130 69 31MB
German Pages 272 [273] Year 1980
JOACHIM NOCKE
Wissen in der Organisation
Schriften zur Verwaltungswissenschaft Band 10
Wissen in der Organisation Strukturelle und funktionale Abhängigkeiten der Verwaltungsqualifikation
Von
Dr. Joachim Nocke
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Prlnted in Germany ISBN 3 428 04557 2
, nachdem zuvor schon die Erforschung des Erwachsenen-Lernens einige gängige Annahmen über den Zusammenhang von Alter und Lernleistung revidiert hatte28. Im Unterschied zur allgemeinen Erörterung des Erwachsenen-Lernens ist die Sozialisationsforschung durchgehend auf das Verhältnis von Sozial- und Persönlichkeitsstruktur konzentriert. Anders als die überwiegend unsoziologisch arbeitende pädagogische Theorie der beruflichen Bildung untersucht die Theorie der beruflichen Sozialisation27 den Zusammen23 Die Entdeckung des sozialen Charakters der Persönlichkeit kann schon die Soziologie Karl Marx für sich in Anspruch nehmen, die bekanntlich das Bewußtsein als den Sitz individueller Werte und Einstellungen durch die sozialen und ökonomischen Prozesse der Gesellschaft bestimmt sah. Hierzu die bekannten Passagen in: Marx I Engels Werke 13 (Zur Kritik der politischen Ökonomie) Berlin 1974, S. 8. 24 Die Unterscheidung von primärer und sekundärer Sozialisation will auch eine inhaltliche Differenz des Sozialisationsvorgangs zum Ausdruck bringen. Geht es in der primären (vor allem familiären) Sozialisation um den Aufbau von "Basisidentifikationen" und entsprechenden personalen Grundstrukturen (basic personality structure), betrifft die sekundäre (vor allem Erwachsenen-)Sozialisation die Fortentwicklung oder Modifikation jener Grundstrukturen, die aber gewöhnlich unter anderen Bedingungen als die primäre Sozialisation verläuft. Hierzu die Nachweise bei W. Schütte: Sozialisation im juristischen Studium. Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik - Hochschuldidaktische Materialien Nr. 51, Harnburg 1976, S. 90 ff. 25 0. G. Brim, St. Weeler: Erwachsenensozialisation Sozialisation nach Abschluß der Kindheit - mit einem Beitrag von H. Hartmann (Die Sozialisation von Erwachsenen als soziales und soziologisches Problem, S. 126 ff.) Stuttgart 1974. 26 Eine ausführliche Übersicht über die Literatur bringt M. Verres-Muckel: Lernprobleme Erwachsener, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974, und A. G. Brandenburg: Psychologische, soziologische und didaktische Voraussetzungen des Lernerfolgs im Erwachsenenalter, Göttingen 1974. 27 K. Lüscher: Der Prozeß der beruflichen Sozialisation, Stuttgart 1968; vgl. auch die Beiträge zum Thema in Th. Luckmann, W. M. Sprondel (Hrsg.): Berufssoziologie, Köln 1972, 4. Teil (S. 217 ff.) und die Bibliographie S. 422 f.; L. Huber: Das Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern, Neue Sammlung 1974, S. 2 ff. W. G. Moore: Occupational Socialization, in: D. A. Goslin (Hrsg.): Handbook of Socialization - Theory and Research, Chicago 1969; E. H. Schein: Organizational Socialization and the Profession of Management Cambridge/Mass. 1967; D. C. Feldman: A Contingency Theory of Socialization, in: Administrative Science Quarterly 1976, S. 433 ff.
64
IV. Teil: Strukturvariable Personal
hang von betrieblichen Systemstrukturen und Persönlichkeitsentwicklung, wobei dem Begriff der "Berufsrolle" eine Schlüsselstellung zufällt28. Nach der dem Rollenkonzept zugrunde liegenden Vorstellung findet der in das Beschäftigungssystem Eintretende einen abstrakten Bestand an sozialen Erwartungen vor, die sich an den jeweiligen Inhaber einer bestimmten Position im Organisationsgefüge richten. Es sind dies einmal - und hierauf beschränkt sich gewöhnlich das Interesse der berufspädagogischen Forschung - die technischen und kognitiven Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in formalen Aus- und Fortbildungsprozessen im Wege einer planvollen Wissensvermittlung erworben werden. Die beruflichen Rollen erschöpfen sich allerdings nicht in formalen Qualifikationserwartungen. Sie sind darüber hinaus - in manchen Bereichen überwiegend - auf sog. extrafunktionale29 Fähigkeiten und Eigenschaften gerichtet. Es handelt sich hierbei um normative Orientierungen, die in bestimmter Weise auf die Identifikation mit dem Organisationszweck, die vorherrschende politische Linie des Hauses, auf berufsständische Normen, Gruppenloyalitäten oder in ähnlicher Weise auf die Wert- und Autoritätsstruktur des Beschäftigungssystems bezogen sind. Der Prozeß der beruflichen Sozialisation - gewöhnlich als Prozeß der übernahme beruflicher Rollen insoweit zu weit definiert - bezieht sich nur auf die letztgenannten extrafunktionalen Rollenelemente. Sie berühren die Persönlichkeitsstruktur des Beschäftigten unmittelbar, wenngleich nicht jedes Befolgen einer "extrafunktionalen" Norm mit einer persönlichkeitsmodifizierenden Internalisierung verbunden sein muß30• Natürlich kann es auch rein taktische 2s D. Katz, R. L. Kahn: The Social Psychology of Organizations, New York, London, Sydney 1966, S. 171 ff. 29 Die in der deutschen berufssoziologischen Forschung verbreitete Unterscheidung von funktionalen und extrafunktionalen Fertigkeiten und Qualifikationen geht auf R. Dahrendorf: Industrielle Fertigkeiten und soziale Schichtung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1956, S. 540 ff. zurück. Die Terminologie ist insofern nicht ganz glücklich, als die sogenannten extrafunktionalen Fertigkeiten gewöhnlich höchst funktional im Sinne von unverzichtbar bzw. systemnotwendig sind. so Vgl. etwa R. Koch: Personalsteuerung in der Ministerialbürokratie eine theoretisch-empirische Studie zur Möglichkeit organisatorischer Neuerungen, Baden-Baden 1975, S. 132 ff. Der Erwerb einer Rollenbefähigung sagt für sich noch nichts darüber aus, ob dieser Prozeß mit einer Veränderung von Persönlichkeitsvariablen verbunden war. Das gilt selbst hinsichtlich der "normativen" Rollenelemente, die also primär auf Einstellungen und Werte (und nicht auf instrumentale oder kognitive Fertigkeiten) bezogen sind. Auch insoweit sagt eine äußerliche Rollenkonformität nichts über erfolgreiche Sozialisationsprozesse aus. Die Sozialisationstheorie unterscheidet insoweit zwischen Einstellungskonformität und ("sichtbarer") Verhaltenskonformität ("behavioral conformity"), wobei weithin ungeklärt ist, inwieweit eine Verhaltensänderung ohne Rücksicht auf zugrundeliegende Einstellungen vom Sozialisationskonzept erfaßt werden können. Dazu H. P. Frey: Theorie der Sozialisation, S. 65 ff.
3. Das Konzept der beruflichen und vorberuflichen Sozialisation
65
Anpassungen geben, die die Persönlichkeit des Handelnden vollkommen unberührt lassen oder mit einem Minimum an persönlicher Identifikation auskommen31. Damit ist zugleich angedeutet, daß das Verhältnis von Sozialstruktur und Persönlichkeit nicht als einseitige und alternativlose Bestimmung aufgefaßt werden kann. Das gilt in zwei Richtungen. Einmal besteht die Möglichkeit, ein und dieselbe Rolle unterschiedlich zu interpretieren und zu handhaben, wobei die Interpretationsspielräume sowohl auf der technischen wie auf der persönlichkeitsbezogenen Rollenebene von Rolle zu Rolle je nach ihren strukturellen Bedingungen unterschiedlich ausfallen können32• Die Möglichkeit, in einer Arbeitsrolle eine eigene Identität auszuprägen, ist für einen Hochschullehrer ungleich größer als für einen Fließbandarbeiter. Eine personale Autonomie kann im letzteren Fall nur gegen die Berufsrolle verteidigt und wenn überhaupt - weitgehend nur außerhalb des Berufs erlebt werden. Die Variationsmöglichkeiten betreffen auch das Sozialisationsergebnis selbst. Gleiche soziale Strukturen spiegeln sich nicht notwendig in uniformen Berufspersönlichkeiten, wenngleich auch diese Aussage unter dem Vorbehalt unterschiedlicher sozialer Bedingungen steht. Einer Erwartung, die auf eine alternativlose Befolgung von Verhaltens- und Einstellungsimperativen drängt, kann unter entsprechend gleichförmigen strukturellen Bedingungen wenig entgegengesetzt werden. In dieser Weise hat der bekannte von R. K. Merton gezeichnete Sozialcharakter des Bürokraten33, dem Organisationsprinzipien unbemerkt zu persönlichen Verhaltenseigenschaften geraten, eine unbestreitbare empirische Bedeutung. 31 Dieser Haltung kommt in der bekannten Einteilung bei R. Presthus: Individuum und Organisation- Typologie der Anpassung (deutsche Übersetzung), Harnburg 1966, das Anpassungsmuster des Indifferenten (S. 208 ff.) nahe: "Der Angestellte erfüllt die an ihn gestellten Forderungen, indem er für die von der Organisation vertretenen Wertbegriffe ein Lippenbekenntnis ablegt" (S. 211). Während sich der Aufstiegsbewußte durch eine hohe Identifikationsbereitschaft (S. 171 ff.) den Sprung nach vorn erhofft, macht der Ambivalente aus seiner Distanz zu offiziellen Meinungsimperativen kein Hehl und hat mit entsprechenden Schwierigkeiten zu kämpfen (S. 252 ff.). 32 St. Jensen: Bildungsplanung als Systemtheorie, Bielefeld 1970, S. 47 f. 33 R. K. Merton: BureaueraUe Structure and Personality (1940), deutsche Übersetzung in R. Mayntz (Hrsg.), S. 265 ff. eine entsprechende Untersuchung für deutsche Verhältnisse dürfte die Annahme eines spezifischen Sozialcharakters noch eher bestätigen, weil hier als weiterer Homogenisierungsfaktor eine ideologische Tradition wirkt, wie sie der öffentlichen Bürokratie der USA in dieser Form fremd ist. Vgl. das Nachwort von Armanski, Braus, Penth in: dies. (Hrsg.): "Deutschland - Deine Beamte - Ein Lesebuch", Berlin 1976, S. 132 ff. 5 Nocke
66
IV. Teil: Strukturvariable Personal
Für entsprechende Beobachtungen bietet sich gerade aus der Analyse des reinen Typus bürokratischer Form eine naheliegende Erklärungsmöglichkeit an: Das bürokratische Gehorsamsmodellläßt sich als ein berufliches Lernfeld interpretieren, dessen Strukturen dem Rolleninhaber nur geringe Variationsmöglichkeiten erlauben. Der vorherrschende Kommunikationstyp und die vorgeschriebene Regelorientierung bedingen ein Lernklima, das der extrinsischen34, also an Belohnung und Strafe orientierten Motivation vor primärer, ergebnisorientierter Verhaltens- und Lernmotivation den Vorrang gibt. Unter diesen eindeutigen Aspekten ist in der Tat die Voraussetzung für ein relativ homogenes Sozialisationsprofil gegeben. Der Vorgang der Konditionierung findet hier gewissermaßen seine idealen organisatorischen Bedingungen. Nach einer bestimmten Zeit behält "der Bürokrat" sein zunächst erzwungenes Verhalten auch dann noch bei, wenn die externen Kontrollen weggefallen sind. Die entsprechenden Verhaltensimperative sind dann verinnerlicht. Ihre Verletzung wird in dieser Phase nicht mit Sanktionen, sondern mit Schuldgefühlen beantwortet: Die Struktur der Persönlichkeit ist mit der bürokratischen Organisation eins geworden, das äußere Steuerungssystem ist durch ein entsprechendes inneres ersetzt wordenoo. Wenn auch, wie gesagt, die hier angedeutete Figur des prinzipientreuen Bürokraten nicht empirisch bedeutungslos ist, so sind einer allzu direkten strukturellen Analogie von Organisation und Persönlichkeit Grenzen gesetzt. Je mehr sich das Organisationsbild von klar strukturierten Grenztypen zu strukturell-heterogenen Mischformen entwickelt, um so stärker muß sich die Theorie der beruflichen Sozialisation auf diese Veränderung mit entsprechenden Differenzierungen einstellen. Zum anderen muß die berufliche Sozialisationswirkung im Zusammenhang mit der Tatsache betrachtet werden, daß die Struktur 34 In dieser "sekundären" Motivationsrichtung liegt eines der Merkmale, mit dem die Bürokratieforschung die bürokratisch-loyale von der professionell-sachbezogenen Orientierung bei Organisationsmitgliedern unterscheidet. Vgl. dazu die Beiträge im Kapitel "Die Hierarchie und die Spezialisten" in: R. Mayntz (Hrsg.), S. 191 ff. und ausführlicher hierzu unten V 12. Der Zusammenhang von extrinsischer Motivation und bürokratischer Struktur läßt sich hinsichtlich der Phase vorberuflicher Sozialisation, nämlich im Zusammenhang von extrinsischer Werthaltung und Eintrittsbereitschaft in den öffentlichen Dienst, bestätigen. Vgl. die empirischen Erhebungen von N. Luhmann, R. Mayntz (unter Mitarbeit von R. Koch und E. Lange): Personal im öffentlichen Dienst, Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Bd. 7, Baden-Baden 1973, S. 49 ff. as In diesem Zusammenhang gehört z. B. die Auffassung H. Simons, daß der Bedarf nach formaler Kontrolle in dem Maße abnimmt, je wirksamer der Prozeß beruflicher Sozialisation verläuft, je stärker die äußeren Kontrollen also internalisiert sind - H. Simon: Decision Making and Administrative Organisazition, in: R. K. Merton u. a. (Hrsg.): Reader in Bureaucracy, New York 1952, S. 185 ff.
4. Zum Verhältnis von Ausbildung und Sozialisation
67
einer Arbeitsorganisation schon bei der Rekrutierung des Personals hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitstypen unterschiedliche Anziehungskraft hat. Unter diesem Aspekt wird etwa die Ansicht vertreten, daß "di~ bürokratische Organisationsstruktur mit ihren Verhaltensanforderungen für den autoritären Typus . • . eine geeignete Umwelt bereitstellt"311• Neuere empirische Untersuchungen lassen allerdings hinsichtlich derartiger Beziehungen zur Vorsicht raten, wenngleich sie bestimmte Hypoth~en über den Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und Eintrittsbereitschaft deutlich bestätigen37• Gleichwohl wird man daran festhalten können, daß schon die Berufswahl und Personalrekrutierung insoweit selektiv verfahren, als sie in gewissem Umfang auf der personellen und sozialen Ebene kompatible Systemstrukturen zusammenführen. Di~ beobachtbare wechselseitige Entsprechung von Organisations- und Persönlichkeitsmerkmalen kann also nicht ausschließlich oder in manchen Fällen nicht einmal primär als das Resultat d~s beruflichen Sozialisationsprozesses interpretiert werdenss.
4. Zum Verhältnis von Ausbildung und Sozialisation In der Literatur wird das Verhältnis von Ausbildung und Sozialisation mitunter lediglich im Stufenverhältnis des Besond~ren zum Allgemeinen interpretiezi39. Ausbildung unterscheidet sich danach nur durch eine größere "Intentionalität" und damit verbunden einen höhess Vgl. R. Presthus: Individuum und Organisation, S. 134; für die Hypothese eines strukturellen Gegentyps und seiner korrespondierenden Persönlichkeitsmerkmale: St. J. Caroll, H. L. Tosi: Goal Characteristics and Personality Factors in a Management-by-Objectives Program, Administrative Science Quarterly 1970, S. 295 ff. 37 Vgl. hierzu insbes. die Erhebung von N . Luhmann, R. Mayntz, insbes. S. 38 ff., 89 ff. Die Studie widerlegt die Annahme, der öffentliche Dienst ziehe gerade die Leistungsschwächeren oder weniger Kreativen an, bestätigt aber "eindrucksvoll" (S. 48) die Präferenz der autoritären (dogmatischen, rigiden und weniger ambiguitätstoleranten) Persönlichkeit für den Eintritt in den öffentlichen Dienst. ss In diesem Sinne hält A. Etzioni: Soziologie der Organisation, 2. Aufl. München 1969, S. 110, die Bedeutung der Sozialisation gegenüber der Auswahl vielfach für überschätzt. Im übrigen sieht er beide Strategien als austauschbar an, d. h. Sozialisation und Auswahl lassen sich teilweise ersetzen: "Das gleiche Maß an Kontrolle kann durch sorgfältigere Auswahl und ein geringeres Maß an organisatorischer Sozialisation oder nachlässigere Auswahl und ein hohes Maß an organisatorischer Sozialisation erreicht werden." Solche Aussagen sind freilich zweifelhaft, weil sie ohne weitere Nachweise den Eindruck hinterlassen, als könne über die hier angesprochenen Prozesse nach Art eines Sandkastenspiels beliebig verfügt werden. se St. Wheeler: Die Struktur formal-organisierter Sozialisationsanstalten, in: 0 . G. Brim, St. Wheeler, S. 71. Im Grunde trifft diese Einschätzung für alle Theorien zu, die den Sozialisationsbegriff mit einem undifferenzierten Rollenbegriff in Verbindung bringen.
s•
68
IV. Teil: Strukturvariable Personal
ren Formalisierungs- bzw. Organisationsgrad der Vermittlungs- und Lernprozesse. Die zumeist in formalen Bildungsgängen organisierte Wissensvermittlung in darauf spezialisierten Systemen (Schule, Universitäten) ist danach Ausbildung. Die eher informal ablaufenden Lernprozesse werden dagegen der Sozialisation zugerechnet. So wichtig es- gerade für eine organisationsinterne Berufsbildungsarbeit- ist, Lernvorgänge nach dem Grad ihrer Organisation zu differenzieren, so untauglich sind entsprechende Versuche für die Unterscheidung von Ausbildung und Sozialisation. Es gibt außerordentlich planvoll organisierte Versuche, auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen Einfluß zu nehmen ("Verhaltenstraining")40, die aber mit Ausbildung in dem hier verstandenen Sinne unmittelbar nichts zu tun haben, und es gibt nichtorganisierte Lernvorgänge, die zum Erwerb eines Wissens führen, das für die persönlichkeitsindifferente Ausführung von beruflichen Rollen benötigt wird. In diesen Zusammenhang gehört etwa das ungeplante oder unsystematische "learning by doing"41• 40 Zu erwähnen wäre im Bereich der beruflichen Erwachsenenbildung namentlich die Palette von Sozialtechniken (Sensitivity-Training, Scenarios, T-Gruppen o. ä.), die im Gefolge der Gruppendynamik auf die psychologischen Strukturen von Beschäftigten angesetzt werden, wobei die diffusen Lernziele dieser Veranstaltungen es nahelegen, zwischen den offiziellen und den tatsächlichen Zwecken der angezielten Einstellungsänderungen zu unterscheiden. Die Bewertung dieser Form von Fortbildungsaktivitäten ist außerordentlich kontrovers und muß wohl von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. Eine verbreitete Kritik sieht in der Gruppendynamik eine manipulative Humantechnik, die primär auf die psychologische Individualisierung sozialer Konflikte ausgerichtet ist, bzw. als "Führungslehre" psychoanalytische Erkenntnisse in Herrschaftswissen überführt. Vgl. Ch. Ohm: Ziellosigkeit als Lernziel der Gruppendynamik, Das Argument 78 (1972) S. 94 ff. und dazu P. Heintet: Zum Wissenschaftsbegriff der Gruppendynamik. Das Argument 91 (1975) S. 494 ff.; ferner G. Lapassade: Gruppen, Organisation, Institutionen, Stuttgart 1972, S. 46, 52, und L. Baritz: The Servants of Power. A History of the Use of Social Science in American Industry. Middletown (Conn.) 1960. Alternative Möglichkeiten für den Einsatz gruppendynamischer Verfahren in der Bildungsarbeit sehP.n 'K 'fforn: Politische und methodologische Aspekte gruppendynamischer Verfahren, Das Argument 50 (1969), S. 261 ff.; J. Fritz: Emanzipatorische Gruppendynamik - Erkenntnistheoretische und methodologische Überlegungen, München 1974; D. Gebert: Gruppendynamik in der betrieblichen Führungsschulung, Berlin 1972. Ein Überblick über den Meinungsstand geben die Beiträge in K. Horn (Hrsg.): Gruppendynamik und der "subjektive Faktor" - Repressive Entsublimierung oder politisierende Praxis, Frankfurt a. M. 1972. Für den Bereich der öffentlichen Verwaltung wären zu erwähnen Jochen Schmidt: Kommunikation und Kooperation in der öffentlichen Verwaltung- Erfahrungen aus grupendpynamisch orientierten Fortbildungsveranstaltungen, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 1973, S. 306 ff. H. Feger: Die Anwendung gruppendynamischer Erkenntnisse in der Verwaltung, in: H. Krauch (Hrsg.): Systemanalyse in Regierung und Verwaltung, Freiburg 1972, S. 251 ff. 41 Zwischenformen stellen solche Maßnahmen betrieblicher Aus- und Fortbildung dar, deren Organisation bestimmte Arbeitsplätze nach ihrem Ausbildungswert bemißt und das innerbetriebliche Qualifizierungssystem durch Ausbildung am Arbeitsplatz, planvollen Arbeitsplatzwechsel (Rotation),
4. Zum Verhältnis von Ausbildung und Sozialisation
69
Das damit angedeutete Differenzierungskriterium setzt also bei den Inhalten und Ergebnissen, nicht der Form von Lernvorgängen an, wenngleich auch insoweit eine spezifische Beziehung von Form und Inhalt nachweisbar sein wird. Der Sozialisationsbegriff ist danach Lernprozessen vorbehalten, der zu einer Änderung der Persönlichkeit des Lernenden führt42 • Nicht jedes Lernen ist mit einer Internalisierung, d. h. mit einer Revision der Persönlichkeitsstruktur derart verbunden, daß das Gelernte affektiv im Individuum repräsentiert ist. Die Zurkenntnisnahme eines novellierten Gesetzes oder das Erlernen eines neuen Programmcodes wären hierfür ein Beispiel. Das Gleiche gilt auch für die in einem konformen Rollenverhalten manifestierte Anerkennung von Normen oder Werten, soweit sie auf einem opportunistischen oder zweckrationalen Kalkül beruht, das die Persönlichkeit des Handelnden unberührt läßt und in dieser Weise zu keinem "inneren Engagement" führt. Die Motivation bleibt in diesem Falle äußerlich und ist als "compliance" von Formen verinnerlichter Motivation, auf die der Begriff der Internalisierung bezogen ist, zu trennen43• Der Versuch, diese mehr illustrative Beschreibung zu systematisieren, kann in gewissem Umfang auf eine geläufige Unterscheidung, nämlich der von Bildung und Ausbildung zurückgreifen44 • Diese speziell aus der Geschichte der deutschen Bildungstheorie hervorgewachsene Dichotomie stellte im Begriff der Bildung bekanntlich die abstrakte "Persönlichkeitsformung" der zweckgerichtet-intentionalen Wissensvermittlung zum Erwerb bewußt verwertbarer und verwendbarer Qualifikation gegenüber. Was den persönlichkeitsbetonenden Bildungsbegriff freilich vom Sozialisationsbegriff trennt, ist sein extrem individuelles Verständnis, das das Individuum gerade als autonom handelnde Person ausrüsten will. Reinigt man den Begriff von diesen normativ-pädagogischen Implikationen und stellt ihn in den sozialen Assistentenstellungen u. ä. hierauf einstellt. Vgl. die übersieht bei H. M. Schönfeld: Die Führungsausbildung im betrieblichen Funktionsgefüge, Wiesbaden 1967, S. 127 ff. und R. Koch: Personalsteuerung in der Ministerialbürokratie, S. 136 ff. 42 Zu dieser Definition und ihren Konsequenzen für die Persönlichkeit eines Organisationsteilnehmers als Entscheidungsprämisse W. Kirsch: Entscheidungsprozesse, Bd. III, S. 182 ff. 43 Vgl. auch die Unterscheidung von "manifester" und "latenter" Sozialisation bei K. Lüscher: Der Prozeß der beruflichen Sozialisation, S. 76 ff.; vgl. hierzu auch im Anschluß an R. K. Merton die Unterscheidungen bei H. P. Frey: Theorie der Sozialisation, S. 65 ff. 44 Noch treffender wäre möglicherweise die Entgegensetzung von "Erziehung" und Ausbildung. In dieser Weise ließe sich etwa der Begriff der "Amtserziehung", den Th. Jüchter: Die Schule der Bürokraten und Organisatoren- Weshalb die Bundesakademie das Problem der Verwaltungsausbildung auch nicht lösen kann, Deutsche Universitätszeitung 1968 IV, S. 5 ff. (S. 9) zitiert, mit dem Begriff beruflicher Sozialisation gleichsetzen.
70
IV. Teil: Strukturvariable Personal
Zusammenhang, in den er bei empirischer Betrachtung des Persönlichkeitsbegriffs gehört, wird er mit dem Sozialisationsbegriff zumindest teilweise bedeutungsgleich. Im Unterschied zur "Ausbildung" bezieht er sich auf die Persönlichkeit als Träger von Werten, Gruppenorientierungen, Attitüden und vergleichbaren verhaltenssteuernden Strukturen unmittelbar".
5. Funktionen der beruflichen Sozialisation Auf der Basis dieser Unterscheidung lassen sich die vielfältigen terminologischen Differenzierungen des Lernvorgangs, die das Verständnis der berufspädagogischen, aber auch der organisationspsychologischen Erörterung des Problems erschweren, nach relativ klaren Kriterien systematisieren. Berufliche Lernprozesse - dieser Begriff ist noch am ehesten als übergreifender Terminus von Sozialisation und Ausbildung geeignet - lassen sich danach unterscheiden, ob sie primär auf die Vermittlung einer fachlichen Kompetenz im Sinne kognitiver Fähigkeiten der Informationsverarbeitung und instrumentaler Handlungsfähigkeiten" oder primär auf die Vermittlung einer "sozialen Kompetenz" im Sinne affektiver Fähigkeiten gerichtet sind. Im letzteren Falle geht es vorwiegend um "die Übernahme von Wertmustern, normativen Verhaltenserwartungen, Standards der Selbstachtung und Fremdachtung (Moral) und expressiven Handlungsmustern in die Persönlichkeitsstruktur mit dem Ergebnis, daß sie als eigene, nicht als zugemutete erlebt und entsprechend entlastet vollzogen werden können" 47. Die Entgegensetzung von kognitiven und affektiven Fähigkeiten knüpft insoweit an die jüngere Curriculumtheorie an, die formale Lernprozesse unter empirisch-theoretische Kontrolle zu bringen versucht und in diesem Zusammenhang an der Systematisierung der Lernziele interessiert sein muß. Unter quasi entscheidungstheoretischen Gesichtspunkten, die vor allem durch die Versuche der Unterrichtsprogrammierung nahegelegt wurden, wird in diesem Bereich mit sog. Lernzieltaxonomien gearbeitet, die einen kognitiven, einen affektiven und einen psychomotorischen Bereich unterscheiden48• Die nähere 45 Die umfassendere Verwendung des Sozialisationsbegriffs müßte bei der Erfassung der hier unterschiedenen Tatbestände nach politischer, religiöser, sprachlicher Sozialisation differenzieren. Für den in diesem Zusammenhang noch am ehesten interessierenden Bereich der politischen Sozialisation vgl. G. C. Behrmann: Soziales System und politische Sozialisation, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972, S. 68 ff., 158 ff.; P. Ackermann (Hrsg.): Politische Sozialisation, Opladen 1974, mit ausführlicher Bibliographie (S. 324 ff.). 48 N. Luhmann: Reform des öffentlichen Dienstes, S. 210. 47 N. Luhmann, ebd.
5. Funktionen der beruflichen Sozialisation
71
Kennzeichnung des kognitiven und affektiven Bereichs49 , die - der behavioristischen Psychologie folgend- immer ein beobachtbares Verhalten angeben soll, das als Merkmal des Lernerfolges gelten soll, bestätigt im Grundsatz die zumindest analytische Trennbarkeit kognitiv-instrumentaler und affektiv-sozialisatorischer Elemente. Sie macht aber im Detail auch überschneidungsmöglichkeiten deutlich60• In der Tat wird man etwa in Prozessen reflektierter überzeugungsbildung kognitive Elemente ausmachen51 , wie umgekehrt vielfach eine dem Anspruch nach instrumental-qualifizierende Wissensvennittlung zugleich Sozialisationseffekte haben kann52• Eben unter diesem Gesichtspunkt werden lernbestimmte Bereiche vorberuflicher und beruflicher Bildung interessant: unter dem Aspekt nämlich, inwieweit gegenüber dem offiziellen Anspruch der fonnalen Bildungsinstanzen auf Vermittlung kognitiver Kompetenzen und instrumentaler Handlungsfähigkeiten die Sozialisationsfunktion von beruflicher Bildung eine gleichberechtigte oder überwiegende Bedeutung erhält. Entsprechende Untersuchungen haben sich dabei im Bereich der Erwachsenenbildung bisher primär auf die ideologiekritische Aufdekkung mehr oder weniger subtiler "Bewußtseinsschulungen" oder betrieblicher Anpassungsstrategien konzentriert und haben hier nicht nur in Bereichen, deren ideologische Affinität auf der Hand lie~, ein breites Wirkungsfeld gefunden54• 48 Hierzu der "Oberblick bei H. Blankertz: Theorien und Modelle der Didaktik, München 1969, S. 143 ff. 49 Eine knappe Zusammenfassung der in dieser Weise von einer Forschungsgruppe um B. Bloom entwickelten Detail-Taxonomien ist für den kognitiven und den affektiven Bereich wiedergegeben bei H. Blankertz: Theorien und Modelle, S.146 ff.; ausführlicher B . S. Bloom: Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich, Weinheim, Basel 1972. 50 Hier dürfte sich allerdings auch die Frontstellung auswirken, in der sich zumindest die behavioristisch orientierte Curriculumtheorie gegen die auf psychoanalytischen Erkenntnissen fußende Theorie der Sozialisation befindet. Um so mehr sind daher die Übereinstimmungen zwischen beiden Ansätzen auf diesem Feld zu betonen. 51 H. Fend: Sozialisierung und Erziehung, S. 193. s2 Vgl. dazu L. Huber: Das Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern, Neue Sammlung 1974, S. 2 ff. (10 f.). 53 Im Bereich der Fortbildungsarbeit des öffentlichen Dienstes wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen die Aktivitäten der Staatsbürgerkunde, politischer Bildung, "Ost-Seminare", staatspolitischer Unterweisungen usw. oder die vielfältigen Versuche, die der pädagogischen Umsetzung der in der Vergangenheit nicht selten vorwissenschaftliehen "Führungslehren", Konzeptionen der "Menschenführung" u. ä. galten. Konnte H. W. Thieme: Verwaltungslehre, Köln, Berlin, Bonn, München 1. Auft. 1967, S. 197, Rdnr. 697, z. B. noch eine zu starke Ausweisung der "politischen Allgemeinbildung" in den Fortbildungsplänen des höheren Dienstes feststellen, so dürfte die in der Zwischenzeit eingeleitete Verfachlichung der Fortbildungsarbeit möglicherweise eine andere Bewertung erfordern. 54 B. Biermann, H. Wienold: Führungsausbildung in der Industrie - Ein-
72
IV. Teil: Strukturvariable Personal
Auch Bereiche, die in der Tradition einer Berufspädagogik standen, welche für derartige Differenzierungen kein Interesse aufbrachte und im übrigen unter dem Postulat "pädagogischer Autonomie" auch theoretisch dafür nicht gerüstet waz-55, erscheinen in der sozialwissenschaftliehen Analyse nicht mehr als die technisch-neutralen Qualifizierungsinstanzen, als die sie herkömmlich behandelt wurden56• Diese Stellungnahmen zu überkommenen Konzepten beruflicher Bildung bringen den Begriff der Sozialisation in einen durchweg kritischen Zusammenhang, in dem er sich mit Begriffen wie "Integrationspädagogik", "identifikatorische Bildungsarbeit"'7 verbindet und in dieser Bedeutung die einseitige Verpflichtung auf die herrschenden betrieblichen Interessen, Wertvorstellungen und Maximen bezeichnet5s. Sozialisation erscheint insoweit als die Indienstnahme der Persönlichkeit für die Organisation59• Die Kritik ist unter zwei Aspekten wesentlich: Einmal entzieht sie verbreiteten Modellen der Erwachsenensozialisation, die eine kontinustellung und Verhalten des Management, Materialien aus der empirischen Sozialforschung, Heft 5, Dortmund 1967; H. Hartmann, H. Wienold: Universität und Unternehmer, Gütersloh 1967; B. Biermann: Zur Zielstruktur der wirtschaftliche Führungsausbildung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1972, S. 499 ff.; H. Johannsen: Anpassung als Prinzip - Maßnahmen der Unternehmer im Bereich der politischen Bildung, Frankfurt a. M. 1975; D. Axmacher: Erwachsenenbildung im Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1974, S. 179 ff. ss Vgl. G. Stütz: Berufspädagogik unter ideologiekritischem Aspekt, Frankfurt a. M. 1970. 56 Vgl. dazu die Nachweise bei M. Baethge: Ausbildung und Herrschaft, Frankfurt a. M. 1970, der in der Kritik des "Betriebs als Bildungsfaktor" und des darauf gerichteten berufs-pädagogischen Konzepts einer "funktionalen Erziehung" die hier faktisch im Mittelpunkt stehenden Prozesse einer einseitig interessenbezogenen beruflichen Sozialisation überzeugend herausgearbeitet. 57 H. M. Baethge, S. 78. 58 Vgl. etwa die Stellungnahme von H. Hartmann: Erwachsenensozialisation als soziales und soziologisches Problem, S. 144. Er spricht die Entdeckung von Sozialisationsbereichen an, "deren Wissensorientiertheft lange Zeit kaum angezweifelt wurde" und führt dazu aus: "Ein Beispiel bietet die Sozialisation im Beruf. Lehrlingsausbildung und berufliche Fortbildung erweisen sich bei genauerem Hinsehen als hochgradig durchsetzt mit ideologischen Inhalten. Für die Lehrlingsausbildung kann eine Inhaltsanalyse von Ausbildungsmaterial und Sozialisiationsprogrammen relativ deutlich enthüllen, wie stark es den Sozialisatoren hier neben der Vermittlung von beruflichem Wissen auf die Ausbildung ganz bestimmter Charaktermuster, auf die Identifikation mit Eigentum und Betrieb, auf die Erziehung zur Übernahme von bestehenden Autoritätsverhältnissen ankommt." 69 Die Vorstellung der in diesem Zusammenhang oft angesprochenen Identifikation mit beruflichen Organisationen ("Organizational Identification") bleibt in dieser Form oft recht abstrakt. Eine eingehende Analyse findet sich bei M. Patchen: Participation, Achievement and Involvement on the Job, Englewood Cliffs N. J. 1970, S. 155 ff.; vgl. auch J. G. March, H. Simon S. 65 ff.
5. Funktionen der beruflichen Sozialisation
73
ierliche "Versachlichung" der Persönlichkeitsentwicklung konstatieren und in dieser Weise die Festlegung der grundlegenden normativen Dispositionen der primären Sozialisation vorbehalten möchten60, einen Teil ihrer empirischen Basis. Die betriebspädagogische Praxis stellt sich zumindest auf dieses Modell nicht einet und ihre Wirkungen scheinen jener Annahme auch in der Sache selbst nicht recht zu geben62• Zum anderen hält die Kritik ein Moment beruflicher Lernprozesse kritisch bewußt, dem zwar mit der gegenwärtig gängigen Verabschiedung der "Emanzipationsliteratur" vennutlich nur ein rhethorischer Wert konzediert wird, dessen politischer Anlaß aber noch an Bedeutung gewinnen wird. Der Tatbestand ist mit dem Begriff "Loyalisierung" gekennzeichnet63 und meint im Bereich des öffentlichen Dienstes die Versuche, das Verhältnis von Dienstherrn und Beschäftigten auf identifikatorische Fonnein zu verpflichten. Das Problem der Anpassung vs. personale Autonomie hat in der {organisations-)wissenschaftlichen Erörterung darunter gelitten, daß es in der Kontrastierung von Individuum und Organisation oft auf der Ebene eines unverbindlichen kulturkritischen Räsonnements gehalten wurde. Die politischen Ansprüche an denkbare "Loyalisierungsinstanzen" innerhalb und außerhalb fonnaler Bildungsgänge sind demgegenüber sehr viel konkreter geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat, um ein Beispiel zu geben, anläßlich seines sog. Radikalenbeschlusses&4 die politische Treuepflicht des Beamten dahin ausgedeutet, daß sie mehr fordere "als nur eine fonnal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung". Neben eindeutiger Distanzierung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen wird vom Beamten "erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt" (2. Leitsatz). Mit diesen Sätzen ist gewissennaßen höchstrichterlich für den Öffentlichen Dienst ein se 0. G. Brim: Sozialisation im Lebenslauf, in: H. Hartmann, S. 1 ff. &1 Vgl. neben den erwähnten Nachweisen (Fn. 40) W. G. Bennis: Organisationsentwicklung, Baden-Baden, Bad Hornburg 1972, S. 102 ("das Problem ,Bewußtseinsschulung' "). 82 Hierzu E. H. Schein: Attitude Change During Management Education, Administrative Science Quarterly 1966/67, S. 601 ff.; M. Rokeach: Beliefs, Attitudes, and Values. A Theory of Organization and Change, San Francisco 1968; D. E. Berlew, D. T. Hall: The Socialization of Managers: Effects of Expectations on Performance, Administrative Science Quarterly 1966/67, S. 207 ff.; B. Buchanan: Building Organizational Commitment: The Socialization of Managers in Work Organizations, Administrative Science Quarterly 1974, S. 533 ff. 83 Vgl. C. Offe: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit, Frankfurt a. M. 1970, S. 77; K. Dammann: Ökonomisierung, Loyalisierung und Gegenreform des Öffentlichen Dienstes, in: WSI-Mitteilungen 12/1974, S. 479 ff. (487 ff.). 84 Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts 39. Bd. Tübingen 1975, S. 334 ff.
74
IV. Teil: Strukturvariable Personal
Lernziel politischer Sozialisation in Verfassungsrang erhoben worden, das nicht nur hinsichtlich der Umstände seiner methodischen Gewinnung durchaus fragwürdig ist65. Für seine effektive Durchsetzung werden fonnale Bildungsinstanzen - das Referendariat und die Beamtenzeit auf Probe - in Anspruch genommen, die explizit in ihrer Funktion der Verhaltenskontrolle angesprochen werden66. Unabhängig hiervon hat die empirische Organisationsbetrachtung in den genannten Instanzen, namentlich dem Referendariat, einen starken bis dominierenden Anteil sozialisationsbezogener Funktionen festgestelltf7.
Es wäre allerdings verfehlt, das Problem der beruflichen Sozialisation auf den ideologiekritischen Aspekt im Schema von "Konfonnität und Selbstbestimmung" zu beschränken68• Die berufliche Sozialisation ss Eine Frage wäre beispielsweise, wie ein Hochschullehrer der Politologie noch unbefangen die verbreitete These von der Krise des Parlamentarismus überprüfen kann, wenn er im Vorhinein sich mit den von ihm untersuchten Strukturen emotional identifizieren soll. Man kann natürlich einwenden, daß das Bundesverfassungsgericht diese direkte Verwendbarkeit seiner Maximen nicht im Sinn hatte, würde dabei freilich deren Instrumentalisierbarkeit als Kampfformel in der politischen Praxis unterschätzen. Der Fall ist im übrigen zwischenzeitlich eingetreten - vgl. den Bericht von E. Spoo in der Frankfurter Rundschau vom 7.10. 1977, S. 4. ee "Hier, wo die Verwaltung unmittelbar sich ein zuverlässiges Bild über den Anwerber machen kann, muß der Schwerpunkt liegen für die Gewinnung des Urteils, ob der Bewerber die geforderte Gewähr bietet oder nicht" BVerfGE 39. Bd. Tübingen 1975, S. 356. Die noch als Hypothese formulierte Überlegung von N. Luhmann: Reform des Öffentlichen Dienstes, S. 210, daß die Funktion des juristischen Vorbereitungsdienstes weniger im erklärten Zweck der Ausbildung, sondern mehr im Bereich der Sozialisation liege, erfährt insoweit eine in dieser Form sicher überraschende verfassungsrechtliche Bestätigung. Zur empirischen Seite hinsichtlich der Situation von Studienreferendaren E. H. Liebhardt: Sozialisation im Beruf Ergebnisse einer Personalbefragung von Studienreferendaren, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1970, S. 715 ff. Zur normativjuristischen Betrachtung vgl. bereits Werner Weber: Beamtenausbildung im demokratischen Rechtsstaat, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 1954, S. 1 ff. (insbes. S. 3). 87 Die empirische Betrachtung sieht heute deutlicher, daß die gesamte Juristenausbildung, also auch und gerade das juristische Studium als Attitüden- und Meinungsvermittlung primär eine sozialisierende Funktion hat. Vgl. W. Schütte: Sozialisation im juristischen Studium; W. Kaupen: Die Hüter von Recht und Ordnung - Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen - Eine soziologische Analyse, Neuwied 1969; zum spezielleren Aspekt der Sprachsozialisation im juristischen Studium Th.-M. Seibert: Zur Fachsprache in der Juristenausbildung Sprachkritische Analyse an Hand ausgewählter Textbeispiele aus juristischen Lehr- und Lernbüchern, Berlin, München 1977. Im übrigen ist die Hochschule nicht nur für Juristen ein Sozialisationsfeld. Vgl. Ch. Jencks, D. Riesman: The Academic Revolution, New York 1968, insbes. S. 204 ff.; H. Simons: Sozialisation durch die Hochschule, Harnburg 1971 (Blickpunkt Hochschuldidaktik 19); T . Bargel, G. Framheim, H. Peisert, J.-U. Sandberger: Zur Sozialisation von Akademikern- Zwischenergebnisse einer international-vergleichenden Untersuchung zum Ausbildungseffekt der Hochschule, Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 1977, S. 5 ff.
6. Gegenstände und Bezüge beruflicher Lernprozesse
75
ist vielmehr ein durchgängiger Faktor beruflicher Lernprozesse, der diese These soll im folgenden Abschnitt näher behandelt werden unter den Bedingungen der gegenwärtigen AI~beitsorganisation von Prozessen formaler Qualifizierung analytisch, aber nicht mehr im praktischen Vollzug, sinnvoll getrennt werden kann. Er ist- so die weitere These - als für den Arbeitsvollzug funktionsnotwendig integraler Bestandteil des Qualifikationsbegriffs selbst geworden. 6. Gegenstände und Bezüge beruflicher Lernprozesse - Versuch einer Systematik Nach den bisherigen Ausführungen ereignen sich berufliche Lernprozesse in einem sozialen Feld, das nach mehreren Dimensionen unterschieden werden muß. Eine organisationsbezogene Bildungsplanung ist darauf angewiesen, diese offenbar auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Funktionen verlaufenden Prozesse unter theoretische und praktische Kontrolle zu bringen. Vorausgesetzt ist also der Versuch einer Systematik, der einmal die analytische Trennbarkeit, zum anderen aber auch den wechselseitigen Bezug der beteiligten Einflußgrößen bzw. Einflußebenen zum Ausdruck bringt. Der Zusammenhang der bisher angesprochenen Problembereiche wird im folgenden Schema N. Luhmanns zusammenfassend deutlich69 :
Umwelt
System
Ausbildung
Sozialisation
Vorbildung in: Familie, Erziehungssystem.
Sozialisation in: Familie, Erziehungssystem, Altersgruppen.
Ausbildu~ in: Amt und arriere, FortbildungsVeranstaltungen.
Sozialisation in: Amt und Karriere, Professionellen Kontakten.
ss Diese Beschränkung wäre auch unter kritisch-nonnativem Aspekt wenig sinnvoll, weil auch pädagogische Gegenstrategien, die die personale Autonomie bzw. die Möglichkeiten der Distanzierung von beruflichen Rollen zum Gegenstand haben, ausdrücklich oder implizit mit einem - wenn auch andersgerichteten - Konzept beruflicher Sozialisation arbeiten. H. P. Dreitzel: Soziale Rolle und politische Emanzipation, Das Argument 1972, S. 110 ff. mit einer Entgegnung von F. Haug: Eine Rollentheorie im revolutionären Kostüm. Erwiderung auf H. P. Dreitzel in: Das Argument 1972; L. Krappmann: Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse, betrifft: erziehung 1971, Heft 3; W. Lempert: Soziale Rolle und berufliche Sozialisation. Zur berufspädagogischen Verwendung einer soziologischen Kategorie, in: ders.: Berufliche Bildung als Beitrag zur gesellschaftlichen Demokratisierung, Frankfurt a. M. 1974, S. 38 ff.; ders.: Berufsbildung und berufliche Sozialisation, in: ders: Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt a. M. 1971, S. 111 ff.
76
IV. Teil: Strukturvariable Personal
Bezogen auf das Verhältnis von Sozialisation und Ausbildung bringt die Skizze auf der Systemebene zunächst die Bedeutung zum Ausdruck, die "Amt und Karriere" für beide Bereiche gleichermaßen haben. Im Grunde könnten "Fortbildungsveranstaltungen" auch im unteren rechten Viereck, also im Schnittpunkt von System und Sozialisation wiedererscheinen. Wie angedeutet nimmt auch die organisierte Aus- und Fortbildung in bestimmter Weise Zugriff auf die psychischen Strukturen der Teilnehmer, d. h. sie versucht, dem Prozeß ihrer beruflichen Sozialisation eine bestimmte Richtung zu geben bzw. ihn in einer bestimmten Richtung zu stabilisieren70• Zugrunde liegt dabei die Auffassung, daß Aus/Fortbildung und Sozialisation nicht nach den Kriterien der Formalisierung (also ihrer funktional-strukturellen Ausdifferenzierung) bzw. Intentionalität voneinander unterschieden werden können. Ausschlaggebend ist vielmehr die inhaltliche Qualifizierung beruflicher Lernprozesse, wobei nicht übersehen werden kann, daß Sozialisationsvorgänge sehr viel eher ungeplant und für die Beteiligten unbewußt verlaufen, als dies bei Ausbildungsprozessen der Fall ist. Gefragt ist insoweit nach einer Systematik, die die jeweiligen Ausbildungsinhalte und Gegenstände der beruflichen Sozialisation im Zusammenhang darstellt und in dieser Form einen Bezug zur übergreifenden Ebene beruflicher Qualifikation zuläßt. Angeknüpft werden kann insoweit an einen Vorschlag von C. Offe71 zu diesem Problem. Offe geht von einer allgemein anerkannten Eineo N. Luhmann: Reform des Öffentlichen Dienstes, S. 211. Zu den methodischen Vorbehalten, unter denen diese Problemskizze zu lesen ist, daselbst Fn. 40 (S. 245). 70 Vgl. neben der genannten Literatur (o. Fn. 66) D. Katz und 8. L. Kahn: The Social Psychology of Organizations, S. 390 ff. Nach H. Hartmann: Erwachsenensozialisation als soziales und soziologisches Problem, S. 114 f. bietet "auch die Fortbildung der sogenannten Führungskräfte in der Wirtschaft (...) eine Fundgrube für Hinweise auf ideologische Standortgebung und Bewußtseinsbildung zugunsten kapitalistischer Überzeugungen und elitärer Wertvorstellungen". Für den öffentlichen Bereich meint A. K. in seiner Rezension (Die Verwaltung 1977, S. 267 f.) Anhaltspunkte für eine Bestätigung entsprechender Thesen in der empirischen Untersuchung von B . Dieckmann: Weiterbildung in der Verwaltung - Ein Vergleich von Industrie und öffentlichem Dienst, Weinheim und Basel 1975, zu finden, indem er der Untersuchung die Feststellung entnimmt, "daß die Weiterbildung heute weitgehende Loyalitätssicherungsfunktionen und etwa kaum die Stärkung der Kritikfähigkeit zu erfüllen hat (S.192 ff., 308)". Das Original läßt m. E. diese Deutung nicht zu. Es finden sich in der Untersuchung Dieckmanns insoweit lediglich Hinweise auf Fortbildungsdispositionen, die allenfalls den Schluß erlauben, daß eine "organisations-kritische" Fortbildungsarbeit in den dort untersuchten Bereichen der öffentlichen Verwaltung unter den ermittelten personellen und organisatorischen Prämissen kaum effektiv werden könnte. 11 C. Offe: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit Mechanismen der
6. Gegenstände und Bezüge beruflicher Lernprozesse
77
sieht der jüngeren Organisationsbetrachtung aus. Die hierarchische Struktur großer Arbeitsorganisationen spiegelt nicht eine entsprechend hierarchische Struktur interner sachlicher oder sozialer Kompetenzen wider. Insbesondere findet unter den heutigen Bedingungen der Arbeitsteilung die formal-hierarchische Autoritätsstruktur nicht in einer "Wissenspyramide" ihre qualifikatorische Entsprechung. Offe bezeichnet die Vorstellung einer Wissenspyramide, in der der jeweils höhere Stelleninhaber die Qualifikation der untergeordneten Stelleninhaber einschließt, so daß schließlich die Organisationsspitze über die betriebliche Gesamtqualifikation verfügt, eine aufgabenkontinuierliche Status-Organisation. Formale Rangordnung und qualifikatorische Kompetenzordnung, Status und Funktion, sind auf jeder Stufe der Organisation identisch. Die einzelnen vertikalen Befehlswege sind also zugleich als vertikale Qualifikationskontinua zu deuten. Dieser kontinuierliche Typ der Status-Organisation ist nach Offe heute noch am ehesten im kleinen Handwerksbetrieb "mit seiner hierarchischen Dreiteilung von Meister, Geselle und Lehrling repräsentiert" 72• Den Gegentyp bildet die "aufgaben-diskontinuierliche Status-Organisation", die nach Offe die Wirklichkeit komplexer arbeitsteiliger Organisation beschreibt. In diesem Modell ist die Qualifikationsstruktur nicht mehr das Abbild der unverändert hierarchisch aufgebauten Status-Organisation. Die Anforderungsprofile haben sich vielmehr den organisationsinternen Entwicklungen angepaßt, die als sowohl horizontale als auch vertikale funktionale Differenzierung Gegenstand der Organisationsforschung geworden sind. Sie sind an anderer Stelle bereits angesprochen worden und sollen hier nur im Blick auf ihre qualifikatorischen Konsequenzen wiederholend dargestellt werden. Hauptmerkmal jener Differenzierung ist danach eine dezentralisierende Verlagerung wesentlicher Funktionen aus der Spitze der Organisation auf untere Organisationsebenen. Wesentlichstes Ergebnis dieser Entwicklung ist die Tatsache, daß die z. T. stark spezialisierten Mitglieder vielfach keine in dem Sinne fachlich kompetenten Vorgesetzten mehr haben, als deren rechtlich überlegende Position einer entsprechend fachlichen bzw. informationellen Uberlegenheit entspräche. Unter den Bedingungen arbeitsteiliger Kooperation verschieden ausgebildeter Spezialisten und einer entsprechend heterogenen Qualifikationsstruktur ist es nicht ungewöhnlich, wenn es zwischen den Qualifikationen des Spezialisten und seines Vorgesetzten überhaupt Statusverteilung in Arbeitsorganisationen der industriellen "Leistungsgesellschaft", Frankfurt a. M. 1970. 12 C. Offe, ebd., S. 24.
78
IV. Teil: Strukturvariable Personal
keine inhaltliche "Anschließbarkeit" gibt3 . Skalare und funktionale Organisation sind nicht mehr kongruent74. Die formal unverändert bewahrte Status-Hierarchie erlebt - von Einzelheiten (wie der Delegation des Zeichnungsrechts o. ä.) abgesehen - in empirischer Sicht den beschriebenen Funktionswandel in Richtung auf Koordinationsaufgaben76 und Umkehrung der vertikalen Kommunikation. Diese Entwicklung hinterläßt, da eine volle inhaltliche Überwachung durch die übergeordneten Instanzen nicht mehr gewährleistet ist, ein hierarchisches Kontrolldefizit. An die Stelle der organisatorischen tritt eine funktional-äquivalente personelle Lösung des Problems: Die (vom Individuum aus gesehen) externe Kontrolle der formalen Autoritätsstruktur wird durch persönlichkeitsinterne Formen der Selbstkontrolle abgelöst. Zwar ist eine prinzipielle, auf die Entscheidungsgewalt anderer bezogene Folgebereitschaft auch unter diesen Voraussetzungen notwendig, sie muß aber durch weitere normative Orientierungen ergänzt werden76. Unter Bezug auf H, Sirnon wird dabei "der Ausbildung institutioneller Loyalitäten und der Entstehung von Routinen und Habitualisierungen" die größte Bedeutung beigemessen. Sie bilden im Ergebnis ein "inneres System zielorientierter Entscheidungsregeln und Handlungsorientierungen". Insoweit tritt eine "normative Selbstverpflichtung der arbeitenden Individuen an die Stelle derjenigen kompetenten und detaillierten skalaren Kontrollen (. ..), die in Organisationen vom Typ ,Handwerksbetrieb' anzutreffen sind und dort die Erfüllung der Arbeitsaufgaben schon dann erlauben, wenn nur die erforderlichen technischen Regeln erfüllt werden"77. Entsprechende normative Orientierungen sind das qualifikatorische Korrelat der bezeichneten Spezialisierungsvorgänge und der damit notwendigen Delegation materieller Problemlösungs- und Entscheidungsprozesse in Großorganisationen. Der Bedeutungsgewinn unterer Organisationsebenen schlägt sich in einer fachlichen Autonomisierung der Mitglieder nieder, die den Bestand der gesamten formalen hierar73 H. P. Bahrdt: Die Krise der Hierarchie im Wandel der Kooperationsformen, in: R. Mayntz (Hrsg.), S. l27 ff. 74 Die Konflikte, die sich aus dem Auseinanderfallen von Sach- und Entscheidungskompetenz ergeben, sind häufig erörtert worden. Vgl. u. a. H. Hartmann: Funktionale Autorität, Stuttgart 1964, S.102 ff.; V . A . Thompson: Hierarchie, Spezialisierung und organisationsinterner Konflikt, in: R. Mayntz: Bürokratische Organisation, S. 217 ff. 76 Zur Differenzierung des Begriffs und seiner organisatorischen Konsequenzen: B. A. Baars, K . B. Baum, J. Fiedler: Politik und Koordinierung, S.4ff. 78 C. Offe: Leistungsprinzip .. ., S. 27. 77 C. Offe, ebd., S. 28. Diese Bestimmungen veranschaulichen die Bedeutung dessen, was der Begriff der Entscheidungsprämisse "Persönlichkeit" meint.
6. Gegenstände und Bezüge beruflicher Lernprozesse
79
chiseben Autoritätsstruktur nur dann nicht gefährdet, wenn die Rollendisziplin durch entsprechende Dispositionen der Persönlichkeit der Rolleninhaber selbst gewährleistet ist. Die hierauf gerichteten Erwartungen treten neben diejenigen, die auf fachliche Regelbeherrschung gerichtet sind, und erlauben nunmehr die Unterscheidung zwischen "zwei Klassen von Regeln, aus denen sich die Arbeitsrolle zusammensetzt: 1. ,Technische Umgangs- oder Verfahrensregeln'. Unter diesem Begriff soll die Gesamtheit von physischer Leistungsfähigkeit aus Erfahrung und Übung gewonnenem Leistungskönnen und Leistungswissen verstanden werden, die an einem bestimmten Arbeitsplatz notwendig sind, damit die entsprechende Arbeitsaufgabe erfüllt werden kann, 2. ,Normative Orientierungen'. Hierunter sind sämtliche Normen, Werte, Interessen und Motive zu verstehen, von denen erwartet wird, daß sie im institutionellen Rahmen des Arbeitsprozesses befolgt werden78• Innerhalb des Bereichs normativer Orientierungen unterscheidet Offe zwischen solchen ("regulativen") Normen, die zwar funktionell unspezifisch sind, aber zu den Voraussetzungen der technischen Regelausführung gehören (Vorsicht, Sparsamkeit u. dgl.) und solchen ("extrafunktionalen") Normen, die diesen unmittelbaren Bezug zum Arbeitsgeschehen nicht haben, "sondern als bloß ideologische Bestandteile der Arbeitsrolle die organisatorische Autoritätsstruktur stützen"79. Beispiele hierfür sind professionelle Wertorientierungen, Orientierung an der herrschenden Linie des Hauses, Loyalität gegenüber den Interessen vorgesetzter Personen. In den Rollenelementen vom Typ "technische Regeln" auf_der. einen Seite und den Rollenelementen vom Typ "extrafunktionaler Orientierungen" sieht Offe die Pole eines Kontinuums, auf dem sich die Elemente einer Berufsrolle nach dem Grad ihrer Funktionalität oder Instrumentalität (bzw. dem Grad ihrer funktionalen Irrelevanz und ihres subjektiv mangelnden instrumentalen Charakters) abtragen ließen. In der Mitte dieses Kontinuums fänden danach die von Offe so bezeichneten regulativen Normen ihren Platz, die sich als primär normative Elemente zwar nicht als instrumentale Handlungsfähigkeiten operationalisieren lassen, aber funktional in dem Sinne sind, daß sie unverzichtbare Bestandteile der konkreten beruflichen Rollenausführung sind. 78 78
C. Offe, ebd., S. 29. C. Offe, ebd., S. 29.
80
IV. Teil: Strukturvariable Personal technische Regeln
regulative Normen
extrafunktionale Orientierungen
Obj. Funktion f. d. Erfüllung der Arbeitsaufgabe
funktional
funktional
funktional irrelevant
subjektive Orientierung
instrumentell
nicht-instrumentell
nicht-instrumentell
normative Orientierungen Aus: Offe. Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. S. 30
Der Wert dieser Systematik liegt zunächst darin, daß sie die verschiedenen Ebenen beruflichen Lernens klassifiziert und in dieser Form eine klare analytische Zuordnung von Aus-/Fortbildungs- bzw. Sozialisationsprozessen erlaubt. Die Form des Kontinuums würde dabei allerdings das Verhältnis beider Lernvorgänge zueinander nur sehr unvollkommen treffen. Die Vorstellung etwa, daß sich die berufliche Ausbildung um so mehr mit Funktionen der Sozialisation anreichert, je mehr das Lernziel auf jener Skala sich vom Typ technischen Verfügungswissens fort- und auf die Rollenelemente vom Typ "extrafunktionaler Tätigkeiten" zubewegt, läßt zwar sowohl die klare analytische Trennbarkeit als auch die mögliche sachliche Nähe und Überschneidungsmöglichkeit beider Lernebenen gut erkennen. Sie bringt aber nicht die Gleichzeitigkeit zum Ausdruck, mit der Ausbildung und Sozialisation nicht nur in Zwischenzonen des "regulativen" Normenbereichs, sondern auch auf der Ebene rein instrumentaler Wissensaneignung und normativer Bewußtseins- und Verhaltensschulung sich ereignen können80• Der Hinso Dieser Zusammenhang bleibt auch durch die von Offe - im Anschluß an Dahrendorf - gewählte terminologische Unterscheidung funktionaler und extrafunktionaler Rollenelemente undeutlich. Gerade nach Offes Interpretation handelt es sich bei den extrafunktionalen Orientierungen als funktionalen Äquivalenten für organisatorische Kontrollmechanismen und personale {Vorgesetzten-)Autorität um notwendige Anforderungen, die insoweit hinsichtlich ihrer Funktionalität hinter den offiziell-funktionalen Elementen nicht zurückstehen und gerade deswegen dem gemeinsamen Begriff der Qualüikation unterfallen. "Extrafunktional" im wörtlichen Sinne wären normative Orientierungen dort, wo die Rollendefinition die Persönlichkeit des Trägers bei der Rollenausführung als selbständige Einflußgröße neutralisiert. Das würde z. B. für das Entscheidungshandeln unter automatisierbaren Konditionalprogrammen gelten. Aus diesem Grunde wird im folgenden im Unterschied zu Offe (S. 32) auch nicht zwischen der (technischen) Arbeitsrolle und der umfassenderen Berufsrolle unterschieden. Zur Funktionalität normativer Verhaltensdispositionen im übrigen A. W. Gouldner: Das Dilemma zwischen technischem Können und Loyalität im Industriebetrieb, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1955, s. 520 ff.
6. Gegenstände und Bezüge beruflicher Lernprozesse
81
weis auf diesen Zusammenhang ist um so notwendiger, als die Verbindung funktionalen Verfügungswissens und nichtinstrumentaler Wert- und Normpflege gegen den herrschenden Tenor der kritischen Qualifikationsforschung keineswegs das Spezifikum organisationsinterner Loyalisierungsstrategien und einer darauf gerichteten identifikatorischen Bildungsarbeit ist. Es wird am Beispiel des Begriffs der Professionalisierung noch zu zeigen sein, daß die damit gemeinte Strategie, die insoweit als die sachlichere, ideologieferne Alternative beruflicher Wissensorganisation angesehen wird, ganz entsprechende- wenn auch anders gewichtete - Loyalisierungen und "extra-funktionale" Identi;.. fikationen impliziert.
V. TEIL
Rolle und Qualifikation im Schnittpunkt der Strukturvariablen Programm, Organisation und Personal 1. Die Bedeutung des Rollenkonzepts Die bisherigen Ausführungen der Teile II bis IV. galten dem Versuch, die Bestimmungsgrößen für das Entscheidungshandeln der Verwaltung nach drei Steuerungsebenen zu systematisieren, also die organisatorischen, programmförmigen und personellen Struktur-Variablen als Prämissen des Entscheidungshandeins zu erklären. Dabei sind wechselseitige Abhängigkeiten namentlich im Verhältnis von Organisations- und Programmstruktur deutlich geworden. Andeutungsweise ist dasselbe für die Persönlichkeitsvariablen geschehen. Denn die Betrachtung der persönlichkeitsgebundenen Einflußfaktoren hat sich recht bald des Begriffs der beruflichen Rolle bedient und damit den engeren Bereich der für sich betrachteten Entscheidungsprämisse Personal verlassen. Das herkömmliche soziologische Konzept der sozialen Rolle! stellt nämlich das individuelle Entscheidungshandeln als Entsprechung von Rollenerwartungen schon in einen sozialen Kontext. Es behandelt also die Persönlichkeit des Handelnden insoweit schon als einen neben anderen Faktoren, die den Entscheidungsprozeß als einen mehrdimensionalen, sozialen Vorgang steuern. Der hier angesprochene Gedanke bedarf einer näheren Erläuterung. In der Behandlung des Konzepts der beruflichen Rolle könnte nämlich ein Zugang zu wesentlichen Fragen organisationsbezogener Bildungsplanung liegen. Sie beziehen sich auf die Möglichkeit einer Uberwindung eines ausschließlich individuellen Qualifikationsbegriffs, auf das - damit verbundene - Verhältnis von individueller Qualifikation 1 Die Einführung des Begriffs in die deutsche Diskussion erfolgte vor allem durch ,R.. Dahrendorf, der sie aus der amerikanischen Soziologie importierte (Homo Sociologicus, 5. Aufi. Köln und Opladen 1964. Vgl. hierzu kritisch F. H. Tenbruck: Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1961 S. 1 ff.). Als ausführliche Darstellung D. Claessens: Rolle und Macht, München 1968; U. Gerhardt: Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied und Berlin 1971; G. Wiswede: Rollentheorie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977.
2. Das Verhältnis von Individuum und Organisation
83
und Systemstruktur und schließlich auf die Möglichkeit "innovatorischer" Bildungsstrategien: In welchem Umfang sich nämlich Organisationen und ihre Entscheidungsproduktion materiell über eine planvolle Beeinflussung der Qualifikationsstruktur verändern lassen und welche der beteiligten Struktur-Variablen in dies·em Zusammenhang in welchem Umfang als abhängige oder führende Variablen behandelt werden können. In diesem Zusammenhang fällt dem Rollenbegriff insofern eine theoretische Schlüsselstellung zu, als er zwischen Individuwn und Organisation vermittelt. Der Rollenbegriff kann in dieser Bedeutung dazu benutzt werden, das Verhältnis von Arbeitsorganisation und Mitgliedern genauer zu bestimmen. Nach der üblichen lexikalischen Definition bezeichnet die soziale Rolle "die Summe der Erwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position über sein Verhalten entgegengebracht werden" 2 • Entsprechende Verhaltenserwartungen sind dabei selbst das Resultat eines mehrdimensionalen sozialen Prozesses, der durch die Strukturen des sozialen Systems und seiner Erfordernisse gesteuert wird. Unabhängig von der naheliegenden Frage nach den Sanktionsmechanismen, die die Rollenkonformität des Mitglieds auch gewährleisten, nach der Möglichkeit einer autonomen, sanktionslosen Interpretation der Rollenvorschriften oder schließlich nach den Möglichkeiten nonkonformen Verhaltens, läßt sich auf der Basis jener Definition das Verhältnis von Mitglied und Organisation allgemein darstellen. Danach besteht das soziale System nicht aus konkreten Individuen, sondern aus Rollena. Dieser Schluß mag nach der ausführlichen Behandlung der Persönlichkeit als entscheidungssteuernder Strukturvariable zunächst widersprüchlich erscheinen und läßt sich in der Tat nur auf Kosten einer nicht unproblematischen Abstraktion analytisch auflösen.
2. Das Verhältnis von Individuum und Organisation Der Konzeption liegen Vorstellungen zugrunde, die in verschiedenen soziologischen Entwürfen wurzeln, darin aber übereinstimmen, daß 2 W. Fuchs u. a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, Stichwort "Rolle, soziale". a Diese Auffassung wird vor allem in der systemtheoretischen Organisationsbetrachtung vertreten. Vgl. u. a. T. Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme (Hrsg. St. Jensen) Opladen 1976, S.177 ff.; ders.: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 15 ff.; M. Irle: Soziale Systeme, Göttingen 1963, S. 79 ff. (Auszug in: G. Büschges [Hrsg.), Organisation und Herrschaft, Reinbek 1976, S. 188 ff.); N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 79 ff.; ders.: Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 64 ff.; F . Regner: Strukturelemente organisierter Handlungssysteme, in: G. Büschges (Hrsg.), S. 226 ff.; R. Koch: Rollenkonflikte und Reorganisation im Personalbereich, Die Verwaltung 1977, S. 321 ff. (325).
84
V. Teil: Rolle und Qualüikation
soziale Systeme aus Kommunikationen bestehen. Diese werden durch einen abstrakt-generalisierten, wechselseitigen Erwartungszusammenhang, nämlich durch ein System aufeinander bezogener Rollen in Bahnen gehalten. Das Gefüge der in dieser Weise rollenmäßig organisierten Kommunikation bildet die Struktur des Systems. Diese Grundaussagen beziehen sich nicht nur auf formale Organisationen, sondern auf jede Form von Kommunikation. Alles soziale Handeln findet danach in bestimmten Situationen, sei es eine Begrüßung auf der Straße, sei es eine Gerichtsverhandlung, seine Kommunikation in einer bestimmten Erwartungsordnung gewissermaßen vorgezeichnet. Die damit bezeichnete Struktur läßt sich grundsätzlich unabhängig von - insoweit austauschbaren - Akteuren beschreiben. Die weniger abstrakte herkömmliche Verwaltungslehre kommt dieser Vorstellung vielleicht noch am ehesten mit der Trennung von Amt und Person nahe. Auch in dieser Sicht besteht eine Verwaltung ja nicht aus privaten Individuen, sondern aus einem Stellengefüge, das unabhängig davon besteht, wer die jeweiligen Ämter innehat. Der scheinbare Widerspruch, daß die Persönlichkeit jenes Amtsinhabers aus systemtheoretischer Sicht als Entscheidungsprämisse Strukturvariable des Systems ist, soll sich im Konzept der Rollentrennung und der Vorstellung unterschiedlicher Systemreferenzen auflösen. Die Persönlichkeit der Beteiligten wird nur in dem Ausschnitt erlaßt, in dem sie durch die jeweilige Systemrolle angesprochen ist. Im übrigen ist die Persönlichkeit des Mitglieds als personales System für das soziale System der Arbeitsorganisation Umwelt. Das Verhältnis beider Systeme ist also primär ein Problem der Bestimmung der jeweiligen Systemgrenze. Sie kann jeweils nur in der Bestimmung der jeweiligen Systemreferenz erfolgen. Gemeint ist damit das Bezugsproblem, auf das hin die Systembildung als Lösungsmechanismus interpretiert werden kann, bzw. demgegenüber das System seine Identität gewinnt. Daß das in seiner Bürokratenrolle handelnde Individuum dabei Informationen verwertet, die es in ganz anderen Rollenzusammenhängen gewonnen hat - etwa als Parteimitglied oder als Kartellbruder -, ist nach dieser Auffassung dabei nicht ausgeschlossen. Diese Möglichkeit berührt nicht die analytische Trennbarkeit von Beamten- und Kartellbruderrolle.
3. Kritik der entindividualisierten Organisation
85
3. Zur Kritik an der Vorstellung einer entindividualisierten Organisation Die Kritik hat in dieser Konstruktion die Wiederherstellung klassischer Neutralitätsideologien gesehen4 und im übrigen die theoretische Haltbarkeit dieses Trennungskonzepts bezweifeltö. Dabei muß man die Diskussion zunächst von einem Mißverständnis freihalten, das sich bei der Auseinandersetzung mit dem ziemlich konsequent entpersonalisierenden Organisationskonzept der Systemtheorie einstellen könnte: Daß sie von einer maschinenartig funktionierenden "Organisation ohne Menschen" ausgehe, innerhalb derer "die Individuen zum rein passiven, disponiblen Substrat"6 werden, wie es den praktischen und theoretischen Rationalisierungsstrategien zu Beginn der modernen Organisationsforschung teilweise als Ziel vorschwebte. Von diesen Konzepten unterscheiden sich die offenen Modelle der Systemtheorie gerade dadurch, daß sie das personale System nicht von vornherein als abhängige Variable einführen, sondern als einen Umweltfaktor, auf den sich in bestimmtem Umfange die Struktur der Organisation einzustellen hat. Unter diesem Gesichtspunkt trifft auch die Kritik an der "Verselbständigung des Systems gegenüber Allen auch gegenüber den Verfügenden"7 nicht den Kern, soweit sie nicht auf die in der Tat gegebenen Verschleierungsmöglichkeiten zielt, die freilich bis zu einem gewissen Grad mit jener Abstraktion verbunden sind8 • Sofern dabei ein befürchteter, systemlogisch besiegelter Autonomie- oder Identitätsverlust der Beteiligten das Motiv ist, setzt eine derartige Kritik der 4 Vgl. J. Hirsch, St. Leibfried: Materialien zur Wissenschafts- und Bildungspolitik, Frankfurt a. M. 1971, S. 266 f., die auch auf die theoretischen Schwachstellen des Konzepts eingehen: "Hier manifestiert sich ein Dilemma, das dann entsteht, wenn ,System' und ,Umwelt' den für die Theorie selbst konstitutiven Grad von Ausdifferenzierung real nicht aufweisen, wenn also etwa im militärisch-industriellen Komplex spätkapitalistischer Gesellschaften die ,Umweltrolle' Kapitalist und die ,Systemrolle' Minister in spezifischer Weise eben doch, und zwar ,strukturtragend', zusammenfallen, das ,System' also weder subjektiv noch objektiv als geschlossener Handlungszusammenhang begriffen und beschrieben werden kann" (S. 267). 5 J. Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt a. M. 1971, S. 215 ff.: "Der Abstraktionsschnitt, der soziale von psychischen Systemen trennt, müßte das fundamentale Verhältnis der Intersubjektivität sprach- und handlungsfähiger Subjekte durchschneiden" (S. 218). Mit diesem Satz schließt Habermas an seine zuvor entwickelte Ansicht an, daß die personale Identität nur in einer sozialen Dimension definiert werden kann. 6 D. K. Pfeiffer: Organisationssoziologie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976, s. 32. 7 Th. W. Adorno: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie, Frankfurt a. M. 1970, S. 166 (in bezug auf die Parsons'sche Systemtheorie). s Unter diesem Gesichtspunkt u. a. J. Hirsch, St. Leibfried: Verwaltungsforschung, in: dies.: Materialien zur Wissenschafts- und Bildungspolitik,
86
V. Teil: Rolle und Qualifikation
Theorienbildung zu enge Grenzen und fördert inhaltlich möglicherweise eher das Gegenteil von dem, was sie erreichen will. Die insofern weit vorgreifende Feststellung Karl Marx': "Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen"9 , war gerade gegen den Versuch gerichtet, die Möglichkeiten des Individuums dadurch zu verkürzen, daß soziale Tatbestände aus der Situation des Einzelnen gedeutet werden10 • Unabhängig hiervon sind allerdings die Einwände - auch in ihrem empirischen Gehalt11 -nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Die Erkenntnis, daß die individuelle Persönlichkeit eine maßgebliche Bestimmungsgröße der Entscheidungsherstellung ist, läßt den Versuch ein wenig gekünstelt erscheinen, diesen Gedanken durch die Einführung einer von der Privatpersönlichkeit gleichsam zu trennenden systemadäquaten Berufspersönlichkeit zu entpersonalisieren. Im Ergebnis würde er dazu führen, Strategien auf der Steuerungsebene Personal (Ausbildungsreformen, Veränderungen der Rekrutierungspraxis usw.) als Veränderungen im Umweltbereich zu interpretieren, wo es - im Verwaltungsbereich - tatsächlich um die Revision unmittelbar entscheidungsrelevanter Faktoren geht. Im übrigen sind derartige Fragen wie alle Definitionsprobleme dieses Abstraktionsgrades S. 236 ff. (263 ff.). Anders als das kulturpessimistische Räsonnement ("Der Einzelne und der Apparat") bemüht sich die Kritik dabei vor allem um den Nachweis, daß die entpersonalisierende und vorgeblich entmoralisierende systemtheoretische Argumentation zum Geringeren der Notwendigkeit einer sinnvollen Abstraktion entspricht. Ihre wesentliche Bestimmung erhält sie nach dieser Auffassung von dem uneingestandenen Interesse, mit dem personalen Aspekt auch die darauf bezogenen Probleme wie Herrschaft, Entfremdung und Autonomie verschwinden zu lassen. Abstraktion fungiert aus dieser Sicht lediglich als eine Immunisierungsstrategie, die einer brüchig gewordenen Ideologie unter Wahrung ihres politischen Zwecks durch äußerste sprachliche Neutralisierung und Entmaterialisierung der Begriffe zu einer sehr viel schwerer angreifbaren Form aufhilft. Die kybernetisch beeinflußte Systemtheorie biete sich wegen der moralischen Indifferenz ihrer technischen Begrifflichkeit in besonderem Maße als theoretisches Gehäuse an. u Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) MEW Berlin 1974, s. 176. to An diesem Punkte endet freilich die Gemeinsamkeit bürgerlicher und marxistischer Soziologie, die nicht in einer abstrakten Kommunikation, sondern in der Waren-Beziehung das konstituierende Moment der gesellschaftlichen Strukturen sieht. u Hier ist vor allem die Tatsache anzusprechen, daß die notwendige Entscheidungshomogenisierung in (notwendig) unvollständig programmierten Bereichen des Staatsapparats, zumindest in historischer Sicht primär über eine Homogenisierung der Personalauslese erreicht wurde. Bestandsfähigkeit und "Identität" der Verwaltung wurden also nicht schon durch das Vorhandensein eines abstrakten Rollensystems gewährleistet, weil die einzelne Berufsrolle offenbar nicht den Entscheidungseinfluß abweichender Persönlichkeiten ihres Inhabers neutralisieren und insoweit nicht ohne Ansehen der (Rollen-)Person angemessen beschrieben werden konnte.
3. Kritik der entindividualisierten Organisation
87
mangels unmittelbaren empirischen Bezugs eine Frage der Zweckmäßigkeitn. Ob man das handelnde Individuum im Innen/AußenSchema des systemtheoretischen Paradigmas dem System und nicht der Umwelt, oder aber der Umwelt zurechnet und die insoweit vom System an seine Umwelt gestellten Anforderungen in die Definition der jeweiligen abstrakten Arbeitsrolle aufnimmt13, hat auf die Lösung des theoretischen Bezugsproblems, das in beiden Fällen das Gleiche bleibt, keinen erkennbaren Einfluß. In bezug auf die Strukturüberlegungen, die sich auf Personalprobleme beziehen, könnte man seinen für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Aspekt etwa so kennzeichnen: In welchem Umfang kann Personalplanung in umfassendem (also Aus- und Fortbildungsmaßnahmen einschließenden) Sinne als unabhängiger Vorgang betrieben und insoweit als autonomes Steuerungsinstrument gehandhabt werden? Die Frage bezieht sich einmal auf alternative Lösungsmöglichkeiten desselben Problems. (Für eine gegebene Arbeitsrolle wäre etwa zwischen der Qualifikation A, B oder C nach Wirtschaftlichkeitserwägungen, aktuellem Qualifikationsangebot u. ä. zu wählen.) Zum anderen bezieht sie sich auf die Möglichkeit, innerhalb einer gegebenen Rollenstruktur durch die Wahl einer strukturadäquaten aber hinsichtlich ihrer Entscheidungsbeeinflussung untereinander abweichenden (also nicht ergebnisneutralen) Qualifikation den Handlungsspielraum einer Organisation auszunutzen. Schließlich wäre eine qualifikationsbezogene Personalplanung denkbar, die weder auf eine gegebene Rollenstruktur mit einem in Grenzen variablen Qualifikationsmuster reagiert, noch gegebene Innovationspotentiale durch die Wahl neuer Ausbildungs- und Sozialisationstypen in bestimmter Weise ausschöpfen will, sondern durch die Einführung neuer, möglicherweise nicht strukturkonformer Qualifikationen Strukturreformen selbst induzieren will. Alle drei Möglichkeiten lassen sich unabhängig davon darstellen, ob man die Systemgrenze diesseits oder jenseits der Mit12 Wobei für die Aussonderung des Mitglieds aus der Definition des sozialen Systems die (sinnvolle) Unterscheidung von sozialem und psychischem System sprechen mag, deren Identität auf jeweils unterschiedlichen Strukturen beruht. Ausschlaggebend ist aber m. E. nicht die Frage der "Grenze" zwischen beiden Systemen, sondern ihr Zusammenhang, wie er etwa in der Sozialisationsforschung zentral thematisiert wird oder werden müßte. Im Anschluß an einen von T. Parsans für diesen Zusammenhang gebrauchten Begriff und gegen den Grundsatz, daß ich nichtverstandene Aufsätze auch nicht zitieren sollte, N. Luhmann: Interpenetration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, Zeitschrift für Soziologie 1977, S. 62 ff. t3 Auch diese Definition würde also die systemfunktionalen Eigenschaften von Persönlichkeiten berücksichtigen. Wenn demnach bestimmte Sozialsysteme, wie die Verwaltung, auf bestimmte Persönlichkeitstypen, Werthaltungen, Qualifikationen usw. angewiesen sind, stellt das System insoweit ganz bestimmte Anforderungen an seine Umwelt. N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: J . Hamermas, N. Luhmann, S. 25 ff. (80 ff.).
88
V. Teil: Rolle und Qualifikation
glieder einer Organisation verlaufen läßt. In beiden Fällen gilt, daß das Problem der Bildung nicht individualisiert und in dem Sinne "personalisiert" werden kann, wie es geschieht, wenn es nicht als Strukturproblem behandelt wird. Das gilt auch hinsichtlich der Kritik an der Rollentheorie, soweit hier gegenüber den behaupteten Zwängen eines abstrakten, entindividualisierten Rollensystems auf einem autonomen Handlungsraum für den einzelnen bestanden wird14• Die Versuche, Bildung als ein in dieser Richtung verstärkendes Medium der Autonomisierung einzusetzen, dürften um so aussichtsreicher sein, je mehr es gelingt, diesen Begriff zu entindividualisieren und ihn sowohl auf einer Stufe mit anderen organisationsbezogenen Strukturplanungen zu sehen, als auch ihren Stellenwert im Verhältnis der Organisation zu ihrer Umwelt zu erkennen. Zu diesem Problem würde beispielsweise eine genauere Analyse dessen, was sich unter dem Begriff "Gruppendynamik" gerade in der Fortbildungsarbeit an Aktivitäten verbirgt und nicht selten einen explizit autonomie-betonten Demokratisierungsanspruch verfolgt, vermutlich viel empirisches Material zutage fördern. Diese Bewegung hat gerade unter dem Aspekt Kritik auf sich gezogen, die strukturellen (organisationsinternen und -externen gesellschaftlichen) Determinanten von Bildungsprozessen zu vernachlässigen. Sie droht deshalb wegen fehlender Umsetzungsmöglichkeiten folgenlos zu bleiben oder aber als abstrakt ansetzendes "kontextfreies" Verhaltenstraining genau das zu erreichen, was sie vermeiden will: Eine ebenso abstrakte Manipulierbarkeit, auf deren Basis der Zusammenhang von Struktur und Handlungsmöglichkeiten gar nicht mehr hergestellt werden kann. Diese Form beruflicher Bildungsarbeit ist folgerichtig auf die Schaffung einer Modellwirklichkeit (laboratories11) angewiesen, die die Praxis solange simulierend korrigiert, bis herrschaftsfreier Umgang zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, Betriebsrat und Personalchef als möglich demonstriert und eine Trainingswoche lang scheinbar praktiziert werden kann. Das grundsätzliche Mißverständnis der - soweit vorhanden - zugrunde liegenden wissenschaftlichen Überlegungen ist die Gleichsetzung der Systemstruktur einer Kleingruppe mit der einer Arbeitsorganisation und die daraus abgeleitete Möglichkeit eines Transfers von Sozialerfahrungen aus der Lern- in die Arbeitssituation. Demgegenüber hat eine stärker soziologisch informierte gruppendynamische Praxis erkannt, daß "die Anwendung gruppendynamischer Techniken für Institutionen, Firmen und relativ geschlossene Teil14
D. Claessens: Rolle und Macht, München 1968, S. 127 ff.
1s Vgl. hierzu ausführlich D. Gebert: Gruppendynamik in der betrieb-
lichen Führungspraxis, Berlin 1972.
4. Die Beziehung von Arbeitsaufgabe und Berufsrolle
89
nehmergruppen" die Änderung "von Rollenvorschriften und Normen"18 erfordert, über die Organisationen das Verhalten ihrer Mitglieder regeln17• 4. Die Beziehung von Arbeitsaufgabe und Berufsrolle - Zur Differenzierung von Rollenanforderungen und individueller Qualifikation Die Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte betrafen das Verhältnis von Individuum und Organisation, wobei personales und soziales System jeweils als Ganzes betrachtet wurden. Über die Möglichkeit, die internen Strukturvariablen der beiden Systeme in einer differenzierenden Betrachtung in Beziehung zueinander zu setzen, ist damit nur soviel ausgesagt, daß die hier zu vermutetenden Interdependenzen das Feld begrenzen, auf dem sich Strukturplanungen auf der einen wie der anderen Systemebene bewegen können. Immerhin ist mit dem Rollenbegriff eine wesentliche theoretische Voraussetzung für die DarsteHung dieses Zusammenhanges eingeführt. Die Arbeitsrolle repräsentiert die Erwartungen des Systems an das einzelne Mitglied. Ihre einzelnen Bestandteile definieren dabei die Anforderungen, die an den Inhaber einer Rolle zur Bewältigung seiner Aufgabe gerichtet sind. Dabei ist der Begriff "Aufgabe" in einem weiteren Sinne zu verstehen. Denn bei der Behandlung der Elemente von Arbeitsrollen in komplexeren Organisationen war deutlich geworden, daß die Rolle nicht lediglich die gleichsam offiziell vorgeschriebene Arbeitsaufgabe auf einer mehr oder weniger technischen Ebene in Operationale Qualifikationsanforderungen übersetzt. Die - terminologisch mißverständliche - Unterscheidung von technischen Regeln und extrafunktionalen Orientierungen hatte vielmehr schon die Vorstellung verarbeitet, daß Rollenerwartungen über die arbeitsteilige Umsetzung eines offiziellen Organisationszwecks hinaus eine Reihe von anderen Anforderungen ausdrücken, die sich nicht unmittelbar aus einer gegebenen formalen Aufgabenstruktur deduzieren lassen, sondern sich aus Bestandserfordernissen der Arbeitsorganisation ergeben, deren Analyse sich nicht auf eine Zerlegung 16 So L. Nellessen, J. Schmidt: Kein Anschluß unter dieser Nummer? Erfahrungen mit Trainings in einer Institution (Deutsche Bundespost), in: Gruppendynamik 1975, S. 276 ff. (277); ähnlich D. Katz, .R. L. Kahn: The Social Psychology of Organizations, S. 425 ff. 17 Unter diesem Vorbehalt dürfte in Zukunft jeder Versuch gesehen werden, Praxisreformen über Ausbildungsreformen zu induzieren, nachdem erste Erfahrungen mit neuen praxisbezogenen Studiengängen vorliegen; hinsichtlich der Erfahrungen mit dem verwaltungswissenschaftlichen Studium in Konstanz : W. Linder, H. Treiber (Hrsg.): Verwaltungsreform als Ausbildungsreform - Plädoyer für ein sozialwissenschaftliches Studium der Verwaltung, München 1976.
90
V. Teil: Rolle und Qualifikation
eines Organisationszwecks beschränken kann. Man kann unter diesen Voraussetzungen innerhalb der Qualifikationsforschung am Aufgabenbegriff als Ausgangspunkt von Bedarfsprognosen und Lernzielentscheidungen nur festhalten, wenn man in der Beziehung von Aufgabe und Person seine "Vermittlung" durch parallele Systemfunktionen bzw. die darauf eingestellten Systemstrukturen im Auge behält. Rollenanalyse setzt daher nicht nur eine Aufgabenanalyse, sondern auch eine Organisationsanalyse voraus, die die strukturellen Voraussetzungen klärt, unter denen sich die Transformation von Aufgaben in Rollenanforderungen vollzieht. Die Analyse der Berufsrollen gibt insoweit mittelbar Aufschluß über die Struktur der Organisation bzw. ihrer Untersysteme, wobei sich das wechselseitige Verhältnis vollständig nur in einer zusammenfassenden Betrachtung der gesamtbetrieblichen Rollenstruktur erschließen läßt. An diesem Punkte kann an die bereits referierte Skalierung beruflicher Rollenelemente angeschlossen werden, die ja gerade auf der Annahme eines Zusammenhangs verschiedener Strukturvariablen beruhte. Der Ausgangspunkt war dabei die Verbindung von statuskontinuierlicher Aufgabenorganisation und einer Qualifikationsstruktur, die sich in einer Hierarchie von Gehorsamsrollen darstellen läßt. Die einzelnen Arbeitsrollen einer Rangebene bilden den Ausschnitt von Arbeitsrollen der nächst höheren Ebene, so daß die Summe aller Anforderungen schließlich in den Arbeitsrollen der Organisationsspitze zusammengeiaßt ist. Da der Arbeitsprozeß auf allen Stufen voll einsehbar und entsprechend kontrollierbar ist, ist der Anteil normativer Orientierungen innerhalb der einzelnen Arbeitsrollen gering. Eine Organisation dieses Typs ist auf die weitergehende Aufnahme von Elementen der Selbstkontrolle in die Arbeitsrolle nicht angewiesen.
Die Situation ändert sich, je weiter sich die Arbeitsorganisation im Zuge fortschreitender funktionaler Differenzierung dem Typ der aufgaben-diskontinuierlichen Organisation nähert. Mit einem entsprechenden Wandel der Autoritätsstruktur nimmt der Anteil "extra-funktionaler Rollenelemente" aus den erwähnten Gründen zu. Dabei ist für den vorliegenden Zusammenhang an die Feststellung zu erinnern, daß dieser Wandel nicht notwendig sich als Strukturwandel der formalen Organisation äußern muß. Vielmehr kann eine entsprechende Entwicklung als Funktionswandel die äußere Formalstruktur unverändert lassen. Diese Feststellung ist deshalb wesentlich, weil sie die Vorstellung einer festen Koppelung von Rollen- und Organisationsstruktur weitgehend relativiert und jeder curricularen Ableitungsmechanik von vornherein die theoretische Basis entzieht.
5. Verhältnis von Organisationstyp und Rollenstruktur
91
5. Vberlegungen zum Verhältnis von Organisationstyp und Rollenstruktur- Versuch einer Systematik im Kontinuum von "offener" und "geschlossener" Rolle Die Zuordnung eines bestimmten Rollenbildes bzw. einer bestimmten Rollenstruktur im Sinne eines gesamtorganisatorischen Rollengefüges zu einem Organisationstyp kann nach dem Vorstehenden wiederum nur auf der Basis analytischer Grenztypen erfolgen, die unter dem Gesichtspunkt größtmöglicher Gegensätzlichkeit gegenübergestellt werden und in dieser Form das Feld möglicher Mischtypen bzw. Variablenkombinationen begrenzen. In dieser Weise ist versucht worden, Rollenbild und Rollenstruktur der beiden gegensätzlichen Organisationspole zu bestimmen, die auf der einen Seite als bürokratisch bzw. mechanistisch beschrieben wurden und auf der anderen Seite im Grenztyp des assoziativen bzw. organischen Modells kontrastiert wurden18• Als Ausgangspunkt bieten sich auch für das bürokratisch-mechanistische Modell die Bestimmungen Max Webers an, die - soweit sie die Anforderungen des Amtes an seinen Inhaber betreffen - als Form einer Rollenbeschreibung gelesen werden können. Zusammengefaßt läßt sich danach die Bürokratenrolle als eine ausgeprägte Gehorsamsrolle kennzeichnen. D. h. die Verhaltenserwartungen sind gerichtet auf die Ausführung eines Befehls, der in Form einer Einzelweisung ergehen kann oder aber in Form einer Vorschrift verallgemeinernd festgehalten ist. Durch diese Regelbindung ist der Entscheidungs- und Handlungsraum des Amtsinhabers präzise begrenzt. Mangels Verhaltensalternativen ist die Privatpersönlichkeit des Beamten bei der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte neutralisiert. Insofern herrscht in rechtsförmig organisierten Verwaltungen das Gesetz und nicht sein Anwender, weswegen Weber in anderem Zusammenhang von der bürokratischen Herrschaft als der reinsten Ausprägung legaler Herrschaft sprechen konnte19• Die vollständige Trennung von Amt und Person bzw. die vollständige Austauschbarkeit der Person innerhalb eines gleichwohl kontinuierlich arbeitenden Apparates ist dabei zugleich noch der anschaulichste Beleg für die erwähnte These, daß eine Organisation aus Rollen und nicht aus konkreten Individuen besteht. Die rein exekutiven Funktionen des Amtsinhabers lassen keinen Spielraum für eine individuelle Interpretation der Rollenvorschriften und bestimmen zugleich die Eigenschaften, die die Organisation an den einzelnen Amtswalter stellt. Mit Begriffen wie "Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, straffe Unterordnung" kenn18 Vgl. dazu oben III 2 und 4. 19 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124 ff.
92
V. Teil: Rolle und Qualifikation
zeichnet Weber nicht nur den Charakter der gesamten Organisation, sondern auch die individuelle Qualifikation des Beamten. Der Kern bürokratischer Rationalität, die Berechenbarkeit und Steuerbarkeit der Organisation, findet in der Regelhaftigkeit und Verfügbarkeit des individuellen Handeins seine Entsprechung. Sie prägen die Anforderungen des bürokratischen Amtes. Die Voraussehbarkeit bzw. zentrale Lenkbarkeit der Aufgabenerfüllung setzt voraus, daß sich das Mitglied bei der Ausführung im Grundsatz keine eigenen Gedanken macht. Eine autonome Variation der Aufgabenerfüllung, ein Experimentieren mit alternativen Problemlösungen ist, selbst wenn ein solches Verhalten objektiv rational wäre, indem es etwa veränderten Problemlagen Rechnung trüge, vom Standpunkt der Organisation dysfunktional und würde mit Sanktionen beantwortet werden. In diesem Punkte bestehen zwischen bürokratisch organisierten Entscheidungs- oder Produktionsorganisationen keine Unterschiede. Für letztere bringt V. A. Thompson diesen Gedanken in einfachen Worten zum Ausdruck: "As Henry Ford said, 'All that we ask of the men is that they do the work which is set before them'. Management consists of functions and processes for perfecting the tool for this purpose, that is controlling intraorganizational behaviors so that they become completely reliable and predictable, like any good tool. From the standpoint of this production ideology, innovative behavior would only be interpreted as unreliability20."
6. Das Konzept der "geschlossenen Rolle" Dieser Rollentyp der mechanistischen Organisation soll im folgenden mit "geschlossen" gekennzeichnet werden. Das Attribut überträgt in gewissem Umfange die Charakteristika des geschlossenen Systemmodells21 auf die Elemente der Routinerolle, wobei die Betonung auf dem fehlenden (rolleninternen) Innovationspotential bzw. den planmäßig ausgeschlossenen Lernmöglichkeiten des Rolleninhabers liegt. Jede selbständige Verarbeitung von Erfahrungen, die bei der Ausführung des Befehls in der Beobachtung seiner Wirkung (Entscheidungsfolgen) anfallen könnten, würde, soweit sie sich in einer abwei2o V. A. Thompson: Bureaucracy and Innovation, Administrative Science Quarterly 1965, S. 1 ff. (S. 2). 21 Zum geschlossenen Modell der Entscheidungstheorie W. Kirsch: Entscheidungsprozesse, Bd. I, S. 26 ff. und F. Naschold: Systemsteuerung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969, S. 33 ff. Ein gemeinsames Merkmal dieser Definitionsversuche ist die Unterstellung einer wenig komplexen Umwelt, die bei der Bestimmung der Systemstruktur weitgehend vernachlässigt bzw. als berechenbar vorausgesetzt wird.
7. Juristisches Entscheiden als Handeln in geschlossenen Rollen
93
ehenden Entscheidungspraxis niederschlüge, die "Rechenhaftigkeit" der Organisation gefährden und könnte als Verstoß gegen die Rollendisziplin Sanktionen auslösen. Die Ausführung der Rolle dieses Typs setzt die verbindliche Lösung des Problems immer schon voraus. Eventuelle Unsicherheiten im Entscheidungsprogramm - das Problem wurde anläßlich der Abgrenzung von Konditional- und Zweck-Programmen beim Problem unvollständiger rechtlicher Programmierung angesprochen - werden entweder zentral oder so entschieden, wie die Organisationsspitze auch entschieden haben würde. Die entsprechenden Rollenerwartungen sind auf dieser Ebene nicht auf kognitiv-analytische Fähigkeiten, sondern auf eine bestimmte Arbeitshaltung gerichtet. Es wird verlangt, daß der Handelnde seine Motivation nicht daraus bezieht, ob er sich mit einer Problemlösung wissenschaftlich oder in anderer Form inhaltlich identifiziert und mit ihren Folgen einverstanden ist. Eine derartige intrinsische Motivation wäre, da sie die Arbeit an die persönlichen Interessen und Präferenzen des Mitglieds koppeln würde, unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Handlungskontinuität ein unberechenbarer Faktor. An ihre Stelle tritt ein extrinsisches Motivationssystem, das dem Beschäftigten die Trennung seiner Person von seinem Amt zumutet22 und an die Stelle von ergebnisorientierter Reflexion Tätigkeitsanreize setzt, die sich vom Inhalt der Arbeit ablösen lassen (Geld, Macht, Status). Konformität und Loyalität sind daher die primär erwarteten Verhaltenseigenschaften, die diesen Rollentyp prägen, der insoweit auf der Qualifikationsebene neben der Programmkenntnis in formal unvollständig programmierten Bereichen ein Gespür für das Auffinden bzw. die Einhaltung der herrschenden Linie des Hauses erfordert. Auf dieser Ebene ist auch innerhalb der geschlossenen Rolle Lernen, nämlich als fortwährender Anpassungsprozeß in Richtung auf die Bedürfnisse der Organisation, möglich und opportun.
7. Juristisches Entscheiden als Handeln in geschlossenen Rollen Der hier angesprochene Gedanke bedarf einer näheren Ausführung, weil er die Anwendbarkeit des Konzepts der geschlossenen Rolle über streng definierte, rein repetitive Routinetätigkeiten hinaus auf Bereiche ausdehnt, die durch komplexere Anforderungsmerkmale bestimmt sind. 22 Die Unpersönlichkelt der Amtsführung und Kommunikation mit dem Verwaltungspublikum ist dabei ein regelmäßig hervorgehobenes Merkmal der Arbeitsrollen im mechanistischen Modell. Vgl. den überblick bei H. Bosetzky: Grundzüge einer Soziologie der Industrieverwaltung, S.llB ff.; G. Schienstock: Organisation innovativer Rollenkomplexe, Meisenheim am Glan 1975, S. 133.
94
V. Teil: Rolle und Qualifikation
Er geht von der Möglichkeit eines geschlossenen Rollenhandeins auch in unvollständig programmierten Bereichen aus. Diese Situation ist etwa in rechtsförmig programmierten Verwaltungsbereichen gegeben, in denen durch den Einbau sprachlich nicht eindeutiger Bestandteile in die Entscheidungsregel entweder die "Empfangselastizität"23 des informationsverarbeitenden Systems (Mehrdeutigkeit auf der Tatbestandsseite) oder aber die "Entscheidungselastizität" 23 (Mehrdeutigkeiten in der Rechtsfolgenanordnung) erhöht wird. Ablauf und Ergebnis eines derartig programmierten Informationsverarbeitungsprozesses sind durch die Entscheidungsregel also nur in einem bestimmten Rahmen festgelegt, innerhalb dessen zwischen logisch gleichwertigen Möglichkeiten gewählt werden muß. Theoretisch müßte der juristische Entscheider innerhalb dieses Handlungsspielraums also als autonomer Problemlöser tätig werden. Entgegen dem Anspruch juristischer und nichtjuristischer Hermeneutik24 gibt es keine zuverlässige Methode (und kann es auch eine solche nicht geben25), die ohne Vorgriff auf ein vorgestelltes Ergebnis (also eine im formal-logischen Sinne dezisionistisch bestimmte Problemlösung) eine in dem erwähnten Sinne vage "Entscheidungsregel" so konkretisiert, daß eine Anwendung der derartig bearbeiteten Norm nur ein einzigrichtiges Ergebnis ermöglichen würde26• Gleichzeitig aber muß ein auf dieser Basis arbeitendes System dem Bedürfnis nach Voraussehbarkeit und Kontinuität der Entscheidungspraxis nachkommen. Die damit vorausgesetzte Kontinuität wird system23
N. Luhmo,nn: Lob der Routine, S. 123.
Davon geht im übrigen auch jenes Hermeneutik-Verständnis aus, das am Anspruch (intersubjektiver) Wahrheitsfähigkeit von Normen und Werten festhält. Die hier vorausgesetzte Legitimation stellt sich nicht in logischen, sondern sozialen Prozessen her - vgl. J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: R. Bubner u. a. (Hrsg.): Hermeneutik und Dialektik, Tübingen 1970, Bd. 1, S. 83 ff. und J. Habermas: Legitimationsprobleme im modernen Staat, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 7/1976, s. 39 ff. 25 Dies folgt schon aus der Einsicht, daß man den Informationsgehalt eines Obersatzes aus logischen Gründen unter keinem denkbaren Aspekt im Wege formal-deduktiver Verfahren ohne das Hinzutreten anderer Sätze verdichten, erweitern oder reduzieren kann. Die Verdrängung dieser Einsicht durch den Versuch, eine der Norm innewohnende Wahrheit durch normimmanente Interpretation ans Licht zu bringen, führt zwangsläufig in den hermeneutischen Zirkel. Vgl. u. a. F. J. Säcker: Die Konkretisierung vager Rechtssätze durch Rechtswissenschaft und Praxis - Rechtsquellentheoretische und methodologische Bemerkungen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1972, S. 215 ff. m. w. N. Die juristische Methodenlehre führt in ihrem Eingeständnis, daß zwischen konkurrierenden Methoden keine logische Rangfolge herzustellen sei, praktisch zu gleichen Konsequenzen. 26 Dazu vor allem J . Esser: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956; ders.: Vorverständnis und Methodenwahl, Frankfurt a. M. 1970. 24
7. Juristisches Entscheiden als Handeln in geschlossenen Rollen
95
intern durch verschiedene Mechanismen der Entscheidungshomogenisierung bewirkt, von denen in diesem Zusammenhang der Vorgang der Dogmatisierung von besonderem Interesse ist. Gemeint ist damit jener Prozeß, der bestimmte, untergesetzliche juristische Innovationen in Entscheidungsroutinen überführt. Das Entscheidungssystem setzt bei der Ausfüllung des ihm eingeräumten Ermessens nicht jedesmal bei einer unbefangenen Interpretation der Entscheidungsregel und ihrer theoretischen Möglichkeiten an, sondern es greift auf Erfahrungen zurück, die es im Umgang mit einer bestimmten Entscheidungspraxis gemacht hat, um die in diesem Lernvorgang schließlich als "bewährt" definierte Problemlösung solange zum Maßstab seiner Entscheidungen zu nehmen, bis eine Veränderung der Problemlage eine Fortentwicklung oder Revision einer Entscheidungsroutine nahelegt27• Der juristische Entscheider kann also im Normalfall und innerhalb formal unvollständig programmierter Bereiche an anerkannte Problemlösungen anknüpfen und sich auf die "Richtigkeit" der Entscheidungsroutinen verlassen. Im Ergebnis bedeutet dies, daß sich der Entscheider auch in förmlichen Ermessensbereichen in der Anwendung regelhaft verstetigter Argumentationen und Entscheidungsableitungen faktisch auf Konditional-Programme verlassen kann. Für das Rollenbild dieses Entscheidungstyps ist dabei wesentlich, daß der oft hervorgehobene Entlastungseffekt der Dogmatik28 gerade darin besteht, die kognitiv-analytische Rekonstruktion des real zuweilen sehr komplizierten Vorganges der Übersetzung einer empirisch faßbaren Problemlösung in die Kürzel-Sprache einer die Wirklichkeit nicht real abbildenden Dogmatik29 zu ersparen. Die Fähigkeit, die dogmatischen Chiffren als Anleitung zu richtigen Entscheidungen gebrauchen zu können, beruht weniger auf der Fähigkeit, die Transformation der Realität in die Rechtsform sich planvoll verfügbar zu 27 Der "rechtspolitische Wert der Dogmatik" liegt nach J. Esser: Vorverständnis und Methodenwahl, S. 88, in der "Vermeidung ständiger Neuargumentation". 28 F. Wieacker: Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Hermeneutik und Dialektik, Hans-Georg Gadamer zum 70. Geburtstag, Tübingen 1970, Bd. II, S. 311 ff.; K. Zwei gert: Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, Festschrift für Eduard Bötticher, Berlin 1969; W. Brohm: Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsfragen der Verwaltung, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 30 (1972), S. 245 ff.; N. Luhmann: Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974; G. Teubner: Folgenkontrolle und responsive Dogmatik, Rechtstheorie, 1975, S. 179 ff. 29 Die Dogmatik (bzw. die in ihr zusammengefaßten Begriffe, Definitionen, Sätze usf.) bilden also die Realität nicht als solche ab, sondern machen die Probleme der Realität (genauer gesagt: die Entscheider, die über diese Probleme zu befinden haben) durch bestimmte sprachlich vermittelte Selektionsleistungen entscheidungsfähig.
96
V. Teil: Rolle und Qualifikation
machen, das Recht also primär als Begründungsfonnel für die Durchsetzung empirisch-analytisch erarbeiteter und auf dieser Ebene als sinnvoll erkannter Ziele zu instrumentalisieren. Eine entsprechende Entscheidungssicherheit ist eher das Produkt einer vorberuflichen und beruflichen Sozialisation00, die den Entscheider instand setzt, juristische Symbole mit bestimmten Entscheidungssituationen und -folgen zuverlässig zu assoziieren. Die damit verbundenen Lernvorgänge gehen (die Parallele zur entsprechenden Charakterisierung der hier dominierenden Programmform ist dabei kein Zufall) in Richtung auf eine psychologische Konditionierung: Angestrebt ist eine berechenbare Reaktion des Entscheidungssubjekts auf bestimmte entscheidungsauslösende Tatbeständel'l. In der Entscheidungstheorie wird insoweit zwischen gewohnheitsmäßigem und "echtem" Entscheiden getrennt, wobei die Unterscheidung mit der von assoziativem Lernen (Gewohnheitsbildung) und Problemlösungsverhalten (Denken) korrespondiertM. Auf dieser Basis läßt sich die geschlossene von der sogleich näher zu besprechenden "offenen" Rolle hinsichtlich des erwarteten Lernverhaltens über das hier gewählte Beispiel der Juristenrolle hinaus gut abheben. Das Verhalten in der geschlossenen Rolle ist vergangenheitsorientiert und erfahrungsgeleitet. Es knüpft grundsätzlich an bereits gelöste Probleme an und ao Eine nähere Analyse dieses Prozesses hätte auf die sozialen Mechanismen einzugehen, die die Lernvorgänge steuern bzw. in berechenbaren Bahnen halten. Für die Erklärung der Tatsache, daß die weitgehende Selbstprogrammierung von formal-rechtsförmig organisierten Systemen eine relativ starke inter-organisatorische Entscheidungshomogenität aufweist, wäre neben den sozialen Kontrollen, die etwa vom hierarchischen Systemaufbau ausgehen, die Wirksamkeit der beruflichen Bezugsgruppe (Profession) herauszustellen. Vgl. insoweit schon C. Schmitt: Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 71; vgl. auch J. Esser: Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, Archiv für die civilistische Praxis 172 (1972), S. 97 ff.; N. Luhmann: Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 288 ff. Der entscheidungssteuernde Einfluß von Bezugsgruppen könnte im übrigen dafür sprechen, "Gruppenorientierungen" als weitere Entscheidungsprämisse irt die Organisationsanalyse einzuführen. In dieser Weise D. Grunow: Ausbildung und Sozialisation, S. 37 ff. a1 W. Kirsch: Entscheidungsprozesse - Bd. I: Verhaltenswissenschaftliche Ansätze der Entscheidungstheorie, Wiesbaden 1970, S. 64 ff. Danach erfolgt die Reaktion, "ohne daß zwischen Stimulus und Reaktion eine spürbare Phase des Nachdenkens und Abwägens sichtbar wird: Der Mensch ist mit der Situation vertraut. Er handelt wie er in gleichen Situationen schon früher entschieden und gehandelt hat. Es werden weder alternative Handlungsmöglichkeiten gesucht noch Informationen über mögliche Konsequenzen gewonnen. Das Entscheidungssubjekt verfügt über ein Repertoire möglicher Reaktionen. Mit jeder Stimulussituation assoziiert das Individuum eine bestimmte Reaktion. Sehr oft entspricht die routinemäßige Reaktion der Rolle, die das Individuum als Mitglied einer Gruppe oder Organisation zu erfüllen hat" (S. 66). a2 W. Kirsch, S. 65.
8. Geschlossene Rolle und bürokratische Struktur
97
verzichtet auf eine Abwägung von Alternativen im Blick auf mögliche Entscheidungskonsequenzen33• Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß der hier für das geschlossene Modell in Anspruch genommenen Juristenrolle eine Rechtsund Verwaltungsbetrachtung zugrunde liegt, deren politische und theoretische Bewertung umstritten ist. Auf eine alternative Interpretationsmöglichkeit, nämlich im Sinne des offenen Modells, die der Funktion gegenwärtiger Verwaltung u. U. näherkommt, wird an anderer Stelle zurückgekommen34 • 8. Zur Annahme einer Verbindung von geschlossener Rolle und bürokratischer Struktur Unabhängig von dem hier gewählten Beispiel der Juristenrolle setzt der mechanistische Organisationstyp eine weitgehende Determinierung des Aufgabenvollzugs und eine entsprechende Programmierung der Entscheidungsabläufe voraus. Dem hohen Routinisierungsgrad wird unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt der Effizienz am ehesten durch einen hohen Grad an Formalisierung der Kommunikation und durch eine so weit wie möglich vorangetriebene Arbeitsteilung und entsprechende Spezialisierung der Mitglieder entsprochen. Diese organisatorischen Prinzipien drücken sich in den Qualifikationsanforderungen an das einzelne Mitglied aus: Je stärker diese Form der Leistungsrationalisierung vorangetrieben ist, desto geringer werden die Anforderungen, die eine planvolle Ausbildung oder Wissensanpassung verlangen35. Auf der letzten Stufe dieser Entwicklung, die zugleich den Übergang zum maschinenmäßigen Vollzug der Arbeit markiert, reduziert sich die Qualifikation der Beschäftigten auf die Einhaltung "regulativer Normen" 36 wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Genauigkeit und 33 Hierfür auch in logisch offenen Entscheidungssituationen die Voraussetzungen zu schaffen, ist im rechtlichen Bereich die Leistung der Dogmatik. Sie transformiert durch regelförmige Routinisierung juristischer Problemlösung die Ergebnisse einer output-orientierten Rechtsfortbildung in die Routinen einer überwiegend input-orientierten Nachfolgepraxis. 34 Vgl. unten VI 14 a. 35 An diesem Punkte müssen zwei Formen der Arbeitsteilung mit entsprechend unterschiedlichen Funktionen unterschieden werden. Einmal kann eine problemlösende Organisation durch stärkere fachliche Spezialisierung die Lerneffekte in einer Stelle, die im schnellen Rhythmus der Aufgabenwiederholung entsprechend zahlreiche Erfahrungen gezielt verwerten kann, steigern. Vgl. dazu 0. Grün: Das Lernverhalten in Entscheidungsprozessen der Unternehmung, Tübingen 1973, S. 3 m. w. N. Es kann aber auch - etwa im Typ der Fließband-Arbeit - eine reine Leistungsrationalisierung ohne korrespondierenden individuellen Lernfortschritt bezweckt werden. Der Text hat primär die letzte Form im Auge. 38 Diese gesetzmäßig formulierte Aussage läßt allerdings die Schwierigkeit einer Operationalisierung der hierbei verwendeten Begriffe nicht er-
7 Nocke
98
V. Teil: Rolle und Qualifikation
Disziplin, sowie psychisch-physische Merkmale wie Belastbarkeit, Ausdauer usw. Die kognitiven Anforderungsmerkmale der mechanistischen Organisationsrolle sind demnach dadurch gekennzeichnet, daß der Rolleninhaber keine Probleme zu lösen hat. Die Problemlösung ist entweder in der Einzelweisung bzw. den formalen Entscheidungsregeln oder aber als Ergebnis der Gewohnheitsbildung in Arbeitsroutinen konserviert. Damit ist über die Strukturvariable Organisation hinaus zugleich ein Zusammenhang von Programmstruktur und Rollentyp angesprochen. Die konditionale Programmform setzt in reiner Ausprägung das gleiche Rollenbild wie die mechanistische Organisationsstruktur voraus, wobei - angesichts der bereits mehrfach angesprochenen Möglichkeit andersartiger Strukturkombinationen37 - einmal mehr auf den analytischen Charakter der hier vorgenommenen Grenztypenbildung hingewiesen werden muß. Hinsichtlich der Rollenstruktur gilt das, was im Anschluß an Offe als "aufgabenkontinuierliche Organisation" dargestellt wurde, wobei die geforderte Rollendisziplin des Beamten gleichermaßen auf der Einhaltung regulativer Normen durch den Amtsinhaber wie der Kontrolle durch eine sanktionsbewehrte Vorgesetztenhierarchie beruht. "Führungs- bzw. Machtrollen" lassen sich in diesem Schema allein schon kennen. Hinsichtlich des in diesem Zusammenhang zentralen Routinebegriffs z. B. beschreibt N. Luhmann, Lob der Routine, S. 115, die möglichen Einwände, die sich in bezug auf das Merkmal der Handlungswiederholung machen ließen: "Wie oft und in wie rascher Folge muß sich ein und dasselbe Handeln wiederholen, damit es die Bezeichnung der Routine verdient? Die Grenzen sind oft unbestimmt. Sicher liegt Routine vor, wenn nur eine ein· zige Handlung aufgegeben ist, ein bestimmter Griff an der Maschine und natürlich auch wenn es sich um eine immer gleiche Folge von Griffen handelt. Die Grenzen beginnen jedoch zu verschwimmen, wenn mehrere Handlungsreihen aufgegeben sind, von denen bald diese, bald jene fällig wird; man denke an einen Registrator, der bald Eingänge einträgt, bald wieder Vorlagen heraussucht, bald Auskünfte über den Verbleib von Akten erteilt. Man kann das Bild beliebig anreichern, so daß eine spezifische Handlungsreihe nur noch einmal am Tage, einmal in der Woche, einmal im Monat oder gar in ganz unbestimmter Zeitfolge zum Zuge kommt. Der übliche Routinebegriff ermöglicht es kaum, eindeutig festzustellen, wo hier die Routine aufhört. Das Merkmal der Handlungswiederholung, das doch das Wesen der Routine bezeichnen soll, gestattet keine Abgrenzung des Tatbestandes." 37 Zu erinnern ist hier namentlich an die Variabilität im Verhältnis von Organisations- und Programmstrukturen, wo sich die vielfach assoziierte Inkompatibilität von bürokratischem Organisationstyp und Zweckprogrammen bei näherer Betrachtung nicht halten läßt. Die Feststellung läßt sich freilich wie schon angemerkt nicht in die Annahme verlängern, daß jene Variablen beliebig variiert und kombiniert werden können. Strukturelle Vorentscheidungen in einem Bereich können unter bestimmten Aufgabenkonstellationen oder Umweltanforderungen die Wahlmöglichkeiten ganz oder teilweise beschränken.
9. Das Konzept der "offenen" Rolle
99
nach der Ranghöhe des Inhabers identifizieren. ·Die Hierarchie bildet eine Qualifikationspyramide ab, die alles Wissen in der Rolle der Organisationsspitze kumulieftSS. 9. Das Konzept der "offenen Rolle"
Die organische b?JW. assoziative Organisation ist nach den Ausführungen in Teil 111 als Gegenentwurf des mechanistischen BürokratieModells entwickelt worden. Ihre Merkmale lassen sich fast durchgehend als Umkehr bürokratischer Anforderungsprofile lesen. Entsprechend erscheint in der Literatur die typische Arbeitsrolle dieser modellhaften - Organisationsform von allen bürokratischen Merkmalen gereinigt39• Ausgangspunkt ist dabei, daß das Mitglied mit nicht gelösten Problemen konfrontiert wird. Unter diesen Voraussetzungen kann der Arbeitsvollzrug nur in einem Umfange durch formalisierte Rollenerwartungen festgelegt werden, der einen zur Aufgabenbewältigung notwendigen Handlungs- und Experimentierspielraum beläßt. Die Elemente des auf diese Situation zugeschnittenen Rollentyps bestimmen sich zunächst nach funktionalen Erfordernissen der Organisation: Einerseits macht der Umfang der Aufgabe und des zu ihrer Lösung benötigten Wissens auch in organischen Modellen Arbeitsteilung notwendig, die auch durch das Ideal eines umfassend gebildeten Individuums nicht aufgehoben werden kann40• Der wesentliche Unterschied zwischen den hier behandelten Systemtypen leitet sich aus der Art der Aufgaben ab, die arbeitsteilig bewältigt werden muß. Wenn der Vollzug (die Anwendung) des schon gelösten Problems im Normalfall keine neuen Probleme aufwirft, werden die Arbeitsabläufe zur Minimierung von Qualifikations- und Zeitaufwand so weit wie möglich ss V. A. Thompson: Bureaucracy and Innovation, Administrative Science Quarterly 1965, S. 1 ff. 39 Vgl. neben den Arbeiten von Bosetzky und Schienstock, die zusammenfassende Gegenüberstellung beider Merkmalsgruppen bei W. H. Staehle: Organisation und Führung sozio-technischer Systeme - Grundlagen einer Situationstheorie, Stuttgart 1973, S. 39, 41. 40 Insoweit wäre zu fragen, ob das Rollenbild des mit umfassenden Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestatteten Organisationsmitglieds - vgl. H. Bosetzky, S. 126 -, das jede Arbeitsteilung gegenstandslos machen würde, den Gedanken der assoziativen Organisation eher aus der utopischen Variante ihrer historischen Vorläufer entwickelt (vgl. Schluchter, S. 34 ff.). Als Instrument gegenwärtiger Organisationsanalyse ist es realistischer, die ,.Allwissenheit" des Mitglieds auf die allgemeinen Voraussetzungen des Arbeitsprozesses zu beziehen, einschließlich der formalen und informalen Faktoren, die den Entscheidungsgang steuern. Das assoziative Modell darf keine Kontingentierung der Lernchancen oder Hierarchisierung der allgemeinen Informationen kennen. Das potentielle Herrschaftswissen muß mit anderen Worten so gestreut sein, daß es nicht als Herrschaftswissen wirksam werden kann. 7*
100
V. Teil: Rolle und Qualifikation
fragmentiert, wobei die so abgespaltenen Teilaufgaben unabhängig voneinander erledigt werden können41 • Ihre Zusammenfügung zu einem einheitlichen (Entscheidungs-)Produkt ist ein organisatorisches Problem, wobei dem hierarchischen Prinzip, das die einzelnen Entscheidungslinien in der Spitze des Systems (bzw. der Spitze der hierarchisch gegliederten Untereinheiten) zusammenführt, die Hauptaufgabe zufällt. Für Arbeitsrollen innerhalb eines so organisierten monokratischen Systems ist also die isolierte Aufgabenbewältigung typisch. Anderes gilt für den organisatorischen Gegentyp: Für eine Arbeitsteilung, die durch die Anforderungen problemlösender Tätigkeiten erzwungen wird, kann die auf dem Prinzip der Einzelverantwortung ruhende monokratische Organisationsstruktur zum Hindernis werden42 • Die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation ist daher die Gruppe von sich in ihren Kenntnissen ergänzenden Experten, die auf Grund einer flexibel handhabbaren Ordnung arbeitsteilig zusammenwirken. Die interne Rollenstruktur der Arbeitsgruppe ist dabei nicht durch ein formales Reglement festgelegt, sondern folgt dem Bedürfnis, Aufgabe und individuelle Qualifikation in jeder Phase jeweils in ein optimales Verhältnis zueinander zu bringen. Die interne Gruppenstruktur ist also nur schwach formalisiert. Die normativen Elemente der in diesem sozialen Kontext auszuführenden Arbeitsrolle sind also 41 Vielfach begegnet man auf einer hierarchischen Ebene dabei lediglich einer bloßen Segmentierung (d. h. einer rein quantitativen Aufteilung inhaltsgleicher Tätigkeiten auf verschiedene Abteilungen). Von dieser Form segmentaler Differenzierung unterscheidet die Organisationssoziologie unter dem Begriff "funktionaler Differenzierung" das Prinzip spezialisierender Arbeitsteilung nach qualitativen Merkmalen. 42 Auf die mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit dieser weit verbreiteten Ansicht war bereits hingewiesen worden (vgl. oben III 5). Grundsätzlich ist es natürlich denkbar, daß auch eine auf problemlösende Tätigkeiten bezogene funktionale Differenzierung in hierarchisch-monokratischen Formen organisiert wird. Die Integration der Einzelbeiträge erfolgt hier an übergeordneter Stelle, und die Kooperation parallel arbeitender Einzelreferate muß formal den Umweg über die Organisationsspitze nehmen. Vielfach wird die Verwaltung die hierbei auftretenden Reibungsverluste im Interesse besserer Kontrollmöglichkeiten in Kauf nehmen. Zu den Kosten sowohl der einen wie der anderen Lösung ausführlich: B. A. Baars, K . B . Baum, J. Fiedter: Politik und Koordinierung, Göttingen 1976, S. 10 ff. ("Autonomiekosten und Koordinierungskosten"). Zu beachten sind in diesem Zusammenhang allerdings die Mechanismen, die außerhalb der formalen Organisation auf einen Ausgleich dieser gegensätzlichen Tendenzen zielen und sich namentlich in informalen Kontakten und Gruppenbildungen äußern. Vgl. M. Irle: Soziale Systeme. Eine kritische Analyse der Theorie von formalen und informalen Organisationen, Göttingen 1963. Für eine Organisationale Rollenanalyse bedeutet dies, daß ein deduktiver Schluß von der Formalstruktur auf die Arbeitsrolle nur sehr begrenzt möglich ist. Eine empirische Betrachtung muß bei der Analyse der Organisationspraxis neben den formalen die informalen Rollenaspekte beachten, die insoweit auch zu erheblichen Modifikationen der idealtypischen Bürokratenrolle einschließlich ihrer qualifikatorischen Implikationen Anlaß geben können.
9. Das Konzept der "offenen" Rolle
101
im Unterschied zu der extremen Vereinzelung des Arbeitsbeitrages (und der damit vielfach korrespondierenden aufwärts gerichteten Konkurrenzhaltung) auf kooperativ-demokratische Kommunikation gerichtet. Die in der Gruppe vorfindliehe Erwartungsstruktur ist durch die Einheit von individuellem und systemischen Zweck gekennzeichnet. Die Lösung des Problems ist Aufgabe der Gruppe, wird aber vom Individuum gleichermaßen als eigene Aufgabe betrachtet. Das Problem ist für alle in gleicher Weise einsehbar und die Beiträge zu seiner Lösung erfordern den Einsatz breit angelegter kognitiver und affektiver Qualifikation, weil die fehlende Routinisierbarkeit und die hohe Interdependenz von Teilaspekten dem Prozeß der Arbeitsteilung Grenzen setzt". Der Umstand, daß hier - anders als in der stark arbeitsteiligen bürokratischen Organisation, deren Arbeitsvollzüge einen Großteil der Persönlichkeit stillegen - das Individuum auf verschiedenen Ebenen stark in Anspruch genommen wird, erübrigt eine Abtrennung der Arbeit von der individuellen Motivation der Beteiligten oder die Aufspaltung des Individuums in eine Berufs- und Privatpersönlichkeit, die gewissermaßen frei gegeneinander verschiebbar sind44 • Diese Be43 Diese Begründung bleibt hier auf einer rein technischen Ebene und würde hierauf beschränkt zumindest die historische Idee der freien Assoziation verfehlen. Die Kritik der Arbeitsteilung setzt dort nicht primär an den technischen Grenzen der Aufgabenzerlegung an, die durch Organisation vielfach überwunden werden könnten. Sie nimmt ihren Ausgang vielmehr von den individuellen und gesellschaftlichen Kosten des ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des arbeitenden Menschen vorangetriebenen Rationalisierungsprozesses, der den Menschen zum Teil der Maschine macht. Die u. a. im Zuge der Human-Relations-Bewegung einsetzende Kritik des Taylorismus hatte allerdings erkannt, daß eine zu weit gehende Ausschaltung der menschlichen Persönlichkeit aus dem Arbeitsprozeß die Produktivität bzw. administrative Effizienz selbst beeinträchtigt. Die auf Entspezialisierung zielenden Strategien des "job-enlargement", "job-rotation" usw., konnten deshalb eine teilweise Rückgängigmachung der Arbeitsteilung bei konstanten oder sogar noch weiter forcierten Leistungsergebnissen zuwege bringen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der moralische Anspruch einer auf jene Überlegungen beschränkten "Humanisierung der Arbeitswelt" auf berechtigtes Mißtrauen gestoßen. Vgl. u. a. W . Volpert: Die "Humanisierung der Arbeit" und die Arbeitswissenschaft, Köln 1974; L. Baritz: The Servants of Power. 44 Dieser Gedanke ist namentlich von N. Luhmann konsequent nicht als bedauerliche Begleiterscheinung, sondern als Funktionsbedingung "hochdifferenzierter" sozialer Systeme vertreten worden. Das volle Einbringen der Persönlichkeit in die Organisation behindere diese ebenso wie das Individuum. Opportunistisches Handeln, Bestandsbedingung moderner Organisation, sei damit möglich, ohne die Persönlichkeit des Handelnden in Mitleidenschaft zu ziehen. Verantwortlich ist die Organisation und nicht das hinter seiner Unpersönlichkelt zurücktretende Individuum, das dadurch seine wahren Entfaltungsmöglichkeiten bewahren oder überhaupt erst zur Entfaltung bringen könne. Zum Vorläufer des Gedankens A. Gehlen: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1952, S. 338 ff.
102
V. Teil: Rolle und Qualifikation
dingungen erlauben eine weitgehende persönliche Identifikation mit dem Organisations(-gruppen)-ziel. An die Stelle der extrinsischen Motivation, die durch ein vielfältig gestaffeltes System sekundärer Leistungsanreize gestützt wird, tritt eine primär durch das Interesse an der Arbeit und seinem Ergebnis selbst motivierte Haltung, die überdies zwischen den Erwartungen der Organisation und externen arbeitsbezogenen Bezugssystemen (in erster Linie die wissenschaftlichen oder professionellen Instanzen, die die wissenschaftliche Ausbildung und Sozialisation der Mitglieder und die Kontrolle professioneller Berufsausübung organisieren) keinen Widerspruch erzeugt. Hinsichtlich der kognitiven Anforderungen i. e. S. bietet die Aufgabenbestimmung "Problemlösung" einen zwar sehr allgemeinen, aber brauchbaren Ausgangspunkt. Auf der Programmebene wird die Situation des noch zu lösenden Problems im Zweckprogramm festgehalten. Es formuliert das Handlungsziel und programmiert den Entscheidungsprozeß nur insoweit, als lediglich im Ausschluß ungeeigneter Mittel eine bestimmte Handlungsgrenze gesetzt ist. Problemlösung bedeutet in diesem Zusammenhang also Entscheidung für eine von mehreren Möglichkeiten - eine Wahl unter Alternativen. Diese Entscheidung kann entweder unter Einsatz empirisch-analytischen Wissens, von Folgeprognosen und entsprechenden, methodisch gesicherten Instrumenten systematisch bestimmt werden, oder aber sich als das Resultat einer stärker experimentell arbeitenden Erfahrungsauswertung ergeben, die die Folgen der eigenen Entscheidungspraxis beobachtet und sie fortlaufend bestätigend oder modifizierend in die Entscheidungspraxis einfließen läßtf&. Im Unterschied zur geschlossenen Rolle des mechanistischen Modells ist die Lernbereitschaft und Lernfähigkeit des Inhabers zentraler Bestandteil der offenen Rolle", die insoweit auch durch den Begriff "Lernrolle" charakterisiert werden könnte. Die maßgeblichen Qualifikationen, die zur Ausführung der Lernrolle benötigt werden, betreffen - auch das im Unterschied zur geschlossenen Rolle - in erster Linie kognitive47 Fähigkeiten, wie sie im Typ wissenschaftlichen Arbei45 P. Ridder: Dynamische Gestaltung sozialer Systeme: eine systemtheoretische Analyse des Änderungswissens, in: B. Schäfers (Hrsg.): Gesellschaftliche Planung, Stuttgart 1973, S. 65 ff. (81 ff.). 46 Eine etwas andere Bedeutung gibt St. Jensen: Bildungsplanung als Systemtheorie, S. 51 f., dem Begriff der "offenen Rolle". Die Differenz ergibt sich vor allem daraus, daß bei Jensen die "offene Rolle" nicht primär als berufliche Organisationsrolle definiert ist, sondern die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen (Erwartungen) lebenslangen Lernens in einer bestimmten Phase bzw. Situation bezeichnen soll. 47 Zur (zentralen) Stellung und Definition des Begriffs im entscheidungsund lerntheoretischen Zusammenhang ausführlich G. Reber: Personales Verhalten im Betrieb - Analyse entscheidungstheoretischer Ansätze, Stuttgart 1973, S. 305 m. w. N.
10. Die Beziehung von Rollen- und Qualifikationsstruktur
103
tens repräsentiert sind. Problemlösendes Verhalten läßt sich in der Verwaltungspraxis von wissenschaftlicher Tätigkeit mehr im sozialen Bezug der Arbeit als in ihrem Charakter systematischer Informationsverarbeitung unterscheiden. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur der Rolleninhaber rnit anspruchsvollen Erwartungen konfrontiert. Die dabei verwendeten Attribute (Kreativität, Originalität, Phantasie, wissenschaftliches Engagement, Improvisationstalent usw.) sind als bekannte Bestandteile der üblichen Wunschkataloge, mit denen etwa die Stellenangebote von Führungskräften ausgeschmückt werden, wenig informativ. Aufschlußreich sind sie insofern, als sie indirekt den Anforderungskatalog der kontrastierenden geschlossenen Rolle mit der Bezeichnung von nicht primär vorausgesetzten Eigenschaften vervollständigen. Allerdings lassen sich die genannten individuellen Attribute in einem bestimmten Umfange operationalisieren und einer empirischen wissenschaftlichen Analyse zugänglich machen. Das gilt für die sozialen Bedingungen von Kreativität, produktivem Denken u. ä. ebenso wie für psychologische Implikationen des jeweiligen Verhaltens selber. Ähnlich wie bei den anderen systembezogenen Strukturvariablen ist auch bei der Systematisierung rollenadäquater Persönlichkeitstypen die Formulierung polarer Merkmalskombinationen versucht worden. Zu erwähnen ist hier etwa der Versuch, in Anknüpfung an die Entgegensetzung eines geschlossenen und offenen Orientierungssystems durch M. Rokeach48 eine entsprechend antithetische Systematik von "flexiblen" und "rigiden" Rolleninhabern zu entwickeln49•
10. Die Beziehung von Rollen- und Qualifikationsstruktur Die entsprechende Zuordnung flexibler, erfahrungsoffener, undogmatischer Persönlichkeitstypen zu offenen innovatorischen Rollen und die analoge Einsetzung von Individuen mit entgegengesetzten Eigenschaften in Routinerollen klingt dabei einer mehr oder minder intuitiven Betrachtung des Problems so plausibel, daß diese vermeintliche Selbstverständlichkeit weniger plausible Möglichkeiten vernachlässigen könnte. Empirische Untersuchungen bestätigen zwar die Hypothese, daß Berufsrollen mit relativ sicherer, geordneter organisationsinterner und -externer Umwelt dogmatisch-traditionsorientierte Persönlichkeiten eher anziehen als Rollen, die unter höherer Ungewißheit in ihrer 48 M . Rokeach: The Open and Closed Mind Investigations into the Nature of Belief Systems and Personality Systems, San Francisco 1968, s. 58 ff. 49 R. L. Kahn: Organizationial Stress. Studies in Role Conflict and Ambiguity, New York, London, Sydney 1964, S. 194 f.
104
V. Teil: Rolle und Qualifikation
sozialen Umwelt ausgeführt werden müssen60• Dieser empirische Zusammenhang kann aber nicht als Antwort auf die Frage benutzt werden, welche individuellen Eigenschaften zur erfolgreichen Ausfüllung eines bestimmten Rollentyps notwendig oder "optimal" sind. Eine organisationsbezogene Rollenanalyse, die ja nicht das faktische Verhalten des Organisationsteilnehmers beschreibt51 , kann darüber keine Aussagen machen. Sie faßt nur die organisatorischen und - dazu gleich mehr - außerorganisatorischen Erwartungen52 zusammen, die sich an den Inhaber einer Rolle innerhalb ·eines sozialen Systems richten. Sie erlauben insofern zwar Prognosen, ersetzen aber keine faktische Beschreibung von Verhaltensprozessen. Welche Eigenschaften notwendig sind, um diesen Erwartungen entsprechen zu können, ist eine davon grundsätzlich zu trennende Frage, die im übrigen mit allgemeinen Eigenschaftskatalogen nur unzureichend oder unter Umständen auch falsch beantwortet wird. Es ist schon verschiedentlich zur Sprache gekommen, daß denselben Rollenerwartungen mit sehr unterschiedlichen normativen aber auch kognitiven Mitteln entsprochen wt!rden kann53• Die drei Persönlichkeitstypen R. Presthus64 betreffen beispielsweise nicht notwendig drei verschiedene Rollenbilder, sondern u. U. drei unterschiedliche Möglichkeiten der Ausführung gleicher Organisationsrollen, die danach von unterschiedlichen Persönlichkeiten mit stark differierenden Eigenschaften ausgeführt werden können. Der Bedarf an Originalität und unkonventionellem Denken ist auch nicht bei jedem problemlösenden Verhalten - man denke an eine medizinische Operation oder die Bewertung einer Examensarbeitgleichermaßen erwünscht und die Erforschung des internen Aufbaus problemlösender Gruppen55 legt zumindest die Vermutung nahe, daß so Vgl. oben IV 3.
Eine empirische Beschreibung des Verhaltens könnte nur dann mit einer Rollenanalyse gleichgesetzt werden, wenn vollständige Rollenkonformität unterstellt würde, Rollen also als unmittelbare Entscheidungsprämisse betrachtet werden könnten. Vgl. W. Kirsch: Entscheidungsprozesse 3. Bd., S.104 ff. 52 Zu der hier angesprochenen Unterscheidung R. W. Duncan: Characteristics of Organizational Environment and Perceived Environmental Uncertainty, Administrative Science Quarterly 1972, S. 315 ff. Danach könnte hinsichtlich der sozialen Umwelt einer Mitgliedsrolle und ihres Trägers zwischen einer systeminternen Umwelt und einer durch das System noch nicht verarbeiteten systemexternen Umwelt unterschieden werden. 53 Diesen Schluß ziehen R.-R. Grauhan, W. D. Narr: Studium der Sozialwissenschaften - demonstriert an der Politikwissenschaft, Leviathan 1973, s. 90 ff. (116 f.). 54 R. Presthus: Individuum und Organisation. 55 Vgl. hierzu B. E. Collins, H. A. Guetzkow: Social Psychology of Group Processes for Decision Making, New York, London, S'ydney 1966; H. Guetzkow: Differentiation of Roles in Task-oriented Groups, in: D. Cartwright, A. Zander (Hrsg.) : Group Dynamics, 2. Aufi., Evanston 1960, S. 683 ff.; R. Ziegler: Kommunikationsstruktur und Leistung sozialer Systeme, Meisen51
11. Offene Rolle und Systemstruktur
105
ein wie immer definiertes - optimales Team nicht ausschließlich aus genialen Improvisatoren mit intellektuell unbegrenzten Möglichkeiten besteht, sond€rn in weiten Bereichen auf bürokratische Tugenden und unter bestimmten Bedingungen wohlmöglich auf ein gut Teil kognitiver, sozialer und emotionaler Ignoranz bzw. Indifferenz angewiesen ist. Es kommt in diesem Zusammenhang entscheidend auf das an, was aus der Sicht des Systems unter "erfolgreicher" oder "optimaler" Problemlösung in der jeweiligen Arbeitssituation unter den gegebenen strukturellen Bedingungen verstanden wird. Im übrigen sind diesbezügliche Bewertungsunterschiede nicht nur abstrakt denkbar, sond€rn können in konfiigierenden Erwartungen unterschiedlicher Bezugssysteme auch in ein und derselben Arbeitsrolle zusammentreffen58.
11. Offene Rolle und Systemstruktur a) Methodisclte Erwägungen
Die Betrachtung der internen Struktur einer assoziativen Organisation- repräsentiert durch die demokratisch-kooperierende Arbeitsheim a. Glan 1968. Problemlösende Teams prägen auch dann, wenn ihre Struktur nicht auf einer formalen Organisation beruht, eine in Einzelfällen stark differenzierte informale Rollenstruktur, die informale Hierarchisierungen nicht ausschließt, aus. Die Lernfähigkeit dieser Gruppen beruht u. a. darauf, daß die Erfahrungen der Gruppenmitglieder in einer laufenden Modifikation der Erwartungsstrukturen verarbeitet werden können. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem assoziativen und dem bürokratischen Systemtyp, der dem Rolleninhaber keinen Einfluß auf die Rollendefinition einräumt. Zur Problemlösung im Gruppenprozeß weiter M . Patchen: Supervision Methods and Group Performance Norms. Administrative Science Quaerterly 1962, S. 275 ff. 56 Diese Überlegungen lassen auch den Versuch wenig aussichtsreich erscheinen, allzu konkrete Anforderungsprofile für generell definierte Rollenkomplexe zu bestimmen. Entsprechende Unternehmungen galten in der Vergangenheit namentlich dem Versuch, die Qualifikation der idealen "Führungskraft" und des "Plahers" als zwei naheliegenden Beispielen für offene bzw. lernorientierter Rollenbilder systematisch zu ermitteln. Die Gemeinsamkeiten von Krankenhausbedarfsplanem und militärischen Nachschubexperten werden sich nur in praktisch nichtssagenden Qualifikationskatalogen zusammenfassen lassen. Sinnvollerweise können auf dieser Ebene nur abstrakte Funktionsanalysen geliefert werden, die in der Kategorisierung und Ordnung der beteiligten Strukturvariablen (von denen die persönlichkeitsbezogenen nur einen Ausschnitt darstellen) ein theoretisches Erfassungsschema bereitstellen, das dann als Bezugsrahmen konkret-aufgabenbezogener Analysen nützlich werden könnte. Zu den im einzelnen sehr unterschiedlich ansetzenden Bemühungen: H.-Ch. Rieger: Begriff und Logik der Planung, Wiesbaden 1967; P.-J. Klein: Das Berufsbild des Planers in der öffentlichen Verwaltung, Köln, Berlin, Bonn, München 1969; A. Funk, H. Häußermann, H. D. Will: Planung als Beruf? in: R.-R. Grauhan (Hrsg.): Lokale Politikforschung, Bd. 2, Frankfurt, New York 1975, S. 375 ff. .R. Dilcher, R. Funke, L. Rautenstrauch, W. Siebel: Planende Verwaltung und die Qualifikation von Planern, Stadtbauwelt 1971, S. 56 ff.
106
V. Teil: Rolle und Qualifikation
gruppe - haben die Grenze einer nichtempirischen Organisationstypik erkennen lassen. Der Versuch, die unter einem bestimmten theoretischen Aspekt (etwa dem der maximalen Entfernung vom bürokratischen Typus) ermittelten Strukturvariablen zu einem Grenztyp zusammenzufassen, steht nicht nur in der Gefahr, zu einem Glasperlenspiel zu werden, wenn er ohne Bezug zur Wirklichkeit bleibt. Diese Form eines möglichen Modellplatonismus könnte auch in der Weise in Widerspruch zur Realität geraten, daß die angenommene Modellwirklichkeit auch unter theoretisch-optimalen Bedingungen keine Verwirklichungschance hätte. Das wäre vor allem dann der Fall, wenn dem Modell bestimmte System/Umweltbeziehungen zugrunde gelegt würde:p, die empirisch unhaltbar sind. Unter der Geltung falscher theoretischer Prämissen kann auch die Detailanalyse kaum zu korrekten Ergebnissen führen. Gerade der Umweltbezug wird aber bei der Beschreibung struktureller Grenztypen häufig vernachlässigt, sei es, daß eine bestimmte System/Umwelt-Relation ungeprüft vorausgesetzt wird, sei es, daß überhaupt keine Umweltannahmen formuliert werden, sich die Analyse also von vornherein auf eine interne Betrachtung beschränkt. Trotzdem kann ein derartiges Vorgehen seine Berechtigung haben und theoretisch fruchtbar sein, wenn sein Erkenntnisziel im Auge behalten wird und die analytische Zusammenfassung homogener struktureller Variablen nicht den Entwurf eines Optimal-Modells beansprucht. Einer entsprechenden Zusammenstellung von Strukturelementen, wie sie im assoziativen Modell erfolgt, kann nicht ohne weiteres ein Geist eingehaucht werden, der sie zu einer lebensfähigen Organisation erweckt. Sie blei:bt vielmehr ein taxonomisches Konstrukt57 aus Theorie-Elementen, das als Hypotheseninventar fungiert und dessen Bausteine in Verbindung mit anderen Elementen rur Rekonstruktion realer Systeme benutzt werden können. Der letzte Schritt von der analytischen zur empirischen Betrachtung setzt allerdings zugleich den Einbezug der Umwelt möglicher oder real existierender Systeme voraus. Unter diesen Voraussetzungen ist es notwendig, bestimmte Umweltannahmen der jeweiligen Organisationsvorstellungen näher zu betrachten. b) Die Bedeutung der Umwelt für die Kovariation einzelner Strukturtypen
Die Einschätzung des System/Umwelt-Verhältnisses auf dem durch das mechanistische Bürokratie-Modell bezeichneten Endpunkt des Organisationskontinuums geht von einer relativ einfachen Beziehung aus. 57 H. Bosetzky: Bürokratische Organisationsformen in Behörden und Industrieverwaltungen, in: R. Mayntz (Hrsg.), S. 179 ff. (180).
11. Offene Rolle und Systemstruktur
107
Dieser Organisationsform liegt die Vorstellung einer berechenbaren, stabilen Umwelt zugrunde, deren Anforderungen an die Organisation intern mit entsprechend kontinuierlichen Mechanismen entsprochen werden kann. Unter den Bedingungen einer zuverlässig erwartbaren Umwelt können deren gleichförmig bleibende Probleme bzw. deren Lösungen in einem gewissermaßen zeitlosen Problemlösungsvorrat gespeichert werdenss. Die Abstraktion des rechtsstaatliehen Gewaltenteilungsmodells läßt sich mit Hilfe dieses theoretischen Gedankens wiedergeben. Die Exekutive ist danach ein extern - nämlich durch das Parlament - konditional programmierter Vollzug,-;apparat, der aus eigener Kompetenz nicht auf Veränderungen der Umweltbedingungen reagieren kann. Für die Analyse dieses Organisationstyps ergibt sich damit hinsichtlich des System/Umwelt-Verhältnisses eine einfache Konsequenz: Sie kann im wesentlichen vernachlässigt werden. Die Erwartungen etwa, die die bürokratische Arbeitsrolle konstituieren, sind ausschließlich aus den internen Funktionsbedingungen der Organisation selbst zu erklären. Gegen andere Erwartungen als die der Organisation schirmt die Bürokratenrolle systematisch ab, was seinen sinnfällig,-;ten Ausdruck in dem Rollenverhalten gegenüber dem Teil der Umwelt findet, der durch das Verwaltungspublikum gebildet wird: Die durchgehend unpersönliche Haltung dokumentiert die Dominanz der Anforderungen der Organisation gegenüber den Erwartungen, die sich aus der Umwelt an die Mitglieder richten59• Die Lernfähigkeit des gesamten sozialen Systems, d. h. die Fähigkeit, auf Veränderungen von Umweltbedingungen mit einer internen Revision der eigenen Strukturen zu reagieren, richtet sich danach, ob die gesamte Organisation als reiner Vollzugsapparat mit externer Programmierungszentrale oder aber als eine Organisation gedacht wird, die sich aus programmierenden und ausführenden Tätigkeiten zusammensetzt. Im ersten Fall kann das soziale System überhaupt nicht autonom lernen. Es ist vielmehr auf eine externe Revision seiner (Programm-) Strukturen angewiesen. Bezogen auf das erwähnte Gewaltenteilungsmodell bedeutet dies, daß das politische System (als Zusammenfassung der parlamentarischen, exekutiven und judikativen Entscheidungssysteme) nur über ein lernfähiges Subsystem, in dem die Programss Während also die Anforderungen der Umwelt an die Organisation selbst sehr einfach gedacht werden müssen, kann man umgekehrt die Anforderungen des bürokratischen Grenztyps an die Umwelt, die insoweit als exakt berechenbare Ordnung vorausgesetzt wird, als extrem hoch interpretieren. 59 H. Bosetzky: Grundzüge, S. 124: "Träger der Rollenerwartungen sind ausschließlich der jeweilige Vorgesetzte und die eigene Organisation qua Institution."
108
V. Teil: Rolle und Qualifikation
mierungstätigkeiten zusammengezogen sind, sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen bzw. eine Umweltveränderung durch veränderten "Entscheidungsoutput" induzieren kann. Bei der bürokratischen Organisation, die über ein eigenes Steuerungszentrum verfügt6°, sind die Lernleistungen an der Organisationsspitze institutionalisiert. Hier bietet sich das Bild des System-Organismus an, der alle Denkvorgänge dem Kopf der Organisation vorbehält und die Ausführungsfunktionen auf die übrigen Organe des Systems verteilt. Weithin wird dem bürokratischen Typ eine geringe Lernfähigkeit (Umweltreagibilität) attestiert. Die durchgehende Formalisierung, ein starres Reglement, das Fehlen von Initiativen als typische Eigenschaften von Ausführungs-(Gehorsams-)Rollen und die Auslagerung bzw. hierarchische Monopolisierung von innovativen Funktionen werden als maßgebliche Gründe genannt. Vornehmlich das hierarchische Auseinanderfallen von Programmierung (Programmsetzung) und Programmausführung hat für die Gesamtorganisation als "lernendes System" Folgen. Diejenigen, die das Programm vor Ort ausführen, können die dabei gesammelten Erfahrungen nicht in Programmkorrekturen unmittelbar verarbeiten, während diejenigen, die eine entsprechende Kompetenz hätten, von jenen Erfahrungen getrennt sind, bz.w. auf das angewiesen sind, was von entsprechenden Informationen auf ihrem stationsreichen Dienstweg geblieben ist61 • Ob sich diese Beobachtungen in einer gesetzmäßigen Aussage derartig zusammenfassen lassen, daß mit zunehmender Formalisierung und Bürokratisierung ihrer organisatorischen Struktur die Lernfähigkeit sozialer Systeme abnimmt, war an anderer Stelle bereits in Zweifel gezogen62 • Gleichwohl scheint vielen organisationsbezogenen Ana60 Hierbei ist anzumerken, daß auch in der klassisch-liberalen Theorie die Exekutive- etwa innerhalb ihrer Verordnungskompetenz- über Möglichkeiten verwaltungsinterner Normsetzung verfügt, der Fall einer ausschließlich extern programmierten Exekutive also auch nicht für das Gewaltenteilungsmodell in seiner reinen Form unterstellt werden kann. 61 D. Mechanic: Sources of Power of Lower Participants in Complex Organizations, Administrative Science Quarterly 1962, S. 349 ff. 62 Das Problem läßt sich konkreter in zwei Hypothesen R. Zieglers formulieren, die zwar nach Aussage des Autors in empirischen Untersuchungen keine "durchgängige Bestätigung", wohl aber Anhaltspunkte finden: "Je komplexer die funktionale Struktur und das System der Belohnungen ist und je weniger straff die hierarchische Kontrolle ausgeübt wird, desto größer ist die Zahl der entwickelten und vorgeschlagenen Innovationen, aber um so niedriger liegt der Prozentsatz der Neuerungen, die tatsächlich durchgeführt wurden." Und: "Je straffer die hierarchische Kontrolle ist und je nachdrücklicher Neuerungen von diesen Stellen unterstützt werden, desto größer ist die Chance, daß vorgeschlagene Innovationen durchgeführt werden und desto schneller verläuft dieser Prozeß." R. Ziegler: Kommunikationsstruktur und Leistung sozialer Systeme, S. 208 f. Die Innovationsfreund-
11. Offene Rolle und Systemstruktur
109
lysen diese Auffassung in der Tendenz zugrunde zu liegen. Je weiter sich die Struktur vom Extrempunkt mechanistischer Form in Richtung auf seinen Gegenpol, das assoziative Modell, zubewegt, mit anderen Worten das System seine Strukturen entbürokratisiert, desto mehr Kreativität und Umweltreagibilität wird der Organisation zugetraut. Demgegenüber wäre zunächst einzuwenden, daß manche dieser Auffassungen an eher technischen Voraussetzungen anknüpfen, die mit der weiteren Entwicklung organisationaler Steuerungstechniken entfallen können. Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an die Entwicklung im Datenverarbeitungsbereich, die die Zentralisierung von Entscheidungsverläufen durch die Bündelung, Verknüpfung und den gezielten Einsatz großer Informationsmengen als möglich erscheinen läß~3• Mit der damit gegebenen zentralen Kontrolle wäre auch die Möglichkeit eröffnet, Organisationsanpassungen von der Spitze der Organisation aus vorzunehmen, zu überwachen und dutchzusetzen64. Jedenfalls könnten manche der Argumente, die für die Lernfeindlichkeit bürokratisch-kopflastiger Organisationen unter primär technisch-kapazitären Aspekten angeführt werden (gewöhnlich gekennzeichnet als Informationsüberlastung der Spitze oder Überforderung ihrer "Problemverarbeitungskapazität"), im Laufe der Zeit gegenstandslos werden. Allerdings hätten diese Tendenzen wenigstens im Bereich öffentlicher Verwaltung mit gegenläufigen, nicht primär technisch interpretierbaren Entwicklungen zu rechnen, die im Ergebnis eine zu starke Zentralisierung unterlaufen oder aber einer massiven (Re-)Hierarchisierung zumindest Grenzen setzen könnten65. lichkeit berükratischer Strukturen läge danach weniger in der Entdeckungsals in der Durchsetzungsleistung von Neuerungen. Man kann also gleichzeitig strukturelle Variabilität als Stabilisierungsbedingung und Stabilität als Bedingung der Variabilität behandeln. 63 Vgl. hierzu die systematische Darstellung von W. Kirsch, H. K. Klein: Management-Informationssysteme. Wege zur Rationalisierung der Führung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977. 64 Unter diesem Aspekt nämlich Neuerung nicht nur entdecken, sondern auch durchsetzen zu müssen- wird mitunter eine formal-zentralisierte Struktur als Voraussetzung erfolgreicher Innovation betrachtet. Vgl. H. Bosetzky: Grundzüge, S. 227, der in diesem Zusammenhang R. Dahrendorf zitiert: "Radikaler Wandel verlangt Setzung von Normen. Die Setzung neuer Normen verlangt ihrerseits die Existenz zentraler Herrschaftsinstanzen ... d. h. aber umgekehrt, daß dort, wo wir solche zentralen Herrschaftsinstanzen nicht finden, radikaler Wandel ausgeschlossen ist .. ." 65 Die hier angeschnittene Frage ist, ob die als "Entbürokratisierung" (möglicherweise mißverstandene) Dezentralisierung nicht unter anderen als technischen, nämlich legitimatorischen Gründen notwendig bleibt. Die zunehmenden Entscheidungsnotwendigkeiten des Interventionsstaates stellen nämlich nicht nur ein Problem der Entscheidungsprogrammierung, sondern auch ein solches der Entscheidungsdurchsetzung dar. Umfang, Intensität und Auswirkungen staatlicher Eingriffe lassen das obrigkeitliche Befehlsmodell auch innerhalb seiner rechtsstaatliehen Sicherungen an Grenzen
110
V. Teil: Rolle und Qualifikation
c) Kritik an der Gleichsetzung antiformaler und lerngünstiger Strukturen
Die Schwächen der Gleichsetzung stark formalisierter und lernungünstiger Strukturen werden auf theoretischer Ebene sichtbar, wenn man sich die Umwelt des assoziativen Modells vorzustellen sucht. Konsequenterweise müßte sie der Gegentyp zur geordneten, berechneten Umwelt des bürokratischen Systems sein, wobei auch in diesem Falle an die Stelle einer empirischen Betrachtung eine Sammlung gedachter Umwelteigenschaften treten müßte. Im Ergebnis würden sich aus den Eigenschaften einer extrem veränderlichen, dynamischen, unvorhersehbaren Umwelt hohe Ansprüche an das System ergeben. Dies müßte zumindest dann gelten, wenn gleichzeitig davon ausgegangen wird, daß das System in unmittelbaren Austauschbeziehungen zu seiner Umwelt steht und sein Bestand nicht mit Hilfe dazwischentretender Problemlösungsinstanzen (als welche hinsichtlich der Exekutive im gewaltenteiligen organisierten politischen System die Parlamente fungieren} dadurch garantiert würde, daß sie die Umweltprobleme kanalisieren und weitgehendst gelöst zur weiteren Bearbeitung überlassen'•. Die Annahme, daß erhöhte Umweltprobleme intern mit einer Entformalisierung der Systemstrukturen beantwortet werden könnten, müßte in der theoretischen Konsequenz auslaufen, daß die NichtOrganisation der beste Problemlöser sei. Die Parallelisierung jenes stoßen. - Zum im Text angesprochenen Problem speziell: E. Grochta: Zur Diskussion über die Zentralisationswirkung automatischer Datenverarbeitungsanlagen, in: E. Grochla (Hrsg.): Organisationstheorie, 2. Halbbd., Stuttgart 1976, S. 507 ff. ao In entsprechenden Bestandsgarantien wird bezüglich der System/Umwelt-Beziehung vielfach die Hauptdifferenz zwischen privaten und staatlichen Verwaltungen gesehen. Während die Staatsverwaltung von der unmittelbaren Problembewältigung durch das Parlament entlastet und damit als Behörde gegenüber der Umwelt als weitgehend autonom gedacht werden kann, sind Industrieverwaltungen durch den Konkurrenzmechanismus in die Entwicklung ihrer durch "den Markt" repräsentierten Umwelt unmittelbar einbezogen. Vgl. H. Bosetzky: Bürokratische Organisationsform in Behörden und Industrieverwaltungen, in: R. Mayntz (Hrsg.), S. 184 ff. und K. Heinemann: Stabilität und Wandel bürokratischer Organisationen, Schmollers Jahrbuch 89 (1969), S. 313 ff. Die Entwicklung des Interventionsstaates, gekennzeichnet gerade durch eine zumindest partielle Ausschaltung des Parlaments und des unmittelbaren Einsatzes des staatlichen Apparates zur Beeinflussung des ökonomischen Systems (Markt) einerseits und eine faktische staatliche Bestandgarantie für wesentliche private Unternehmensbereiche, relativiert allerdings den theoretischen Wert jener Differenzierung. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht vgl. A. Downs: Nichtmarktwirtschaftliche Entscheidungssysteme - eine Theorie der Bürokratie, in: H. P . Widmaier (Hrsg.): Politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a. M. 1974, S. 199 ff. und W. A. Niskanen: Nichtmarktwirtschaftliche Entscheidungen - die eigentümliche Ökonomie der Bürokratie, in: H. P. Widmaier (Hrsg.), S. 208 ff.
11. Offene Rolle und Systemstruktur
111
Organisationskontinuums mit einer stetig komplexer werdenden Umwelt würde mit anderen Worten bedeuten, daß eine Organisation ihre Strukturen zum Zwecke erhöhter Anpassungs- oder Problemlösungsfähigkeiten gewissermaßen in dem Maße verflüssigt, in dem die Umweltanforderungen steigen. Diese Folgerung würde allerdings in empirischer wie theoretischer Sicht auf gleichermaßen schwachen Füßen stehen. Sie würde zunächst den historisch-utopischen Ausgangspunkt der freien Assoziation nicht treffen. Richtig ist zwar, daß der Gedanke eine konsequente vertikale Entdifferenzierung zum Gegenstand und damit eine klare antibürokratische Stoßrichtung hat. Vorausgesetzt ist dabei aber eine Umwelt (Gesellschaft), die mit ihren Kommunikationsformen selbst an diesem auf allgemeine Gleichheit und Herrschaftsabbau zielenden Prozeß durchgehend teilhat. Ihre Probleme sollen in dezentralisierten Formen der Selbstorganisation gelöst und nicht ausgewählten Apparaten überantwortet werden. Das systemtheoretische Innen/Außen-Schema findet hier also schon im Ansatz nicht die Bedingungen vor, wie sie die Vorstellung einer komplexer werdenden Umwelt voraussetzt. Die Kritik knüpft namentlich an bestimmten Einsichten an, die sich in Zusammenhang mit in kybernetischen Modellen dargestellten Lernvorgängen ergeben haben. Sie lassen sich vereinfacht auf den Grundgedanken zurückführen, daß erfolgreiches Lernen Systembildung verstanden als Begrenzung des Möglichen67 - voraussetzt. Lernen ist danach nur auf der Basis gesicherter Strukturen als Revision oder Entwicklung eines Teils dieser Strukturen möglich. Dieser Prozeß verläuft in dem Sinne kontrolliert und begrenzt, daß nicht alle Strukturen zur gleichen Zeit verändert werden können. Vielmehr muß auch das lernende System wesentliche Strukturen konstant halten, um seine Identität, d. h. seine Außengrenze und damit die Möglichkeit der Auswahl und Ordnung von Informationen nicht zu gefährden. Bei entsprechender Abstraktion läßt sich die Organisationswirklichkeit selbst für eine Bestätigung dieses Gedankens in Anspruch nehmen. Die mit empirischem Anspruch auftretenden Entwürfe von innovativen Modellen, die sich als Gegenbild der bürokratischen Organisation verstehen, sind gewöhnlich Mischtypen. Sie enthalten neben schwachformalisierten variablen Elementen durchweg ein Gerüst, dessen einzelne Bestandteile mehr oder weniger ausgeprägte Kennzeichen des bürokratischen Musters aufweisen68• Dies gilt im übrigen auch für W. R. Ashby: Einführung in die Kybernetik, S. 187 ff. Deswegen wäre bei den vielfach beschriebenen Prozessen der Entbürokratisierung - vgl. S. N. Eisenstadt: Bureaucracy, Bureaucratization, and Debureaucratization, Administrative Science Quarterly 1959, S. 302 ff. - im einzelnen zu prüfen, ob es sich nicht lediglich um eine Neukombination 61
es
112
V. Teil: Rolle und Qualifikation
das organische System, das bisher in die Nähe der assoziativen Organisation gebracht oder mit ihr gleichgesetzt wurde. Auch dieser Typ besteht nicht nur aus auf allen Ebenen gleichermaßen flexiblen Strukturen, einer durchgehend informal verlaufenden horizontalen Kooperation, locker vermaschten Kommunikationsnetzen, spontan revisiblen Interaktionsgefügen usw. Es unterscheidet sich von anderen innovativen Systemen etwa dem "Human-Relations-Modell" Litwarks69 oder der professionellen Organisation von Francis und Stone70 lediglich dadurch, daß es die Möglichkeit, flexibel gehaltene Elemente unter Kontrolle zu halten, im Vergleich zu ähnlichen Organisationsmodellen am optimistischsten einschätzt. Welche Kombination stabiler und variabler Elemente in bezug auf die Lernfähigkeit und Innovationsbereitschaft dem organisatorischen Optimum am nächsten kommt, ist zwar eine häufig behandelte Frage71 • Daß sie sich in dieser abstrakten Form sinnvoll kaum beantworten läßt, ist dabei nicht nur ein Problem der Operationalität der in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe {"Struktur", "Stabilität", "Variabilität", "Grenze") und der damit verbundenen Schwierigkeit, falsifizierbare Hypothesen zu formulieren72• Wesentlicher in dem hier verbürokratischer Organisationselemente handelt, wobei die Analysen bestimmte Strukturen, namentlich die des hierarchischen Systemaufbaus, als Indikatoren bürokratischer Organisation herausstellen. Aus funktionaler Sicht könnte man mit dem gleichen Recht allgemeine Kriterien - etwa den Formalisierungsgrad von Strukturen, eine regelhaft-universalistische Entscheidungsprogrammierung, den Differenzierungsgrad der Arbeitsrollen u. ä. zugrundelegen und würde dann möglicherweise lediglich eine Bürokratie in neuem Gewande entdecken. &9 E. Litwak: Drei alternative Bürokratiemodelle, in: R. Mayntz (Hrsg.), S. 117 ff. 70 ,R.. G. Francis, R. C. Stone: Service and Procedure in Bureaucracy, Minneapolis 1956. 71 Dazu kritisch auch weitere Nachweise bei W. H. Staehle: Organisation und Führung sozio-technischer Systeme - Grundlagen einer Situationstheorie, Stuttgart 1973, insb. S. 33 ff. 72 Dies ist bekanntlich der Haupteinwand des logischen Empirismus (analytische Philosophie, kritischer Rationalismus) gegen funktionalistische Systemanalysen wie gegen Funktionalismus und funktionale Systemtheorien generell, die sich aus dieser Sicht in der Wahl ihrer Methoden praktisch empirischer Kontrolle entziehen. Vgl. statt anderer K. D. Opp: Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek 1970 m. w. N. Zur Funktionalismuskritik speziell G. Carlsson: Betrachtungen zum Funktionalismus, in: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln, Berlin 1968, S. 236 ff.; G. Schmid: Funktionsanalyse und politische Theorie. Funktionalismuskritik, politisch-ökonomische Faktorenanalyse und Elemente einer genetisch-funktionalen Systemtheorie, Düsseldorf 1974. Eine Auseinandersetzung mit dieser Kritik muß hier unterbleiben, da sie zu weit vom Thema wegführen würde. Verwiesen werden soll lediglich auf die Überlegungen, die den wissenschaftlichen Ausschließlichkeitsanspruch konsequent nomologisch-empirischer Betrachtungen m. E. am wirksamsten erschüttern und zugleich die Fruchtbarkeit analytischer Arbeit, die sich nicht im Falisikationsschema Poppers be-
11. Offene Rolle und Systemstruktur
113
tretenen methodischen Rahmen ist ein anderer Einwand. Jedes Optimalmodell muß, wenn es nicht als nomologische (Wenn-Dann-)Aussage über die jeweilige System/Umwelt-Beziehung formuliert wird- was gewöhnlich nicht geschieht -, irgendeinen Umweltzustand voraussetzen bzw. festschreiben. Solange diese Voraussetzung aber nicht zum Problem wird, wird der eigentlich interessierende Faktor damit eliminiert und die Wissenschaft stattdessen um die Behauptung einer weiteren optimalen Management-Konzeption bereichert. Im Grunde liegt diesen Versuchen die- unhaltbare- Annahme abstrakter, gleichsam umweltneutraler Systemeigenschaften zugrunde, als könne es so etwas wie eine Flexibilität o. ä. "an sich" geben. Tatsächlich aber können derartige Bestimmungen nur unter konkreten Umweltannahmen erfolgen73. Selbst unter dieser Voraussetzung könnte die Annahme einer optimal-umweltadäquaten Struktur schon angesichts konkurrierender Zielvorstellungen im systeminternen und -externen Bereich bzw. der Unmöglichkeit, sie in einer logischen Präferenzordnung aufzulösen, wissenschaftlich kaum verantwortet werden. Was insoweit bleibt, ist die - in dieser Form noch recht vage Annahme, daß jedes lernende System die Komplementarität konstanter und variabler Elemente voraussetzt. Im folgenden wird zu prüfen sein, inwieweit sich diese Aussage in der Verteilung von geschlossenen und offenen Rollen, der Kontingentierung systeminterner Lernchancen, der Gewichtung von programmierenden und ausführenden Tätigkeiten nachweisen läßt. Die Überlegungen zum System/Umwelt-Verhältnis und zu der dabei deutlich gewordenen Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung des innovativen Potentials alternativer Organisationstypen sind auch für die Organisationale Rollenanalyse nicht ohne Einfluß. Angesprochen ist die Möglichkeit einer analytischen Trennung von geschloswegt und ihren gleichwohl gegebenen erfahrungswissenschaftliehen Anspruch "spekulativer" verfolgt, belegt: Th. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1967; P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 1976; I. Lakatos: Falsifikation und die Methodologie wissenschatflicher Forschungsprogramme, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, S. 89 ff. Daß damit die wesentlichen empirischen Probleme funktional-systemtheoretischer Analysen nicht bewältigt sind, steht auf einem anderen Blatt. 73 Vgl. neben der erwähnten Arbeit von P. R. Lawrence, J. W. Lorsch: Organization and Environment, Boston 1967 - P. N. Khandwalla: Unsicherheit und "optimale" Gestaltung von Organisationen, in: E. Grochla (Hrsg.): Organisationstheorie, 1. Halbbd. Stuttgart 1976; M. Segal: Organization and Environment: A Topology of Adaptility and Structure, Public Administration Review 1974, S. 212 ff.; A. Kieser: Der Einfluß der Umwelt auf die Organisationsstruktur der Unternehmung, Zeitschrift für Organisation 1974, S. 304 ff. und J. V. Balridge, R. A. Burnham: Organizational Innovation: Individual, Organizational, and Environmental Impacts, Administrative Science Quarterly 1975, S. 166 ff. 8 Nocke
114
V. Teil: Rolle und Qualifikation
senen und offenen Rollen bzw. ihr Verhältnis zueinander sowie ihre Verteilung innerhalb eines Entscheidungssystems. Hinsichtlich der Dualisierung zweier Rollentypen bedarf vor allem der Typ der offenen (Innovations- bzw. Lern-)Rolle einer empirischen Korrektur. Sie muß einer Umwelt angepaßt werden, deren Erwartungen nicht ausschließlich auf abstrakte Innovationen oder den Fortschritt schlechthin gerichtet sind. Vielmehr müssen Umweltprobleme auch rolleninterne Begrenzungen eines möglichen Verhaltens- und Entscheidungsspielraums zur Folge haben. Eine beschränkungsfreie Innovationsrolle gibt es ebenso wenig, wie es die Rolle eines in diesem Sinne "freien Wissenschaftlers" geben könnte. Selbst der entrückteste Dachstubengelehrte, der frei von den Zwängen der Wissenschaftsorganisation und ihrer mitunter eigentümlichen Riten von seinen ererbten Gütern zehrt, entgeht nicht den bestimmbaren Einschränkungen der sozialen Situation, in der er lebt. d) Soziale und strukturelle Limitierungen der offenen Rolle Am Beispiel des Professionalisierungskonzepts
Die sozialen Bindungen und kognitiven Limitierungen, denen auch die liberal definierte Arbeitsrolle des vermeintlich ausschließlich der Sache verpflichteten Denkers unterliegt, lassen sich anschaulich im Begriff der Professionalisierung darstellen. Das mit diesem- im einzelnen mitunter recht uneinheitlich gehandhabten theoretischen Konzept74 - verfolgte Erkenntnisinteresse gilt den Strukturen und Prozessen, in denen sich die berufsmäßige Anwendung gesellschaftlich erarbeiteten und weiterentwickelten Wissens organisiert. Professionen sind das Ergebnis von Arbeitsteilung, die sich im historischen Prozeß in der Verselbständigung gesellschaftlicher Funktionen (Religion, Recht, Erziehung usw.) äußert und zur Ausprägung fachlich spezialisierter Berufsrollen führt. Die Probleme dieses Professionalisierungsprozesses liegen allgemein gesprochen darin, daß eine entsprechende Ausdifferenzierung jener Berufsrollen notwendig mit einer Verwissenschaftlichung, Spezialisierung und sozialer Verselbständigung der beruflichen Gruppe verbunden ist, andererseits aber die beruflich wahrgenommenen Interessen ihren gesamtgesellschaftlichen Bezug behalten. In dieser "Kollektivitätsorientierung" liegt also ein konstituierendes Merkmal des Professionsbegriffs. Professionen nehmen ihrem Anspruch nach gewissermaßen treuhänderisch gesellschaftliche Funk74 Vgl. hierzu den Sammelbd. von Th. Luckmann und W. M. Sprondel (Hrsg.): Berufssoziologie, Köln 1972 (insbes. die Beiträge im ersten, dritten und vierten Teil); H . A. Hesse: Berufe im Wandel- ein Beitrag zum Problem der Professionalisierung, Stuttgart 1968; H . M. VoHmer, D. L. MiUs (Hrsg.) : Professionalization, Englewood Cliffs N. J. 1966.
11. Offene Rolle und Systemstruktur
115
tionen wahr76• Dieser Anspruch konkurri~rt mit der (relativen) sozialen Abschließung gegen gesellschaftliche Ansprüche an die Rechtsprechung, Seelsorg~, Erziehung, Gesundheitspfteg~ - die klassischen Professionsfeld~r -, die sich in jener Verselbständigung vollzieht In der Bewältigung der Spannung von gesamtgesellschaftlichem Bezug und notwendiger wissenschaftlicher und sozialer Autonomisierung liegt das Problem der Profession und der Kern der auf sie bezogenen Theorie. Ihr liegt die Einsicht zugrunde, daß die Durchsetzung und Anwendung von Wissen nicht ausschließlich die Sache einer individuell engagierten Wahrheitssuche ist, sondern auf eine bestimmte Form sozialer Organisation angewiesen ist, die sich zugleich notwendig als mehr oder minder wirksame Steuerungs- und Selektionsinstanz hinsichtlich des möglichen Angebots von Erkenntnissen und Wahrheiten auswirkt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die herkömmlichen Definitionsmerkmale des Professionalisierungsbegriffs gesehen werden: Die einheitliche berufliche und vorberufliche Sozialisation, die Organisation der Berufsqualifikation durch formalisierte Studiengänge, die zugleich bestimmte Standards als wissenschaftlich legitimieren, die Kontrolle des Berufszugangs durch Fachprüfungen, speziell organisierte Aufnahmeselektionen u. ä. sichern einmal die notwendige Homogenität der Qualifikation, der Rollenausführung und der normativen Orientierung ,.nach innen" (i. S. professionsintern). Gleichzeitig wird auf die Kontrolle und Verteidigung der berufsoffiziellen Werte, Meinungen, Standards, Verhaltensmoralen (Berufsethik) bezüglich ihrer Stimmigkeit nach "außen" geachtet. Es muß die Übereinstimmung dieser funktionalen und extra-funktionalen Qualifikationen mit den maßgeblichen oder herrschenden Anforderungen einzelner gesellschaftlicher Umwelten (Wirtschaft, Politik, Kirche, Kultur) gewährleistet sein. Der professionelle Konsens muß mit anderen sozialen Wertgefügen kompatibel sein, ohne von ihnen unmittelbar abhängig zu werden. Die Freiheit der "freien Berufe", auf die der Professionsgedanke einige Zeit konzentriert war, erscheint danach durch ein kompliziertes Geflecht professioneller Selbstbindungen erheblich diszipliniert76• Und auch ein damit zusammenhängender anderer Anspruch, der im Professionskonzept gewöhnlich anklingt und auf eine demokratisch-egali75 W. Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft, S. 339, im Anschluß an Kornhauser; kritisch-ablehnend zu einem entsprechenden Definitionsansatz H. Kairat: "Professions" oder "Freie Berufe"? - Professionales Handeln im sozialen Kontext, Berlin 1969, S. 15 ff. 76 Vgl. hierzu W. J. Goode: Profession und die Gesellschaft. Die Struktur ihrer Beziehungen, in: Th. Luckmann, W. M. Sprondel (Hrsg.): Berufssoziologie, S. 159 ff.
116
V. Teil: Rolle und Qualifikation
täre Alternative zum bürokratischen Element aus ist77, erscheint bei näherer Betrachtung zumindest relativiert. Auch die Profession ist eine Form sozialer Organisation, deren Auswahl- und Zulassungsmechanismen hinsichtlich "richtiger" Methoden, Inhalte und Normen nicht notwendigerweise demokratischer kontrolliert werden, als dies bei den Formen sozialer Kontrolle der Fall ist, die durch die bürokratische Hierarchie ausgeführt wird18• W. Schluchter führt diesen Gedanken noch ein wenig weiter: "Professionalisierung bedeutet in der letzten Konsequenz eigentlich berufsständische Monopolisierung; sie ist, so gesehen, eine Strategie zur Schließung der sozialen Beziehung und zur Rechtfertigung von Ungleichheit. Es scheint deshalb ein Kennzeichen wachsender Rationalisierung zu sein, daß sich Demokratisierung und Professionalisierung zunehmend widersprechen7 9." Der Professionalisierungsgedanke setzt nach allem dem Versuch, den Unterschied von geschlossener und offener Berufsrolle im Grad ihrer sozialen Bindung und kognitiven Beschränkung zu suchen, bestimmte Grenzen. Zwar kann an dem Merkmal stärkerer (systematisch betonter) Sachorientierung, inhaltlicher Erfolgsmotivation und stärkerer Kunden-Orientierung als maßgeblichem Trennkriterium festgehalten werden. Die "constraints" der entsprechenden Tätigkeiten scheinen aber 11 "Die professionelle oder Sachautorität scheint . . . einen Typus von Herrschaft zu repräsentieren, der nicht nur der bürokratischen oder Amtsautorität ,entgegengesetzt' ist, sondern auch das Verhältnis von ,Herrschenden' und ,Beherrschten' in einer Richtung verändert, die auf den Abbau der Regierung über Personen zugunsten einer Verwaltung von Sachen weist. Herrschaft auf der Grundlage autoritärer Befehle soll sich dabei nämlich in Herrschaft auf der Grundlage vernünftigen Räsonnierens verwandeln." W. Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft, S.145. 78 Es sei denn, man betrachte die "Abstimmung mit den Füßen", die nach Ansicht der Standesvertreter über die Qualität des Wissens bei Rechtsanwälten und Ärzten und anderen freien Berufen entscheidet, als eine Form unmittelbarer demokratischer Kontrolle. Vgl. hierzu die Einschätzung durch W. J. Goode, S. 163. 79 W. Schluchter, S. 154, leitet den Vorwurf "scharfer Ungleichheit" aus dem Fehlen externer Kontrollen der Profession ab, das sich mit einer Steigerung der Exklusivität und dem Versuch verbindet, "eine Art Geheimwissen zu etablieren" (S. 155). Insofern setzten sich manche Professionalisierungsforderungen möglicherweise Mißverständnissen bzw. dem Verdacht aus, hinter anspruchsvollem Etikett schlichte Prestige-Pflege oder StatusPolitik zu betreiben, bei der das Dienstleistungsideal primär zur Unterstützung einer höheren materiellen Bewertung dient. Das sachliche Anliegen mancher Berufe - etwa das des Sozialarbeiters - wäre m. E. besser durch die Forderung nach· Verwissenschaftlichung der Arbeitsgrundlagen vertreten, die das vorrangige Ziel einer Emanzipation der sachnahen, problemorientierten Arbeit von einer primär verfahrensorientierten bürokratischen Kontrolle deutlicher zum Ausdruck bringt. Vgl. H.-U. Otto, K. Utermann: Sozialarbeit als Beruf. Auf dem Wege zur Professionalisierung? München 1971; H. Peters: Moderne Fürsorge und ihre Legitimation, Köln und Opladen 1968.
12. Offene und geschlossene Rollen
117
zu einem guten Teil nicht durch ein Weniger oder Mehr als durch die Herkunft entsprechender Erwartungen gekennzeichnet. Diese kommen im Fall der durch wissenschaftlich-analytische Anforderungsmerkmale gekennzeichneten offenen Rolle insoweit aus der Organisationsumwelt, als sich die Arbeit an den Standards einer nicht mit der beruflichen Organisation identischen Bezugsgruppe (also überwiegend am kompetenten Urteil wissenschaftlicher Kollegen) orientiert. In der Organisationswirklichkeit ergibt sich ein entsprechender sozialer Rollenkontext beispielsweise mit dem Einbau assoziativer Strukturelemente (etwa einer problemlösenden Gruppe) in eine stärker formal strukturierte Organisation. Es zeigt sich nunmehr, daß die Definition einer offenen Arbeitsrolle nicht einfach durch ein Zusammentragen lerngünstiger, innovationsfreudiger Attribute gewonnen werden kann. Die Arbeitsrolle wird in jener Situation vielmehr durch widersprüchliche Erwartungen gekennzeichnet. Einerseits finden sich die erwähnten Merkmale, die durch die hohe Identifikation der Mitglieder mit dem Gegenstand ihrer Arbeit bedingt sind. Die Standards, an denen sich die Arbeit dabei orientiert, sind nicht ohne weiteres mit den herrschenden Maßstäben der Gesamtorganisation identisch, sie werden vielmehr aus der Umwelt der Organisation in einer Form bezogen, die zu den spezifischen Organisationsinteressen keinen Bezug hat. Andererseits muß das Arbeitsergebnis in eine für die Organisation akzeptable Form gebracht werden. Von entsprechenden Erwartungen der Organisation an den Problemlöser kann die Analyse der offenen Rolle nicht absehen. 12. Offene und geschlossene Rollen im Schema von bürokratischer und professioneller Rationalität Die häufig beschriebenen und sogleich noch näher zu behandelnden Spannungen von "professionals", "Experten" oder "Spezialisten" 80 mit ihrer Organisation81 lassen sich von daher nicht als ein Aufeinander80 Zu der von der geläufigen Bedeutung des Begriffs "Spezialist" abweichenden Begriffsverwendung im vorliegenden Zusammenhang R. Mayntz: Einleitung zu dies.: (Hrsg.), S. 18 f. Spezialisten sind danach "eben gerade nicht durch Spezialisierung im Sinne fraktionierender Arbeitsteilung gekennzeichnet, sondern durch Spezialisierung im Sinne von Spezialausbildung in einem komplexen und relativ umfassenden Wissensbereich, wodurch der Spezialist in der Lage ist, ,ganze' Aufgaben selbständig zu erfüllen" (S. 19). 81 Vgl. die Beiträge im dritten Teil von R. Mayntz (Hrsg.), Bürokratische Organisation, S. 191 ff. und J. E. Sorensen, Th. L. Sorensen: The Conflict of Professionals in Bureaucratic Organization, in: Administrative Science Quarterly 1974, S. 98 ff.; ,R. H. Hall: Professionalization and Bureaucratization, in: American Sociological Review 1968, S. 92 ff.; P. D. Montagna: Professionalization and Bureaucratization in Large Professional Organization, in: American Journal of Sociology 1968/1969, S. 138 ff.
118
V. Teil: Rolle und Qualifikation
treffen von abstrakter wissenschaftlicher Wahrheitssuche und bürokratischer Verengung vereinfachen. Näher liegt es, von der Konkurrenz extern und intern organisierter Erwartungen zu sprechen, die in der Experten- o. ä. Rolle zusammentreffen. Diese Konkurrenz dürfte die Organisationale Lernrolle treffender charakterisieren als die einseitige Hervorhebung extern-wissenschaftsbezogener Orientierung62• Auch die Differenz zur geschlossenen, bürokratisch definierten Rolle auf dieser Ebene gekennzeichnet durch primär organisationsinterne Erwartungen - bleibt damit gewahrt. Wie schon bei anderen antithetisch behandelten Strukturvariablen ist mit dieser Trennung ein stufenloser Übergang von einem Rollentyp in den anderen oder aber eine Kombination gegensätzlich definierter Rollenelemente nicht ausgeschlossen. Auch hier ist die Annahme im Vordringen, daß ein in dieser Weise zusammengesetzter Rollentyp die Zukunft der berufsmäßigen Umsetzung von Wissen in Organisationen kennzeichnen wird&'. Die im Vorstehenden implizit vorgenommene Parallelisierung von professioneller Orientierung und offener Rolle bzw. bürokratischer Orientierung und geschlossener Rolle muß allerdings noch näher belegt werden. Die Diskussion zu diesem Punkt wird gewöhnlich mit einer Kritik an M. Weber eröffnet. Sein Bürokratie-Modell habe eine entsprechende Differenzierung der internen Wissensorganisation nicht gekannt. In der Tat findet sich bei Weber kein Ansatzpunkt für eine Unterscheidung von "Amts- und Fachautorität", mit der die anschließende Erörterung unter wechselnder Terminologie arbeitete, um zwei hinsichtlich ihrer sozialen Bedingungen und inhaltlichen Anforderungen konträre Rollen- und Rationalitätstypen zu kennzeichnen. 82 Es wäre danach nicht angebracht, in den hier gegenübergestellten Rollentypen jeweils das autonome Fachwissen gegen eine kognitiv-neutrale Diziplin zu stellen. Die Unterscheidung ist von A. W. Gouldner: ,Disziplinäre' und ,repräsentative• Bürokratie, in: R. Mayntz (Hrsg.), S. 429 ff., eingeführt, um auf den "janusköpfigen" Charakter der Bürokratie aufmerksam zu machen, der sich in der von Weber nicht ausreichend herausgearbeiteten Konkurrenz zweier Autoritätsformen (Amts- und Fachautorität) ergebe. Beide Formen lassen sich auch nach Gouldner bei der Ausführung der Sachverständigen-Rolle nicht trennen. Zum Problem auch A. Etzioni: Soziologie der Organisationen, S. 120 ff.; T. Parsons: The Structure of Social Action, New York, 3.Aufl. 1964, S. 507; H . Ziegler: Strukturen und Prozesse der Autorität in der Unternehmung, Stuttgart 1970, u. a. S. 34 f., und ausführlich H. Hartmann: Funktionale Autorität - Systematische Abhandlung zu einem soziologischen Begriff, Stuttgart 1964. 83 H. L. Wilensky: Jeder Beruf eine Profession?, in: Th. Luckmann, W. M. Sprondel (Hrsg.): Berufssoziologie, S. 198 ff. (S. 212): "Die in der Zukunft typischen Berufe werden Elemente sowohl des Professions- wie des Bürokratie-Modells miteinander kombinieren; der durchschnittliche Professionsangehörige wird sich sowohl an professionellen wie an anderen. Gesichts-
12. Offene und geschlossene Rollen
119
Die Korrespondenz von Amtsinhaberschaft und Qualifikation- dargestellt in einem pyramidenförmigen Aufbau von Qualifikation und Kompetenz- wird durch eine differenzierende Betrachtung abgelöst: Von der ausschließlich durch formalen Status begründeten Amtsautorität wird die funktionale Autorität geschieden, die sich ausschließlich sachlichem Wissen und entsprechender fachlicher Leistung verdankt. Dieses Auseinanderfallen ist gegen manchen äußeren Anschein und seine populäre Deutung {"Peter-Prinzip" u. ä.) dabei weniger das Ergebnis einer mehr oder weniger pathologischen Entwicklung, die den ignoranten aber durchsetzungsfähigen Bürokraten auf Posten trägt, für die ihm im Grunde die Qualifikation fehlt. In den gegensätzlichen Autoritätsformen drücken sich vielmehr klar unterscheidbare Systemfunktionen aus. Verwaltung ist nicht nur Arbeitsorganisation, die unter Entwicklung und Einsatz analytischen Wissens Probleme löst. Verwaltung ist zugleich notwendig eine Organisation zur Durchsetzung bestimmter Problemlösungen unter Einsatz von Macht und den Mitteln von Befehl und Gehorsam84• Dieser Herrschaftscharakter war es, der der Webersehen Bürokratie mehr als den nachfolgenden Organisationsmodellen ihr Gepräge verlieh85 und bestimmte normative Qualifikationen (Unpersönlichkeit, Sachlichkeit, Genauigkeit, Disziplin) in den Vordergrund rückte. Ganz offenbar sah Weber zwischen diesen Anforderungen und stärker inhaltlich-problemorientierten Qualifikationen keinen Widerspruch. Er sah beides in dem geschulten Fachbeamten integriert und definierte bürokratische Verwaltung demnach konsequent als "Herrschaft kraft Wissen". Innerhalb dieses Wissens allerdings findet sich folgende Differenzierung: "Über die durch das Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient) die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienstwissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder ,aktenkundigen' Tatsachenkenntnisse86." Wie gesagt, man unterstellte Weber, er habe in diesem Punkte den antagonistischen Charakter zweier Systemfunktionen und darauf einpunkten zu orientieren haben; und der typische Berufsverband dürfte weder den Gewerkschaften noch den traditionellen Professionsgesellschaften entsprechen. Mischformen der Kontrolle wie der Organisation haben wir am wahrscheinlichsten in der Zukunft zu gewärtigen - aber kaum eine geradlinige und einsinnige ,Professionalisierung der Arbeit'." 84 Dazu grundsätzlich H. ZiegZer: Strukturen und Prozesse der Autorität in der Unternehmung, Stuttgart 1970. 85 Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 607 ff. : "Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgendjemandes Hand gelegt sein." 86 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 129 (Betonun~ im Original).
120
V. Teil: Rolle und Qualifikation
gestellter Autoritätstypen verkannt. Der Herrschaftszweck und ihr elementarster Ausdruck: die Disziplin - stünden mit der Notwendigkeit sachverständiger Aufgabenbewältigung in einem spannungsreichen Verhältnis, dessen nähere Kennzeichnung allerdings schwankt. Sie reicht bis zum Urteil "völliger Unvereinbarkeit" von Verwaltungsautorität uiid Fachautorität bei Etzioni87• Die Begründung hierfür ist schon verschiedentlich angeklungen. Sie war z. T. in der DichotomiiS'i.erung von bürokratischer/mechanistischer bzw. assoziativer/organischer Organisation und auch in der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Programmformen enthalten. Die jenen Unterscheidungen inhärenten Prinzipien kennzeichnen auch den vorliegenden Zusammenhang: Auf der einen Seite findet sich der Gedanke zentraler Durchsetzbarkeit, Lenkbarkeit und Kontrolle, der - verbunden mit dem Anspruch verläßlicher Berechenbarkeit und Entscheidungskontinuität - den Herrschaftsaspekt der als abstrakte Ordnung erscheinenden Bürokratie ausdrückt. Zu jedem dieser Modelle grundsätzlich im Widerspruch steht die Kennzeichnung der Problemlösungsfunktion auf der anderen Seite, bei der die Organisation sich in "offenen", noch zu bewältigenden Situationen bewegt und deswegen Freiheiten benötigt, die sich in ein reines Herrschaftsmodell nicht integrien lassen. Dieser Gedanke läßt sich nunmehr auch im Widerspruch der - für sich betrachteten - geschlossenen und offenen Rolle bzw. dem Widerspruch von bürokratischer und funktionaler Autorität wiedererkennen. Die Kennzeichnung sowohl der geschlossenen Rolle, wie auch des ihr zugeordneten Typs bürokratischer Autorität sind deutlich auf den Herrschaftsaspekt bezogen. Von der inhaltlich nirgendwo näher qualifizierten Fachschulung abgesehen, kann man insoweit nahezu alle Attribute und Anforderungen, mit denen Weber seine Beamten versieht, zurückgreifen. Sie ergeben zusammengesetzt die Rolle des Herrschaftsdieners, dessen hervorragendste Eigenschaft seine Fungibilität ist: Austauschbar sind die Organisationszwecke, die Arbeitsinhalte, die Vorgesetzten, die "Herren" der Organisation88 und schließlich der jeweilige Amtsinhaber selber, und dies alles, ohne die Organisation zu gefährden, auf deren Bestand die Abstraktheit der Strukturen angelegt ist. "Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden89."
s1 A. Etzioni: Soziologie der Organisationen, München 1969, S. 121. 88 89
M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 669. M. Weber, S. 668 und S. 669: "Die objektive Untentbehrlichkeit des ein-
mal bestehenden Apparats in Verbindung mit der ihm eigenen ,Unpersönlichkeit' bringt es ... mit sich, daß er .. . sich sehr leicht bereitfindet, für jeden zu arbeiten, der sich der Herrschaft über ihn einmal zu bemächtigen
12. Offene und geschlossene Rollen
121
Vor diesem Hintergrund werden die äußerst formalen, inhaltsneutralen Qualifikationen verständlich, über die der Amtswalter verfügen muß und an deren erster Stelle die Disziplin steht: "Sie ist inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d. h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende Ausführung des empfangenen Befehls, und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf den Zweck90." Auch die anderen Kennzeichnungen sind materiell indifferent und zielen primär darauf, die individuelle Person des Beamten planvoll auszuschalten: "Bürokratische Herrschaft bedeutet daher u. a. allgemein ,die Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit; sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft, daher ohne ,Liebe' und ,Enthusiasmus' unter dem Druck schlichter Pfiichtbegriffe; ,ohne Ansehen der Person', formal gleich für ,jedennann', d. h. jeden in gleicher faktischer Lage befindlichen Interessenten, waltet der ideale Beamte seines Amtes91." Konfrontiert man nunmehr diese Anforderungsmerkmale und das Problem, auf das sie bezogen sind, mit den Elementen, die zur Kennzeichnung der Situation der funktionalen (Fach-)Autorität benutzt wurden, so wird man in etwa auf die qualitativ gleichen Unterscheidungsmerkmale stoßen, die auch die Differenz von offener und geschlossener Rolle begründet haben. Die Ausführungen über das Problem der Professionalisierung lassen dabei allerdings hinsichtlich einer zu mechanischen Abgrenzung Vorsicht am Platze erscheinen. Insbesondere trifft die mitunter anzutreffende Gegenüberstellung der bürokratischen Gehorsamsrolle und der Situation des fachlich-autonomen Experten, dessen wissenschaftliche Verantwortung und kreative Intelligenz weder Befehl noch Herrschaft dulden92, nicht die Wirklichkeit. Die Betonung des Individuums täuscht über die strengen sozialen Bindungen hinweg, denen auch die Rolle des Experten hinsichtlich seiner Bezugsgruppe im Einzelfall unterliegen kann und die den Versuch, gegen den beflissenen Herrschaftsdiener den unabhängigen Geist des Experten, Wissenschaftlers oder Planers in Organisationen zu setzen, als allzu simpel ausweisen. Jene Bindungen (Erwartungen, Kontrollen, Sanktionen) sind nur anders organisiert. Die Tatsache allerdings, daß sie sich nicht ausschließlich in der Organisation lokalisieren lassen, stellt in der Tat die Kontrollorganisation eines Entscheidungssystems vor Probleme. Insofern läßt sich an der Aussage festhalten, daß das Verhältnis von gewußt hat. Ein rational geordnetes Beamtensystem funktioniert, wenn der Feind das Gebiet besetzt, in dessen Hand unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter . . ." 90 11
92
M . Weber, S. 642. M. Weber, S. 129. Vgl. dazu A. Etzioni ,
S. 122.
122
V. Teil: Rolle und Qualifikation
bürokratischer und fachlicher Rationalität überwiegend unter dem Herrschaftsaspekt sich als prekär darstellt. In welchem Umfang diese Frage sich für Verwaltungsorganisationen derzeit als ein Problem darstellt, läßt sich in allgemeiner Form nicht aussagen, zumal die Diskussion zu diesem Punkt nicht sehr systematisch geführt wird und eine Untersuchung im übrigen auch nicht davon absehen könnte, ob ihr Gegenstand eine Universität, eine Industrieverwaltung oder eine Innenbehörde ist. Daß die Verteilung, Kontingentierung und Organisation von Wissen innerhalb eines Systems nach wie vor ein erstrangiges Stabilitätsproblem - vgl. dazu das folgende Kapitel- ist, kann indessen schlecht bestritten werden. Eine generelle Trendannahme - wie etwa die Vermutung einer allgemeinen "Entprofessionalisierung des Öffentlichen Dienstes"93 stünde jedenfalls ohne genauere Klärung ihrer theoretischen Voraussetzungen und ihrer empirischen Basis auf schwachen Füßen. Eine davon zu unterscheidende Frage bezieht sich auf das bereits verschiedentlich angesprochene Problem, ob es sich bei den gegensätzlichen Rollenbildern wiederum um analytische Grenztypen handelt, die die Extreme eines Kontinuums bilden, oder ob es sich dabei auch um empirisch zuverlässige abgrenzbare Erscheinungen handelt, die wohl Kombinationen (Verschachtelungen), nicht aber stufenlose Übergänge kennen. Damit zu verbinden wäre die Frage nach den sozialen organisationsinternen und -externen - Bedingungen für das Überwiegen des einen oder anderen Rollentyps. Eine konkrete Antwort soll am Beispiel der Juristenrolle für einen Ausschnitt der Verwaltung exemplarisch versucht werden (vgl. VII). ea So die These von Th. Ellwein und R. Zoll: Berufsbeamtenturn - An-
spruch und Wirklichkeit. Zur Entwicklung und Problematik des öffentlichen Dienstes, Düsseldorf 1973, S. 214 ff. Die Autoren stützen ihre These u. a. darauf, daß die Verwaltung ihr Wissen heute nicht mehr monopolisieren und damit den für die Professionalisierung typischen Exklusivitätsanspruch nicht mehr halten könne. Das gelte auch für wissenschaftliche Spezialisten, deren Tätigkeiten einem Öffentlichkeitszwang unterlägen, der es unmöglich mache, Zusammenhalt, Homogenität und Machtpositionen einer Berufsgruppe über gemeinsames Geheimwissen zu organisieren (einen entsprechenden Begriff der Professionalisierung hatte bereits R. Bendix: Higher Civil Servants in American Society, Boulder, Col. 1949, S. 73 ff., vertreten). Richtig ist daran die Spannung zwischen Professionalisierung und Demokratisierung. Weniger einsichtig ist hingegen die Annahme, daß der öffentliche Dienst früher stärker profesisonalisiert sei, wie es die Entprofessionalisierungsthese unterstellt. Hier wird möglicherweise übersehen, daß sich die mangelnde Angreifbarkeit der Bürokratie nicht etwa einem nicht jedermann zugänglichen Fachwissen, sondern allenfalls der erfolgreichen Monopolisierung des internen Dienstwissens verdankt. Vgl. die starke Betonung des Amtsgeheimnisses als Herrschaftsmittel bei M. Weber, S. 610 f., 671. Dem entspricht, daß maßgebliche Verwaltungsqualifikationen erst organisationsintern erworben wurden und werden, die Verwissenschaftlichung der Ausbildung als konstitutives Kriterium der Professionalisierung innerhalb des Verwaltungsbereiches also in wesentlichen Teilen fehlte und fehlt.
13. Differenzierende Rollenkonzepte
123
13. Differenzierende Rollenkonzepte Versuch einer Zuordnung von Entseheidungs- und Rollentypen a) Darstellung
Auf allgemeiner Ebene sind die Versuche festzuhalten, eine differenzierende Systematik von Rollenkomplexen zu entwickeln. Eine solche Systematik wäre auf zwei Ebenen vorstellbar: Sie kann einmal die möglichen Zwischenformen jenes Rollenkontinuums näher bezeichnen und zum anderen die jeweiligen Rollendefinitionen in Beziehung zu bestimmten Umweltzuständen setzen. In dieser Weise versucht beispielsweise G. Schienstock94 auf der Basis der hierzu verfügbaren Literatur eine entsprechende Rollensystematik für die innovatorische Organisation zu gewinnen. Er sieht die Programmierungs- bzw. Planungsebene einer Organisation rollenmäßig durch zwei Grenztypen, nämlich den "Initiator" und den "Stabilisator" abgesteckt. Innerhalb dieses Bereichs versucht Schienstock das Rollenbild des "Realisators" und des "Integrators" als Zwischenstufe eines Kontinuums zu identifizieren. Das Verhältnis zwischen den so bezeichneten Rollenkomplexen gewinnt er dadurch, daß er den lnnovationsprozeß auf seiner jeweiligen Stufe in Rollenanforderungen übersetzt, wobei er den jeweiligen organisationsinternen und -externen Kontext jeweils berücksichtigen möchte. Die Entwicklung und Durchsetzung von Neuerungen wird dabei als ein schrittweiser 'Ubergang von Ungleichfördigkeiten in gleichförmige (routinemäßig zu bearbeitende) Problemlösungen gesehen, wobei dieser (nicht zeitlich, sondern "funktional" aufzufassende) Vorgang zugleich eine kontinuierliche "Abarbeitung von Ungewißheit" darstelle. Die jeweiligen Rollen lassen sich also danach definieren, bis zu welcher Stufe jener Transformationsprozeß gelangt ist. Die Ausgangssituation ist danach durch hohe Ungewißheit bei der ersten Problemwahrnehmung gekennzeichnet, die die Verwendung von Handlungsroutinen nicht gestattet. Mit dem Auffinden eines ersten Lösungsansatzes beginnt der Prozeß der Alternativenformulierung und damit ein erster Schritt in Richtung auf eine Reduktion bestehender Ungewißheit. Die durch die Anforderungen einer offenen Situation gekennzeichnete Initiatorenrolle läßt sich nicht durch die Definition von Normalleistungen bestimmen. Es lassen sich folglich keine konkreten Verhaltensansprüche festlegen95• Die kognitiven Limitierungen, denen - wie angedeutet - auch diese Rolle unterliegt, lassen sich nicht der Analyse der noch strukturlosen Aufgabensituation entnehmen. Die folgenden 94 Vgl. hierzu und im folgenden G. Schienstock: Organisation innovativer Rollenkomplexe, S. 141 ff. es G. Schienstock, S. 173.
V. Teil: Rolle und Qualifikation
124
Schritte bringen mit der Übersetzung einer "geistigen Konzeption in einen konstruktiven Entwurf" (das Aufgabenfeld des Realisators) und einer nun bereits erfahrungs-geleitet-kalkulierbaren Überprüfung der Entscheidungsalternativen (das Tätigkeitsfeld des Integrators) die Aufgabenbearbeitung in eine zunehmend routinisierbare Form. Der Zustand der Gleichförmigkeit kennzeichnet die letzte Phase des Prozesses - die Stabilisierung bzw. Durchsetzung der Innovation. Dieser Umstand erlaubt, nachdem der Vorgang der Alternativen-Wahl abgeschlossen ist, eine routinemäßige Orientierung. Die rollenmäßige Organisation dieses - auf einen Produktionsbetrieb bezogenen Innovationsgeschehens stellt sich danach zusammenfassend wie folgt dar: "Der Initiator muß zur Überwindung der Ungewißheit beitragen, die sich aus der Frage ergibt, ob das von il:>..m wahrgenommene Problem überhaupt in irgendeiner Form theoretisch lösbar ist; der Realisator trägt ein Umsetzungsrisiko, da nicht für jede Idee die zu ihrer Verwirklichung notwendigen wissenschaftlich-technologischen Mittel zur Verfügung stehen; der Integrator (trägt ein) lnvestitionsrisiko, und der Stabilisator schließlich ist einem Umstellungsrisiko ausgesetzt, das auch die Gefahr des innerorganisatorischen Widerstandes gegen die Übernahme der Innovation mitbeinhaltet96." Schienstock setzt die so bezeichneten Rollenkomplexe zu ihren jeweiligen organisationsinternen und -externen Umweltbedingungen in Beziehung und benennt den für diese Beziehung adäquaten Organisationstyp. Die folgende Abbildung hält das Ergebnis schematisch fest97. Aufgabens- Stellung p
~n -
Umweltbedingungen
angemessener Organisationstyp
X
Initiator
sehr ungleichförmig
komplex dynamisch
organisch
Realisator
ungleichförmig
weniger komplex dynamisch
annähernd organisch
Integrator
noch ungleichförmig
komplex weniger dynamisch
annähernd organisch
Stabilisator
eher ,.~eic~orrrug
relativ einfach relativ stabil
tendenziell mechanistisch
96
G. Schienstock, 8.176.
13. Differenzierende Rollenkonzepte
125
b)Kritik
Die - unvermeidliche - methodische Schwäche derartiger Systematiken liegt in dem Umstand, daß sie die Interdependenzen und Gleichzeitigkeiten98 eines komplexen Zusammenhangs nicht adäquat abbilden können. Sie ziehen einzelne Variablen analytisch auseinander, die nur als Kombination einen Sinn geben, und müssen schon aus diesem Grunde bei ihren Relationierungen mit starken Vereinfachungen und empirischen Schwächen arbeiten. Hinsichtlich der Rollenkomplexe als Bestandteile arbeitsteiliger Organisationen gilt dies in besonderem Maße. Die Anforderungen einer dynamischen Umwelt lassen sich beispielsweise gerade nicht ausschließlich mit einem homogenen Strukturtyp (etwa der organischen Organisation) und einer entsprechend homogenen Rollendefinition (etwa der des Initiators) in Beziehung setzen. Vielmehr zeigt die empirische Organisationsbetrachtung auch in diesem Falle eine zusammengesetztdifferenzierte Einheit, die auch in der Initiationsphase auf korrespondierende Leistungen von Trägern stärker formalisierter Rollen angewiesen ist. Die Möglichkeit, daß ein Mitglied innerhalb eines Problemlösungs- und Durchsetzungsprozesses in unterschiedlichen Rollen tätig wird - z. B. in Stabs- und Linienfunktionen gleichermaßen mitwirkt - erschwert eine schubladenartig trennende Systematik um ein weiteresoo. Immerhin verdeutlicht der wiedergegebene Versuch recht anschaulich die Differenzierungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten schon in einem Bereich, der in seiner Betonung des Innovationsvorgangs erst einen Ausschnitt des gesamten Organisationsgeschehens betrifft. Im Stabilisierungs(= Durchsetzungs-)bereich bewegt er sich allerdings deutlich in Richtung auf die Merkmale, die bei der Behandlung der Bürokratenrolle und der Amtsautorität in unterschiedlichen Dimensionen erarbeitet wurden. Die Typologie könnte vom programmierenden in das programmierte Entscheidungshandeln verlängert werden, wobei sich namentlich für das rechtsförmig-programmierte Handeln in öffentlichen Verwaltungen zeigen ließe100, daß die rollenmäßige G. Schienstock, S. 178. Vgl. M. Irle: Macht und Entscheidungen in Organisationen, S. 119. 99 Die Notwendigkeit der Inhaberschaft von unterschiedlichen Rollen spricht im übrigen auch gegen eine allzu enge Beziehung von Rollendefinition und korrespondierenden Trägereigenschaften. Entsprechende Differenzierungen ermöglicht die Rollentheorie durch die Unterscheidung von Anforderungen an das Rollenverhalten und Anforderungen hinsichtlich individuell gebundener kognitiver und affektiver Qualifikation ("Rollenattribute"). Vgl. dazu im Anschluß an N. Gross: .R. Dahrendorf: Homo Sociologicus, 4. Aufl. Köln und Opladen 1964, S. 26; D. Claessens: Rolle und Macht, S. 71; G. Wiswede: Rollentheorie, Stuttgart 1977, S. 41 ff. 100 Vgl. unten VI 3 a. 97 98
126
V. Teil: Rolle und Qualifikation
Differenzierung analog den Funktionen "Planung und Vollzug" typenrein nur in dem Maße durchgeführt werden kann, in dem sich der Prozeß der Rechtsetzung von dem der Rechtsanwendung trennen läßt. Bekanntlich ist das für wesentliche Bereiche nicht der Fall101• Im Auge zu behalten wäre allerdings auch hier die Konditionalisierung offener Entscheidungssituationen durch sozial vermittelte Prozesse der Gewohnheitsbildung bzw. der Entscheidungshomogenisierung als Folge organisatorischer Kontrollen oder professioneller Selbstbindung (Dogmatik). Die Tatsache, daß es stufenlose Übergänge, Überschneidungen usw. gibt, hindert freilich nicht daran, mit gereinigten Formentypen zu arbeiten. Man kann sinnvoll von Tag und Nacht sprechen, auch wenn es die Dämmerung gibt. In dieser Weise soll im folgenden die Verteilung offener und geschlossener Rollen innerhalb der Verwaltung besprochen werden. 14. Die Bedeutung von geschlossenen Rollen und ihre Verteilung im Verwaltungssystem a) Politisdle Im.plikationen der Fragestellung
Die Möglichkeit einer analytischen Trennung konträrer Rollentypen und die theoretische Klärung ihres wechselseitigen Verhältnisses sagt über ihre reale Verteilung innerhalb eines Systems noch nichts aus. Entsprechende Fragestellungen waren bei der Behandlung bürokratischer und assoziatiV€r Strukturen allerdings schon angesprochen, waren aber über eine Absage an zeitlose Organisationsmodelle und die Feststellung einer notwendigen Komplementarität konstanter und variabler Systemelemente nicht hinausgekommen. Die Unmöglichkeit derartiger Optimalmodelle bezeichnet dabei weniger ein Defizit von empirischer Forschung und Theorie. Sie ergibt sich vielmehr aus der Einsicht, daß Organisationen als Mechanismen sozialer Problemlösung nicht von der Entwicklung und Variabilität der Umwelt abzusehen vermögen und selbst eine konsistente Gesellschaftstheorie nicht ohne weiteres als Anweisung richtiger Organisation benutzt werden könnte. Das schließt nicht aus, aus Beschreibungen und Kritik gegenwärtiger Organisation Anhaltspunkte für alternative Strukturplanungen zu entwickeln. Der kritische Ausgangspunkt des hier zu behandelnden Problems läßt sich dahin kennzeichnen, daß die Verteilung unterschiedlicher Rollen innerhalb einer Arbeitsorganisation zugleich auch die Verteilung unterschiedlicher Informations-, Lern- und Entwicklungschancen tot
Vgl. oben II 2.
14. Verteilung der Rollen im Verwaltungssystem
127
der individuellen Träger bedeutet. Eine abstrahierende Theorie optimaler organisationsinterner Allokation von Wissen und Information übersieht diesen Zusammenhang freilich allzu leicht. Allerdings hat das Problem auch für sie einen organisationspolitischen Aspekt. E~ besteht in der Frage, "wie man Fachwissen schaffen und nutzen kann, ohne die Organisation zu untergraben", wie es A. Etzioni lapidar feststellt102. Angesprochen ist damit ein Zusammenhang, der über das übliche Schema der Personalplanung (Der richtige Mann am richtigen Platz) hinausgeht. Die Ausdehnung, Begrenzung, gezielte Plazierung von Wissen und Qualifikation richtet sich offenbar nicht nur nach den Erfordernissen der jeweiligen Aufgabe. Sie ist aufs Ganze bezogen für die Organisation aus jener Sicht ein Stabilitätsproblem, und in der Tat wird man sich der Einsicht kaum verschließen können, daß bestimmte Reformplanungen, die auf eine Verwissenschaftlichung und Ausweitung der Qualifikation zielen, in entsprechenden Befürchtungen ihre Grenze gefunden haben oder möglicherweise noch finden werdentos. Für die nähere Erläuterung dieses Gedankens ist zunächst die Begründung konkretisierungsbedürftig, die sich für die Limitierung von Lernrollen in der Literatur findet. Dies auch deshalb, weil die ideologische Affinität des Grundgedankens und seine politische Umsetzbarkeit auf der Hand liegen. Die Vorstellung von der sparsamen Verteilung offener Rollen als Bestandsnotwendigkeit auch und gerade eines "dynamischen" sozialen Systems könnte sich ohne viel Mühe als soziologische Verschlüsselung einer traditionellen Bildungskonzeption interpretieren lassen, die nicht zuletzt aus Gründen der politischen Stabilität an einer organisatorisch gesicherten Kontingentierung von Lernchancen interessiert ist und im Bildungssystem Wissensvermittlung und soziale Selektion gewissermaßen als Komplementärfunktionen behandelt104. Ob sich funktionale Analyse als theoretische Legitimation eines "bestandsnotwendigen Bildungsgefälles" (institutionalisiert in vertikal gegliederten Bildungssystemen und ideologisch instrumentiert in einer Polemik gegen die "Intellektualisierung" und "Demokratisierung" schulischer105 und vor allem beruflicher Bildung) in Anspruch nehmen 102 A. Etzioni: Soziologie der Organisationen, München 1967, S. 122. tos Das gilt im übrigen auch für jene korrespondierenden organisationsinternen Strategien, die die "Informationsverarbeitungs-, Lern- und Innovationskapazität" durch Verstärkung des horizontal-kooperativen Moments auch auf der individuellen Ebene erweitern wollen. Vgl. B. A. Baars, K. B. Baum, J. Fiedler: Politik und Koordinierung, S. 165 ff. (171). t04 Vgl. dazu die Darstellung bei P. Bourdieu, J.-C. Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit - Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971, S. 141 ff., S. 162 ff., S. 201 ff., S. 209 ff.
128
V. Teil: Rolle und Qualifikation
läßt, ist eine Frage, die den generellen wissenschaftlichen Status von Theorien betrifft106• Daß einige Elemente der funktionalen Analyse dazu zumindest nicht ungeeignet sind, läßt sich nicht von der Hand weisen. Schon der scheinbar ideologisch-neutrale Gedanke der Begrenzung, wie ihn Ashby im Rahmen seiner kybernetischen Theorie für den Lernvorgang plausibel entwickelt107, findet in der sozialphilosophischen Diskussion Parallelen, deren politische lnstrumentalisierbarkeit nicht nur in bezugauf die Abwehr einer auf Chancengleichheit zielenden Bildungspolitik offenkundig ist. Aufklärung schlechthin, dieser Gedanke wird seit ihrem Erscheinen von der jeweiligen Gegenbewegung in einer erstaunlichen inhaltlichen Kontinuität auf jeweils gestiegenem theoretischen Niveau variiert1°8 , bedroht als politisches Prinzip allemal die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. Die organisationsbezogenen Theorien der Rollendifferenzierung knüpfen an diese Überlegungen indirekt dadurch an, daß sie das Problem der internen Verteilung der Lernchancen und ihrer rollenmäßigen Organisation auch als Bestands- hzw. als Stabilitätsproblem sehen. Den Kern der Argumentation bildet dabei die behauptete Notwendigkeit, die Organisation von individuellen Motivationen, Vorlieben, politischen Präferenzen und professionellen Engagements zu trennen109• Die Beweglichkeit und Lernfähigkeit der Gesamtorganisation ist nach dieser Auffassung gefährdet, wenn jede Änderung des Organisationsziels auf eine Änderung entsprechender individueller Motive angewiesen wäre. 1os P. Röder, A. Leschinsky: Schule im historischen Prozeß, Stuttgart 1976; Detlef K. Müller: Sozialstruktur und Schulsystem - Aspekte zum Struktur-
wandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977. 1oo M. Deutschmann: Qualifikation und Arbeit - zur Kritik funktionalistischer Ansätze der Bildungsplanung, Berlin 1974, insbes. S. 147 ff. 101 W. R. Ashby: Einführung in die Kybernetik, S. 187 ff. (insbes. S. 196 f.). 1os Detlef K. Müller: Sozialstruktur und Schulsystem, S.130 ff., zieht in einer gründlich belegten Arbeit anschaulich eine Linie von der preußischen Gegenreform (B. M. Snethlage), die noch mit dem Idyll des planvoll-beschränkten aber um so glücklicheren Tagelöhners auskam (S. 133), zu Arnold Gehlen: Moral und HypermoraL Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M., Bonn 1969, bei dem der Gedanke der Begrenzung im Vorgang entlastender Institutionenbildung in einen unaufhebbaren Gegensatz zur Aufklärung als Prinzip gerät: "Verengung der Möglichkeiten, aber gemeinsamer Halt und gemeinsame Abstützung; Entlastung zu beweglicher Freiheit, aber innerhalb begrenzter Gefüge ..." und: "Die Aufklärung ist ... die Emanzipation des Geistes von den Institutionen. Sie hebt die Treuepflicht zu außerrationalen Wesen auf, hebt die Bindungen durch Kritik ins Bewußtsein . . . und stellt Formeln bereit, die Angriffspotential, aber keine konstruktive Kraft haben ..., und am Ende erscheint die Aggression, die schon incognito im Ideal steckte." A. Gehlen, ebd., zitiert bei Müller, S. 654 f. 109 N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 89 ff. Zu einer generellen Verwendung des Gedankens im Blick auf das Legitimationsproblem N. Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Neuwied, Berlin 1969.
14. Verteilung der Rollen im Verwaltungssystem
129
Folglich muß sich das System von den Persönlichkeiten seiner Mitglieder unabhängig machen. "Bürokratische Organisationen als Mittel zur Erreichung jeweiliger, beliebiger Zwecke müssen von subjektiven, individuellen und wechselnden Interessen und Motiven und damit von einem bindenden Engagement der Mitglieder frei und nach eigenen inneren Notwendigkeiten und Sachgesetzlichkeiten gestaltet sein110." Persönlichkeit und System müssen nach dieser Auffassung gegeneinander "frei verschiebbar (variierbar)" sein. Das Individuum als "Berufspersönlichkeit" darf weder seine privaten Motive in die berufliche Rolle einbringen noch sich in dieser Rolle allzusehr mit dem jeweiligen Organisationszweck identifizieren. Die hier vorausgesetzte Indifferenz der Mitglieder ist also nicht nur Bedingung der Stabilität, sondern auch eines (beliebigen) Organisationswandels. Das Funktionieren gerade beweglicher, anpassungsfähiger Systeme ist nach diesem Gedanken nicht auf die Einbringung der "schöpferischen", "erfindungsreichen" oder wie immer stilisierten Persönlichkeit, sondern auf deren Disziplinierung angewiesen. Sie äußert sich in mehr oder minder planvollen Limitierungen personaler Autonomie, Darstellungs- b7JW. Handlungsmöglichkeiten und - i. w. S. des Begriffs - von Lernchancen des Individuums im organisierten System. b) Das ideologische Potential des Differenzierungs-Konzepts
Diese Erkenntnis ist allerdings nicht eben neu. Seitdem Arbeitsteilung wissenschaftliches Thema wurde, ist die Einsicht in die Folgen dieses Prozesses namentlich im Begriff der Entfremdung Gegenstand eingehender Analysen111• Die Vorstellung einer weitgehenden rollenmäßigen Neutralisierung der Persönlichkeit als Funktionsvoraussetzung bürokratischer Systeme ist von Weber in verschiedenen Zusammenhängen betont worden und kann als konstitutives Element seines Bürokratie-Modells betrachtet werden. Daß die funktionalistische Wiederaufnahme des Gedankens mehr Widerspruch findet, mag daran liegen, daß die Frage, wieviel Ignoranz, Nichtwissen, politische Apathie usw. notwendig sind, um den Bestand von Arbeitsorganisationen oder das politische System allgemein nicht zu gefährden, gegen die bisher vorwiegend kritische Behandlung des Themas nicht mehr auf eine Vberwindung des Tatbestands, sondern eine verständnisvolle Einsicht in seinen guten Sinn zu zielen scheint112. uo K. Heinemann: Stabilität und Wandel bürokratischer Organisationen, S. 325: "Das Fehlen einer ausgeprägt professionellen Orientierung und eines aufgabenbezogenen Engagements muß sogar als notwendig für das Funktionieren bürokratischer Organisationen angesehen werden." 11t J. Israel: Der Begriff der Entfremdung makrosoziologische Untersuchung von Marx bis zur Soziologie der Gegenwart, Reinbek b. Harnburg 1972; C. W. Mills: Menschen im Büro, Köln 1955; A. Schaff: Entfremdung als soziales Phänomen, Wien 1977. 9 Nocke
130
V. Teil: Rolle und Qualifikation
Es hat freilich den Anschein, daß auf derartige Fragen derzeit keine auch nur in dem Sinne brauchbare Antwort gegeben werden könne, daß eine systembezogene "Ideologieplanung" davon unmittelbar profitieren könne. Immerhin aber kann der Gedanke darüber, wieviel Wahrheit und Wissen unter die Leute kommen darf und wieviel Freiheit für ein System noch bekömmlich ist, an unbestreitbare soziale und politische Erfahrungen und Beobachtungen anknüpfen, die sich in der betrieblichen113 und politischen Praxis114 denn auch durchaus zu folgenreichen Alltagstheorien verdichten. Auf der theoretischen Ebene wirkt sich insoweit die Ambivalenz des in diesem Zusammenhang zentralen Differenzierungskonzepts aus. Diesem Begriff kommt im vorliegenden Zusammenhang insofern eine Schlüsselfunktion zu, als sich der damit bezeichnete Prozeß115 in funktionalistischen Theorien116 mit der Annahme einer Steigerung des 112 So möchte z. B. N. Luhmann: Lob der Routine, S. 138, hinsichtlich des verbreiteten Unbehagens an Verdinglichung und Entfremdung nicht ausschließen, "daß uns da ein altes Vorurteil narrt". Er vermißt inoweit eine diesen seiner Ansicht nach unausweichlichen Tatbestand rechtfertigende Ethik, ohne aus deren Ausbleiben den Schluß zu ziehen, daß es dieser Ethik an einer realen Basis fehlt, die nicht ohne weiteres durch die theoretische Einsicht in den Sinn psychischer Beschränkungen ersetzt werden kann. Hinsichtlich der zunehmend als notwendig erachteten Fähigkeit, "seine expressiven Bedürfnisse vertagen (zu) lernen", werden z. B. die realen Voraussetzungen zu optimistisch eingeschätzt. Vgl. H. Bosetzky: Über das Ausmaß von Entfremdung in der öffentlichen Verwaltung, Die öffentliche Verwaltung 1973, S. 302 ff., der das von Luhmann und anderen vernachlässigte Problem zur Sprache bringt, daß sich die entfremdete Arbeitssituation fast ungebrochen in nichtberufliche Bereiche verlängert, auf deren kompensatorische Funktionen von daher nicht ohne weiteres gesetzt werden kann. 113 Unter diesem Aspekt könnte etwa die Kampagne gegen eine "Theoretisierung" bzw. Intellektualisierung der beruflichen Bildung und die Ausweitung der schulischen Bildung in der Auseinandersetzung um das duale System gesehen werden. Vgl. H. M. Baethge: Bildung und Herrchaft. Innerhalb betrieblicher Bildungsarbeit spielt das Argument der "überqualifizierung" als stabilitätsgefährdendes Moment eine nicht unerhebliche Rolle. Vgl. H. M. Schönfeld: Die Führungsausbildung im betrieblichen Funktionsgefüge, Wiesbaden 1977, S. 73 ff. 114 Die Neigung, innenpolitische Krisenerscheinungen maßgeblich auf ein vermeintlich wahlloses Gewähren von Bildungschancen, der planlosen weil nicht bedarfsorientierten - Öffnung des Bildungssystems, der Herabsetzung der Selektionsschwellen usw. zurückzuführen, ist mittlerweile zum festen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung geworden. 115 N. J. Smelser: Soziologie der Wirtschaft, München 1968, S. 176 ff.; S. N. Eisenstadt: Social Change, Differentiation and Evolution, American Sociological Review 1964, S. 375 ff.; C. Wagner: Funktionale Differenzierung und soziales System, Soziale Welt 1970/71, S. 306 ff.; K. Tilrk: Typen, Komplexität und Kompliziertheit organisationaler Differenzierung, Soziale Welt 1975, s. 92 ff. 111 T. Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme, S. 192 ff.; ders.: Das System moderner Gesellschaft, S. 40 ff., S. 56 ff., 93 ff. Gerade in dieser historisch orientierten Analyse der "Ausdifferenzierung" gesellschaftlicher Untersysteme, Berufsrollen usw. wird freilich auch die unbestreitbare analytische Leistung der Kategorie sichtbar.
14. Verteilung der Rollen im Verwaltungssystem
131
systemischen Leistungspotentials verbindet. Die hier mitunter anklingende Gleichsetzung von Differenzierung und Fortschritt, die bisweilen den Eindruck vermittelt, als führten "hochdifferenzierte" Gesellschaften vor weniger differenzierten die Entwicklung an111, ist nicht nur im Bildungsbereich problematisch. Weniger, weil sie interne Ungleichheiten - z. B. hinsichtlich von Kommuniktations- und Lernchancen unter Hinweis auf jene Leistungsgewinne theoretisch als Notwendigkeit ausweist als vielmehr dadurch, daß jene "evolutionäre Errungenschaften" gewöhnlich merkwürdig abstrakt bleiben und selten in Beziehung zu den sozialen Kosten der Entwicklung gesetzt werden. Man kann auch dann noch von einem Prozeß zunehmender gesellschaftlicher Rationalisierung und evolutionärem Fortschritt sprechen, wenn dies nachweislich und notwendig auf Kosten individueller Qualifikation und Rationalität geht118• Gleichheitsforderungen können so dem funktionalistischen Verdikt der "Entdifferenzierung" 119 unterfallen. c) Die Verwaltung als Organisation der Wissenskontrolle
Ungeachtet der Bewertung dieses Tatbestandes, die generell auf die Grenzen einer Theorie der Differenzierung einzugehen hätte, darf ihr empirischer Gehalt nicht vernachlässigt werden. Unbestreitbar besteht die heutige Arbeitsorganisation aus einem differenzierten Gefüge von Rollen, die sich nach Lernpotential, Umweltoffenheit und Handlungsspielräumen voneinander unterscheiden lassen. Diese differenzierte systeminterne Verteilung von Lern- und Dispositionschancen ist nicht das Ergebnis eines Zufalls oder der Ausdruck unterschiedlicher Begabungen, sondern insofern Abbild einer spezifischen Systemrationalität, als sie eine wesentliche Voraussetzung der Organisationsdisziplin darstellt120• 117 Explizit ist eine solche Annahme kulturellen Fortschritts qua Differenzierung schon bei G. Simmet: über Sociale Differenzierung, Leipzig 1890. 118 Vgl. G. Fr-iedmann: Grenzen der Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. 1959. 119 "Rationalisierung in Richtung auf Gleichheit und Rationalisierung in Richtung auf Leistung schließen sich ab einem bestimmten Punkte aus." W. Schtuchter, S. 169. Zum "Bedarf an sozialer Ungleichheit" und ihren qualifikatorischen Konsequenzen: S. Kudera: Organisationsstrukturen und Gesellschaftsstrukturen, in: Soziale Welt 1977, S. 16 ff. (S. 27 f.). 12o Neben die bisher erwähnten Aspekte tritt hier der Gedanke der Organisationsabhängigkeit des Individuums als Folge der Arbeitsteilung. In dem Maße, in dem Arbeitsvollzüge fragmentiert werden, verlieren die Beteiligten den Einfluß auf das Geschehen, das für die Beteiligten zugleich zunehmend undurchschaubarer wird. Ein Zusammenhang der einzelnen Teilbeiträge kann nur noch qua Organisation hergestellt werden, von deren Entscheidungen das gesamte Geschehen abhängig wird. Vgl. W. H. Staehte: Organisation und Führung sozio-technischer Systeme, S. 147 f. und M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 669. Die funktionale Rollendifferenzierung und die damit organisierte Aufspaltung bzw. Kontigentierung von Wissen, Information
s•
132
V. Teil: Rolle und Qualifikation
In dieser Weise können auch die Spannungen gedeutet werden, die das Verhältnis von Fach- und Amtsautorität, von Experten und Verwaltungsmann und ihre organisatorischen Korrelate (beispielhaft: Stab und Linie) verbreiteten Beobachtungen zufolge bestimmen. Die Freiheit, die die Lösung von Problemen erfordert, stellt sich als Gefährdung einer hierarchischen Befehlsordnung dar. Die mangelnde Kontrollierbarkeit individuellen Wissens und seiner Verwendung entzieht sich bis zu einem gewissen Grade der Verfügung der Organisation. "Dieses individualistische Prinzip ist dem ganzen Wesen der Kontrolle und der Koordination durch Vorgesetzte, d. h. dem Prinzip der Verwaltungsautorität diametral entgegengesetzt121." Die Organisation trifft daher Vorkehrungen, um eine unkontrollierte Verwendung des Wissens zu verhindern. Die erwähnte Stab/Linienstruktur ist hierfür das anschaulichste Beispiel122. Durch die Separierung von Fachwissen in Stäben und die Monopolisierung der Entscheidungskompetenz in der "Linie"123 verschafft sich die Organisation die Möglichkeit, die produzierten Erkenntnisse an der Linie des Hauses zu überprüfen und gegebenenfalls gereinigt in den Entscheidungsprozeß einfließen zu lassen. Die Spannungen, die sich hieraus zwischen beiden Bereichen ergeben können, werden meistens am Beispiel von Produktionsbereichen diskutiert. In z. T. abgewandelter Form124 haben sie für die öffentliche Verwaltung die gleiche Bedeutung. Wenn auch der hier angelegte Gegensatz zweier Rationalitätstypen und entsprechender Rollen- und Qualifikationsformationen nicht überanstrengt werden sollte, so lassen sich auf diesem Felde doch einige empirische Anhaltspunkte für das Problem des Verhältnisses von Wissen und Organisation finden. Die Merkmale der offenen Rolle: Reflexivität, Suchverhalten, Problemorientierung und lernbereite Erund Einfluß konstituiert den Betrieb als Herrschaftsgefüge, das von diesem Charakter auch durch die Entpersonalisierung seiner Strukturen und die "Versachlichung" seiner Prozesse nichts verliert. Vgl. U. Schumm-Garling: Herrschaft in der industriellen Arbeitsorganisation, Frankfurt a. M. 1972, S.115 ff. 121 A. Etzioni: Soziologie der Organisationen, S. 122. 122 Die Rationalität dieses Prinzips bezweifelt gerade unter dem behandelten Gesichtspunkt M. Irle: Macht und Entscheidungen in Organisationen. 12s In diesen Zusammenhang fallen z. B. auch die Konflikte, die sich in der Sozialarbeit aus einer unterschiedlichen, z. T. gegensätzlichen Orientierung von Sozialarbeitern und Beamten des Innendienstes ergeben. Vgl. hierzu Ch. Hopf in: K. Dammann, G. Faltin, Ch. Hopf: Weiterbildung für den öffentlichen Dienst, Göttingen 1976, S. 154 ff. 124 Zu den unterschiedlichen Organisationsmöglichkeiten der Stab-LinienBeziehung und ihrer Kritik vgl. K. Dammann: Stäbe, Intendantur- und Dacheinheiten. Die deutschen Verwaltungen und der Ertrag der Stabsdiskussion, Köln u. a. 1969.
14. Verteilung der Rollen im Verwaltungssystem
133
fahrungsoffenheit finden in ihrer Verbreitung nicht lediglich in der zunehmend fragmentierten Aufgabenerledigung ihre Grenze. Sie sind - beide Aspekte sind freilich nur theoretisch zu trennen - auch unter dem Aspekt der Organisationsherrschaft nicht "unbegrenzt" funktional15. Zum gleichen Ergebnis kommt die betont abstrakt-neutrale Deutung N. Luhmanns, für die der Herrschaftsbegriff allemal obsolet geworden ist. Danach ist jede Lernfähigkeit auf Formalisierungsleistungen angewiesen. Ein Diskussions-System etwa, das in der hier gebrauchten Terminologie nur aus offenen Rollen bestünde, zwischen deren Trägem keine formalisierten Beziehungen vorhanden sind, kann danach nicht gerade unter dem Aspekt seiner weitgehenden Entformalisierung als besonders innovationsgünstig o. ä. angesehen werden. Es würde im Gegenteil auf Dauer das Fehlen von Organisation in der 'Uberforderung des Individuums spürbar werden lassen. Der Vorgang einer sozialen Problemlösung ist (wie Kommunikation generell) überhaupt nur über den Prozeß der Systembildung möglich, der das Persönlichkeitssystem immer nur in einem bestimmten Aspekt erfaßt und die übrige Persönlichkeit für das Systemgeschehen mehr oder weniger vollständig neutralisiert. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamste Formalisierung drückt sich als "Erwartungsdifferenzierung" in der Ausbildung von Systemrollen aus. Die Formalisierung von Erwartungen bZJW. die Ausgrenzung eines bestimmten Komplexes von Verhaltenserwartungen führt zu der erwähnten Entkoppelung von personalem und sozialem System, dessen Leistungssteigerungen also nicht notwendig von entsprechenden Leistungsteigerungen des Individuums etwa in der Weise abhängig sind, daß erweiterte Lern- und Verhaltenschancen auch die Lern- und Verhaltenschancen des sozialen Systems steigem1Cl6. Erst durch diese Unabhängigkeit gewinnt aus dieser Sicht das soziale System überhaupt seine Beweglichkeit und Lernfähigkeit. Der empirische Gehalt dieses Gedankens wird am Beispiel von Arbeitsorganisationen, die ihr Leistungspotential über eine z. T. drastische Dequalifizierung ihrer Mitglieder erhöhen, noch näher behandelt werden (Teil VII). 12s Diese Argumentation kann sich in gewissem Umfang auf die empirische Kleingruppen-Forschung stützen. Die Tatsache, das maximale Kommunikationsmöglichkeiten nicht notwendig mit optimalen Gruppenleistungen korrelieren, mag in gewissem Umfange für Differenzierungs- und Organisationsnotwendigkeiten i. S. von Limitierungsleistungen, die sich als Beschränkung individueller Möglichkeiten und Fähigkeiten auswirken, in Anspruch genommen werden. Vgl. den Überblick bei R. Ziegler: Kommunikationsstruktur und Leistung sozialer Systeme, S. 58 ff. 126 Vgl. N . Luhmann: Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas: in: J. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft, S. 291 ff. (326 ff., 329 ff.).
VI. TEIL
Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation - am Beispiel der Juristenrolle in der Verwaltung vor dem Anspruch der Verwissenschaftlichung der administrativen Führung 1. Fragestellung des Untersucllungsteils Die notwendig abstrakten Überlegungen der vorangegangenen Teile sollen nunmehr in einer exemplarischen Detailstudie veranschaulicht und in ihren möglichen Konsequenzen dargestellt werden. Die Suche nach einer möglichst repräsentativen Berufsrolle innerhalb der öffentlichen Verwaltung stößt dabei mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf den Verwaltungsjuristen. Einmal ist er im höheren Dienst der allgemeinen inneren Verwaltung nach wie vor die beherrschende Figur. Zum anderen lassen sich die an diesem Beispiel gewonnenen Erkenntnisse z. T. auf andere Berufsrollen übertragen, deren Qualifikationsstruktur durch das Problem der Regelbindung in ähnlicher Weise geprägt ist. Der Verwaltungsinspektor des gehobenen Dienstes gehört etwa hierher. Die möglichen Korrelationen der drei behandelten Strukturvariablen und ihre Auswirkungen auf die Definition der beruflichen Rolle lassen sich dabei am ehesten in einer Betrachtung der jüngeren Verwaltungsgeschichte verfolgen (2). Die relative theoretische Geschlossenheit des liberalen Verwaltungsparadigmas, dem mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zugleich eine bestimmte System/Umwelt-Annahme zugrunde liegt, erscheint dabei als Ausgangspunkt einer primär soziologisch interessierten Betrachtung gut geeignet, wenngleich die bekannte Schwierigkeit dieser Verfahren darin liegt, d'aß mit der Verwendung bestimmter (soziologischer) Modellvorstellungen im historischen Kontext die Interpretation von Fakten in eine modelladäquate analytische Harmonisierung des Gegenstandes umschlagen kann. Um so sorgfältiger muß auf die ideologischen Bestandteile des mit jenem Paradigma korrespondierenden Rechtspositivismus bzw. seinen empirischen Gehalt geachtet werden (2 a). Der weitere Fortgang gilt einmal der Erklärung der qualifikatorischen Kontinuität vor dem Hintergrund eines weitgehenden Funktionswandelsdes Staates und seines Apparats (3) und zum anderen den
1. Fragestellung des Untersuchungsteils
135
Bedingungen einer auf diese Entwicklung eingestellten Reform. Dabei tritt der funktionale Aspekt des Qualifikationsproblems deutlicher hervor. Die durchaus unterschiedliche Einschätzung der Möglichkeit einer Entwicklung der Juristenrolle vom "geschlossenen" zum "offenen" Modell geht nämlich auf eine zum Teil gegensätzliche Bewertung der Funktion des Rechts in der Gesellschaft generell zurück. Zwei für das kritische Lager innerhalb der Rechtssoziologie repräsentative Auffassungen (Max Weber, Niklas Luhmann) lassen dabei die Auswirkungen der Annahme einer spezifischen Funktion des Rechts auf die Organisation seiner rollenmäßigen Bewältigung anschaulich hervortreten. Auf diese Weise gewinnt das Problem der Legitimität, der Rationalität und der Herrschaft, die zumindest für M. Weber noch ein Thema war, für die Beurteilung der systeminternen Wissensorganisation ausschlaggebende Bedeutung (4). Die hier entwickelten Vorstellungen werden dann in den theoretischen und kategorialen Rahmen der Teile II- V eingebaut (5), (6). Die primär theoretisch orientierten Ausführungen zum funktionalen Status der Juristenrolle werden anschließend am Material zur Fortbildungsdisposition der Verwaltungsjuristen, die das Verhältnis von gesellschaftlicher Funktion der Verwaltung, Aufgabenwandel und individueller Wissensorganisation noch am ehesten empirisch belegen könnte, gemessen (7). Ausgangshypothese der folgenden Kapitel ist die Annahme, daß in der Konkurrenz zweier Rationalitätstypen, wie sie das geschlossene und offene Modell der juristischen Berufsrolle repräsentieren, sich ein allgemeineres Problem widerspiegelt. Angesprochen ist die Möglichkeit einer generellen Rationalisierung der Verwaltung im Sinne einer durchgehenden Verwissenschaftlichung bei der Bewältigung ihrer Probleme (8 -13). Dieses Problem berührt in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten technokratischen und dezisionistischen Modell einmal mehr das Verhältnis von Politik und Verwaltung sowie die Auswirkung dieser Beziehung auf das Problem der systembezogenen und individuellen Wissensorganisation. Dabei wird das Konzept einer den Sequenzen eines Entscheidungsprozesses entsprechenden Rollentypik noch einmal unter verändertem Gesichtspunkt aufgenommen. Die dabei auftauchenden Schwierigkeiten bezeichnen zugleich die Grenze einer allgemeinen Ablösung der Politik durch eine verwissenschaftlichte Verwaltung. Ob die verbleibenden Möglichkeiten in dieser Richtung auch von einer Reform der juristischen Verwaltungsausbildung genutzt werden könnten, ist Gegenstand der diesen Teil abschließenden Ausführungen.
136
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
2. Das Problem im klassisch-liberalen Verwaltungsparadigma - Der Obergang von der Zweck- zur Regelorientierung als Motiv rechtsförmiger Entscheidungsorganisation Programmtyp, Organisationsform und die hier maßgeblich interessierenden Elemente der Strukturvariablen Personal: Rolle und Qualifikation lassen sich im Verhältnis zueinander und in ihrem Verhältnis zur Umwelt am ehesten in der historischen Analyse bestimmen. Aufschlußreich ist dabei neben der jeweiligen Zustandsbeschreibung einer gegebenen System/Umwelt-Beziehung die Beobachtung dieser Beziehung im Blick auf Veränderungen in der Umwelt. Für eine Gesamtbetrachtung der öffentlichen Verwaltung kommen dabei als Umwelt die gleichrangigen Subsysteme des politischen Systems: Parlament und Rechtsprechung - und als gemeinsame Umwelt dieser das politische System konstituierenden drei Einheiten: die Gesellschaft- in Betracht. Der maßgebliche Zeitpunkt, in dem sich der moderne Strukturtyp öffentlicher Verwaltung ausprägte, ist mit dem Obergang vom Polizeizum Rechtsstaat bezeichnet. Das sozialhistorische Paradigma des liberalen Modells hat bekanntlich den Übergang vom absoluten Polizeistaat zur bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft als einen ökonomischen Prozeß gedeutet, der sich in einem entsprechenden Funktionswandel des Staates ausdrückte: die mit dem Rückzug des Staates als wirtschaftender Instanz vollendete Trennung von Staat und Gesellschaft reduziert im klassischen liberalen Modell den Staat und seinen Apparat auf Ordnungsentscheidungen, die sich auf die Setzung und Gewährleistung der formalen Regeln für einen sich im übrigen selbst überlassenen Markt beschränken. Die damit vorausgesetzte wirtschaftliche Neutralität des Staates, in deren Konsequenz das Postulat formaler Gleichbehandlung aller Beteiligten lag, stellte an den staatlichen Apparat Anforderungen, die sich in wichtigen Punkten von den an die merkantilistisch-wohlfahrtsstaatliche Verwaltung gerichteten unterschieden: Dort war es die Aufgabe des Staates gewesen, durch umfassende Verwaltungstätigkeit den Wirtschaftsprozeß aktiv in Gang zu halten und zu fördern. Art und Umfang des Einsatzes staatlicher Mittel waren in der Regel nicht formal - etwa durch ein allgemeines Gesetz - gebunden, sondern bestimmten sich danach, ob sie der Erreichung des jeweiligen ökonomischen, politischen oder sozialen Zwec1ces dienten. Da die naturgemäß weitgefaßten Aufgaben staatlicher Wohlfahrt auf sehr verschiedenen Wegen erfüllt werden konnten - es also nicht nur ein notwendiges Mittel zur Erreichung des Zieles gab - bestand für das Gebot der Berechenbarkeit staatlichen Handeins weder ein Bedürfnis noch eine theoretische Legitimation.
2. Das Problem im klassisch-liberalen Verwaltungsmodell
137
Die Funktionsbedingungen des sich entfaltenden Konkurrenz-Kapitalismus wandelten die Tätigkeitsvoraussetzungen der staatlichen Verwaltung grundsätzlich. Eine explizite Orientierung des staatlichen Handeins an bezweckten Wirkungen, planvoll verfolgten Interessen und konkreten Zielen1 würde die offiziell proklamierte Neutralität des Staates und die damit vorausgesetzte strikte Berechenbarkeit seines Handeins gefährden. Stattdessen wird, dem Anspruch nach, jede (nach außen) wirksame Verwaltungstätigkeit als abstrakt definierte Rechtsfolge an einen ebenso abstrakt definierten Tatbestand gekoppelt. Das so wirksame allgemeine Gesetz macht, soweit es um mögliche Eingriffe in den Rechts- und Pflichtenkreis des einzelnen geht, jedes staatliche Handeln kalkulierbar insoweit, als es nun an Voraussetzungen geknüpft wird, auf deren Eintreten der Staat selbst keinen unmittelbaren Einfluß nehmen kann. Die staatliche Verwaltung ist im nunmehr ausgeprägten rechtsstaatliehen Gewaltenteilungsmodell als "Exekutive" auf den politisch neutralen und klar bestimmbaren Vollzug von Normen verwiesen, über deren Setzung grundsätzlich nicht die Verwaltung selbst, sondern - in einem streng formalisierten Verfahren - das Parlament zu entscheiden hat. Mit der Trennung politischer und ökonomischer Funktionen und deren Organisation in relativ autonomen Teilsystemen der Gesellschaft vollzieht sich innerhalb des staatlichen Apparats eine Wende der Entscheidungsorganisation, die man unter starker Vereinfachung2 als einen Übergang von der zweckorientierten zur konditionalen Programmierung bezeichnen könnte3. Das (rechtsförmige) Konditionalprogramm wird zwar nicht zur ausschließlichen Programmform, wie es das - durch das in diesem Zusammenhang viel zitierte "Kreuzberg-Urteil" 4 exemplarisch dokumentierte - faktische Überleben eines stark wohlfahrtspolizeilichen Elements belegt. Die staatliche Bürokratie war vielmehr in jener Zeit ·in dem Umfang auf Interventionen im Rahmen von Zweckprogrammen (=Ermessen und sog. rechtsfreie Verwaltung) angewiesen, in dem der Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 62 ff. Natürlich ist der Grundgedanke der Positivität - der Gesetztheit des Rechts - keine Erfindung des Rechtsstaats. Vgl. H. Kelsen: Was ist juristischer Positivismus, in: Juristenzeitung 1965, S. 465 ff. Als durchgängiges Prinzip der staatlichen Entscheidungsorganisation aber setzt sich das allgemeine Gesetz erst im gewaltenteiligen Rechtsstaat durch. In diesem Zusammenhang wird auch erst die Systemwidrigkeit des Maßnahmegesetzes, d. h. die Möglichkeit, Handlungsvoraussetzungen ad hoc und für den konkreten Anlaß zu verändern, verständlich. Vgl. K. Zeidler: Maßnahmegesetz und "klassisches Gesetz" - eine Kritik, Karlsruhe 1961, S. 135 ff. 3 Vgl. N. Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 58 ff. ' Preußisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. 6. 1882, PrOVG 9, 353 ff. t N . Luhmann:
2
138
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
Anspruch des liberalen Trennungsmodells der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit nicht entsprach5 • Trotzdem wird man im Blick auf die rechtsförmig-abstrakte Programmierung der Verwaltung von einem konstitutiven Merkmal der preußischen Bürokratie sprechen können. Sie war nicht lediglich liberale Ideologie, sondern repräsentierte spätestens mit der Durchsetzung gewaltenteiliger Rechtsstaatsprinzipien die Stellung und politische Funktion der Verwaltung im Aufbau des Staates. Für diese Epoche wird man korrespondierende Verwaltungsstrukturen noch am deutlichsten ausmachen können. Auf der Organisationsebene gilt dies für eine Verwaltungsstruktur, die für M. Weber die empirische Basis seines Bürokratie-Modells lieferte, dessen idealtypisch abstrahierender Charakter - etwa in der Behandlung des politischen Anspruchs der Verwaltung- allerdings nicht erst von der Kritik entdeckt werden mußte6 • Jeder Baustein dieser bürokratischen Organisation läßt sich als Beitrag zum lückenlosen Funktionieren eines Vollzugsapprats interpretieren. Die Kennzeichnung der "Legalität als Funktionsmodus der Bürokratie" 7 bringt diesen Zusammenhang von Programm- und Organisationsstruktur auf eine kurze Formel. Für die Personalebene gilt Entsprechendes. Die Ursprünge des sog. Juristenprivilegs werden plausibel mit den qualifikatorischen Ansprüchen in Verbindung gebracht, die sich mit der allmählichen Ausprägung des Rechtsstaats und der Regelbindung seines Apparats ergeben. Der Funktionswandel der Verwaltung bildet sich auf der Qualifikationsebene im Übergang von der Kameral- zur Juristenausbildungs recht anschaulich ab. Die umfassend-interventionistische Polizeiverwals Zu dieser "modellwidrigen" politischen Stärke der preußischen Verwaltung: E. Kehr: Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats - ein Beitrag zum Diktaturproblem, in: H. U. Wehler (Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln und Berlin 1970, S. 37 ff. Zum "Absolutismus der (preußischen) Verwaltung" auch F . Hartung: Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 8. Aufl. 1964, s. 24. 6 Vgl. etwa zum Problem der politischen Macht der Verwaltung, die die Bürokratie nicht zum Instrument, sondern zum Träger von Herrschaft machte, M. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918) in : Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958. Der Abweichung von Realität und Idealtypus versuchte Weber u. a. durch die Differenzierung von "Beamtenherrschaft" und Bürokratie gerecht zu werden. 7 C. Schmitt: Das Problem der Legalität, in ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 444 ff. und hierzu U. K. Preuß: Legalität und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a . M. 1973, S. 64 ff. s W. Bleek: Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972; ders.: Die preußische Reform : Verwaltungsqualifikation und Juristenausbildung (1806 bis 1817), Die Verwaltung 1974, S. 178 ff.
2. Das Problem im klassisch-liberalen Verwaltungsmodell
139
tung stützte sich in den Kameral-Wissenschaften11 auf eine pragmatisch orientierte Gebrauchslehre10• Sie war in dem Sinne politisch orientiert, als sie auf die konkreten Verwaltungszwecke des merkantilen Absolutismus bezogen war11 • Sie wurde gegenstandslos in dem Maße, in dem der Staat seine vielfältigen ökonomisch-sozialen Aktivitäten einem freien Markt überließ und sich auf seine Ordnungs- und Garantenaufgabe zurückzog. Diesem Wandel der Verwaltungsfunktion entsprach der Übergang vom konkret-aufgabenbezogenen, empirisch orientierten Zweckhandeln zu einer abstrakt-regelförmig programmierten Entscheidungstätigkeit - symbolisiert durch den Windscheidsehen .,Juristen als solchen", der sich hinsichtlich seiner Entscheidung weder für die sozialen Voraussetzungen oder die politischen Implikationen noch für die Konsequenzen seines Handeins zu interessieren hatte12• a) Zur empirischen Basis des Rechtspositivismus
Zwei Fragen bleiben bei dieser Darstellung offen: (a) ob nämlich der hier berührte extreme Rechtspositivismus als Wirklichkeit der Verwaltung des 19. Jahrhunderts genommen werden kann, und (b) inwieweit der kontinuierlichen Parallelisierung von Organisation-Personalund Programmstruktur, in der sich der Übergang von der zweck- zur regelorientierten Staatsverwaltung widerspiegelt, nicht jene Annahme entgegensteht, die der Bestimmung des System-Umwelt-Verhältnisses II Es handelt sich dabei um eine Zusammenfügung theoretisch kaum verbundener Gegenstände, die - ohne weiteren wissenschaftlichen Anspruch - eine Fülle von Handlungsanweisungen und Nützlichkeitsregeln auf dem Gebiet der Ökonomie, Polizei- und Finanzwissenschaft enthielten, ohne dabei jemals eine geschlossene Disziplin entwickelt zu haben. Der Stoff reichte neben allgemeinen finanz- und polizeiwissenschaftlichen Fächern von der "Wissenschaft des Straßen- und Brückenbaus" über "Vieharzneikunde", "angewandte Mathematik" zur "Technologie der Stadtentwicklung" und "Forstwissenschaft". Diese Beispiele bei F. Hoffmann: Die Ausbildung für Verwaltung und Praxis im deutschen Kameralismus, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 103 (1943), S. 177 ff. Dort auch Belege dafür, daß der enzyklopädische Dilettantismus schon zu seiner Zeit nicht ohne Kritik blieb. Vgl. weiter K. Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten (1913), Nachdruck Frankfurt a. M. 1966, Ferdinand Schmid: Ober die Bedeutung der Verwaltungslehre als selbständiger Wissenschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1909, S. 193 ff., wieder abgedruckt in: H. Siedentopf (Hrsg.): Verwaltungswissenschaft, Darmstadt 1976, S. 86 ff.; Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied, Berlin
1966. 1o H.-J. Blank: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft, G. Kress, D.
Senghaas (Hrsg.): Politikwissenschaft - eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a. M. 1969, S. 368 ff. 11 Diese einleuchtende Bestimmung des politischen Elements der Kameralistik gegen die inhaltsneutrale Formalität des nachfolgenden Rechtspositivismus findet sich bei Ferdinand Schmid: Ober die Bedeutung der Verwaltungslehre als selbständiger Wissenschaft, S. 107. 12 Statt anderer P. Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, Freiburg 1888, S. XI.
140
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
gegenwärtiger Verwaltung zugrunde lag: Daß nämlich gesellschaftliche Prozesse gerade nicht in der Weise berechenbar kausal auf die Entwicklung interner Systemstrukturen wirken, daß diese sich als interne regelmäßige Entsprechung der Außenwelt darstellen lassen. Hinsichtlich der ersten Frage bietet - ohne daß die Antwort an dieser Stelle weiter ausholen kann - ein schon gegebener Hinweis einen zugegebenermaßen groben Anhalt. Der staatsrechtliche Positivismus im allgemeinen und der juristische Determinismus im besonderen dürften die Wirklichkeit in dem Umfange abbilden, in dem diese sich mit dem klassisch-liberalen Gewaltenteilungsmodell selbst in Einklang befand. Das war bekanntlich sowohl vor wie nach der Einführung der gewaltenteiligen Verfassung nur z. T. der Fall. In dem Augenblick, als die rechtsstaatliche Sicherung der staatlichen Bürokratie zu greifen begann, gerieten mit den einsetzenden wirtschaftlichen Konzentrationsbewegungen und ihren sozialen Folgen die an das Vorhandensein eines freien Marktes gebundenen ökonomischen Voraussetzungen des Liberalismus ins Gleiten13. Die damit herausgeforderte staatliche Intervention in die Sphäre der Gesellschaft konnte zwar - soweit dieser Tatbestand überhaupt wahrgenommen wurde- in der positivistischen Deutung mit dem Nachweis einer erhöhten Aktivität des Gesettgebers erklärt werden. Aber abgesehen davon, daß der juristische Positivismus in seiner strikten Abwehr jedes außerrechtlichen (Zweck-)Moments14 auch während seiner Blütezeit nicht unwidersprochen blieb16 und sich in der politischen Bewertung seines Gegenstandes im übrigen keineswegs als theoretisch geschlossene Einheit präsentierte16, konnte auf Dauer die Verwaltung nicht auf einen machtneutralen Gesetzesgehorsam reduziert werden17. Daß dieser Schein lange Zeit gewahrt werden konnte, ist nicht zuletzt dem Umstand zu danken, daß 13 H. Friedrich: Staatliche Verwaltung und Wissenschaft - Die wissenschaftliche Beratung der Politik aus der Sicht der Ministerialbürokratie, Frankfurt a. M. 1970, S. 42 f.; J . Hirsch: Funktionsveränderungen der Staatsverwaltung in spätkapitalistischen Industriegesellschaften, Blätter für deutsche und internationale Politik, 1969, S. 150 ff. 14 Vgl. (noch oder schon) H. Preuß: Zur Methode juristischer Begriffskonkonstruktion, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1900, S. 359 ff. "Das Zweckmoment löst jeden juristischen Begriff in flüssiges Wachs auf." (S. 339) und "jeder Autor legt nach Belieben gewisse Zwecke und Interessen in den Begriff des Staats oder der Gemeinde hinein, um sie dann triumphierend als wissenschaftliche Resultate wieder aus dem so präparierten Begriff herauszuholen" (S. 368). 15 Sie wurde namentlich von .R. v. Mohl gegen die Theorie C. F. v. Gerbers vorgebracht. Ausführlicher hierzu P. v. Oertzen: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt a. M. 1974, S. 239 ff. 16 Das gilt z. B. für die Abweichungen in den Staatstheorien Ch. v. Gerbers und P. Labands. Dazu ebenfalls P. v. Oertzen, insbes. S. 254 ff. 17 Wie erwähnt, hat M. Weber selbst den Prozeß einer politischen Verselbständigung der Bürokratie gesehen und kritisch verfolgt. Vgl. oben Fn. 6.
2. Das Problem im klassisch-liberalen Verwaltungsmodell
141
die durch die vielfach gesicherte personell-politische Einheitlichkeit des maßgeblichen Beamtenstandes gewährleistete Homogenität der Entscheidungspraxis die zuverlässige Wirksamkeit einer logik-förmigen Gesetzesbindung zu bestätigen schien. Gerade letzteres erschwert die Antwort auf die Frage, ob die Ablösung oder Konkurrenz herrschender Auffassungen (etwa von Freirechts- oder Interessenjurisprudenz) der theoretische Reflex eines tatsächlichen Wandels der Entscheidungspraxis ist oder lediglich den Wechsel ihrer politischen Bewertung anzeigt18. In jedem Fall wird man feststellen können, daß der Rechtspositivismus praktisch insofern wirksam war, als er dem Selbstverständnis der Verwaltung und Rechtsprechung weithin entsprach. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens konnte sich die Rechtsanwendung auf einen allgemeinen professionellen Konsens stützen, der die Entscheidungspraxis in einem Umfange zum berechenbaren Faktor machte, daß die Differenz von objektiv zielorientiert-politischer Funktion des Rechts und seiner subjektiven positivistischen Deutung nurmehr von theoretischem Interesse ist. Dies gilt jedenfalls für die Vordemokratische Epoche insofern, als in den Teilsystemen des politischen Systems die herrschende Meinung ohne politische Alternative blieb, das Problem des Klassenrechts sich ausschließlich im Verhältnis von Herrschern und Beherrschten stellte, sich also nicht schon als Interessengegensatz innerhalb staatlicher Interessen bemerkbar machte. b) Das liberale Verwaltungsmodell als Beleg struktureller Parallelen im System/Umwelt-Verhältnis?
Hinsichtlich der Parallelisierung von systeminternen und -externen Strukturentwicklungen, wie sie sich in der Beziehung von bürgerlicher Wirtschaftsgesellschaft zu der Entwicklung im staatlichen Bereich ergeben, könnte in der Tat ein Widerspruch zu der These gesehen werts Diese Deutung legt sich m. E. gegenüber der Interpretataion von Franz Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen
Gesellschaft (1937), in: ders.: Demokratischer und autoritärer Staat - Beiträge zur Soziologie der Politik, Frankfurt a. M. 1967, S. 7 ff., nahe, der mit zunehmender Monopolisierung der Wirtschaft die Ausweitung von Generalklauseln und deren Ausfüllung durch die Gerichte als einen Prozeß zunehmender Zerstörung der Rationalität des Rechts bewertet hat, dabei aber m. E. übersieht, daß die nach außen sichtbare Widerspruchsfreiheit des Wilhelminischen Rechtssystems eher die Interessenhomogenität politisch herrschender Kräfte als die logische Berechenbarkeit ihrer rechtlichen Grundlagen selbst zum Ausdruck bringt. Jener politische Konsens war mit dem Parlamentarismus, der auch anderen politischen Kräften Einfluß verschaffte, nicht mehr herzustellen. Um so offener trat nunmehr die Parteilichkeit der Justiz und teilweise auch der Verwaltung zutage. So zutreffend 0. Kirchheimer: Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung (1930), in: ders.: Funktionen des Staates und der Verfassung, Frankfurt a. M. 1972, S. 7 ff. (S. 16).
142
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
den, wonach es zwischen System und Umwelt keine lineare "Punktfür-Punkt-Beziehung"19 gibt, vielmehr die in dem System/UmweltVerhältnis ablaufenden Austauschprozesse in einer Weise "vermittelt" sind, die sehr verschiedenartige Lösungen ein und desselben Problems erlaubt. Dieser Widerspruch verliert jedoch bei näherer Betrachtung an Bedeutung. Er ist einmal zu erklären aus den Abstraktionen des liberalen Modells, mit denen sich die sozialhistorische Analyse in der Trennung von Staat und Gesellschaft die Beziehung der letzteren zu ihren Teilsystemen vereinfacht. Davon abgesehen wird man über die nationalen Grenzen hinaus in der Entwicklung bürgerlicher Wirtschaftsgesellschaften hinsichtlich der Funktion des Staates elementare Gemeinsamkeiten feststellen können. Die Problemlösungen, wie sie sich in der Errichtung und Entwicklung des staatlichen Entscheidungssystems dokumentieren, sind nicht beliebig, sondern auf jene Funktion2° bezogen. Aus dieser Sicht ist der gewaltenteilige Staatsaufbau nicht die Entdeckung eines aufgeklärten Denkers, sondern die adäquate Form21 einer sich marktförmig organisierenden Gesellschaft, die auf Ausgrenzung staatsfreier Räume, sowie die Einhaltung der Garantien ihrer Spielregeln gleichermaßen angewiesen ist und die Teilhabe an der politischen Macht im Parlamentarismus der Idee nach selbst als einen Konkurrenzkampf organisiert22• 19
T. Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme, S. 280. Eine nähere Bestimmung aus der Sicht der politischen Ökonomie findet sich bei E. Pasch.ukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus (Deutsche Erstausgabe 1929), Nachdruck Frankfurt a. M. 1966, S. 114 ff. 21 s. E.-W. Böckenförde: Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit - Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 93 ff. Ob man statt "adäquate" auch "notwendige" Form sagen könnte, bedürfte einer eingehenderen Ausführung, die sich mit der Entstehung von Waren-Gesellschaften und ihrer politischen Form vergleichend auseinanderzusetzen hätte. Für die europäische Entwicklung wird man jedenfalls bei allen Differenzierungen starke Übereinstimmung festhalten können, die ihre gemeinsame Basis in der Proklamation der allgemeinen Rechtsgleichheit hat, welche mit der Vorstellung einer allgemeinen Vertrags- und Erwerbsfreiheit notwendig verbunden war. Vgl. E. Kehr: Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats (1932), S. 52. 22 Gegen die überkommene normative Auffassung der Gewaltentrennung als Sicherung einer Machtbalance findet man in der soziologisch-analytisch orientierten Betrachtung - und zwar von recht unterschiedlichen Positionen -eine eher technische Deutung: Nach K. Marx und F. Engels MEW (Berlin 1963 Bd. 5, S. 194) ist sie "im Grunde nichts anderes als die profane industrielle Teilung der Arbeit, zur Vereinfachung und Kontrolle angewandt auf den Staatsmechanismus". Eine nähere Bestimmung dieser Arbeitsteilung nimmt N . Luh.mann: Grundrechte als Institution, S. 183, Fn. 31, vor, wonach die Gewaltentrennung "einen horizontalen Fluß des Entscheidungsprozesses (Planung, Ausführung, Kontrolle) zwischen drei unabhängigen Gewalten" organisiert. 2o
2. Das Problem im klassisch-liberalen Verwaltungsmodell
143
Der Pluralismus der Problemlösungen setzt gewissermaßen unterhalb dieser Ebene an, wie es die im einzelnen unterschiedlich verlaufenden Verfassungs- und Verwaltungsentwicklungen namentlich im 19. Jahrhundert belegen. Dabei sind bestimmte Strukturentscheidungen ebenfalls nicht beliebig, sondern durch den Bezug auf die Lösung bestimmter Systemprobleme nur innerhalb einer bestimmten Bandbreite möglich. Das gilt hinsichtlich der staatlichen Entscheidungsorganisation für ein Mindestmaß an zentraler Steuerbarkeit und Kontrolle, die notwendig mit der Ausbildung bürokratisch-hierarchischer Strukturen verbunden sind. In den gleichen Zusammenhang gehört der erwähnte Gedanke von der "Legalität als Funktionsmodus der Bürokratie", womit C. Schmitt23 weniger die rechtsstaatliche Bindung der öffentlichen Verwaltung als vielmehr die allgemeine Regelhaftigkeit und Kalkulierbarkeit ihrer Arbeit als Voraussetzung entwickelter Wirtschaftsordnungen kennzeichnen wollte. Diese eher funktionale als juristische Bestimmung macht es verständlich, daß die moderne Ausformung der staatlichen Bürokratie keineswegs überall mit einer juristischen Dominanz in Verwaltungspraxis, Verwaltungsqualifikation und Verwaltungsbetrachtung einhergeht. Das vor allem für die deutsche Verwaltungstradition kennzeichnende Primat der juristischen Betrachtungsweise24 läßt sich aus spezifischen Umständen der preußischen Geschichte!S erklären und ist gerade in dieser Bindung an bestimmte kulturelle und politische Voraussetzungen ein Beleg für die mögliche Vielfalt der Innendifferenzierung sozialer Systeme, deren interne Strukturen sich nicht gleichsam im Wege einer soziologischen Deduktion auf bestimmte Umweltkonstellationen zeitlos gültig ermitteln lassen26• 27• Auf die damit verbundene These der qualifikatorischen Vgl. oben Fn. 7. H.-J. Blank: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft, S. 387 ff. 25 W. Bleek: Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. 26 Das gleiche gilt für organisatorische Lösungen, deren im einzelnen unterschiedliche Entwicklungen sich nur auf einer allgemeinen Ebene als ein einheitlicher Trend darstellen lassen, unterhalb dieser Ebene aber ein sehr abwechslungsreiches Bild bieten. Daß man sich noch zu .M'. Webers Zeit eher zu relativ geschlossenen Entwürfen in der Lage sah, wird nicht zuletzt auch auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß unter den damaligen Bedingungen Widersprüche in der gesellschaftlichen Entwicklung noch zuverlässig unterdrückt und in den Mechanismen ihrer Bewältigung durch eine geschlossen reagierende Bürokratie noch erfolgreich harmonisiert werden konnten. 27 In der Unterstellung einer entsprechenden deterministischen Ableitungskette in der Beziehung von Staatsform und historischer Entwicklung liegt bekanntlich ein verbreiteter Vorbehalt gegenüber der marxistischen Staatstheorie. Die Kritik geht dabei freilich vielfach weniger von autenthischen Quellen als von deren gemeinschaftskundliehen Popularisierungen aus. Zur theoretischen Diskussion dieses Problems hinsichtlich der Staats- und Verwaltungsfunktionen vgl. einerseits V. Range, G. Schmieg: Restriktionen politischer Planung, Frankfurt a. M. 1973, S. 270 ff. ("Das, was ist, muß 23 24
144
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
Austauschbarkeit dominierender Verwaltungsrollen wird unter 6 zurückgekommen. Zunächst interessiert der weitere Fortgang, den die nunmehr rechtsförmig-konditional programmierte öffentliche Verwaltung nimmt.
3. Strukturelle Reaktionen auf den Funktionswandel des Staates Das politische Schicksal des liberalen Staats- und Verwaltungsmodells ist in der Konsequenz des geschilderten Ausgangspunktes naheliegend an die weitere sozial-ökonomische Entwicklung gebunden. Diese ist durch einen rasch fortschreitenden Prozeß wirtschaftlicher Konzentration gekennzeichnet, der die grundlegenden theoretischen und praktischen Prämissen der Trennung von Staat und Gesellschaft zunehmend in Frage stellt. In dem Maße, in dem der klassische KonkurrenzKapitalismus an seine Grenzen stößt und der Anspruch einer sich im Marktgeschehen von selbst herstellenden Gleichheit für wesentliche Bereiche nicht mehr zu halten ist, kann der Staat seine Garantenstellung nicht mehr auf das Setzen und Gewährleisten eines Ordnungsrahmens beschränken28• Er muß in die ökonomischen Prozesse korrigierend, fördernd oder kompensierend eingreifen und wird als Instanz fortlaufender Intervention zunehmend in den gesellschaftlichen Prozeß der Produktion, Reproduktion und Distribution einbezogen29• Die Folgen dieser Entwicklung für die staatliche Entwicklung sind in der Literatur als "Funktionswandel der Verwaltung" in der Periodisierung: von der Ordnungs- über die Leistungs- zur Planungs-Verwaltung festgehalten worden30• Das trifft zwar - darauf wurde bereits hingewiesenst - in dieser ausschließlichen Abfolge nicht die Verwaltung als Ganzes. Es illustriert aber in knapper Form eine systematische Aktivierung (in bezug auf die Tradition der absolutistischen Verwalkeineswegs so sein", S. 287) und der Kritik durch M. Deutschmann: Die systemtheoretische Kritik an der marxistischen Staatstheorie. Eine methodische Antikritik, in: V. Brandes u. a. (Hrsg.): Staat, Handbuch 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 50 ff. 28 H. J. Blank: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft, S. 387 ff. 20 Der primär ökonomischen Deutung dieses Vorgangs schließt sich allerdings der Großteil des Verwaltungsiehre-Schrifttums nicht an. Die auch hier wahrgenommene zunehmende "Verschränkung von Staat und Gesellschaft" bleibt in ihren Gründen entweder unerklärt oder stellt sich als das Ergebnis einer abstrakten Komplexität der "dynamischen Industriegesellschaft" dar. Vgl. statt anderer K. Stern: Verwaltungslehre - Notwendigkeit und Aufgabe im heutigen Sozialstaat (1967), in: H. Siedentopf (Hrsg.): Verwaltungswissenschaft, S. 309 ff. (327 f.). ao Für die erste Stufe dieser Entwicklung aus juristischer Sicht grundlegend E. Forsthoff: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart, Berlin 1938; weitere Nachweise bei G. Schmid, H. Treiber: Bürokratie und Politik, S.13 ff. a1 Vgl. oben III 5.
3. Strukturelle Reaktionen auf den Funktionswandel des Staates
145
tung könnte man auch sagen: Reaktivierung32) der Verwaltung. Die Entwicklung führt von der abstrakten Regelorientierung des liberalen Rechtsstaats zur Aufgabenorientierung des Sozialstaats, d. h. zur teilweisen Ablösung der konditionalen Programmformen durch ein zweckprogrammiertes Entscheidungsverhaltens'. a) Programmebene: Funktionsverschiebung im Verhältnis von institutionalisierter Politik und Verwaltung- (Re-)Aktivierung der Zweckprogrammierung
Die Entwicklung verändert nicht nur das Verhältnis des politischen Systems zu seiner gesellschaftlichen Umwelt. Es wirkt sich auch auf die Binnendifferenzierung des politischen Systems selbst aus. Betroffen wird vor allem das Verhältnis von Parlament und Exekutive bzw. die sich darin ausdrückende Trennung von Verwaltung und Politik. Die sich beschleunigende Entwicklung rechtlich lösungsbedürftiger Probleme kann vom Parlament nur begrenzt durch eine beschleunigte Gesetzesproduktion aufgefangen werden34• Die rasche Expansion parlamentarischer Befehle läßt sich als Ausdruck eines immer gezielteren Staatsinterventionismus deuten. bie zunehmende Problemspezifizität (einfacher: der Maßnahmecharakter) der Gesetze unterstreicht diese Entwicklung. Der Funktionswandel des politischen Systems vollzieht sich zugleich als teilweiser Funktionswandel des Gesetzes, das sich in vielen Bereichen von einem allgemeinen Ordnungsrahmen zu einem zielgerichteten Instrument der Sozialgestaltung entwickelt. Die Stellung der Verwaltung bleibt dadurch nur dem äußeren Erscheinungsbild nach unberührt, weil das Parlament nach außen weiterhin als einzig verbindliche Entscheidungsinstanz auftritt. Tatsächlich aber gerät die Gesetzgebung mit steigendem Normbedarf in eine zunehmende Abhängigkeit von der gesetzesvorbereitenden (Ministerial-)Bürokratie34. Letztere akkumuliert die fachliche Kompetenz und die maßgeblichen Daten, die zur gesetzgeberischen Lösung gesellschaft32 Die Feststellung einer formalen Funktionenangleichung vom absoluten zum demokratischen Interventionsstaat ist natürlich nur vertretbar, wenn man dabei die historisch gänzlich unterschiedlichen sozial-ökonomischen Voraussetzungen des jeweiligen Staatsinterventionismus im Auge behält. 33 Zu einer entsprechenden Periodisierung auf allgemeiner rechtssoziologischer Ebene, die den zunehmend "dirigistischen" Zug des Rechts als abermalige Rückwendung vom liberalen Kontraktsrecht zum interventionistischen Statusrecht interpretiert M. Rehbinder: Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in: E. Hirsch und M. Rehbinder (Hrsg.): Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 11/1967 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und Opladen 1967, S.197 ff. 34 G. Schmid, H. Treiber: Bürokratie und Politik, S. 122 ff., S. 188 ff. m. w. N.; E. Blankenburg, H. Treiber: Bürokraten als Politiker - Parlamentarier als Bürokraten. Empirie des Entscheidungsprozesses und die Gewaltenteilung, Die Verwaltung 1972, S. 273 ff.
10 Nocke
146
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
lieber Probleme gebraucht werden, in schwer zugänglichen und politisch kaum noch wirksam zu kontrollierenden Apparaturen. Sie hat dabei zumindest die Tendenz, ihre dichter werdenden Verbindungen zu Interess~ngruppen, mit denen sie einen kontinuierlicheren und wirksameren Kontakt pflegen kann als dies den organisatorisch und zeitlich instabiler angelegten offiziell-politischen Institutionen möglich ist, gegen Einblicke und Kontrollen abzuschirmen. Im Ergebnis gelangt das Parlament mit der Expansion der Gesetzgebungstätigkeit auf quantitativ nicht unerheblichem Gebiet in die Rolle einer Bestätigungsinstanz für Vorentscheidungen, die in der Verwaltung gefallen sind. Die Auswahl zwischen konkurrierenden politischen Zielvorstellungen entscheidet sich - von zahlenmäßig wenigen, freilich politisch bedeutsamen Ausnahmen abges~hen, nicht in der parlamentarisch~n Kontroverse, sondern in der gesetzesvorbereitenden Verwaltung. Die Erhöhung der parlamentarischen Entscheidungsaktivitäten ist nur eine und- wie sich zeigt- begrenzte Möglichkeit, das Gewaltentrennungsmodell den veränderten Umständen anzupassen. Die Grenzen dieser Lösung sind einmal durch die Kapazitäten zentraler Entscheidungsinstanzen und zum anderen durch den Umstand gesetzt, daß die legislatorische Steuerung durch die Notwendigkeit abstraktregelhafter Problemlösung weder die notwendige Problemnähe noch in zeitlicher Hinsicht - die erforderliche Entscheidungsgeschwindigkeit erreichen kann. Die horizontale Arbeitsteilung zwischen den drei Teilsystemen des politischen Systems, die alle Programmierungstätigkeiten auf eine Einheit konzentriert, muß also teilweise g~lockert werden. Der damit notwendig werdende Obergang legislativer Funktionen sowohl auf die Rechtsprechung'l5 wie auf die Verwaltungl"' ist zwar spätestens mit der Kritik am Rechtspositivismus ein mehr oder minder akzeptierter Tatbestand. Der Höhepunkt dieser Entwicklung scheint noch nicht erreicht, ist aber durch aktuelle Entwicklungen mittlerweile als Problem des "Verwaltungs- und Justiz-Staats" in ein breiteres öffentliches Bewußtsein gedrungen. Die möglichen Formen dieser Selbstprogrammierung der Verwaltung waren an anderer Stelle bereits angedeutet37• Von den traditio35 Statt anderer: J. Esser: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956; ders.: Vorverständnis und Methodenwahl; P. Noll: Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 44 ff.; vgl. aber auch E. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft - dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 136 f. 38 Vgl. u. a. W. Damkowski: Zum Verhältnis von Regierung, Verwaltung und Parlament im demokratischen Staat, Die Verwaltung 1970, S. 370 ff. m.w.N. 37 Vgl. o. II 2.
3. Strukturelle Reaktionen auf den Funktionswandel des Staates
147
nellen Mitteln der verwaltungseigenen Rechtssetzung (vgl. u. a. Artikel 80 I des Grundgesetzes) abgesehen38, gehört in diesen Zusammenhang die Delegation rechtlicher Problemlösung durch gesetzlich unterschiedlich weit begrenzte Handlungsräume, die der Verwaltung in unterschiedlichen Formen (Ermessen, unbestimmter Rechtsbegriff) eingeräumt werden. Formal ist damit zwar dem Grundsatz des Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Artikel20 111 GG) genüge getan und das Programmierungsmonopol des Parlaments unter Zuhilfenahme einiger dogmatischer Kunstgriffe39 gewahrt'0 • Eine empirische Betrachtung kommt allerdings an der Feststellung nicht vorbei, daß die Verwaltung heute in Bereichen des öffentlichen Rechts in weitem Umfange nach Regeln entscheidet, die sie sich selbst erarbeitet hat und mit denen sie sich in von Bereich zu Bereich unterschiedlichen Bandbreiten im Interesse einer "sachnahe Lösung" selbst steuert. Damit wären die strukturellen Veränderungen, die sich als Frage einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung auf der Programmebene der Verwaltung eingestellt haben, in Kürze bezeichnet. Nur ergänzend angedeutet werden kann, daß die Beschränkung des Programmbegriffs auf rechtsförmige Entscheidungsgrundlagen nur einen Ausschnitt der Entwicklung erfaßt: Der Übergang vom Rechts- zum Sozialstaat, d. h. vom legal-bürokratischen zum zweckbezogen-intervenierenden Verwaltungsmodell, ließe sich unter Verwendung eines weiteren Programmbegriffs auf einer allgemeineren und gleichzeitig vollständigeren Ebene abbilden. Der Begriff der konditionalen Programmierung würde in diesem Sinne allgemein eine Form der Entscheidungsprogrammierung kennzeichnen, die bestimmte formal oder informal definierte Inputs mit den Outputs des informationsverarbeitenden Systems in der Weise verkoppelt, daß eine berechenbare und (zentral) steuerbare Entscheidungspraxis ge38 Obwohl Art. 80 I des Grundgesetzes auf einen "weitgehenden Normierungszwang für den Gesetzgeber" hinausläuft - so E. Forsthoff: Der Staat der Industrie-Gesellschaft, S. 100 - hat die Verordnungspraxis in manchen Bereichen (etwa der Subventionsverwaltung) eine erhebliche Bedeutung erlangt. 39
Vgl. o. II 2.
An diese formale Betrachtung knüpft die juristische Behandlung immer noch weitgehend an und tut sich folglich schwer, auch außerhalb der offiziellen Terminologie (Haushaltsplan, Finanzplanung, Bebauungsplan usw.) und außerhalb des anerkannten Bereichs "vorbereitender", verwaltungsinterner Planung vorkommendes, faktisch wählendes und planendes Handeln zu erkennen. Vgl. etwa H. U. Erichsen und W. Martens, in: dies. (Hrsg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin, New York 1975, S. 199 ff. Kritisch R.-R. Grauhan: Zur Struktur der planenden Verwaltung, und entsprechend für das Österreichische öffentliche Recht: M. Matzka: Rechtswissenschaftliche Bewältigung von Demokratisierungspostulaten an die staatliche Planung, Demokratie und Recht 1977, S.138 ff. (144 f.). 40
1o•
148
VI. Teil: Strukturelle und funktionale Bezüge der Qualifikation
währteistet ist. Dies kann über infonnale Verwaltungsroutinen ebenso geschehen wie durch den Versuch, Entscheidungsabläufe der Verwaltung im (letztlich wieder rechtsförmigen) Prozeß der Budgetierung über eine gezielte Verengung oder Erweiterung finanzieller Bewegungsmöglichkeiten zu steuern. Am Beispiel der Budgetierung würde sich der übergang von der konditionalen (input-orientierten) zur finalen (zweck- bzw. outputorientierten) Entscheidungsprogrammierung dadurch kennzeichnen lassen, daß sich die Verwaltungsaktivitäten nicht primär nach den finanziellen Rahmenbedingungen, sondern umgekehrt die Bereitstellung finanzieller Mittel sich nach dem Bedarf konkreter Zwecke richtet«t. Das Beispiel deutet freilich zugleich auch die Grenzen einer derartigen Entwicklung an. Natürlich entgeht auch eine sozialstaatliche Verwaltung nicht fiskalischen Restriktionen, die zumindest in den rechtsförmig-konditional organisierten Kontrollen des geltenden Haushaltsrechts, die auch bei sehr weitgehender Umstellung der Etat-Praxis (u. a. von einer Einnahmen-Orientierung zur Aufgaben-Orientierung42) noch ihren praktisch wirksamen Ausdruck findet. Die hiennit angesprochenen Schwierigkeiten, nämlich 'eine aufgabenorientierte Finanzplanung mit den Erfordernissen einer budgetmäßigen (mittel-orientierten) Entscheidungskontrolle zu vereinbaren, lassen sich in der Diskussion um Anspruch und tatsächliche Möglichkeiten des sog. Planning-Programming-Bbdgeting-System (PPBS) beispielhaft verfolgen43. Sie spiegelt die hier unter bürokratie-soziologischen Aspekten 41 C. Offe: Rationalitätskriterien und Funktionsprobleme politisch-administrativen Handelns, Leviathan 1974, S. 333 ff. (S. 336 f.) beschreibt das Ergebnis des "Konversionsprozesses" in Richtung auf eine zweckprogrammierte Verwaltung so: "Während also im ersten (bürokratischen) Modell die Inputs in der Funktion des allein maßgeblichen ,Impulsgebers' für denkbare Outputs stehen, stehen im Strukturtypus der sozialstaatliehen Verwaltungspolitik die projektierten Resultate des Verwaltungshandeins (Aufgaben bzw. ihre Erfüllung) als Beurteilungskriterium für verwaltungsinternes Handeln und Entscheiden an erster Stelle: von ihnen hängt es ab, welche Inputs man zu gewinnen und zu nutzen bestrebt sein muß. Effizienz ist hier nicht mehr durch Befolgung von Regeln, . sondern durch Bewirken von Wirkungen oder durch Erfüllen von Funktionen definiert. Unter den Gesichtspunkten konkreter Ordnungsaufgaben muß die Verwaltung ihre eigenen Inputs und Prämissen variabel gestalten, und effizient ist sie in