wie auch die dem Imperativ der ›professionellen Reinheit‹ zum Opfer fallenden diffusen Problembezüge arbeitsmäßig übernehmen. In der amerikanischen Medizin beispielsweise ist die Relation von Ärzten zu subprofessionellem Hilfspersonal 1900 1:1, 1965 bereits 1:10 und 1975 ca. 1:20.126 Diese neuen Berufsgruppen sind in gewisser Hinsicht vermittelnde Professionen,127 da sie handlungsmäßig zwischen Professionellen und Klient treten und an der Realisierung der Handlungsabsichten des Professionellen mitwirken – und es ist diese vermittelnde Stellung in einer Professionellen-Klienten-Interaktion, die einen Anspruch auf ihrerseits professionellen Status nahelegt. Genetisch haben die vermittelnden Professionen mit der Destratifikation der Professionen und auch mit der ›Deprofessionalisierung‹ mancher vormodern relevanten Berufsgruppe zu tun. So verbindet sich in Deutschland mit der Auflösung der Ärzteklassen die Vorstellung, man solle die Wundärzte II. Klasse zu ›Krankenwärtern‹ umschulen, und in diesem Zusammenhang denkt man dann auch erstmals an Krankenpflegerinnen, die nicht Nonnen oder Diakonissen sind,128 ihre Tätigkeit also als Beruf ausüben. Ein anderes Beispiel bietet der Apothekerberuf, noch im ausgehenden 18. Jahrhundert ein angesehener wissenschaftlicher Beruf mit erheblichem Einfluß auf das Gesamt der Naturwissenschaften und die Medizin. Die Homogenisierung der ärzlichen Profession und deren statusmäßige Aufstufung als Folge interner Homogenität schließt den Apotheker von jeder ärztlichen Tätigkeit aus, und darüber hinaus verliert 126 | Thorne 1973, 76 – die letzte Zahl ist eine Trendabschätzung. S. a. Hughes 1973, 277, ders. 1973a, 8. 127 | Parsons 1959, 90. 128 | Wenig 1969, 75f.

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er im 19. Jahrhundert eine berufliche Funktion nach der anderen,129 so daß er schließlich den kuriosen Sonderfall einer rein der Medizin zuarbeitenden vermittelnden Profession mit akademischem Studium und faktischer Situierung im Einzelhandel bietet. Schließlich veranschaulichen auch die Berufsgeschichte des Notars130 und die des Bibliothekars131 jenen Prozeß, in dem eine ehedem essentielle Funktion, die einen Anspruch auf gelehrten Status begründen konnte, durch Technisierung von Vollzügen und Diffusion von Kompetenzen in ihrem Wert so herabgestuft wird, daß sich im Resultat eine Subordination unter dominante professionelle und disziplinäre Gruppen ergibt. Wie sehr die Ansprüche der vermittelnden Professionen mit der Einordnung in ein professionelles Arbeitssystem zusammenhängen, mag man sich daran verdeutlichen, daß beispielsweise bei Sozialarbeitern die durchschnittliche Länge akademischer Vorbildung dort sichtlich steigt, wo sie einer dominanten Profession subordiniert sind.132 Die vermittelnden Professionen suchen ihre Erfolge vor allem über Ausbildung und Theoretisierung der Wissensbasis, vernachlässigen relativ dazu vielleicht den Primat der Klientenorientierung, und ebendies erzeugt die entscheidende Differenz, die zwischen ihnen und dem Kernbereich der Professionen liegt. Diese Differenz betrifft die innerprofessionelle Stellung der professionellen Kernrolle. Disziplinen und Professionen gelingt es ja, Berufskarrieren in einer Form zu institutionalisieren, die nicht impliziert, daß beruflicher Aufstieg mit Verzicht auf Ausübung der berufskonstituierenden Handlungsvollzüge einhergeht. Zwei strukturelle Eigentümlichkeiten sind dafür wichtig. Einmal kennen disziplinäre und professionelle Karrieren nicht jenes selbstverständliche Überwechseln aus technischen in administrative Funktionen, das beispielsweise auch den Beruf des Ingenieurs auszeichnet, und dies wird u.a. dadurch möglich, daß Disziplinen und Professionen in Organisationen die Relation von ›Linie‹ und ›Stab‹ umkehren: Die Administration, die eigentlich in einer Stabsposition operiert, ist in ihren Handlungsvollzügen wesentlich durch Entscheidungen des akademischen oder professionellen Personals gebunden.133 Ein Zweites ist, daß auch und gerade die Rekrutierung in disziplinäre und professionelle Eliten tatsächliches Forschungshandeln bzw. die handlungspraktische Ausübung der professionellen Kernrolle nicht ausschließt. Obwohl Professionen heute typischerweise eine akademisch-szientifische Eli129 | So etwa: Ausscheiden aus der naturwissenschaftlichen Forschung/aus der experimentellen Ausbildung der Naturwissenschaftler/Verlust der Medikamentenherstellung/der Nahrungsmittelunter suchungen und schließlich gesundheitspolitischer Funktionen – s. Hickel 1978. 130 | Cipolla 1973. 131 | Parsons 1959; vgl. Blum 1969 zur Relevanz von ›Bücherkenntnis‹. 132 | Gurin/Williams 1973, 203. 133 | Bess 1982, 106.

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te ausgrenzen, kennen sie daneben eine praktizierende Elite in innerprofessionell und gesellschaftlich sichtbaren Positionen – von denen einige wiederum Hochschulprofessuren sind – und schließlich eine institutionalisierte Mobilität zwischen diesen beiden Elitekontexten.134 In beiden hier angesprochenden Hinsichten – der des Zielpunkts individueller Karrieren und der der Form der Ausgrenzung einer beruflichen Elite – unterscheiden sich nun die vermittelnden Professionen signifikant vom Kernbereich der Professionen. Zunächst einmal gilt für eine Reihe von Berufen (Sozialarbeiter/ Krankenschwester/Lehrer), daß die professionelle Kernrolle weniger angesehen ist als drei andere professionelle Rollen: Die des Administrators in einer Organisationshierarchie, mögliche Spezialisierungen innerhalb der Profession (›guidance/counselling‹) und schließlich die des akademischen Lehrers des entsprechenden Wissensgebiets.135 Aus dieser innerprofessionellen Statusverteilung ergibt sich nun zwingend ein differenter Modus der Elitenbildung. An die Stelle der dualen Eliten der etablierten Professionen tritt eine Gegenüberstellung von professioneller Kernrolle und einem nicht praktizierenden professionellen Establishment, das seinen Elitestatus gerade der Tatsache verdankt, daß es nicht praktiziert und keine Klienten hat, vielmehr in akademischen Kontexten lehrt und forscht.136 In der Praxis akademischer Lehre wiederum präferiert das Establishment den Umgang mit jenen Studenten, die nicht auf die professionelle Kernrolle selbst, vielmehr auf die statushöheren Aktivitäten vorbereitet werden sollen. Diese Überlegungen dürften verdeutlicht haben, daß das spezifische Charakteristikum und wohl auch das Problem der vermittelnden oder Semiprofessionen darin besteht, daß es ihnen nicht gelingt, den professionellen Handlungsvollzug in das Zentrum der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung der ganzen Profession zu rücken. Darauf reagieren auch das im nächsten Abschnitt zu diskutierende Phänomen sekundärer Disziplinbildung und äquivalente Strategien. Vorab aber sollte noch geklärt werden, warum der Beruf des Lehrers so selbstverständlich in der Gruppe der vermittelnden Professionen auftaucht, obwohl er prima facie die Eigenschaft der Subordination in einer interprofessionellen Statushierarchie nicht teilt. Zunächst fällt auf, daß auch der Lehrerberuf seiner Genese nach mit der Destratifikation und Homogenisierung der klassischen Professionen zusammenhängt. Die Erteilung von Unterricht an Schulen war ja in Deutschland bis an das Ende des 18. Jahrhunderts (in manchen Bundesstaaten deutlich länger) die Anfangsposition in der Laufbahn eines Geistlichen.137 Seit dem Anfang 134 | S. Hughes 1973, 285. 135 | Glazer 1974, 355-8. 136 | Vgl. Hughes 1973, 274f.; Glazer 1974; Luhmann/Schorr 1979, 4. Teil. 137 | Vgl. Führ 1985.

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des 19. Jahrhunderts ist die erste Berufsposition des Geistlichen dann bereits Ausübung seiner professionellen Kernrolle und entsprechend wird das Theologiestudium umgestaltet.138 Parallel zu diesem Prozeß vollzieht sich in schulischen Kontexten die endgültige Substitution säkularer für religiöse Wissensbestände und in der Universität die Verwissenschaftlichung der ersteren durch Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Damit aber tauschen Schulunterricht und Lehrerberuf Wissenschaftsabhängigkeit gegen die bisherigen Abhängigkeiten ein. Fast alle Fächer, die man in der Schule lehrt, sind auch Gegenstand eines Systems disziplinärer Wissensproduktion. Es wird also der Lehrerberuf in einer entscheidenden Hinsicht – obwohl ihm das Moment direkter Subordination unter die im übrigen ja auch gar nicht handlungsbezogenen Disziplinen fehlt – eine vermittelnde Profession, die dann die spezifisch pädagogische Problemhinsicht der Personenveränderung durch Erziehung hinzufügt. Aber da man im normalen schulischen Prozedieren Wissen vermittelt und nur nebenbei erzieht, bleibt dem Lehrerberuf im Unterschied zu den klassischen Professionen eine Wissensbasis, zu der die Profession nicht mehr hinzufügt als eben eine Technik der Vermittlung, die zudem als ›Technik‹ die Lehrer selbst nicht überzeugt, so daß sie sich in der Zurechnung von Erfolg auf ›Persönlichkeitscharakteristika‹ zurückziehen.139

VII. S EKUNDÄRE D ISZIPLINBILDUNG UND SEKUNDÄRE P ROFESSIONALISIERUNG Sekundäre Disziplinbildung und sekundäre Professionalisierung sind Strategien der Korrektur struktureller Disparitäten, die sich als Folge der Differenzierung von Disziplinen und Professionen einstellen. Während es für die Professionen um das Problem der Kontrolle über ihre eigene Wissensbasis geht, stellt sich vielen wissenschaftlichen Disziplinen das Problem, daß sie als Disziplinen in akademischen Institutionen nur wachsen können, wenn sie dort für einen Beruf ausbilden, dessen Praktiker auch außerhalb akademischer Institutionen gesucht werden. Von vornherein fällt eine Asymmetrie in diesen Sekundärprozessen auf. Während es für die Professionen um ein Problem geht, das tatsächlich durch die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens ausgelöst wird, und ihr Verhältnis zu disziplinären Sozialsystemen als einer ›konkurrierenden‹ Sozialform der Bestimmung bedarf, ist ›sekundäre Professionalisierung‹ letztlich nur eine ungenaue Metapher. Die wissenschaftlichen Disziplinen orientie138 | So entstehen an deutschen Universitäten seit 1810 Lehrstühle für Pastoraltheologie, die den Handlungsbezug der Ausbildung des Geist lichen verkörpern (Turner 1980, 116). 139 | Meyer/Rowan 1978, 80f.

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ren sich in keiner Weise am Vorbild der Professionen; für sie geht es lediglich um ihre Leistungen gegenüber einer Umwelt nichtwissenschaftlicher Systemzusammenhänge, und sie operationalisieren diesen Leistungsbezug durch die versuchte Einfügung einer Berufsrolle in das Beschäftigungssystem. Eine spezifische Asymmetrie von Disziplinen und Professionen betrifft ihren Informationsaustausch und ergibt sich aus der Tatsache, daß professionelles Handeln nicht mehr den Status wissenschaftlicher Empirie hat. Zwar verarbeiten wissenschaftliche Disziplinen gelegentlich Erfahrungen, die im professionellen Handeln anfallen – aber im Maße, in dem die Wissenschaft die Situationen, in denen sie Erfahrungen macht, selbst herstellt, wird die Aufarbeitung professioneller Handlungserfahrung eher marginal. Im Unterschied dazu ist die Angewiesenheit professioneller Sozialsysteme auf wissenschaftliches Wissen von dauerhafter Relevanz. Die Mitbenutzung disziplinär erzeugten Wissens durch die Professionen wirft also für die Professionen das Problem der Kontrolle über die eigene Wissensbasis auf – und dies angesichts der Zentralität von Wissen für die Selbstauffassung der Professionen. Professionen sehen sich hier am Ende dann doch dem Problem einer extraprofessionellen Autorität konfrontiert, einer Autorität, deren Stellungnahmen eventuell innerprofessionell nur noch übernommen werden können. Es ist zu vermuten, daß die klassischen Professionen Medizin, Recht und Theologie hier relativ stabile Problemlösungen gefunden haben. Die Medizin durch Internalisierung der Differenz von Disziplinen und Professionen und durch die weitgehend etablierte Unterscheidung von klinischen und Forschungsdisziplinen, die auch das klinisch anfallende Erfahrungsmaterial noch einmal einer wissenschaftlichen Thematisierung in einem disziplinären Kommunikationszusammenhang zugänglich macht. Recht und Theologie letzlich durch Distanznahme zur Wissenschaft mittels der Entwicklung einer fundierenden Begrifflichkeit in der Form von Dogmatiken, deren Bearbeitung und Weiterentwicklung allein in der Hand der akademischen Zweige der Profession liegt. Dogmatiken fungieren dann als Formen systeminterner Grundbegrifflichkeit, die sicherstellt, daß auch im Prozeß der Mitbenutzung wissenschaftlicher Wahrheit der Funktionsprimat des Rechts und der Theologie gewahrt bleibt.140 Vergleichbare Sicherheiten haben die neuen Professionen noch nicht gefunden. Gerade der prekäre Status der professionellen Kernrolle und die Existenz eines Establishments, das diese nicht nur gegenwärtig nicht praktiziert, vielmehr einen erheblichen Anteil von Mitgliedern aufweist, die sie noch nie ausgeübt haben, motiviert wissenschaftsbezogene Anstrengungen. Um deren Institutionalisierungsformen zu verstehen, muß man sich zusätzlich vergegenwärtigen, daß in akademischen Kontexten professioneller Ausbildung das pro140 | Zu Rechtsdogmatik und theologischer Dogmatik Luhmann 1974 bzw. ders. 1977.

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fessionelle Establishment sich aus Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zusammensetzt – bei den neueren Professionen vor allem aus den Sozialwissenschaften – und weiterhin aus Kennern des professionellen Wissensgebiets, die oft keine vergleichbare akademische Ausbildung besitzen. Auf die unter den Bedingungen einer solchen Heterogenität entstehenden Asymmetrien und Spannungszonen reagieren drei im Prinzip immer gegebene Lösungsmöglichkeiten: Fortschreitende Professionalisierung im Sinne einer stärkeren Fokussierung gerade auch der intellektuellen und ausbildungsmäßigen Anstrengungen auf die professionelle Kernrolle, eine Lösung, die bei den neueren Professionen wegen ihres vermittelnden Charakters und der fehlenden Selbstbewußtheit des Handlungsbezugs wenig wahrscheinlich scheint;141 sekundäre Disziplinbildung etwa durch Kombination wissenschaftlicher Forschungsmethodik mit der Bearbeitung der fortdauernden Probleme der Profession;142 Neukonstitution als ein interdisziplinäres Gebiet der Forschung und Lehre und damit Verzicht auf eine Problemwahl, die spezifisch die Handlungserfahrungen der Profession reflektiert.143 In den USA scheint es gegenwärtig eine Präferenz für diese interdisziplinären Optionen zu geben, was N. Glazer144 auf die schnellen Umbrüche in den Relevanzschemata der professionellen Wissenssysteme (Sozialarbeit/Stadtplanung/Psychiatrie) zurückführt. In Deutschland ist das auffälligste und etablierteste Beispiel die sekundäre Disziplinbildung im Bereich von Erziehungswissenschaft/Pädagogik, bei welcher die Prominenz und Alternativenlosigkeit der disziplinären Form – und d.h. auch die Unverfügbarkeit der von den klassischen Professionen gewählten und in separaten Fakultäten plazierten dogmatischen Option – eine Rolle gespielt haben. Sekundäre Professionalisierung ist eine der wesentlichen Bedingungen des akademischen Wachstums einer Disziplin und deshalb eine der Stabilitätsbedingungen von Disziplinbildungsprozessen. Erst durch sie geht aus einer Disziplin ein Beruf hervor und wird die akademische Lehre der Disziplin primär Ausbildung der späteren Praktiker dieses Berufs. Das setzt zugleich den akademischen Lehrer von der Zumutung frei, Beratungsleistungen beispielsweise für 141 | Eine Entwicklung dieses Typs beschreibt Simon 1967, insb. 350, für die amerikanische ›business school‹: Zunehmende Orientie rung auf Wirtschaftsorganisationen und deren Handlungserforder nisse als relevante Umwelt, deshalb eine Tendenz zur faktischen Exklusion der Ökonomen aus der ›business school‹ und in der Folge im Kreis der so Ausgeschlossenen die Disziplinbildung der Ökonomie. 142 | Versuche in diese Richtung finden sich vor allem im Bereich der Erziehung und natürlich in neueren Gebieten der Medizin. S. etwa Walton/Kuethe 1963; Anthony 1970/71; Kaplan 1972. 143 | Glazer 1974, 359; Gurin/Williams 1973, 228-9, beschreiben einen solchen Trend in amerikanischen ›professional schools‹. 144 | Glazer 1974, 359.

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industrielle Interessenten ständig selbst zu erbringen und die Arbeit im Universitätslaboratorium mehr oder minder daraufhin auszurichten. Er liefert außeruniversitären Interessenten jetzt nur noch ausgebildetes Personal zu, das die aus praktisch-technischen Gründen erforderlichen Forschungsoperationen im neu entstehenden Industrielaboratorium vollzieht, so daß die Entstehung des Industrielaboratoriums eine Bedingung fortschreitender disziplinärer Autonomie der Forschung im Universitätslaboratorium wird, wobei die Größenordnung des letzteren natürlich durch Ausbildungsbedarfe diktiert wird.145 Dieser Prozeß der sekundären Entstehung eines Berufs aus einer Disziplin könnte der Möglichkeit nach zwei Formen annehmen: 1. Sekundäre Professionalisierung als jener Prozeß, in dem es einer Disziplin gelingt, die Anwendungen disziplinär erzeugten Wissens in außerakademischen Handlungszusammenhängen dadurch vorzustrukturieren, daß die Kontrolle über die Anwendungen in der Regel bei solchen Praktikern liegt, die eine disziplinär bestimmte Sozialisation durchlaufen haben. 2. Sekundäre Professionalisierung als Sicherung einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, daß ein Absolvent eines disziplinär ausgelegten Studiengangs darauf rechnen kann, eine Berufstätigkeit zu finden, die von der Definition seiner Berufsrolle her dem Ausbildungsgang entspricht. Das eigentlich bemerkenswerte Faktum ist nun, daß sich das erste Modell, das die Form beruflicher Institutionalisierung der klassischen Professionen beschreibt, im Prozeß sekundärer Professionalisierung der Wissenschaft nicht findet. Die sekundäre Professionalisierung der Physik beispielsweise impliziert nicht, daß die Anwendungen physikalischen Wissens Physikern vorbehalten bleiben, sie meint nur, daß ein universitär ausgebildeter Physiker im außerakademischen Beschäftigungssystem auf Berufsrollen rechnen kann, die explizit für ›Physiker‹ vorgesehen sind.146 Die ›wissenschaftlichen Professionen‹ entwickeln also keine geschlossenen Berufsgruppen mit den typischen Merkmalen des Anspruchs auf ein Quasi-Monopol für ein bestimmtes Tätigkeitsfeld und der Regelung des Zugangs zu Berufsgruppe und Tätigkeitsfeld über strikte Zulassungspraktiken.147 Im Vergleich zum klassischen Professionellen bewegt sich der wissenschaftliche Professionelle auf offenen Beschäftigungsmärkten mit breiten Grenzzonen, in welchen Personen mit sehr verschiedenen 145 | Eine exzellente Beschreibung dieser Umstellung am Beispiel engli scher großstädtischer Hochschulen an der Wende zum 20. Jahr hundert bei Rothblatt 1983, 144. Zur Entwicklung des Univer sitätslaboratoriums am Beispiel der Physik s. Stichweh 1984, 375-388. 146 | Diese Wahrscheinlichkeit sollte wiederum vom Grad erworbener Qualifikationen abhängen. S. Perrucci/Gerstl 1969, 75, für ameri kani sche Physiker, die, wenn sie nur einen B.S. besitzen, noch zu mehr als 60 Prozent als ›Ingenieure‹ beschäftigt werden, mit einem M.S. zu 25 Prozent und schließlich mit einem Ph.D. zu 9 Prozent. 147 | Hierzu und zum folgenden Goode 1960.

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Qualifikationsvoraussetzungen Beschäftigungschancen haben. Hinzu kommt die Abwesenheit professioneller Autonomie im klassischen Sinn des Begriffs: wissenschaftliche ›Professionelle‹ haben es oft mit Klienten und Vorgesetzten zu tun, die sowohl über Ziel und Ausführung der Tätigkeit des ›Professionellen‹ bestimmen als auch seine Leistung kontrollieren. Dem entspricht wiederum ein differenter Modus der Integration in Großorganisationen. Während die Professionen eine Präferenz für professionelle Großorganisationen entwickeln (Kliniken, ›law firms‹, Großorganisationen der Wirtschaftsprüfer), arbeiten die meisten außerakademisch beschäftigen Wissenschaftler – wenn dafür auch innerorganisatorische Formen der Ausdifferenzierung vorgesehen sind148 – in Organisationen, deren primäres Organisationsziel nicht Forschung und auch nicht Applikation der Wissenschaft ist. Was sind die Voraussetzungen dieser Entwicklung? Zwei Bedingungen scheinen hier von besonderer Relevanz. Das eine ist der typische Status der Klienten, die in der Regel nicht Individuen sind und für die – im Unterschied zum professionellen Kernsektor – auch nicht gilt, daß der Erfolg oder Mißerfolg des Professionellen für sie existentiell bedeutsam ist. Ein Zweites ist, daß Erfolg und Mißerfolg – außer im Bereich der eigentlichen Forschung – im Bereich der wissenschaftlichen Berufsgruppen sowohl mit höherer Wahrscheinlichkeit vorausgesehen werden als auch mit größerer Sicherheit zugerechnet werden kann. Wissenschaftliche Berufsgruppen gewinnen ihre im Vergleich zu den klassischen Professionen größere Handlungssicherheit also aus den Wahrheitsgrundlagen der Wissenschaft und aus dem historisch singulären Ausmaß, in dem sich wissenschaftliche Wahrheit als technisierbar, d.h. hier als vom Ausgangskontext ablösbar und kontextfrei verwendbar, erwiesen hat.149 Die wissenschaftlichen Berufsgruppen, die in dieser Weise an Wissenschaft zurückgebunden sind, im übrigen auch auf der Ebene formaler Assoziation oft in sie eingegliedert bleiben,150 entwickeln keine professionstypischen Ethiken und sind insofern auf die Ethik der Wissenschaft zuückverwiesen. Andererseits können aber die disziplinären Kontrollmechanismen weder in die professionelle Handlungspraxis durchgreifen, noch böten sie überhaupt Entscheidungsregeln für professionstypische Handlungskonflikte. Es liegt nahe, aus dieser Situation auf ein erhöhtes Risiko der Korrumpierbarkeit der wissenschaftlichen Berufsgruppen zu schließen und zu vermuten, daß Momente einer gegenwärtigen Vertrauenskrise der Wissenschaft mit der Abwesenheit und Unwahrscheinlich-

148 | Barber 1963, 678-82. 149 | Zu diesem Begriff von Technik s. Luhmann 1975, 70-3. 150 | Dem mag dann eine disziplininterne Differenzierung von ›study asso ciation‹ und ›qualifying association‹ entsprechen. S. am Bei spiel englischer Physiker Millerson 1964, 70f.

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13. Akademische Freiheit, Professionalisierung der Hochschullehre und Politik I. »Akademische Freiheit« ist als Begriff und Institution genetisch eng mit der Entwicklung der deutschen Universität verbunden; systematisch gesehen reflektiert sie, wie wir zu zeigen versuchen werden, Probleme der Professionalisierung der Hochschullehre und schließlich formuliert sie zusätzlich das Problem der Demarkation der Systemgrenze von Hochschulerziehung und Politik. Das Folgende ist als ein Versuch der Ordnung und Deutung dieser sich überschneidenden Sinnzusammenhänge zu verstehen. Einführend werden wir (Abs. II) die deutsche Tradition der Interpretation akademischer Freiheit in ihrer Synthese aus pädagogisch-erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten und Bestimmungen der gesellschaftlichen Funktion der Universität darstellen. Es schließt sich eine systematischere Diskussion an, die zunächst (Abs. III) die Varianten der politischen Version akademischer Freiheit in ihrer Bedeutung für die Ausdifferenzierung des Hochschulsektors als Teil eines modernen Erziehungssystems betrachtet und Umbrüche in der Selbstauffassung der potentiellen politischen Rolle des Universitätsgelehrten als eine Vorbedingung dieser Autonomisierungsprozesse analysiert. Ein hinreichender Grad innergesellschaftlicher Autonomie der Hochschulinstitutionen ermöglicht dann eine erziehungsbezogene Zweitinterpretation akademischer Freiheit (Abs. IV), die innerakademische Interrollenbeziehungen in den Vordergrund stellt, im Begriff akademischer Freiheit den Hochschullehrer als einen Professionellen denkt und die Relation zum Studenten und dessen eigentümlichen Status mitberücksichtigt. Abschließend (Abs. V) sind Differenzen zwischen Typen von Hochschulsystemen (disziplinär bestimmte Ausbildungssysteme/Ausbildung für Professionen/College- und Tutorialsysteme) der Gegenstand unserer Überlegungen. Es wird deutlich, daß akademische Freiheit – gerade des Studenten – nur eines der möglichen Lösungsmuster in modernen Hochschulsystemen ist.

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II. Schon im 18. Jahrhundert feiert die Universitätsliteratur Freiheit in einem spezifisch akademischen Sinn als wesentliche Bedingung organisatorischen Erfolgs. Ein zeitgenössischer Autor formuliert mit Bezug auf Göttingen, es existiere »in Teutschland eine Freyheits- und viele Fach Universitäten«1 und er meint damit die Differenz zwischen strikter Bindung des Universitätslehrers an das einmal zugewiesene Lehrfach und der in Halle und dann vor allem Göttingen eröffneten Optionsvielfalt, die jedes Lehrthema zumindest der eigenen Fakultät frei zu wählen erlaubt, die Verpflichtung auf regelmäßig wiederholte öffentliche Vorlesungen abschwächt2 und dadurch einer Diversifizierung der Lehre – insbesondere im expandierenden Bereich der Privatvorlesungen – und einer Konkurrenz der Lehrer untereinander den Weg bahnt. Dem entsprechen Wahlfreiheiten der Studenten und die Konzedierung eines Erwachsenenstatus an diese3 – und sei es nur in der Version, die betont, es gebe kein Recht, dem Studenten mit Zwangsmitteln entgegenzutreten, wenn dieser die Pflichten gegen sich selbst vernachlässigt.4 Akademische Freiheit des Studenten heißt also wesentlich auch, daß man auf Universitäten verderben darf. Zu den strukturellen Voraussetzungen dieser zweiseitig institutionalisierten akademischen Freiheit zählen u.a. die Organisationsgröße der Universität, da Diversifizierung und Konkurrenz nur mit hinreichend vielen Lehrern – und auch Studenten – möglich ist, und bestimmte Eigenschaften der Universitätsstadt, die im 18. Jahrhundert eher als kleine Stadt, ohne Residenz und idealiter mit minimaler Garnison gedacht wird, weil nur in einer Stadt dieses Typs das freie Betragen der Studenten ohne Verletzung der Würde staatlicher Institutionen toleriert werden kann.5 Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt Fichte, daß die Großstadt sich noch besser eignet, weil sie die Lebenskreise gegeneinander abschließt und dort also auch das Laster »seine zahlreiche geschlossene Gesellschaft schon hat«, so daß der Student es aktiv aufsuchen muß,

1 | Boell 1782, 57 (Hervorhebung von mir R.S.). Boell fährt ebd. fort: »Wie verhalten sie sich gegen einander? Man rumpelt durch diese per postam durch, oder neben ihnen vorbey, und eilt jener mit seinem Geld zu. Auf jener sind meistens reiche Käuffer, auf diesen entweder mittelmäsige oder Bett ler.« 2 | Letzteres nur in Göttingen – vgl. Rössler 1855, A 24, B 37, 81, 455-7; zu Halle, 474. Für Berlin vgl. Schleiermacher 1808, 262f. 3 | S. Michaelis, IV, 1776, 165: »[…] die Studirenden nicht, wie auf den Engli schen oder einigen Catholischen Universitäten, Schul- und Klostermäßig, sondern als erwachsene, freye, doch unter den Gesetzen stehende Leute betrachtet werden.« 4 | Wolff 1731, 465. 5 | Rössler 1855, B 8.

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es sich nicht in seine Wohnung drängt.6 Schließlich verfügt das 18. Jahrhundert auch bereits über eine Theorie des pädagogischen Sinnes akademischer Freiheit. Während Zwangsstudien einen Studenten hervorbringen würden, der eine schlechte Kopie seines akademischen Lehrers wäre, ist das strukturelle Resultat akademischer Freiheit die Vermittlung der hoch bewerteten Tugend eklektischen Denkens,7 die vorerst Originalität und Selbsttätigkeit des Denkens vertreten muß. Das 19. Jahrhundert nimmt diese Tradition auf, formalisiert das Bewußtsein, daß es sich um eine Interrollenbeziehung handelt und in diesem Sinn Lehrfreiheit und Lernfreiheit streng komplementär sind,8 und es baut um diesen Grundsachverhalt eine umfassendere Theorie. In deren Zentrum steht eine radikal neue pädagogisch-erkenntnistheoretische Vision, die die prinzipielle Differenz realisiert, die zwischen dem kognitiven System des Lehrers und dem des Lernenden liegt, und die Unhintergehbarkeit von Freiheit aus dieser Einsicht ableitet. Die in der Theorie eklektischen Denkens noch enthaltene Vorstellung eines schlichten Transfers oder Transports der zu lernenden Sinngehalte in das kognitive System des Lernenden wird obsolet. An ihre Stelle tritt die Idee der Autonomie des Auffassens durch den Studenten. Wie es in einer charakteristischen Darstellung über die akademische Lehrart heißt, welche dem Studenten keine »gewissen Bestimmungen« gebe: »Der academische Lehrer reicht vielmehr das Erkenntniß, was er dem andern beybringen will, nur auf eine solche Weise dar, daß dieser solches durch den ihm gänzlich überlassenen Gebrauch seiner Kräfte annehmen und erwerben kann«.9 Aus der »Eigenmächtigkeit des Empfangs« durch den Studenten folgert der Autor, daß die eigentlich akademische Lehre ein »Vortrag« sei und nicht etwa eine praktisch übende Veranstaltung sein dürfe, so daß die Dominanz eines vorlesungsbezogenen Unter6 | Fichte 1812, 457. 7 | Michaelis, I, 1768, 103-8. S. ebd. II, 1770, 9-91, eine ausführliche Dis kussion verschiedener Aspekte der Relation Lehrer/Student. 8 | S. Kummer 1848, 713: »Die Universität theilt sich nun, nach der verschie denen Bestimmung der Personen, aus welchen sie besteht, in Docenten und Studenten. Die Wissenschaft ist das geistige Band, welches in den Vor lesungen beide zu einer freien Vereinigung zusammenschließt […] Die Lehr freiheit einerseits und die Hörfreiheit andererseits sind darum die beiden Seiten der akademischen Freiheit, welche in dem wissenschaftlichen Leben der Universität der Gliederung in Docenten und Studenten entsprechen.« Vgl. Fichte 1812, 454. 9 | Witte 1794, 11f. (Hervorhebung von mir R.S.). Vgl. für eine späte treffen de Formulierung Horn 1905, 15: »Die Lernfreiheit ist insofern das Korrelat der Lehrfreiheit, als zwischen Lehren und Lernen eine logische Relation besteht. Beide bewegen sich auf geistigem Gebiet: ich kann einen nur lehren durch den Verstand, der in ihm ist und mittels dessen er lernt.« (Hervorhe bung von mir R.S.)

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richtsbetriebs ihre Rechtfertigung darin hat, daß die Autonomie des Studenten respektiert werden soll und sie ihm als Eigengebrauch seiner Kräfte auch zugemutet werden muß. Ein anderes institutionelles Korrelat akademischer Studienfreiheit sind die in Deutschland zwischen 1710 und 1850 viel diskutierten Vorlesungen über Enzyklopädie, Methodologie oder – wie das Fach auch heißt – Hodegetik. Sie sind gewissermaßen letzte Vorbereitung auf Freiheit, bieten die Gewähr, daß deren Risiko verantwortet werden kann.10 Die neue pädagogische Vision wird im übrigen in einer Mehrzahl von Formeln beschworen, an denen immer wieder Selbstbezug des Studenten und Reflexivität des Lernens als die auffälligen Momente hervortreten. So spricht man von Selbsterziehung anstelle von Leitung durch den Erzieher,11 Erkennen statt Lernen als dem Zweck der Universität,12 Lernen des Lernens, Selbstdenken etc. Deutlich wird an all dem, daß diese neue Hochschulpädagogik konstitutiver interpersonaler Differenz entscheidend hervorgerufen wird durch eine Anspruchssteigerung hinsichtlich dessen, was noch als eine wirkliche Einsicht akzeptiert wird. Wenn Fichte in der letzten seiner Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten immer wieder von dessen Ergriffenheit durch Gesichte der übersinnlichen Welt spricht, so wird evident, daß der akademische Vortrag jenen Übergang lediglich anregen kann, dem allein »die eigne innere Anschauung« Gestalt zu verleihen vermag.13 Der hier skizzierte Theoriekern wird in der Regel erweitert durch eine Bestimmung des Sinns akademischer Freiheit in Hinsicht auf die innergesellschaftliche Umwelt der Universität. Dabei sind die wesentlichen Argumente erstaunlich homogen und lassen sich für einen ersten Zugriff in vier Rubriken zusammenfassen: 1. Elitecharakter der Universität; 2. Kompensationsmodell akademischer Freiheit; 3. Universalismus und Egalität als Strukturmomente der deutschen Universität; 4. Bildungsmäßige Berücksichtigung von Individualität. 1. Elitecharakter der Universität: Die Universitätstheorie hat sich nie verhehlt, daß in der den Studenten zugemuteten akademischen Freiheit für einen beträchtlichen Teil der Studentenschaft eine Überforderung liegt, die Scheitern mit lebensgeschichtlich katastrophalen Folgen nach sich ziehen kann. Sie reagiert darauf mit einer entschiedenen Affirmation des Elitecharakters der Universität. Während Michaelis hier noch ein wohlfahrtsökonomisches Argument des Typs wählt, es würden im Fall der Beschränkung akademischer Freiheit alle Studenten eine Einbuße erleiden, wohingegen die derzeit gegebene Freiheit nur

10 | S. Michaelis, II, 1770, 80-91, und prononciert Scheidler 1847, XXIVff. 11 | Fichte, 1811, 199f.; Scheidler 1839, 185. 12 | Schleiermacher 1808, 275. 13 | Fichte 1811, 180f.

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den schlecht vorbereiteten Studenten zum Nachteil gereiche,14 radikalisiert das 19. Jahrhundert die Begründung. Letztlich favorisiert man ein Risikokalkül, das annimmt, es sei besser, daß viele Ungeeignete verderben, als daß einem Hochbegabten durch Restriktionen die Entfaltung verwehrt werde.15 Allenfalls wird noch, wie bei Fichte, unterstellt, daß die höhere Bildung – die der »Künstler« im Unterschied zu den »Ausübenden« – sowieso die vergleichsweise niederen Ausbildungsleistungen nebenbei miterbringe, so daß die »Ausübenden«, wenn auch am letzten Ziel der Universitätsbildung gescheitert, dennoch die Universität als nützliche Bürger verlassen, die allerdings Subordination und Minderachtung deutlich zu spüren bekommen.16 Die Präferenz für Orientierung an den Hochbegabten verbindet sich mit einem Zurechnungsmodus, der akademische Freiheit nicht als die Ursache des Scheiterns der überforderten Studenten nimmt. Vielmehr wird eine vorausliegende charakterliche Defizienz oder ein bereits eingeschlagener falscher Weg postuliert,17 welche durch die Konfrontation mit akademischer Freiheit lediglich offengelegt worden sind. Die Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge steigt mit abnehmender Selektivität des Zugangs zur Universität, so daß das Plädoyer für akademische Freiheit sich unproblematisch mit der Sorge vor zu hohen Studentenzahlen verbindet18 und für uns zugleich eine der Dimensionen historischer Relativität dieses Modells der Institutionalisierung akademischer Studien sichtbar wird. 2. Kompensationsmodell akademischer Freiheit: Die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts hat sich gern als ein Statthalter jener Desiderata verstanden, die politisch und gesellschaftlich nicht zu realisieren waren. Das gilt bekanntlich für die Idee nationaler Einheit, findet eine noch interessantere Exemplifikation aber im Postulat akademischer Freiheit. Für preußische Autoren etwa lag es nahe, Bildungssystem und Militär als die dominanten und zugleich als komplementäre gesellschaftliche Institutionen zu denken und deren Differenz als eine von Subordination vs. freieste Enfaltung des Selbstbewußtseins zu deuten.19 Ein anderer vertrauter Gegensatz ist der von Student und Philister, die beide als unverwechselbar deutsch und als sich wechselseitig fordernde Gegenpole 14 | Michaelis II, 1770, 67. 15 | Schleiermacher 1808, 279; Fichte 1811, 184-193, 200; Helmholtz 1877, 203; Paulsen 1904, 31. 16 | S. Fichte 1811, 191: »[…] wird es sehr heilsam, den Ausübenden bei keiner Gelegenheit es zu schenken, sondern es recht vernehmlich an ihr Ohr zu reden; daß sie ja nur verfehlte Gelehrten sind; daß um ihretwillen die Gelehr tenanstalten gar nicht da sind, sondern um eines Höhern willen, das sie eben nicht geworden sind.« 17 | Jakob 1819, 12; bzw. Schleiermacher 1808, 279. 18 | S. etwa Helmholtz 1877, 210f. 19 | Rosenkranz 1844, 740.

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gesehen werden.20 Die Freiheit der Bildung hat also zu tun mit der Enge des Lebens in den gesellschaftlichen Institutionen. Besonders überzeugend hat dies Friedrich Thiersch aus einem Vergleich zu England erklärt, wo klösterliche Bindung des Lebens im College und Weite des späteren Lebens in der Öffentlichkeit einander komplementär ergänze. Entsprechend gelte für Deutschland eine Relation von Beschränktheit beruflicher Umstände und äußerster Uneingebundenheit studentischen Lebens: »Welches aber auch die spätere Verminderung und Beschränkung sey, die jene aus der Zeit akademischer Studien in die spätern Verhältnisse fortgepflanzte Gesinnung leidet, so viel ist klar, daß sie für die Enge, die Noth, die Demüthigung derselben ein heilsames Gegengewicht bildet, und, wiewohl beschränkt und gebeugt, die Hauptquelle desjenigen ist, was man auch in unsern beugenden Verhältnissen an persönlicher Würde, an Selbständigkeit, an einer das Amt und auch das untergeordnete Geschäft durch die Person adelnde Gesinnung findet, daß ohne den wohlthätigen Einfluß der akademischen Jahre, ihrer Selbständigkeit, Freiheit und Männlichkeit auch auf die spätern Jahre des Dienstes und Gehorsams, dieser mehr und mehr in Dienstbarkeit ohne Würde, und in die Unterwürfigkeit der Knechtschaft ausarten würde«.21 Die autonome Idealität akademischen Lebens soll also Widerstandsfähigkeit gegen die erwartbaren bedrückenden Lebensumstände sozialisieren, und in optimistischen Versionen erwartet man eine langsame Umbildung der gesellschaftlichen Sitten durch den Einfluß der Bildungsschichten, so daß der akademischen Freiheit zusätzlich eine Art Laboratoriumscharakter zukommt, der das Ausprobieren innovativer Verhaltensweisen erlaubt.22 Eine differente Position vertritt in diesem Punkt Fichte, der aus Abwesenheit äußerer Überwachung auf Substitution personinterner Kontrollen schließt und dies nun gerade deshalb für erforderlich hält, weil er den Studenten später in eine Tätigkeitssphäre treten sieht, wo jede Möglichkeit äußerer Beurteilung für ihn entfällt.23 Soziologisch gesehen war diese These wenig realistisch, weil sie eine zu enge Korrelation der Aneignung des Kerns wissenschaftlicher Bildung mit der Qualifikation für die allerhöchsten Stellungen im Staat unterstellt, ja überhaupt keinen höheren Stand neben dem wissenschaftlich ausgebildeten mehr konzediert.24 Im übrigen ist es im Licht des obigen Vergleichs mit England vielleicht bezeichnend, daß Fichtes Universitätsplan von 1807 letztlich keinen Platz für die andernorts von ihm bejahte akademische Freiheit vorsieht, er vielmehr – mit explizitem Bezug auf Oxford und Cambridge – ein College entwirft, das die 20 | S. Varnhagen von Ense, zit. b. Scheidler 1847, XIX. 21 | Thiersch 1827, 249-52, das Zitat S. 251f.; vgl. Jean Paul 1805, 33-35; Jung 1844, 540f. 22 | S. Schleiermacher 1808, 282f. 23 | Fichte 1805, 400-411. 24 | Fichte 1811, 174f., bzw. 1807, 160.

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englischen Institutionen an Umfang der Kontrollen noch übertrifft.25 Zugleich denkt er die Sequenz Student-Universitätslehrer-hoher Staatsbeamter als Beschreibung einer – sinnvollerweise vollständig zu durchlaufenden – Karriere, derart die englische Relation von College und anglikanischem Klerus als Relation von Universität und Staatsverwaltung exakt duplizierend.26 3. Universalismus und Egalität als Strukturmomente der deutschen Universität: Bereits Autoren des 18. Jahrhunderts sehen vielfach eine Besonderheit der deutschen Universität darin, daß sie Standesunterschiede in einem Grad nivelliert, der in anderen Sektoren der Gesellschaft und im Ausland keine Entsprechung kennt.27 Die faktisch natürlich immer gegebenen Differenzen werden in Deutschland zumindest nicht durch einen inneruniversitär institutionalisierten Status gestützt. Die zunehmende Abstraktheit der Interrelation von Professor und Student in einem vorlesungsdominierten Unterrichtsbetrieb garantiert zudem, daß nicht gegen niedrige Herkunft diskriminiert werden kann, und sie verschafft den durch den gleichen Status zuerkannter akademischer Freiheit egalisierten Studenten eine relative Heterogenität sozialer Erfahrung, die das Insistieren auf Standesansprüchen nicht nahelegt. Im frühen 19. Jahrhundert tritt ein neuer Gesichtspunkt hinzu. Standesansprüche sollen jetzt nicht nur für die Dauer des Universitätsaufenthalts suspendiert werden, vielmehr will die Universität zur Formung eines Bürgertums beitragen, das seine gesellschaftliche Stellung eben der Tatsache verdankt, daß seine prospektiven Mitglieder an der Universität nach universalistischen Gesichtspunkten behandelt worden sind und sich an diesen gemessen bewährt haben. Schon bei Schleiermacher wird dort, wo er die Notwendigkeit der Fortdauer einer gewissen gerichtlichen Exemtion der Studenten aus der Tatsache ableitet, daß außeruniversitär noch ein mehrfacher Gerichtsstand besteht und deshalb nur die an sich obsolete Exemtion inneruniversitär Gleichheit sichern kann, deutlich, daß es ihm um Wirkungen geht, die über die Universität hinausreichen, zumal ihm die ständische Ordnung als Sitte erscheint und sie deshalb von der den Bildungsschichten zugeschriebenen sittenbildenden Funktion abhängt.28 Entschiedener noch ist hier Fichte, der auch im Universitätsplan, wo er dem englischen College gedanklich am nächsten steht, sich im Insistieren auf Egalität radikal von dessen Prämissen entfernt. Anläßlich der Frage nach den Vorteilen einer Provinzuniversität verwirft er diese Institution prinzipiell, weil die Universität ihr Mitglied gerade aus allen territorialen und schichtungsmäßigen Bindungen lösen und in einen Kontext stellen solle, wo es nur nach persönlichen Verdiensten eingeschätzt 25 | Fichte 1807, insb. 165-178. 26 | Ebd. 178. 27 | Vgl. Büsch 1777, 406f.; Michaelis IV, 1776, 167-170; Jakob 1819, 11. 28 | Schleiermacher 1808, 303, 282.

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werde.29 Der Student hat das Recht, »das Leben einmal selbständig von vorn anzufangen«; auf der Universität werden die Bürger »durcheinander gerüttelt […] zu allseitiger Belebung«, und das Resultat ist »die organische Verwachsung aller zu einem und demselben Bürgertume«.30 4. Bildungsmäßige Berücksichtigung von Individualität: Ein letztes Moment der Selbstthematisierung akademischer Freiheit ist, daß deutsche Autoren gern einen Zusammenhang von Freiheit und Individualität postulieren. Während sich Tutorialsysteme darauf berufen, daß sie dem Studenten besondere Chancen der Entwicklung von Individualität bieten, weil er in ihnen ein kommunikatives Gegenüber hat, das ihm zur Entfaltung jener Momente seiner Individualität verhelfen kann, die für ihn selbst noch nicht ganz offenliegen, favorisiert die deutsche Universitätstheorie eher die Abwesenheit von Interaktion, zumindest erzieherischer Intervention. Sie fürchtet die Tendenz zur Allgemeinheit einer Form und präferiert organische Metaphern eines Wachstums, das leichter gehemmt als gefördert werden kann.31

III. Die Selbstthematisierung akademischer Freiheit als eines primär innerakademischen und erziehungsrelevanten Problems macht eine Voraussetzung, die alles andere als unproblematisch ist. So bestimmt beispielsweise Fichte akademische Freiheit im umfassendsten Sinn des Begriffs als Abwesenheit externer Intervention und geht erst dann dazu über, den Begriff durch Explikation der Interrollenstruktur der Universität in seine Komponenten Lehr- und Lernfreiheit zu zerlegen.32 Abwesenheit externer Intervention glaubte die deutsche Universität namentlich des 19. Jahrhunderts in einem praktisch hinreichenden Maß unterstellen zu können; und auch dort, wo man die Geschichte akademischer Freiheit im 19. Jahrhundert als Geschichte der Übergriffe der Staatsgewalt in die Lehrfreiheit der Universität rekonstruiert, gelangt man zu einer insgesamt positiven Bilanz, weil diese Übergriffe vereinzelt blieben, nicht die Zustimmung der öffentlichen Meinung fanden, in der Universität entschiedenem und mutigem Widerspruch begegneten und vor allem die Struktur der Universität im Resultat nicht tangierten.33 Deutlich wird hier aber auch, daß, solange ein hinreichender Grad der Ausdifferenzierung von Hochschulerziehung 29 | Fichte 1807, 188f. 30 | Ebd.; vgl. a. Jung 1844, 539f. 31 | Vgl. Schleiermacher 1808, 276f.; Rosenkranz 1837, 9. 32 | Fichte 1812, 454f. 33 | S. Kaufmann 1898.

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nicht vorausgesetzt werden kann, vermutlich ein politisches Verständnis akademischer Freiheit vorherrschen wird, das sich auf die Intersystembeziehung von Politik und Erziehung konzentriert und die internen Relationen der Universität vergleichsweise vernachlässigt. Diese politische Version akademischer Freiheit kennt wiederum eine Mehrzahl von Varianten, deren vier wir im folgenden unterscheiden wollen. 1. Korporative Freiheit: Korporative Freiheit ist das Problemlösungsmuster spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher europäischer Gesellschaften. Die Universität erhält Privilegien und die Exemtion aus Regelungen, die überall andernorts in der Gesellschaft gelten (eigener Gerichtsstand/Zensurfreiheit/ postalische und fiskalische Sonderregelungen etc.). Diese fungieren aber nicht primär als Grundlagen der Autonomie von Erziehung und Wissenschaft, vielmehr als Mechanismen der Ausgrenzung eines Standes, der zwar seine Identität über einen funktionalen Bezug definiert, dessen Freiheit im Verhältnis zur Politik aber nicht dadurch bestimmt ist, daß es sich um eine außerpolitische Freiheit handelt. Die Universität als ständische Korporation hat vielmehr selbst politischen Charakter, und sie leitet daraus Mitwirkungsrechte ab, beispielsweise Ansprüche auf Partizipation an ständischen Vertretungsorganen. Die korporativ-ständische Ausgrenzung der Universität korreliert mit einem vergleichsweise geringen Grad interner Differenzierung des Personenverbandes, aus dem sie besteht. Lehr- und Lernrollen sind in ihren Ansprüchen weniger geschieden und ihre Differenzen dienen auch nicht als Anlaß zur Spezifikation verschiedener Freiheiten. 2. Autonomie gegenüber dem Staat: Die seit dem 16. Jahrhundert fortschreitende politische Indienstnahme der Universität, ihre Umformung in eine Lehrinstitution, die mit Erziehungsaufgaben und Ausbildungsleistungen befaßt ist und als solche eher institutionellen als personenverbandlichen Charakter trägt, die Dualisierung ihrer internen Sozialstruktur durch stärkere Differenzierung von Lehr- und Lernrollen – die Gesamtheit dieser Entwicklungen hat zur Folge, daß akademische Freiheit in einem politischen Sinn des Begriffs in Zukunft zuallererst als Autonomie einer Erziehungsinstitution gegenüber dem Staat verstanden wird. Gleichzeitig liegt in der Dualisierung der Sozialstruktur der Universität die strukturelle Voraussetzung für eine spezifisch erziehungsbezogene Interpretation akdemischer Freiheit, die auf Lehr-/Lernrelationen fokussiert ist und im folgenden genauer diskutiert werden wird. Vorerst aber gilt es zu notieren, daß gerade unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts, das erstmals die Universität als eine im Maßstab der Weltgesellschaft realisierte Institution kennt – und d.h. auch, daß Universitäten jetzt in vielen Ländern existieren, die keine Tradition des Respektierens der Autonomie von Erziehung und Wissenschaft besitzen – der politische Begriff akademischer

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Freiheit in einem Grade dominiert, der impliziert, daß 1. erziehungsbezogene Verständnisse des Begriffs relativ dethematisiert werden und es 2. naheliegt, den Begriff akademischer Freiheit nicht etwa zu benutzen, um die Bedingungen notwendiger Autonomie für Erziehung und Wissenschaft zu spezifizieren, ihn vielmehr als Instrument der Politisierung oder Repolitisierung der Universität zu verstehen. Dies geschieht u.a. in bemerkenswerter Weise in autoritär regierten lateinamerikanischen Ländern, in denen keine politischen Freiheiten gesichert sind, aber eine Tradition akademischer Freiheit institutionalisiert ist, so daß letztere die abwesenden politschen Freiheiten vertreten muß.34 Akademische Freiheit reklamiert dann wieder eine Exemtion, die aber nicht korporativständischen, eher territorialen Charakters ist. Die Universität als exterritoriales Gebiet ist dem Zugriff der Polizei entzogen, und eine Aktivität ist nicht deshalb geschützt, weil sie zur Universität gehört, vielmehr, weil sie auf deren Territorium stattfindet. Das führt zum Konzept der ›politischen Universität‹, die nicht Erziehung, sondern Politik gegen Politik setzt, die Universität also als primär politische Institution formiert. Das Ertragen dieser Institution definiert dann für die betreffenden politischen Regimes das Maß an gesamtgesellschaftlicher Freiheit, das sie zu gewähren bereit und imstande sind. 3. Autonomie für private Interessen: Ein alternatives und in den strukturellen Prämissen ebenfalls modernes Verständnis akademischer Freiheit ist die Vorstellung, daß gleiche Gestaltungsrechte, wie sie der Staat im Hochschulbereich besitzt, auch großen gesellschaftlichen Interessengruppen eingeräumt werden müssen. In der Emphase, gerade dies als den Kern des Problems akademischer Freiheit zu empfinden, ist dies ein typisch französisches Thema. Besonders deutlich werden hier die Konfliktfronten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts markiert. Die Kirche stellt dem System staatlicher Fakultäten immer wieder die Forderung nach Freiheit der Hochschulbildung entgegen, und sie meint damit präzise die Freiheit eines jeden Privatmanns, Ausbildungsinstitutionen unabhängig vom Staat jederzeit errichten zu dürfen.35 In einer um 1870 eingesetzten Untersuchungskommission, in der Ernest Renan diesem Verständnis die akademische Freiheit deutscher Universitäten konfrontiert – im Sinne nichtlimitierten Fortschreitens wissenschaftlicher Untersuchung und Bildung – verhallt seine Intervention bezeichnenderweise ohne jede Resonanz.36 Der jüngste Streit um die französischen Privatschulen (1984) illustriert, wie die gleiche Freiheitsrhetorik auch heute noch Konflikte von erheblichem politischen

34 | S. Ben-David 1977, 128, 3f. 35 | Liard 1894, 297-333. 36 | Ebd. 305f.

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Ausmaß provozieren kann und sie als Semantik benutzt wird und motiviert, welche tieferliegenden Befürchtungen sie auch immer verhüllen mag.37 Die Differenz nationaler Kontexte wird durch die deutsche Diskussion um 1900 beleuchtet, in der sich die prinzipielle Ablehnung eines derartigen Begriffs akademischer Freiheit in der rigorosen Polemik gegen konfessionsgebundene Lehrstühle, katholische Universitäten und niederländische Versäulung manifestiert,38 schließlich auch in der potentiell berufungsrelevanten Insinuation, es fehle einem Katholiken die innere Freiheit, auf die voraussetzungslose Forschung angewiesen sei.39 4. Autonomie gegenüber privaten Interessen: Es liegt auf der Hand, daß die privat finanzierte und von Treuhändern des Geldgebers verwaltete Universität in besonderer Weise als Gefährdung der akademischen Freiheit des von ihr beschäftigten Gelehrten empfunden werden kann, und es ist in Auseinandersetzung mit dieser Situation, daß sich in den Jahren um und nach 1900 das amerikanische Konzept akademischer Freiheit entwickelt hat.40 Da dem sich von Willkür und persönlicher Interessenverfolgung der ›trustees‹ bedroht sehenden Professor in den USA weder der Appell an staatliche Kontrollintervention noch gerichtliche Klagemöglichkeiten offenstanden, stützte sich das Plädoyer für Unabhängigkeit gern auf ein behauptetes öffentliches Interesse, die Universität als quasi-öffentliches Eigentum unbeschadet des Modus ihrer Finanzierung.41 Das sich daraus entwickelnde Konzept akademischer Freiheit war relativ institutionell, wenig erziehungsbezogen, konzentrierte sich auf den Professor und vernachlässigte aus diesem und anderen42 Gründen den Gesichtspunkt der Lernfreiheit.43 Bezeichnend ist, daß ein aus dieser Tradition herausfallender Autor wie A.W. Small, der die inneruniversitäre Ethik akademischer Freiheit favorisiert, das Problem der Unabhängigkeit von den ›trustees‹ als faktisch gelöst sieht und

37 | S. Hoffmann 1984, insb. 55, 57. 38 | S. mit bezeichnender Schärfe Weber 1973, insb. 592, 616f. 39 | S. für ein Beispiel McCormmach 1982, 186, und für eine allgemeinere Diskussion Below 1912, der das antikatholische Argument nur deshalb nicht teilt, weil er das Übermaß an Rationalisierung fürchtet, das er darin sieht. Insofern konzediert er die Prämissen des Arguments. 40 | Metzger 1955; Furner 1975. 41 | Metzger 1955, 399. 42 | Vgl. Veysey 1973, 25f., zu der Devianz, die unter amerikanischen kulturel len Bedingungen in jeder extremen Form intellektueller Absorption liegt und dem daraus folgenden ›penalen‹ Charakter (Veblen) der amerikani schen Universität. 43 | Metzger ebd. 398.

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die sich darauf beziehende professorale Polemik als ein Ausweichen vor den eigentlichen Verantwortlichkeiten der Profession analysiert.44 Die hier referierten politischen Versionen akademischer Freiheit dienen sämtlich der Bestimmung der Grenze, die zwischen dem akademischen System und seiner gesellschaftlichen Umwelt liegt. Erst hinreichende Ausdifferenzierung der Hochschulinstitutionen ermöglicht dann einen Primat von Interpretationsansätzen, die auf die Binnenstrukturen bezogen sind. Dieser Umbruch setzt nicht nur Interventionsverzichte externer Instanzen voraus. Er geht einher mit einer Adaptation der Selbstauffassung der potentiellen politischen Rolle des Universitätswissenschaftlers, die sich in der Krise akademischer Freiheit vorbereitet, die in einer Mehrzahl von Staaten (in Europa und den USA) in den Jahren um 1900 beobachtbar ist. Es scheint nicht unplausibel, diese Krise akademischer Freiheit in Verbindung mit der Genese der modernen Sozialwissenschaften – insbesondere Ökonomie und Soziologie – zu sehen, und d.h. auch, im Zusammenhang mit der Herauslösung sozialwissenschaftlichen Wissens aus der unmittelbaren funktionalen Zuordnung auf den Staat. Schlichte Parteilichkeit des Sozialwissenschaftlers in gesellschaftlichen Interessenkonflikten wäre inkompatibel mit der Wahrung akademischer Freiheit, und die resultierende Adaptation vollzieht sich in zwei Richtungen: 1. Intern als die Genese von Werturteilsfreiheit, d.h. als Selbstrestriktion in der Stellungnahme zu Werten, die sich nicht primär ethischer Anstrengung verdanken kann, sich vielmehr durchsetzt als Überwiegen akademischer Werte gegenüber allen anderen Wertverpflichtungen45 und letzlich ermöglicht wird durch die Konsolidation disziplinärer Gemeinschaften in den Sozialwissenschaften mit den spezifischen Bindungseffekten eines disziplinären Kommunikationsprozesses. 2. Im Außenkontakt als Expertentum, d.h. als Verzicht auf selbstinitiierten Zutritt und parteiische Intervention in politische Debatte. Der Experte bevorzugt die Rolle des auf Anfrage Rat gebenden Fachmanns und ist dann nicht genötigt, die Wertbindungen der Fragenden mit zu ratifizieren.46

IV. Erst mit der Entpolitisierung der ständischen Korporation, der Umwandlung der Universität in eine Lehrinstitution und der Dualisierung ihrer internen Struktur wird die Hochschullehre erstmals ein Beruf. Als Beruf ist sie klientenbezogen, ist also mit Studenten befaßt, die ihr gegenüber die komplementäre Lernrolle einnehmen, und sie hat zudem Verpflichtungen gegenüber dem Wis44 | Small 1899, insb. 464-466. 45 | Weber 1973; Parsons 1965, 85-87. 46 | Furner 1975, insb. 258.

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senskorpus, den sie tradiert und erweitert. Akademische Freiheit erweist sich nun – sofern die strukturellen Voraussetzungen ihrer erziehungsbezogenen Zweitinterpretation erfüllt sind47 – als Norm und als Begriff, der sich in besonderer Weise eignet, das Problem der Professionalisierbarkeit der Hochschullehre zu formulieren. Dies in zumindest fünf Hinsichten: 1. Akademische Freiheit begründet besondere Ansprüche und Rechte eines Berufs im System gesellschaftlicher Berufe und schützt dadurch den einzelnen Berufspraktiker insbesondere im Umgang mit der ihn beschäftigenden Organisation.48 Der europäische Universitätsprofessor ist oder war, wie Ben-David an einer Stelle sagt, »actually a government-paid private practitioner«.49 Dies dokumentiert sich im Recht auf akademische Selbstverwaltung trotz Beamtenstatus, der Umkehr der Relation von Linie und Stab bei Vorhandensein einer nichtakademischen Administration und im Anspruch auf Selbstergänzung der Berufsgruppe auch bei Letztentscheidung einer außerakademischen Spitze. Letzteres hat die deutsche Universität durch Schaffung der Privatdozentur als eines vollwertigen Mitgliedschaftsstatus unabhängig von staatlicher Anstellung zu sichern versucht und dies als wesentliches Moment akademischer Freiheit gern ideologisiert. 2. Akademische Freiheit regelt auch Beziehungen von Hochschullehrern untereinander. Man kann sie gegenüber einem Kollegen geltend machen, und in der Institutionalisierungsphase des 18. Jahrhunderts ist die Vermeidung ›gelehrter Monopole‹ ein häufig angeführtes Motiv. Gleichzeitig gibt es das Bemühen um Ausschaltung exzessiver Konkurrenz, beispielweise durch eine gerechte Verteilung enzyklopädischer Vorlesungen, da diese einer Umlenkung der Studentenströme dienen konnten. 3. und 4. Die Interrelation der beiden zentralen Rollen in der Universität ist der eigentliche Kern des Problems akademischer Freiheit. Hochschullehre als eine Dienstleistung gegenüber dem Studenten weist unter der Bedingung von Lehrfreiheit eine ökonomisch gesehen paradoxe Struktur auf.50 Darin ist sie analog zu den anderen Professionen. Die Bestimmung von Form, Inhalt und Umfang der Dienstleistung liegt ganz in der Hand des Lehrenden, so daß denjenigen, die die Dienstleistung bezahlen – seien es nun die Studenten selbst oder die den Hochschullehrer beschäftigende Organisation –, aus dieser Tatsache kei47 | Vgl. auch zum Primat innerakademischer Relevanzen im Begriff akademi scher Freiheit Parsons/Platt 1973, insb. 149. 48 | Vgl. Ashby 1974, 74. 49 | Ben-David 1972, 21. 50 | Lovejoy 1930, 384.

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ne weiteren Mitwirkungsrechte erwachsen. Hinzu kommt das Phänomen der Erfolgsunabhängigkeit der Bezahlung. Auch wenn es dem Studenten nicht gelingt, irgendetwas zu lernen, vermindert das die Kosten seines Studiums nicht.51 Die Ausbildung dieser Struktur ist nicht trivial. Man muß bedenken, daß bei der Institutionalisierung von Lehrfreiheit im 18. Jahrhundert kameralistische Motive eine erhebliche Rolle gespielt haben. Es ging durchaus um inneruniversitäre Konkurrenz als Mittel der Leistungssteigerung, um Attraktivität für wohlhabende Strudenten und den Einfluß einer Universität auf die Zahlungsbilanz eines Landes. Insofern ist es nicht inkonsequent, wenn ein zeitgenössischer Beobachter52 ein rigoroses Modell der Universität als Fabrik entwirft, in der die Studenten als Käufer auftreten, denen die Professoren erwünschte Waren zuliefern – und sein Modell bemerkenswert illustriert: »[…] und wenn etliche Auditoren über den Eulenspiegel ein Collegium gelesen wissen wollen, so müssen sie auf der wohlbestellten Akademie Gelegenheit dazu finden. Man muß ja denen Käuffern N.B. mit aller ostensiblen Waar aufwarten. Ist denn nicht die Universität eine Fabrick?«.53 Konsens allerdings findet Boell dafür nicht. Schon wenig später repliziert Gottlieb Schlegel: »Die Lehrer müssen es nicht den Jünglingen überlassen, was sie zu Vorlesungen fordern, sondern selbst wählen und beurtheilen, was für die Gelehrsamkeit nützlich ist, ihnen rathen und ihre Forderungen mit ihnen in Ueberlegung ziehen«.54 Interessant ist an dieser Bemerkung, wie präzise sie einen Professionsanspruch formuliert. Gelehrsamkeit meint hier ja nicht die Objektivität eines Wissenssystems, ist vielmehr subjektiv zu verstehen im Sinne der zu erreichenden mentalen Ausstattung des Studenten und ist insofern ein exaktes Analogon zu beispielsweise Gesundheit. In Hinsicht auf diesen zu optimierenden Zustand liegt aber nun die Definitionskompetenz beim Hochschullehrer, der die Objektivität eines Bedarfs vertritt und jede Nachfrage in dessen Licht neu definiert.55 In Situationsdefinitionen dieses Typs scheint sich die Genese einer klassischen Professionellen-Klienten-Konstellation vorzubereiten. Wenig später aber vollzieht sich ein weitreichender Umbruch durch Ausbildung der disziplinären Struktur der Wissenschaft und die Einbindung der Hochschullehrer in disziplinäre Systeme wissenschaftlicher Kommunikation.56 Akademische Freiheit erweist sich in Hinsicht auf diese neue Situation als ein ›preadaptive

51 | Parsons 1969, insb. 43. 52 | Boell 1782. 53 | Ebd. 67. 54 | Schlegel 1790, 212 (Hervorhebung von mir R.S.). 55 | Vgl. Stichweh 1987, Abs. III. 56 | Stichweh 1984.

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advance‹.57 Generiert und formuliert für eine Lehr-/Lernrelation nimmt sie das neue Pathos voraussetzungsloser Forschung in sich auf, dient jetzt auch dem Schutz der Bindung an eine disziplinäre Gemeinschaft und eignet sich damit u.a. als Mechanismus der Distanznahme gegenüber zu enger Verpflichtung auf die Lehr-/Lernrelation. Im übrigen darf man sich das Verhältnis akademischer Freiheit zu dieser Entwicklung teilweise auch als das einer Ursache vorstellen. Die akademische Freiheit einiger deutscher Universitäten des 18. Jahrhunderts schafft Freiräume mit noch unbestimmter Nutzung, so daß man sich bei Sichtbarwerden der Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung für Selbstfestlegungen in diese Richtung entscheiden kann. Natürlich werden dadurch alternative Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten. Wenn heute konstatiert wird, daß es – im Unterschied zum Kern professioneller Berufsgruppen – eine formulierte professionelle Ethik akademischer Lehre nicht gibt,58 hat dies seinen Grund in der Sonderstellung der Hochschullehre als eines Berufs mit dualen Verpflichtungen von gleicher Relevanz. Sogar Verzichte auf akademische Freiheit werden dank deren forschungsbezogener Reinterpretation denkbar. Wenn die Lehrfreiheit deutscher Hochschullehrer schon im 19. Jahrhundert durch Ausbildungsverpflichtungen in Hinsicht auf Staatsprüfungen weitgehend eingeschränkt wird, so wird dies für Professoren akzeptabel, weil in der neuen Sicht diese Beschränkung nur die »Auswahl des Lehrstoffs« betrifft, es jetzt aber primär um dessen Behandlung im »Geiste unbekümmerter Forschung«59 geht. 5. Die Professionalisierbarkeit der Hochschullehre hängt natürlich auch davon ab, daß sie einen Klienten hat. Die Frage ist, ob dies eigentlich der Fall ist, da doch auch der Student einen Anspruch auf akademische Freiheit reklamieren kann. Im Unterschied zum Patienten, dessen freie Arztwahl gerade den Sinn hat, ihn in der Folge um so fester an die einmal getroffene Entscheidung zu binden, ist für den Studenten überlegtes ›shopping around‹, im Sinn einer Bereitschaft zum Ortswechsel, der Vermeidung zu früher dogmatischer Bindung an einen Lehrer und der Offenheit für heterogene Erfahrungen eine hohe akademische Tugend. Natürlich artikuliert die Idee akademischer Freiheit des Studenten auch das Moment temporärer Herausnahme aus gesellschaftlichen Normalerwartungen und damit eine professionstypische Voraussetzung für intensivierte personale Veränderungsbereitschaft. Diese in sich variantenreiche Situation wird durch einen Vergleich mehrerer Typen von Hochschulsystemen 57 | Im Sinn von Luhmann 1978, 191: »›Preadaptive advances‹ sind Errungen schaften, die im Rahmen eines älteren Ordnungstypus entwickelt und stabilisiert werden können, die aber erst nach weiteren strukturellen Ände rungen des Systems in ihre endgültige Funktion eintreten.« 58 | S. Ashby 1974, 78; Shils 1984. 59 | Kaufmann 1898, 4.

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durchschaubarer werden. Vorab aber läßt sich soviel sagen, daß dort, wo akademische Freiheit des Studenten institutionalisiert ist, sie die Singularität universitärer Erziehungsprozesse als Erziehungsprozesse formuliert, auf die relative Nichterziehbarkeit von Studenten mit Symmetriekonzessionen reagiert und darin natürlich auch Momente der Risikoabwälzung in einer Situation mit schwer vorhersagbarem Ergebnis liegen.

V. In modernen Gesellschaften zeichnet sich eine Differenzierung dreier Typen von Hochschulsystemen ab: Disziplinär bestimmte Ausbildungssysteme, College- und Tutorialsysteme, Ausbildung für Professionen. Unterscheiden lassen sie sich auch danach,60 ob sie ausschließlich die Übermittlung wissenschaftlichen Wissens und zugehöriger methodischer Kompetenzen beabsichtigen (disziplinäre Ausbildungssysteme), oder ob sie auch andere hinzukommende Wertgesichtspunkte zu berücksichtigen versuchen. Als solche kommen in Frage: Entweder die Erziehung durch den Hochschullehrer und die Situation (i.e. vor allem das Kollektiv der Studenten) in College- und Tutorialsystemen – oder die Vorbereitung auf (und die Vermittlung von Orientierungen für) praktische Handlungsausführung in professionellen Ausbildungssystemen. Die akademische Freiheit des Studenten scheint ihren eigentlichen Platz in disziplinären Ausbildungssystemen gefunden zu haben und hat insofern die gleiche Richtung forschungsbezogener Reinterpretation genommen wie die korrelative Freiheit des Hochschullehrers. Das hat sicher auch damit zu tun, daß dort, wo der Hochschullehrer keine strengen Verpflichtungen gegenüber dem Studenten übernimmt, dieser Lernfreiheit benötigt, um seine eigenen Interessen wahren zu können, und sei dies nur das Interesse, in einer aussichtslosen Situation nicht auch noch lernen zu müssen. Dieser Konstellation dürfte vermutlich entsprechen, daß Hochschullehrer sich in disziplinären Ausbildungssystemen das Scheitern von Studenten vergleichsweise selten zurechnen, sie sich anders, als dies ein handlungsorientierter Professioneller tut, nicht unbedingt fragen, ob sie auch alles Mögliche versucht haben. In den beiden anderen Typen von Ausbildungssystemen tauscht der Student einen erheblichen Teil seiner akademischen Freiheit gegen Formen institutioneller Inklusion:61 Das impliziert u.a., daß alles unternommen wird, um einen einmal zugelassenen Studenten bis zum Abschluß zu führen.62 Ähnliche Tauschrelationen kennt auch die Seite der Hochschullehre: Etwa in der Kombi60 | S. Parsons/Platt 1973. 61 | Vgl. Platt/Parsons 1970, 165. 62 | Man denke an Oxford und Cambridge, und s.a. Parsons/Platt 1973, 134, n. 26.

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nation maximaler formaler Freiheit mit minimaler Inklusion (Privatdozentur) oder umgekehrt frühzeitiger Lebenszeitanstellung mit minimaler akademischer Freiheit (akademische Räte). Institutionelle Inklusion wird dann zur Voraussetzung für die interaktionsintensiveren Formen der Einwirkung, die gerade wegen der Erziehungsorientierung von College- und Tutorialsystemen dort beide Seiten in hohem Grade involvieren und oft deutliche Limitationen auf den potentiellen Kontakt der in ihnen beschäftigten Hochschullehrer zur Wissenschaft setzen.63 Für Studenten sind Collegesysteme typischerweise ein ›package-deal‹. Sie verzichten auf Wahlfreiheiten, erhalten ein eher an Breite als Tiefe orientiertes Curriculum (›general education‹, ›liberal education‹), sind einem trotz Breite bewußt verknappten Lehrangebot konfrontiert und sehen sich einer ungewöhnlichen Häufigkeit von Prüfungen gegenüber.64 Unterstützt wird das Lernen von Studenten im College durch kliententypische Entlastungen wie das Abstreifen kontextfremder Rollenverpflichtungen und die – u.a. durch räumliche Differenzierung – erleichterten Möglichkeiten der Störungsausschaltung. Beugen muß sich der Student dafür der normativen Sozialisation durch die Struktur des College als einer sozialen Gemeinschaft, die Handlungen, die andernorts Gebrauch studentischer Freiheit sind, potentiell als Vertrauensbruch interpretiert.65 Um die Besonderheiten professioneller Ausbildungssysteme zu verstehen, muß man sich die Differenzen der drei Typen von Hochschulsystemen hinsichtlich der nachuniversitären Zukunft ihrer Absolventen vergegenwärtigen. Disziplinäre Ausbildungssysteme übergeben ihre Absolventen offenen Beschäftigungsmärkten mit konkurrierenden Berufsgruppen und daher hochgradig ungewissen Aussichten.66 College- und Tutorialsysteme sind dort am leichtesten institutionalisierbar, wo die Zukunft ihrer Absolventen durch ein System sozialer Schichtung vorgeordnet ist. Zumal sie intellektuelle Relevanzen typischerweise durch den Bezug auf Formung der Persönlichkeit und deren Fähigkeit zu sozialer Einordnung relativieren, eignen sie sich vermutlich besser zur Reproduktion einer politisch-moralischen Elite als zur laufenden Neukonstitution einer nach universalistischen Gesichtspunkten rekrutierten intellektuellen Elite.67 Ausbildung für Professionen schließlich ist Sozialisation in eine Berufsgruppe, die ein Quasi-Monopol für ein Tätigkeitsgebiet besitzt. Präziser noch läßt sich sagen, daß nur im Bereich der Ausbildung für Professionen der Student auf die Übernahme der Berufsrolle des ihn unterrichtenden Professionellen vorbereitet wird und diese Übernahme am Ende des Studiums auch 63 | Vgl. Engel 1983. 64 | S. Veysey 1973, 59, 25f. 65 | Vgl. Rothblatt 1976, insb. 141-143. 66 | S. Goode 1960. 67 | Vgl. Rothblatt 1976, 138; Armstrong 1973, 116f.

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tatsächlich vollzogen ist. Selbst wenn der Hochschullehrer kein praktizierender Professioneller mehr ist, gilt doch, daß er Mitglied einer Profession ist, die entscheidend um jene klientenorientierte Leistungsrolle organisiert ist, die die spätere Berufsrolle des Studenten ist.68 Unter diesen Umständen ist für akademische Freiheit des Studenten kein Platz und kein Bedarf. Das Studium wird idealiter als extreme Statuspassage inszeniert, was in nuce bereits die Titel der beiden einflußreichsten soziologischen Studien über Medizinersozialisation illustrieren.69 ›Boys in White‹ reagierte als Buchtitel, wie einer der Autoren später erläutert hat,70 auf die zunächst verblüffende sozialisatorische Herabstufung von Studenten, die einige Jahre zuvor im College praktisch schon als Erwachsene behandelt worden waren. ›Student-physician‹ thematisierte die andere Seite des Ausbildungsprozesses, die kontinuierliche Übernahme der professionellen Berufsrolle und die darin liegenden Symmetrisierungen, und die Tatsache, daß Studenten einerseits – beispielsweise in der ›internship‹- schon promovierte Ärzte sein mögen, andererseits auch dann noch bei Fehlern Formen extremer kommunikativer Degradierung ausgesetzt sind.71 Institutionelle Inklusion ist in allen diesen Fällen das Gegengewicht zu weitgehenden Freiheitsverzichten, wie sie beispielsweise auch die extrem langen Arbeitszeiten junger Klinikärzte mit sich bringen. Um die Motivlagen für diese Freiheitsverzichte zu verstehen, muß man sich nur vergegenwärtigen, daß, wenn dem Studenten keine gravierenden Fehlleistungen unterlaufen, bereits die Zulassung zu einer Professionsausbildung vielfach ›tenure‹ impliziert, im Sinne lebenslangen Verbleibens in der Profession.

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13. A KADEMISCHE F REIHEIT , P ROFESSIONALISIERUNG DER H OCHSCHULLEHRE UND P OLITIK

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14. Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion

I. F RÜHMODERNE P ROFESSIONEN Die Vorstellung, daß es eine besondere Art von Berufen gibt, die man Professionen nennt, ist nur vor dem Hintergrund der europäischen Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte angemessen zu verstehen. Mit dem Begriff der Profession waren bestimmte – vor anderen ausgezeichnete – akademische Berufe gemeint, und der Gesichtspunkt, der diese Berufe hervortreten ließ, war zunächst, daß sie mit einem Korpus gelehrten Wissens befaßt sind, in den man an der Universität sozialisiert wird. Insofern waren die Professionen der Zahl und der Rangordnung nach mit den höheren Fakultäten der spätmittelalterlichen und frühmodernen europäischen Universität identisch (Theologie, Recht, Medizin)1 . Unter diesen Prämissen galt vielfach schon in der Frühmoderne, daß sich die Frage nach der gesellschaftlichen Stellung des Lehrerstandes (als der vierten denkbaren Profession) daran bemaß, ob man vielleicht auch für Schullehrer einen eigenen universitären Ausbildungsweg – an der Artistenfakultät, oder in separierten Colleges – vorsehen konnte2. Einige der Charakteristika, die bis heute in der Professionstheorie angeführt werden, lassen sich unschwer bereits an diesem frühmodernen Professionsmodell ablesen: a) Eine gewisse Autonomie gegenüber dem Staat, die in Termini wie ›akademische Freiheit‹ beschrieben und über Privilegien und Exemtionen (Steuerfreiheit, Zensurfreiheit etc.) geregelt wird; b) eine die Person verpflichtende Sachbindung an den jeweiligen Korpus gelehrten Wissens und die sich an diese Verpflichtung knüpfende soziale Erwartung, diese Sachbindung jederzeit im eigenen Leben – zumindest, soweit eine Situation durch andere Personen beobachtet werden kann – zu repräsentieren (genau dies meint der Begriff eines

1 | Vgl. englische Beispiele in Prest 1984, 307-308. 2 | Vgl. Stichweh 1991, Kap. XIX, ›Professio nen: Juristen, Theologen, Medizi ner, Lehrer‹; Cressy 1987, 134-137.

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›professionellen Habitus‹3); c) eine Zuständigkeit für die Art und Weise, in der ›sachfremde‹ Personen an die jeweilige Sachthematik herangeführt werden und an ihr zu partizipieren imstande und berechtigt sind; d) eine korporative Organisation der Profession, die u.a. die Implikation hat, daß die als Folge der Privilegierung entfallenden externen (e.g. staatlichen) Kontrollen durch interne Kontrollen substituiert werden4 . Man kann zusätzlich tieferliegende Gründe dieser besonderen Auszeichnung einiger Berufe spezifizieren. Der erste dieser Gründe ist eine hervorgehobene gesellschaftliche Bedeutung der Sachthematiken, auf die die jeweiligen Berufsgruppen verpflichtet sind. Es konnte dann beispielsweise gesagt werden, es gehe um das Verhältnis des Menschen zu Gott (Theologie), zu anderen Menschen (Recht) und zu seinem Körper (Medizin), und damit entstand der Eindruck, es handle sich um eine vollständige Klassifikation aller wichtiger Außenbeziehungen der Person. Ein zweiter Grund ist, daß als Vergleichsgruppen der Professionen letztlich nicht andere Berufsgruppen fungierten, stattdessen Stände, d.h. die Geburtsstände der alteuropäischen Gesellschaft und insbesondere der Adel, die relevanten Bezugssysteme bildeten5. Die Differenzierung von Ständen aber vollzog sich – so sehr es Zweitinterpretationen gab, die Stände auf funktionale Tätigkeitsschwerpunkte hin auslegten (beispielsweise eine besondere kriegerische Befähigung oder Zuständigkeit des Adels annahmen)6 – primär über Differenzen von Ehre, so daß auch Professionen vor allem den Gesichtspunkt standesanaloger Ehre und damit des durch Ehre geforderten tugendhaften (später dann ›professionsethischen‹) Verhaltens betonen mußten, um sachthematischer Kompetenz als einer alternativen Quelle ständischen Status eine gleichberechtigte Form von Legitimität zu verschaffen.

3 | ›Habitus‹ bezeichnet zunächst den Sachverhalt, daß jemand ge wohnt ist, eine bestimmte Sache zu tun (vgl. Crusius 1747, 59, zu ›Habitus zu lesen‹; ›Habitus eines Instrumentalvirtuosen‹); und erst in zweiter Instanz tritt die Implikation hinzu, daß diese Gewohn heit in jeder Selbstdarstellung der Person mit zur Dar stellun g gebracht wird. 4 | So findet man beispielsweise in Avignon im 17. und 18. Jahrhun dert wie derholt die Formulierung, die lokalen Rechtspraktiker und Mediziner seien wie ›Kinder der Fakultät‹ zu behandeln, d.h., daß sie auch nach ihrer Gradu ierung weiterhin der Kontrolle der Fakultät unter liegen – siehe Marchand 1900, 24ff. 5 | Vgl. noch 1867, in allerdings ironisch-materialisti scher Abschwä chung, Anthony Trollopes Definition einer Profes sion: »[…] a calling by which a gentleman not born to the inheritance of a gentleman’s allowance of good things, might ingeniously obtain the same by some exercise of his abilities.« (The Bertrams, New York ed., 1867, Ch. VIII, 84; zit.n. Engel 1983, 11). 6 | Vgl. dazu Oexle 1987.

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II. D IMENSIONEN STRUK TURELLEN W ANDELS IN DER E NTSTEHUNG DER MODERNEN P ROFES SIONEN Lassen sich diese Gesichtspunkte eines Herausgehobenwerdens bestimmter Berufe dank ihrer unübersehbaren sachthematischen Relevanz und ihres daraus resultierenden Prestiges (Ehre) unter den Prämissen der Differenzierungsform der modernen Gesellschaft überhaupt rekonstruieren? D.h., gibt es eine Möglichkeit des Kontinuierens der spezifischen Formbildung ›Profession‹ unter den weitgehend veränderten Voraussetzungen der modernen Gesellschaft? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die Konstituentien frühmoderner Professionen noch einmal in einer strukturellen Sicht hervorheben: 1. Professionen waren Korporationen in einer ständisch differenzierten Umwelt. Während Stände – als Prinzipien der Einteilung des Gesellschaftssystems in seine primären Subsysteme – selbst nicht als Korporationen gedacht oder gar organisiert werden konnten, scheinen frühmoderne Gesellschaften dort, wo sie eine funktionale Spezialisierung im Gesellschaftssystem unterbringen wollten, typischerweise die Form einer Korporation gewählt zu haben, was u.a. über politisch-religiöse Mechanismen der Zulassung und der Visitation Kontrollmöglichkeiten sicherte7. 2. Professionen waren gelehrte Korporationen, deren gelehrte Tätigkeit konstitutiv für das Sozialsystem der Gelehrsamkeit (i.e. den inneren Zusammenhang der ›Gelehrtenrepublik‹) war. Die Frage nach der Stellung des Lehrerstandes beantwortete sich unter diesen Prämissen auch dadurch, daß Professionen als gelehrte Korporationen, sobald von der Form ihrer Außenwirkung auf eine größere Bevölkerung die Rede war, selbst nach dem Modell der Lehre gedacht wurden – und es insofern nahelag, das Gesamt gelehrter Professionen in der neuen ständischen Entität eines Lehrstandes zusammenzufassen8. Gerade dieses Verständnis der Außenwirkung der Gelehrsamkeit als Lehre ließ eine separate ständisch-professionelle Existenz einer schulisch bestimmten Lehrprofession als eher unplausibel erscheinen. Der Übergang zur modernen Gesellschaft vollzieht sich im 18. und 19. Jahrhundert wesentlich auch durch fundamentale Wandlungen in den beiden gerade skizzierten Hinsichten, und das heißt, daß die Entstehung der modernen Professionen durch diese Veränderungen näher gekennzeichnet werden sollte. 1. Das moderne Äquivalent zu einer sachthematischen Relevanz, der gesellschaftsstrukturell zentrale Bedeutung zukommt, ist ein Funktionssystem. Wenn aber die Moderne als eine Form gesellschaftlicher Ordnung beschrie7 | Siehe näher Stichweh 1991, Kap. II, 3. 8 | Vgl. für eine Klassifikation der Stände und die Position des ›Lehrstandes‹ in dieser Lange 1706, 84ff.

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ben wird, die durch ein Auswechseln des Differenzierungsprinzips entsteht, nämlich durch eine Umstellung von Ständen auf Funktionssysteme als die primäre Form der Subsystembildung im Gesellschaftssystem9, dann heißt dies, daß der ehedem nachgeordnete Gesichtspunkt einer funktionalen Spezialisierung auf Sachthemen von besonderer Relevanz zum wichtigsten Strukturbildungsprinzip der modernen Gesellschaft geworden ist. Das aber impliziert, daß die normativen Leitbilder für Professionen nicht mehr durch eine ständische Umwelt vorgegeben werden, vielmehr Funktionssysteme als normdefinierende und zwischen Berufsgruppen diskriminierende Bezugsgesichtspunkte an die Stelle der Stände treten. Man kann dies im ersten Zugriff durch eine einfache Überlegung erläutern: Während sich noch im 19. Jahrhundert beobachten läßt, daß an die sachthematische Spezialisierung der klassischen Professionen eine Generalzuständigkeit ankristallisiert, die die beschränkte Ausgangsbasis der einzelnen Professionen in Richtung auf eine vermutete Kompetenz für »running the society« überschreitet10, läßt sich an den Professionen des 20. Jahrhunderts eine ihre Entwicklung bestimmende normative Präferenz identifizieren, die Andrew Abbott unter dem Titel einer ›professional purity‹ überzeugend analysiert hat11 . Gemeint ist mit diesem Begriff, daß die Fähigkeit einer Profession, die von ihr zu bearbeitenden Probleme nicht in der (funktionalen) Diffusität zu belassen, in der sie lebensweltlich vorliegen, sie vielmehr von dem jeweiligen Kern professioneller Wissensbestände her zu redefinieren und sie erst in dieser rekonstruierten Form handlungsmäßig einer Lösung zuzuführen, im 20. Jahrhundert als die letztlich entscheidende Bedingung inner- und interprofessionellen Status fungiert12 . Das aber heißt, daß Professionen in Hinsicht auf ihre (Handlungs-)Probleme dieselben Reduktionen vollziehen, die für Funktionssysteme im Verhältnis zu ihren Möglichkeiten sinnhaften Erlebens und Handelns gelten, und das legt die Vermutung nahe, daß nur dort von einer erfolgreichen Professionalisierung die Rede sein kann, wo funktionssystemanaloge – oder besser vielleicht: funktionssysteminterne – Reduktionen erfolgreich durch eine Profession verwaltet werden.

9 | Siehe Luhmann 1980/1981/1989. 10 | Vgl. dazu Aubert 1976 am Beispiel norwegischer Juristen des 19. Jahrhun derts; vgl. auch am Beispiel der USA mit der Vermutung, daß eine generali stische Auslegung des Berufs des Juristen mit geringerer Selektivität in der Zulassung zu juristischen Ausbil dungswegen einhergehen kann, Heiden heimer 1989, 541. 11 | Abbott 1981. 12 | Vgl. dazu Heinz/Laumann 1982 mit der These, daß Status in der juristischen Profession am deutlichsten den Praktikern zuwächst, die die Rechtsproble me jener Entitäten behan deln, die – beispiels weise als juristi sche Person (Unternehmen) – bereits die Bedin gung ihrer Existenz in rechtlichen Kon struktionen finden.

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2. Die Zentralstellung der Professionen im System der Gelehrsamkeit wird spätestens im 19. Jahrhundert obsolet. Während die Frühmoderne wertende Unterscheidungen von Professionen und subprofessionellen Gruppen (Ärzte vs. Chirurgen/Apotheker) noch entlang der Dimension Wissen vs. Arbeit traf13 und damit deutlich den Professionellen als Besitzer und Vermittler von gelehrtem Wissen auszeichnete, handelt der moderne Professionelle selbst. Subprofessionelle Gruppen assistieren ihm bei der Handlungsausführung – aber, je schwieriger die Handlung in einem technischen Sinn wird, desto höher ist tendenziell auch der Status des mit ihr betrauten Professionellen. Der Grund für diese Umstellungen ist zunächst die Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftssystems, die sich gerade in Deutschland im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in der Form einer internen Differenzierung der philosophischen Fakultät besonders gut beobachten läßt und die sich also außerhalb des ehedem die Gelehrsamkeit dominierenden Systems der höheren Fakultäten vollzieht14 . Letztere sehen sich damit in eine Situation versetzt, in der sie einerseits deutlicher auf andere, vom Wissenschaftssystem unterscheidbare, Funktionssysteme wie Religion, Recht und Medizin (Gesundheitssystem) bezogen sind, andererseits ihre Wissenszusammenhänge den Status einer Wissenschaft in der Regel nicht mehr reklamieren können, diese Wissenssysteme vielmehr deutlicher als handlungssichernde Dogmatiken erkennbar werden15, womit zugleich die situativ jeweils gegebene Unabdingbarkeit des Handelns – unabhängig davon, ob die Wissensgrundlagen dieses Handelns durch wissenschaftliche Wahrheiten gestützt werden können – in den Vordergrund der den ehedem höheren Fakultäten zugeordneten Professionen tritt. Einerseits werden also die Wissensgrundlagen dogmatisiert16, wobei der Begriff der Dogmatik seine ihm im 18. Jahrhundert eigene wissenschaftstheoretische Positivwertung, die dem Nichtakademischen und also »nur« Empirischen entgegengesetzt war17, verliert; andererseits werden die professionellen Wissenssysteme in den wahrheitsfähigen Anteilen ihrer Wissensgrundlagen importabhängig – und dies in ihrer Beziehung zu dem entstehenden System wissenschaftlicher Disziplinen. 13 | Vgl. Gelfand 1976, 515. 14 | Hierzu und zum folgenden Stichweh 1984; ders. 1987. 15 | Vgl. Jacob Grimm 1849 zu Theologie, Recht und Medizin: Entkleide man sie dessen, was aus anderen Wissenschaften in sie importiert worden ist (also beispielsweise Kir chengeschichte, orientalische und klassische Sprachen und Moral im Fall der Theologie), »bleibt ihnen eine feste, unbewegliche satzung zurück, die bei noch so hohem werthe wissen schaftliches gehalts erman gelt.« (Grimm 1849, 246). 16 | Vgl. zu Geschichte und Soziologie der Dogmatik Herber ger 1981 bzw. Tenorth 1987. 17 | Vgl. etwa Prest 1987a, 69, zu ›empirics of law‹, einer Analogiebil dung zu der Beschreibung nichtakademischer medizinischer Prak tiker durch das ›College of Physici ans‹.

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Professionen sind nach diesen Umstellungen keine gelehrten Korporationen mehr. Ihre Tätigkeit wird sich nicht länger nach dem Modell einer Lehrtätigkeit oder einer Vermittlung von Wissen beschreiben lassen; stattdessen muß von professionellen Handlungssystemen die Rede sein, und ihr Verhältnis zum Wissen definiert sich als eine Anwendung von Wissen unter Handlungszwang, so daß die Professionssoziologie Teil einer Soziologie angewandten Wissens wird. Auf der anderen Seite gilt auch, daß in den Professionen dieses Moment eines an Problemlösungen orientierten Handelns durch auf eine Sachthematik bezogene Wertbindungen austariert wird, und es liegt in letzterem eine Form der Kontinuität zur gelehrten Tradition, auf die wir am Ende unseres Arguments zurückkommen werden. Die beiden zuletzt diskutierten Gesichtspunkte wurden in gewisser Hinsicht durch zwei divergente Traditionen soziologischen Denkens über Professionen betreut: Einmal finden wir bei Everett C. Hughes (und überhaupt im Chicago-Kontext) eine Analyseperspektive, die primär auf professionelle Arbeit, Applikation von Wissen und – die im folgenden noch zu diskutierenden – Professionellen/Klienten-Interaktionen zielt18; zum anderen hat Talcott Parsons seine Forschung über Professionen mit der Beobachtung des weit über die professionellen Handlungsimperative hinausgehenden Ausbildungsumfangs begonnen19 und aus diesem Befund auf fortdauernde Integration der Professionen in intellektuelle Traditionen geschlossen. Parsons‹ spätere Konzeption der treuhänderischen Verwaltung eines gesellschaftlich zentralen Wertgesichtspunkts durch eine Profession ist vor diesem Hintergrund zu verstehen20. Eine eventuelle Komplementarität dieser beiden soziologischen Perspektiven wäre noch genauer zu klären.

III. A USDIFFERENZIERUNG , I NKLUSION , P ROBLEMT YPIK PROFESSIONALI SIERBARER F UNK TIONS SYSTEME Die Entstehung der modernen Professionen hat also etwas mit der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen (und mit der korrespondierenden Auflösung der ständischen Ordnung) zu tun, und sie verweist, insofern Professionelle mit der Applikation von Wissen befaßt sind, in gewisser Hinsicht auf die Beziehungen von Funktionssystemen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Die Kombination dieser beiden Überlegungen führt zu dem Vorschlag, daß man vielleicht von einer Profession nur dann sprechen sollte, wenn eine Berufsgruppe in 18 | Siehe etwa Hughes 1971; vgl. zu ›Arbeit‹ als Kern der Profes sionssoziologie Abbott 1986. 19 | Vgl. Parsons 1937. 20 | Parsons/Platt 1973.

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ihrem beruflichen Handeln die Anwendungsprobleme der für ein Funktionssystem konstitutiven Wissensbestände verwaltet und wenn sie dies in entweder monopolistischer oder dominanter – d.h. den Einsatz der anderen in diesem Funktionsbereich tätigen Berufe steuernder oder dirigierender – Weise tut. Der Vorteil eines solchen Vorschlags ist, daß er einerseits für die Professionssoziologie einen spezifischen Gegenstand zurückgewinnt, d.h. die Professionssoziologie nicht einfach mit der Soziologie der Berufe identisch wird; andererseits hängt die Identifikation von Professionen nicht von einer wertenden Entscheidung des wissenschaftlichen Beobachters ab, dieser bindet sich vielmehr an die Beobachtung der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen eines bestimmten Typs. Von vornherein ist evident, daß genauso wie hier nicht von allen Berufen die Rede sein kann, vielmehr eine bestimmte Typik beruflichen Handelns gemeint ist, umgekehrt auch gilt, daß nicht alle Funktionssysteme involviert sind, es vielmehr viele Funktionssysteme gibt, für die von der Ausbildung nur einer Profession, die die jeweiligen Handlungsprobleme und die Anwendungsprobleme funktionsspezifischen Wissens verwaltet, nicht gesprochen werden kann. Das Wirtschaftssystem, die Politik und das System der Intimbeziehungen mögen hier als Beispiele für Funktionsbereiche stehen, in denen eine solche Zentralstellung einer – zudem sogar noch korporativ organisierten – Profession undenkbar wäre. Umgekehrt – aus der Sicht der Berufe argumentiert – wäre die Sozialarbeit ein klassischer Fall eines Berufs, dem wegen seiner (zudem teilweise einer anderen Profession subordinierten) Partizipation an den Problemen mehrerer anderer Funktionssysteme (Recht, Gesundheitssystem, Distribution der Leistungen des Wohlfahrtsstaats) eine Professionalisierung nicht gelingt. Zwei Fragen drängen sich an dieser Stelle unseres Arguments auf: 1. Welche Anteile im Handlungs- und Kommunikationsgeschehen eines Funktionssystems werden – sofern Professionalisierung vorkommt – durch professionelles Handeln abgedeckt? 2. Welches sind die spezifischen Eigenschaften oder Problemtypiken jener Funktionssysteme, in denen es sich für eine Profession als möglich erweist, eine Zentralstellung für bestimmte Handlungsvollzüge zu erlangen? 1. Eine Antwort auf die erste Frage wird durch eine genauere Analyse der Schritte in der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems möglich. Zwei der in jedem Prozeß dieses Typs vorkommenden Schritte scheinen für unser Problem von Bedeutung zu sein: Rollendifferenzierung und Inklusion21 . Rollendifferenzierung meint hier den Sachverhalt, daß spezialisierte (Berufs-)Rollen entstehen, die den eindeutigen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in den funktionssystemdefinierenden Handlungsvollzügen finden. Zu denken wäre beispielsweise an die Ausdifferenzierung spezialisierter Rollen für wissenschaftliche 21 | Vgl. hierzu und zum folgenden Stichweh 1988.

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Forschung und wahrheitsbezogene Kommunikation, ein Vorgang der, wenn man die bis in die Gegenwart dominierende Rollenverknüpfung von wissenschaftlicher Forschungstätigkeit mit Lehre in den Institutionen der Hochschulerziehung bedenkt, eigentlich erst mit der Entstehung hochschulunabhängiger Forschungsorganisationen im 20. Jahrhundert einen gewissen Umfang annimmt. Inklusion ist, wie Luhmann in Anlehung an Siegfried Nadel wiederholt gezeigt hat, komplementär zur Rollendifferenzierung zu denken22, und nimmt bei der Entstehung von Funktionssystemen seit dem 18. Jahrhundert die Form an, daß alle Gesellschaftsmitglieder, die nicht in einer spezialisierten Funktionsrolle am Systemprozeß teilnehmen, nicht einfach ›Außenseiter‹ sind, vielmehr in einer komplementär definierten Position – also beispielsweise als Wähler in der Politik – zu partizipieren imstande und auch berechtigt sind. Erst Inklusion sichert einem Komplex spezialisierter Rollen – der zuvor, wie wir das oben schon betont haben, noch als Korporation von der ständisch bestimmten Gesellschaftsstruktur isoliert werden konnte – universelle, i.e. gesellschaftsweite, Relevanz. Der Begriff der Professionalisierung meint nun offensichtlich ein bestimmtes Verhältnis der Funktionsrollen zu den für komplementäre Partizipation vorgesehenen Rollen. Es gibt hier ein breites Spektrum von Varianten möglicher Inklusion23, und von Professionalisierung kann in diesem Spektrum von Varianten nur dann die Rede sein, wenn die Komplementärrolle in einen Klientenstatus transformiert wird. Den Unterschied zur Frühmoderne markiert dabei sowohl die Universalisierung des Klientenstatus, d.h. der Sachverhalt, daß jetzt jedes Gesellschaftsmitglied als Klient eines Professionellen in Frage kommt, wie auch die eindeutige – durch funktionale Expertise determinierte – Asymmetrie im Professionellen/Klienten-Verhältnis. In frühmodernen professionellen Handlungssituationen erzwang vielfach noch der hohe ständische Status des Klienten eine Asymmetrieumkehr24 , und das brachte auch Limitationen auf die kommunikativ durchhaltbare funktionale Spezifität der jeweiligen Situation mit sich. 2. Nachdem wir in einem ersten Schritt geklärt haben, daß Professionalisierung sich auf einen bestimmten Typus von Beziehungen zwischen systemdefinierenden, funktional spezifizierten Rollen und der Inklusion des Laien, sofern dieser als Klient aufgefaßt wird, bezieht, muß nun die Typik der Problemsi22 | Siehe Luhmann 1977, 234-242; Luhmann/Schorr 1979, 29-34; Luh mann 1981a, Kap. IV. Vgl. Nadel 1957. 23 | Siehe Stichweh 1988. 24 | Vgl. dazu am Beispiel frühmoderner Juristen Ranieri 1985, insb. 99-100; zu analogen Situationen in der Moderne, die dort auf treten, wo Großorganisa tionen als Klienten fungieren, Heinz/Lau mann 1982.

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tuationen, in denen dies geschieht, noch genauer bestimmt werden. Professionalisierung scheint ja eine spezifische Interaktionsabhängigkeit der von ihr betroffenen Funktionssysteme zu erzeugen oder diese vorauszusetzen, da die Träger von Funktionsrollen und von Komplementärrollen ihre Partizipation am Systemgeschehen nicht etwa in voneinander separierten Situationen ausüben, vielmehr Interaktion zwischen Funktionsrollen (i.e. Professionellen) und Komplementärrollen (Laien, Klienten) die Form ist, in der sich Inklusion als zentraler Teil des Systemgeschehens vollzieht. Interaktion meint Interaktion unter Anwesenden, und das impliziert auch, daß viele der Arbeitsprozesse des Professionellen, die ohne die Anwesenheit von Klienten stattfinden (die Vorbereitung einer Predigt, das Korrigieren von Klassenarbeiten) darauf zielen, in ihren Resultaten in eine Interaktion unter Anwesenden eingebracht zu werden. Diese Interaktionssysteme können natürlich auch telekommunikativ hergestellt werden; aber, wie dies auch sonst für telekommunikative Kontakte gilt, scheint eine gelegentliche Vergewisserung des Kontaktes zum Anderen mittels dessen visueller und physischer Präsenz für Kontinuitätssicherung erforderlich zu sein25. Warum aber entsteht Interaktionsabhängigkeit? Professionellen/KlientenBeziehungen differenzieren sich dort als Modus der Inklusion des Laien aus, wo die Probleme, die im typischen Prozedere eines Funktionssystems thematisiert und behandelt werden, in erheblichem Maße Probleme der personalen Umwelt des Gesellschaftssystems sind. Für Probleme von Personen aber eignen sich Interaktionssysteme als ein Ort der Problembearbeitung. Es wird hier also ein Zusammenhang zwischen Professionalisierung als einer Spezifikation der Relation von Funktions- und Komplementärrollen und der Problemtypik bestimmter Funktionssysteme (i.e. der Nähe dieser Funktionssysteme zu den Problemen von Personen als Individuen) behauptet. Dieser Zusammenhang leuchtet im Fall des Gesundheitssystems (Körper und Psyche der Person), der Religion (Seelenheil) und des Erziehungssystems (professionelle Arbeit an der Aneignung gesellschaftlichen Wissens und gesellschaftlicher Normen durch die Person) unmittelbar ein. Die Professionalisierung des Rechts mag in dieser Perspektive überraschen, weil Recht nicht eigentlich Probleme von Personen, vielmehr rein innergesellschaftliche Konfliktlagen behandelt. Vermuten kann man, daß die lebensgeschichtliche Riskiertheit der Konflikte, die als Rechtskonflikte thematisch werden26, der Grund dafür ist, daß sich auch im Fall des Rechtssystems mit der Anwaltschaft eine spezielle – interaktions- und publikumsnah operierende – Profession herausgebildet hat, die mit Vermittlungsleistungen zwischen

25 | Vgl. dazu am Beispiel der Wissenschaft Stichweh 1989, 36-45. 26 | Vgl. für einen Versuch, diese Situation auch für die Seite des Klienten in Termini von ›Ehre‹ und der Vertei digung von Ehre zu analysieren, Hoffer 1989. Vgl. für das Paris des 18. Jahrhunderts Dinges 1989.

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rein innerrechtlichen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen und der Relevanz dieser Prozesse für Personen als Klienten befaßt ist.

IV. W ISSEN , I NTER AK TION , P ERSONVER ÄNDERUNG Die bisherigen Überlegungen führen auf ein zusammenfassendes Argument hin, das auf die Interrelation dreier Termini fokussiert ist: Von Professionalisierung kann überall dort die Rede sein, wo eine signifikante kulturelle Tradition (ein Wissenszusammenhang), die in der Moderne in der Form der Problemperspektive eines Funktionssystems ausdifferenziert worden ist, in Interaktionssystemen handlungsmäßig und interpretativ durch eine auf diese Aufgabe spezialisierte Berufsgruppe für die Bearbeitung von Problemen der Strukturänderung, des Strukturaufbaus und der Identitätserhaltung von Personen eingesetzt wird. Die Kategorie der Vermittlung wird unter diesen Prämissen zentral für die Professionstheorie und die Handlungswirklichkeit der Professionen, weil Professionen mit kulturellen Sachthematiken befaßt sind, von denen ihre Klientel strukturell (im Sinne mangelnden Involviertseins oder mangelnder Kenntnis) und/oder situativ (im Sinne des Gegebenseins einer Notlage) durch eine erhebliche Distanz getrennt wird, und weil die jeweilige Profession, außer daß sie eine konkrete Problemlösung zu erarbeiten versucht, immer zusätzlich auch Distanzüberbrückung (im Verhältnis zur jeweiligen Sachthematik) intendiert27. Aus diesem Grund wäre es defizitär, beispielsweise nur in der Form eines technischen Vollzugs die Krankheit eines Patienten zu heilen, ohne zugleich auch den Körperbezug des jeweiligen Patienten in einer Sinnperspektive mit zu thematisieren, die auf einen bewußteren Umgang mit der Unterscheidung Gesundheit/Krankheit zielt. Wenn die Vermittlung des Kontakts zu kulturellen Thematiken zentral für die Professionen ist, kann es gerade auch zum Problem für professionelle Gruppen werden, daß ihre eigene Stellung zu den jeweils relevanten Thematiken zu marginal ist. Das gilt vielleicht in besonderem Maße für die Erwachsenenbildung wegen der immensen Distanz, die das von der Erwachsenenbildung beschäftigte Lehrpersonal von den intellektuellen Zentren der Sachkontexte, die es jeweils repräsentiert, trennt28. Aber Ähnliches gilt in gewisser Hinsicht auch für 27 | Vgl. verwandte Formulierungen bei Naegele 1956, 60f.; Vera 1982, 92; Scott 1983, 23. 28 | Das kann in der Erwachsenenbildung zu einem »geselligen Klien telismus« führen, der persönliche Beziehungen (unter Kurslei tern/Kursteilnehmern) dort dominieren läßt, wo es in professio neller Hinsicht um die Vermitt lung des Kontakts zu einer Sachthematik gehen müßte. Siehe dazu Harney/Markowitz 1987, insb. 332-339. Was an diesem Beispiel deutlich wird, ist die struktu relle Affinität von Patron/Klient-Beziehungen und Professio nellen/Klien ten-Beziehungen. In beiden Fällen ist Di stanz überbrückung

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die Professionalisierung des Lehrerberufes überhaupt, da in diesem Beruf Sachbindungen (z.B. das Selbstverständnis als Philologe) und Erziehungsabsichten in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, für das es in den anderen Professionen kein Äquivalent gibt. Stellvertretende Deutung ist der Begriff, der im Kontext der von Ulrich Oevermann betriebenen Professionsstudien für diese Zentralität der Vermittlung im professionellen Handeln vorgeschlagen worden ist29. Um diesem Begriff soziologische Generalität zu geben, muß man ihn vom psychoanalytischen Übertragungsmodell ablösen, d.h. den Eindruck vermeiden, daß die ›stellvertretende‹ Deutung sich als Deutung auf die Struktur der konkreten Interaktionsbeziehung zwischen Professionellem und Klient selbst bezieht. Der Begriff eignet sich dann, um das Moment zu bezeichnen, daß für den Klienten in spezifischen Hinsichten seine Lage undurchschaubar ist und er auf Deutungsangebote angewiesen ist – und er markiert die daraus resultierende Asymmetrie im Professionellen/Klienten-Verhältnis. Zu der stellvertretenden Deutung kommt in manchen Situationen das Moment der Stellvertretung hinzu, d.h. die Vertretung des Klienten durch den Professionellen in bestimmten Außenkontakten30. Die Schwäche des Begriffs der stellvertretenden Deutung ist aber, daß er ein zweistelliges Verhältnis von Professionellem und Klient suggeriert, während ›Vermittlung‹ die Dreistelligkeit der Beziehung und damit die intermediäre Position des Professionellen deutlicher hervortreten läßt: ›Vermittlung‹ betont den Gesichtspunkt der Repräsentation einer autonomen Sinnperspektive oder Sachthematik durch den Professionellen im Verhältnis zu seinem Klienten31 . Diese ›Repräsentation‹ kann, wie gerade schon erläutert, immer auch den Charakter der Heranführung an diese Sachthematik haben und insofern vermittelt sie ein Verhältnis zu dieser. Dort, wo diese Vermittlungsleistung sich nicht vollzieht und sie auch gar nicht beabsichtigt ist, die vom Professionellen angebotenen Problemlösungen vielmehr die Form von Technologien haben, die als Problemlösungen funktionieren, ohne vom Benutzer in irgendeiner Weise ›verstanden‹ werden zu müssen, dort entfällt auch der Bezug auf Strukturänderung, Strukturaufbau und Identitätserhaltung der Person. Für die Beziehung der Nachfrager nach wissenschaftlichem Wissen zu ihren wissenschaftlichen zu einem fernen Zentrum das Bezugs problem. Nur, daß diese Distanz überbrückung im einen Fall in der Form persönlicher Beziehun gen (›Freund schaft‹) erfolgt; sie im anderen Fall die Form des persönlichen Herange führtwerdens des Klienten, das die vermit telnde Person zurücktreten läßt, haben soll. 29 | Vgl. Oevermann 1981; Koring 1987. 30 | Siehe dazu Weiß 1984, insb. 50-52. 31 | Vgl. Seyfarth 1989, der – die Webersche Perspektive systematisie rend – den Professionellem am Schnittpunkt von Außeralltäglichem und Alltag stehen sieht. Professionelle Arbeit wäre dann eine täglich wiederholte Veralltägli chung des Charisma.

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Informanten (Beratern) scheint dies im Prozeß der Retechnisierung moderner Wissenschaft (seit dem Ende des 19. Jahrhunderts) der Fall gewesen zu sein32. Man kann hier im gleichen Sinn den Beruf des Ingenieurs anführen, und Ähnliches gilt schließlich auch für die Beziehungen moderner Organisationen zu dem juristischen Rat, den sie in ihre Operationen einbauen. Unter Umständen, wie sie sich in diesen Berufsgruppen abzeichnen, mögen bestimmte Strukturen klassischer – und modern rekonstruierter – Professionalität entbehrlich werden oder immer schon verzichtbar gewesen sein.

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32 | Vgl. Stichweh 1984, Kap. VII; ders. 1987.

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15. Berufsbeamtentum und öffentlicher Dienst als Leitprofession

A MT, B ERUF, Ö FFENTLICHKEIT In der soziologischen Professionstheorie wie auch in der Geschichte der Professionen selbst wiederholt sich das Phänomen, daß der eine oder andere dieser Berufe sich als analytisches Paradigma bzw. als Verhaltensmodell durchsetzt. Insbesondere die Ärzteschaft und juristische Berufe haben in diesem doppelten Sinn eines nachzuahmenden Modells und eines die Forschung leitenden Idealtyps als Leitprofessionen fungiert. Die Absicht der folgenden Überlegungen ist es, das Berufsbeamtentum und in einem umfassenderen Sinne den öffentlichen Dienst als einen in der bisherigen Forschung nicht hinreichend berücksichtigten Kandidaten ins Spiel zu bringen.1 Die dahinterstehende Überzeugung ist, daß dies erforderlich ist, um kontinentaleuropäische und insbesondere auch deutsche Entwicklungen besser verstehen zu können.2 Dabei ist der Begriff der ›Leitprofession‹ in den folgenden Überlegungen in einer dreifachen Hinsicht gemeint: 1. Als Bezeichnung einer Berufsgruppe, die Eigenschaften besitzt, die anderen Berufen als erstrebenswert erscheinen und die insofern Nachahmungsversuche motivieren. 2. Als Hinweis auf das Macht- und Einflußpotential einer Berufsgruppe, das ihr erlaubt, die Professionalisierungsprozesse anderer Berufe zu formen. 3. Als Identifikation einer Berufsgruppe, die als Matrix von Differenzierungsprozessen fungiert, so daß später autonom werdende Berufe sich aus dieser ersten Berufsgruppe und/oder ihrem strukturprägenden Einfluß langsam herauslösen und andererseits auch noch in den späteren Strukturmustern dieser jetzt verselbständigten Berufe ihre Differenzierungsgeschichte ablesbar ist.

1 | Vgl. mit ähnlicher Fragestellung Caplan 1990. 2 | Vgl. aus einer breiter werdenden Literatur Siegrist 1988; Torstendahl 1991, Kap. 9; hinzuweisen ist auch auf Abbott 1988 als die vermutlich interessan teste professionstheoretische Arbeit der letzten Jahre.

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Als Voraussetzung der Sonderstellung des Berufsbeamtentums fungiert eine Trias von Begriffen, die dem 18. Jahrhundert angehört: Amt, Beruf und Öffentlichkeit. Das Amt, insbesondere das bezahlte Amt, ist eine seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung gewinnende Alternative zu Eigentum als der ehedem dominierenden Bedingung der politischen Partizipation des frühmodernen Bürgers.3 Mit jedem Amt werden Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten institutionalisiert, die sowohl eine Sicherung gegen sozialen und ökonomischen Druck schaffen können wie sie auch ein Einfallstor für politische Korruption bieten mögen.4 Jane Caplan hat darauf hingewiesen, daß die ideologische Position des Amtes, soweit dieses durch Unabhängigkeit von Marktbeziehungen definiert ist, der der ›freien Berufe‹ im angloamerikanischen Bereich gleicht.5 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde in Deutschland die Distanz, die bestimmte Berufe gegenüber dem gewerblichen Bereich wahren wollten, mittels einer Semantik des Amtes formuliert. Man sprach auch für die Berufe, die sich aus dem öffentlichen Dienst gelöst hatten (Anwaltschaft etc.), von ›Halbamt‹, ›Sozialamt‹, von einem ›amtlichen Beruf‹ und von einer ›teils amtlichen, teils gewerblichen‹ Tätigkeit.6 Das Tätigwerden in einem Amt wird seit dem 18. Jahrhundert als Berufstätigkeit näher bestimmt. Dabei ist etwas prinzipiell Neues – das sich wiederum seit dem Renaissancehumanismus vorbereitet hat – die Korrespondenz von inneren Bestimmungen (Anlagen, Talenten, Gaben, Genie) des beruflich Handelnden und den äußeren Bedingungen (Kompetenz, Expertise) des Handelns.7 Gerade weil der Handelnde auf Grund seiner inneren Bestimmungen an seine äußere Berufstätigkeit vorangepaßt ist, kann diese äußere Berufstätigkeit zusätzlich noch als Selbstverwirklichung der Person gedacht werden – und sie ist gerade deshalb und nur deshalb als eine arbeitsteilige Berufstätigkeit möglich, die trotz Arbeitsteilung nicht zwangsläufig auf Selbstentfremdung hinführt. LaVopa hat näher gezeigt, wie sich dies prozessual als eine zweifache Kopplung von innen und außen vollzieht: als Kopplung von innerer Ausstattung und sozialer Rolle, weiterhin als Kopplung von innerer Entwicklung und dem Lebenslauf als einer ›Karriere‹ in einem Beruf.8 3 | Hierzu und zum folgenden Pocock 1975, 462ff. Der bis ins 18. Jahrhundert hinein wichtige Kauf von Ämtern ist eine logische Überleitungsform, die es erlaubt, Eigentum in ständischen Rang und politischen Einfluß zu konver tieren. Vgl. für Frankreich exzellent Giesey 1983. 4 | Siehe La Vopa 1990, 30. 5 | Caplan 1990, 166. 6 | Diese Beispiele in Feuchtwanger 1929. 7 | Hierzu und zum folgenden exzellent LaVopa 1988; 1990; 1990a; insb. 1988, 169, 171, 188. 8 | LaVopa 1990a, 43.

15. B ERUFSBEAMTENTUM UND ÖFFENTLICHER D IENST ALS L EITPROFESSION

Berufstätigkeit im Amt aber ist eine öffentliche Tätigkeit. Die Advokatur beispielsweise wird beschrieben als ein »öffentliches Amt, wozu man von Seiten der Landesherrschaft oder Gerichtsobrigkeit […] förmlich bestellt und vereidet wird.«9 ›Öffentlich‹ bedeutet also, daß es sich um ein Staatsamt (in diesem Fall um ein ›unteres‹ Staatsamt) handelt, d.h., die Öffentlichkeit ist nicht eine dem Staat gegenüberstehende Sphäre, vielmehr meint ›öffentlich‹ das Handeln in den Ämtern des Staates selbst.10 Andrew Abbott betont – die angloamerikanische und die kontinentaleuropäische Entwicklung vergleichend –, daß im angloamerikanischen Kontext die öffentliche und die rechtliche Legitimation der Professionen zwei völlig distinkte Prozesse seien, während im kontinentaleuropäischen Fall die für die Professionen relevante Öffentlichkeit die Beamten des Staates seien,11 was einerseits die Äquivokation von Öffentlichkeit und Staat verdeutlicht, andererseits den die Strukturmuster anderer Professionen formenden Einfluß der staatlichen Berufe begründet.

S TA AT UND P ROFESSIONEN Die Trias von Amt, Beruf und Öffentlichkeit unterstellt einen notwendigen Vierten: den Staat. Professionen sind in Deutschland zunächst einmal öffentliche Ämter im Staat, und auch die Universität als die Stätte der Ausbildung für qualifizierte, über Wissen definierte, Berufe wird in Deutschland noch im 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich und oft, ohne daß eine einzige Ausnahme konzediert würde, als für die Ausbildung von Staatsdienern bestimmte Institution gedacht.12 Diese enge Vernetzung von Universität und öffentlichem Dienst, mit der Folge, daß deutlich mehr als 2/3 aller berufstätigen Universitätsabsolventen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, dauert bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts fort.13

9 | Fischer, Lehrbegriff der Kameral- und Polizeirechte II, § 290, zit.n. Gneist 1867, 3; ein anderes Beispiel in Hölscher 1979, 75 10 | Siehe LaVopa 1988, 291, die deutsche politische Situation des 18. Jahr hunderts mit der der Pariser Intelligenz vergleichend: »Radical opposi tion to the state was incompatible with the equation of profession and office […] Beruf as profession was seen as the essential vehicle of participation in modern public life; […] it would ground the political identity and the vita activa of the enlightened Bürger.« 11 | Abbott 1988, 60: »[…] we can think of a continental professions’ public as the state in its informal sense – the common opinion of state officials. The legal arena is then the state in its formal legal activities of professional control.« 12 | Siehe Beispiele in Stichweh 1984, 36, 57-8, 370-1, 459. 13 | Vgl. West phalen 1979.

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Diesem institutionalisierten Muster liegt eine wertende Stellungnahme zum Staat zugrunde, die sich signifikant von französischen oder englischen Paradigmata unterscheidet. Schon im 18. Jahrhundert findet sich – etwa bei Albrecht von Haller14 – häufig eine Perspektive, die neben einer zunehmend privatisierten Konzeption der Familie nur noch den (bezahlten) Staatsdienst als einen positiv zu wertenden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen imstande ist. Dies geht einher mit einer Furcht vor beruflichen Abhängigkeiten – Abhängigkeiten des Professionellen von einem Patron, von Laien, Klienten, statushohen Personen u.a. – die nur für die Abhängigkeit vom Staat eine Ausnahme zu machen bereit ist.15 Der Staat wird als universalistisch, als ›desinteressiert‹ oder als ein ›allgemeines‹ Interesse verkörpernd wahrgenommen, seine Beamtenschaft demzufolge auch als ›allgemeiner Stand‹ gedacht, und d.h., daß nur die Plazierung im Staatsdienst einen einigermaßen sicheren Schutz für beruflich verankerte funktionale Expertise zu bieten verspricht. Das Bündnis der Professionen mit dem Staat hat einen weiteren wichtigen Haltepunkt. Das ist das Moment des Überlokalen, das für den Staat konstitutiv ist und das auch zwischen Berufen deutlich zu diskriminieren imstande ist.16 Für die Geschichte der Professionen in der Moderne ist charakteristisch, daß nur nationale korporative Organisationen mit einer Monopolstellung für einen Handlungsbereich überlebt haben, während lokale Monopole (z.B. Gilden) verschwunden sind.17 Darin liegt eine strukturelle Präferenz für ein universalistisches Muster im Unterschied zu einem partikularistischen Einbau lokaler Sonderkulturen in die jeweilige professionelle Kultur.18 Diese Option vernetzt die Professionen außer mit dem Staat gleichzeitig auch mit den Universitäten, die sich seit dem 13. Jahrhundert mittels einer analogen Differenz von universalistischen Bildungsangeboten (die als ›Generalstudien‹ auf die ganze Christenheit zielten) vs. partikularistischen Lokalschulen (die für einen Orden oder eine Diözese gemeint waren) ausgegrenzt hatten.19

14 | Siehe Wuth now 1989, 328. 15 | Für Beispiele siehe McClelland 1991, 64, 233; LaVopa 1988, 305, 317; ders. 1990a, 51; Jarausch 1990a, 12-3. 16 | Siehe am Beispiel von Erziehungsberufen LaVopa 1988, 305. 17 | Prest 1987, 14. 18 | Das schließt nicht aus, daß zusätzlich lokale Sonderkulturen in den Profes sionen entstehen – z.B. als Normierung idiosynkratischer therapeutischer Praktiken auf einzelnen Stationen eines Hospitals (dazu: Bosk 1979). 19 | Stich weh 1991, Kap. I; ders. 1993. Vgl. Hughes/De Baggis 1973, 171, für die amerikanische Entwicklung, wo nach 1775 ein breiteres Spektrum von weltlichen Professionen in den Curricula der Colleges Berücksichtigung findet und dies viele Kirchen motiviert, ihre Klerikerausbildung in eigene Seminare auszugliedern.

15. B ERUFSBEAMTENTUM UND ÖFFENTLICHER D IENST ALS L EITPROFESSION

F UNK TIONALE D IFFERENZIERUNG Der Zusammenhang von Berufsbeamtentum, öffentlichem Dienst und Staat muß in einem zweiten Zugriff nun noch einmal in einer theoretisch generelleren Perspektive interpretiert werden. Die moderne Gesellschaft läßt sich als aus einer Mehrzahl von Funktionssystemen (z.B.: Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft) bestehend beschreiben. In allen Funktionssystemen gibt es das Moment der Inklusion, und Inklusion meint den Sachverhalt, daß in jedem Funktionssystem für alle Gesellschaftsmitglieder eine Form der Einbeziehung vorgesehen ist.20 Als Form der Einbeziehung kommen entweder Leistungs- oder Komplementärrollen in Frage (Politiker vs. Wähler, Geistliche vs. Gemeindemitglieder). Der Begriff der Professionalisierung referiert letztlich auf das Moment der Verberuflichung der Leistungsrollen eines Funktionssystems.21 Von einer Profession kann also vor allem dort die Rede sein, wo eine bestimmte Berufsgruppe ein Monopol (oder eine in einer Hierarchie von Berufen dominierende Stellung) für die Übernahme der Leistungsrollen eines ganzen Funktionssystems erlangt. Das ist eine unwahrscheinliche Bedingung, die allerdings in der Stellung der Ärzteschaft im modernen Gesundheitssystem einen Fall einer weitgehenden Erfüllung kennt (das Zusammenspiel von Richterschaft und Anwaltschaft als den beiden juristischen Leitprofessionen ist eine andere ›ausgefeilte‹ Lösung). Dort, wo das Berufsbeamtentum und der öffentliche Dienst zur Leitprofession aufsteigen, vollzieht sich nun der seinerseits unwahrscheinliche Vorgang der Verberuflichung (der Leistungsrollen) des Staates und der Übernahme von Klientenrollen (als Leistungsempfänger der Verwaltung) durch alle anderen Gesellschaftsmitglieder. Das ist nur eine mögliche Form der Inklusion in moderne politische Systeme, und die andere – konkurrierende und komplementäre – Form der Inklusion in das politische System wird beschrieben durch die Demokratisierung des Staates, d.h. die Ausbildung von Politikerrollen, die in ihrer Besetzung von einem Wahlpublikum abhängen, das je nach Gefallen/Mißfallen das die Leistungsrollen besetzende Personal auswechseln kann. Was hier deutlich wird, ist, daß eine forcierte Professionalisierung des Staates (mittels einer Leitprofession ›Berufsbeamtentum‹) und eine Demokratisierung des Staates in vielen Hinsichten alternative Schwerpunktwahlen implizieren.22 Demokratisierung vollzieht sich nie in der Form einer vollständigen Verberuflichung der Rollen für Politiker, und dies schon allein deshalb nicht, weil kein spezifisch politischer Wissenskorpus verfügbar ist, auf den sich die Profession der Politiker als kognitive Bedingung ihrer Ausdifferenzierung stützen könnte, und weil im übrigen die Abhängigkeit vom

20 | Zu Inklusion siehe zuletzt am Beispiel der Wissenschaft Luhmann 1990, 346-354. 21 | Ausführlicher Stichweh 1992. 22 | Vgl. Köttgen 1928; Gerber 1930.

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Wahlpublikum die Ausbildung eines solchen Arkanwissens unterbinden würde. Eine forcierte Verberuflichung der Leistungsrollen (der Verwaltung) des Staates im Sinne der Kontrolle durch eine Leitprofession scheint einherzugehen mit dem strukturellen Moment, daß dieser Leitprofession eine Generalzuständigkeit für eine große Diversität von Aufgaben zuwächst. Das wirkt sich als eine Restriktion auf Spezialisierungsprozesse im Staat aus, die mit der Vorstellung zusammenhängt, daß die jeweilige Leitprofession des öffentlichen Dienstes über ein Wissenssystem verfügt, das ihr erlaubt, ihre Tätigkeitsfelder relativ leicht zu wechseln.23 Berufsbeamte oder Mitglieder des öffentlichen Dienstes sind dann Generalisten, mit einer generalisierten Kompetenz »to run a society«.24 Das Wissenssystem einer solchen im Staat verankerten Leitprofession ist typischerweise das Recht. Der Staat wird in der Folge als Rechtsstaat interpretiert, und aus dieser Interpretation folgt die Sonderstellung jener Berufsgruppe, die sich auf Rechtskenntnis stützen kann. Deutschland und Norwegen bieten zwei gute Beispiele einer Staatsverwaltung, die mittels juristisch gebildeter Beamter eine als Rechtsstaat interpretierte Staatlichkeit in Richtung auf Verberuflichung des Staates hindrängt.25

S TRUK TURELLE E FFEK TE EINER L EITPROFESSION Welches sind die Effekte, die ein als Leitprofession fungierendes Berufsbeamtentum in andere Professionalisierungsprozesse in anderen Funktionssystemen einführt? Wenn wir in einem ersten Zugriff Wissensideale und Dienstideale als zwei zentrale Komponenten in jedem Professionalisierungsprozeß unterscheiden, so fällt bei einem Blick auf Deutschland auf, daß sich die Wissensideale der Professionen im wesentlichen dem Komplex Gelehrsamkeit/Wissenschaft verdanken und sich insofern auch die Beamtenschaft rezeptiv zu von ihr nicht zu befragenden Prämissen verhält.26 Allerdings gilt, daß dann, wenn die Wissenschaft den Staat zu denken versucht, eine ›bürokratische‹ Prämisse das Denken infiltriert, und dies insofern als politisches Handeln – in der sogenannten ›Gelehrtenpolitik‹ ist dies bis in die Weimarer Republik hinein zu beobachten – stillschweigend in Termini des Verwaltungshandelns, i.e. in Termini des Han23 | Vgl. Abbott 1988, 88, und Fn. 4 auf S. 342. 24 | Aubert 1976, 2. 25 | Vgl. interessant Gerber 1930, insb. 54, 59; Luhmann 1981, 181. Zu Nor wegen: Aubert 1976; Torstendahl 1991, 222-4. 26 | Vgl. Stichweh 1987; ders. 1992a, insb. 281-5. Siehe zu abstraktem und formalisiertem Wissen als dem Medium interprofessioneller Konkurrenz Abbott 1988, insb. 102-3.

15. B ERUFSBEAMTENTUM UND ÖFFENTLICHER D IENST ALS L EITPROFESSION

delns eines »allgemeinen Standes« gedacht wird.27 Wenn auch nicht für die Genese, kommt dem Beamtentum offensichtlich doch für die Verbreitung von Wissens- und Bildungsidealen eine wichtige Funktion zu. Wie Hansjoachim Henning am Beispiel der Entstehung des Bildungsbürgertums in den preußischen Westprovinzen gezeigt hat, dienen die akademisch gebildeten Beamten als Transmissionsglieder für die neu sich durchsetzende quasi-ständische Wertidee ›Bildung‹. Erst die familiale, kommunikative und dann wertmäßige Verflechtung der Beamten mit einem wirtschaftsbestimmten und im Sozialverkehr dominierenden bürgerlichen Gegenpol (unter Einbeziehung anderer Gruppen: selbständige Akademiker, gymnasial gebildete Beamte ohne Universitätsstudium) hat die neue Entität ›Bildungsbürgertum‹ nach 1890 verfestigt.28 Die die anderen Professionen beeinflussenden Wirkungschancen des Berufsbeamtentums liegen darüber hinaus auf dem Gebiet der Dienstideale und schließlich im Bereich der strukturellen Effekte einmal etablierter organisatorisch-bürokratischer Strukturen. Die Dienstideale des Berufsbeamtentums bedeuten eine Institutionalisierung des bereits auf den Staat hin gedachten deutschen Berufsbegriffs des späten 18. Jahrhunderts. Drei Aspekte lassen sich unterscheiden: 1. Individuelles Verhalten im Dienst; 2. Beamtentum als Korporation; 3. Bindungswirkungen außerhalb des Dienstes. Die Normierungen individuellen Verhaltens im Dienst sind zentriert auf den Begriff der Pflicht,29 der näher interpretiert wird durch Begriffe wie Fleiß; Selbstlosigkeit und Unbestechlichkeit; Loyalität, Treue und Gehorsam; schließlich durch ein Verantwortungsgefühl gegenüber der vom Professionellen verwalteten funktionalen Expertise.30 Der Bezug auf eine Korporation31 fungiert als Kontrolle dieser Normierungen individuellen Verhaltens, da diese Normierungen entweder unmittelbar das Sozialverhalten in der Organisation betreffen, oder Gesichtspunkte nennen, deren Verletzung auch dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Korporation schaden würde. Schließlich ist drittens auffällig, daß die Erwartungen an den Beamten über den Arbeitskontext hinaus Bindungen für seine gesamte Lebensführung erzeugen. Mäßigung, Haltung, achtungswürdiges Verhalten32 – dies sind 27 | Vgl. Döring 1986. 28 | Henning 1972, insb. 483ff. 29 | Hierzu und zum folgenden Hintze 1911; Gerber 1930; Caplan 1979. Zur Frage der Fortwirkung dieser Dienstideale in der Gegenwart: Luhmann/Mayntz 1973, 101-2, 335-352. 30 | Dieser Begriff bei Turner 1980. 31 | Mit dem Begriff der Korporation meine ich an dieser Stelle den Überschneidungsbereich des Beamtentum als Standes mit einer konkreten Organisation (der Staatsverwaltung, einer Lokalverwaltung), der eine hinreichend große Zahl von Beamten angehört. 32 | Hintze 1911, 72; Gerber 1930, 59, 64.

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typische Gleichgewichtsbegriffe und moralische Postulate, die den Beamten darauf hinweisen, daß er zu jedem Zeitpunkt die Besonderheit seines Berufes mitvertritt. Darin ist er von einem Kleriker im Ornat nicht prinzipiell zu unterscheiden, obwohl ihm diese äußere Sichtbarkeit seines Standes fehlt. Diese Vorstellungen sind mittlerweile historisch geworden. Dies wird gut illustriert durch den bemerkenswerten Befund, den Niklas Luhmann und Renate Mayntz 1973 in ihrer Untersuchung der Personalselektion und der Karrieren des öffentlichen Dienstes ermittelt haben. Die Anziehungskraft, die der öffentliche Dienst für potentielle Interessenten besitzt, steigt in dem Maße, in dem diese potentiellen Interessenten unterstellen, daß die traditionellen Dienstideale heute nicht mehr als Auswahlkriterien im öffentlichen Dienst angewendet werden und daß an die Stelle von Dienstidealen moderne aktivistische Leistungsgesichtspunkte getreten sind.33 Ungeachtet dieses heutigen Veraltens klassischer Dienstideale gilt, daß die Kombination von gelehrten Wissensidealen mit Dienstidealen, die dem Beamtentum verdankt sind – und der sich aus dieser Kombination herleitende gesellschaftliche Status – erklärt, warum im 19. Jahrhundert immer wieder, selbst in so unwahrscheinlichen Fällen wie dem Beruf des Arztes, die Forderung nach Verbeamtung als einem »Akt der Gerechtigkeit und der Billigkeit« auftauchen konnte.34 An dieser Stelle sind die beiden letzten wichtigen Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Erstens die strukturellen Effekte einmal etablierter organisatorisch-bürokratischer Strukturen und zweitens das diese Effekte verstärkende Moment, daß unter kontinentaleuropäischen Prämissen selbst privilegierte Gruppen wie Ärzte und Juristen Objekte eines »von oben« gestalteten Professionalisierungsprozesses gewesen sind – also viel weniger als im angloamerikanischen Bereich: handelnde Subjekte eines ›Professionalisierungsprojektes‹35 –, und daß auch dies auf Angleichung an das Beamtenmodell hinwirken konnte.36 Dieser Druck einer Professionalisierung von oben wird durch zwei strukturelle Effekte einer bürokratischen Umwelt der Professionen gestützt. Der erste betrifft die Prägung von Karrierestrukturen durch das Laufbahnmodell des öffentlichen Dienstes. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo die interprofessionelle Mobilität auch in der Gegenwart noch sehr hoch ist, hat in Deutschland und in anderen kontinentaleuropäischen Staaten die Angleichung an das Beamtenmodell dazu geführt, daß eine zwischen verschiedenen Pro-

33 | Luhmann/Mayntz 1973, 101-2. 34 | Zit. b. Wenig 1969, 77. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Ärzten habe 1840 in Preußen so gedacht; aber sie seien in der Minderheit geblieben. Für die Entwicklung der Anwaltschaft ausführlich: Gneist 1867. 35 | Larson 1977. 36 | Siehe Siegrist 1988, 16.

15. B ERUFSBEAMTENTUM UND ÖFFENTLICHER D IENST ALS L EITPROFESSION

fessionen vorkommende Mobilität weitgehend unterbunden ist.37 Zu vermuten ist, daß dieses Abschneiden interprofessioneller Mobilität in Gesellschaften, die durch Beamtenlaufbahnen geprägt sind, auch die innerorganisatorische Arbeitsteilung zwischen den Professionen rigidisiert.38 Der zweite strukturelle Effekt hat mit einer Entstehung von Professionen zu tun, die sich in bürokratisierten Großorganisationen vollzieht. Während klassische Professionen, die relativ autonom operierende Professionelle oder gar Einzelpraktiker in Organisationen bzw. freiwilligen Assoziationen zusammenschließen, durch einen hohen Grad innerprofessioneller Destratifikation (i.e. eine Vermeidung innerprofessioneller Statushierarchien) gekennzeichnet sind,39 läßt sich an Professionen, die von vornherein in bürokratisierten Großorganisationen entstehen (z.B. bei Ingenieuren), beobachten, daß unterschiedliche Statusebenen professioneller Arbeit in ein und derselben Profession und in ihren Berufsverbänden zusammengeschlossen werden.40 Professionen internalisieren hier das Moment der Hierarchie mit professionsinternen, oft unübersteigbaren Grenzen, das sie den in vielen Ländern streng hierarchisierten Strukturen des öffentlichen Dienstes annähert.41 Mittels der gerade skizzierten Überlegungen mag erhellen, daß eine Analyse, die sehr bewußt nach Situationen sucht, in denen das Berufsbeamtentum und der öffentliche Dienst als Leitprofession fungiert haben, vermutlich leichter eine historisch-soziologische Realitätsnähe erreicht, als dies der Literatur über Professionelle in bürokratischen Organisationen bisher gelungen ist. Die von Niklas Luhmann gestellte Frage, ob Professionalität noch ein eigenständiger gesellschaftspolitischer Faktor – wie Schichtung und Organisation – sein kann,42 ist damit noch nicht beantwortet. Aber vielleicht ist ein Schritt in Richtung auf eine Antwort mit Überlegungen möglich, die sich für (soziokulturell und soziohistorisch differierende) Berufsbegriffe, für die Institutionalisierung von Berufsbegriffen und der in ihnen enthaltenen Unterscheidungen und Grenzziehun37 | Siehe Abbott 1988, 132; Siegrist 1988, 25, weist auf Ämter patronage als eine dritte strukturelle Möglichkeit hin, die auch in stark büro krati sierten Gesell schaften wie Frank reich und Italien Professionsgrenzen für Mobilität durchlässig machen könne. 38 | Vgl. Abbott 1988, 65, 67. 39 | Stichweh 1987, 223-227. 40 | Abbott 1988, 151. Wie sich am Fall der Ingenieure gut zeigen läßt, wird dann gerade die Frage kritisch, ob die untereinander hierarchisierten Teil professionen noch durch eine Berufsorganisation vertreten werden können. Die Geschichte des VDI illustriert, wie die Handlungsfähigkeit dieser Berufs organisation dadurch geschwächt wurde, daß sie wegen interner Status gruppendifferenzen viele Themen prinzipiell vermeiden mußte. Siehe Gispen 1990; Jarausch 1990; McClelland 1991. 41 | Vgl. Price 1957. 42 | Luhmann/Lange 1974, 159-162; vgl. Luh mann 1981.

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gen in Professionen, weiterhin die eventuell von einem Beruf erlangte Stellung einer Leitprofession und die Folgen einer solchen Sonderstellung interessieren. Dabei wird ein weiterer Leitgesichtspunkt das enge Verhältnis einiger Professionen zur Ausdifferenzierung bestimmter Funktionssysteme in der modernen Gesellschaft sein. Die enge Beziehung von Professionalisierung und funktionaler Differenzierung konterkariert die Tendenz von Organisationen, die Differenzen zwischen Professionen organisationsintern zu nivellieren. Schließlich tritt ein letztes wichtiges Moment hinzu: die wechselseitige Beeinflussung und Beobachtung im Interaktionszusammenhang einer Mehrzahl von Professionen, die funktionssystemübergreifende (oder: die Grenzen von Funktionssystemen definierende) Zusammenhänge und Abgrenzungen zwischen den Professionen vermittelt.43

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43 | In genau diesem Sinne spricht Abbott 1988 von einem »System der Professionen«. Vgl. für ein analoges Argument für das »System der Disziplinen« des Wissenschaftssystems Stichweh 1984.

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Register

Allopoiesis

49f. Amt 332 Analogie 47, 57 Anomie 27 Anschlußfähigkeit 55, 109 Artefakt 69, 81 Autokatalyse 49 Autonomie 20, 47-9, 80, 155 Autopoiesis 47ff., 80, 82, 88, 97f., 191 Fn. 42

Begabung

225f. Beruf 184, 278f., 332, 339f. Berufe, wissenschaftliche 166, 246, 249, 284-7 Berufsbeamtentum 331-340 Bevölkerungszahl 184 Bildung 100-2, 188-194, 302 Bildungsbürgertum 225, 337 Bildungssystem und Militär 299 Biophysik 28 Fn. 30 Buchdruck 78, 163, 219f. Buchmarkt/-produktion 103 Bürgertum 301f.

Chemie

52, 81f., 92f., 97f., 104 Chemie, physikalische 17-9

Differenzierung

75, 147f. – Arbeitsteilung 184f.

– funktionale 19ff., 56, 154f., 319f., 322f. – Hierarchie 28-30, 173ff., 187f., 256-9 – Innendifferenzierung 230 – siehe: Wissenschaft, Innendifferenzierung – Kollektivbewußtsein 26f. – Reversibilität 41f. – Rollendifferenzierung 120f., 323f. – segmentäre 19ff. – Zentralisierung/Dezentralisierung 145-7 – Zentrum/Peripherie 102f., 257 Disziplin, wissenschaftliche 15-42, 55f., 70, 115, 137, 166, 246f., 248, 256, 259, 271, 274, 280f. – Begriff 174, 199, 246 – Berufsverband 276f., 286 – Differenzierung, disziplinäre 37ff., 54, 70, 115-7, 181f., 309 – disziplinäre Ausbildungssysteme 311 – Hierarchisierung von Disziplinen 28ff., 187f. – Informationsaustausch zwischen Disziplinen 29f., 39f. – Interdisziplinarität 32, 33ff., 182, 284 – Invisible Colleges 36 – Problemstellung 273

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– Transdisziplinarität 32-4 – Spezialgebiete (Subdisziplinen) 34ff. siehe: Berufe, wissenschaftliche; Professionen; Disziplinbildung, sekundäre Dogmatik 325

Ehre 319 Einzigartigkeit 190f. Elite, gesellschaftliche 225 Emergenz 48 Entscheidungsprämissen 136f. Ereignis 56f., 62, 88f., 108f. Erziehung – Ausdifferenzierung 154f., 303f. – gelehrte 170 – Innendifferenzierung 175-8 – Leistungsvergleich 233f. – liberale 229, 253, 311 – Mädchen 101 – privat vs. öffentlich 172f., 200 – ständische 183f. siehe: Schule; Universität Ethik, Pflicht, Bildung 193f. Evolution 74 Fachhochschule 221, 226 Form 216f. Freiheit 188f., 202-5, 299-301 Gelehrsamkeit 103, 308 Gelehrte, der 277-9 Generalisierung/Respezifikation 47 General Systems Theory 33 Geologie 117f. Geschichte vs. Philosophie 93f., 99, 185-7 Geschichtswissenschaft 50 Geselligkeit 100f. Gymnasium 77, 169f.

Handlung 64ff. Hermeneutik 59 Fn. 28 Hochschulpolitik 135-7 Individualität

49, 190-4, 219 Fn. 10, 302 Industrieforschung 138, 285 Inklusion 323f., 335f. – in politische Systeme 335 – in Professionen 286f. – in Universitäten 224-7, 229f., 310-2 – in Wissenschaft 78f., 104-6 Institutionenbildung 118 Integration 25-37 Interpenetration 108 Fn. 55

Kameralistik

164f. Kausalität 80 Kirche – Administration 162 – Konzilsbewegung 163 – Reformation 163f. Konstruktivismus 88, 96 Kritik 52f. Kultur 23, 56, 102, 233 – akademische 115f. Kunst 92, 102 Kuriosität 101

Leben 47 Logik 51. Loose Coupling 67, 230f. Malerei 73f. Mathematik 33, 82 Fn. 23, 92, 118, 123, 205 – angewandte (= Mechanik) 92f. – mathematische Methode 185-7 Max-Planck-Gesellschaft 139ff. Medium/Form 231-4 Moral 279 Musik 100f.

R EGISTER

National Science Foundation

145f. Naturgeschichte 94f., 185 Fn. 13., 187 Nervensystem 48 Neuhumanismus 156f.

O Öffentlichkeit 333 operationale Geschlossenheit 48, 62, 83, 89 Ordnungsaufbau 73-5 Organisation, formale 127, 137-9, 226, 276f., 285f. Organismusanalogie 47

Periodisierung

153f. Philologie 52f., 81, 106, 125, 205 Philosophie 194 Physik 17-19, 116-132, – Akustik 100 – allgemeine 92f. – als Beruf 285 – Bewegung 107 – Elektrizitätslehre/-forschung 40, 52, 82, 87-110 – Experimentalpraktikum 121, 124-6, 129 – Experimentalvorlesung 123f. – Fachstudium 123-30 – Festkörperphysik 69 – Fundamentalität 31 – Hochenergiephysik 67f., 259 – Institut 129f. – ›Naturlehre‹ 120 – Präzisionsmessungen 124f. – Quantenmechanik 37, 41, 118f., 131f. – Relativitätstheorie 118f., 131f. – Röntgenstrahlen 131 – theoretisch/experimentell 24, 126 – theoretische 121, 129 – und Chemie 37, 120 – und Mathematik 120 – und Technik 96f., 124, 130f.

– Wärmelehre 95 Physikotheologie 92 Politik – Beratung 135, 155-7, 306 – Demokratie 335 – Monarchie 156 – und Kirche 163f. – und Universität 153-66 – Wertung des Staats 334 Polizei 164f., 263 Polykontexturalität 227-31 Prestige 28f. Preußen 121, 137, 165, 169 Produktion als Reproduktion (in autopoietischen Systemen) 50-3, 60, 80, 82f., 97f., 200, 202-4, 206f. Professionen – Allgemeinpraktiker 272-4 – Allgemeinzuständigkeit 266, 320, 336 – Anwendung von Wissen 322f. – Apotheker 279f. – Arbeit 267, 270, 322 – Asymmetrie 324, 327 – Ausbildungssysteme 310-2, 322 – Ausdifferenzierung (funktionale Spezifikation) 266f., 271f., 319f. – Autonomie 255, 286, 317 – Bedarf, Objektivität 254f., 261, 308 – Begriff 246, 317 – Berufsverband 276f. – Destratifikation/Hierarchie 256-9, 265f., 279 – Dienstideale 337f. – Disziplinbildung, sekundäre 284f. – Dogmatik 283, 321 – Eliten/Establishment 251f., 280f., 283f. – Erwachsenenbildung 326f. – Ethik 262f., 267-71 – frühneuzeitliche 317f. – Habitus 318

349

350

W ISSENSCHAFT , U NIVERSITÄT , P ROFESSIONEN

– Handlungsbezug 257f., 265-7, 281, 321f. – Hierarchien, interne 339 – Hochschullehre 306-10 – Individualismus 254f., 263-5 – Ingenieur 328 – Interaktionsabhängigkeit 324-6 – interne Differenzierung 273f. – Juristen 161ff., 257, 262f., 264, 269, 272-4, 325f., 328 – Karrieren 280f., 338f. – Kernrolle/Leistungsrolle 256f., 259, 260f., 272, 280f., 283f., 335f. – Klerus 252, Fn. 27, 253f., 281f. – Klienten (Laien) 253f., 258f., 262-5, 268f., 273f., 275f., 278f., 309f., 324-6 – Knappheit 255 – kollektive Mobilität 248 – Kommunikation, innerprofessionelle 274-7, – Kontrolle 264f. – Korporation 318f., 337f. – Lebensstil 278f., 337f. – Leitprofessionen 332, 336-40 – Lehrer 281f., 326f. – Medizin 252, 257, 258f., 261, 264f., 266, 268f., 271, 272f., 283, 326 – Monopole 248, 285, 307, 311, 323, 334, 335 – öffentliche Ordnung 263 – personale Probleme/Personenveränderung 309f., 326-8 – Problemdefinition 254f., 258f., 261 – Problemsituationen 260f., 278, 318, 325 – Psychoanalyse 264 Fn. 71 – Sozialarbeit 280 – Spezialisierung/Arbeitsteilung in Professionen 259, 261 Fn. 59, 267, 272-4

– Status, professioneller 266f., 26971, 320 – stellvertretende Deutung 327f. – System der Professionen 279-82, 338-40 – überlokal 334 – Überweisung 267, 276 – und Funktionssysteme 319f., 3226, 335-6, 340 – und Gelehrsamkeit 319, 321f. – und Staat 333f. – und Staatsverwaltung 252f., 331-40 – und Stand 318 – und Universität 248-52 – und Wirtschaft 252f. – Ungewißheit 232, 260, 262 – vermittelnde Professionen 279282 – Vermittlung 326-8 – Vertrauen 260f. – Verwissenschaftlichung 261f., 282f., 321 – Werte, Wertbindungen 322 – Wissen vs. Handeln 257f., 321 – Wissensideale 336-8 – Wissenskorpus/Sachthematik 317f., 326-8, 335f.

Quellenorientierung Rationalisierung

50

235f., 247 Rationalität 231, 235-7, 247 Recht – frühneuzeitliches 50, 164 – universitäre Lehre 217 siehe: Professionen, Juristen Rechtsstaat 336 Redundanz 147 Responsivität 230f. Rezeption (Recht, Wissenschaft) 50 Rolle, soziale 136f.

R EGISTER

Schule

101f., 169-78 Abitur 116, 177 Curriculum 173, 175-7 frühneuzeitliche 116, 169-75 Gymnasien, akademische 170f. Hierarchie der Fächer 173, 175f., 178 Kollegien 170ff., 175 Lern-/Lehrrollen 173f., 199f. Schulfach 176f., 282 und katholische Orden – siehe: Universität – und katholische Orden – und Politik 172 – und Universität 116f., 163, 169-78, 205f., 223, 281f. siehe: Erziehung; Universität Selbstorganisation 73-83 Selbstreferentialität 47-70, 73-83, 201, 203 Selbstreflexion 201f., 223f. Selbstthematisierung 60 Selektion 74 Semantik, historische 115f. Sozialpsychologie 31f. Sozialwissenschaft 31f., 306 Sprache 77-9, 190 – Imitation 77f. – Latein 78 – Nationalsprachen 78f. – Oralität 63 Fn. 37, 78 Fn. 13 – Sprachlernen 77-9, 170, 173, 175f. Steuerung, Planung 74f., 122 Strukturalismus 33 Strukturbildung 59, 229f. Strukturelle Kopplung 88, 108-10 System – des Wissens 54 – Elemente 48, 80 – Grenze 49, 61f. – personale/soziale Systeme 48, 58, 63 – – – – – – – – –

– System/Umwelt 153-166, 191 Fn. 42

Technik – Feinmechanik 95 – Telegraphie 106f. – und Wissenschaft 69, 87-110 Technikwissenschaft 107-10 – Elektrotechnik 121, 130 Technische Hochschule/Universität 22, 121-3, 141 Teleologie 73-5 Texte 77, 81, 173 Theologie, Wissenschaftlichkeit 162f. Unendlichkeit

191-3 Universität – Abschaffung der 220 – akademische Freiheit 171, 205f., 208f., 233, 246, 295-312 – Altersverteilung von Schülern/Studenten 174 – amerikanische 215, 227-30, 249f. – Assistent 121, 128 – Ausbildung für Berufe 123, 159, 229, 250 siehe: Berufe, wissenschaftliche – Autonomie 155, 172 – Berufung 122, 136f., 165 – College (England) 299-301 – College (USA) 249f. – College- und Tutorialsysteme 302, 310-2 – ›Creative Writing‹ 235 – Curriculum 175-8, 234 – Disputation 51, 232 – Egalität 301f. – Einheit des Ortes 208, 228 – Einheit von Lehre und Forschung 156f., 199-210, 224 – Einheit von Lernen und Forschung 208-10

351

352

W ISSENSCHAFT , U NIVERSITÄT , P ROFESSIONEN

– Einheit von Lernen und Lehren 173f., 199-200 – Elitecharakter 298f. – Emeritierung 62 – Erziehung in Universitäten 204f., 297f., 302 – Extraordinariat 121, 129 – Fachbildung vs. Allgemeinbildung 132 – Fachstudium 142-50 – Fakultäten 184f., 195 – Formalbildung 115, 193, 205 – Formalstruktur vs. Aktivitätsstruktur (›decoupling‹) 157, 159, 230-4 – Grade/Prüfungen 161, 171, 209, 218, 232f. – Herkunft der Studenten 158f. – Idee und Begriff der Univ. 222f., 228 Fn. 40, 229 – interaktionsintensive 118f., 311 – Interaktionssysteme 159, 232 – juristische Studien 161f., 163f., 183f. – Karrieren, nachuniversitäre 159 – Karrieren, Studienkarrieren 234 – Kleriker 161f. – Kollegien – siehe: Schule, Kollegien – Kolloquium 129 – Kontrolle der U. 157f., 161, 307 – Korporation 160f., 207, 303 – Lebensstil 278 – Lehre und Lernen als System 233f. – Lehrerbildung 127, 177 – Lehrstuhl 119-22 – Lehr-/Lernrollen, Differenzierung 303 – Medium 231-4 – Nationaluniversität 220 – Neugründung 228f. – obligatorische Lehre (durch Studenten) 173f. – Organisationsgröße 226, 296 – Pfründen 161-3

– – – – – – – – – – – – – –

philosophische Fakultät 165, 248 politische Universität 303f. Privatdozent 307, 310f. Privatkolleg 127 Fn. 34, 175, 296 Privatuniversität 228, 304-6 Privilegierung 171f., 218 Promotion 117 Fn. 3 Reform 220-2 säkular/kirchlich 228, 249 Scheine 233f. Seminar 126-9, 207 Student und Philister 299f. Studiendauer 128, 205 System der Universitäten 122, 22730, 234-7 – technisch-utilitarische Bildung 125 – Tenure 142f. – und katholische Orden 163f., 173f., 175, 200, 232f. – und Kirche/Religion 160-3 – und Politik 153-66, 171f., 220-2, 302-6 – und Staatsverwaltung 300f., 333f. – und Stadt 296f. – und ständische Ordnung 183f., 301f., 303 – Universalismus/Universalmacht 160f., 217-20, 221f., 301f., 334 – Vorlesung vs. Dialog 205-8, 219f., 297f., 301 – Wachstum der Universitäten 120-2 – Wissenschaftlichkeit 115f., 165f., 172, 176f., 205, 223f., 226f., 228, 235 siehe: Erziehung; Schule Unterscheidung, Form der 215-7

Weltansicht/Weltverhältnis Werte 144, 222f. Werturteilsfreiheit 306 Wirtschaft

191-3

R EGISTER

– Märkte 254-6, 307f. – Profit 63 – Zahlungen 57f., 63 Wissen 49-51, 75-80, 160, 199 – Gewißheit des W. 91f. – kommunikabel/inkommunikabel 138, 159f., 202-4 – Meinungen 79 – Universalismus/Partikularismus 217-20, 222-4 Wissen vs. Handeln 257f., 321 Wissenschaft – Akademie 63 Fn. 37, 182 – akademische 106, 118, 130 – als Beruf 62, 245 – als öffentliches Gut 254 – Amateur 54, 103 – Apparat 91 – Ausbildung 105 – Ausdifferenzierung 15f., 271, 321 – Außenseite vs. Innenseite der Körper 93 – Autopoiesis – siehe: Autopoiesis – Begriff der Wissenschaft 176, 201f. – Beobachtung 65 – siehe: Wissenschaft, Experiment – Code wahr/falsch 47, 53, 61, 70, 79, 143, 223f. – Diskurs 126 Fn. 32 – Disziplin – siehe: Disziplin, wissenschaftliche 16ff., 28ff. – Doppelentdeckungen 68f. – Einfachheit 58, 61, 99 – Einheit der 57f., 187-9, 208 – Eklektik 297f. – Element 50-4, 57-9, 82f., 88, 104f., 142f. – Eliten 36, 251f. – Empirie 55, 283 – Entdeckung 107 – Enzyklopädie 50, 52-4, 76f., 192, 298

– Erhaltung des Wissens vs. Erkenntnisgewinn 60, 76-9, 80-3, 199, 201, 206f. – Erleben vs. Handeln 257f. – Evolution der W. 68f. – Experiment 53f., 90-3, 98f., 102-5, 107 – Experiment vs. Beobachtung 90f. – Fachgutachter (›peer review‹) 61, 141 – Fachzeitschrift 104f. – Finanzierung (›research grant‹) 139-45, 209f. – Forschung 37, 64-9, 81-3, 115, 126, 127f., 137-40, 142, 201, 206f., 208-10 – frühneuzeitliche 49-51, 55f., 62, 75-82 – Fundamentalität 31 – Gemeinschaft, wissenschaftliche (›scientific community‹) 58f., 1026, 119, 182 – Grundlagenforschung/angewandte Forschung 24f., 34f., 145-7 – Hypothese 93f. – Inkommensurabilität 143 Fn. 23 – Innendifferenzierung 15f., 70, 176f., 321 – innere Umwelt 26, 82f., 106 – Innovation, kognitive 37-42 – Instrument 53, 65f., 66 Fn. 41, 69, 81f., 87-110, 210 – Karriere, innerdisziplinäre 121 – Klassifikation der Wissenschaften 76f., 182, 185-8, 192 – Kommunikation 21f., 37, 55f., 58f., 64-6, 82f., 182, 202-4 – Kozitation 59f. – kumulativer Vorteil 63f. – Labor 81f. – Lehrbarkeit 189, 202-4, 297f. – Messung 90f. – Methode 53f., 65, 201f., 203f., 210

353

354

W ISSENSCHAFT , U NIVERSITÄT , P ROFESSIONEN

– – – –

militärische Forschung 145f. Natur, Natur vs. Kunst 88-90, 91-3 Nichtpublikation 61-4 ›Normal science‹ 36, 65, 69, 105, 128, 209f. – Normen und Werte 15, 26f. – Organisationen der Forschung 137-9 – Paradigma 40f. – Prioritätsstreitigkeiten 68f. – Probleme, wissenschaftliche 33f., 39, 143, 209f. – Probleme, außerwissenschaftliche 26, 33f. – Professionalisierung der Wissenschaft 245-7 – Programme als Steuerungsform 138-45 – Projekte 128, 142-5, 209f. – Publikation 57-69, 83, 104f., 142 – Publikum, außerwissenschaftliches 98-102 – Replikation 54 – Sekundäre Professionalisierung 284-7 – Selbstverwaltung der W. 141-4, 165 – Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit 82 – Spezialisierung 128, 181-194 – Technisierung des Wissens 286f. – Temporalisierung 59, 60, 62, 63, 70 – Theorie 54f., 66, 68, 95f., 210 – und Technik 69, 87-110, 327f. – Verstandesfähigkeiten 185f., 193 – Weltbilder 106, 130-2, 192f. – Zitation 57-64, 70 Wissenschaftspolitik 135-50

Zelle

49

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