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German Pages 383 [404] Year 1996
Jutta Heinz Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
6 (240)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung
von
Jutta Heinz
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall : Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung / von Jutta Heinz. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 6 = (240) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-015145-6 NE: GT
ISSN 0946-9419 © Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Ein Mensch ist komplizierter unendlich viel komplizierter als sein Denken. Paul Valery, Windstriche
Vorbemerkung Dieser Text ist die geringfügig überarbeitete Version meiner Disseration Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der SpätaufklärungBeyträgen zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten< »Leuchtthürme« für den Leser
142
3.3. Die Dialogisierung des Romans - wirkungsästhetische Betrachtungen
145
Kritik statt System - zur Funktion des Dialogs in der Aufklärung, S. 147; Poetische und philosophische Gespräche - der Dialog im Kontext der zeitgenössischen Gattungstheorie, S. 150; Lebendige Gemälde vs. tote Beschreibung Engels Theorie des Dialogromans, S. 152; Kontinuität des Gesprächs vs. Kontinuität des Lebcnszusammenhangs - zur zeitgenössischen Kritik des Dialogromans, S. 156
3.3.1.
Das Scheitern des Dialogromans als Heldenepos - zu Meißners >Alcibiades
Reise in die mittäglichen Provinzen
Woldemar< und >Wilhelmine Arend< - die Empfindsamkeitskritik im anthropologischen Roman
187
5.1. Vom Gefühlsgenie zur Sozialethik - Diskursentwicklungen am Beispiel von Friedrich Heinrich Jacobis >Woldemar
Woldemar
Woldemar
WoldemarWilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit Empfindler, Empfindsame und Wollüstlinge - der Typenkreis der Empfindsamkeit im Roman, S. 217; Die »Wahrheit durch das Prisma der Empfindung«
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Inhalt
XIII
- zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Empfindung in Liebe und Freundschaft, S. 221; Melancholie als Verhängniszusammenhang - die Krankengeschichte, S. 224; Die anthropologische Matrix der Melancholie und die Struktur des Romans - Grenzen und Ergänzungen, S. 231; »Gegengift« gegen die Empfindelei - zum Verhältnis von Roman und Empfindsamkeit, S. 235
6. Individuum und Gesellschaft - die Bewährungsprobe der Anthropologie in der wirklichen Welt 6.1. Das Charaktergemälde als mimische Studie -JohannJakob Engels >Herr Lorenz Stark
Gustav Aldermann< und >Friedrich Mahler< 6.2.1.
Die fatalen Wirkungen der Leidenschaft in Privat- und Berufsleben - Friedrich Traugott Hases >Gustav Aldermann
Friedrich 3 1
Weltmann und Dichter< Äußere Kontraste: Natur und Gesellschaft, Autonomie und Abhängigkeit, S. 285; Innere Kontraste: Einbildungskraft und Verstand, Intuition und Instinkt, S. 286; Ideelle Kontraste: Moralität und Zufall, Dichtung und Wirklichkeit, S. 290; Innere Geschichte: ästhetische und psychologische Bildung, S. 293; Das Reich der Zwecke und das Reich der Notwendigkeit im Dialog, S. 297
283
XIV
Inhalt
7. Leiblichkeit und Todesfurcht - die Anthropologie an der Grenze zur Theologie in Hippeis >Lebensläufen nach aufsteigender Linie
Wilhelmine ArendKunst, Bücher zu lesen< bereits in der Einleitung kategorisch einen engen Zusammenhang zwischen Freizeitlektüre und anthropologischer Grundbildung:
2 JOHANN ADAM BERGK (1769-1834) lebte als Privatgelehrter in Leipzig.
Zum Verhältnis von Literatur und Anthropologie
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Alle Gegenstände, die in irgend einer Beziehung mit dem Menschen stehen, interessiren ihn; und er hält es für eine heilige Pflicht, sich eine Bekanntschaft mit allem zu erwerben, was die Aufgaben seines Lebens realisiren kann. (*210, S. Ulf.)
Diesem allgemeinen Zweck soll auch der Roman dienen: Der Romanendichter will das Menschenleben auf eine angenehme, lehrreiche und geistvolle Art darstellen. Er will als Künstler unsem Geschmack bilden, und als Menschenbeobachter unsere Kenntniß der Welt vermehren. (S. 203)
Welche Romane erfüllen nun aber diese Forderung am besten? Die zu seiner Zeit verbreitetsten Gattungen verwirft Bergk sogleich: keine Ritter- oder Geisterromane - sie verfälschen historische Tatsachen und schmeicheln dem Hang der schen zum Wunderbaren (vgl. S. 252) -; keine historischen oder polirischen Romane - sie sind schädliche Zwittergestalten aus Wahrheit und Dichtung und regen die Leidenschaften zu sehr an (vgl. S. 256f.) -; keine moralischen Erzählungen - sie verwechseln den Prediger mit dem Dichter (vgl. S. 258) -; keine empfindsamen und mystischen Romane - sie kultivieren ein einzelnes Vermögen auf Kosten des Gleichgewichts aller seelischen Kräfte (vgl. S. 262). Neben diesen Verdammungsurteilen über die zeitgenössische »Trivialliteratur« gibt Bergk jedoch auch Empfehlungen für die Leseliste: Und da findet sich an erster Stelle der heute zwar immer noch geschätzte, aber wenig gelesene Wieland, erst an zweiter Stelle Goethe, und als dritter ein auch dem gebildeten Publikum inzwischen fast völlig unbekannter Autor namens Thümmel. Es folgt eine lange Reihe vergessener Dichter, von denen nur - aber weit abgeschlagen - Schiller und Jean Paul ins breitere literaturgeschichtliche wie bildungsbürgerliche Bewußtsein der Jetztzeit hineinragen. Ausdrücklich gelobt werden beispielsweise Friedrich Maximilian Klinger, Friedrich Heinrich Jacobi, natürlich auch der eingangs zitierte Johann Karl Wezel und Theodor Gottlieb von Hippel. Meine Auswahl ist bewußt und gezielt: Es sind diejenigen Autoren, die ich im folgenden als Kronzeugen für ein zu erarbeitendes Konzept des anthropologischen Romans der Spätaufklärung aufrufen werde. Mit der »Vergessenheit« dieser im zeitgenössischen Bewußtsein noch prominenten Autoren3 ist ein Vorwurf vor allem an die Adresse einer HöhenkammGermanistik formuliert, zugleich aber auch eine legitimatorische Aufgabe: Gibt es, zum ersten, überhaupt ein literaturgeschichtliches oder gar systematisch-literaturwissenschaftliches Interesse an einer Darstellung, Interpretation und Typologisierung dieser größtenteils umfangreichen, zumeist nach Ersterscheinen nie wieder vollständig aufgelegten Texte? Könnte darüber hinaus, zum zweiten, eine solche Darstellung gar neben Beiträgen zu wissenschaftlich-systematischen Erkennt-
Dies gilt natürlich für die oben zitierten Autoren in sehr unterschiedlichem Maße: So ist beispielsweise die Spezialforschung zu Johann Karl Wezel in den letzten Jahren äußerst intensiviert worden; auch Hippel war lange Zeit eine feste Größe im germanistischen Bewußtsein. Von Kimger hingegen wurden vor allem seine zum Sturm und Drang-Repertoire gehörenden Dramen rezipiert, während seinem umfangreichen Romanwerk erst in jüngster Zeit Beachtung geschenkt wird.
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Einleitung
nis- auch solche zu lebensweltlichen Erfahrungs-Zusammenhängen liefern? Daß es um den Menschen gehe, scheint ein in seiner Globalität ziemlich erschlagendes und darum wenig sinnvolles Argument zu sein; daß es jedoch um eine besondere literarische Auseinandersetzungsform mit Menschlich-Allzumenschlichem geht, werde ich im folgenden darzulegen versuchen. Das Ziel dieser Arbeit ist deshalb zunächst die Erarbeitung eines neuen Forschungskonzepts des anthropologischen Romans der Spätaufklärung; darüber hinaus soll dieser aber auch als Beitrag zu einer wieder wichtig gewordenen Strategie zur Überwindung der Dialektik der Aufklärung von innen heraus gewürdigt werden. Zur Erreichung dieser beiden Ziele ist es insbesondere erforderlich, der formalen Gestaltung der Texte größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als bisher gemeinhin üblich. Der Schwerpunkt der Analyse - und das macht gleichzeitig ihr Novum aus - liegt deshalb zum einen auf dem Verhältnis der Romane zum anthropologischen Diskurs der Zeit, zum anderen auf einer bisher von der Forschung weitgehend vernachlässigten formalen Analyse der Texte auf ihre Erzählstrukturen hin. Die methodischen Grundlagen dieses Vorhabens werde ich im folgenden unter Einbeziehung der Forschungsgeschichte zum Roman des späten 18. Jahrhunderts skizzieren. Anschließend soll ein knappes Referat aktueller Konzepte einer philosophischen Dialogethik den ideologischen Rahmen umreißen, in den die vorliegende Arbeit über das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse hinaus sinnvoll eingeordnet werden könnte - ohne jedoch diesen Schritt zwingend zu erfordern oder gar die Prämissen einer solchen möglichen Aktualisierung bei der Analyse selbst zugrundezulegen.
1.1.
Zur Forschungsgeschichte
Die Forschungslage zum Roman der deutschen Spätaufklärung präsentiert sich dem - natürlich immer durch den Standort privilegierten - Rückblickenden als recht spannungsvolle Dialektik von Forschungsdesideraten und deren Einlösungsversuchen in der Praxis: Auch die Forschung schreibt bekanntlich ihre Geschichten, die man sich - sozusagen ahnenkundlich - aneignen kann oder gegen die man sich - immer auch polemisch - absetzen will. Eine produktive Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte beinhaltet meiner Meinung nach zwingend beide genannten Aspekte: Nur so kann eine Kontinuität wissenschaftlichen Arbeitens auch in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen - wenn nicht vielleicht gar ein Fortschritt? - hergestellt werden, die mir angesichts der betriebsimmanenten Divergenztendenzen von Schulenbildung, Konkurrenzverhalten und Solitärforschung als immer wünschenswerter erscheint.
Zur Forschungsgeschichte
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Zum Verhältnis von Literatur und Anthropologie Auf eine mögliche methodische Anwendung des Anthropologiebegriffs hat LOTHAR BORNSCHEUER bereits 1985 in seinem Aufsatz >Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont< hingewiesen. Bornscheuer schlägt vor, Beziehungen zwischen alltagsweltlicher und ästhetischer Erfahrung in Form einer anthropologischen Topik herzustellen; er sieht hier zudem einen möglichen Verknüpfungspunkt zwischen einer sozialgeschichtlich und einer geistesgeschichtlich orientierten Betrachtung von Literatur. Historisch legitimiert wäre eine solche literaturanthropologische Methode durch den wesentlichen Anteil der Literatur an der allgemeinen anthropologiegeschichtlichen Entwicklung; sie würde darüber hinaus wesentliche inhaltliche Gesichtspunkte zur Untersuchung menschlicher Subjektivität beitragen und auch formale Analysekriterien zur Verfügung stellen. Zusammenfassend stellt Bornscheuer fest: Die literaturanthropologische Betrachtungsweise sei besonders geeignet zur »methodischen Orientierung innerhalb einer Literatur mit einem ganz anders zentrierten Welt- und Menschenbild« (*108, S. 438). Leider macht Bornscheuer keine konkreten Vorschläge, wie die daraus resultierende Methode nun im einzelnen auszusehen hätte; sein Konzept halte ich jedoch für sinnvoll und werde es in dieser Arbeit an einem ausgewählten literaturgeschichtlichen Bereich erproben. Ob darüber hinaus eine Anwendung auch innerhalb anderer Epochen und auf anders organisierte literarische Texte möglich ist, müßten weitere Untersuchungen zeigen. In die gleiche Richtung weist ein kürzlich erschienener Forschungsbericht von WOLFGANG RlEDEL zu Literatur und Anthropologie im 18.Jahrhundert.1 Auch Riedel hebt dabei vor allem auf die naturgemäße Nähe beider Disziplinen ab, die sich auf ihre je eigene Art mit dem Menschen und speziell seiner sinnlichen und körperlichen Ausstattung, dem »Anderen der Vernunft«2 befassen: Wo sonst in der sprachlichen Überlieferung, wenn nicht in der Literaturgeschichte, ließe sich eine Geschichte der Einbildungskraft oder des Gefühls fassen? Zugespitzt gesagt: die Dichtung ist der Diskurs des Anderen der Vernunft. In diesem Sinne >ist< Literatur Anthropologie (*155, S. 101).
Dabei stellt Riedel eine Konjunktur germanistischen Schrifttums zu diesem Themenbereich seit Mitte der 80er Jahre fest. Diese interpretiert er einleuchtend als
Vgl. außerdem den von Schings herausgegebenen Sammelband >Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (*158) mit einer Fülle von interessanten Einzelbeiträgen, auf die ich jeweils an gegebener Stelle eingehen werde. Auch diese Veröffentlichung belegt ein erhöhtes germanistisches Interesse sowie eine entsprechende Forschungstätigkeit im weiten Bereich von Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert; die meisten Beiträge konzentrieren sich jedoch auf eng begrenzte Tcilaspekte, z. B. einzelne Autoren. Umfassende Darstellungen zu größeren Themenkomplexen stehen hingegen weiterhin aus. Vgl. zum Terminus Hartmut und Gemot Böhme (*193, bes. Einleitung, S. 13f): »Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Ix:ib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle« (S. 13).
6
Einleitung
Interferenzprodukt aus einer Konjunktur der Anthropologie in den Sozialwissenschaften und der Philosophie überhaupt sowie den methodischen Anliegen der Diskursanalyse; Odo Marquard und Michel Foucault sind damit die Überväter einer anthropologisch orientierten Literaturgeschichte. Speziell für das 18. Jahrhundert ergibt sich für Riedel das Problem, daß streng diskursanalytische Körpergeschichten häufig zu einem einseitig verengten Aufklärungsbild neigen, das hinter jeglicher Form von Rationalität nur noch den fatalen Zwangscharakter dogmatisch vertretener, universalistischer Geltungsansprüche vermutet - und damit auf genau entgegengesetzte Art wie die bisherige »aufklärungsfreundliche« Forschung der komplexen geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Signatur des 18. Jahrhunderts nicht gerecht wird. In gleicher Weise paradigmatisch wie vorbildhaft sowohl für Riedel wie auch für meine Arbeit sind hingegen die Arbeiten von HANSJÜRGEN SCHINGS zur Melancholieforschung; ihr methodischer Ansatz - weg von der reinen Sozialgeschichte und hin zur Quellenforschung mit dem Idealziel einer »Synthese von Intellektualität und Gelehrsamkeit« (S. 103) - ist auch für diese Arbeit mitbestimmend gewesen. Methodisch fühle ich mich weiterhin dem von MICHAEL TlTZMANN in seinem Konzept einer »integrativen Literaturgeschichte« aufgestellten Ideal der »historisch adäquaten Interpretation« (*408, S. 400) verpflichtet. Als solche bezeichnet Titzmann eine Textdeutung, die im Rahmen wissenschaftlicher Nonnen und Regeln [...] die Bedeutung eines Textes rekonstruiert, die er in der historischen Phase gehabt hat, von der und für die er ursprünglich produziert worden ist. Interpretation rekonstruiert also die Bedeutung, die eine Textstruktur für einen optimalen/idealen Leser der Kultur des Textes gehabt hätte, der über alle die intellektuellen und kulturellen Voraussetzungen verfügt, die zum Verständnis eines Textes erforderlich sind und zudem in dieser Phase überhaupt zugänglich waren, (ebd.)
Die Rekonstruktion dieses kulturellen Wissens konzentriert sich in der vorliegenden Arbeit auf den anthropologischen Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der von mir untersuchte spätaufklärerische, anthropologische Roman
3 Problematisch erscheint mir weiterhin, daß in der Aufklärungsforschung zwar inzwischen die Erkenntnis verbreitet ist, daß »die anthropologische Wende< im fünften und sechsten Jahrzehnt des 18.Jahrhunderts als die bemerkenswerteste geschichtliche Entdeckung« bezeichnet werden kann so Wilhelm Schmidt-Biggemann und Ralph Hafner in ihrem soeben erschienenen Überblick über >Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung< (*203, S. 168)-; in diesem Zusammenhang fallen jedoch immer wieder ausschließlich die Namen germanistisch zweifelsfrei etablierter Autoren. So wird die o. g. »Wende« von Schmidt-Biggemann/Häfner zurückgeführt auf Moses Mendelssohn und Albrecht von Haller (Germanisten gemeinhin eher bekannt als Autor der >Alpen< und weniger als berühmter und einflußreicher medizinischer Forscher), »sicherlich [....] Lessing, aber auch [...] Nicolai« (S. 168); die Reihe könne verlängert werden um Karl Philipp Moritz und Herder. Kein Wort von den »philosophischen Ärzten« Krüger, Unzer, Platner und Weickard; noch nicht einmal Wezel findet Erwähnung. Offensichtlich wird hier ein sehr allgemeiner Anthropologiebegriff zugrundegelegt, während gerade die durchaus vorhandenen Erkenntnisse der »äußerst reichen Forschungstätigkeit« (ebd.) nicht berücksichtigt werden.
Zur Forschungsgeschichte
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und die sich ausbildende Disziplin der wissenschaftlichen Anthropologie bilden während dieser Zeit eine »Diskursgruppe« im Sinne Titzmanns: Sie beziehen sich zu großen Teilen auf den gleichen Gegenstand, bilden aber unterschiedliche Rederegularitäten aus, die dementsprechend angepaßte Untersuchungs- und Analysemethoden erfordern.4 Unentbehrlich für die Rekonstruktion des anthropologischen Diskurses ist dabei, wie auch Titzmann betont, ein sowohl qualitativ wie quantitativ repräsentatives Textkorpus (vgl. S. 405), das mittels einer Periodisierungshypothese historisch eingrenzbar ist (ebd.). Trotz dieser statistischen Annäherung ist es jedoch selbstverständlich, daß auch im Rahmen dieser Rekonstruktion eine interpretierende Aneignung der Texte unentbehrlich ist; ein naiver Glaube an die »Objektivität« eines solchermaßen erstellten Wissenshorizonts ist damit keinesfalls impliziert. Zu Roman und Romantheorie im späten 18. Jahrhundert Wesentliche Anregungen für mein Konzept des anthropologischen Romans verdanke ich zwei germanistischen Veröffentlichungen aus den 60er Jahren: - ROBERT MANDELKOW machte 1960 darauf aufmerksam, daß parallel zur von Wolfgang Kayser für die Entwicklung des modernen Romans in Anspruch genommenen Traditionslinie auktorialen Erzählens im 18. Jahrhundert eine zweite zu eröffnen sei, nämlich die eines personalen, polyperspektivischen Erzählens. Letztere verortete er vor allem im Briefroman; sie sei insgesamt auf gleiche Weise innovativ und zukunftsweisend für moderne Formen des Erzählens im 20. Jahrhundert.5 - VICTOR LANGE regte in einem 1967 erschienenen Aufsatz an, die Figur des Schwärmers als »provozierendstes Beispiel des exzentrischen Menschens, jenes aggressiv individualistischen Verhaltens, das im Verlaufe des Jahrhunderts zum eigentlichen Thema des Romans wird«6, in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Romanpoetik zu untersuchen.
4 Die weitgehenden methodischen Überlegungen Titzmanns und seine daraus abgeleiteten Anforderungen an eine integrative Literaturgeschichte können hier im einzelnen nicht dargestellt werden; insgesamt jedoch erscheint mir sowohl die starke Formalisierung der Argumentation wie auch der strenge methodische Anspruch zumindest auf Intersubjektivierbarkeit von literaturgeschichtlichen Vorgehensweisen, den er im Begriff einer »rationalen Interpretationstheorie« (*408, S. 398) zusammenfaßt, als außerordentlich vorbildlich. Geradezu unentbehrlich werden derartige Überlegungen, wenn man Titzmanns Zielvorstellung teilt, daß eine moderne Literaturwissenschaft vielfaltige Anschlußmöglichkeiten an andere Disziplinen - beispielsweise über den gemeinsamen Systembegriff (vgl. S. 422f.) - bieten sollte. 5 Vgl. Mandelkow (*249, bes. S. 201 ff). 6 Vgl. Lange (*172, S. 157).
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Einleitung
Beide Ansätze zusammengenommen initiieren ein Forschungsprogramm, das sich inhaltlich an der genuin anthropologischen Problematik des Sonderlings7 orientiert. Aus dieser thematischen Vorgabe ergeben sich poetologische Konsequenzen, speziell im Hinblick auf Erzählformen personaler, polyperspektivischer und wie ich ergänze - dialogischer Art. Auf die Wichtigkeit dialogischer Erzählweisen hatte bereits 1962 PETER MlCHELSEN in seiner wichtigen und für die Forschung lange Zeit prägenden Monographie über Sterne und den deutschen Roman hingewiesen.^ Er leitete damit bei allen Verdiensten jedoch gleichzeitig eine folgenschwere Entwicklung ein, die letzten Endes zur systematischen Verkennung und ästhetischen Abwertung gerade des deutschen Romans der Spätaufklärung führen mußte. Solange man nämlich - und zwar wahlweise mit der Perspektive zurück auf Sterne und Fielding oder nach vorn auf die Erzählwerke Goethes, die progressive Universalpoesie der Romantik oder die Metaphorik Jean Pauls - weitgehend andersartig organisierte und intendierte Texte zum Maß der spätaufklärerischen deutschen Romanproduktion machte, war eine Deutung der leichthin als Nachahmer bzw. Vorläufer eingestuften Texte im Rahmen ihres eigenen Anspruchs und der von ihnen selbst formulierten Problematik zwangsläufig unmöglich.9 Damit sollen nicht die Verdienste und auch nicht die Berechtigung einer methodisch reflektierten Einflußforschung gerade zur Rezeption der gesamteuropäischen Aufklärung und Romanpoetik geleugnet werden. Es erweist sich jedoch bei Texten, die sich in außerordentlichem Maße unmittelbar benachbarten lebensweldichen Kontexten öffnen - wie z. B. dem der Anthropologie in ihrer spezifisch deutschen, spätaufklärerischen Variante - wenig sinnvoll, die Betrachtung allein auf globale Rezeptionsströme zu konzentrieren. Zudem ist hier die Gefahr, an die Texte ihnen fremde ästhetische Wertmaßstäbe heranzutragen, außerordentlich groß.10
7 Der Terminus wurde bekanntlich von Meyer (*201) in die Literaturwissenschaft eingeführt, der ihn als »historischen Typus« aus der Gestalt des Narren entwickelte. Historische Typen in diesem Sinn sind auch die in Kap. 4 behandelten Sonderlingsgestalten des 18.Jahrhunderts; sie speisen sich jedoch noch aus weiteren traditionellen Figurentypen (z.B. dem Melancholiker). 8 Die dialogische Struktur prägt nach Michelsen nicht nur das Figurengespräch im Text als »Dialektik des Mißverständnisses« (*250, S. 48), sondern auch das Verhältnis Autor-Leser. 9 Ein drastisches Beispiel hierfür findet sich, noch dazu an wirkungsmächtiger Stelle, nämlich in einer weit verbreiteten Einführung zum Roman der Aufklärung, bei DIETER KlMPEL: Bereits die Einleitung stellt in weiten Teilen auf die Darstellung der Romantheorie Friedrich Schlegels ab, bevor über den Roman der Aufklärung überhaupt ein Wort verloren ist. Speziell der Roman der Spätaufklärung wird geradezu stiefmütterlich behandelt: »Wesentliche Neueinsätze oder Impulse, an die eine zukünftige Entwicklung der Gattung hätte anknüpfen können« (*244, S. 112), seien von ihm nicht ausgegangen. Hier zeigt sich in krasser Form die Kehrseite eines Ansatzes, der erzählerische Modernität von vornherein nur bestimmten literarischen Epochen zugesteht. 10 Neben ästhetischen werden gerade an den Roman der Aufklärung auch in der Forschung häufig ideologische Maßstäbe angelegt; auch dieses Verfahren verfehlt und verdeckt meist die Intentionen der Texte in gravierender Weise. So fällt etwa PETER J. BRENNER (*225) trotz überzeugender
Zur Forschungsgeschichte
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Zu Beginn der 70er Jahre erschienen einige äußerst materialreiche Arbeiten vor allem zu poetologischen Problemen des aufklärerischen Erzählens.11 In weiten Zügen übereinstimmend prägten sie einen gut begründeten und durch zeitgenössische Quellen abgesicherten Begriff des pragmatischen Romans als Grundtypus aufklärerischer Romanpoetik. Dieser theoretischen Analyse korrespondierte jedoch in den meisten Fällen eine äußerst sparsame interpretatorische Praxis: Zumeist wird das erstellte Modell nur an einer geringen Anzahl ausgewählter Beispiele erprobt; poetische Theorie und literarische Umsetzung scheinen nicht hinreichend vermittelbar. Ein interessantes Gegengewicht dazu bilden die beinahe gleichzeitig entstandenen, eher quantitativ orientierten Arbeiten von EVA BECKER, MARION BEAUJEAN und MICHAEL HADLEY. Sie demonstrieren anschaulich die Schwierigkeiten, die sich beim Versuch ergeben, die umfangreiche und vielfältige Romanproduktion systematisch zu erfassen.12 Anstelle einer Analyse der zeitgenössischen Theorieproduktion der Zeit setzen diese Arbeiten auf
Analysen beispielsweise zur Entwicklung der Erzählerfigur immer wieder hinter den Argumentationsstand der von ihm behandelten Autoren zurück, indem er sie - und die Struktur ihrer Werke für eine mangelnde emanzipatorische Qualität der Wirklichkeit verantwortlich macht. Auch eine noch so gelungene ästhetische Komposition muß damit immer defizient bleiben, solange sie auf einem als falsch bewerteten Weltbild beruht, frei nach dem Motto: Es gibt keine richtigen Romane im falschen Leben. 11 So ist es bei GEORG JÄGER im Gegensatz zu der eben geschilderten Zuspitzung literarischer Entwicklungen auf bestimmte Epochenmuster geradezu leitendes Erkenntnisziel, den Eigenwert hierzu nicht konvergenter Strömungen gegen Ende des 18.Jahrhunderts in den Vordergrund zu stellen; Jäger geht von der eigentlich naheliegenden Vorstellung aus, daß mehrere literarische Schichten nebeneinander existieren können (vgl. *240, S. 9). Sowohl in seiner Analyse des Begriffs der Empfindsamkeit wie auch in seiner Analyse der Romantheorie werden - auch dies ein explizites Ziel Jägers - systematisch eine Vielzahl neuer Quellen erschlossen. Die Nähe des Romans der Aufklärung zur pragmatischen Geschichtsschreibung hat kurze Zeit später WERNER HAUL (*236) auf vergleichbar breiter Materialbasis ausgearbeitet, so daß WILHELM VOSSKAMP in seiner umfassenden Abhandlung zu Romantheorien im 18.Jahrhundert (*268) schon auf einen hinreichend etablierten Begriff pragmatischen Erzählens aufbauen konnte. Vertieft wird diese romantheoretisch orientierte Forschung noch durch die Überlegungen ERNST WEBERS zur poetologischen Selbstreflexion (*272), einer praxisnäheren Form romantheoretischer Überlegungen, wie sie sich vor allem in Vorreden und romanimmanenten Äußerungen darbietet. 12 Dabei ergänzen sich die Untersuchungen von Becker zum Roman um 1780 (*222) und Hadley zum Roman um 1790 (*234) gerade in ihrem unterschiedlichen methodischen Vorgehen wie auch in den quantitativen Ergebnissen zu einem anschaulichen Bild der Veränderungen, die die Romanproduktion während dieses Jahrzehnts erfahren hat. So konnte Becker für das Erhebungsjahr 1780 noch eine an den Stillagen der klassischen Rhetorik onentierte Typologie von hohen, mittleren und niederen Romanen einführen; 1790 ist eine solche Klassifikation nicht mehr möglich, weil die Mischformen sowohl in inhaltlicher wie in erzählerischer Hinsicht Überhand nehmen. Hadley sieht sich nach eigenem Bekunden nicht mehr in der Lage, hier eine systematisch-verantwortete Typologie zu entwickeln; aber auch Beckers eingängige Klassifikation krankt bereits an der etwas willkürlichen Mischung inhaltlicher und formaler Aspekte.
10
Einleitung
induktiv erstellte Typologien; diese sind jedoch wiederum schwer mit der ausgearbeiteten Romanppetik zu vermitteln. Zu den prominenten Genres von Brief- und Dialogroman entwickelten sich zudem Ansätze einer Spezialforschung, die erste Vermittlungsmöglichkeiten zwischen dialogischen poetologischen Formen und dem damit verbundenen Subjektivitäts- und Wirklichkeitsbild erarbeiteten.13 So sehe ich besonders in HANS RUDOLF FIGAROS Feststellung, daß der Briefroman seine ästhetische Dignität durch die Berufung auf lebensweltliche Darstellungs formen erhält , einen weiteren bisher wenig beachteten Forschungsimpuls, den meine Untersuchung zuspitzen und in einen größeren sowohl gattungs- wie epochentheoretischen Zusammenhang stellen will. Die genannten Arbeiten partizipieren jedoch weiterhin am oben skizzierten Problem der Theorielastigkeit sowie an einer starken Isolation der Kontexte auf genuin literarische Bereiche; für die Spätaufklärung entscheidende außerliterarische Aspekte geraten über der Konzentration auf die poetologischen Konzepte weitgehend aus dem Blick. Diese Beschränkung machen neuere Untersuchungen aus den beginnenden 80er Jahren wieder rückgängig. So prägte HANS-JÜRGEN SCHINGS 1980 den ursprünglichen Begriff des anthropologischen Romans, den ich mit wesentlichen Erweiterungen vor allem in poetologischer Hinsicht auch meiner Untersuchung zugrundelege. Schings leitete seine Begriffsbildung aus einer thematischen Analyse der Wielandschen Romane ab: Beispielhaft zeigte er an ihnen, wie Problemstellungen der aufklärerischen Anthropologie aufgenommen und literarisch gestaltet werden; darüber hinaus entwickelt sich nach Schings primär in dieser Auseinandersetzung der psychologisch-anthropologische Roman als neues Genre. Damit ist sein Gattungsbegriff vor allem inhaltlich gefüllt; poetologische Konsequenzen sieht Schings nur im Falle Jean Pauls, der sich jedoch bereits wieder von der Traditionslinie des anthropologischen Romans absetze. Auch SlBYLLE GÖSSL16, die erstmals umfassend die Rezeption des französischen Mate-
13 So thematisiert Picard (*253) in seiner Untersuchung zum Thema Wirklichkeit im Briefroman vor allem die beiden dem Briefroman inhärenten, von ihm als gegenläufig interpretierten Tendenzen zur realistisch-dokumentarischen Darstellung auf der einen und einer ästhetisch-objektivierenden Gesamtkomposition auf der anderen Seite. Auch für WILHELM VOßKAMP (*287) sind dies Grundzüge des Genres; sein Konzept bezieht darüber hinaus Ansätze zu einer Brieftheorie - als Variante einer Dialogtheorie - sowie die Rolle des Lesers als wesentliche Ergänzungen mit ein. In ähnlicher Weise untersuchte HANS-GERHARD WINTER (*289) dialogtheoretische Ansätze in Moral- und Popularphilosophie der Zeit. 14 Vgl. Picard (*253, bes. S. 15). 15 Vgl. Schings (*257, S. 267). Schings konzentriert sich dabei bezeichnenderweise auf die Entwicklung von Wielands Frühwerk bis hin zum >AgathonZum Verhältnis von Literatur und AnthropologieZum Verhältnis von Romantheorie, Poetologie und TypologiePhilosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung< (1777)13 und DIETERICH TlEDEMANNS Untersuchungen über den MenschenVersuche< waren sein Hauptwerk und von einigem Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie Kants. Von Interesse für die Anthropologie ist vor allem der erste Band, der die einzelnen Seelenvcrmögen diskutiert; im zweiten Band thematisiert Tetens dann Entwicklungskonzepte der menschlichen Seele, wie sie in den 70er Jahren zunehmend diskutiert werden. Vgl. ausführlich zu Tetens Dessoir (*110, S. 333-356), der in den Philosophischen Versuche™ den »Gipfel« der »rein wissenschaftlichen Psychologie des 18.Jahrhunderts« (S. 356) sieht. Dieses Urteil gründet er vor allem auf Tetens' umfassende Quellenkenntnis, seinen scharfen Verstand und nicht zuletzt sein Streben nach Vermittlung zwischen »Gehimphysiologie und Seelentheologie, Metaphysik und Popularphilosophie, Determinismus und Indeterminismus, Epigenesis und Evolution« (S. 336). Den Einfluß der schottischen common-sense-Phäosophen Reid, Oswald und Beattie auf Tetens untersucht Manfred Kuehn (*135, S. 119-140). 14 *40; nach einem nachgelassenen Manuskript Tiedemanns (1748-1803) erschien außerdem 1804 ein >Handbuch der Psychologie, zum Gebrauche bei Vorlesungen und zur Selbstbelehrung bestimmt (*41), dem eine ausfuhrliche Biographie vorangestellt ist. Tiedemann beschäftigte sich intensiv mit antiker Philosophie; er übersetzte auch Reisebeschreibungen. Dessoir referiert die >Untersuchungen< ausführlich (*110, S. 179-183); vgl. auch Bezold, der an diesem Text die Nähe von Anthropologie und Schulphilosophie nachweist und sogar behauptet: »Man muß schon die Gegensätze - Deduktion vs. Empirie und natürlich das metaphysische Problem - idealtypisch pointieren, um von einem strengen Gegeneinander der Schulphilosophie und der Anthropologie sprechen zu können. Faktisch sind die Mischformen bei weitem in der Überzahl« (* 107, S. 123).
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Anthropologie im 18. Jahrhundert
ten, wie die schulphilosophische Tradition der psychologia raiionalis auf die Herausforderung einer zunehmend physiologisch orientierten Anthropologie reagiert. Tiedemann greift in seinen dezidiert an »philosophische Leser« (*40,1, S. XVI) gerichteten >Untersuchungen< zurück auf traditionelle Leibniz-Wolffsche Prinzipien: Eine empirische Psychologie auf Basis von »Erfahrung und Beobachtung« (I, S. XV) hat allein das Material zu liefern, das die Philosophie dann systematisch bearbeitet: Eine Seelen=Lehre, die weiter nichts enthielte, als eine Sammlung von Beobachtungen über die menschliche Seele, würde weiter nichts als Natur=Historie der Seele seyn; das, was sie zur Wißenschaft macht, ist die Anführung der Ursachen von den Erfahrungen, und die Erklärung der zusammengesetzten Seelen=Wirkungen durch die einfachen. (I, S. XXI).
Mit Hilfe der »Chymie der Abstraktion« (I, S. XXII) müssen also die vielfältigen Beobachtungen auf die einfache Vorstellungskraft - als Grundvermögen der Seele - zurückgeführt werden; das führt zu keinen großen Problemen, da ja - konsequent im Bild der »Chymie« gedacht - dem Grundvermögen die gleiche ontologische Qualität wie einem chemischen Element zukommt. Die so gewonnenen »allgemeinen Sätze« (I, S. XXXIV) können dann durch »bestimmte Erfahrungen« (ebd.) zusätzlich bewiesen und veranschaulicht werden. Die Verwendung alltäglicher Erfahrung in den Wissenschaften bedarf jedoch zusätzlicher Rechtfertigung und Entschuldigung des Autors: Daher bin ich genöthigt gewesen, meine Beyspiele oft aus dem gewöhnlichen und bekannten Leben des Menschen herzunehmen, und ich hoffe, man wird mich deswegen entschuldigen, wenn man erwägen wird, daß in einer so oft bearbeiteten Wißenschaft unmöglich alles neu, und außerordentlich seyn kann. (I, S. XXVIII)
Auch Tetens reklamiert für sein Vorhaben zunächst die beobachtende »Methode der Naturlehre« (*39, S. IV) nach Lockeschem Vorbild (ebd.): Die Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden; diese sorgfältig wiederholt, und mit Abänderung der Umstände gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdenn die Beobachtungen vergleichen, auflösen, und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung auf einander aufsuchen; dies sind die wesentlichsten Verrichtungen bey der psychologischen Analysis der Seele, die auf Erfahrungen beruhet, (ebd.)
Diese »Analysis der Seele« behandelt die aus empirischen Versuchen gewonnenen Daten nach Art einer Gleichung; durch »Beobachtung«, »Zergliederung« und »Vergleichung« erhält man »Allgemeinsätze der Erfahrung« (S.XVIf.). Das Ziel dieses Verfahrens sind »Vernunftschlüsse [...], von welchen allein nur die starke und feststehende Ueberzeugung zu erwarten ist, die der Forscher verlanget« (S. XVI). Der Betonung der Wichtigkeit empirischen Ausgangsmaterials korrespondiert eine ebenso feste Überzeugung von der vernünftigen Struktur der Seele, die eine Analyse - basiert sie nur auf hinreichendem Material und ist sie vollendet rational strukturiert - unfehlbar zum Vorschein bringen muß.
Zur Charakteristik der Wissenschaft vom Menschen
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Hingegen steht für Tetens die sogenannte »anthropologische Methode« (ebd.), die den Ausgangspunkt all ihrer Hypothesen in gehirnphysiologischen Vorgängen sucht, unter akutem Materialismusverdacht: Reduziert sie doch alle Veränderungen auf eine rein materielle, körperliche Basis. Solchen Thesen wirft er ironischerweise ihren spekulativen Charakter vor: Das Gehirn sei schließlich konkreten Beobachtungen noch weniger zugänglich als seelische Veränderungen, die immerhin in der Selbsterfahrung erlebt werden können (vgl. S. Vf.). Einen heuristischen Wert kann Tetens jedoch, in dieser Hinsicht erstaunlich unverkrampft, auch diesen »luftigen Systemenmachern« (S. XV) zugestehen; damit untrennbar verbunden seien andererseits die Nachteile, die sich aus dem Verzicht auf ein übergeordnetes Erklärungsmodell ergeben: Indessen ist es, so zu sagen, ein neuer Gesichtspunkt, wenn man die Seelenveränderungen sich von der Seite vorstellet, wo das Gehirn Antheil daran hat, und dieser kann eine Gelegenheit geben, sie besser und völliger zu sehen. [...] Die Begierde, Seelenbeschaffenheiten als Gehirnveränderungen sich vorzustellen, hat einige neuere Beobachter manches in den Gesetzen des Denkens übersehen lassen, was ihrer Scharfsinnigkeit nicht entwischt seyn würde, wenn sie diesen Theil unsers Innern nicht in der unvorteilhaften Stellung der Hypothese gesehen hätten. (S. XIVf.)
Selbstkritisch thematisiert Tetens auch die Probleme, die sich aus seiner Methodik von Beobachtung und vergleichender Verallgemeinerung ergeben. So besteht im Bereich der Beobachtung prinzipiell die Möglichkeit von Sinnen- oder Selbsttäuschungen durch eine zu starke Phantasietätigkeit (vgl. S. XVII) des Betrachters. Bezüglich seiner eigenen Schlußmethode der »psychologischen Analysis« (s. o.) problemati'siert Tetens vor allem die Zulässigkeit von Analogieschlüssen (vgl. S.XXIIf.), auf die die Seelenlehre wie kaum eine andere Wissenschaft angewiesen sei: Vom »Individuellen« (S. XIX) der Beobachtung führe der Weg zur »Uebersicht des Ganzen« (S. XXII) nur über die »Entdeckung des Aehnlichen« (ebd.). Tetens analysiert die ideologischen Implikationen solcher Analogieschlüsse treffend und bietet zugleich ein Patentrezept zur Überprüfung ihres Geltungsanspruchs an: Schließt man nach der Analogie, so wird vorausgesetzt, daß die Natur einförmig und sich im Innern ähnlich sey, von der wir doch auch zugleich wissen, daß sie die Abwechselung und Mannigfaltigkeit bis ins Unendliche liebet. Das letztere offenbaret sich am ersten und am häufigsten in den Großen, in Graden und Stufen', die Einförmigkeit findet mehr in den absoluten Qualitäten Statt. (S. XXIV)
Hier wird deutlich, daß sich zumindest die Begründung der Seelenlehre auf weitgehend empirisches Datenmaterial inzwischen auch in eher philosophisch orientierten Konzepten durchgesetzt hat: Wer über die menschliche Seele reden und nachdenken will, kann hinter die Methodik von Versuch und Beobachtung nicht zurückfallen. Hingegen besteht über die anzuwendenden Schlußverfahren Uneinigkeit. Wird die Lehre von der Seele als Bestandteil eines umfassenden philosophischen Konzeptes präsentiert, werden gemeinhin auch dessen epistemologische Prämissen übernommen: Das Untersuchungsmaterial wird dann vor allem de-
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duktiv strukturiert, um in der Analyse die - als verbindlich vorausgesetzten - zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten aufweisen zu können. Soll die Anthropologie hingegen als eigenständige, eigengesetzliche Wissenschaft etabliert werden, bietet sich zu diesem Zeitpunkt zum einen eine weit stärkere Orientierung an den deskriptiven Verfahren der Naturwissenschaft a la Krüger, zum anderen eine eklektizistische Mischung verschiedener Argumentations- und Schlußverfahren a la Platner an. Die Zulässigkeit von Analogiebildungen ist dabei ein Thema, das zunehmend an Interesse gewinnt15; diese spielen eine besondere Rolle in den anthropologischen Schriften Herders. 2.1.4. Analogieschlüsse und Dichtung als Quelle - Ausweitung der anthropologischen Methodik über die Grenzen der Empirie JOHANN GOTTFRIED HERDER verteidigt in seiner 1778 erschienenen Preisschrift >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seeled6 Analogieschlüsse als ausgezeichnete Form spezifisch menschlicher Erkenntnis: Der innere Zustand der Natur könne vom Menschen nicht unmittelbar erkannt, sondern nur über Parallelen zur Selbsterfahrung erschlossen werden. Herder legitimiert dieses Verfahren durch die auch von Tetens geforderte »Einförmigkeit« der Natur und die Annahme eines einheitlichen Seinsgrundes, aus dem alles Leben nach gleichen Gesetzen erzeugt wurde: Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer. (*10,S.665)
Um der solchermaßen unentbehrlichen Analogiebildung ein möglichst breites und zuverlässiges Quellenmaterial über die direkte Selbsterfahrung hinaus zugrundelegen zu können, empfiehlt Herder, kompetente Selbstbeobachter zu Rate zu ziehen. Aussagefähige Quellen sind für ihn an erster Stelle Lebensbeschreibungen (vgl. S. 675), darüber hinaus Berichte aus zweiter Hand von Ärzten und Freunden (vgl. S. 677) und schließlich »Weissagungen und geheime Ahndungen der Dichter« (S. 679), die die Tiefe der Seele intuitiv erfassen; so bezeichnet er Shakespeare und Klopstock direkt als »Physiologen« (S. 678). Damit gewinnen nun auch literarische Texte anthropologische Relevanz, und zwar nicht nur zu Belegzwecken, sondern als besonders geeignetes Quellenmaterial.
15 Vgl. dazu allgemein beispielsweise die Aufsätze von Seile (*101) und Herz (*95). 16 *10; >Vom Erkennen und Empfinden< ist gegliedert in zwei »Versuche«: Der erste behandelt den Ursprung von Gedanken und Gefühlen auf reizesphysiologischer Basis (s. u. Kap. 2.2, S. 67); im zweiten wird die Beziehung von Denken und Empfinden sowohl in der Entwicklung des Individuums wie der Menschheit erörtert (s. u. Kap. 2.5, S. 104-106). Zu Herders anthropologischen Schriften vgl. insbesondere Nisbet (*145), Fink (*114); speziell zu >Vom Erkennen und Empfinden< Sauder (*187, S. 181f.). 17 Zur Kritik der Anwendung des Analogieprinzips bei Herder durch Kant vgl. Nisbet (*145, S. 17) und Irmscher (*124; dort zu >Vom Erkennen und Empfinden< S. 85f.).
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Die hier vorgenommene Ausweitung sowohl der anthropologischen Datenbasis wie auch der Schlußverfahren über die bisher kanonisierten Formen von Versuch, Beobachtung und verallgemeinernder Systematisierung hinaus ist jedoch nicht typisch für die aufklärerische Anthropologie. Herders Forderungen weisen vielmehr in vielem voraus auf Formen und Fragestellungen romantischer Anthropologie. Gemeinsamkeiten ergeben sich dabei in der Betonung der subjektiven Erfahrung statt der objektivierenden Beobachtung, der Rolle der Analogie sowohl als Schlußverfahren wie auch als Verbindungsglied zwischen verschiedenen Seinsbereichen und nicht zuletzt dem monistischen Weltbild, das Dualismen als Polaritäten behandelt. Trotzdem ist Herders Modell sowohl der aufklärerischen Anthropologie verpflichtet - beispielsweise in seiner physiologischen Argumentation - wie auch von Bedeutung für deren weitere Entwicklung und besonders ihre Aufnahme und Umsetzung in der Literatur. 2.1.5. Materialismus in Deutschland - Anthropologien der 80er Jahre Eine problematische Seinserfahrung steht am Beginn einer weiteren Dichter-Anthropologie, nämlich des eingangs dieses Kapitels zitierten >Versuch über die Kenntniß des Menschern (1784/85) von JOHANN KARL WEZEL:18 Die Frage nach dem Sinn des Seins im Zwiespalt zwischen Determination und menschlicher Bestimmung: unaufhörlich gezwungen, das zu seyn, was er ist, möchte er gern wissen, warum und wie er es ist (*44,1,5.3).
Mit Wezel datiert man gemeinhin die Ankunft der Einflüsse des französischen Materialismus in der deutschen Anthropologie; bei genauer Textbetrachtung er-
18 *44; der >Versuch< sollte ursprünglich fünf Bände umfassen, von denen nur die ersten beiden veröffentlicht wurden. Der erste Band enthält allgemeine Überlegungen zur »Mechanik der Seele« (s.u. Kap.2.2, S.69-71). Im zweiten Band ist die Affektenlehre ausgeführt (s.u. Kap.2.3, S.82-85). Ein dritter Band hätte, so Wezel in der Einleitung des 1. Bandes, die Ideen des Menschen behandelt; im vierten wäre der Bereich des »Wollens und Thuns« des Menschen untersucht worden; ein fünfter hätte schließlich über den Bereich der Anthropologie hinausgegnffen auf hypothetische Theorien über die Natur des Menschen (I, S. 6). Während der >Versuch< selbst bisher wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat, erlangte die Kontroverse zwischen den beiden Anthropologen Platner und Wezel einige Berühmtheit; vgl. hierzu beispielsweise Kreymborg (*377, S. 117120) und Kosenina (*131, S. 92-101), der nachzuweisen versucht, daß Wezel Platner als Quelle für den >Versuch< - den Wezel gleichzeitig als Konkurrenzprojekt zu Platners >Anthropologie< versteht - benutzt hat. Zu den weiteren Quellen des >Versuch< und den Reaktionen der Zeitgenossen vgl. Henning (*119). Vor allem paraphrasierend verfährt Adel in seinem Kapitel über den >VersuchVersuch< mit Tiedemanns »Untersuchungen über den Menschen« (s. o. S. 31), in dem er recht präzise die Unterschiede zwischen einem auf der Leibnizschen Philosophie beruhenden »Handbuch der Seelenlehre« (*370, S. 167) und Wezels »auf materialistischer Grundlage« (ebd.) basierenden Werk darstellt.
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weist sich Wezel jedoch keineswegs durchgängig als das materialistische Schreckgespenst, zu dem ihn eine verallgemeinernde Rezeption gemacht hat. Am Beginn seines >Versuch< stehen ausfuhrliche Reflexionen über eine anthropologische Methode, die in ihrer Präzision und ihrem Bemühen um eine sinnvolle, nicht selbstzweckhaft erstarrte Systematik zu dieser Zeit kaum ihresgleichen haben. So beschreibt Wezel zunächst mögliche Vorgehensweisen des Anthropologen, wie sie ähnlich bereits Krüger erwogen hatte: Beobachtete Phänomene könnten verifiziert werden, indem man versucht, sich selbst in vergleichbare Umstände zu versetzen, und die eigene Reaktion beobachtet; auch Dritte könnten gezielt in manipulierbare Versuchssituationen gebracht werden (vgl. I, S. 58f.). Unentbehrlich für all diese Verfahren ist das Gebot zur Selbstdistanzierung: Wir wollen uns also ganz in unsere Vorstellung zurückziehn, selbst den Körper als eine Sache außer uns betrachten [...], eine Maschine seyn, worin wir Wirkungen wahrnehmen, die wechselweise einander veranlassen. (I, S. 67f.)
Hier ist die Nähe zu materialistischen Denkweisen bereits in der Formulierung enthalten; ergänzend fordert Wezel aber in einem zweiten Schritt unabdingbar die Rückkehr zum »thätigem Wesen« (ebd.) des Menschen; Ziel solle eben nicht die fraktionierende Betrachtungsweise einer Maschine und einer immateriellen Substanz, sondern die Wiederherstellung der Verknüpfung beider Teile sein.19 Dabei prägt die Maschinenmetaphorik weite Teile des Textes; die Begrifflichkeit mechanischer Analyse wird immer wieder auf das Vorgehen des praktizierenden Anthropologen übertragen: Ich zerlege daher die Federn des menschlichen Triebwerks, untersuche sie einzel [sie!], die Wirkung einer jeden und ihren Zusammenhang mit den übrigen, zeige ihr Spiel stückweise, und dann setze ich die Maschine zusammen [...]. Man sieht daraus, daß mein Buch eigendich in die Gränzen keiner unter den bekannten Wissenschaften paßt, welche Theile vom Menschen zum Gegenstande haben. (I, S.11)
Diese Methode hat für Wezel jedoch rein heuristischen Wert; er wendet sich sogar explizit in fast an Herder erinnernder Metaphorik gegen die weit verbreiteten Tendenzen zur Hypostasierung erkenntnistheoretischer Hilfskategorien: Viele Philosophen sprechen so von der Seele, als wenn sie sich Gedächtniß, Einbildungskraft, Verstand, wie Theile neben einander, dächten, oder als wenn sie sich die Ideen, wie Bilder auf der Leinwand, vorstellten. [...] Wer hingegen alles im Menschen und der Seele sich als vorübergehende Wirkungen denkt, die er z. B. mit den Tönen der Saiten, oder mit den Schwingungen der Luft in Vergleichung bringt, der ist auf einem ungleich bessern Wege. (I, S. 65f.)
Organizistische Vorstellungen beispielsweise vom Kosmos (vgl. I, S. 53) stehen so bei Wezel gleichberechtigt neben physiologischen Modellen der Ärzte-Anthropologie und Versatzstücken des Materialismus wie der Klima- und Milieutheo-
19 Vgl. hierzu das Zitat in der Einleitung (S. 21).
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rie.20 Integriert werden sie durch ein logisches Verknüpfungsmodell. Dieses unterscheidet präzise zwischen beobachtbaren Phänomenen auf empirischer Ebene, ihnen zugrundegelegten Ursachen - die vielfältigster Art von klimatischen Einflüssen bis zu Ereignissen bei der Zeugung sein können - und deren Verbindung nach logischen und physiologischen Gesetzen. So entsteht eine Art anthropologischer Matrix, die sich sowohl in systematischer wie auch in heuristischer Hinsicht als sehr ertragreich erweist.21 Diese basiert nicht auf ideologischen Vorannahmen wie das analogische Schlußverfahren - oder metaphysischen Gewißheiten - wie Tiedemanns »Chymie der Abstraktion« (s. o.) oder Tetens »Analysis der Seele« (s. o.) - , sondern auf dem von Wezel einzig anerkannten »Geset% der allgemeinen Verknüpfung.*. (I, S. 129). Statt eindimensionaler Ursache-Wirkungs-Schemata konstruiert er ein mehrdimensionales Feld, innerhalb dessen verschiedenartige Wirkungen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander in Verbindung treten können. Die reale Vielfalt möglicher Einflußfaktoren auf die leibliche und seelische Entwicklung des Menschen findet hier erstmals in der Modellbildung einen adäquaten Niederschlag; erstmals ist hier auch ein weitgehend induktives Vorgehen skizziert, das die Zahl relevanter Vorannahmen bewußt niedrig hält und damit die Unabhängigkeit der Anthropologie z. B. von der Philosophie auch in der Methode reflektiert. Die Materialismus-Rezeption in Deutschland ist auch im Werk MICHAEL HlSSMANNS nachzuweisen. In seinen 1788 erschienenen Psychologischen Versuchen. Ein Beytrag zur esoterischen LogikUeber den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen seiner Natur< (*37). Sein systematischer Neuansatz ist der einer komparativen Anthropologie: So nimmt er sowohl im somalischen wie im psychologischen Bereich den Ausgang von einer ausführlichen vergleichenden Analyse entsprechender körperlicher und geistiger Fähigkeiten bei Mensch und Tier. Im dntten Teil, der sich mit den Wirkungen von Gewohnheit, Sprache und Gesellschaft auf die Entwicklung des Menschen beschäftigt, werden auch kulturelle und geschichtliche Einflüsse integriert. 21 Zur Struktur dieser Matrix s. u. Kap. 2.2, S. 69-71. 22 *12; Michael Hissmann (1752-1784), ab 1782 Professor der Philosophie in Göttingen, war ein entschiedener Gegner des Wolffiamsmus und ebenso entschiedener Verteidiger des englischen und französischen Sensualismus. In seiner kurzen Lebensdauer war er von großer schriftstellerischer Produktivität: So gab er von 1778-1783 ein >Magazm für die Philosophie und ihre Geschichte< heraus; 1776 erschien seine >Geschichte der Lehre von der Association der Ideen< (*11); er war auch als Übersetzer tätig (so erschien 1780 seine Condillac-Übersetzung) und verfaßte eine LeibnizBiographie. Sein psychologisches Werk wurde schon früh gewürdigt; so heißt es beispielsweise in der Allgemeinen Deutschen Biographie«: »Eine einläßliche Geschichte der Psychologie [...] würde an Hissmann einen immerhin hervorragenden Autor zu besprechen haben.« (*406; Bd. 12, S. 503). Lobend äußert sich auch der ansonsten recht kritische Dessoir (*110, S. 211-214).
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Wie der Theologe an die Unsterblichkeit der immateriellen Seele »glaubt« (S. 13) Hissmann an deren »Materialität«23 - und zwar ohne deshalb die Unsterblichkeitshoffnung dahinzugehen. Ist sie aber materiell, so der Schluß, muß eine neue, nicht-theologische, nicht-spekulative Psychologie entstehen, die »nur der physiologische und anatomische Psycholog« (S. 11) schreiben kann. Diese kann niemals Anspruch auf dogmatische Gewißheit erheben; sie beruht auf empirischen Beobachtungen, medizinischen Tatsachen und will bestenfalls Wahrscheinlichkeit erreichen (vgl. S. 18). Hissmann formuliert hier, weitreichender noch als Wezel, auch ein neues Erkenntnisideal: Die Anthropologie konkurriert nicht mehr mit der Philosophie um wahre Erkenntnis; dies bedeutet jedoch nicht automatisch eine Einschränkung des eigenen Geltungsbereichs, sondern dieser wird im Gegenteil gefestigt durch ihm adäquate Erkenntnisziele und Geltungsansprüche. Damit ist ein weiterer entscheidender Schritt zur Emanzipation der Anthropologie von der Philosophie vollzogen. 2.1.6. Zwei exemplarische philosophische Ärzte - die spätaufklärerische Anthropologie auf ihrem Höhepunkt Gegen den Einfluß der Materialisten in der Anthropologie erhebt sich in den 90er Jahren eine starke Reaktion sowohl von philosophischer Seite wie auch von den Ärzte-Anthropologen selbst. So ist beispielsweise ERNST PLATNERS 1790 erschienene, stark veränderte >Neue AnthropologieNeuen AnthropologieNeuen Anlhropologie< findet sich im zweiten Buch, das von den Wirkungen der menschlichen Seele< handelt. Hier erarbeitet Plainer über seine bereits in der ersten >Anthropologie< vorgetragene Theorie der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinneseindrücken hinaus eine Theorie der Empfindungen und des Willens, die das »Eigentlich Menschliche« als Mischprodukt aus den idealtypisch verstandenen Konstrukten reiner Geistigkeit und reiner tierischer Organisation herleitet.27 Auch der durch Schiller und Herder eingeleiteten Erweiterung des Anthropologie-Begriffs in Richtung Gainings- und Menschheitsgeschichte trägt Plainer zumindest mit einer Absichtserklärung Rechnung: So war ursprünglich ein drittes Buch zu »enlstandenen Fähigkeilen der menschlichen Natur« - also eine Art Kulturgeschichte des Menschen -, ein viertes Buch zu »zufälligen Bestimmungen der menschlichen Natur« - also eine Erweilerung in Richtung Milieutheorien - sowie eine spezielle Pathologie zu besonders merkwürdigen Erscheinungen des Menschen vorgesehen (*29, Inhalt [unpag.]). Methodisch bleibt Plainer jedoch weilerhin hinter den ungleich reflektierteren und elaborierleren Konzepten der slärker materialistisch orientierten Anthropologen zurück. Seine Argumentation folgt über weite Strecken tradierten metaphysischen Mustern, die lelzllich seiner allen Anhängerschaft an das Leibniz-Wolffsche-Sysiem zu verdanken sind. Dies wird z. B. deullich in der Definition von Grundvermögen und Grundtrieben in Termini der »Vollkommenheit« wie auch dem extremen Bemühen um systematische Vollsländigkeit und Geschlossenheit was zu einigen vermeidbaren Redundanzen führt. Auch der ideologische Grundzug ist in der >Neuen Anlhropologie< beinahe noch stärker ausgeprägt als in ihrer Vorgängerin: Das Wesen des menschlichen Körpers wird hier bestimmt aus seinem Endzweck; sein Endzweck aber ist, der Seele zum Werkzeuge zu dienen (I, S. 63).
Insgesamt zeigen sich so in der >Neuen Anthropologie< die Tendenzen, die auch den Inhalt prägen - ein verschärfter Leib-Seele-Dualismus bei gleichzeitigem Bemühen, die Grenzen weitmöglichst durch Minimalisierung der Komponenten zu verwischen; eine Rückkehr zu tradierten philosophischen und medizingeschichllichen Theoremen - auch in der Methodik: Weit unverbundener als im ursprünglichen Text stehen medizinische und philosophische Argumentationsmusler nebeneinander; verbunden werden sie eher nach dem Prinzip der Mischung als dem der Durchdringung. Die Stärken der >Neuen Anthropologie< liegen eher in der Vollsländigkeil und Konsequenz, mil der hier die menschliche Seele in all ihren
26 Gegen die medizinischen Theorien zur Reizleitung von Boerhave und Haller argumentiert Plainer z. B. in Kap. 3 und Kap. 11, 1. Buch. 27 S.u. Kap.2.3, S.86-87.
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Facetten der Untersuchung unterzogen wird; methodische Eigenständigkeit oder Originalität ist weder angestrebt noch verwirklicht. Geradezu das Gegenteil von Plainer, und zwar in jeder Beziehung, ist MELCHIOR ADAM WEICKARD, dessen Philosophischer ArztVäterlichen Rath für meine Tochter< (*91). In beiden Schriften macht der Entwurf eines »allgemeinen Menschengemäldes« einen großen Teil des Textes aus; eine pragmatische Form der Menschenkenntnis, vor allem in Form verschiedener »Menschenklassen«, ist unerläßlich sowohl für den aufstrebenden Jüngling wie die »Frauenzimmer des glücklichen Mittelstandes« (*91, S. VIII). 32 *1; Jacob Friedrich Abel (1751-1829) war ab 1772 Professor an der Carlsschule in Stuttgart; sein berühmtester Schüler war Friedrich Schiller, den er in dieser frühen Phase auch stark beeinflußte. Vgl. hierzu Riedel (*156) sowie speziell zu den moralischen Erzählungen mit ihrer »denkwürdigen Allianz von Erzählkunst und Psychologie« (*154, S. 32). Dessoir führt Abel unter den »Eklektikern« (*110, S. 265Q.
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Der Zusammenhang von Glückseligkeit und Seelenlehre liegt dabei in der moralischen Orientierung letzterer begründet: Menschenkenntnis allein ermöglicht sowohl die Wertschätzung wie auch die praktische Umsetzung menschlicher Tugenden: Da uns Menschenkenntniß mehr als irgend etwas von dem Glück der Tugend und von dem Unglück des Lasters überhaupt [...] über2eugt, und da wir nur durch Kenntniß der Seele gewisse Seelenzustände, Ideen und Empfindungen herrschend zu machen, zu unterdrücken oder zu modificiren wissen, und folglich theils die Mittel der Tugend erforschen, theils anwenden können, so ist sie auch zur Tugend unentbehrlich. (S. XXXII)
Der wieder erstarkende Zugriff der Moralphilosophie auf eine bereits weitgehend emanzipiert geglaubte Psychologie macht sich hier unübersehbar bemerkbar.33 Dementsprechend wird auch die Bedeutung leiblicher Einflüsse auf die Seele weitgehend zurückgedrängt: So stellt Abel sogar in Zweifel, ob das Gehirn überhaupt zur Wahrnehmung zwingend erforderlich ist (vgl. S. 23). Auch LUDWIG HEINRICH JAKOBS 1791 erschienener >Grundriß der Erfahrungs-SeelenlehreSeelenlehre< weist Riedel (*154) hin, der auch die einzelnen Quellen für die >Seelenlehre< nennt. Riedel betont besonders den Widerspruch zwischen der »influxionistischen« Philosophie Abels und seiner von einem antiken Tugendideal geprägten »Ethik der Autonomie« (S. 49), wie er sich in Abels moralischen Erzählungen auftut: »Man muß jedoch sehen, daß hier bei Abel zwei Gedankensysteme aufeinanderprallen, die gänzlich verschiedenen Regeln folgen, zwei Diskurswelten, die er nicht vermitteln kann, die ihm vielmehr hoffnungslos auseinanderfallen: eine psychologische und eine moralphilosophische Ordnung des Denkens.« (ebd.) 34 *18; Ludwig Heinrich Jakob (1759-1827) war ab 1785 Philosophieprofessor in Halle und KantAnhänger. Der >Grundriß< wird seinem eigenen Anspruch als Lehrbuch und Kompendium in perfekter Weise gerecht: Enthält er doch ohne besondere Ambitionen auf darstellerische und sachliche Originalität die wesentlichen Bestandteile der anthropologischen Fachdiskussion bis dato in komprimierter Form - also eine Zusammenstellung aus einer traditionellen Vermögenslehre, einer Theorie von Wahrnehmung, Erkenntnis und Willen, einer Besprechung der Ausnahmephänomene sowie Ansätze zu einer Gattungstheorie des Menschen. Die »ungemeine Deutlichkeit, Präcision und Vollständigkeit« (*21, Bd. l, S. 306f.) lobt auch der Rezensent in Maucharts Allgemeinem Repertorium< (s. u. S. 44). Ein genaueres Referat des >Grundriß< gibt Dessoir (*110, S. 243-248), der ebenfalls trotz der zugestandenen »Klarheit und Meisterschaft« in methodischen Grundfragen bemängelt, daß »ein peinlicher Rest aus der Zeit der Vermögen« (S. 245) geblieben sei.
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Die Referenz auf die Methodik von Physik und Chemie verweist bei Jakob auf den gleichen methodischen Ansatz wie bei Tetens:35 Das Datenmaterial wird durch »Sammeln« von »Beobachtungen und Versuchen« (ebd.) bereitgestellt und anschließend »nach den bekannten allgemeinen Erfahrungsgesetzen« »verglichen« (S. 2f.). Auch Jakob ist dabei bestrebt, die Datenbasis möglichst zu erweitem: So erstellt er eine Hierarchie der Quellen, in der Selbstbeobachtung an oberster Stelle vor der Beobachtung Anderer und vor Schriften aus Philosophie und Literatur rangiert; letztere, so sein Zusatz, dürfen nur nachträglich zu Bestätigungszwecken, nie aber zu Herleitungszwecken benutzt werden. Modell wie Vorgehensweise erscheinen zu diesem Zeitpunkt als weitgehend etabliert und konsensfähig vor allem für die eher psychologisch als anthropologisch orientierten Forscher. Offensichtlich hat es die Wissenschaft vom Menschen schwerer, sich unter dem Obertitel einer reinen »Seelenlehre« von philosophischen Vorbildern zu emanzipieren, als dies stärker physiologisch konzipierten Modellen möglich ist: Zwar erkennt man die Notwendigkeit empirischer Vorgehensweisen an, mißt sie aber weiterhin am Erkenntnismodell der Metaphysik mit ihrem Anspruch auf systematische Allgemeingültigkeit und Wahrheit. Die lebenskundliche Ausprägung der spätaufklärerischen Erfahrungs-Seelenlehre - wiederum in der kantischen Variante - präsentiert beispielsweise JOHANN CHRISTIAN GOTTLIEB SCHAUMANN mit seiner >Psyche oder Unterhaltungen über die Seele< (179l).36 Die Seelenlehre steht hier ganz in der Tradition von Klugheitslehre und moralischer Nützlichkeit, wenn auch nicht auf metaphysischer, sondern eher alltagsweltlicher Ebene: Die durch sie erlangte Kenntnis seiner selbst verhilft dem Menschen zu Klugheit und Gehorsam Gott gegenüber; sie schafft die Grundlage für die den Zeitgenossen so wichtigen »geselligen Tugenden« (*31, S. X). Nicht zuletzt macht sie die Lektüre von literarischen Werken erst wahrhaft nützlich, indem sie die Neugierde von der Fabel ab- und auf die Betrachtung der Charaktere und deren Motivation hinzieht (vgl. S. XI)37 - ein pragmatisches Beispiel für die Verbindung von Anthropologie und Literatur. Physiologische Tatsachen werden bei Schaumann nur noch sporadisch erwähnt; sogar die alte Rückführung der Vermögen auf verschiedene Arten von Vorstellungen wird
35 S.o. S. 31 f. 36 *31; Johann Christian Gottlieb Schaumann (1768-1821) ist ebenfalls überzeugter Kantianer; seine popularphilosophischen Interessen dokumentieren auch die 1792 erschienenen >Ideen zu einer Kriminalpsychologie< (*98), die die Abgründe des Verbrechens aus der relativierenden Perspektive des Seelenkundlers betrachten: »sie [die Kriminalpsychologie] führt tiefer in das Innre der Handlungen und des Handelnden hinein, und findet in dem Gewebe der Vorstellungen, Neigungen und Triebe, an welches sich die Handlung knüpfte, nie blos den Finger des Bösen, oft statt der verabscheuungswürdigen Gesinnung, die der Schein zu verrathen schien, mitleidswürdige Schwäche« (zitiert nach: Sauder; *187, S. 84). 37 Diesen Aspekt der Anleitung zur richtigen Lektüre hebt auch der Rezensent in Maucharts Allgemeinem Repertorium< (*21, Bd. l, S. 311) eigens hervor; vgl. hierzu Kap. 3.1.
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reaktiviert. Die moralische Gewichtung der Vermögenstheorie tritt hier wieder ganz in den Vordergrund und damit auch das rationalistische Problem der Domestizierung von Leidenschaften und Phantasie.38 Typisch für die Seelenlehre und Anthropologie der deutschen Spätaufklärung sind des weiteren die Fachzeitschriften, die sich ab den 80er Jahren entweder an ein breites oder ein fachlich interessiertes Publikum wenden.39 Einige von ihnen sollen hier exemplarisch vorgestellt werden: - JACOB FRIEDRICH ABEL veröffentlicht 1784 und 1787 in zwei Bänden die >Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Lebern.40 In der Art des >Magazins zur Erfahrungsseelenkunde< werden hier zum einen pathologische psychologische Phänomene geschildert, zum anderen anthropologische und psychologische Erkenntnisse zur Untersuchung alltäglicher Erfahrungen angewendet; so wird beispielsweise das »Gefühl des Feyerlichen an Sonn- und Feyertagen« (Bd. I, S. 165-201) genauso analysiert wie der ästhetische Eindruck, den der Mond auf die Menschen macht (Bd. I, S. 153155). - IMMANUEL DAVID MAUCHART41 widmet seinen Vorgängern Moritz und Abel seine >Phänomene der menschlichen Seele. Eine Materialien-Sammlung zur künftigen Aufklärung in der Erfahrungs=Seelenlehre< (1789). Die »MaterialienSammlung« soll im Gegensatz zu deren Veröffentlichungen nur allgemeine Beobachtungen unrubriziert der Forschung als Material zur Verfügung stellen. Mauchart konzentriert sich dabei, ähnlich wie Abel, nicht auf auffallende Phänomene, sondern vielmehr auf »alltägliche und eben deswegen den meisten unbedeutend dünkende Erscheinungen in der menschlichen Seele« (*22, S. VIII); besonders interessiert er sich für Wirkungen der Einbildungskraft wie bei-
38 Vgl. Kap. 2.4, S. 101-102. Ähnlich auch Dessoir (*110, S.281F.): Er verreißt die >Psyche< erbarmungslos als Mischung aus »wissenschaftlich wertlosen Redereien, gespickt mit Zitaten aus Dichtwerken und widerwärtigen Sentimentalitäten« (S. 281), der das »Schielen nach der moralischen Nutzanwendung« (S. 282) völlig den Blick verstelle. 39 Die berühmteste von ihnen, das >Magazin der Erfahrungsseelenkunde< von Karl Philipp Moritz, hat in der germanistischen Forschung hinreichend Beachtung gefunden und wird deshalb hier nicht behandelt; vgl. hierzu Bezolds hervorragende Studie (*107) oder Dessoir (*110, S. 283-288). Bezold macht zudem deutlich, daß sich das >Magazin< gerade von der stärker physiologisch orientierten Anthropologie energisch absetzt. Er stellt es vielmehr in die Tradition der »psychologischen Curen«, von denen es das »Konzept einer nichtphysiologischen Psychologie, den Dualismus, den schulphilosophischen Grundsatz der Seelentätigkeit und den therapeutischen Ansatz nicht von der somatischen, sondern von der seelischen Seite aus« (*107, S. 132f.) übernommen habe. 40 *2;s.o. S.41,Anm. 32. 41 *22; zu Immanuel David Mauchart (1764-1826) sind nur wenige biographische Fakten bekannt; er wirkte seit 1793 als Diakon in Nürtingen. Vgl. auch Dessoir (*110, S.295F.) sowie Schlaffer (*259, S.135f).
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spielsweise in den Untersuchungen über das Vergnügen am Historischen, besonders an RomanenUeber das Kriegerische in unsern Spielern. Ein Jahr später erscheint der erste Band von Maucharts Allgemeinem Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften^43 Interessant sind vor allem die Überlegungen zur Begrifflichkeit, die Mauchart in seiner Vorrede unternimmt: Die »empirische Psychologie« setzt er mit der »Erfahrungsseelenkunde« gleich; die »Experimentalseelenkunde« hingegen sei wegen ihrer starken Orientierung an der naturwissenschaftlichen Methode des Experiments nur ein Teilgebiet der ersten beiden. Von der alten Wölfischen »rationalen Seelenlehre« ist die empirische Psychologie ausschließlich durch ihre analytische Methodik unterschieden; beiläufig unterminiert Mauchart jedoch diese Bestimmung: Freylich ist im Grunde auch in der rationalen Psychologie, die Kapitel von dem Ursprünge, dem Wesen und der Fortdauer der Seele nach dem Tode des Leibes ausgenommen, alles empirisch, wir können von unserer Seele nichts mit Gewißheit wissen, was uns nicht durch Erfahrung gegeben ist, und auch jene Kapitel, was sind sie anders, als mehr oder minder wahrscheinliche Hypothesen? (*21, Bd.I, S. VIII)
In einem Nebensatz wird damit der rationalen Psychologie praktisch der Garaus gemacht; das >Repertorium< konzentriert sich deshalb neben den üblichen seelenkundlichen Abhandlungen auf die Gebiete der praktischen Anwendung psychologischer Erkenntnisse: Sowohl Seelsorgern wie Juristen, Pädagogen und auch Dichtern werden eigene Abteilungen eingeräumt, in die sie für die Seelenkunde relevante Erfahrungsberichte einrücken können. Schließlich runden Rezensionen den Vorläufer von >Psychologie heute< ab. Mauchart ordnet diese Veröffentlichung, wie er im nach einer fünfjährigen Pause erschienenen vierten Band (1798) ausführt, zwischen dem inzwischen eingestellten >Magazin für Erfahrungsseelenkunde< und dem nachfolgend behandelten Psychologischen Magazin< von Schmid ein: Während Moritz sozusagen nur ungegliedert den Stoff für eine Erfahrungsseelenkunde dargeboten habe und Schmid auf der anderen Seite ein stärker wissenschaftlich-systemati-
42 Dieser Beitrag wird in Kap. 3.1 behandelt; s. u. S. 129-131. 43 *21. Die ersten beiden Bände des >Repertoriums< erscheinen 1792; der dritte Band 1793, der vierte erst 1798. Die Wiederaufnahme begründet Mauchart mit der zwischenzeitlichen Einstellung des Moritzschen >MagazinRepertorium und Bibliothek für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften hinzu; dieser Doppeltitel erscheint ein weiteres Mal 1801 (vgl. auch Dessoir, *110, S.288f.). Die >Materialien für die Anthropologie^ die Eberhard Gmelin 1791 (*9) herausgab, sind hingegen - so der Rezensent in Maucharts >Repertorium< (*21, Bd.I, S.319) wie auch Dessoir (*110, S. 497f.) - ein Tarntitel für Untersuchungen ausschließlich über den »thierischen Magnetismus«; ein verwandter Fall ist das >Archiv der Schwärmerey und Aufklärung< (*67; 1788), in dem ebenfalls dieses Themengebiet breit behandelt wird. Vgl. zum Magnetismus Anneliese Ego (*195).
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sches Interesse verfolge, sieht er sein >Magazin< als Beitrag zu einer primär lebenskundlich orientierten, angewandten Psychologie: dieß Repertorium hingegen hat vielmehr den Zwek, diese gemeinnüzige Wissenschaft mehr in Umlauf zu sezen, und ihre Anwendung aufs Leben [...] zu befördern (*21, Bd. IV, S. Vif).
- CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID gibt von 1796 bis 1798 ein Psychologisches MagazÜK44 heraus. Auch er bezieht sich bei der Schilderung seines Plans explizit auf Moritz' >MagazinGeschichte eines HypochondristenÜber das zweckmäßige Studieren, besonders auf Universitäten^. Ansonsten haben die meisten Hefte in durchaus moderner publizistischer Manier Schwerpunktthemen, die mit verschiedenen Auszügen aus anderen Publikationen bestritten werden47; größere Beiträge werden in mehreren Fortsetzungen immer wieder aufgenommen. Dabei gewinnen die praktischen Beiträge bald quantitativ
44 *35; Carl [auch: Karl] Christian Erhard Schrrud (1761-1812) war seit 1793 Professor der Theologie und Philosophie in Jena; vgl. auch Dessoir (*110, S. 289f). 45 Vgl. hierzu Heinz (*364). 46 *36; vgl. auch Dessoir (*110, S. 290). 47 Ein besonderer thematischer Schwerpunkt des >Journals< liegt dabei auf dem Gebiet der Völkerkunde; diverse »Charakteristiken« einzelner Völkerschaften füllen ganze Bände. Auch die Geschlechtertypologie wird umfassender abgehandelt. Bei beiden Themen handelt es sich um typische anthropologische Problemstellungen der späten 90er Jahre im Übergang zur Romantik.
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das Übergewicht; für große theoretische Auseinandersetzungen erweist sich das Medium »populärwissenschaftliche Zeitschrift« insgesamt als ungeeignet. In bezeichnender Weise schwanken also auch die seelenkundlichen Periodika der 80er und 90er Jahre zwischen reiner Materialsammlung und wissenschaftlicher Kategorisierung, zwischen Konzentration auf das Besondere und Pathologische auf der einen Seite und Analyse des Alltäglichen auf der anderen, zwischen rationalistischer Vermögensanalyse, materialistischer Ethnologie und praktischer Lebenskunde. Als letzter gemeinsamer Nenner, als eigentliches Spezifikum der Wissenschaft vom Menschen erweist sich zunehmend ihre Methodik: Mittels präziser empirischer Beobachtung und der induktiven Konstitution von Erfahrungsgesetzen grenzt sie sich gegen eine zunehmend anekdotische, populäre Erfahrungsseelenkunde wie gegen eine rein deduktive, philosophische Seelenbetrachtung ab. Erstere mag das Material liefern, letztere den systematischen Überbau; zwischen beiden bewegt sich der Anthropologe mit seinem Bemühen um verifizierbare Formulierung von Erfahrungsgesetzen. 2.1.8. Die Anthropologie im systematischen Kontext der kritischen Philosophie - Wörterbuch des Menschen und empirische Morallehre Die pragmatische Anthropologie IMMANUEL KANTS48 unterscheidet sich von den eher empirisch oder systematisch orientierten Richtungen der anthropologischen Fachdiskussion vor allem durch ihre starke moralische Komponente; in einer berühmten Formulierung: Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer I Imsicht sein. - Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll. (*19, S. 399)
Das Ziel der pragmatischen Anthropologie ist damit nicht eigentlich Kenntnis der menschlichen Natur, sondern »Weltkenntnis« (ebd.) eines »Weltbürgers« (S. 400); sie wird gefördert durch Reisen und die Lektüre von »Weltgeschichte, Biogra-
48 *19; zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Hinske (*121). Kants >Anthropologie< ist, entsprechend der Unterteilung der Kritiken in Elementar- und Methodenlehre, in die »Anthropologische Didaktik« und eine »anthropologische Charakteristik« aufgeteilt; der erste Teil behandelt dabei nacheinander Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen. In der »Charakteristik« wird eine Art überarbeitete Temperamentenlehre und Physiognomik aufgestellt, die um Rassen- und Gattungsgesichtspunkte erweitert wird. Auf Kants umfassendes und ohne die Beziehung zu seiner kritischen Philosophie nicht denkbares Anthropologie-Konzept kann hier nicht genauer eingegangen werden; es ist jedoch die bestuntersuchtc Anthropologie des 18.Jahrhunderts (vgl. hierzu Brandt *109, Hinske *121, Jauß *125, Otte *146, Pfotenhauer *147); zudem sind, wie auch Riedel immer wieder betont, für die Diskussion des 18. Jahrhunderts die Platnersche Anthropologie und die Varianten der Ärzte-Anthropologie im allgemeinen von größerer Bedeutung.
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phien, ja Schauspielen und Romanen« (S. 40l).49 Ihre wissenschaftliche Systematik wird gewährleistet durch die Oberaufsicht der Philosophie; ihre praktische Nutzbarkeit durch ihre populäre Darstellung. Kant versteht sein eigenes Anthropologie-Projekt als eine Art Wörterbuch der Menschenkenntnis, das darüber hinaus die Spezialforschung anregen und befruchten soll: Eine systematisch entworfene und doch populär [...] in pragmatischer Hinsicht abgefaßte Anthropologie führt den Vorteil für das lesende Publikum bei sich: daß durch die Vollständigkeit der Titel, unter welche diese oder jene menschliche, ins Praktische einschlagende, beobachtete Eigenschaft gebracht werden kann, so viel Veranlassungen und Aufforderungen demselben hiemiet gegeben werden, jede besondere zu einem eigenen Thema zu machen, um sie in das ihr zugehörende Fach zu stellen; wodurch die Arbeiten in derselben sich von selbst unter die Liebhaber dieses Studiums verteilen und durch die Einheit des Plans nach gerade zu einem Ganzen vereinigt werden [...] wird. (S. 402)
Trotz ihres angestrebten Nutzwertes für die Lebenspraxis ist die kantische Anthropologie alles andere als empirisch in ihrer Methodik: Die Herleitung der einzelnen Vermögen im ersten Teil, der »anthropologischen Didaktik«, ist rein deduktiv aus der kantischen Systemphilosophie abgeleitet; die anthropologische Zutat besteht nur in der Anwendung dieser Kategorien auf die gemeine Erfahrung. Über weite Strecken ist die >Anthropologie in pragmatischer Hinsicht< deshalb eine Art Register zur Kategorisierung alltäglichen Erlebens, ein Angebot zur Reduzierung lebensweltlicher Komplexität in sprachlicher Hinsicht; ein beliebiges Beispiel: Der Mangel der Urteilskraft ohne Witz ist Dummheit (stupiditas). Derselbe Mangel aber mit Wit^ ist Albernheit. - Wer Urteilskraft in Geschäften zeigt, ist gescheut. Hat er dabei zugleich Witz, so heißt er klug. - Der, welcher eine dieser Eigenschaften bloß affektiert, der Wildling sowohl als der Kliigling, ist ein ekelhaftes Subjekt. (S. 516)
Eine in dieser Weise als pragmatisch verstandene Anthropologie hat ihren wissenschaftlichen Eigenwert verloren und ist auf rein instrumentelle Weise der Philosophie untergeordnet: Als Nachschlagwerk menschlicher Leistungen wie Sonderlichkeiten liefert sie nur noch Illustrationen für die Moralphilosophie. Auch Kant hat jedoch die von ihm selbst nicht veröffentlichte, außerordentlich populär konzipierte Anthropologie-Vorlesung nicht für das letzte Wort in Sachen Anthropologie als Wissenschaft gehalten; darauf weist ja auch der Zusatz »in pragmatischer Hinsicht« hin. Den möglichen Stellenwert einer wissenschaftlichen Anthropologie im System der kritischen Philosophie verdeutlicht der Lexikonartikel »Anthropologie« in GEORG SAMUEL ALBERT MELLINS >Encyclopädischem Wörterbuch der Kritischen Philosophie< von 1797. Mellin unterscheidet zunächst
49 Die gezielte Ausklammerung aller somalischen Tatbestände betont auch Bezold (vgl. *107, S. 138f); er zieht von hier aus eine Linie zu Kants Schrift >Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein< (*80; s. u. Kap. 4.2).
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zwischen einer theoretischen und einer praktischen Variante. Die theoretische ist wiederum dreigeteilt in: - die Anthropologie des »äußern Sinnes« (*25, S. 277), synonym mit Physiologie, Körperlehre, Somatik; sie beruht auf reiner Physik, ergänzt um die Kategorie animistischer Reizbarkeit (vgl. S. 278f.); sie hat einen allgemeinen und einen besonderen, d. h. pathologischen Teil; - die »Anthropologie des innern Sinnes« (S. 278f.), synonym mit empirischer Psychologie oder Erfahrungsseelenkunde, rationaler Seelenlehre; sie ist in metaphysischer Hinsicht rein negativ - bestimmt also die Grenzen möglichen Wissens um die Seele - und ansonsten empirisch auf das »denkende Selbst« (S. 279) bezogen; - die »Anthropologie des Menschen überhaupt«, synonym mit Menschenlehre oder Anthropologie im engeren Sinne; sie bezieht sich auf die aufklärerische Kerndefinition des Menschen als ein aus physischen und geistigen Bestandteilen zusammengesetztes Wesen (vgl. S. 277); auch sie hat völlig empirisch zu sein. Die praktische Anthropologie hingegen ist der »empirische Theil der Ethik« (S. 279), synonym mit Tugendlehre und angewandter Philosophie der Sitten; sie lehrt dem' Menschen seine Rechte und Pflichten und berücksichtigt dabei - hier ist der Unterschied zur reinen Moralphilosophie zu sehen - seine sinnlichen Triebfedern.50 Ob nach dieser Definition sowohl die praktische als auch die theoretische Anthropologie Konkurrenzprojekte zur kritischen Moral- und Erkenntnisphilosophie wären oder nur eine Art empirisches »Unterfutter« ausschließlich für den Bürger des kantischen »Reichs der Notwendigkeit«, bleibt allerdings offen. Eine letzte mögliche Ausprägung wäre schließlich, so Mellin, eine »pragmatische Anthropologie« als »Organon der Klugheit« (S. 281). Diese liefert einen wesentlichen Beitrag zu den insgesamt recht unterschiedlichen Aufgaben, die Mellin der Anthropologie anweist: Der Nutzen der Anthropologie ist Beförderung der Moralität, der Geschicklichkeit im Umgange mit Menschen und der Unterhaltung, indem sie Stoff dazu liefert, und, durch die Beobachtung der Menschen in Gesellschaft, die sie erfordert, auch die Langeweile in sonst nicht unterhaltenden Gesellschaften verhindert. (S. 281)
Ansporn zur Moral und Allheilmittel gegen die Langeweile - hier hat sich die Anthropologie doch recht weit von ihren wissenschaftlichen Idealen entfernt. Trotz dieser unterschwelligen Geringschätzung bei Mellin demonstriert die von
50 Vgl. hierzu beispielsweise Christian Ludwig Funks >Versuch einer praktischen Anthropologie, oder Anleitung zur Kenntniß des Menschen und zur Vervollkommnung seiner Seelenkräfte< aus dem Jahr 1803 (*8). Dieser enthält im ersten Teil eine >Anleitung zur Kenntniß des Menschen* - also eine durchaus konventionelle, vermögenstheoretisch organisierte Anthropologie - und im zweiten eine explizite >Anleitung zur Vervollkommnung der menschlichen SeelenkräfteGedancken von den Würckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper< aus dem Jahr 1744.4 Nicolai definiert die Seele in der Monadentradition als Spiegel von äußerster Exaktheit, der zusätzlich durch Selbstbewußtsein ausgezeichnet ist: Kein Maler ist mit aller seiner Kunst nicht vermögend, eine Sache so genau zu treffen als es die Seele thut, sie ahmet der Natur in ihrer Malerey so vollkommen nach, daß nichts drüber ist (*26, S. 2).
Äußere Dinge werden im Spiegel der Seele als Vorstellungen abgebildet; dabei unterscheiden sie sich vor allem durch den Grad ihrer Bewußtheit, die in traditionellen schulphilosophischen Termini als klar oder dunkel, deutlich oder verworren, lebhaft oder schwach gekennzeichnet wird. Erreicht die Vorstellung einen hohen Grad von Bewußtheit und Unterscheidungskraft gegenüber anderen Vorstellungen, ist sie ein Gedanke. Für Nicolai beruhen jedoch auch Empfindungen oder Einbildungen auf Vorstellungen und sind damit nur defizitäre Ausprägungen des intellektualistischen Grundmusters: Die Empfindung bezieht sich auf gegenwärtige Objekte, die Einbildung auf die Vorstellung vergangener (vgl. S. 12 u. S. 16). Das eigentliche Thema der Nicolaischen Schrift sind nun die Wirkungen der Einbildungskraft auf die leibliche Verfassung; also mögliche Beispiele eines influxus idealis. Daß Leib und Seele in der »genauesten Harmonie« (S. 49) stehen, ist für Nicolai wie für die gesamte Aufklärung anthropologisches Apriori; im seelisch inferioren Bereich der Einbildungskraft äußert sich diese Übereinstimmung primär bei der Entstehung von Krankheiten, sie kann aber auch »zur Erhaltung der Gesundheit und Cur der Kranckheiten sehr vieles beytragen« (S. 51). Nicolais Beispielsammlung aus seiner reichen medizinischen Erfahrung erstreckt sich im pathologischen Bereich von eher konventionellen Leib-Seele-Phänomenen wie der Melancholie (vgl. § 35, S. 70f.) und dem Heimweh (vgl. § 36, S. 71 f.) über die Muttermale und Mißgeburten (vgl. §43, S. 87f.)5 bis hin zu Kuriositäten wie der Geschichte von dem Mann, der seine Beine für einen Strohhalm hielt (vgl. § 54, S. 110-112).6 Wissenschaftlich avancierter ist seine Theorie, daß die Seele mittels der Einbildungskraft auch verantwortlich für alle alltäglichen leiblichen Funktionen sei:
Im folgenden zitiert nach der 2. Auflage von 1751 (*26); Ernst Anton Nicolai (1722-1802) lehrte als Professor der Medizin in Halle und Jena. Medizinisch war Nicolai ein Anhänger der latromathematik, philosophisch vertrat er einen konservativen Leibniz-Wolffianischen Standpunkt. Zu den >Gedancken< vgl. auch Kap. 2.4, S. 88-90. Ein Thema, das sich im Verlauf des Jahrhunderts zu einem anthropologischen Renner entwickeln sollte, und heutzutage unter der Kategorie »Mythologie des Alltags« offensichtlich ins Repertoire von Boulevardzeitungen und Regenbogenpresse abgewandert ist. Dies ist wohl ein klassisches Beispiel für anthropologische Legendenbildung; die Geschichte geht, wie Nicolai anmerkt, auf eine Anekdote Boerhavens zurück und führte ein langes Leben in der Geschichte der Anthropologie.
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Anthropologie im 18. Jahrhundert Ich rechne dahin den Hunger, den Durst, das Urinlassen, die Oefnung des Leibes, das Bewegen der Menschen, das Athemholen, das Gähnen, Lachen, Weinen, u. s. w. (S. 202)
All diese Vorgänge erklärt Nicolai mit dem »Gesetz« (S. 17) der Einbildungskraft, einer Variante der verbreiteten Assoziationstheorie: Vorstelllangen, die einmal miteinander verbunden erfahren wurden, rufen sich auch bei Wiederholung nur eines Teils der Erfahrung gegenseitig wieder hervor (vgl. § 10f., S. 17-20). Ein beliebiges Beispiel sei zitiert: Mit dem Urinlassen hat es eben die Bewandniß wie mit der Oefnung des Leibes [...]. Der Urin macht nemlich in der Blase eine unangenehme Empfindung. Die Seele hat dafür einen Abscheu und sucht dieselbe loß zu werden. Da wir nun aus unendlich vielen Fällen wissen, daß diese unangenehme Empfindung aufgehöret hat, wenn wir den Urin gelassen haben, so steh uns dieses die Einbildungskraft bey vorkommenden Falle dunckel wieder vor [...]. Indessen hat es doch hierbey nicht sein Bewenden, sondern wir stellen uns zugleich auch vor, wie wir es sonsten angefangen haben, da dieses Verlangen ist ins Werck gerichtet worden, als, daß wir den Athem an uns gehalten und die Muskeln des Unterleibes zusammengezogen haben. (S. 209)
Die Seele bestimmt also selbst die primitivsten körperlichen Funktionen: Ohne das - wenn auch sehr dunkle - Bewußtsein der Einbildungskraft von einmal aus Erfahrung abgeleiteten Regeln wird überhaupt kein Fuß auf dieser Erde bewegt. Die Einbildungskraft wird als rein reproduktives Vermögen verstanden; als solches ist sie jedoch unentbehrlich für jegliche menschliche Tätigkeit, die sich nicht im Bereich des reinen Verstandes bewegt. Der influxus idea/is funktioniert deshalb, weil dem Menschen alle seine seelischen Regungen als - mal stärker, mal schwächer - bewußte Vorstellungen gegenwärtig sind und jederzeit willkürlich in Bewegungen umgesetzt werden können. Auch GEORG FRIEDRICH MEIER beschäftigt sich im letzten Hauptstück seiner /Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt^ mit den »Veränderungen des Körpers in den Gemüthsbewegungen« (*23, S. 390). Die anfangs vorgestellten philosophischen Modelle einer Verbindung lehnt er allesamt ab: Ich richte hier mein Absehen, weder auf die vorherbestimte Uebereinstimmung (prästabilierte Harmonie], noch auf den physischen Einfluß [influxus physicus], noch auf die gelegentlichen Ursachen [Occasionalismus]. (S. 390f.)
Statt dessen bezeichnet er sich als »Harmonist« (ebd.); diese Position erläutert er mit der nun schon bekannten Standardformel: Ich setze zum Grunde, daß zwischen Leib und Seele die allergenaueste Übereinstimmung [meine Hervorhebung] durch die Natur vestgestelt sey, man mag nun dieselbe erklären, wie man es für gut befindet. (S. 391 f.)
Diese Übereinstimmung wird für Meier durch einen »idealischen Einfluß des Körpers in die Seele [...], niemals aber durch einen physischen« (S. 395) hergestellt. Anders als in der Nicolaischen Assoziationstheorie wird dieser influxus idea/is nun aber bei Meier im Kontext seiner physiognomisch argumentierenden Anthropo-
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*23; s. o. S. 25.
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logic nach einem Zeichenmodell vorgestellt. Eine körperliche Bewegung hat ihren Grund immer in einer seelischen, die sie im Bereich des Körpers nur abbildet: Die erste ist gleichsam ein Gemälde oder hieroglyphisches Zeichen der letztem. (S. 392)
Da es sich bei Seele und Körper jedoch um kategorial geschiedene Substanzen handelt, kann die Ähnlichkeit nicht auf einer qualitativen Gemeinsamkeit, sondern nur auf einer quantitativen Relation beruhen: Die beiden Veränderungen sind proportional zueinander, könnten also beispielsweise mit Hilfe einer Zahlenskala ausgedrückt werden (vgl. S. 393). Auch in diesem Modell ist es jedoch völlig unmöglich, daß Leidenschaften beispielsweise von einer körperlichen Erfahrung ausgehen: die Seele bedarf zu den Leidenschaften keines Körpers, als einer Ursach, die durch einen physischen Einfluß sie in Bewegung setzte. (S. 406)
Rehabilitierung der Sinnlichkeit und physiologische Vermittlungsmodelle Folgelasten des commeraum-Ptoblems in der Ärzte-Anthropologie Mit seiner Darstellung der Seele wie des commemum-Ptoblems bricht JOHANN GOTTLOB KRÜGER in seiner >Experimental-SeelenlehreAnthropologie für Aerzte und WeltweiseAnthropologie< Planners fallt sonst in vielem, beispielsweise im Konzept einer immateriellen Seele, hinter Krüger zurück. Zum commeraum-Problem bei Platner vgl. auch Schöndorf (* 160). 11 Vgl. zum folgenden besonders 2. Hauptstück: >Von der Erzeugung der IdeenVon dem GedächtnisVon der Phantasien
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binieren kann. Selbst die Vernunft14 unterliegt noch physiologisch-kontingenten Einflüssen: Die Ideen werden automatisch nach mechanischen Assoziationsgesetzen miteinander verbunden; die Vernunft ist dabei darauf angewiesen, deutliche und lebhafte Vorstellungen von den Sinnen geliefert zu bekommen. Platners recht modern anmutendes Modell zur Entstehung von Wahrnehmung durch Reizleitung zum Gehirn hat schwerwiegende Folgelasten. So läßt sich aus der Theorie des Gedächtnisses als Massenspeicher von Eindrücken unschwer der Schluß ziehen, daß in der Seele auch unbewußte Vorstellungen existieren, die laut Platner »unerwartete Gedächtnisideen« (S. 140) und »Einfalle« (S. 139) spontan evozieren können. Damit ist ein völlig neuer, unberechenbarer Bereich des Seelischen eröffnet, der sich jeglicher Begründung durch Vernunft- oder durch Erfahrungsgesetze sperrt. Des weiteren führt Platners Wahrnehmungstheorie zwingend zu einem erkenntnistheoretischem Skeptizismus: Da alle unsere Wahrnehmung auf den physiologischen Vorgängen in den Nerven und im Gehirnmark beruht, nehmen wir niemals die Dinge selbst wahr, sondern nur ihre Wirkungen auf unsere Sinneswerkzeuge: Die Seele erkennt also die Objekte nicht selbst, sondern nur die Verhältnisse in denen sie, ihrer Natur nach, mit ihnen steht. (S. 95)
Zum dritten schließlich nötigt Platner die Reduzierung aller geistigen Fähigkeiten - sogar der Vernunfttätigkeit - auf eine physiologische Basis zu taktischen Abgrenzungsmanövem: »Diese Erklärung ist kein Materialismus« (S. 93), muß er zur ideologischen Absicherung seiner Hypothese behaupten. Tatsächlich hat er damit in gewisser Weise recht: Denn zum einen hält er neben seinem physiologischen Modell weiter - wenn auch relativ unvermittelt - an dem metaphysischen Konzept einer immateriellen Seele fest, die vom Nervensaft nicht »berührt« (ebd.) wird;
14 Vgl. hierzu 5. Hauptstück: >Von der Vernunft und ihren verschiedenen Äußerungen!. 15 Man vergleiche beispielsweise Eccles' Darstellung des neurologischen Aufbaus des Gehirns (*149): Man nimmt heute an, daß die Sinnesorgane Impulse durch die Nerven zum Gehirn übermitteln; dabei entspricht der Stärke des Reizes die Entladungsfrequenz der Impulse. Die Vermittlung geschieht nicht direkt, sondern über die Synapsen, die die Neuronen miteinander verbinden; an diesen Umschaltstellen werden die Reize geringfügig modifiziert. Die Großhirnrinde ist unterteilt in Felder mit verschiedener funktioneller Ausdifferenzierung; so hat beispielsweise jeder Sinn ein eigenes Feld in der Großhirnrinde, die somit einer »Landkarte« des Körpers entspricht. Nicht jede Wahrnehmung wird bewußt realisiert, sondern die Impulsstärke muß einen gewissen Schwellenwert überschreiten. Das Prinzip, nach dem der »Selbstbewußte Geist« diese Wahrnehmungen als bewußt realisiert, benennt auch Eccles noch mit dem klassischen Namen der »Aufmerksamkeit«. Zum zeitgenössischen Wissen über Aufbau und Struktur des Gehirns vgl. den Beitrag von Hagner über Wandlungen der vergleichenden Gehirnanatomie am Ende des 18. Jahrhunderts, der am Beispiel der drei Ärzte Soemmering, Reil und Gall die »Bedingungen für das Programm einer philosophischen Anatomie, seine Intention und Formulierung und sein verhältnismäßig rasches Scheitern« (*118, S. 145) beschreibt.
Zur Debatte um das commemum-Ptoblem
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zum anderen sind die Verbindungen zwischen Seele und Leib in seinem Modell zwar mannigfaltig und auf vielen Ebenen angesiedelt, es besteht aber weiterhin ein qualitativer Sprung im Übergang von der noch ganz mechanisch gedachten inneren Impression als Abbild im Gehirnmark zur daran anschließenden Bewußtseinstätigkeit nach dem abstrakten Prinzip der Aufmerksamkeit, die diesen Abdruck zu einer Idee macht. Das Skandalen der physischen Determination schließlich, das sich bereits bei Krüger ergab, versucht Platner durch sein ideologisches Konzept der »Stufenleiter« (S. 289) abzuschwächen: Zwar sind die Seelen wie auch die Körper und dementsprechend die individuellen Fähigkeiten verschieden; sie tragen jedoch in der »verschiedenen Vollkommenheit der angebohrnen Seelen« (ebd.) zur allgemeinen Vollkommenheit der Natur bei, sind also nicht einfach aufgrund einer physiologisch minderwertigen Ausstattung von vornherein benachteiligt. Quantitative Übergänge und polare Modelle - die monistische Unterwanderung des commercium-Problems in den 70er Jahren Platner war in seiner Anthropologie von zwei »Grundkräften« (S. 30) der menschlichen Seele ausgegangen: der »Kraft des Denkens« als logischer »Einsicht der Einstimmung und des Widerspruchs«16 und der »Kraft des Wollens« (vgl. §§ 10711 T).17 Zunehmend setzen sich in dieser Frage in den 70er Jahren monistische Konzepte durch. JOHANN GOTTFRIED HERDERS und JOHANN AUGUST EBERHARDS Antworten auf verschiedene Preisfragen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin1^ gehen beide von einer einheitlichen Grundkraft des Menschen aus, die sich in Denken und Wollen nur verschieden äußert. Bezeichnend für diese Entwicklung ist die schon bei Platner angelegte Bedeutungsverschiebung: Statt von Vermögen spricht man nun von Kräften - die im rationalistischen Begriff des Vermögens immer noch enthaltene passive Komponente wird abgelöst durch ein dynamischeres Konzept menschlicher Potenzen.19 Das
16 Hier zeigt sich noch deutlich die Wolffsche Bestimmung des Satzes vom Widerspruch als erkenntnisleitendes Prinzip auch im Bereich der Seelenlehre; die beiden Grundkräfte selbst sind ebenfalls von Wolff übernommen. 17 Die Grundkraft des Willens sollte in einem geplanten zweiten Teil behandelt werden, der nicht mehr veröffentlicht wurde; statt dessen erschien 1790 die völlig überarbeitete >Neue Anthropologie^ 18 Vgl. hierzu Sauder (*187, S. 120f). 19 Vgl. zum Kräfte-Konzept in den >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Nisbet (*145, S. 8f.). Nisbet hebt besonders hervor, daß es sich dabei eigentlich um eine sprachliche Verschleierung handelt, die den darunter immer noch vorhandenen Dualismus nur überdeckt: Es handele sich bei den Kräften trotz der physikalischen Metaphorik um eine metaphysische Kategorie. Solange man Herders Grundannahme, nämlich die apodiktische In-Eins-Setzung von Physik und Metaphysik, nicht mitmacht, ist dieser Vorwurf auch berechtigt; seinen Monismus kann Herder nicht begründen, sondern nur aufgrund intuitiver Erfahrung behaupten.
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wird hier unter einem anderen Aspekt thematisiert: Im Vordergrund steht nicht mehr die Kommunikation von leiblichen und seelischen Instanzen bei Erfahrungs- und Denkprozessen, sondern das Verhältnis von »Kopf« und »Herz«. Damit verschieben sich die Interessen der Anthropologie von der Erkenntnistheorie hin zur praktischen Moralphilosophie: Abstraktes Denken - als geistige Domäne - und konkretes Handeln - motiviert durch das leibgebundene Gefühl - sollen in ihrer Verbundenheit vorgeführt und als gleichberechtigte, gleichursprüngliche Bestandteile menschlichen Lebens etabliert werden. Für Eberhard20 in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens< (1776) liegt die gesuchte einzige Grundkraft der Seele noch ganz rationalistisch in ihrem unspezifischen »Bestreben Vorstellungen zu haben« (*6, S. 33). Die Einheitlichkeit der Seele in all ihren Äußerungs formen begründet er darüber hinaus mit der Erfahrung personaler Identität im gleichbleibenden Bewußtsein seiner selbst; er spricht hier von einer »transcendentalen Psychologie« (S. 19). Daneben führt er auch ganz ungeniert ein forschungspragmatisches Argument an: Man kann also mit Recht behaupten, daß dadurch erst die Psychologie die Gestalt einer Wissenschaft erhalten hat, daß die neuere Philosophie alle Veränderungen der Seele auf Eine Grundkraft zurückzubringen gesucht hat. Warum solte man nun das in dieser Wissenschaft verschmähen, da man in der Naturlehre und allen ändern Wissenschaften es für eine Unvollkommenheit halten muß, wenn man für jede Art der Erscheinung ein neues unabhängiges Principium anzunehmen genöthiget ist? (S. 29f.)
Die einigermaßen widersprüchliche Berufung auf vermeintliche Erkenntnisprinzipien der exakten Naturwissenschaften auf der einen Seite und philosophische Begründungsmuster auf der anderen spiegelt sich auch in Eberhards Modell zum Verhältnis von Denken und Empfinden. So macht er zu Beschreibungszwecken ausgiebig Gebrauch von einer extrem mechanistisch geprägten Metaphorik. Auf der Suche nach dem »allgemeinen Triebrad« (S. 30) entdeckt er im Körper des Menschen »unendlich viele Triebräder« (S. 62), die benötigt werden, um ihn in Bewegung zu setzen. Diesen muß - »nach dem genauen Bande zwischen der Seele und dem Leibe« (ebd.), das in bekannter Weise axiomatisch vorausgesetzt wird eine proportionale Anzahl von »unsichtbaren Elementarvorstellungen« (ebd.) in der Seele entsprechen. Das Ziel der Psychologie ist deshalb für Eberhard zunächst eine -»Mathematik der See/e«, die es ermöglichen würde, Einzelvorstellungen nach ihrer Größe und dem Grad ihrer Zusammensetzung miteinander zu vergleichen (S. 67).
20 *6; Johann August Eberhard (1739-1809) erhielt 1776 den Preis der Berliner Akademie für seine Allgemeine Theorie des Denkens und Empfmdens< und wurde daraufhin 1778 Professor der Philosophie in Halle. Ab 1786 war Eberhard Prediger in Berlin und verkehrte dort mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn. Er war einer der entschiedensten Gegner der Philosophie Kants und gab zu deren Bekämpfung mehrere Zeitschriften heraus; sein eigener Standpunkt war der der Philosophie Leibniz'. Vgl. auch Dessoir (*110, S. 176-178).
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Diese quantitative Argumentation ist wichtig für Eberhards Unterscheidung der beiden Modi von Denken und Empfinden: Während beim Denken nämlich die Wirklichkeit vorzugsweise als einheitlich klar und deutlich in einer hervorgehobenen Einzelwahrnehmung erfaßt wird, bleibt beim Empfinden die Mannigfaltigkeit der Perzeptionen erhalten. Eberhard bietet hier ein Verfahren an, mittels dessen die rationalistische Trennung der klaren und deutlichen Perzeptionen von verworrenen sozusagen quantitativ untermauert werden kann; die damit verbundene Wertung prägt seine Schlüsse noch weitgehend. So gibt es Subjektivität für ihn nur auf der Ebene der vielfältigen, verworrenen Empfindung, während »allezeit auf einerley Art gedacht werden« (S. 109) muß. Beide Formen können jedoch - eben aufgrund ihres rein quantitativen Charakters - zwanglos ineinander übergehen: bey einem eingeschränkten Wesen wird in eben dem Verhältniß, worinn das Mannichfaltige, die Wärme und Stärke, in einer Totalvorstellung zunimmt, die Intensität der Einheit oder die Deutlichkeit abnehmen, und umgekehret (S. 78).
Mit einem lapidaren Satz verwirft Herder21 in >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele< hingegen die bei Eberhardt noch fraglos vorausgesetzte Allgemeinverbindlichkeit objektiven Denkens: Nicht nur unsere Empfindungen sind subjektiv, sondern auch eine »allgemeine Menschenvemunft« (*10, S. 703) ist ein reines Konstrukt: Der tiefste Grund unsres Daseins ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken. (S. 697)
Mit dieser harmlosen Feststellung ist eines der wichtigsten Axiome rationalistischer Philosophie beseitigt: Individualität auch im Bereich des geistigen Lebens wie sie Krüger noch unter dem negativen Vorzeichen der Beschränkung, der Verzerrung der Wirklichkeit diagnostizierte - erhält einen positiven Wert. Zwischen Denken und Empfinden als gleichberechtigten, gleich notwendigen und gleichermaßen individuellen Polen spielt sich bei Herder das Leben des Menschen ab. Zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses bedient er sich eines mathematischen Modells von hoher Anschaulichkeit: Die menschliche Seele durchläuft in ihrer Aktivität eine elliptische Bahn; dabei ist sie im Idealfall beiden Brennpunkten der Ellipse - nämlich Kopf und Herz - gleich nahe (S. 699). Ansonsten bevorzugt Herder besonders in seiner genetischen Erklärung der Entstehung von Denken und Empfinden im ersten Teil der Preisschrift eine dem Gegenstand angeglichene biologische bzw. Naturmetaphorik. Nach seiner bereits geschilderten Methode der Analogieschlüsse beginnt er mit der Untersuchung physiologischer Sinnesreize22; diese funktionieren nach den Gesetzen von Zu-
21 *10;s.o. S. 34, Anm.16. 22 Vgl. zu den zeitgenössischen Quellen von Herders Sinnes- und Reizphysiologie Hafner (*117, bes. S. 395-400). Hafner verweist hier besonders auf Charles Bonnet, von dem Herder vor allem die
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sammenziehen und Ausdehnung, die Herder immer wieder in Bildern von »Ebbe und Flut« (S. 668) schildert. Diese pulsierenden Reize werden von den Nerven und den Sinnen verarbeitet. Die Nerven gehorchen dabei dem gleichen universalen Prinzip von Expansion und Kontraktion; hinzu kommt als Medium die Sinnlichkeit, die keinesfalls mehr mechanisch als »Hieb und Stoß«, als »hölzerner Webstuhl« vorstellbar ist, sondern vielmehr als »ätherischer Strom« (S. 686), als »zarte Silberbande« (S. 684) alles im »Meer« (S. 681) der Sinnlichkeit verknüpft. Diese vielfältigen Perzeptionen werden nun von der Seele ab einer gewissen »Helle« (S. 687) zu Apperzeptionen, also bewußten Empfindungen, verknüpft; der Gedanke wiederum - hier trifft sich Herder erneut mit Eberhard - reduziert die Vielfalt zur Einheit. Auch auf dieser Ebene gilt qua Analogie das gleiche Naturgesetz: Erkennen und Wollen bewegen sich zwischen den Polen von Mitgefühl - also Ausdehnung - und Selbstgefühl - dem Zusammenziehen (S. 693). Trotz der ähnlichen Ausgangsposition bezüglich des Verhältnisses von Denken und Empfinden - nämlich ihrer Auffassung als Modifikationen einer einheitlichen seelischen Grundkraft in Richtung auf Einheit oder Vielfalt - könnte die Darstellung des commera»m-Pioblems bei Herder und Eberhard unterschiedlicher kaum sein. Für beide ist es aufgrund ihrer monistischen Grundannahmen kein wesentliches Problem; beide fühlen sich jedoch verpflichtet, zumindest kurz darauf einzugehen. Eberhard erwähnt zunächst die klassische Konsens-Formel des »genauesten Bandes« (*6, S. 130), um dann eine für sein eigenes Konzept viel bezeichnendere Formulierung vorzuschlagen: Für ihn ist der Körper das vollkommenste körperliche Automaton und die Seele das vollkommenste geistige Automaton (S. 131).
Der Zusammenhang der beiden Automaten besteht dann in der eineindeutigen Entsprechung körperlicher Triebräder und seelischer »kleiner blinder Triebfedern« (S. 132). Von Interesse ist allerdings eigentlich nur die seelische Mechanik: Sie allein schafft die Vorstellungen, die das Denken wie das Empfinden des Menschen konstituieren; der Körper ist reines Ausführungsorgan. Herder hingegen lehnt energisch jeden Versuch einer mechanistischen Erklärung ab: Mit dem sogenannten »Einfluß der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele« hat es eben die Bewandtnis. Sollte hier etwas durch Zirbeldrüse, elastischgespannte Nerven, Hieb und Stoß erklärt werden, so stehe man immer an und leugne. Nun aber, da unser Gebäude nichts von solchem hölzernen Webstuhle weiß, da Alles in Reiz und Duft und Kraft und ätherischem Strom schwimmet, da unser ganzer Körper in seinen mancherlei Teilen so mannigfaltig beseelt, nur Ein Reich unsichtbarer, inniger, aber minder heller und dunkler Kräfte zu sein scheinet, das im genauesten Bande ist mit der Monarchin, die in uns denket und will [...]: was natürlicher, als daß sie über die
Einbeziehung sinnesphysiologischer Erkenntnisse in einen »theologisch akzentuierten kulturgeschichtlichen Horizont« (S. 395) übernahm.
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herrsche, ohne die sie nicht das a/äre, was sie ist? denn nur durch dies Reich, in diesem Zusammenhange ward und ist sie menschliche Seele. (*10, S. 686)
Qualitative Analogie versus atomistische Korrelation: Hier zeigen sich mit aller Deutlichkeit die Unterschiede, die sich aus einem dem Materialismus nahestehenden Atomismus und einem naturphüosophisch beeinflußten Monismus ergeben. Äußere Einflüsse und Atomisierung - die Verlagerung des commervtum-Problems in den 80er Jahren Bezeichnenderweise taucht der Begriff der Seele bei WEZEL in seinem >Versuch über die Kenntniß des MenschenVersuch< - die Frage nach der Seele selbst ganz ausspart, beschäftigt sich der zweite bereits vorgestellte »Materialist« unter den deutschen Anthropologen, MICHAEL HlSSMANN27, ausgiebig mit dem tradierten philosophischen Konzept der einfachen, unteilbaren Seele. Seine Abrechnung damit ist trotz aller Polemik wohlbegründet und resümiert den neuesten Stand der anthropologischen Forschung um 1780: Wenn Sensibilität und Bewußtseyn, Gedächtniß und Einbildungskraft, Verstand und Vernunft, nach allen Erfahrungen, lediglich von gewissen inneren Theilen unsers Körpers abhängen; noch mehr, wenn die Stärke und Schwäche aller dieser Kräfte mit der Stärke des inneren und des äußeren Mechanismus, mit der glüklichen oder unglüklichen Constitution der festen und der flüssigen Theile unsers Körper zu- und abnimt; [...] endlich, wenn mich keine einzige Erfahrung auf ein einfaches Wesen führt, das vom Gehirn wesentlich verschieden [...]: so körnt mir kein Gedanke, der je von einem Menschen gedacht worden, sonderbarer und unbegreiflicher vor, als der Gedanke von einem einfachen, im Menschen wohnenden Wesen, und die willkührliche Umschaffung des Gehirns in ein einfaches Wesen. (*12, S. 248f.)
Die hier von Hissmann angedeutete, konsequente Gleichsetzung von Seele und Gehirn - wobei er gnädig zugesteht, daß man »den Ausdruck Seek, und Seelenkräfte immer beybehalten könne« (S. 252) - ist die avancierteste materialistische Position zur Frage der Seele. Er selbst diskutiert ausgiebig Fragen der Gehirnanatomie28; daneben sei gemäß des konventionellen materialistischen Kanons der »Einfluß des Klimas, des Alters, der Nahrungsmittel auf die Denkkraft« (S. 251) zu untersuchen. Aus dem Konzept des Gehirns als denkendem Wesen ergibt sich auch Hissmanns Position zum commerdum-Ptoblem. Wie Wezel kommt Hissmann zu dem Schluß, daß ein komplexes Wesen nicht durch monokausale Wirkungsmechanismen erklärt werden kann. Kritisch wägt er das Leibnizsche »System der vorherbestimmten Harmonie« (S. 269) gegen das »System des physischen Einflusses« (S. 268) ab: Alles, was wir in Ansehung der Harmonie unsrer Geistesarbeiten mit den Veränderungen unsers Körpers an uns wahrnehmen, muß dem Influxisten unbegreiflich seyn [...]. Hier hilft es nichts, daß man das Vehikel, die Brücke, die Ueberbringer, den Nervensaft [...] so sehr verfeinert, als man nur mit seiner Einbildungskraft immer kan. Das möglichstfeine Nervenkügelchen, das in den
26 In vielem erweist sich Wezel hier übrigens als moderner Psychologe: So weist er schon auf mögliche Einflüsse während der Schwangerschaft (vgl. S. 243), den traumatischen Charakter der Geburt (ebd.) und problematische Perioden der jugendlichen Entwicklung wie das Zahnen (vgl. S. 244) oder die Pubertät (vgl. S. 245) hin. In einer für die Psychologie geradezu klassischen Formel setzt Wezel den Schluß dieser Entwicklung ins 30. Lebensjahr: »Er war izt Herr in seinem Hause« (S. 249). 27 *12;s.o. S. 37, Anm.22. 28 Vgl. z. B. Vorbericht, S. 19ff.
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Anthropologie im 18. Jahrhundert Nerven hin und herschlüpft, ist, gegen ein einfaches Wesen gerechnet, allemal ein ungeheures Gebürge. [...] Nur mit der Leibnizischen Hypothese verträgt sich das System der Einfachheit; und der physische Einfluß wird in eben dem Grade wahrscheinlicher, in welchem die Seele an Complexion zunimmt. Man hätte in der That sehr philosophisch gehandelt, wenn man bey der Aufnahme des alten Systems des physischen Einflusses, zu gleicher Zeit die alte Hypothese des Materialismus aufgenommen hätte. (S. 268f.)
Geradezu prophetisch hat Hissmann hier das Verfahren beschrieben, mit dem ERNST PLATNER 1790 - also zwei Jahre nach Hissmanns >Versuchen< - in seiner >Neuen AnthropologieAnthropologie< so fortschrittlich erscheinende Theorie des Unbewußten wird ebenfalls aufgegeben:^ Statt der schlummernden Impressionen im Gehimmark, die durch die Aufmerksamkeit als aktives Prinzip erst geweckt und zu Bewußtsein gebracht werden, gibt es nun sogenannte »materielle Ideen«, die passiv entstehen und immer präsent sind (vgl. 2. Buch, 1. Hauptstück). - Diese materiellen Ideen befinden sich im »Seelenorgan«, einer ebenfalls in der >Neuen Anthropologie< erstmals eingeführten Mittelinstanz zwischen Geist und Körper. Das Seelenorgan ist enthalten im Gehirnmark und im Nervensystem;
29 *29; s. o. S. 38, Anm. 24. 30 Zur philosophischen Tradition dieser und ähnlicher »Mittelsubstanzen« vgl. Bezold (*107, S. 145147). 31 Diese war auch einer der wesentlichen Kritikpunkte von Marcus Herz in seiner Rezension der Platnerschen >Anthropologie< gewesen: Herz hatte argumentiert, daß bei der Realisierung einer solchen unbewußten Vorstellung die Verbindung zwischen Leib und Seele völlig abreißen müßte. Dies sei jedoch nicht denkbar: »selbst im Schlafe, im neugebohrnen Kinde, in Nervenkrankheiten und im letzten Augenblick des Lebens, so bald und so lange die Seele Seele ist, muß sie Vorstellungen haben« (*28, S. 37). Die Möglichkeit unbewußter Vorstellungen würde nach Herz die menschliche Seele auf ein rein mechanisches Dasein reduzieren; hier befürchtet er »gefährliche Folgen« (S. 36) für den Begriff des Lebens. Das Gefahrenpotential einer solchen Theorie des Unbewußten - selbst in ihren minimalen Ansätzen - für die Vernunft als wesensbestimmendes Element des Menschen hat Herz damit scharfsinniger erkannt als wohl Plainer selbst.
Zur Debatte um das commemum-Problem
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es ist auf unbestimmte Weise identisch mit dem Nervengeist; es ist jedoch mit Bestimmtheit zweifach, nämlich zusammengesetzt aus einem »geistigen« und einem »thierischen« Teil (S. 71). Das geistige Seelenorgan ist enthalten in den Nerven der höheren Sinne und dem höheren Teil der Phantasie; das thierische in denen der niederen Sinne und dem niederen Teil der Phantasie. Die Eindrücke beider vermischen sich im Menschen ständig und definieren ihn gerade durch diese Mischung: Durch die innige Verbindung, und durch die vermischten Einwirkungen beyder, wird das Mittelding zwischen Engel und Thier, - der Mensch. (S. 74)
Zur Definition des Seelenorgans bietet Plainer darüber hinaus einige Erklärungsversuche auf, die den eklektischen Zug seiner >Neuen Anthropologie< noch einmal drastisch vor Augen führen: »Vielleicht« sei es ein unvergänglicher geistiger Keim, der sich nur temporär in Gestalt eines Körpers entwickele und anschließend wieder zurückkehre ins ideelle Sein (vgl. S. 75f.); »vielleicht« werde es alchimistisch-künstlich im Gehirn bereitet (vgl. S. 76); »vielleicht« sei es abhängig von Klima und Luft (ebd.). Jedenfalls aber sei es das allerfeinste, unveränderlichste und unzerstörbarste Princip in dieser ganzen materiellen Welt. (S. 75)
In den neuen Termini der »materiellen Ideen« wie des »zweifachen Seelenorgans« kommt ganz deutlich die Strategie zum Ausdruck, derer sich Plainer in seiner >Neuen Anthropologie< exzessiv bedient und die Hissmann so eindrücklich getadelt hatte: Materie und Geist werden durch die Einführung immer kleinerer, immer feinerer Einheiten als »Vehikel« und »Brücken« (s. o.) so stark graduell angenähert, daß ihre Unterscheidung irgendwann nur noch zu einer Frage der Betrachtungsperspektive wird. Der alte Dualismus wird durch diese Atomisierung einfach minimalisiert; eine Entwicklung, die in der konsequenten Anwendung des Leibnizschen Modells der Stufenleiter der Wesen und ihrer Platnerschen Aufnahme bereits vorbereitel war: Denn in ihr grenzl die allerfeinste Materieform automatisch an die gröbste geistige Form, und der Übergang ergibl sich scheinbar ganz natürlich als der zur nächsten Stufe der Leiler. Dynamisierung und Universalisierung - das Verschwinden des commerciumProblems in der Romantik Plainer definiert in seiner >Neuen Anthropologie< das Humatlumals Zusammenselzung von geistigen und tierischen Elementen zum »eigentlich Menschlichen«; die geistigen Komponenten sind dabei zwar höher zu schätzen, die tierischen aber nichl zu vernachlässigen. Schon 1794 nimmt die gleiche Theorie bei ITH in seinem >Versuch einer Anthropologien2 eine weil slärker idealistische Wendung, die lelzlendlich wieder zur Verleugnung des Körpers fuhrt:
32 *17;s.o. S.52, Anm.54.
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Anthropologie im 18. Jahrhundert Durch diese Vereinigung [von Seele und Körper] hat der Schöpfer die Geister- und Körperwelt in Gemeinschaft gesetzt und beyde im Menschen in eine Natur zusammengeknüpft; er hat der Sinnlichkeit, als einem fruchtbaren Boden die edlern Keime der Vernunftthätigkeit anvertraut; hier mögen sie ihre ersten Entwickelungen machen und [...] weiter gedeihen, bis es endlich der herangewachsenen Vernunft gelingt, ihre Nährerin und Pflegerin, die Sinnlichkeit, zu überwältigen [...]. Auf diese Weise sind also freylich in der Menschennatur die Kräftensysteme aller niedrigem Ordnungen von organisirten Wesen vereinigt, und bilden gleichsam eine Leiter (*17, II, S. 174f.).
Bei Leibniz und bis spät in die deutsche Aufklärung hinein ist die hier erneut zitierte »Kette der Wesen« ein im wesentlichen statisches Konstrukt: Sie bildet auf unzeidiche Weise die vernünftige Struktur der Welt im Aufstieg von der gröbsten Materie bis hin zum ewigen Gott ab. Gegen Ende des Jahrhunderts wird dieses Konzept immer stärker zeitlich dynamisiert und gleichzeitig statt auf Gott auf den Menschen zentriert. Dieser umfaßt in der eigenen leib-seelischen Organisation sozusagen die ganze Spannweite der Leiter; mittels seiner Perfektibilität - die für Ith nunmehr das eigentliche Humanum ist - kann er auf dieser Leiter immer höhere Stufen anstreben. Die höchste Stufe bleibt jedoch unerreichbar, menschliche Vollkommenheit wird wieder metaphysisches Fernziel: Von allen Wesen, die wir kennen, ist der Mensch das einzige bestimmt ewig nach einem unerreichbaren Ziele zu streben, ewig unvollkommen zu seyn, und immer vollkommener zu werden (II, S.347F.).
Für das commeraum-Ptdblem bedeutet das: Es geht nicht mehr um die Erklärung der Kommunikationsmodi von Leib und Seele bezüglich bestimmter Vermögen oder in konkreten Situationen; vielmehr werden in einem unendlichen Bildungsprozeß mögliche Spannungen aufgehoben und beide immer feiner aneinander angeglichen. Der Dualismus von Leib und Seele ist hier nur noch ein Ergebnis der menschlich begrenzten Betrachtungsperspektive; zugrunde liegt ihm eine vorgängige Einheit, die jedoch allein dem »ewigen Verstand« (S. 1) sichtbar und erkennbar ist. Dies betont auch FRIEDRICH KARL FORBERG in einem Aufsatz >Ueber die Verbindung der Seele mit dem KörperBelphegor< sein. Positiver konnotierte Empfindungskonzepte werden hingegen von den monistisch argumentierenden Anthropologen in den 70er Jahren entwickelt. Einheitlichkeit vs. Einheit - atomistische und organizistische Konzepte von Denken und Fühlen Von niederen Antrieben ist bei EBERHARD in seiner Preisschrift zur >Allgemeinen Theorie des Denkens und EmpfindensTeutschen Merkur< (s.u. Kap.4.1) mit dem Titel: »Philosophei und Schwärmerey, zwei Schwestern« (*52), in dem die Schwärmerei den Empfindungspol und die Philosophie den der Spekulation vertritt. 10 S. o. S. 67.
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Anthropologie im 18. Jahrhundert
Egoistische Triebfedern und »weise Leidenschaften« - Affektkonzepte des Materialismus Auch WEZEL beruft sich im zweiten Teil seines >Versuch über die Kenntniß des Menschern11, der eine ausführliche Affektenlehre enthält, immer wieder auf die Natur - trotzdem könnte der Gegensatz zu Herder krasser kaum sein. Gemeinsam ist beiden zudem die Hochschätzung der Empfindungen: Für Wezel sind diese sogar »beinahe die Hauptsache im Menschen« (*44, II, S. 3). Auf Gefühlen beruhten unsere Vorstellungen und Gedanken; sie allein nötigten uns zum Handeln; sie seien entscheidend für die jugendliche Entwicklung und damit für die Grundlegung des Charakters überhaupt; sie seien schließlich und insgesamt die »Unterhändler« (II, S. 4) zwischen vegetativem und geistigem Leben. Was sich bei Krüger schon ankündigte und bei Herder und Eberhard in einem philosophischen Kontext vollzog, ist hier vollendet: die Emanzipation der Emotionen und Affekte aus ihrer Unterordnung unter den Verstand und ihre Aufwertung zu einer Schlüsselstelle zwischen Denken und Wollen des Menschen, einem wichtigen Bestandteil seines Charakters und der Wurzel aller Erkenntnis durch Erfahrung. Eine Schlüsselstelle nehmen die Empfindungen bei Wezel auch in physiologischer Hinsicht ein: Während Ideen nur das Gehirn affizieren und körperliche Wirkungen nur die Nerven, resultieren die Empfindungen aus Veränderungen der Nerven wie des Gehirns.12 Wezel unterscheidet dabei verschiedene Arten von Empfindungen: Bei der Wahrnehmung entstehen »Sensationen« am äußeren Nervenende - sozusagen eine physiologische Art von Empfindungen-; am inneren Nervenende werden diese in »Gefühle« umgesetzt (II, S. 14). Diese können einfach, gemischt oder zusammengesetzt sein (vgl. II, S. 23-25); ein hoher Grad innerer Empfindung heißt »Affekt«, ein habitueller Affekt »Leidenschaft« (II, S. 26). Von besonderem Interesse sind die inneren Empfindungen: Hier überschneiden sich nämlich die Gebiete von Wissenschaft und Kunst. Der Dichter muß nach Wezel - wie er selbst - zwangsläufig Anthropologe sein: Der erzählende und dramatische Dichter hat immer die doppelte Absicht vor Augen, Charakter und Leidenschaften, der Natur gemäß, stark, schön und mit Geschmack darzustellen, und zu gleicher Zeit seine Gemälde so zu ordnen, daß sie das Interesse des Lesers nie ermüden lassen: das erste kann er gar nicht ohne philosophische, physiologische und anatomische Kenntniß des Menschen und das andere eben so wenig, wenn ihm der Gang der menschlichen Empfindungen, ihre Verknüpfungen, ihre Verwandtschaft, ihre Vermischungen unbekannt sind. (II, S. 138)
Die Aufgabe des Philosophen ist es in erster Linie, die verschiedenen Empfindungen systematisch nach Gruppen zu klassifizieren. Wezel bedient sich dabei eines Kontrastschemas: Er ordnet die Empfindungen zu Paaren, die sich auf den
11 *44;s.o. S.35,Anm. 18. 12 Ähnlich unterscheidet Humc in seinem >Treatise of Human Nature< (1739/40): Seine »primary impressions« sind ebenfalls reine Sinneseindrücke, während bei den »secondary impressions« - also den Emotionen und Leidenschaften - die »ideas« mitwirken.
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grundlegenden Gegensatz von Lust und Unlust beziehen.15 Diese werden jedoch keinesfalls in trivial-hedonistischer Weise gewertet: Vielmehr hat beispielsweise der Schmerz eine wichtige Rolle als »Wächter und Arzt« (II, S. 143) der Natur, während ausgiebige Vergnügungen »weit schlimmere physische und moralische Folgen« (II, S. 153) haben können. Auf ähnliche Weise werden alle behandelten Affekte nicht an verabsolutierten moralischen Kategorien gemessen, sondern in ein umfassendes, weitgehend wertneutrales Konzept menschlicher Natur integriert. Diese ist für Wezel weder ideologisches Lebensprinzip noch ein Relikt göttlicher Schöpfung; sie äußert sich im Menschen vielmehr primär als Überlebenstrieb. So ist beispielsweise der Zorn nicht etwa eine verwerfliche, ungezügelte Ausschweifung der Leidenschaft, sondern lediglich »Mittel unserer Selbsterhaltung:« ohne ein so lebhaftes Gefühl gegen alle Beleidigungen und Angriffe, die unserm Leben, unsrer Ehre, unserm Vermögen Schaden thun können, würde ein Mensch vom ändern unterdrückt (II, S. 179).
Wezel bemüht sich außerdem darum, Affekte weitmöglichst auf körperliche Ursachen zurückzuführen. So erklärt er die weitverbreitete Furcht im Dunkeln durch eine Fülle von »mechanischen« (II, S. 204) Gründen: Physiologisch zieht sich das Blut wegen des Entzugs jeglicher äußerer Reize aus den Sinnesorganen ins Gehirn zurück und veranlaßt dort durch den verstärkten Zufluß Beklemmungsgefühle. Zudem wird die Imagination in erhöhtem Alaße tätig und assoziiert zu dem diffusen Gefühl der Furcht verwandte Vorstellungen von Angst und Schrecken. Die Gegenstände, die nur noch diffus wahrgenommen werden, werden von ihr vergrößert zu unscharfen Massen; schon die Vorstellung, daß etwas Unerwartetes die Stille und Dunkelheit unterbrechen könnte, führt schließlich zur Panik (vgl. II, S. 197-204). Eine typische, als irrational verschrieene menschliche Grundangst ist damit schlüssig erklärt und dadurch als natürlich legitimiert: Im Finstem nicht eine andere Empfindung zu haben als bey Tageslichte [...] steht in keines Menschen Gewalt (II, S. 204).
Schließlich können sich Affekte je nach historischen Bedingungen und der Stufe der Kultur verschieden äußern, ja entstehen u. U. überhaupt erst durch gesellschaftliche Konvention.14 Eine starke Einschränkung ihres Geltungsanspruchs müssen hingegen die genuin ästhetischen Empfindungen des Gefallens und Mißfallens hinnehmen: Niemals, so behauptet Wezel, gefallen uns Dinge an sich
13 Ähnlich klassifziert auch Hume im zweiten Buch seines >Treatise< (»Of the Passions«). Ein signifikanter Unterschied ist jedoch, daß für ihn die damit verbundenen Wertungen noch eindeutig sind: »Pleasure« ist ein unfehlbarer Indikator für das Moralisch-Gute, während »Pain« nur verwerfliche Empfindungen begleitet - auf dieser als natürlich unterstellten Einteilung beruht ja auch seine Moralphilosophie. 14 Ein schönes Beispiel ist die kleine Sittengeschichte der Schamhaftigkeit, die Wezel in ihren kulturellen und moralischen Hintergründen erläutert (vgl. II, S. 220-251).
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selbst, sondern wir können nur unsere Vorstellungen von ihnen und deren Beziehung zu unserem »Sistem von Ideen und Empfindungen« (II, S. 261) schätzen oder mißbilligen. Mehrere Kriterien kommen bei dieser Beurteilung zusammen: Angenehm ist das, was einen starken Eindruck auf uns macht (vgl. II, S. 267); was mit einem Blick faßlich ist (vgl. II, S. 268); was in Beziehung zu unserem Ideensystem steht und deshalb interessant für uns ist (vgl. II, S. 269); und schließlich das, was unserer Eigenliebe dadurch schmeichelt, daß es keine unangenehmen Assoziationen weckt (vgl. II, S. 270). Kurz gefaßt: Das, was die schleichende Langeweile bekämpft , ohne jedoch unser Fassungsvermögen zu übersteigen oder unsere Grundsätze in Frage zu stellen, schätzen wir: Selbstliebe und Thätigkeil sind die beiden vereinigten Gründe, warum einem Jeden sein Schönes, Erhabnes und Wahres gefallt. (II, S. 271)
Zu den Empfindungen gehört für Wezel endlich auch das voluntative Element im Menschen: Die Begierde ist diejenige Art von Empfindung, die in einem Bewegungsimpuls resultiert (vgl. II, S. 290); ist sie beherrschend, wird sie zur Sucht (vgl. II, S. 292); ist sie nur habituell, eine Neigung (vgl. II, S. 292). Als Unterkategorie von Empfindungen kann sie sich ebenso wenig auf die Gegenstände selbst beziehen wie unsere Emotionen auch: Unsere Begierden, so Wezel, richten sich nur auf unsere Vorstellung von den Dingen und letztlich den damit für uns verbundenen Gefühlswert (ebd.) - Geld an sich ist nicht begehrenswert, aber die angenehmen Vorstellungen, die wir damit verbinden. Menschliches Wollen wird damit in außerordentlich hohem Maße subjektiv und unberechenbar: Jeder begehrt und verabscheut also nur, was ihm nach Maasgabe seines Charakters in jedem "Zeitpunkte gefällt oder mißfallt. (S. 297)
Richtet sich das Begehren auf Besitz oder Eigenschaften eines anderen, entsteht Neid. Nicht zufällig steht diese »allemal schädliche« (II, S. 327) Leidenschaft am Schluß der Wezelschen Affektenlehre: von nicht zu überschätzender Bedeutung für den Gang der Welt auf der einen Seite16, von offenbarer Gefahr und moralischer Schädlichkeit auf der anderen Seite, nimmt der Neid eine Schlüsselstelle in seinem Konzept ein. Ein letzter Restbestand ideologischer Argumentation zeigt sich bei seiner Rechtfertigung: Die Natur darf nicht »mit sich selbst uneinig seyn« (II, S. 327) und etwas im Menschen erzeugen, das nur negative Folgen für ihn hat; also muß auch der Neid eine sinnvolle Funktion für menschliches Leben in Gemeinschaft haben. Interessanterweise formuliert Wezel diese Rechtferti-
15 Die Langeweile ist ein Lieblingsthema sowohl der aufklärerischen Anthropologie wie auch der Popularphilosophie; vgl. hierzu Ludwig Völker (*206) und Kap. 4.2. 16 Die Bedeutung des Neids als grundlegender menschlicher Triebfeder hat Wezel eindringlich in seinem Roman >Belphegor< dargestellt; so heißt es im Vorwort programmatisch: »Nach des Verfassers Theorie sind Neid und Vor^ugssucht die zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Ständen der Menschheit und Gesellschaft, bey allen Charakteren allgemeinsten Triebfedern der menschlichen Natur und die Urheberinnen alles Guten und Bösen auf unserem Erdballe.« (*385, S. 11)
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gung nun in beinahe wörtlicher Parallele zum Enthusiasmus-Begriff, wie ihn beispielsweise Shaftesbury geprägt hatte: Er ist nicht nur eine unvermeidliche Folge von der Einrichtung unsere Wesens, sondern auch eine nothwendige Triebfeder der Thätigkeit [...]. An allen großen und kleinen Veränderungen der Welt hatte der Neid Antheil (II, S. 332).
Der Enthusiasmus als Triebfeder menschlichen Handelns ist durch die Uneigennützigkeit des Handelnden, der seine eigenen Interessen gegenüber allgemeinen, als wertvoll anerkannten Zielen zurücksetzt, gekennzeichnet; in der klassischen Formel: Nichts Großes geschieht ohne ihn. Der Neid richtet sich in gleicher Weise auf ein subjektiv hochgeschätztes Gut; auch er muß, so Wezel, in genauer Proportion zum »wahren Werthe« (II, S. 332) dieses Gegenstands stehen. Neid präsentiert sich so, zugespitzt gesagt, als materialistische Variante des tradierten Enthusiasmus-Begriffs beispielsweise in der morat-sefise-Plulosophie. Auch MELCHIOR ADAM WEICKARD beschreibt in seinem Philosophischen ArztNeuer AnthropologieGeschichte der Menschheit (1764).3 Sein Fortschrittsmodell umfaßt drei hierarchische, streng unterschiedene Stufen, nämlich den Stand der Natur, den Stand der Barbarei und den gesitteten Stand; deren anthropologische Basis sind die ebenfalls hierarchisch aufgefaßten menschlichen Vermögen von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft: Die Sinnlichkeit legt den Grund zu der Wohlfahrt des einzelnen Menschen; die Einbildung erhöhet seine angenehmen Empfindungen, aber sie verwirret und verbittert sie eben so sehr. Die Vernunft weiset hingegen dem einen wie dem ändern dieser Triebräder seine billigen Schranken an. (*16, S. XXI)
Der Aufstieg der Menschheit vom Naturzustand zum gesitteten, bürgerlichen Stand entspricht der natürlichen Entwicklung des Einzelmenschen vom Kind bei dem der sinnliche Genuß noch alle Handlungen bestimmt - über den Jüngling - bei dem vor allem die Einbildungskraft dominiert - hin zum Mann, der ganz von der Vernunft beherrscht wird (vgl. S. XXII). Dieses für die ganze Aufklärung wirkungsmächtige Konzept werde ich im folgenden als die Phylogenese-OntogeneseParallele bezeichnen; im Unterschied zu Ernst Haeckels späterem »biogenetischem Grundgesetz«, demzufolge das Einzelwesen wesentliche Entwicklungsstadien des Gattungswesens wiederholt, bevorzugt man in der Aufklärung die Vorstellung, daß die Menschheit in ihrer Entwicklung die gleichen Reifestufen wie das Individuum durchläuft. Diese Analogie wird, wie die folgenden Beispiele zeigen, in verschiedenster Weise eingesetzt: Sie kann zur Veranschaulichung theoretisch-philosophischer Konzepte dienen; sie kann heuristische Funktionen erfüllen und zur Systematisierung unübersichtlicher realhistorischer Abläufe beitragen; sie kann schließlich auch kritisch zur Abgrenzung menschlicher von geschichtlichen Prozessen verwendet werden.
*16; Isaak Iselin (1728-1782) war Ratsschreiber in Basel; ab 1776 gab er die >Ephemeriden der Menschheit heraus. Die >Geschichte der Menschheit erschien in kurzen Zeitabständen in mehreren Auflagen; ich zitiere nach der Ausgabe von 1784.
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Iselin dient die Phylogenese-Ontogenese-Parallele in erster Linie als Grundlage für das oben skizzierte, nur kursorisch entworfene theoretische Modell der drei Stände der Menschheit. Auf dessen Folie projiziert er nun seine breit ausgeführte Realgeschichte. Diese setzt bereits im Frühstadium des gesitteten Standes - im Orient sowie bei Griechen und Römern - ein, da dem Historiker über die ursprünglichen Stadien von Natur und Barbarei die notwendigen Quellen fehlen. Die Historic wird, entsprechend dem hierarchischen Charakter der zugrundegelegten seelischen Vermögen, als Fortschrittsgeschichte geschildert. Quer dazu läßt sich jedoch auch ein anthropologisches Kontinuitätsmodell feststellen, das sich an der platonischen >Politeia< - die bekanntermaßen ebenfalls auf der Parallele von seelischen Vermögen und gesellschaftlichen Gruppierungen beruht - orientiert. Zu allen Zeiten, so Iselin, seien die Menschen zwar »unendlich von einander unterschieden« (S. 138f.); sie ließen sich aber in drei Hauptklassen einteilen: Das Volk befindet sich weithin im »Stande der Einfalt« (S. 144) unter der Oberherrschaft der Sinnlichkeit; wo die Einbildungskraft dominant wird, entstehen ausgedehnte Bedürfnisse, starke Leidenschaften und damit »schädliche und verderbliche Egoisten« (S. 140)4; nur einzelne stehen unter der Oberherrschaft der Vernunft und sind Egoisten im »erhabensten Sinne« (S. 143). Der Mensch an sich, so Iselin hier ganz antiplatonisch und eher empiristisch, ist nämlich immer Egoist, getrieben allein durch das »Bedürfniß von Empfindungen« (S. 145). Seine eigene Zeit siedelt Iselin mit einiger Skepsis bestenfalls an der Schwelle zum gesitteten Stand an: Die Einbildung ist noch in unsem Monarchien und in unsern Freystaaten, wie bey den Griechen und bey den Römern, das große Gesetz, das die meisten Seelen beherrschet. Obgleich sie durch eine erleuchtetere und ausgebreitetere Vernunft mehr gemässiget wird, so ist ihre Uebermacht doch noch unendlich groß; so sind wir doch wahrscheinlicher Weise, wie es die Griechen und Römer auch waren, der Barbarey noch näher als der wahren Menschlichkeit. (S. 463)
Bezüglich des weiteren Fortschrittes ist er jedoch relativ guten Mutes: Das Gute verstärke sich zwar selbst (vgl. S. 467f); darüber hinaus sei es allerdings - hier wieder ganz platonisch - unumgänglich, daß die Fürsten Philosophen werden (vgl. S. 474). Der Fortschritt der Menschheit hin zum Ideal der Vernunftherrschaft hängt somit entscheidend von der seelischen Verfassung des einzelnen ab: So lange die Einbildungskraft die Menschen noch in ihrem Bann hat, ist der Weg zum Philosophenkönig nicht frei; wie die Einbildungskraft allerdings unterworfen werden soll, dafür kann der Historiker keine Ratschläge erteilen. Sein Optimismus bezüglich des Fortschritts des Menschengeschlechts kontrastiert insofern die skeptischen Zügen seines Menschenbilds.
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Die zweite Stufe ist bei Platon abweichend charakterisiert vor allem durch eine stark affektive Neigung zur Ehre; hier spiegeln sich bei Iselin deutlich die zeittypischen gesellschaftlichen Präferenzen.
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Das Wechselspiel von ^Consumption und Kompensation - die Evolutionstheorie des jungen Schiller Auch SCHILLER erarbeitet in seiner Dissertationsschrift5 ein vergleichbares Phylogenese-Ontogenese-Modell. Im Gegensatz zu Iselins streng hierarchischer Vermögenspyramide, die letztendlich den Kampf in der eigenen Seele zum Vater allen geschichtlichen Fortschritts machte, betont Schiller - wie Herder - ungleich stärker die Notwendigkeit einer natürlichen Entwicklung und Reife des Individuums wie des Menschengeschlechts, die auch seine leiblichen Komponenten anerkennt und in die Evolution einbezieht. Als Ausgangspunkt dient ihm ein Gedankenexperiment, das die Abhängigkeit leiblicher und geistiger Instanzen im Menschen beweisen soll: Er stellt sich eine Seele getrennt von allem Körperlichen vor und erwägt deren weitere Entwicklung. Schon ein Kind würde ohne einen äußeren Anstoß niemals eine geistige Tätigkeit aufnehmen: Was wird ihn zum Denken bestimmen, wenn es nicht die daraus entspringende angenehme Empfindung ist, was kann ihm die Erfahrung dieser angenehmen Empfindung verschaft haben? [...] man verseze die Seele in den Zustand des physischen Schmerzens. Das war der erste Stoß [...] und so hilft thierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geistes, wenn ich so sagen darf, in den Gang bringen. (*32, S. 49f.)
Das weitere »Seelenwachsthum« (S. 50) verdankt sich ebenfalls wesentlich körperlichen Impulsen. Der »Knabe« (S. 51) auf der zweiten juvenilen Entwicklungsstufe verfügt zwar schon über Reflexionsfähigkeit; diese wird jedoch nur durch das Interesse an direkter Bedürfnisbefriedigung motiviert und steht in rein abstrakter, übertragener Beziehung zu allgemeinen geistigen Werten: Die Güter des Geists erhalten beim Knaben nur durch Uebertragung einigen Werth, sie sind geistiges Mittel zu thierischem Zweck, (ebd.)
Erst »Jüngling« und »Mann« sind zu rein geistiger Tätigkeit fähig. Die vorausgehende mechanische »Übertragung« von allgemeinen Werten auf persönliche Interessen ist zur Fertigkeit geworden; der Erwachsene kann von individuellen Motiven absehen und das Gute um seiner selbst willen tun: Itzt können schon die Strahlen der geistigen Schönheit selbst seine offene Seele rühren; das Gefühl seiner Kraftäusserung ergözt ihn, und flößt ihm Neigung zu dem Gegenstand ein, der bisher nur Mittel war [...] - Das Mittel ist höchster Zwek worden. (S. 51)
Eine parallele Entwicklung durchläuft für Schiller die Menschheit in ihrer kulturellen und geschichtlichen Entwicklung: Die »Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts« (S. 53) führt von der »Wiege an bis zu seinem männlichen Alter« (ebd.). Primäre körperliche Impulse haben im Kindheitsalter der Menschheit den Anstoß zu ersten Erfindungen gegeben; Interessen beförderten im Knabenalter die Entstehung von Künsten und Wissenschaften zur besseren
5 *32;s.o. S.30,Anm.ll.
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Bedürfnisbefriedigung; diese gewinnen einen selbständigen Wert im Jünglingsund Mannesalter. Mit der realgeschichtlicheri Entwicklung der menschlichen Gesellschaft verbunden sind aber auch bei Schiller Degeneration und Verweichlichung; doch selbst diese unerwünschten Nebenwirkungen haben noch einen Nutzen für die Gattungsentwicklung: Wir wollten den rechtmäßigen Genuß der Sinnlichkeit auf die Vollkommenheit der Seele zurükführen, und wie wunderbar drehte sich der Stof unter unsern Händen! Wir fanden, daß auch ihr Uebermaaß, ihr Mißbrauch im Ganzen die Realitäten der Menschheit befördert hat. Die Verirrungen vom ersten Zweke der Natur, Kaufleute, Eroberer und Luxus haben unstreitig die Schritte dahin unendlich beschleunigt, die eine einfachere Lebensart regelmäßiger wohl, aber auch langsam genug würde gemacht haben. (S. 56)
In seinem emphatischen Preislied auf die Naturbeherrschung besonders des Wissenschaftlers und auch des Arztes (vgl. S. 55f.) ist Schiller einem modernen Fortschrittsbegriff ungleich näher als Herder mit seinem moderaten Modell einer organischen Anpassung des Menschen an die Natur; er ist auf der anderen Seite noch weit entfernt von seinem eigenen triadischen Geschichtsmodell, das gerade die hier gepriesene Phase der Ausdifferenzierung von spezialisierten Künsten und Wissenschaften nur noch als defizitäre, zweite Stufe auf dem Weg hin zu einer neuen, bewußten Einheit von Mensch und Natur zuläßt. Sein Naturbegriffist hier ganz der des Arztes, der im chirurgischen Zugriff auf den menschlichen Körper die höchste Stufe medizinischer Entwicklung wie sogar der Kenntnis des Menschen erreicht: Noth und Neugierde überspringen die Schranken des Aberglaubens, er ergreift muthig das Messer - und hat das Meisterstük der Natur, den Menschen entdekt. (ebd.)
Doch auch dieser einseitig wissenschaftlich fundierte Natur-Begriff erweist sich noch als philosophisch leistungsfähig: Dem Arzt ist Werden und Vergehen nicht nur spekulativ, sondern auch biologisch sinnvoll. Als begrenztes Wesen verfügt der Mensch nur über eingeschränkte Kräfte, die im Lauf des Lebens sowohl verausgabt wie auch restauriert werden können; die ökonomische Kräftebilanz ist jedoch negativ: die Weisheit, kommt es mir vor, hat bei Gründung unserer physischen Natur eine solche Sparsamkeit beobachtet, daß, ungeachtet der steten Kompensationen, doch die Konsumtion immer das Uebergewicht behalte, daß die Freiheil den Mechanismus mißbrauche, und der Tod aus dem Leben, ivie aus seinem Keime sich enta/ikle. (S. 75)
Zum organischen Wachstum des einzelnen vom Kind hin zum Mann gehört zwingend die Abnahme der Kräfte bis hin zum Tod. Die fatale Konsequenz aus dem Wachstumsmodell zieht Schiller allerdings bezeichnenderweise nur bezüglich des Einzelwesens Mensch - und kompensiert sie vorsichtshalber gleich durch die Aussicht auf eine Fortdauer der immateriellen Seele. Die Analogie von Phylogenese und Ontogenese findet hier ihre Grenze; sie wird trotz dieses immanenten
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Anthropologie im 18. J ahrhundert
Widerspruchs zunehmend zum für die Spätaufklärung verbindlichen Modell der Entwicklung des einzelnen wie der Menschheit. Kulturgeschichte als Triebfedemlehre - Irwings Periodenmodell Eine interessante Variante der Dynamisierung anthropologischen Gedankenguts bietet KARL FRANZ VON IRWING mit der im dritten Band seiner Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen< (1779) entworfenen Kulturgeschichte der Menschheit.6 Diese erwächst aus dem Kontext einer angewandten Triebfedern- und Affektenlehre: Der Fortschritt der Menschheit beruht für Irwing nicht primär auf ihren Erkenntnis- und Verstandesleistungen, sondern werde angetrieben durch die emotive Kraft des Menschen. Nur Gefühle seien nämlich von hinreichender Motivationsstärke, um einen so weitläufigen und unabsehbaren Prozeß wie kulturelle Entwicklung überhaupt in Gang zu setzen: Der natürliche Strom menschlicher Gefühle klärt am Ende selbst den Verstand auf, und weiset die Vemunfte zurechte. (*15, III, S. 239)
Nur dadurch, daß er alles, was ihm widerfährt, im Gefühl als positiv oder negativ auf seine eigene Existenz bezieht, entwickeln sich der Mensch und die Menschheit im ganzen. Theoretisch wäre es nach Irwing auch möglich, »moralische Triebwerke« (III, S. 241) anzunehmen: Diese bestünden in einem spontanen seelischen Vorsatz zur Verbesserung der Umstände. Tatsächlich aber gesteht Irwing wirkliche Motivationskraft nur »natürlichen Triebwerken« (ebd.) und vor allem dem diesen zugrundeliegenden »äußerlichen Zustand« (III, S. 254) zu: Diesen Betrachtungen zu Folge, können die eigentlichen Triebwerke der Kultur nirgend anders, als in dem äußerlichen Zustande der Menschen, gesucht werden. Alle Mittel und wirkende Ursachen, die den Menschen bewegen sollen, seine Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, und sich selbst vollkommener und zugleich glücklicher zu machen, müssen in solchen Veranstaltungen und Umständen bestehen, welche den äußern Zustand desselben betreffen (ebd.).
Das Projekt menschlichen Fortschritts nimmt damit, ähnlich wie bei Schiller, seinen Ausgang einzig und allein im Bereich der Sinne und der materiellen Umwelt: Nicht schöne Ziele oder eine abstrakte geistige Notwendigkeit, sondern schlechte Lebensbedingungen und mangelnde Bedürfnisbefriedigung befördern Entwicklung und Bildung. Deren Ziel ist jedoch wieder ein zweifaches und wird definiert in Termini der Moral: Die wahre Kultur hat [...] einen zwiefachen Endzweck; die Vollkommenheit des innem, und die Vortheile des äußern Zustandes der Menschen. Beydes zusammen erschöpft erst den ganzen Begriff der ächten Kultur, und beydes erst kann den Menschen ganz glückselig machen. Die Vollkommenheiten des innem Zustandes allein sind, wenn man die Wahrheit aufrichtig gestehen will,
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*15; Karl Franz von Inving (1728-1801) war »Oberconsistorialrath« des Joachimsthalischen Gymnasiums und der Domkirche in Berlin; vgl. auch Dessoir (*110, S. 221 ff.).
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eben so wenig hinreichend, den Menschen ganz glücklich zu machen, als es allein die Vortheile des äussem Zustandes vermögen. (III, S. 258)
Weder Geld noch Moral allein machen also satt und glücklich; das Ziel der Kulturgeschichte ist vielmehr - genuin anthropologisch - der ganze Mensch. Dieser ist nicht primär an Tugendhaftigkeit interessiert, sondern vielmehr an Glückseligkeit durch leibliche und seelische Vollkommenheit. Menschliches Glück wird deshalb nur befördert durch gleichmäßige Ausbildung aller seelischen Kräfte; eine ausschließliche Ausrichtung menschlicher Entwicklung auf bedingungslose Moralität wäre verfehlt und geradezu kontraproduktiv: Dahingegen aber, wenn sich die Kultur der Erkenntnißkräfte nur hauptsächlich mit den Vollkommenheiten derselben, an sich selbst betrachtet, beschäftiget, oder, wenn die ihnen gegebene Richtung hauptsächlich nur auf die gegenwärtigen Zustände der Menschen eingeschränkt bleibt, [...] so mag jene Kultur noch so glücklich betrieben und der Umfang menschlicher Erkenntniß dadurch noch so sehr erweitert seyn, es werden doch immer noch viel Seiten des Menschen, und zwar die wichtigsten, nebst einer Menge nützlicher Kenntnisse unangebaut liegen geblieben [...] seyn. (III, S.267f.)
Vollkommene menschliche Glückseligkeit ist nun kein Ziel, das innerhalb kurzer Zeit zu verwirklichen wäre; sie kann nur »stufenweise und langsam, durch unzähliche Mittelursachen« (III, S. 275) bewirkt werden. Reiches Anschauungsmaterial dafür bietet Irwing mit seiner Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte als anthropologisch verstandener Kulturgeschichte, die die äußeren Umstände in ihrer untrennbaren Verbindung mit dem inneren Zustand, die zunehmende Vervollkommnung des inneren durch den äußeren Wohlstand darstellt: Eine solche Geschichte der Kultur ist die wahre Geschichte der Menschheit, so wie die Geschichte der Bedürfnisse des Menschen die Geschichte des menschlichen Verstandes enthält. (III, S. 310)
Im Kontext dieser Rekonstruktion diskutiert Irwing auch das oben skizzierte Alodell der Parallelität von Phylogenese und Ontogenese; er macht dabei jedoch gezielt auf die Probleme aufmerksam, die sich aus dem Widerspruch zwischen einem zyklischen Iodell der Lebensalter und einem Fortschrittsmodell der Geschichte zwangsläufig ergeben. Angesichts dieses Dilemmas entscheidet sich Irwing dann doch lieber explizit für eine Begrenzung des Modells statt einer systematischen Ausdeutung der Analogie: Der einzelne Mensch muß nothwendig in den späteren Penoden seines Lebens, wie am Leibe, so am Geiste wieder schwächer werden. [...] So geht es aber dem Menschengeschlechte nicht. Dieses, im Ganzen betrachtet, nimmt an Vollkommenheit und ächter Kultur desto mehr zu, je länger es dauert. Nicht allein die Kräfte des Verstandes und die Vollkommenheiten des Geistes, sondern auch der äußere Wohlstand und die Glückseligkeit desselben, sind in immerwährendem Wachsthum. (III, S.315f.)
Einen zweiten Unterschied sieht Irwing im Gebrauch der seelischen Vermögen beim Individuum und dem Gattungswesen Menschheit: Der Jugendliche hängt mit Vorliebe seinen Phantasien nach; erst der gereifte Erwachsene wendet sich
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von den Gegenständen seiner Einbildung ab und dem wirklichen Leben zu. Das menschliche Geschlecht hingegen muß gerade in den frühen Phasen seiner Entwicklung »aufs Reelle gehen« (III, S. 317) - wo man ums Überleben kämpft, ist zwangsläufig wenig Platz für die »Spielwerke der Einbildungskraft« (ebd.). Exemplarisch verteidigt die Anthropologie hier grundlegende lebensweltliche Erfahrungen gegen eine Überschätzung menschlicher Möglichkeiten auch in geschichtlicher Hinsicht. Strukturbildend für Irwings konkrete Schilderung der Kulturgeschichte der Menschheit ist deshalb nicht die Phylogenese-Ontogenese-Parallele, sondern die Kategorie des Selbstgefühls. Er entwickelt vier verschiedene Perioden, die sich an verschiedenen Graden der »Erweiterung des Selbstgefühls« (III, S. 319) als Maßstab für den erreichten Fortschritt orientieren: - In der ersten Periode, dem »rohesten Zustand« (III, S. 323) der Menschheit, spielen vor allem die äußeren Einflüsse des Klimas und des direkten Lebensumfelds eine große Rolle. Ahnlich wie auf Schillers Stufe der Kindheit sind die Menschen an direkten leiblichen Bedürfnissen orientiert; ihr Selbstgefühl ist eingeschränkt auf »Selbstliebe« und »Eigennutz« (III, S. 324). Über das Gegenwärtige hinausgehende Reflexionen führen leicht zu »abergläubischen Meynungen«(III, S.327). - Die zweite Periode tritt ein, sobald sich der Mensch über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinaus minimal auf die Zukunft orientiert, indem er beispielsweise die äußere Sicherheit seiner Existenz zu festigen versucht. In diesem Zusammenhang entstehen die ersten gesellschaftlichen Gebilde und Hierarchien. Der Aberglaube wird systematisiert zu einer »Art von Religion« (III, S. 330). Auch hier bleibt jedoch - wiederum ganz parallel zu Schillers Knabenalter - der Fortschritt dadurch begrenzt, daß selbst bei ersten Ansätzen zu Bildung und Reflexion von den eigenen Interessen nicht abstrahiert werden kann; die Bedingung hierfür ist bei Irwing die Fähigkeit zur Identifikation mit dem Gemeinwesen und dessen übergeordneten Interessen. - Die dritte Periode ist wesentlich durch die Einschränkung der Unabhängigkeit des einzelnen durch Gesetze gekennzeichnet. Damit untrennbar verbunden ist der nunmehr etablierte Begriff des Eigentums: aus ihm entspringen »der feinere Eigennutz und die feinere Selbstliebe« (III, S. 333) als fortgeschrittene Varianten des Selbstgefühls. Die Gesellschaft beginnt, sich in verschiedene Stände auszudifferenzieren; Künste und Wissenschaften entwickeln sich, und damit entfernt sich der Mensch langsam von der direkten und indirekten Fixierung auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und Eigentumssicherung: In dieser Periode werden auch schon manche Gegenstände zur Untersuchung gezogen, die nicht eigentlich mehr von den groben und notwendigen Bedürfnissen der Menschen dem Verstande angewiesen werden. (III, S. 336)
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- Den Übergang in die vierte Periode zeigen drei Kennzeichen an: zum ersten ein Bedürfnis nach »feineren Vergnügungen« (III, S. 339), Luxus und Wohlleben, die durch Handel und Industrie genauso wie durch Wissenschaften und schöne Künste gefördert werden; zum zweiten die völlig ungehinderte Ausbreitung von Wissenschaft und Aufklärung (vgl. III, S. 342); zum dritten schließlich die Rückkehr der Wissenschaften vom Allgemeinen zur Beobachtung des Details und zur Erklärung des »Einzelnen« und »Wirklichen« (III, S. 343) in der Natur. Das modern anmutende Ideal einer Verfachlichung und Spezialisierung von Wissenschaft, das hier ausgebreitet ist, sticht kraß ab gegen tradierte Universalitäts- und Allgemeingültigkeitsansprüche: Je mehr sich aber der Verstand vom Allgemeinen wieder aufs Einzelne herabsenkt, und je mehr sich unsere Begriffe nach dem Ursprünge der Erkenntniß bequemen, desto mehr werden wir inne, wie unsicher allgemeine Schlüsse auf eine Thatsache gegründet werden können, und daß jedes Ding in der Natur, und jede Handlung der Menschen, die nach Gefühl und Erkenntniß erfolget, bey aller Aehnlichkeit, die sie mit ändern haben, doch eben so ihre besondere und eigene Gesetze, Regeln und Sittlichkeit besitzen, als sie ihre eigene Natur, Ursachen, Wirkungen und Folgen haben. (III, S. 344f.)
In der bisher letzten Phase werden, so könnte man zugespitzt formulieren, nach den Gefühlen und Meinungen sogar die Wissenschaften individuell. Irwings versteht seine Darstellung der vierten Periode auch als Schilderung seiner eigenen Zeit; er unterstützt dabei im wesentlichen die Degenerationsanalyse Herders und Schillers. Uneingeschränkt positiv ist zwar der Fortschritt in den Wissenschaften; leider habe jedoch die »Kultur der Gesinnungen, Begierden und des Verhaltens der Menschen« (III, S. 346) mit der Technik nicht Schritt halten können. Die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen sind schneller gewachsen als seine Moralität; die Befriedigung seiner gewachsenen Bedürfnisse nimmt nun wenn auch auf höherer Stufe - wieder so viel Zeit in Anspruch, daß stärker zukunftsorientierte Menschheitsperspektiven ihn nicht mehr in Bewegung zu setzen vermögen. Für das Individuum ist sozusagen auf der vierten Stufe ein Maximum an Wohlleben erreicht; die innere Vervollkommnung jedoch, die das Gattungsziel als unentbehrlichen Bestandteil zur vollendeten Glückseligkeit vorschreibt, steht noch aus. Zwei Wege sieht Irwing aus der Krise - deren Grundzüge wohl auch dem heutigen Betrachter bekannt vorkommen-; sie führten zu einer nur projektierten fünften Epoche, die geprägt wäre von einem allgemeinen Kosmopolitismus (vgl. III, S. 363). Der erste geht von einem wachsenden Unbehagen des einzelnen angesichts der immer stärker werdenden Kluft zwischen Einzel- und Gesamtinteresse aus, die auch der Luxus nicht überdecken kann: Auf diese Weise kann sich, zum Beyspiel, das Gefühl der Nichtigkeit aller übertriebenen Verfeinerung menschlicher Bedürfnisse, und grenzenlosen Vervielfältigung der Gegenstände derselben, nach und nach immer allgemeiner ausbreiten. (III, S. 351)
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Mit der Bedürfniskritik einher geht die Verdammung egoistischen Gewinnstrebens: Die Konzentration auf Partikularinteressen führt nicht nur zu völligem Stillstand jedes wahren Fortschritts, sondern auch zunehmend zur Instrumentalisierung anderer für die eigenen Zwecke. Hier setzt der zweite Weg an, der bei Irwing aus der Krise führen soll: die emotionale Verstärkung guter, altruistischer Taten durch die Befriedigung, die der zeitgenössische Empfindsame aus ihnen zieht. Über den Umweg der Selbstliebe wird so der Altruismus motiviert: Je mehr sich aber erst die wahre und ächte Empfindsamkeit bildet, und unter den Menschen allgemeiner auszubreiten anfängt, desto mehrere und feinere angenehme Beziehungen einer jeden guten und zweckmäßigen Handlung mit der menschlichen ganzen Natur werden fühlbar wahrgenommen, und dünken [...] dem Empfindsamen allein schon Belohnung genug für alle seine guten Thaten zu seyn. (III, S. 356f.)
Irwing verbindet hier in einer für die Spätaufklärung exemplarischen Weise ein Fortschrittsmodell der Menschheit mit anthropologischen Grundthesen, die dessen Anbindung sowohl an die Analyse der eigenen Zeit wie auch an die prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen des Menschen gewährleisten sollen. Menschliche »Defizienzen« auf dem Weg zur Vollkommenheit werden dabei gezielt eingebunden: Die Triebfedernlehre verleugnet ja nicht etwa die sinnliche Ausstattung und die materielle Bedürfnisorientierung des Menschen, sondern integriert sie als Flilfsmittel. Die Schwächung bzw. moralische Umwandlung dieser »Triebwerke« auf höherer Stufe bleibt jedoch ein Problem: Zum einen, weil sie gerade in der zugespitzten Verfeinerung und Kultivierung offensichtlich kontraproduktiv werden und ihre aggressiv-individualistischen Potentiale entfalten; zum anderen, weil der Kurzschluß zwischen dem Wohlstand des einzelnen und dem Glück der vielen wohl doch nicht ganz funktioniert: Daß der Endzweck der Menschheit in »edler Bruderliebe und vernünftiger Freyheit« (III, S. 363) bestehe, bleibt eher philosophisches Versatzstück als anthropologische Erfordernis.7 Gemalte Anthropologie - ein Exkurs zu Daniel Chodowiecki Wie eine Illustration zu Irwings Kulturgeschichte wirken DANIEL CHODOWIECKIS 12 Blätter zur >Geschichte der Menschheit nach ihren Culturverhältnissen< (1784; Tafel J-/I/):8 Auch sie folgen dem Muster einer Fortschrittsgeschichte,
Zu vergleichen wäre hier auch Johann Gottlieb Steeb, >Ueber den Menschen< (*37), der ebenfalls im dritten Teil - nach somalischen und psychologischen Untersuchungen - auf die Kulturgeschichte des Menschen eingeht und dabei ein besonders umfangreiches Kapitel den Gewohnheiten und deren Einfluß in Gesellschaft, Religion, Klima, Künsten und Wissenschaften, Luxus und Erziehung widmet. *93; hier: Nr. 1115-1126, S. 262. Daniel Chodowiecki (1726-1801) war einer der berühmtesten Buchillustratoren des 18.Jahrhunderts. Die Idee, solche Illustrationen zu seelenkundlichen Zwecken zu nutzen, vertritt beispielsweise auch J. C. G. Schaumann (s. o. S. 43) in seinen >Ideen zu einer KriminalpsychologieNatürliche und affectirte Handlungen des Lebens< (zwei Folgen: 1778 und 1779; Tafel IV-IX )9 jeweils in Gegensatzpaaren Beispiele richtigen - d. h. natürlichen, einfachen, unverfälschten - und falschen - d. h. »affectirten«, übersteigerten, heuchlerischen - Verhaltens. Dargestellt werden Menschen in Situationen des gesellschaftlichen Lebens: bei Gespräch und Unterricht, Gebet und Spaziergang, beim Grüßen und Tanzen; die zweite Folge konzentriert sich dann stärker auf abstrakte Themen wie Natur, Empfindung oder Geschmack, die wiederum kontrastierend veranschaulicht werden. Dabei wird ein enger Zusammenhang zwischen innerem Wert und äußerem Ausdruck hergestellt, eine Art Physiognomik gesellschaftlicher Zeichen: So gibt sich das Unnatürliche, Affektierte unfehlbar in prachtvoller Kleidung, auffälliger Mimik und ausschweifender Gestik zu erkennen: die »affektierten« Blätter sind durchweg gekennzeichnet durch eine starke Dynamik der dargestellten Bewegung, während die Gestalten der »natürlichen« Blätter in anmutigen, zurückgenommenen Posen verharren. Natürliches und damit vorbildhaftes Verhalten, so macht uns der zeichnende Anthropologe hier deutlich, ist gekennzeichnet durch eine Verinnerlichung moralischer Grundsätze, die nur als Respekt vor den Mitmenschen, den Werken der Kunst und der Natur nach außen tritt und sich in der Rücknahme der eigenen Individualität spiegelt; unnatürliches Verhalten hingegen ist nur auf äußere Wirkung ausgerichtet, stellt die Person in den Vordergrund und entspringt keiner wahren und inneren Motivation. Noch deutlicher tritt dieser Unterschied in den 6 Blättern Aufrichtigkeit und Heuchelei (1793; Tafel X-XI) hervor; hier werden darüber hinaus noch die
mit Hülfe der Mimik, Physiognomik, Pathognomik, u.s.w. das würde leisten können, was der Urheber der Physiognomik durch diese zu leisten gedacht, durch sie aber nimmer geleistet werden kann, weil der innre Menschen seinen Character, seine Modificationen, seine Zustände nicht in der Form eines einzelnen Theils des Körpers, nicht in einem einzelnen Zuge, sondern im ganzen äusseren Menschen ausdrückt« (*98; zitiert nach: *187, S. 84). 9 *93, Nr. 553-564, S. 94, u. Nr. 565-576, S. 95. 10 *93, Nr. 1689-1694, S. 244.
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schädlichen Folgen der Heuchelei für die Gesellschaft betont: So zeigen die beiden Blätter >Almosen< den viel diskutierten Unterschied zwischen nützlichen Gaben an Bedürftige und wahllosen, selbstgefällig verteilten Almosen. Ebenso nutzt Chodowiecki die kontrastierende Methode zur Darstellung einer Geschlechtertypologie in den >Sechs männlichen und sechs weiblichen Eigenschaften< (1784; Tafel XII-XIV}.^ Wiederum erweist sich: Das Gute ist das Natürliche - der »Nachlässige« diskreditiert sich schon durch seinen fahrigen Gesichtsausdruck gegenüber dem munter in die Welt blickenden »Ordendichen«, die »Freche« durch ihren aufgebauschten Kleiderputz gegenüber der »Artigen«, der »Windbeutel« durch seine affektierte Haltung gegenüber dem »Bescheidenen«. Chodowieckis »gemalte Anthropologie« beruht damit nicht in erster Linie auf einer Individualpsychologie und -somatik (wie beispielsweise die traditionelle Physiognomik), sondern vor allem auf der Darstellung gesellschaftlicher und kultureller Artefakte: Während die Affektation zeitgenössischen Moden und Konventionen der Selbstdarstellung folgt, verweist die Natürlichkeit zurück auf einen Idealzustand, wie er in der Antike beispielhaft und zeitübergreifend verwirklicht war. Das dokumentieren beispielsweise die 12 Blätter >Gute menschliche Eigenschaften (1789; Tafel XV-XVT)^, deren Topologie, Ikonographie und Ambiente eindeutig antiken Ursprungs ist. Auch Chodowiecki kann so mit seinen graphischen Mitteln einen wesentlichen Beitrag zur Kulturgeschichte des Menschen wie zur Zeitkritik liefern; er ist sogar bei der Darstellung positiver, modellartiger menschlicher Handlungen im Vorteil gegenüber seinen schreibenden Kollegen, da er anschaulich das Schöne mit dem Guten verknüpfen kann - ein gemaltes goldenes Zeitalter wirkt eben doch überzeugender als ein nur abstrakt geschildertes. Die anthropologische Fachliteratur erreicht hingegen dort ihre Grenzen, wo es um die positive Ausformung einer zukünftigen Entwicklung des Menschengeschlechts geht - also im genuinen Bereich der sie teilweise ablösenden Geschichtsphilosophie; sie ist trotz ihrer Befähigung zur kritischen Analyse der eigenen Zeit auch nicht in der Lage, konkrete historische Abläufe zu interpretieren dies wäre die Aufgabe einer eigenen Fachwissenschaft Geschichte. Mit ihren spezifischen Mitteln kann sie vielmehr zweierlei bezüglich eines Verständnisses des Menschen als geschichtlichem Wesen leisten: Sie stellt zum einen, vor allem in ihrer stärker materialistisch orientierten Ausprägung - dies wurde hier nicht ausge-
11 *93, Nr. 1077-1088, S. 158. 12 *93,Nr. 1385-1396, S. 202.
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