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German Pages 312 [316] Year 1930
WIRKLICHKEIT
MYTHOS ERKENNTNIS VON
ERICH UNGER
MÜNCHEN UND BERLIN 1930
VERLAG VON R.OLDENBOURG
Alle Rechte, einschließlich Übersetzungsrecht, vorbehalten.
Druck von R Oldenbourg, München und Berlin.
VORBEMERKUNG.
Die hier vorgebrachten Überlegungen entstammen einer philosophischen Orientierung, deren eines Kennzeichen ist: in der Undurchdringlichkeit des Mythischen dasselbe Problem zu sehen wie in den allgemeinen Unlösbarkeiten der Philosophie überhaupt. Die große Bedeutung, die dem Mythischen nach dem Gedanken dieser Schrift zukommt, liegt also zu einem Teil darin, daß der Mythos als das eigentlich auslösende Moment einer erstrebten Neuorientierung in der Philosophie selbst erkannt wurde — einer Umformung, bei der er zugleich seine eigene Aufklärung findet. Der Mythos — und notwendig er — bildet den Anlaß, die entscheidendsten Grundelemente der philosophischen Bemühung zu revidieren: die Begriffe der Wirklichkeit und der Erkenntnis. Über eine erforderliche Korrektur unseres Realitätsbildes, zu der der Mythos den kritischen Anlaß und Zugang abgibt, ist somit hier einerseits abgehandelt worden, und andernteils ist versucht worden, gerade in dieser Korrektur auf die Frage des Mythos selbst deren eigene und besondere Antwort zu finden. Dem Mythos ist in der Philosophie die Rolle zuerkannt worden, die in den experimentierenden Naturwissenschaften dasjenige jeweils wichtigste Phänomen spielt, das sich den bisherigen Theorien eben nicht einfügt und zu ihrer Umgestaltung auffordert. Allerdings ist es notwendig, daß die „Unstimmigkeit" in der Erfassung des Mythischen sich verbinde mit den anderen anerkannten Unstimmigkeiten im Bereiche der Philosophie, um durch diese Verbindung und Verstärkung die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken hinzuzwingen, dem sich trotz jener Unstimmigkeiten der Erkenntnis, kurzum trotz des
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tausendjährigen philosophischen Fehlschlags das Bewußtsein hartnäckig verschließt oder nur auf eine oberflächliche Weise öffnet: dem ernsthaften Durchdenken der Tiefen der Wirklichkeitswesenheit, das unweigerlich die vorerst rein theoretische — nicht empiristisch-okkultistisch verstandene — Idee eines „anderen" Realitätsinhalts einschließt und ihre Bedeutsamkeit erkennt — eines anderen als der ist, den die gewohnte, allzu schnell verabsolutierte Erfahrung zeigt. Im Anschluß an die Konzeptionen Oskar Goldbergs ist hier beides zu klären versucht worden. Das Merkwürdige ist nun, daß gerade diejenige Perspektive, welche diese beiden Problemkreise, den des Mythos und den der Philosophie, zusammennimmt und zusammensieht, das Sein des Mythischen und das unserer Welt als eine scharfe und radikale Zweiheit erfaßt, als ein durch eine Kluft getrenntes Gegenüber von „Welten". Die herkömmliche Betrachtungsart hingegen sondert zwar die Probleme (indem sie etwa das Mythische als eine relativ „untergeordnete" und das Realitätsproblem überhaupt als eine selbständige, zuerst und für sich zu behandelnde Frage nimmt, „auf Grund" deren dann die mythische entschieden werden mag), kennt aber doch dessenungeachtet nur die eine, homogene und einheitliche Erfahrimg, die unsere, und versteht den Mythos immer nur als ein Akzidens, als eine geistige Ausstrahlung dieser einen und einhelligen Welt: diese unternimmt sie zu konstituieren, ohne auf ein dem Mythischen Entsprechendes irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Tatsächlich ist ja z. B. eine rein-philosophische Position wie die des Neukantianismus auch völlig unabhängig und vor ihrer Interpretation des Mythos möglich gewesen. Anders in der hier vorgelegten Systematik, welche schon unsere eigene Erfahrungsrealität unter einem das Mythische (oder ein ihm Äquivalentes) einbeziehenden Aspekt begreift, dabei aber zugleich der weltweiten Distanz zwischen jenen beiden Regionen Rechnung zu tragen hat. Mit dem Gesagten sind die drei Teile dieser Arbeit im ganzen gekennzeichnet. Im einzelnen unternimmt es der erste Teil der Schrift — nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der gegenIV
wärtigen Mythenforschung — als die in seiner Thematik „Mythos und Realität" charakterisierte positive Aufgabe, die konkrete Möglichkeit zu entwickeln, in der ein mythischer Phänomenkomplex der Form der Realität nicht widerstreitet und so dem Mythos sein uneingeschränktes Eigenrecht, das ihm die Mythendeutung an irgendeinem Ende notwendig verkürzen mußte, zurückzugeben. Der zweite Teil gibt in einer ersten Zusammenfassung diejenige Ausweitung des allgemeinen erkenntnistheoretischen und ontologischen Hintergrundes, die notwendig wird, wenn das, was der Mythos zum Wesen der Wirklichkeit beitragen kann, nicht mehr wie bisher aus dem Begriff der Realität und dem der Erkenntnis herausbleibt, sondern in die denkund seinsmäßigen Grundlagen aufgenommen wird. Die Überlegung, die, in dieser Richtung vorgehend, vor die Aufgabe gestellt wird, überhaupt erst einmal diejenige Gestaltung des Bewußtseins zu ermitteln, die auch nur formal die Bedingungen eines „ p r o b l e m l ö s e n d e n B e w u ß t s e i n s " erfüllt, gerät mit der Auflösung dieser Aufgabe in den Bereich eines kulturphilosophischen Konflikts und damit an den letzten Grund, warum derartige Aufgaben gar nicht in Angriff genommen werden konnten. Die Beobachtung, daß es Grenzen der erkennenden Bemühung gibt, die nicht so sehr in der Natur des zu bewältigenden Gegenstandes als vielmehr in einer bestimmten kulturellen Struktur wurzeln, die in der gerade ihr eigentümlichen organismusartigen Funktionsverteilung ihrer sog. „ G e b i e t e " besteht, wie Wissenschaften, Philosophie, Dichtung, machte die Problematik dieser Gebiete und damit die von Kulturtypen wie der der mythischen und der unmythischen akut. Am Paradigma des Gebiets und Kulturphänomens der D i c h t u n g wurde durch Zurückführung des Gebiets auf die ihm zugrunde hegende geistige A n l a g e , das konstruierende Vermögen, die alternative Richtung auf so gegnerische Kulturverfassungen sichtbar gemacht, es wurde die enge und höchst unharmonische Beziehung zwischen Dichtung und Erkenntnis verfolgt und im erkenntnistheoretischen Felde die F r a g w ü r d i g k e i t der D i c h t u n g im H i n b l i c k auf das Schicksal der P h i l o s o p h i e aufgezeigt. Auch hier konnte auf das
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Mythische als auf die dem Geiste der dichterischen Kultur entgegengesetzte Form des Bewußtseins verwiesen werden. Die Bedeutung dieser Fragen hat diesem Teil die Kennzeichnung „die Philosophie und die Dichtung" gegeben. Der dritte Teil, „die Philosophie und die Wissenschaft", hat es zunächst in einer gesonderten Betrachtung mit dem Prinzip und der Idee der Wissenschaft und mit der Beantwortung der Fragen zu tun, die die Philosophie als Wissenschaft an die hier begründeten Methoden und Ergebnisse zu stellen hätte. Im Zusammenhang mit dieser Legitimierung ist dann die Untersuchung der Darstellung der konkreten Konsequenzen einer das Mythische auswertenden und durch dieses aufmerksam gewordenen Überlegung für unsere eigene Erfahrungswirklichkeit gewidmet: es erhebt sich ja für unsere Welt in neuer Umformung eben das Problem, als dessen eine Lösung der Mythos begriffen werden konnte. Die Analyse dieser Lösung und ihre erkenntnistheoretische Berücksichtigung aber gibt uns vielleicht die Mittel an, die zu Handhaben für die Inangriffnahme der Aufgabe der Philosophie selbst werden können. Die drei Teile des Ganzen üeßen sich demnach dahin kennzeichnen: der erste gilt dem Mythos unter der Perspektive der Realität, der letzte unserer Wirklichkeit unter der Perspektive des Mythos, der mittlere der wechselseitigen Beziehung zwischen beiden, der übergeordneten Sphäre ihrer Einheit, die auch die Wurzel ihres Gegensatzes enthält.
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INHALTS-VERZEICHNIS.
I. TEIL. MYTHOS UND REALITÄT.
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Einleitung. Die gegenwärtige Mythenforschung Oswald Spengler Ernst Cassirer Dürkheim. Levy-Brühl Die psychoanalytische Mythendeutung I. Kapitel. Die vorläufige Wesensbestimmung des Mythischen . . II. Kapitel. Hypothetische Vorwegnähme des Resultats : Bestimmung der mythischen Realität A. Bestimmung der mythischen Realität B. Das Wunder und die Konstanz der Wirklichkeit (betrachtet nach Goldberg)
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II. TEIL. DICHTUNG UND PHILOSOPHIE. Einleitung. Die Dichtungs-Deutung des Mythos und der Mißerfolg der Philosophie 103 I. Kapitel. Die Betätigungs-Gesamtlieit der Bewußtseins-Vermögen. Notwendigkeit und Grundlage einer Kritik legitimierter Kulturgebiete 129 II. Kapitel. Erkenntnis als Wirklichkeitsherstellung. Ontologische Grundlage: Die Goldbergschen Seins-, Möglichkeits- und Herstellungs-Begriffe 143 III. Kapitel. Das Problem als Kennzeichnung von Real-Sachverhalten und als „leere Tatsache". Die Real-Objekte der echten Probleme als die Tatsachen der Philosophie. Philosophie und Okkultismus. Unendlichkeit, Konkretion und Erfahrung 148 ÏV. Kapitel. Korrektur des Schemas: Wirklichkeit — Denken durch das Schema: Wirklichkeit — Denken — Wirklichkeit. Der organismusartige Zusammenhang der Bewußtseinsvermögen . . 164 V. Kapitel. Die bewußtseinstheoretische Legitimierung außerempirischen Realseins. Dichtung und Erkenntnis als Fragmente der zerrissenen Betätigungsganzheit der Bewußtseinsanlagen . . . . 1 7 2
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VI. Kapitel. Der Mythos als eigentliches Vorstellungsparadigma des Ziels der Philosophie 188 A. Das mythische Bewußtsein als die ursprüngliche Bewußtseinsganzheit 188 B. Die mythische Realität als die ursprüngliche Erfallungsrealität 192
III. TEIL. PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT. Einleitung. Kurze Zusammenfassung der erkenntnistheoretischen Systematik auf Grund der ontologischen Prinzipien Goldbergs. 197 I. Kritik des Begriffs der Wissenschaft in der Philosophie. . . . . 204 I. Kapitel. Das Dilemma zwischen Wissenschafts-Charakter und Antwortfähigkeit in der Philosophie 204 II. Kapitel. Die Rezeptivität als Merkmal der Wissenschaft 209 III. Kapitel. Die Wissenschaftsbedeutung der Spontaneität . 2x5 IV. Kapitel. Der Begriff des Unendlichen auf Grund der philosophischen Prinzipien der Goldbergschen Ontologie. Die volle Spontaneität als Merkmal des Wissenschaftsbegriffs der Philosophie 227 II. Metaphysik, Erfahrung, „Erfahrbare Metaphysik" 237 I. Kapitel. Traditioneller Gebrauch des Begriffes Metaphysik. Sein Gegensatz 237 II. Kapitel. Die Einheit „der" Erfahrung und die Mehrheit von Erfahrungssystemen. Der Übergang zwischen a priori und a posteriori 240 III. Über Wirklichkeits-Umformung. Ihrnicht-einzelwissenschaftlicher Charakter. Ihr Angriffspunkt: Die psychophysische Anlage. Die Goldbergsche Idee eines „Experimentes der Philosophie" . . . 245 I. Kapitel. Die psychophysische Anlage als Wirklichkeitsmitte 245 II. Kapitel. Die Ganzheitsverflochtenheit der psychophysischen Anlage 273 III. Kapitel. Die philosophische „Einstellung" als Keim des philosophischen Experiments 280 IV. Die naturphilosophische und erkenntnistheoretische Sachlage. . 285 Edgar Dacqué 285 Pragmatismus 291 Neukantianismus (Cohen) 293 Gegenstandstheorie (Meinong) 295 Phänomenologie (Husserl) 297 Mathematische Naturwissenschaft (Weyl u. a.) 298 Heidegger 300
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I. TEIL. MYTHOS UND REALITÄT.
EINLEITUNG.
DIE GEGENWÄRTIGE MYTHENFORSCHUNG.
Immer häufiger taucht in der Literatur unserer Tage ein Wort auf, das, noch vor Jahrzehnten ohne jede repräsentative Bedeutung, allmählich geradezu ein Ausdruck der kulturellen Zeitstimmung zu werden scheint — das Wort: Mythos. Nachdem dieser Begriff zuletzt etwa zu Zeiten Schellings die Geister intensiver beschäftigt hatte, trat er beinahe während eines ganzen ihm feindlichen Jahrhunderts in den Hintergrund zurück und erst in den geistigen Äußerungen der gegenwärtigen Generation scheint er erneute Bedeutung zu gewinnen. Anfänglich wurde das Wort Mythos in einem ekstatisch-unbestimmten Sinne in der jüngeren Dichtung und in einer in ihrem Bannkreis erwachsenden Weltbetrachtung wieder vernommen, dann fiel es mit zunehmender Häufigkeit, aber nicht präziser gebraucht, in geschichtsphilosophischen Betrachtungen, und zuletzt wanderte es aus der peripheren Verborgenheit seines spezialwissenschaftlichen Standorts zuweilen schon in das Zentrum des philosophischen Bewußtseins unserer Tage. Philosophen und Psychologen machen das Mythische zum Gegenstand der Forschung, und es gibt kein geschichts- und kulturphilosophisches Werk von Rang, in dem nicht versucht wird, den Mythos mit anderen Augen zu sehen als bisher. Es ist seltsam, wie groß die Affinität des Zeitalters zu diesem Begriff geworden ist und wie fremd es ihm zugleich gegenübersteht. Es ist, als merkte man einen tiefen, unüberbrückbaren Gegensatz, der die kulturelle Atmosphäre unserer Epoche von irgend etwas Entlegenem, Andersartigem trennt, das man mit dem Wesen Mythos kennzeichnet, und als fühlte man einen Zwang, zu diesem Wesen in irgendeine Erkenntnis- oder Eri*
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lebnisbeziehung zu treten, weil es vielleicht etwas enthält, was uns fehlt1). Es ist so, als ahnte man im Mythos einen uns verborgenen geheimnisvollen Gegensatz zu unserem Denken und Sein, den man gerade deshalb notwendig durchdringen müsse, um an ihm uns selbst, unsere Zeit und Geschichte erst recht zu begreifen. Dabei begibt sich nun etwas Merkwürdiges: Obwohl man das Mythische gerade wegen seiner Ferne und Fremdheit zu unserer rationalen und gewohnten Geistesart aufsucht, so verwandelt sich doch dieser, nur als Geheimnis (und zwar als enthüllbares), wertvolle Begriff unter den Händen seiner Erforscher in etwas, das schon von Anbeginn gar nicht so fern von uns liegt — er verwandelt sich unter der Perspektive seiner heutigen Betrachter in eine Art unechten Mysteriums, das zwar das Ansehen und die Bedeutsamkeit des echten und wirklichen, aber die allzu einfache Lösbarkeit des scheinbaren Rätsels besitzt. Dieses seltsame Zerfallen des Problems des Mythischen — diese schon im vorhinein präparierte Fassung der Problematik in einem Sinne, daß sie nicht in ihrer ursprünglichen, d. i. aber in ihrer schwierigsten Form gestellt wird — ist eine durchgängig zu beobachtende Erscheinung der gegenwärtigen Forschungsarbeit am Mythos, und unsere erste Aufgabe wird sein, das zu erweisen. Welches ist nun diese ursprünglichste und unzugänglichste Gestalt des Problems: Mythos ? Es ist zweifellos diejenige Form, in der sich der Mythos selbst gibt: die Form, in der er uns entgegentritt, wenn wir uns radikal jeder Deutung enthalten, indem wir seine wortwörtliche, buchstäbliche, textliche Gestalt als die uns aufgegebene Fragwürdigkeit anerkennen. Nur so, nur wenn wir Problem und Deutung, Frage und von uns zu gebende Antwort eine Zeitlang auseinanderhalten können, werden wir davor bewahrt, vorsorglich und nicht ganz redlich schon in der Frage, schon im Problem unsere Antwortskonstruktion heimlich vorzubereiten und anzulegen, weil wir unwillkürlich voraussehen, was für Antworten wir überhaupt geben können. Wir lassen die volle „Irrationalität" und Undurchdringlichkeit Symptomatisch hierfür Schriften der Art wie R. K a y s e r s „Die Zeit ohne Mythos".
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des Mythos sozusagen gar nicht erst zu Worte kommen und sind schon mit irgendeiner Auskunft bei der Hand, in dem dunklen Bewußtsein, wir möchten mit gar keiner Auskunft mehr bei der Hand sein, wenn wir den Mythos „ausreden" ließen. Das mythische Dokument seinen ganzen Sinn aussprechen lassen aber bedeutet: beim Erfassen der mythischen Aussage gerade auf einen Akzent hinzuhören, den zu überhören, den als nichts zu achten für uns beinahe ein Zwang besteht: Die volle Irrationalität des Mythos, das Maximum der Unzugänglichkeit für uns kann logischerweise in gar nichts anderem bestehen als darin, daß das mythische Dokument für alle seine fremdartigen Inhalte, für alle (in unserer Erfahrungswelt nicht anzutreffenden) Wesen und Ereignisweisen in Anspruch nimmt: daß sie W i r k l i c h k e i t seien. Dieser Wirklichkeitsakzent erst macht überhaupt den seltsamen Bericht aus Urzeiten zum eigentlichen Mythos. Ohne diesen Anspruch, die Welt und die Dinge so darzustellen, wie sie buchstäblich wirklich sind oder waren (und mögen sie uns noch so rätselhaft dünken) — ohne den Charakter der Realitätsbehauptimg über das Wunderbare im mythischen Dokument, verlöre der Mythos seine eigentliche Kraft und sein eigentliches Wesensmerkmal: von den Göttern und ihren Taten zu reden, ohne in dieser Rede selbstverständlich mitzubehaupten, sie e x i s t i e r t e n objektiv und wirklich — das hieße für den Mythos seinen eigentlichen und innersten Sinn verlieren. Das wissen wir natürlich auch — und darum hat unser Bewußtsein eine sehr interessante Technik herausgebildet, sich mit diesem Signum der Realität im Mythos abzufinden: indem wir es vernehmen — und nicht vernehmen. Das Wesen und die Vorstellung „Wirklichkeit" bildet ohnehin den schlupfwinkelreichsten Komplex, birgt einen wahren Hexensabbat der Vieldeutigkeiten, und man kann die Mythenforschung aus ihrem immer neuen Versteck in diesem labyrinthischen Begriffsgebäude „Wirklichkeit" nur aufspüren, wenn man alle Kammern in ihm kennzeichnet. Die Wissenschaft weiß selbstverständlich um dieses Realitätssignum der mythischen Aussage, und es ist daher sehr interessant, zu sehen, wie jeder neue wissenschaftliche Angriff auf den Mythos immer mehr bestrebt ist, dem Wirklichkeitsanspruch
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des Mythos irgendwie Genüge zu tun, ohne ihn doch von Grund aus und voll anerkennen zu können. Und in der Tat steht ja unser Bewußtsein, wenn es überhaupt dem Mythos ernstes und unvoreingenommenes Gehör schenken will, vor einem kaum auflösbaren Dilemma: dort der Versuch, sich in den Geist des Mythischen ganz hineinzuversetzen mit der untrüglichen Empfindung, dieser Geist enthalte als Wesensmerkmal die Forderung: in seinen fremdartigen Gebilden Wirklichkeit zu sehen — hier unsere unbezwingliche eigene Wirklichkeit, deren inniges Eingeprägtsein in unserem Bewußtsein ein restloses Hineinversetzen in eine Realität der mythischen Inhalte nahezu zur Unmöglichkeit macht und uns nur eine schauspielerische, künstlerische, zwiespältig reflektierende Als-Ob-Versenkung — aber nimmermehr ein ernsthaftes, ein naives, ein — wissenschaftliches Nacherleben gestattet. Denn jede Vertiefung in einen fremden Seelenzustand stößt an eine Grenze, jenseits deren der quasi-eigene, aber noch fremde Zustand zum naiv-eigenen wird. Die oft sehr geistreichen Konstruktionen, die wir betrachten werden, sind aus keinem anderen Grunde erdacht als dem, das Kunststück zuwege zu bringen, möglichst weitgehend von der „Wirklichkeit" der mythischen Inhalte reden zu dürfen, ohne doch für einen letzten und eigentlichen und drastischen Sinn dieser „Wirklichkeit" einstehen zu wollen oder zu können. Dieses Bestreben der Wissenschaft, „irgendwie" dem Realitätsanspruch des Mythos zu genügen, ist allerdings relativ neu, denn diese Tendenz stellt die Reaktion auf eine aufklärerisch-rationalistische Epoche der Philosophie dar, welche dem Mythischen und seiner Realitätsproblematik gegenüber einen recht summarisch verfahrenden Hochmut bewies, den man heute nicht mehr gern zeigt. Zu Zeiten Kants und zu denen Cohens, deren Stellung zum Mythischen symptomatisch für ganze Zeitalter ist, betrachtete man das Phänomen „Religion" mit einem Blick, der alles „Mythologische" in ihr sehr gering ansah, als die „tiefste, erste, primitivste Stufe" einer religiösen Auffassung, als das wertmäßig, geistig „unterste" Stadium der religiösen Entwicklung, die zu einem Punkt führte oder führen sollte, dem man selbst in der Aufwärtsbewegung des Menschengeistes erheb-
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lieh näher stand: zum Zeitpunkt einer von allem „bloß" Mythologischen „gereinigten", vom Phantasiegerank des mythologischen „Beiwerks" „geläuterten" reinen „Vernunftreligion", die frei von den abergläubischen mythologischen Behelfsmitteln der Vorzeit den „inneren Kern", die gedankliche essentia der mythologischen Schale enthielt: das E i g e n t liche, das in den Fabeln des Wundergewirrs eigentlich verborgene „ G e m e i n t e " : die rein geistige Religion, den ethischen Satz oder die philosophische Wahrheit der Metaphysik. Dies war die ehrliche, mythenfeindliche Meinung des 18. und größtenteils auch des 19. Jahrhunderts, die rationalistische Überzeugung, die aus der Welt und Wirklichkeit, in der sie lebte, keinen Hehl machen konnte und die fand, daß diese Wirklichkeit gegen den Mythos sprach. So eindeutig, klar und reinlich blieb die Sachlage nicht. Die Begrenztheit des aufklärerisch-rationalistischen Standpunkts mußte unvermeidlich bemerkt werden, der Geist war umfänglicher, war weiter als die Enge dieser Perspektive, und so mußte zumindest eine T e n d e n z , eine N e i g u n g entstehen, anderes, dem bloß Rationalen Entgegengesetztes in Philosophie, Religion und Mythologie auszusagen: in der Romantik, der Mystik, dem Irrationalismus erschien die Gegenbewegung, die dem Mythos freundlich, ehrfürchtig, Tiefen ahnend gegenüberstand. Aber nicht solch ein dialektisches Widerspiel des Geistes ist hier das Bemerkenswerte, sondern dieses: die Feindschaft des Rationalismus gegenüber dem Mythos war ehrlich und einheitlich — die Freundschaft des Irrationalismus zum Mythischen ist unzuverlässig und doppeldeutig. Denn hinter beiden so verschiedenen Weltänschauungen, hinter Aufklärung und Mystik, s t e h t die gleiche W i r k lichkeit. Und mochte die Fähigkeit des Geistes „hineinzusehen", zu deuten, das Wirkliche zu interpretieren noch so einflußreich auf das, was „Wirklichkeit" heißt, sein — an einem prallte jede Deutungskunst hoffnungslos ab: die m y t h i s c h e Realität sieht entscheidend anders aus als die „ u n s e r e " , und unsere Welt paßte ohne angestrengte Deutungsarbeit besser, „ungezwungener" zum mythenfeindlichen Rationalismus als zur mythenfreundlichen Mystik. Wunder geschehen in unserer Welt nicht, und die stumme daseiende
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Wirklichkeit spricht überzeugender als alle „bloße" Argumentationskunst, und da sie den phantastischen Behauptungen des Mythos widersprach und also dem Geiste der Aufklärung recht gab, so war Rede und Realität in diesem einheitlich — zwiespältig aber im vorhinein im Geiste der Mystik, dessen Behauptimg sich nicht mit der immythischen Welt zusammenreimte, in der auch er lebte. So entstand bald ein eigentümlich Drittes zwischen den Tendenzen der Ratio und der Mystik. Die Mystik war suspekt und der Rationalismus gewöhnlich — da wurde eine neue Art der geistigen Haltung ausgebildet, die zugleich unserer Realität und der mythischen Behauptung gerecht zu werden schien: eine bestimmte Unverbindlichkeit in Dingen des Wirklichseins — eine Methode, den Begriff „wirklich" zu handhaben, so, daß man den Forscher, der da vom Mythos sprach, nicht ohne weiteres „stellen" konnte, um klar zu erfahren, wie er das „wirklich" gemeint habe. Es begann sich, wie gezeigt werden soll, um das Wort und den Begriff „Wirklichkeit" eine nebelhafte Verschwommenheit zu breiten, die durchaus nicht etwa immer mala fide von den Denkern erzeugt ward, um künstliche Dunkelheit in das Problem des Mythischen zu tragen, sondern die gleichsam „von selbst" aus dem unbewußten Streben der Forschung entstand, sich mit neu definierten Begriffen zwischen Mystik und Aufklärung hindurchzuwinden, zwischen der Scylla des Okkulten und der Charybdis der Flachheit. Man wollte durchaus die Wirklichkeit der mythischen Aussage so weitgehend als möglich wahr haben — aber man konnte das doch andererseits nicht, ohne der realen Gestalt unserer Daseinswelt Gewalt anzutun, — so ward, damit nichts unversucht bleibe, ein seltsamer und absurder Ausweg beschritten: da man weder entschlossen die Partei des Mythos noch die unserer Erfahrung ergreifen, sich mit keiner der widerstreitenden Positionen von Herzen verfeinden wollte oder konnte, so ging man, da nur noch dies übrig blieb (absichtlich oder unbewußt, großsprecherisch oder scharfsinnig, jedenfalls gezwungen), gegen den Drehpunkt des Streites selbst vor: gegen das Wesen der Realität. Der Realitätsbegriff selbst mußte depraviert werden, er kam gründlich dabei zu Schaden. Die merkwürdige 8
Metaphorik, Nicht-Präzision, Nicht-Buchstäblichkeit und Unanalysiertheit, der trübe Halb- und dann wieder Doppelund Mehr-Sinn dieses zentralen Begriffs „Realität", sein wahrhaft dichterischer Gebrauch auch in den wissenschaftlichen Auslassungen, kurzum die überall als Hilfsmittel sich darbietende Vermeidung einer entschlossenen und unzweideutigen Stellungnahme in Fragen der Wirklichkeit ist das interessante Auswegs-Phänomen, das wir nun an einigen gegenwärtigen Versuchen, das Wesen des Mythos unserem Bewußtsein näherzubringen, nachweisen wollen. Oswald Spengler. Der Philosoph der Kultur und der Geschichte trifft sozusagen als erster auf den Mythos. An seinen Gedankengängen also werden wir das eben Behauptete zu belegen haben, und nichts ist dafür paradigmatischer als die Betrachtungsweise des genialen, sicherlich für unser Zeitalter repräsentativen Kulturphilosophen Spengler. In seinem berühmten Werk heißt es : „Die lichtumgebenen Engel des Fra Angelico und der frührheinischen Meister und die Fratzengesichter an den Portalen der großen Dome erfüllten »wirklich'1) die Luft. Man sah sie, man fühlte überall ihre Anwesenheit. Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythus ist, nämlich nicht ein ästhetisch bequemes Sich-Vorstellen, sondern ein Stück leibhaftiger Wirklichkeit, das ganze Wachsein durchwühlend und das Dasein bis ins Innerste erschütternd. Was wir heute Mythus nennen, unsere literaturgesättigte Schwärmerei für gotische Farbigkeit, ist nichts als Alexandrinismus. Damals ,genoß' man nicht, der Tod stand dahinter. Es war in der Antike ganz ebenso. Die homerischen Gestalten waren für den hellenisch Gebildeten nichts als Literatm:, Vorstellung, künstlerisches Motiv, und schon für die Zeit Piatons nicht viel mehr. Aber um 1100 brach ein Mensch vor der furchtbaren Wirklichkeit der Demeter und des Dionysos zusammen." Diese Sätze, in denen alles auf die Unterstreichung der Wirklichkeit im Mythos abgestellt ist, hören sich ganz so an, als ob der Verfasser die l
) Sperrungen im Zitat von mir.
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mythischen Inhalte als Realität gegen ihre Geltung als bloße Kunst und als bloße Vorstellung verteidigen wollte. Sie müssen und sind auch so aufgefaßt worden1). „Leibhaftige Wirklichkeit" — sollte man nicht mit diesem Wort vorsichtiger sein und sparsamer mit diesem letzten Ausdruck äußersten Objektivseins? Ist nicht, wenn man nicht geradezu metaphorisch redet, Wirklichkeit, und nun gar „furchtbare" oder „leibhaftige", der Terminus, der für das weitest mögliche Absehen von allem Subjektiven reserviert ist? Es ist doch das Zeichen für etwas, das wir ebenfalls gar wohl kennen: wenn wir etwa von der Wirklichkeit der Person des Fra Angelico selbst oder der Existenz der Portale der gotischen Dome selbst überzeugt sind. Indessen diese wahrhaft leibhaftige Wirklichkeit meint nun aber Spengler doch nicht. Das wäre wohl auch ihm etwas zu leibhaftig. Er will nicht sagen: die Engel des Fra Angelico waren wirklich, die Fratzenwesen existierten real auch außerhalb der Sphäre ihres Bildseins oder ihres Geglaubtwerdens. Diese Stufe der Realität gibt es ja aber doch auch, und es gibt oder könnte mindestens auch eine philosophische Position geben, die es gerade auf diese äußerste Art der Realität im Bereich des Mythischen abgesehen hätte, die allein den Namen einer leibhaftigen verdient und die hier nicht von Spengler gemeint ist, obzwar seine Worte so klingen. Eine solche Philosophie allein hätte das Recht zu Spenglers Worten. Alle nicht zu dieser greifbaren Wirklichkeit gehörige Realität ist aber doch wieder nur eine Realität in der Vorstellung — und so bedeuten Spenglers Sätze eine Gleichsetzung und Vermengimg von „wirklich" und „für wirklich gehalten", „geglaubt". Gewiß, die Vorstellung als solche kann in der Intensität abgestuft sein — sie kann blaß, ästhetisch, künstlerisch reflektiert, schattenhaft und sie kann naiv, sinnenhaft, leuchtend, der Wirklichkeit ähnlicher sein. Re vera meint Spengler diesen Unterschied, er meint im Grunde, die Menschen der mythischen Epoche hielten den mythischen Inhalt für wirklich. Das ist zweifellos wahr und wird wohl von niemand mehr beJ ) D a c q u 6, auf dessen Stellung wir späterhin zurückkommen werden, zitiert in seinem Werk: „Urwelt, Sage, Menschheit" diese Betrachtung Sp.s mit völligem Recht in diesem Sinne, den sie auch drastisch genug nahelegt.
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stritten. Hätte er es aber nur in dieser nüchternen Klarheit gesagt, so hätte er nicht etwas mitschwingen lassen können, woran ihm und dem Zeitalter, in dem er schrieb, sehr viel lag: die Tiefen erschließende Bejahung, das verstehende Geltenlassenwollen der Realitätsbehauptung, die der Mythos über seine Gestalten aussagte — er hätte ohne jene etwas affektuöse Betonung und exakt von ihm nicht vertretbare Übertreibimg der Wirklichkeit der mythischen Inhalte sich auch nicht gar so drastisch gegen die geringgeschätzte Meinung abheben können, die im Mythos — was immer dieser von sich selbst denken mag — nur eine Wirklichkeit in der „Vorstellung" sieht — eine Meinung, die Spengler doch letzten Endes teilen muß, weil ein denkbarer Übergang von der Vorstellungswirklichkeit zur objektiven Realität der mythischen Inhalte ja gänzlich außerhalb des von ihni betretenen Bodens liegt. Aber auch eine letzte Möglichkeit, die Berufung auf die erkenntnistheoretische Problematik, die etwa besagen würde: es gibt überhaupt nur Wirklichkeit f ü r . ., nur Realität in bezug auf ein Subjekt — warum also sollten wir nicht von der „Wirklichkeit" der mythischen Dinge für den mythischen Menschen mit Fug reden ? —: auch ein solches Verbergen hinter den Schwierigkeiten der Erkenntnis hülfe hier nichts: denn diese Beziehung von Objekt zu Subjekt läßt bekanntlich alle jene weiterhin möglichen Grade und Stufen des Realseins und vor allem den vielleicht unüberbrückbaren Sprung zwischen der Wirklichkeit in der Vorstellung und der leibhaftigen Wirklichkeit völlig bestehen und unberührt: auch wenn alle Wirklichkeit Wirklichkeit für ein Subjekt ist, so ist auch „für" dieses Subjekt weiterhin diejenige Art der Realität, die wir als die drastischste der greifbaren Welt kennen, wohl unterschieden von allem Wirklichsein, an dem das Subjekt eben mehr beteiligt ist als an dem Dasein von Stein und Baum, und es würde nach wie vor die Frage stehen bleiben: wollen jene Sätze der Realität des Mythischen zustimmen im Sinne der Realität von Stein und Baum oder vielleicht doch nur (wie wir glauben) in dem einer wenn auch noch so gesteigerten Imagination von Realem ? Dieser Gegensatz kann von entscheidender Bedeutung werden, und so ist denn die erkennende Absicht, die sich auf Ii
den Mythos richtet, genötigt, zu Spenglers temperamentvoller, aber über die eigentlichen Unterschiede hinwegwischenden Definition pedantische Korrekturen zu machen. E r n s t Cassirer. Ganz die gleichen unentschiedenen Umrisse des Begriffs vom Mythos und seinem Realsinn, die bei Spengler noch durch den nur kurzen und durch andere Aufmerksamkeit abgelenkten Blick erklärt werden können, den er für diesen Gegenstand übrig hat — ganz die gleiche schwebende Unbestimmtheit des Wesens Mythos und Realität finden wir nun erstaunlicherweise durch ein langes und ausführliches wissenschaftliches Werk hindurch festgehalten, das gar nichts anderes als die philosophische Erfassung des Mythischen zum Gegenstand hat: Ernst C a s s i r e r s Schrift „Das mythische Denken". Dieser Philosoph hat als einziger unter den Anhängern und Fortsetzern der neukantischen Welt- und Wissenschaftsbetrachtung die Fruchtbarkeit dieser erkenntnistheoretischen Position für eine Auseinandersetzung mit dem Problem des Mythos erkannt, und er hat diese Gelegenheit in scharfsinnigster Weise ausgenutzt. Das ist um so bemerkenswerter, als er hierin eigentlich folgerichtiger verfahren ist als der Begründer dieser Erkenntnistheorie, als Cohen selbst. Dieser hatte, wie schon erwähnt, in allzu dichtem Anschluß an Kant und die Denkungsart des 18. Jahrhunderts den Mythos und die Vernunft noch kurzerhand für schlechthin unvereinbare Dinge gehalten — sein Schüler aber hatte bereits bemerkt, daß diejenige Fassung, die der Neukantianismus der Vernunft und dem objektiven Bewußtsein gegeben hatte, eine solche E n t f e r n u n g zwischen das Bewußtsein und die „Realität" gelegt hatte, daß, im selben Maße als das naive vorwissenschaftliche Welt- und Existenzetwas unverbindlich für das wissenschaftliche Bewußtsein wurde, in derselben Weise, als es ihm den bestimmten G e g e n s t a n d der Realität nicht mehr vorschrieb, es auch aufhörte, ihm bestimmte V e r b o t e im Bereich des Seins auflegen zu dürfen, wie es der Mythos für die ursprüngliche kantische Philosophie gewesen wäre. Cohen hatte, noch einen Grad näher an Kant, insgeheim doch in diesem Punkte das naive Realitätsempfinden von unserer
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allgemein vorgefundenen Welt mit der Vernunft, wenn auch per nefäs, identifiziert — Cassirer, vorsichtiger und vom neukantischen Gesichtspunkt aus konsequenter, unterscheidet zwischen Vernunft, Erkenntnis und Wissenschaft einerseits und Bewußtseinsstruktur andererseits und interpoliert andere mögliche Verbindungen zwischen vorwissenschaftlichem Gegebensein und Erkenntnisorganisation. Damit gewinnt Cassirer einen entscheidenden Vorteil über alle Mythenerklärungsversuche seiner Zeit: er erklärt den Mythos aus dem Bewußtsein und doch nicht psychologisch. Psychologische Deutung — das hieß soviel als die naheliegendste trivialste Analyse der mythischen Aussage als bloßen Bewußtseinsprodukts mit allen Willkürlichkeiten, Beliebigkeiten und Unverbindlichkeiten, die ein schrankenloses Imaginieren eben mit sich bringt. Und selbst wenn in den mythischen Schöpfungen nach einer mehr oder minder bestimmten Regel phantasiert würde, so blieben sie doch eben „bloße" Phantasiegebilde, d. h. ihre Realbehauptung bliebe objektiv für nichts zu achten. Gerade diese Realbehauptung der mythischen Aussage über ihre Inhalte aber wollte der Geist der Zeit tunlichst verifiziert haben: der Mythos sollte sich mit irgendeinem Recht für Darstellung von Wirklichem ausgeben. Diesem Anspruch, diesem Zuge der Mythenforschung mußte eine Welt- und Wirklichkeitsbetrachtimg wie die neukantische gerade sehr gelegen kommen: unternahm sie doch eine ganz allgemeine, weitest mögliche Umsetzimg und Ersetzung des Wirklichen durch das wissenschaftlich Gedachte, löste sie doch Wirklichkeit in Erkenntnis auf in einem solchen Grade, daß die Wirklichkeit nur als die unendliche Aufgabe ewig dem Erkennen vorschwebend blieb. Besinnen wir uns einen Augenblick auf das Charakteristikum der neukantischen philosophischen Konzeption: es ist eine Steigerung des schon von Kant grundsätzlich begonnenen Aufbaues der objektiven „Erfahrung" und „der Natur", eine Fortsetzung der Konstruktion des erfahrbaren Gegenstandes aus Elementen des Bewußtseins. Wie ist Natur mögüch? fragt Kant und antwortet mit einer Konstruktion der Naturgrundlagen aus Bewußtseinsgegeben13
heiten, aus Kategorien, Formen der Sinnlichkeit und beider Verknüpfungsschematik, Bewußtseinsdaten, die allerdings nur zu einem Teil Natur und Erfahrung konstituieren, in denen als anderes Bestandstück noch das „Ding an sich" steckt. Hier setzt der Neukantianismus mit einer Extremisierung des kantischen Verfahrens ein: Gegenstand, Erfahrung und Natur werden ohne eine Zuhilfenahme des Ding an sich rein aus dem Bewußtsein heraus „erzeugt", natürlich nicht in einem metaphysisch-illusionistischen, sondern in einem logisch Gegenstände setzenden Sinne: Das Denken erzeugt seinen Gegenstand selbst, und da es nicht das willkürlich behebige Denken eines Einzelindividuums, sondern eine Art „objektives Denken" ist, so erzeugt es keine subjektiv ausgedächten, phantasmagorisch wechselnden Gegenstände, sondern ein strenges und stabiles Gerüst der „reinen Erfahrung" — aus Denkmomenten bestehend, aber an unabhängiger Konstanz ähnlich dem vormals „Wirklichen". Hiermit war eine, allerdings schon bei Kant keimhaft vorhandene Umsetzung restlos vollzogen: Die Ersetzung des Inhalts der Wirklichkeit durch den Inhalt der Wissenschaft. Kant will noch den unmittelbaren Gegenstand der Erfahrung, den empirisch wirklichen, „transzendental deduzieren" — Cohen und seine Nachfolger haben nur den mittelbaren, d. h. den wissenschaftlich formulierbaren Gegenstand als zu erzeugenden im Auge — aber, so läßt sich dies rechtfertigen, nur diesen gibt es überhaupt in der Wissenschaft, und er unterscheidet sich vom vorwissenschaftlich gegebenen, vom naiv-real erlebten im Neukantianismus so wie das Gewußte und Erkannte vom Ungewußten und Unverbindlichen: Wirklichkeit verwandelt sich in Wissenschaft. Wirklichkeit bleibt übrig als das ewig Noch-Unbekannte, als unendliche Aufgabe, die dem Erkennen unablässig vorschwebt, das sich ihrer ständig und nie aufhörend bemächtigt, das sich ständig und nie aufhörend an diesem X, Wirklichkeit, gleichsam weiterfraß wie die Flamme am Material, das aber als solches, als letzte Wirklichkeit, nie beschreibbar, nie angebbar wurde, sondern das, soweit es immer wissenschaftlich benannt, gedacht werden konnte, eben nicht mehr Material an sich, sondern immer schon vom Licht der Erkenntnis ergriffen war. 14
Damit bekommt das Bewußtsein gegenüber dem Wirklichen ein noch höheres Gewicht als ihm schon Kant zuerteilt hatte — so allein erst schien die wahre Eigengegründetheit des Bewußtseins gesichert. Halten wir uns gegenwärtig, daß das Bewußtsein eine ganze „Welt" erzeugt, wenn es auch nicht die vorwissenschaftlich naiv-real gegebene, sondern allein die Welt der wissenschaftlichen Inhalte ist — aber nur diese gehen die Wissenschaft an —, daß diese Welt, obzwar bewußtseinserzeugt, dennoch nicht die Flüchtigkeit und Illusionshaftigkeit eines individuellen psychischen Gebildes, sondern die Solidität und den Zusammenhang einer allgemeinen, verbindlichen Struktur, eben der des Bewußtseins, besitzt, eine Gesetzlichkeit, die diese Wissenswelt berechtigte, die Stelle einzunehmen, die vor ihr eine unbesehen hingenommene „Wirklichkeit" innehatte. Diese eigentümliche Ersetzung des Wirklichkeitswesens durch ein — nach einem Prinzip orientiertes relativ festes und wohlgeordnetes — Bewußtseinsgefüge ergab eine philosophische Situation, in der alle Schwierigkeiten, die etwa aus dem Wirklichkeitsfaktum herrührten, eine neue Bewältigungsmöglichkeit erfuhren. Dies gesehen zu haben, bildet ein Hauptverdienst Cassirers. Er bemerkte, daß die neukantische Position, folgerichtig durchdacht, den Vorteil bot, daß ein Veto, das etwa eine vorwissenschaftliche Wirklichkeit — die unserer Welt — gegen eine mögliche andere — die mythische Welt — einlegte, in dieser Position eigentlich gar nicht mehr galt. Wenn das Bewußtsein zu befragen war und nicht mehr eine unhandhabbare Realität, so war schon viel gewonnen, denn mit dem Bewußtsein, auch mit einem streng strukturierten, ließ sich immer doch schon etwas mehr „anfangen", ließ sich immer eher der Widerspruch miteinander streitender Wirklichkeitsbilder aufheben als vom Standpunkt einander heterogener, bewußtseinsfremder, starrer, unzugänglicher Wirklichkeitsobjekte. War das Bewußtsein für den Inhalt der Wahrheit verantwortlich und nicht mehr ein unzugängliches Etwas, Realität genannt — so war dies ganze sonst so unaufhebbare Widereinander von mythischer und unserer Welt auf ein etwas labileres Gebiet geschoben: auf das Gebiet der Bewußtseinsstruktur — die unhandliche unangreifbare Tat15
Sachengewalt, die zwischen unserer Wirklichkeit und dem Mythos stand und die Realitätsaussage des Mythos Lügen strafte, war prinzipiell auflösbar geworden, wenn sie bewußtseinsartiger Natur war. Die ergreifbare Wirklichkeit redet allenthalben eine eindeutige, starre, für andersartige Inhalte und Zwecke unergiebige Sprache — nicht so das Bewußtsein: es konnte mehrere Strukturen aufweisen. Obwohl das, was da im Neukantianismus an die Stelle der „Wirklichkeit" trat — nämlich diese Erkenntniswelt —, obwohl das also Bewußtseinserzeugnis war, war es darum doch nicht, wie schon angedeutet, psychologischer Gegenstand. Dieses Erkenntnisgerüst unterschied sich von allen bloß psychologischen Phänomenen durch einen Wahrheitsund Geltungsanspruch. Es gibt nicht bloß das beliebige und unverbindliche Produkt der Seele, der Einzelseele und der ungehemmt schaffenden, oder die Aggregate solcher Produkte, die, wahllos erdichtet, Thema der Psychologie oder der Völkerpsychologie wären, sondern es gibt auch ein für das allgemeine Bewußtsein einer ganzen Kultur normgebendes, bindendes, d. h. objektives Ausdruckssystem, es gibt eine Objektivierungsmethodik des vorgefundenen Materials, welche die wirkliche „Wahrheit" für ein Kulturbewußtsein ist. Solche objektive Geltung aber ist niemals nur Gegenstand der Psychologie — sie ist immer Thema der Wahrheitsforschung. Jedes sozusagen objektive Denken, das im wissenschaftlichen wie im mythischen Bewußtsein agierte, war nicht das Denken der Psychologie, die empirisch die beliebigen Gedankenbewegungen und -gebilde verzeichnete, die ein jeder denken mochte — sondern es war ein Denken mit dem Anspruch auf eine allgemeine Geltung — es war das Denken aus einer allgemeinen Struktur des Bewußtseins heraus, die festere, verbindlichere, objektivere Gebilde zeitigte als das Willkürdenken des einzelnen — Gebilde, ähnlich der Stabilität des Wirklichen, aber doch eben als Denkgebilde wieder nicht derart starr, unvariabel und unzugänglich für jede andere Möglichkeit wie die naiv-drastisch-anpackbare Wirklichkeit. Das ist nun aber die entscheidende Wendung des Cassirerschen Gedankens: solcher Objektivierungssysteme
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gibt es mehrere. So wie unser wissenschaftliches Kulturbewußtsein aus dem vorwissenschaftlichen Chaos objektivierend ein Wahrheitsbeanspruchendes Arsenal von Sätzen, den ganzen universalen Bau der Wissenschaft, hervorbringt, so gibt es etwa eine andere für ein anderes Kulturbewußtsein verbindliche Objektivierungsgesetzlichkeit, die, ebenso wie die Wissenschaft, nicht wahllos und willkürlich, sondern nach bestimmten Prinzipien verfahrend, ein dem wissenschaftlichen an Folgerichtigkeit und Zusammenhang analoges Weltbild zur Folge hat: das mythische. Es ist der gesetzmäßige Ausdruck der Struktur des mythischen Bewußtseins. Dessen Aussagen also, die Mythen, würden eben durch diesen Strukturcharakter einen gewissen allgemeinen Geltuiigsgrad bekommen, also — neukantisch gesprochen — Wahrheitsgehalt erlangen, nicht beliebigen Phantasmagorien gleich zu erachten sein, sie würden objektiv, nicht subjektiv, nicht psychologisch sein und würden nicht an dem Widerspruch unserer Wirklichkeitswelt zu scheitern brauchen. So war zwischen der unbefriedigenden Flüchtigkeit des subjektiven phantastischen Gebildes, das die rein psychologisch verfahrenden Erklärer allein als Charakter der mythischen Schöpfung anzugeben wußten, und der Solidität echter Wirklichkeit, als die der Mythos sich selbst behauptete, eine Art Mittelposition bezogen, und Cassirer geht nun daran, eine Phänomenologie des m y t h i s c h e n B e w u ß t s e i n s zu entwerfen. E r unternimmt es, das sinnvolle Prinzip im mythischen Denken aufzuweisen, die durchgängige Bestimmtheit, welche dieses von einer regellosen Einfallsfolge unterscheidet. Er untersucht das mythische Bewußtsein nach demselben Leitfaden, nach dem der Kritizismus das Bewußtsein überhaupt durchforschte: er sondert eine spezielle Begriffsform von einer typischen Anschauungsform des mythischen Denkens, er gliedert in Ästhetik, Logik und Dialektik des mythischen Bewußtseins. Man darf sagen, daß diese Methode als heuristisches Prinzip eine große Reihe tiefer und wahrer Zusammenhänge zutage fördert und daß einiges Material der Mythenwissenschaft in der Belichtung der Cassirerschen Konzeption ein logisch zusammenhängendes und sehr herausforderndes Gepräge bekommt — aber keine Beantwortung des U n g e r , Wirklichkeit.
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Fragwürdigen erfährt, das in ihm steckt. So ist es etwa — was die mythische Denk- und Begriffsform angeht — richtig und überaus bedeutsam, zu sehen, wie das Einteilungsprinzip, welches das mythische Denken beobachtet, in völliger Abweichung von dem Klassifizierungsverfahren unserer Erkennte nis, aber ebenso konsequent, die ganze Welt nicht nach den Über- und Unterordnungsverhältnissen unserer Wissenschaft' liehen Begriffspyramide, sondern nach totemistischen. Regionen aufteilt. Der Totemismus gibt ein nichts auslassendes Einteilungsprinzip für das Universum ab. Große Entsprechungssysteme treten auf, in welchen die grundsätzlichen Orientierungselemente totemistischer Natur sind: etwa die einzelnen Tierarten, welchen die einzelnen primitiven Gemeinschaften sich wesensmäßig verwandt und verbunden sehen. Diesen Tiergattungen wird nun alles in der Welt zugeordnet in einem korrespondierenden Schema, demzufolge: die Himmelsrichtungen, die Farben, die Elemente, die Jahreszeiten, die Volksstämme, ja selbst die Gruppierung innerhalb eines Stammes usw. mit je einer Untereinheit je einer totemistischen Einheit entsprechen. Cassirer konstatiert an vielen Beispielen dieses Dispositionsprinzip, mit dem das mythische Denken die Welt begrifflich beherrscht wie wir es mit dem unserer Wissenschaften tun. Er erkennt in dergleichen ein Element aus der Struktur des mythischen Bewußtseins, und er geht in mannigfachen und zum Teil sehr kühnen Gegenüberstellungen die Eigenarten und Abweichungen des mythischen Bewußtseins vom wissenschaftlichen durch: die mythische Anschauung vom Raum, der mythische Zeit- und Zahlbegriff, die Vorstellungen vom Ich und von der Gemeinschaft im mythischen Denken. Er versucht etwa zu zeigen, daß im wissenschaftlichen Weltbild die Zeit prävaliere, in der naturwissenschaftlichen Denkweise die Tendenz bestehe, Raum in Kraft aufzulösen, daß das Schema der Kausalität letztlich in der Zeitfunktion gründe — und daß demgegenüber im mythischen Weltbild der Raum die Vorrangstellung einnehme, daß hier die astrologische Auflösung von Kraft in Raum gelte, und daß die Zuordnung aller Eigenschaften zu den Gestalten des Raumes das Kausalitätsbedürfnis befriedige. 18
All dies ergibt, wie man zugeben muß, höchst interessantes Beobachtungsmaterial, das Cassirer allerdings zum großen Teil den grundlegenden Forschungen von Levy-Brühl verdankt, der auch schon die mythenwissenschaftlichen Tatsachen vorläuferhaft in eine der Cassirerschen ähnliche, allerdings nicht so methodologisch präzisierte Perspektive rückte. Indessen, diesen bewußtseinstheoretischen Unterschied abgerechnet, bleibt Cassirer dabei stehen, solche Strukturmomente aufzuzeigen, in ihnen ein Gesetzmäßiges, Eindrücke Objektivierendes zu sehen und sie zu der Form des mythischen Bewußtseins zusammenzufügen, ohne sich viel darum zu kümmern, daß die eigentliche Frage hier erst anhebt — das Problem: Welche Wahrheit kommt, von uns aus gesehen, diesen „Wahrheiten" des mythischen Bewußtseins zu? Damit sind wir an den kritischen Punkt der ganzen Cassirerschen Philosophie des Mythos gelangt: Cassirer kleidet die Unbegreiflichkeit des Mythischen in Begriffe, in Formen — aber von diesen Formen führt kein Übergang und keine wertmäßige Vergleichbarkeit zu den Formen unserer Erkenntnis — keine Beziehung außer der gänzlich leeren, daß es eben auch Bewußtseinsformen sind: diese bloße Begriffsform als solche, die Cassirer aus dem Mythischen herausliest, läßt es in seiner ganzen Unbegreiflichkeit bestehen. Denn zu begreifen vermögen wir letzten Endes nur etwas, das mit unserem Denken in Zusammenhang gebracht werden kann — es mag so fremdartig wie möglich sein, so muß dennoch eine kontinuierliche Linie von jenem Heterogenen zu unseren Begreifungsgesetzen führen. Das allein heißt verstehen — ist aber diese Linie irgendwo unterbrochen (ein Sprung, der hier dadurch ausgedrückt wird, daß man kurzerhand von einem zweiten, einem a n d e r e n Denktypus spricht und Bewußtseins* Struktur, nicht auseinandergesetzt, neben BewußtseinsStrüktur stellt), so vermag die bloße Begriffsform, die man dem „Anderen", Rätselhaften aufprägt, nimmermehr sein Verstehen zu ersetzen. Dem Denken und Erkennen wohnt in einem solchen Maße der Zwang zur umgreifenden Einheit inne, daß man ohne eine wert- und geltungsmäßige Auseinandersetzung zwischen schlechthin allem, was in dem Kreis der Erkenntnis Platz finden soll, eben von der Er2*
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kenntnis eines von solcher allgemein verknüpfenden Geltungsskala abgenommenen Phänomens nicht reden kann. Eine „andere" Struktur als die des wissenschaftlichen Bewußtseins, ein „anderes" Denken als „unser" Denken (das in dem Augenblick, da es Geltung beansprucht, alsbald aus „unserem" zu „dem" alles übergreifenden Denken wird), ein „anderes" Bewußtsein — all dies ist, auch auf Begriffsform gebracht, nur der Name für etwas „in Wahrheit" Unverständliches — wie die „andere" Welt in irgendeiner Religion —, solange nicht ein umfassender Geltungsmaßstab Eines und das Andere verknüpft. Das aber unterläßt Cassirer, er vermeidet absichtlich die Auseinandersetzung zwischen der uns im Bann haltenden und der mythischen BewußtseinsStruktur. Wir kennen ganz wohl das Dilemma, in dem sich diese wie jede Mythenerklärung befindet: entweder das allgemeine Geltungs- und Wahrheits-, d. i. aber in Wirklichkeit unser Kriterium anzulegen und den „Irrtum", den „Abweg", kurz, die wahrheitsmäßige „Unbrauchbarkeit" der mythischen Aussage zu diagnostizieren, sich eben damit der psychologischen Betrachtung — die ihre Fehler sichtbar trägt — zu nähern — oder aber dem Mythos Wahrheit zuzusprechen, wobei aber der Aussage unserer Welt ins Gesicht geschlagen wird. Cassirer hilft sich mit einem Ausweg, der aus seinem allgemeinen Erkenntnisbild stammt: er reißt beide Welten, d. i. aber beide Bewußtseins-Strukturen, auseinander und läßt sie zusammenhanglos stehen, sie werden nur in bezug auf sich selbst, auf ihr immanentes Gesetz, betrachtet: so können sie einander nicht sonderlich widersprechen. Die Behauptung des Mythos für „irrig", für „primitiv", ja für „falsch" zu erklären — das heißt ihn immer noch ernster nehmen als solche Urteile ganz auszusetzen und ihn nur „nach sich selbst" zu werten. „Vom Standpunkt dieser Problemstellung kann auch die relative .Wahrheit', die dem Mythos zuzusprechen ist, nicht länger fraglich sein." Das ist die Lösung. „Auch dem Mythos gegenüber kann die Frage nach der Objektivität nur in dem Sinne gestellt werden, daß wir untersuchen, ob auch er eine ihm immanente Regel, eine ihm eigentümliche .Notwendigkeit' erkennen läßt." Notwendigkeit und Wahrheit müssen in der Tat in Anfüh20
rungszeichen gebraucht und relativiert werden, die umgreifende Einheitstendenz der Erkenntnis muß außer Kraft gesetzt werden, damit es möglich wird, die große Frage auszuschalten, die von unserer Welt nach der des Mythos und von dieser zu uns herüberfragt. Cassirer will den Mythos zu einer „Welt für sich" stempeln. Das ginge ganz wohl, und er könnte den Gegensatz so umfassend abgründig formulieren wie nur möglich — aber, was zuletzt Erkennen und Begreifen angeht, so darf es nicht selbst auch von diesem Abgrund durchschnitten und relativiert werden, es muß das Hier und Dort nach Wahrheit und Geltung und Wirklichkeit verbinden und rangieren. Dabei ist es selbstverständlich, daß Cassirer, gewissermaßen insgeheim, entgegen seiner festgehaltenen Einstellung eine Gleichberechtigung zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken natürlich nicht anerkennt, daß er re vera dennoch den Mythos von der Wissenschaft, d. i. von der für ihn maßgebenden Bewußtseins-Struktur aus, nach Wahrheit und Gültigkeit wertet, also doch einen einheitlichen Geltungsgesichtspunkt gegenüber allem, wenn auch inoffiziell, einnimmt, wie es sich etwa in der Äußerung zeigt: „Freilich scheint es sich auch in diesem Falle (der Objektivität des Mythos) immer nur um eine Objektivität niederer Stufe handeln zu können." Das ist eine Geltungsvergleichung. Hier scheint so etwas wie eine Rangordnung der BewußtseinsStruktur-Typen aufzublitzen. Allein dies wird sogleich wieder halb und halb zurückgenommen, und im Zurückgang auf die charakteristische neukantische Konsequenz, daß gerade in der Entfernung von jedem naiven Realismus die Objektivität des Mythos bestehe, wird eher wieder an die Gleichstellung zwischen mythischem Bewußtsein und Erkenntnis gemahnt, insofern der Mythos als eine „eigene typische Weise des Bildens" akzentuiert wird, worin bekanntermaßen nach dieser Philosophie, ebenso wie in der Entfernung vom NaivErlebten, gerade auch das Wesen der Erkenntnis besteht. Cassirer verwendet so die Mythenerklärung als Argument für die neukantische Erkenntnislehre. Das ist schon eine ganz erheblich einschränkende Bedingung für die Annahme seiner mythologischen Theorie, und die Fragen, die sich dem nicht in der Denkweise des Neukantianismus und seiner 21
Fortsetzung Befindlichen gegenüber dieser Mythologie unabänderlich aufdrängen, werden mit einer kurzen Verweisung auf die für den Neukantianismus gültigen Feststellungen beiseite geschoben. Natürlich spürt Cassirer diese Fragen und vor allem die brennendste: Ist die mythische Welt mehr als eine Welt „bloßer Vorstellungen" — ist sie wirklich ? Er tut dies Problem kurz neukantisch ab: „Freilich: die mythische Welt ist und bleibt eine Welt,bloßer Vorstellungen' — aber auch die Welt der Erkenntnis ist ihrem Inhalt... nach nichts anderes" als eine Welt ,,bloßer Vorstellungen". Dem Leser, der nach der Wirklichkeit der mythischen Inhalte fragt, wird als Antwort sozusagen die Wirklichkeitsminderung der eigenen Welt entgegengehalten —, statt mit einem möglichen Plus des Erfragten wird er mit einem Minus des Vorausgesetzten und Vertrauten abgefertigt. Allein das kann auf die Dauer nicht verfangen, und die eigentümliche schwebende Unbestimmtheit, die hier systematisch, wie bei Spengler aphoristisch, über das Wesen der Realität gebreitet wird, kann nicht die unmittelbare Wirklichkeitsgewißheit des vorwissenschaftlichen Daseins auch in betreff der mythischen Gegenstände als entweder radikal zu bejahende oder radikal zu verneinende verscheuchen. Oder will Cassirer konsequent sein und die „Realität" des Gottes Indra kaltblütig der Realität von Maschinen oder vielleicht von Atom-Modellen gleichsetzen? Er will es natürlich nicht, und er will in Wahrheit diese Frage gar nicht erörtern, denn bei einem etwas genaueren Eingehen auf sie würde sich herausstellen, daß die Gleichsetzung Wissenschaft — Mythos quoad gesetzmäßiger Bewußtseinsfunktion entweder gar nicht aufrechtzuerhalten ist, weil fast alles, was der Mythos der Erkenntnismethodik entgegen behauptet, eben damit abgewiesen werden muß —, daß er eine so „relative Wahrheit" enthält wie jeder Irrtum, womit der Mythos doch wieder nur als psychologische Kuriosität übrig bleibt, oder aber es würde sich ergeben, daß die Analogisierung Wissenschaft — Mythos den Tatbestand der mythischen Aussagen nur sehr unvollkommen deckt, weil sehr vieles, was der Mythos enthält, gar nicht auf der der wissenschaftlichen Konstruktion vergleichbaren Ebene des „Entferntseins" von der naiven Wirklichkeitsbetrachtung, sondern 22
durchaus in-dieser sich abspielt und dennoch unserer Erfahrung widerspricht. Die Seltsamkeiten des Mythos sind durchaus nicht nur solche der E r k l ä r u n g s - und Denkregion, sondern mindestens ebensosehr Wunder der vorwissenschaftlichen, drastischen Wahrnehmungs- und Wirklichkeitssphäre. Der neukantische Wissenschaftsbegriff hat das Wirklichkeitsphänomen nicht restlos verarbeitet. Cassirers Konzeption ist eine einzige durchgehaltene Umgehung der Realitätsfrage, die allein das Problem des Mythos zu einem wesentlichen macht. Dürkheim. L e v y - B r ü h l . Es ist immer nur wieder eine Variante in der Abschwächung, Einschränkung, genauer eine Variante des Nicht-restlos-Geltenlassens, Nicht-voll-Einsetzens des Wirklichmoments, welche die mythenerklärenden Versuche voneinander scheidet. Das gilt auch für den vielleicht bedeutendsten Vorstoß in dieses Gebiet, den Emile D ü r k h e i m unternahm. Er und sein Schüler Levy-Brühl haben, wie schon angedeutet, eine Grundkonzeption geschaffen, die Cassirer in die erkenntnistheoretische Position des Idealismus übersetzte. Dem, was bei Cassirer „ S t r u k t u r " des Bewußtseins heißt, entspricht bei diesen soziologisch orientierten Denkern: die K o l l e k t i v v o r s t e l l u n g der mythenerzeugenden Gruppe. Man muß einräumen, daß der Bedeutungsunterschied dieser beiden Begriffe Struktur und Kollektiworstellung nicht eben sehr groß ist: Allgemeine Gültigkeit, Bewußtseinsstruktur und kollektive Anerkennung, das sind namentlich dann nicht besonders verschiedene Dinge, wenn die Struktur nicht eine einzige, ausnahmslose und absolute ist, wenn eine denkbare Mehrheit von Strukturen den Geltungscharakter einer jeden ohnehin einschränkt. Somit sind diese Kollektiworstellungen, die methodologischen Differenzen einmal beiseite gelassen, diese Denkgesetze logischer oder „prälogischer" Natur, welchen nach Dürkheim und Levy-Brühl die primitive Mentalität folgt und welche alle die sonderbaren Aussagen des mythischen Geistes zeitigen, auch nicht von erheblich anderer Art als die Bewußtseinsformen des mythischen Denkens, die Cassirer angibt, und in manchen Teilen sind sie identisch, 23
z. B. in bezug auf die mythische Auffassung der Identität und der Zahl — der Wesenseinheit von Unterschiedenem, wie sie Levy-Brühl im mythischen Denkgesetz der „Partizipation" formuliert. Aber darüber hinaus enthält die Mythendeutung Emile Dürkheims einen bedeutsamen Ansatz, den er allerdings nicht auswerten kann, der sich aber dadurch von allen Erklärungsprinzipien unterscheidet, daß er tatsächlich so etwas wie eine rationale Ursache des Irrationalen enthält. Dieses natürliche Quellgebiet der Religion und des Mythischen ist für ihn: „die Gesellschaft". Der Begriff der Gesellschaft wird bei Dürkheim zu einem ergiebigen Grund, auf dem sonst schwer ableitbare Vorstellungen wurzeln können — die Gesellschaft wird vor allem zu dem Hervorbringungsund Scheidungsmittel des Grundgegensatzes in Religion und Mythos: der Antithese „heilig — profan". Die Gesellschaft ist die Quelle des Heiligen. Das Heilige wird erkannt als die Ehrfurcht vor dem Überindividuellen der Gesellschaft, deren Macht und Schutz der Einzelne leibhaftig und überall erfährt, und dieser Gegenstand der Heiligkeit, den Dürkheim aufzeigt, hat im Gegensatz zu allen anderen den Vorzug, wirklich zu sein. Heilig und überindividuell, kollektiv, der Gesellschaft gehörig — das sind wesensidentische Merkmale. Profan ist das nicht der Gesellschaft Vorbehaltene. Damit ist der ziemlich schwer zugängliche Begriff des „Sakralen", des der privaten Sphäre Entzogenen, des tabu, eines mythischen Grundelements, immerhin rationalisiert, ohne auf Imaginationen oder Wahngebilde zu rekurrieren, die in der Erklärungsgrundlage hinzunehmen immer etwas Willkürliches und Unbefriedigendes hat. Dürkheim geht so weit, zu behaupten, daß der uranfänglichen Religion oder dem Mythos der Begriff des „Übernatürlichen", ja der Gottheit, fremd ist — ein beredtes Zeichen seiner Einstellung, dem mythischen Bewußtsein ganz die gleiche „Rationalität" zuzutrauen wie dem unsrigen. Und in der Tat bemerken wir etwas wie ein deutlich erkennbares Residuum des religiösen und mythischen Grundphänomens in unserer eigenen Erfahrungswelt, wenn Dürkheim seine Konzeption in die entscheidende Formel so zusammenfaßt: Zwischen einer Versammlung irgendeiner religiösen Gemeinschaft, die den Bericht ihres Mythos feier24
lieh entgegennimmt, und einer Vereinigung von Volksgenossen, die sich eine neue Verfassung gibt oder eines Ereignisses des nationalen Daseins gedenkt, ist in religiösem Betracht kein prinzipieller Unterschied. Hiermit ist faktisch das äußerste an „natürlicher" und rationaler Erfassung dunkler Sachverhalte ausgesprochen — ist ein Erklärungsprinzip angewandt, das, so aufschlußreich es einsetzt, nun aber doch nicht weiter trägt. Denn nun müßte, ebenso wie das Wesen des Heiligen, das ganze übrige undurchdringliche Geheimnis, der mythischen Inhalte entwirrt werden — ebenfalls ohne den Boden der Wirklichkeit (wie er Signum des Faktums „Gesellschaft" ist) zu verlieren. Das aber vermag Dürkheim nicht. Denn die erdgebundene Realität „Gesellschaft" wird nun, wenn sie das Aufklärungsinstrument der ganzen mythischen Rätselwelt werden soll, gerade ihrer leibhaftigen Realität entkleidet, sie wird bei Dürkheim und seinem Fortsetzer Levy-Brühl, der hierin ganz im Geiste Dürkheims zu urteilen behauptet, zum gesellschaftlichen Vorstellen, zur Kollektivvorstellung, die natürlich leicht und immateriell jeden fremdartigen Inhalt zustande bringt — nur daß die Deutung sich unvermerkt vom irdischen Ort der soziologischen Tatsachen (Gesellschaft) auf die gedankliche Ebene der „religiösen Erfahrung" oder des soziologischen Bewußtseins erhoben hat, auch wenn Dürkheim die Wirklichkeit der Gesellschaft nach wie vor formell aufrechterhält, indem er sie als die Wirklichkeit einer Idee faßt. Die Macht und das Wesen der Tatsache Gesellschaft ist eine andere als die Macht und das Wesen der Idee Gesellschaft — selbst wenn die Grenze zwischen ihnen flüssig ist. Die Realität der Idee — das aber ist wieder eine Abspannung der Realitätsintensität des unmittelbaren Daseins und bedeutet schließlich ebenfalls nichts anderes als das zwangläufige Sich-Zurückziehen auf die Sphäre des Geistes, wenn die Aufgabe gestellt ist, unverständliche Wirklichkeit zu deuten. Die psychoanalytische Mythendeutung. Die allgemeine Tendenz der Zeit, das eigentümliche Angezogenwerden von den Problemen des Mythos und die Neigung, eine gewisse Art von Gleichordnung, wenn auch nicht 25
Gleichwertung zwischen Gegenwärtigem und Mythischem herzustellen, hat selbst die Psychologie ergriffen. Das ist um so bemerkenswerter, als dies die Wissenschaft ist, welche am leichtesten Erklärungsmöglichkeiten an die Hand gibt, um von der Menschheitshöhe auf den Mythos als auf das dunkle, verworrene und abzustreifende Gebilde menschlicher Frühzeit herabzublicken. Allerdings war zu dieser Umstellung der Psychologie eine Neuorientierung innerhalb dieser Wissenschaft nötig, eine Einstellung, welche sie zu einer Art Weltanschauung machte. Dies ist bekanntlich durch die Konzeption und Entwicklung der Psychoanalyse geschehen. Man weiß, daß dieser Gedankenkreis, ursprünglich im Bereich der Psychiatrie entstanden, allmählich fast alle Bereiche des kulturellen Tatbestandes einbezogen und sie unter die Optik des psychoanalytischen Gesichtspunkts gebracht hat: Es entstand eine der philosophischen analoge Position psychoanalytischer Daseinsbetrachtung, die man vielleicht kurz als einen ,.Trieb-Realismus" kennzeichnen könnte, insofern das System der biologisch-materiellen Triebe, und insbesondere der Sexualtrieb, zu der ganzen Region der Bewußtheit in eine grundlagenartige und motivierende Beziehung gebracht werden. So werden gleichsam zwei Reiche im Menschen unterschieden: der reelle Trieborganismus und der Bereich einer eigenartigen psychischen Umwandlung, einer Ausdrucksumsetzung, einer Änderung des Aussehens dieser Triebwelt bis zur Unkenntlichkeit in der Sphäre des bewußten Seins. Zwei Forschungslinien der Psychoanalyse entsprechen dem: eine in das Gebiet des Prozesses und der Technik dieser Umsetzung selbst und eine andere von dieser Region verwandelter seelischer Inhalte aus in die Richtung ihres Schlüssel-und Ursprungsgebiets, eben in die Domäne der Triebwelt. Es ist klar, daß eine solche Betrachtungsweise, die überall wahrnahm, daß geistig Gestaltetes etwas anderes „sagte" als „bedeutete", die das prima facie Unverständliche eigens zu ihrem Gegenstande gemacht hatte, die von den undurchschaubaren Äußerungen der Neurose zu den verworrenen Daten des Traumes geführt wurde, um ihr Entzifferungsprinzip darauf anzuwenden — es ist klar, daß eine solche Konzeption alsbald auf das Rätsel des Mythos treffen und ihre Methode an diesem Problem versuchen mußte.
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Hier nun zeigte sich die völlig antinomische Einstellung, in der die psychoanalytische Forschung an den Mythos herantrat: Einesteils hatte es nach diesen Überlegungen den Anschein, als ob unser ganzes geistiges Dasein, unsere ganze Kultur noch heute mit dem Mythos zu innerst verknüpft sei: Wurde doch von der Psychoanalyse als ein Kern- und Urmotiv alles Seelischen — auch des unsrigen — ein psychischer Sachverhalt aufgewiesen, den einst ein „Mythos" formuliert hatte: eine Triebkonstellation zwischen den Individuen des biologischen Urzusammenhanges „Familie", die in der Sage von Ödipus zum Ausdruck kommt. Wurde doch ferner von Freud der Inhalt dieser Sage als reales Ereignis an den Anfang der menschlichen Entwicklung gesetzt und — mit gewissen Modifikationen — als Erklärungsgrundlage sowohl des Totemismus wie des Beginns und der Entfaltung der menschlichen Kultur überhaupt benutzt. So schien der Mythos unser ganzes Dasein zu durchsetzen. Und umgekehrt erhellte das Licht, das der psychoanalytische Gedanke auf die Struktur unseres Seelenlebens warf, die Undurchdringlichkeit des Mythos — es schien, als sei der Mythos jederzeit eine traumsprachliche Wiederspiegelung eben der Sachverhalte und Vorgänge auch unserer Seele: so, wenn in der grundsätzlichen Scheidung der „Tiefenpsychologie" zwischen der Region der unterbewußten dunklen, schwer zu fesselnden und hemmungslosen Triebgewalten und der Sphäre der mit ihnen ringenden, kontrollierenden, hemmenden, moralisch höheren Bewußtseinskräfte das mythische Bild von „Unterwelt" und „Oberwelt", von den in die Finsternis des Unterirdischen, des „Tartarus", geschleuderten und dort gefesselten „Dämonen" und von ihrem ewigen Kampf gegen die lichten Mächte der „oberen" Welt, die „Götter" — wenn dieses Motiv vieler Mythen so durchschaut wird. Die Fülle der Versuche, welche die Schule Freuds an die Entzifferung mythischer oder für mythisch gehaltener Vorstellungskreise wandte, indem sie die am heutigen zeitlosen psychischen Material gewonnene Deutungskunst an Sage, Legende und Ritus übte — diese zahlreichen Studien sprechen hinreichend für die bedeutsame Rolle des Mythischen für die psychoanalytische Lebensbetrachtung. 27
Die andere Seite der antithetischen Haltung der Psychoanalyse zum Mythos aber folgt aus ihrem Charakter als echter Psychologie: Die psychiatrisch-überlegene „Entlarvung" der mythischen Rätsel, ihre Analogisierung mit den pathologischen Phänomenen der Neurose, kurzum die ganze „wissenschafts"-hochmütige Abschätzung unzugänglicher Reiche vom modern-gegenwärtig-selbstverständlichen Realitätsstandpunkt aus, dem nicht im entferntesten gegeben ist, sich selbst in Frage zu stellen. In Freuds für seine Schüler grundlegendem Werk „Totem und Tabu" werden „einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker" dadurch zustande gebracht, daß der Psychologe die rätselhaften Verbote der Tabu-Systeme als auf das Gebiet der „natürlichen" und wohlbekannten Triebregungen wie Sexualität, Neid, Haß, Furcht usw. bezogen erklärt und die seltsamen Themen und Gegenstände dieser Verbote sich als durch „Übertragung", d. h. assoziatives Umsichgreifen und Erweiterung des ursprünglich und eigentlich „gemeinten" Verbotsthemas entstanden denkt — wie in zwanghaften Selbstverboten der Neurotiker. Des grundsätzlichen und prinzipiellen Unterschieds zwischen dem pathogenen Handeln vereinzelter' Individuen unserer Kultursphäre und der jahrhundertelang als Norm festgehaltenen und immer wiederkehrenden Übung durchaus als nicht-pathologisch zu wertender soziologischer Gemeinschaften wird hierbei kaum gedacht: über das Problem des Kriteriums von „Krankheit" und „Gesundheit" und seine fundamentale Bedeutung für die Zulässigkeit eines Vergleichs, ja, der Gleichsetzung von normalen und anormalen Phänomenen wird hinweggesehen. Auf den Einfall, daß es sich in den scheinbar sinnlosen Maßnahmen des mythischen Rituals nicht um Verdeckung der uns ohne weiteres plausiblen Triebziele handeln könnte, daß möglicherweise andere, nicht weniger rationale, aber uns gänzlich unvertraute Triebinhalte und Zielsetzungen — von welchen später zu reden sein wird — in Frage kommen könnten, kommt diese Seelenforschung nicht, weil sie sich nicht von der Voraussetzung „unserer Normalität" freimachen kann. In der Tat — entweder man etabliert eine allgemeine Weltnormalität der Betrachtungsweise der Dinge (die dann re vera doch
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mit der unserer Kultur zusammenfiele), die aber nötig machte, sich mit allen anderen inhaltlich auseinanderzusetzen — aber das ist ja ohnehin der Weg der Philosophie — oder man ist nicht berechtigt, sie ohne das heimlich oder implicite zugrunde zu legen. Diese lediglich philosophisch, d. i. allgemein, nicht nur-spezialwissenschaftlich mögliche Ermittlung des Kriteriums von Norm und Pathologie und Spielart der Norm kann übrigens auch allein Aufklärung über eine andere oft versuchte Analogie bringen — die zwischen „Primitivem" und „Kindhaftem" —, weil naturgemäß auch die Präzisierung der Begriffe von „erwachsen" und „unentwickelt" an eine Rangordnung des „Richtigen" und Falschen oder „Irrtümlichen" gebunden ist, die ohne die philosophische Auseinandersetzung unseres Weltbildes mit einem möglichen anderen keineswegs ermittelbar ist. Unterläßt man diese Errichtimg einer philosophischen Norm und versucht wie die Psychoanalyse, den Bereich der Psychiatrie unzulässig erweiternd, sie einfach psychologisch zu gewinnen, d. h. im wesentlichen unsere eigene Einstellung zu den Dingen unbesehen als Normalität zu statuieren, so muß man allerdings, weil man das Mythische nicht von sich aus verstehen kann, auf die Analogie zur „Verrücktheit" verfallen, die ja auch unverständlich anmutet, und es unter diese Kategorie zu bringen suchen; nur sollte der Psychologe wissen, daß die geistige Krankheit die geistige Gesundheit voraussetzt, und daß Gesundheit und Krankheit ohne philosophisches Kennzeichen gar nicht anders zu begreifen sind als von einer soziologischen Gemeinschaft aus, deren Norm eo ipso die Definition von „gesund" sein muß, wenn jeder andere Maßstab fehlt. Ein Krankes innerhalb einer Gemeinschaft aber ist daran kenntlich, daß solche Gemeinschaft sich zwiespältig verhält, daß eine Gesundheits-Kraft mit der Krankheits-Tendenz kämpft, daß die Lebenskräfte einer Gemeinschaft miteinander ringen, daß ein kultureller Kampf entbrennt, wobei es obendrein äußerst schwierig, wo nicht vorläufig unmöglich ist, den Part des Gesunden und den des Kranken zu erkennen. So wie „die Neurose" auffällt und diagnostizierbar wird inmitten einer relativ gar nicht oder weniger neurotischen Umwelt, so würde sich ein „Kulturkampf" in einer Gemeinschaft zeigen, eine
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„Aufklärungs"-Bewegung, kurz irgendeine gesundheitstriebartige Reaktion — von der bei den Primitiven nichts zu merken ist —, wenn die soziologischen Phänomene krankheitsartiger Natur sind. Wenn sie es aber n i c h t sind — und das ist wohl Freuds Meinung —, so ist die ganze Vergleichbarkeit hinfällig, denn mit dem Merkmal des Krankhaften entfällt die U n b e r e c h t i g t h e i t , die in dem betreffenden Seelenvorgang liegt. Wenn der Maßstab entfällt, auf Grund dessen etwa ein assoziatives Springen von Gedanke zu Gedanke pathologisch ist, wenn also eine andere Gesundheitsnorm dahintersteht, weil eben diese Art der Gedankenverknüpfung hier nicht als abnorm, sondern als gesund gelten muß, so ist durchaus — psychologisch — wieder nur jene Idee von einer eigentümlichen S t r u k t u r des Bewußtseins am Platze, die die französischen Forscher und Cassirer an das Material anlegten: denn normgemäße Geisteskrankheit, das ist sinnlos oder es heißt besondere Geistes-Struktur. Aber diese bringt keine Lösung, wie wir sahen, und die Neurosen-Analogie auch nicht, weil beide sowohl die spezifische geistige Struktur wie das normgemäße Verhalten eines Bewußtseins die Hauptfrage nach einem zutreffend erfaßten Bewußtseinsobjekt nahelegen und aufrollen, das Wirklichkeit heißt —, eine Frage, die hier allein entscheiden kann und von der sich natürlich jede Psychologie (und manche Erkenntnistheorie) ausschließt. Ist indessen Freuds Analyse des Tabu-Begriffs eine zwar in der Enge einer speziellen Perspektive befangene und darum unbefriedigende, aber doch immerhin konsequente Konstruktion, so ist seine Deutung des Totemismus kaum mehr als ein vager und hilfloser Ansatz, die wenigen Instrumente des psychoanalytischen Systems an einem zufällig gänzlich heterogenen Gegenstand zu probieren. Die zentrale Bedeutung des Tieres im Totemismus wird mit einigen spärlichen und zufälligen infantilen Assoziationen zwischen dem Vater und irgendeiner Tierspezies parallelisiert und damit „erklärt". Freud selbst ist sich eingestandenermaßen dieser Unzulänglichkeit bewußt, aber er unterschätzt es, welchen Einwand gegen die ganze psychoanalytische Bewältigung des Mythischen überhaupt und insbesondere des Tabu-Wesens es be30
deutet, wenn sich das eine von zwei so innig verknüpften mythischen Elementen wie die des Totem und des Tabu der psychoanalytischen Deutung so restlos versagt. Hier nun ist des Begründers, Freuds, maßgebliche Schrift Anlaß und Beispiel einer Behandlungsart des Mythischen geworden, die bei Scharen von Nachfolgenden Brauch geworden ist und die einige scharfe Worte herausfordert, zumal der Respekt, der der sonstigen Leistung des mephistophelisch-genialen Entdeckers der Psychoanalyse gebührt, diesen Anhängern gegenüber nicht am Platze ist: Diese uferlose und zuweilen geradezu läppische Deutungswut, mit der seine Schülerschar alles und jedes mythologische Material in die paar Kategorien der Psychoanalyse zwängt, diese leichtfertigen und jeder wirklich wissenschaftlichen Selbstkritik entbehrenden Assoziationssprünge, mittels deren Unzusammenhängendes verbunden und Unstimmigkeiten „stimmend" gemacht werden — all dies kommt weniger der „Erklärung" eines urzeitlichen Rätsels gleich als der Aufwerfung eines zeitgenössischen: die Möglichkeit eines Geisteszustandes, in dem die Hypertrophie einer Sexualtheorie sich allen Inhalts der Welt bemächtigen will und in dem die hinfliehenden Gedanken der Deutungsphantasie dunkler sind als die zu deutende Frage: denn die Sinnlosigkeit ist noch undurchdringlicher als jedes Problem. Der absolute Hochmut, in dem diese modernen Zeichendeuter sich gestatten, keine Aussage eines mythischen Dokuments an ihrem Platz zu lassen, keinen Satz erst einmal so hinzunehmen, wie er sich selbst gibt — allerdings die schwerste aber doch auch die anerkannteste Bedingung einer guten Lösung — dieses hochfahrende und besinnungslose Umspringen mit dem mythologischen Material wird nur noch übertroffen von der staunenerregenden Ungenauigkeit und dem inneren Widerspruch der „erklärenden" Gedankengänge. Zwei Beispiele für viele: in einer Schrift von Theodor Reik mit dem allzu lapidaren Titel: „Das Ritual" findet sich ein Beitrag zur Aufhellung der Bedeutung des „Schofar", eines zum Ritus des Judentums gehörenden Blasinstrumentes, das aus einem Widderhorn besteht. Nachdem der Verfasser die aus der Religionswissenschaft hinlänglich bekannte totemistische Theorie dazu be31
nutzt, eine totemistische Deutung des Sinaiberichts zu begründen, geht er dazu über, in einem von ihm angenommenen ursprünglichen Text dieses Berichts statt des einen bekannten „goldenen Kalbes" zwei Tierbilder zu vermuten, weil im Buch der Könige einmal von zwei solchen „goldenen Kälbern" die Rede ist. Der Autor bietet nun allen Ernstes als Deutung an, daß, um den ursprünglichen totemistischen Gott der Hebräer, den Stier, aus dem Bewußtsein zu streichen, im Sinai-Abschnitt das Stierbild fortgefallen und nur das Kalb übriggeblieben sei, daß ferner dieses Kalb eigentlich den „Sohnesgott", nämlich Moses selbst, vorstelle, daß „eine Periode bestanden haben muß, in welcher der Sohnesgott Mose den Vatergott verdrängt hatte", daß an jener Stelle im Buch der Könige ebenfalls das eine Kalb ursprünglich einen Stier bedeutet habe — und das alles mit der Begründung: das Stierbild mußte fortfallen, weil es sonst den früheren totemistischen Kult „aus der Vorgeschichte der Juden" dem Bewußtsein des Volkes verraten hätte — das Bild des Kalbes aber nicht. „Die Weglassung des Stiers bedeutet in der Tradition eine übergroße, durch Ehrfurcht bedingte Rücksichtnahme" — das Kalb bzw. der Jungstier dagegen scheint das Bewußtsein in nichts mehr an die totemistische Vorzeit des Stiers zu erinnern! Was für eine tiefe Psychologie, die da glaubt, daß das ihr so wohlbekannte neurotische Weiterspinnen der Assoziationskette, die zu den fernliegendsten Vorstellungen überspringt, Entlegenstes verbindet, um nur ja das Bewußtwerden eines „verbotenen" Dinges zu hindern — daß dieses überwachsame psychische Weitergreifen gerade mitten zwischen den engsten Assoziationsgliedern „Stier" und Kalb (oder „Jungstier") haltmächen wird — den Stier „verbieten", das Kalb „erlauben", dem verdrängen-wollenden Bewußtsein zumuten wird! Das wäre gerade so, als wenn jemand in einem expliziten Mordbericht die Erinnerung an den Tötungsvorgang unterdrücken wollte — und noch dazu dadurch, daß er statt eines „in Wahrheit gebrauchten" Speeres einen Dolch als Waffe setzen würde. Denn deutlicher, bewußter von dem verbotenen Kult zu reden, als es der Pentateuch-Bericht selbst tut, ist gar nicht denkbar, und der dem Psychologen Reik so „verräterisch" erscheinende, in 32
Hinsicht auf die Kalbstatue gebrauchte Pluralvers „das sind deine Götter, die dich aus Ägypten geführt haben", legt gerade die „verbotene" Vorstellungsverbindung Gott des Volkes der Hebräer — Stier nicht nur so nahe wie möglich, sondern er spricht sie einfach aus. Dieser Mythendeuter gleicht einem Detektiv, der in einem rückhaltlos eingestandenen Fall nach Indizien sucht und mit ihnen „aufklärt". Es ist selbstverständlich, daß solcher Scharfsinn eine — abgesehen von dem „Wunderbaren" überhaupt — in sich klare Darstellung eines Vorganges wie des von den beiden Gesetzestafeln des Moses nicht so hinnehmen kann, wie sie gegeben wird. Daß Moses diese „heiligen" Tafeln zerschmettert, als er den Treubruch des Volkes wahrnimmt, erscheint dem auf gewohnheitsmäßig Verborgenes bedachten Forscher so unwahrscheinlich, daß er sich eine viel kompliziertere Geschichte ausdenkt, derzufolge die Tafeln natürlich keine Tafeln sind, sondern der entsprechend „in einer früheren Version" — auf die Anzahl der Versionen scheint es gar nicht mehr anzukommen, sie werden ad libitum „angenommen" — Moses tatsächlich Gott — den Steingott nämlich — vom Sinai herabgebracht hat. Daß hier der Stein „von der grauen Urzeit als Gott verehrt wurde", bereitet dem Verfasser, der oben, wie wir schon sahen, dem Stier diese Rolle zuerteilte, keine besonderen Schwierigkeiten, ebensowenig wie der Umstand, daß auch die Annahme des Stiers in dieser Eigenschaft unmöglich mit der totemistischen Reminiszenz des Schofars zusammengereimt werden konnte, das als Widderhorn wieder mehr für einen Widder Sprach. Der fahrigen Ungenauigkeit, die etwa den Klang des Widderhorns, des Schofar, von dem im Sinaibericht die Rede ist, mit der „Stimme des Gottes" identifiziert, weil die totemistische Göttlichkeit des Widders dergleichen nahelegt, verschlägt der tolle Widerspruch nichts, daß der Ton des Schofars ein ganz anderer ist als die tierische Stimme des Widders. Es wird so einfach die ethnologische Selbstverständlichkeit ignoriert, daß in allen totemistisch ritualen Nachahmungen des heiligen Tiers die Stimme dieses Tieres selbst, die der Tierverehrer nur zu genau kennt, kopiert wird, nicht aber der Ton aus den allerhand Instrumenten, die aus den Körperteilen U n g e r , Wirklichkeit.
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des Tieres gefertigt werden können — es wird schließlich der logisch doch recht erhebliche Umstand vernachlässigt, daß ein Tierhorn als Blasinstrument und Kennzeichnung eines weithin hallenden Klanges sozusagen eine ganz natürliche Funktion ausübt und einen ganz guten Sinn besitzt, der doch erst als unplausibel oder „gezwungen" oder widerspruchsvoll ausgeschaltet werden müßte, um fernerliegende Deutungen herbeizurufen. Ja, der vollständige Mangel an wissenschaftlicher Begründungsdisziplin würde sogar Ergebnisse, die, wie es der Zufall dieses Herumassoziierens wohl mit sich bringen kann, einmal in die Nähe oder in die Richtung von etwas anderweitig schlüssig Verifizierbarem treffen, wertlos machen: denn die Wissenschaftlichkeit einer Behauptung hegt in ihrer Begründbarkeit. Aber wie soll man überhaupt mit logischen und wissenschaftstheoretischen Bedenken gegen eine religionspsychologische „Methodik" aufkommen, der es genügt, wenn sie von hundert aufzuklärenden Einzelheiten eines mythischen Textes nur zehn mittels Gedankensprung mit ihren Vermutungen zusammenreimen kann und die neunzig dagegen sprechenden Momente etwa so ansieht wie die „Ausreden" des Patienten, der sich weigert, seine Neurose einzugestehen. In der psychiatrischen Praxis mag ein solcher „Kampf" mit dem Patienten angehen, der medizinische Erfolg entscheidet — aber der Mythos ist wehrlos gegen solche Ärzte des Bewußtseins. Ein anderer psychoanalytischer Wahrsager, C. D. Daly, beginnt seine mythendeutenden Versuche wörtlich mit dem Satz: „Ein flüchtiges Studium der Riten und Zeremonien der Hindu und der verwandten Völker zeigt, daß sie unter kollektiven Zwangsvorstellungen leiden." Andererseits kann die „Trauerstimmung des ganzen Hindu-Volkes" nicht allein so erklärt werden, und sie wird denn auch in der Tat von dem „Kastrationskomplex" hinreichend aufgehellt. Es ist einmal eine psychologische Bemerkung gegenüber dieser Psychologie überhaupt hier angebracht: man wird sich die eigentümliche Überlegenheitshaltung nicht verhehlen können, die in der Stellung jeder psychologischen „Diagnose" gegenüber ihrem Objekt verborgen ist. Solche
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„Überlegenheit" ist keine äußerlich posierte, sie ist eine unwillkürlich mit der psychologisierenden Tätigkeit mitgesetzte. Sie führt aber doch zu grellen und grotesken Disproportionserscheinungen, wenn die wertende und beurteilende Instanz — in diesem Falle also die psychoanalytische Diagnostik — an ein Objekt gerät, das seinerseits und vielleicht mit kulturell tausendmal größerem Gewicht und Recht in Anspruch nehmen darf, Ursprung und Grundlage urteilender Betrachtung von Seele und Dingen zu sein. Ein solches Objekt ist etwa die Philosophie und Religion der Inder, in welchen die ganze Welt einen Höhepunkt menschlicher Erkenntnisleistung erblickt. Ob es nun gewollt ist oder nicht — wir meinen, daß es heimlich gewollt ist, — so liegt in dem selbstherrlich beanspruchten Recht, „alle Dinge, und seien es die erhabensten, auch einmal psychologisch und psychoanalytisch betrachten zu dürfen", nicht der Anspruch einer d i e n e n d e n , d. h. einer s p e z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n , sondern der Anspruch einer herrschen wollenden, d. h. einer w e l t a n s c h a u l i c h e n Forschungs-Haltung: der Psychoanalyse als Daseinsbetrachtung: das impliziert einen Konflikt mit der anderen universalen Daseinsbetrachtung, die in diesem Falle Objekt ist: wie die indische Philosophie und Religion. Während nun in allen denkbaren Fällen eines solchen Konflikts zwischen Weltperspektiven (der nicht gegeben ist, wenn sich ein philosophisches System gar nicht auf ein anderes bezieht, es nicht zum Objekt macht) dieser Kampf mit Intuition und Argumentation a u s g e t r a g e n wird und die gegensätzlichen Konzeptionen in begründende Beziehung gebracht werden, wird der Streit dann, wenn die Psychologie der eine Gegner ist, umgangen. Das aber ist die Quelle jenes überaus abstoßenden Anblicks, der darin liegt, daß der weltanschauliche Gegner gleichsam heimlich, d. i. ohne auf ihn einzugehen, abgetan werden soll, daß hier eine Psychologie als P h i l o s o p h i e auftritt, ohne sich den geistigen und wissenschaftlichen Bedingungen des philosophischen Erkennens zu unterwerfen. Denn sonst müßten die psychoanalytischen Gedankengänge in A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit den inhaltlichen Erkenntnissen ihres „Objekts", mit den Erlebnis- und Verstandesgründen der beurteilten Gedankenwelt (in diesem Fall: der indischen) 3*
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auftreten — wenn die Psychoanalyse Allgemeinbetrachtung, d. i. Weltanschauungsgeltung beansprucht. Wenn sie das aber nicht beansprucht, wenn sie Spezialwissenschaft sein wollte, nicht selbst das Daseinsprinzip enthaltend, sondern dienend für die Ermittelung solcher Prinzipien, dann könnte sie nicht echt philosophische Fragestellungen aufwerfen und sie auf ihre Weise beantworten ohne eben die Reservation, dort nur als Einzelforschung reden zu wollen, ohne sich gegen das Recht der Universalperspektive abzugrenzen und diese sich gegenüberzustellen. Kein Nichtbotaniker würde eingehend von Pflanzen sprechen, ohne der Ergebnisse der Botanik wenigstens abgrenzend zu gedenken. Die Psychoanalyse aber handelt eingehend über die „Todesfurcht" im Denken der Inder, über das „Geheimnisvolle" und über die „Askese" — also über eminent mit dem Daseinsganzen verbundene, d. i. philosophische Fragwürdigkeiten — ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß an dieselben Phänomene die ganze Macht eines vieltausendjährigen Denkens der Menschheit gewendet worden ist, mit dem sie sich, wenn sie Weltanschauung sein will, auseinandersetzen, das sie, wenn sie Spezialwissenschaft sein will, wenigstens grenzdefinierend nennen muß, soll nicht der Eindruck entstehen, sie wolle ihre Ergebnisse an die Stelle der tiefsten Besinnungen des Menschengeschlechts setzen: Wer sich die Todesfurcht bei den Indern durchaus nicht anders als durch den Kastrationskomplex bei diesem Volke erklären kann, sollte, wenn er sich nicht den philosophischen Erlebnissen und Begründungen zuwenden will, welche das dem Psychoanalytiker so völlig rätselhafte Todesfurchtproblem immerhin „natürlicher", jedenfalls ganz anders deuten und lösen — er sollte Grenze oder Verhältnis zwischen seiner und dieser Betrachtung wenigstens angeben, sonst erweckt er den Anschein, daß er nicht eine die Philosophie nicht berührende spezielle, sondern eine das philosophische Ergebnis durchaus treffende, es entwertende, d. i. aber selbst philosophische allgemeine Aussage machen will. Die Wahrheit ist, daß eben dieser Anschein gerade durch die Unbestimmtheit in derartigen Studien, gerade durch das Unentschiedene zwischen Weltansicht und Spezialbetrachtung, durchaus erweckt werden soll, die Wahr-
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heit ist, daß dies Verfahren des Nicht-Aussprechens des Charakters einer Disziplin für die „wissenschaftlichen" Machtaspirationen sehr zweckdienlich ist, daß man den Vorteil der unangreifbaren, zur Diskussion nicht verpflichteten Spezialforschung davontragen, die Verantwortungspflicht der Allgemein-Erkenntnis ablehnen, aber ihre Geltung implizite reklamieren will: sonst wären Sätze unmöglich wie diese: „die extremen Formen des hinduistischen Asketismus sind in der H a u p t s a c h e der Tatsache zuzuschreiben, daß eine allgemeine innere Wendung gegen das Ich aus einem starken grausamen W u n s c h gegen die E l t e r n und gegen das schuldbeladene Gewissen . . . stattfindet." Oder: „Mit dem Anwachsen der Libido während der Pubertät kehrt das verdrängte Verlangen nach dem Inzest der Ödipus-Phase wieder und unterliegt nochmals beträchtlichen Verdrängungen, die als direkter, verletzender Vorstoß gegen das neuerlich gebildete Ichideal in der Projektion ihrer Eltern, des großen Gottes Siva und seiner Gattin Parvati, empfunden werden." Oder: In der Mythologie existiert eine Anzahl von Göttern und Göttinnen, von denen ein jedes die Projektion besonderer Attribute früherer Libido-Objekte darstellt." — Oder: „Die außergewöhnlichen Zeremonien, denen der Hindu in bezug auf Sauberkeit geradezu versklavt ist, sind religiöser Natur im Dienste der Reaktionsbildungen als eine positive Sublimierung ihrer analerotischen Tendenzen." Es ist nicht, wie die Psychoanalytiker zuweilen gern glauben, der „herabwürdigende" Charakter solcher Deutungen schlechthin, der die ihnen nur allzu plausible Empörung auslöst, die derartige Betrachtungen gelegentlich erfahren — nicht die Hervorkehrung des „Niedrigen" als solche verursacht die intensive Ablehnung, sondern die selbstherrliche und dreiste Ausschließlichkeit, mit der sie eine Unzahl scharfsinnigster und tiefster Gedanken über dieselben Fragen beiseite schiebt, ohne sich zu ihnen zu rangieren. Dieser diagnosenstellende Hochmut, der zuweilen in ein Mißverhältnis zu seinem Objekt gerät, wenn er es mit Philosophie, Religion und Mythos zu tun bekommt, diese selbstsichere Überlegenheit, die Ergebnisse von philosophischem Rang erschleichen will, ohne sich auf die Schwierigkeiten des philosophischen Bemühens einzulassen
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— eben dies ist die Ursache der Abneigung allen sachhaft gegenstandsbezogenen Denkens gegen dergleichen psychoanalytische „Abfertigungen" der Daseinsfragen und des Mythos, in dem die gleichen Probleme auftreten. Mit Ausnahme der Psychoanalyse, die eine Art Rückfall in die aufklärerische und rationalistische Einstellung zum Mythos bedeutet — ohne sich indessen auf eine in ähnlich tiefer Weise fundierte theoretische Position berufen zu können wie diese — zeigten sich alle übrigen Anläufe der Zeit zur Bewältigung des Problems des Mythischen als in eine ganz bestimmte Richtung vordringend: nämlich auf das Ziel einer möglichst weitgehenden Verifizierung der mythischen Aussage gerichtet. Es mußte nun dargetan werden, daß diese allgemeine Neigung, dem Mythos in seinen Behauptungen so weit als irgend denkbar „recht zu geben", daß diese Tendenz, die als Reaktion auf die vorangegangene Enge des nur-rationalistischen Blickfeldes folgte, nicht auf legitime Weise erfüllt werden konnte: insofern als das Miterleben des Wirklichkeitsmoments, das in jeder mythischen Äußerung lag, unweigerlich in einen Konflikt mit dem Wirklichkeitserlebnis „unserer" Welt hineinführte. Diesem Dilemma suchte man zwar auf mannigfache und geistreiche Weise zu entkommen — sei es, daß man die Gelegenheit einer philosophischen Theorie dazu benutzte, um den Begriff „Wirklichkeit" etwas labiler und unbestimmter, kurz, anpassungsfähiger zu gestalten und zu definieren, als er doch war, und im übrigen der Auseinandersetzung auswich (Cassirer), sei es, daß man nur solche Momente des Mythischen aufhellte, in denen der Konflikt mit unserem Wirklichen nicht allzu kraß auftrat (Dürkheim, Levy-Brühl). Immer aber konnte darauf verwiesen werden, daß der Versuch, den Mythos von ihm selbst aus zu verstehen — in dem Bewußtsein, daß nur dies eigentliches Verstehen bedeute — ständig mit einem eigentümlichen In-der-Schwebe-lassen, mit einer Verflüchtigung, Verengerung, Metaphorik, kurzum mit einer „Beschädigung" der Wirklichkeitswesenheit einherging, weil eben andernfalls die im Hintergrund stehende bewußtseinsbeherrschende Macht „unserer" Realität ein wahres Eintauchen in die vom My-
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thos behauptete letztlich verbot. Man konnte in Wahrheit nicht sich von aller bloß psychologischen Deutung der mythischen Inhalte so gründlich abwenden und nicht so völlig Ernst machen mit der These vom „Wirküchen im Mythos", als man wollte oder behauptete. Man wollte sichtlich von der nur psychologischen Abschätzung des Mythischen los, aber — es gab nicht das der Psychologie wahrhaft Entgegengesetzte. Alle Vorstöße in dieser Richtung unterschieden sich von der Psychologie mehr in der Definition als in der Sache. Allerdings ist im Zusammenhang mit dem Realitätsproblem zweier Versuche, das Wesen des Mythos neu zu erschließen, noch nicht gedacht worden: Der eine hegt in der Anlegung der okkultistischen und parapsychologischen Perspektive auf die Probleme des Mythischen — der aridere gründet sich auf eine, aus der naturphilosophischen Kontemplation und der naturgeschichtlichen Konstruktion erwachsene Neuorientierung, die auch manche Aussagen des Mythos in einem anderen Lichte sehen läßt als vordem. Einen solchen Vorstoß hat Edgar D a c q u e unternommen. Diese Unternehmungen, die Unzugänglichkeit des Mythischen zu durchdringen, können aber wegen der Besonderheit der in ihnen vorwaltenden Realitätsproblematik nicht mit den zuvor behandelten Versuchen zusammengestellt werden. Sie werden im weiteren Verlauf dieser Untersuchung ihre Stelle finden. Wir begnügen uns damit, als kritisches Ergebnis der bisherigen Übersicht zusammenzufassen, daß die Absicht des Bewußtseins unserer Zeit, sich zum Mythischen hinzuwenden, in allen diesen Entwürfen gescheitert ist — an dem zwar unsichtig zu machenden, aber nicht in Kürze oder nebenbei zu überwindenden Faktum der Wirklichkeit.
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I. KAPITEL.
DIE VORLÄUFIGE WESENSBESTIMMUNG DES MYTHISCHEN.
Wir haben, solange wir uns der Betrachtung der vielfachen Standpunkte der Mythenforschung zuwandten, keine ausgesprochene Definition des Mythischen geben können. Wir müssen das nunmehr tun, um den Gesichtspunkt dieser Untersuchung zu bestimmen. Allerdings wird eine Umschreibung des Mythischen, die einer sachlichen Erkenntnis von ihm vorangehen kann, nur eine recht vorläufige und ungefähre sein können. Sie wird hauptsächlich in der Abgrenzung gegen Anderes bestehen. Die endgültige und wesensmäßige Erfassung des Mythos darf also nicht in dieser vorerst zu gebenden thematischen D e f i n i t i o n gesucht werden, sie muß dem alsdann erst möglichen Gange dieser Überlegung vorbehalten bleiben. Der Begriff Mythos löst gewöhnlich die Vorstellung an eine phantastische Welt aus, in der überirdische Wesenheiten sichtbar in die Reihe der natürlichen Dinge treten, wunderartige Ereignisse den Ablauf des erklärbaren Geschehens überall durchbrechen, oder in der die Vorgänge und Personen vielleicht gar nichts Übernatürliches darstellen und tun, aber erfüllt sind von symbolhaften Bedeutungen, die alles in eine überzeitliche, urbildhafte, schicksalsmäßige Sphäre rücken. Kurzum, diese abenteuerliche Landschaft, in der sich zuweilen ein Durchblick bis auf den Grund der Welt zu öffnen scheint und in der neben solcher Sicht die unglaubhaftesten, krassesten Unmöglichkeiten von Dingen und Wesen und Wirkungen stehen — dieser Komplex sieht ganz so aus, als habe ihn das Bewußtsein hervorgebracht, mit einem Wort: als sei er Dichtung. Diese ungeheuere Walpurgisnacht, die nicht nur „von Harz bis Hellas", sondern in der Epoche urzeit40
Heber Völker über die ganze Erde geistert, scheint nichts als das gestaltgewordene Getümmel aller Schrecken, Sehnsüchte und Erkenntnisse des frühen Bewußtseins der Menschheit. Gewiß, es scheint Wahrheit zu enthalten, sofern Dichtung Wahrheit enthalten kann, und Erkenntnis, soweit in dichterisch Geprägtes Erkenntnis eingeht, nicht mehr. Mag also der so aufgefaßte Mythos auch ein Wirkliches widerspiegeln, so doch nur ein solches, das lediglich im Denken oder im Symbol erscheint — die Wirklichkeit aber als sinnlich-greifbares oder historisch-verbürgtes Realsein scheint im Mythos vor Göttern und Dämonen, Untieren und Wundern zu zerstieben. Man konnte in dieser tausendfältigen erhabenen oder absurden Phantasmagorie nichts anderes sehen als die Dichtung der „ewigen Urzeit". Und doch deckte der Begriff der Dichtung, wie man wohl bemerkte, nicht den Inhalt des Mythischen. Schon daß man neben der Begriffsform „Dichtung" die des „Mythos" entwickelt hatte und nicht entbehren konnte, zeigte, daß da ein wahrer, wiewohl nicht immer bewußter Gegensatz herrschte. Es klang nämlich aus dem Mythos trotz des phantastischsten Inhalts zuweilen ein Ton der Realität, wie er den Gebilden der Dichtung nicht eigen war, und zwar ein Echo nicht der gedachten, nicht der symbolisierten, sondern der buchstäblichen, drastisch-anschaulich erfahrenen Wirklichkeit. Ein Beispiel wird zunächst den subjektiven Unterschied prägnant angeben: Goethe will gar nicht behaupten, daß Mephistopheles in Wirklichkeit irgendwann einmal in Fausts Studierzimmer aus einem sich in Rauch auflösenden Hunde hervorgekommen sei — aber der althebräische Mythos etwa, der die Vorgänge um Simson berichtet, will durchaus behaupten, daß die Unversehrtheit der Haare des Simson, die Enthaltung von Wein und Rauschstoffen schon für die Mutter des Helden vor dessen Geburt und anderes in Wirklichkeit Bedingung seiner wunderbaren Kraft gewesen sei, der Mythos will die historisch-verbürgte Realität der Taten Simsons und ihrer Ursachen, die ja als Bestandteile der politischen Geschichte dargestellt werden, aussagen. Hierbei ist es sogar unerheblich, ob man solche Realität als überhaupt 41
denkbar anerkennt oder nicht, da es zunächst einmal auf den unterschiedlichen Anspruch ankommt: innerlich Erschautes zu gestalten oder erfahrene Wirklichkeit zu berichten. Die Dichtung will das Erste, der Mythos will das Zweite. Allerdings würde der Mythos so der Historie schlechthin gleichstehen, wäre die Wirklichkeit, von der er handelt, nicht eben gerade eine von den normalen Inhalten der Realität abweichende. Wir werden somit aus dieser Betrachtung, die es mit der Realitätsfrage zu tun hat, alles „Mythische" weglassen, das, wiewohl von denkwürdigen, schicksalhaften, so doch von Begebenheiten und Personen handelt, die in den Bahnen der natürlichen Gesetze wandeln. Diese Art „Sage" und „Legende" entbehrt der eigentümlichen Spannung zwischen Wirklichkeitsbehauptungen, die wir hier für den Begriff des „Mythos" reservieren. Erst das Mehr-alsUngewöhnliche, das den bekannten Lauf der Natur Verlassende ist der Gegenstand des Mythos. Das Überirdische, als drastische Wirklichkeit erscheinend und behauptet, ja, als Geschichte behandelt, ist Kennzeichen des Mythischen. Mit diesem Merkmal indessen sind wir noch nicht imstande, den Komplex Mythos aus dem unübersehbaren Gewebe des Wunderbaren herauszulösen, das der Geist sonst noch gesponnen hat. Nicht nur ist die Dichtung damit als ein Unterschiedenes noch nicht hinreichend abgewehrt, sondern die Möglichkeit einer Vermengung des Mythischen mit einem anderen Bereich ist sogar erst heraufbeschworen: mit der Religion. Zwar ist Realität das Zeichen des Mythos gegenüber der Dichtung: aber aus der bloßen Form des überlieferten Wortes, aus dem bloßen Realitäts- oder Geschichts„Stil" des urzeitlichen Dokuments heraushören zu wollen, ob wir Dichtung oder Mythos vor uns haben, das verlangt eine Hellhörigkeit, die man sich kaum zutrauen darf und auf deren Sicherheit man sich noch weniger wird verlassen dürfen. Überdies also kompliziert nun noch ein zweites hier auftretendes Phänomen die Möglichkeit, den Mythos als solchen zu erkennen: das ist die Religion. Sie gerade behauptet ja ebenfalls das Wirklichsein des Außerirdischen, die Tatsächlichkeit des Wunderbaren. Wie sollte somit dieses Kriterium, das für
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die Religion wie für den Mythos gilt, die beiden Sphären sondern? Oder sind diese vielleicht nicht zu sondern? Und doch können wir uns der weiteren Führung des Hinweises, welcher in dem Realitätsindizium liegt, zum vollen und klaren Heraustreffen des Mythischen zwischen Dichtung einerseits und Religion andererseits anvertrauen. Denn der Wirklichkeitsanspruch, der aus dem Mythos schwächer oder deutlicher herausklingt, hat in einigen Fällen eine nicht mehr zu übersehende Verstärkung erfahren: und zwar überall dort, wo der Mythos nicht nur als ein reindeskriptiver Bericht von Welt und Überwelt, als eine bloße Darstellung selbst ewig bedeutsamer Dinge, sondern wo er mit konkreten F o r d e r u n g e n verknüpft auftrat, die er dem Tun und dem Leben der Menschen auferlegte, an die er sich richtete. Zuweilen nämlich erscheint der Mythos im Zusammenhang mit einem solchen vielfältigen Komplex strengster Normen, begleitet von einer gesetzlichen Lebensordnung, die strikt Handlungen und Unterlassungen verlangt. Dieses tief ins Dasein der Menschen einschneidende Tun und Lassen nun steht in einer inneren Verbundenheit, Angepaßtheit an die kontemplativ erfaßten Inhalte der mythischen Wesen und Geschehnisse — das Geforderte entspricht dem Erschauten: das bedeutet, daß das, was die Autorität der mythischen Intuition an Handlungen, an konkretem Verhalten von den Menschen verlangte, kein Handeln und kein Unterlassen im B e r e i c h der n a t ü r l i c h - r a t i o n a l e n Zwecke, keine Praxis und keine Lebensführung im empir i s c h - n o r m a l e n oder im m o r a l i s c h - v e r s t ä n d l i c h e n Sinne war —, sondern daß dieses Tun den Zielen der im gewöhnlichen Dasein sinnvollen Betätigungen so widersprach und so fernlag wie die Wunderwelt des Mythos der natürlichen Welt. Es galt ein irdisches Tun mit irdisch nicht einsehbarem Zweck, ein Bewirken und Vermeiden, das nur vom Außerirdischen her sinnvoll wurde. Wenn geboten wurde, den Toten oder den Dämonen Speisen hinzustellen, oder wenn in den unvermeidlichen persönlichen Umgang zwischen den Menschen einer Volksgemeinschaft ein kaum übersehbares Netz von Reinigungs- und Trennungsvorschriften eingeschaltet wurde, die jeden Schritt und
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jede Bewegung des natürlichen Daseins mit einem gewaltigen Gewicht belasteten, das durch das ganze Leben zu schleppen war —, so sind das keine Pflichten oder Verbote der rationalen Zweckmäßigkeit oder der Moral, sondern es sind praktische Entsprechungen der im Mythos waltenden Übernatur (die dort quasi-theoretisch, schauend erfaßt ist): das Wunderbare spiegelt sich ab in der menschlichen Handlung. Der Inbegriff dieser Normen, ein solches im Mythos enthaltenes oder ihn begleitendes Gesetz heißt R i t u a l . In ihm haben wir jene Verstärkung des Realitätsanspruchs zu erkennen, der — da er vom bloß Visionären zur strikten Beherrschung aller konkret-praktischen Daseinsäußerungen weitertreibt, vom Erlebnis des Seins zum Motiv des Tuns wird — zunächst für eine Intensität des Wirklichkeitsakzents im Mythos zeugt, die der bloßen Dichtung ganz fremd ist. Im Ritual als einem Tun, ja, als einem empirisch-unrationellen Tun, treffen wir gleichsam auf ein Kennzeichen des gesteigerten Ernst- und Schwernehmens des mythischen Realitätszeichens am Wunderbaren durch den Mythos selbst — sozusagen auf ein unentbehrliches und untrügliches Symptom seiner bona fides zu seinem eigenen überirdischen Inhalt, das wir aber verlangen müssen, ehe wir, aus einer andern Welt her, Ursache haben sollten, sein befremdliches Realitätsurteil ernst zu nehmen. Und dieses Symptom, der K o n n e x mit einem R i t u a l , ist es, das der Dichtung völlig fehlt und sie s c h a r f und eindeutig vom Mythos t r e n n t : Die Dichtung wird von den Menschen aufgenommen, und sie erschüttert oder erhebt — aber sie füllt und belastet das Dasein nicht mit tausend überdies äußerlich-irrationalen Regeln der Lebenshaltung. Seien wir noch genauer: vielleicht hat dieses oder jenes Dokument einst inmitten einer kulturellen Atmosphäre gestanden, die ein zu ihm gehöriges Ritual kannte, aber die Geschichte hat die Spuren davon verlöscht, und wir sehen heute nur noch das überlieferte phantastische Bild von überirdischen Wesen und ihren Taten — aber nicht die Realitätsgeltung dieses Bildes, anerkannt durch eine lebensbeherrschende P r a x i s : — so werden wir solche Visionen der Dichtung zurechnen, in der bewußten Einschränkung, den Mythos und seinen gewiß befremdlichen Wirklichkeitsanspruch nur da zu sehen und
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nur soweit ihm nachzugehen, als von ihm her alle Bedingungen zur Unterstreichung dieses Anspruchs erfüllt sind: wir erkennen den „Mythos" im Kreise dieser Untersuchung nur in Verbindung mit einem Ritual. Aber eben damit sind wir in die Domäne der Religion geraten. Das Ritual ist zugleich ein Attribut der Religion, die Realitätsbehauptung des Überirdischen ist auch ihr Kennzeichen, und so ist die Frage nach Identität oder Differenz von Religion und Mythos erneut zu stellen. In der Tat wird sich herausstellen, daß ein ganz bestimmter umschriebener Teil-Bereich der Religion in Wahrheit mit dem Mythos zusammenfällt, mit ihm völlig wesensidentisch ist — aber für das übrige Gebiet der Religion wird das Ritual, obzwar es das Verbindende beider Phänomene ist, auch ihr Trennungsmittel ergeben. Denn das Ritual, das wir als einen praktischen Ausdruck des Bewußtseins von der Wirklichkeit der mythischen Inhalte begriffen, hat erklärlicherweise soviel Schattierungen und Grade wie dieses Bewußtsein selbst. Dieses, sagen wir, „mythische Bewußtsein", das Bewußtsein von einer irdisch-erscheinenden überirdischen Welt, kann nämlich entweder stark, naiv, unskeptisch und total oder äußerlich, zwangshaft, reflektierend und nur verstandesmäßig von dieser — für uns — problematischen Wirklichkeit erfüllt sein. - Je nachdem nun, ob das vom Mythos ergriffene Bewußtsein in seiner Ganzheit, in der restlosen und ungeteilten Haltung des denkenden und sinnlichen Erfahrens, die Wahrheit des mythischen „Wunders" im Ritual betätigt — oder ob es nur bewußtseinsteilhaft ein Denken oder ein Fühlen oder ein Imaginieren, aber nicht mehr ein sinnenhaft-empirisches Erleben dieser „überirdischen" Realität erkennen läßt: je nachdem fällt das Ritual einerseits streng, in alles Einzelne des empirischen Daseins eindringend, schwer-lastend und buchstäblich oder andererseits milde, nur wenige Lebensgebiete streifend, unschwer zu erfüllen und symbolisch aus. Das Ritual scheidet sich prinzipiell in ein hartes, präzis-tathaftes und in ein leichtes, Handlungen zeremoniell-andeutendes, halb-gedankliches. Dieser Scheidung des Rituals in zwei Gattungen nun — die natür-
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lieh durch manche Stufen ineinander übergehen — entspricht eine Trennungslinie, die durch das Gebiet der Religion läuft und zwei Erscheinungsformen der Religion diesen beiden Arten des Rituals zuordnet: Da die Bedingung für die unbegrenzte Expansionstendenz einer religiösen Bewegung die leichte Übertragbarkeit des Rituals auf eine beliebig große Zahl von Menschen, kurzum seine unterschiedslos mögliche Annehmbarkeit und seine nicht allzuschwere Ausführbarkeit ist, so ist das leichte symbolische Ritual — das oft bis zum bloßen „Bekenntnis" sich verflüchtigt — Begleiterscheinung der Weltreligion —, da ferner die Übernahme eines schwer erfüllbaren, anstrengenden, oft gegen alle natürlichen Zwänge gerichteten, fast allen Raum und alle Zeit des Lebens einnehmenden Rituals die beliebige Verbreitungsmöglichkeit der mit solchem Gesetz belasteten Religion völlig ausschließt, da vielmehr solches Aufsichnehmen an die Bedingimg einer ganz besonderen physischen Disposition gebunden ist, so finden wir das harte durchgearbeitete, nur für spezifische Gemeinschaften tragbare Ritual als regelmäßigen Ausdruck der Sekten- oder der Nationalreligion. In diesem schweren nationsgetragenen Kult also erblicken wir zugleich jene äußerst mögliche Bezeugung für die wirklichkeitsartige Bedeutung eines überempirischen Weltbildes, die zugleich auch das Signum des Mythischen ist und die allein auf diese Gestalt des religiösen Phänomens die Realitätsforschung konzentrieren könnte. Wir werden also für die folgende Untersuchung die ritualgebundene Nationalreligion und den Mythos durchaus als identisch definieren. Eben damit grenzen wir den Mythos, sein Ritual und den Wirklichkeitsanspruch seiner Überwelt gegen alle Inhalte der Weltreligion, ihr Ritual und den Geltungsanspruch ihrer Wunder ab, eine Entsprechung, die im folgenden noch gründlicher unterbaut werden wird. So ist aus dem weiten Reich der Imagination aber der allergrößte Teil des Übernatürlichen als Dichtung und Weltreligion gekennzeichnet und nur der geringste als echter Mythos übrig geblieben; er allein bildet, so verstanden, den Gegenstand dieser Überlegung. Die Begriffsbestimmung des Mythischen findet auf einer Linie statt, die sich von dem einen Endpunkt, dem der freien
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Phantasiebetätigung, der Dichtung, bis zu dem anderen Endpunkt hinzieht, den die Wirklichkeit, die verbürgte Erfahrung, bildet. Zwischen dem Bereich der äußersten Irrealität, der Dichtung, und dem der äußersten Realität, der Empirie, liegt das Geltungsgebiet der Religion, die Sphäre „jenseitiger" Wirklichkeit. Es wird seinerseits durchschnitten und in die beiden Sphären von Volks- und Weltreligion zerlegt. Es spricht manches dafür, daß die JenseitsWirklichkeit der Weltreligion an das Reich der Dichtung grenzt — grenzt dann vielleicht der Mythos an das Reich der Erfahrung?
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II. KAPITEL.
HYPOTHETISCHE VORWEGNAHME DES RESULTATS: BESTIMMUNG DER MYTHISCHEN REALITÄT.
A. Bestimmung der mythischen Realität. Das Problem des Mythos ist für sich selbst nicht zu lösen. Das ist das Ergebnis und der Grund des Scheiterns all der vielfältigen Versuche, welche das Mythische als solches zur Frage machten und als solches verstehen wollten. Der Mythos ist kein isolierbarer Forschungsgegenstand wie manche Gegenstände der Natur- und Geisteswissenschaft, das bedeutet: seine Behandlung nach Art einer bestimmten, speziellen, umschriebenen Fragwürdigkeit — wie etwa „die Erscheinungen der Elektrodynamik" oder „das Obligationenrecht" oder „die Geschichte Griechenlands" — ist unergiebig. Dies darum, weil man deutlich den Rest bemerkt, den sowohl Psychologie wie Erkenntnistheorie in ihren Auflösungen des Mythischen stehen lassen müssen — ein dabei nicht zur Sprache, nicht zur Verhandlung gekommenes, in dem gerade das Rätsel steckt: der Anspruch des Mythos auf die Wirklichkeit. Dieser Anspruch wird in allen Erklärungsmethoden auf eine seltsame Art „erledigt": er wird entweder ohne Auseinandersetzung abgewiesen, also gleichsam gar nicht einmal für widerlegungswürdig erachtet — oder er wird dilatorisch behandelt und umgangen. In keiner psychologischen Deutung des Mythos ist eine Begründung dafür zu finden, daß die Realitätsforderung der mythischen Behauptung zurückgewiesen werden muß, weil ihr Inhalt allen Vorstellungen von wirklichen Dingen widerspreche, die wir kennen — man hält sich mit einer solchen Widerlegung gar nicht erst auf, denn sie liegt schon implizite in dem Vorsatz psychologisch zu erklären. Psychologische Mythendeutung heißt Ablehnung schon der Fragestellung: Wie kann die mythische Behauptung der buchstäblichen Wirk-
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l i c h k e i t e n t s p r e c h e n ? Also etwa: Wie könnte in Wirklichkeit Simsons Haar Bedingung seiner Kraft sein ? — und bedeutet Ersetzung dieser Frage durch die psychologische: Wie ist es denkbar, daß das B e w u ß t s e i n zu den m y t h i s c h e n A u s s a g e n kommt? (scilicet: da doch offenbar die Verknüpfung in der Realität „unmöglich" ist); also etwa: Wie kommt die P h a n t a s i e dazu, „Haar" und „übermenschliche Kraft" zu verknüpfen? Die Zurückweisimg einer drastischen „Wahrheit" des Mythos ist innerhalb jeder Psychologie unausgesprochene Selbstverständlichkeit. Wird diese Abweisung im psychologischen Verfahren stillschweigend vorausgesetzt, so wird im erkenntnistheoretischen Vorgehen der Wirklichkeitsentscheidung zwischen Mythos und bekannter Erfahrungswelt ausgewichen — es wird ihr unter Zuhilfenahme einiger der zahlreichen Bedeutungen des Realitätsbegriffs aus dem Wege gegangen. Alle diese Vermeidungen der Stellungnahme in Dingen des Wirklichseins, die wir einleitend darstellten, machen den Mythos zu einem Spezialproblem, zum Thema einer bestimmten E i n z e l Wissenschaft: Mythenforschung. Wenn auch die Einzelwissenschaft vom Mythischen sehr Beachtliches zustande bringen mag, sobald es sich um das Material der Mythen handelt, so versagt sie doch, wenn es seine D e u t u n g gilt. Denn solche Deutung kann durchaus nicht vor sich gehen, wenn das auffälligste Moment des Mythos, die Möglichkeit seiner „Wahrheit", überhört, beiseite gelassen oder kunstvoll ausgeschaltet wird. Der Grund für dieses Weglassen dessen, was den Mythos zum Mythos macht, ist nicht einmal hinreichend beschrieben, wenn man lediglich auf die selbstverständliche Irrealität des „Wunderbaren" verweist, die nicht erst „dargetan" oder „entschieden" zu werden brauche, nur darum, weil der Mythos Realität des Wunderbaren statuieren wolle — der Grund für die kurz und selbstsicher abfertigende Behandlung dieses Punktes liegt zum guten Teil darin, daß man gar keine rechte Abgrenzung dafür besaß, was Mythos sein sollte, weil mit den wenigen urweltlich-lapidaren Stimmen, deren Realitätseindruck man sich schwer entziehen konnte, den echten Mythen, ein ungeheuerer Chor von anderen Stimmen mitt ö n t e , deren irreale B e d e u t u n g e n am Tage waren: U n g e r , Wirklichkeit.
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die Stimmen der Dichtung und der dichtungähnlichen Religionen. Die Ähnlichkeit dichterischer, weltreligiöser und mythischer Aussage verwirrte alles und verhinderte eine imbedingt notwendige Sonderung nach einer unterschiedlichen Möglichkeit eines Realitätsgehalts, das heißt aber zugleich reziprok nach einer unterschiedlichen Charakterisierung des sog. „Wunderbaren" in diesen drei Kategorien. Die Realität und ihr Gegenbegriff, die Irrealität und das „Wunderartige", wurden gleich schnell abgetan, obwohl es doch notwendig war, diese Antithesen bis zum Äußersten zu spannen, um jeden Begriff überhaupt erst rein zu erzielen und über sein Platzgreifen entscheiden zu können. Der üblichen Psychologie allerdings lag an einer peinlichen Sonderung des Mythischen von anderen und ähnlichen Phänomenen nicht übermäßig viel: denn da für sie die Realitätsfrage sofort eindeutig und zwar im Sinne des mythischen Anspruchs negativ entschieden war, so kam es nicht ebensosehr darauf an, welche von mehreren irrealitätsgezeichneten Schöpfungen sie vor sich hatte. Wenn man aber — sei es durch Modifikation des psychologischen Gesichtspunktes, sei es erkenntnistheoretisch — auf ein möglichstes Geltenlassen des Wahrheitsakzents im Mythos hinauswollte (und das ist das Signum aller „neueren" Mythenforschung), so war das Fehlen einer klaren Heraushebung des Mythos aus „verwandten" Erscheinungen das erste unüberwindliche Hemmnis für dieses „Wahrheitspostulat" und eigentlich nur Konsequenz und Symptom einer noch tieferen Mutlosigkeit und Halbheit diesem Objekt gegenüber: des Zurückweichens vor der Realitätsfrage, die, wie man wohl merkte, sich nicht auf den Mythos beschränken ließ. Alle Mythenförschung wollte der Aufrollung dieser Frage ausweichen, mit der nicht nur unsere Welt nach der Realität des mythischen Ausnahmegeschehens fragte, sondern in der der Mythos, die Frage zurückgebend, unsere eigene Welt fragwürdig machte — die Mythenforschung schreckte zurück vor dieser ungeheueren Erweiterung ihres Gegenstandes, denn eine solche entrückte den Mythos ihrer Kompetenz und entzog ihn dem einzelwissenschaftlichen Denken überhaupt und überantwortete ihn der Philosophie. 50
Denn die Voraussetzung der Einzelwissenschaft ist das Außer-Betracht-Bleiben, die Undiskutierbarkeit des Wirklichkeitsgepräges, die S t a b i l i t ä t der Wirklichkeit, in der wir leben, und auf deren gegebenem, festen, nicht mehr fragwürdigen Boden die Einzelprobleme sich überhaupt erst erheben und da sein können. Die Frage ist, ob der Mythos ein solches Einzelproblem ist. Wir meinen, daß er es nicht sei: denn wenn er selbst ein Realitätsproblem involviert, so rührt er an die Stabilität dieser unserer Welt. Die Aufwerfung der Realitätsproblematik suspendiert alle Versuche der spezifischmythenwissenschaftlichen Forschung, sie vertagt den Mythos als Sonderproblem und beginnt einen ganz anderen Gedankengang im Bereich der universalen philosophischen Besinnung. In diesem nun verwandelt sich der Mythos aus einer Darstellung individueller, einmaliger, imaginierter oder realer Tatsachen in den Ausdruck einer generellen, prinzipiellen, imaginierten oder realen Seite des Weltganzen. Das ist das Thema dieser Überlegung. Es ist noch einmal kurz zu überblicken, worin der Mißerfolg des einzelwissenschaftlichen Bemühens um den Mythos besteht: Die Aufgabe, die der Mythos stellt, ist nicht zu lösen, wenn nicht die Frage seines Wesensmerkmals — die? Seinsbehauptung über Dinge, deren Sein wir nie erfahren haben — entschieden wird. Darin liegt zunächst, daß ein Unvermögen oder Aussetzen dieser Entscheidung, das oft ein Symptom gerade der geistvollsten Bewältigungsversuche ist, niemals eine befriedigende Aufhellung bringen kann. Indessen die umfänglichste mythenwissenschaftliche Literatur entzieht sich ja dieser Entscheidung gar nicht: sie urteilt über den Realitätsanspruch des Mythos durchaus, zwar nicht explizite, aber implizite, und zwar negativ, sie ignoriert ihn in einer Weise, die besagt, daß dieser Anspruch nicht einmal angehört zu werden braucht. Warum sollte das keine endgültige Klärung, nämlich endgültige Abweisung jenes Anspruchs sein können? Darum nicht, weil diese Entscheidung der Realitätsfrage ein Urteil indicta causa: eine Stellungnahme ohne Erörterung, ist, die nur eine philosophische sein könnte. Interpretiert man aber eine philosophische Position in diesen Be4*
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scheid hinein, so bedeutet er ausgesprochen: Über den Inhalt der Wirklichkeit entscheidet allein die Erfahrung. Das Gepräge der Wirklichkeit, das wir kennen, das unsere Erfahrung uns immer aufs neue zeigt, ist das einzige erfahrene Gestaltetsein einer Wirklichkeit. Folglich bedarf jedes andere Gestaltetsein, wie das mythische, keiner ernsthaften Widerlegung. So darf Erfahrungswissenschaft vielleicht sprechen. Aber die Philosophie als die Wissenschaft von dem möglichen Umfange und den Grenzen der Erfahrung kann so nicht sprechen. Als für die „Arbeitsfähigkeit" der Spezialwissenschaft zweckdienliche Annahme mag dieser Ansatz vielleicht nötig sein — als philosophische Entscheidung ist er völlig unlegitimiert. Für die Philosophie beginnt diese Frage da, wo sie für die Einzelwissenschaft aufhört, und die eigentliche — negative oder positive — Entscheidung über die Wirklichkeit ist eine philosophische. Die erwähnte „philosophische" Interpretation ist nur eine philosophische Ausdrucksweise für den Standpunkt des Erfahrungswissens — sie ist nicht eine der Erfahrung als ihrem Gegenstand übergeordnete „transzendentale", keine wirklich philosophische, sondern eine mit dem Empirismus zusammenfallende, eigentlich „einzelwissenschaftliche" Konstatierung. Die Philosophie, als letzte Instanz verstanden, hat hier noch gar nicht gesprochen. Gegen die einzelwissenschaftliche negative Entscheidung aber, auch wenn sie philosophisch formuliert wird, protestiert die Bedingung der gestellten Aufgabe: den mythischen Realitätsakzent, aufgewiesen in Sinn, Form und Ritual des Mythos, zu erklären. Diese Bedingung einfach zu streichen mag die Spezialwissenschaft als Sprecherin der empirisch-gegebenen Erfahrung sich berechtigt glauben, dann muß sie sich allerdings vergegenwärtigen, daß gegen diesen ihren Bescheid jederzeit die Verweisung der ganzen Frage an die universale Erkenntnisinstanz vom Umfang aller möglichen Erfahrung, an die Philosophie, stattfinden kann. Erst wenn dieser Bereich, nicht nur der unprinzipielle Umriß der faktischen Empirie, begrifflich abgeschritten worden wäre und erst, wenn in diesem ganzen Gebiet keine rationale Zuordnung zu den Aussagen des Mythos möglich wäre — erst dann hätte die einzelwissenschaftliche Deutung, die den Mythos 52
nicht mehr real, sondern nur noch psychologisch versteht, ihr theoretisches Recht, erst dann wäre ein zureichender Grund zu der Interpretation des Mythos als „Dichtung" gegeben. Der Grund des Fehlschlags des einzelwissenschaftlichen Angriffs auf den Mythos liegt also darin, daß dieser Gegenstand überhaupt nur teilweise in der Reichweite dieser Art Wissenschaft liegt, seinem Wesen nach aber sie übersteigt und in das Gebiet der schlechthin universalen Betrachtungsweise fällt. Aber, so wird man vielleicht einwenden, ist denn Erkenntnistheorie und Metaphysik keine Philosophie — ist denn etwa das erkenntnistheoretische Aufzeigen einer Struktur des mythischen Bewußtseins, wie es Cassirer unternommen hat, oder ist gar die metaphysische Erhellung des Mythos, wie sie Schelling und andere gegeben haben — ist das keine philosophische Durchdringung des Problems? Darauf ist zu antworten: Gewiß sind Metaphysik und Erkenntnistheorie Provinzen der Philosophie — aber sie repräsentieren so wenig das Ganze dieser Perspektive, daß sie noch nicht einmal zusammen das Ausmaß des universalen Horizonts einnehmen, geschweige denn in ihrer Vereinzelung, in der sie uns etwa bei Schelling oder bei Cassirer entgegentreten. Bei diesen beiden Repräsentanten philosophischer Mythologie fehlt zunächst zur wahrhaft umfassenden philosophischen Methodik, d. i. zur Beleuchtung des Mythos von allen Seiten die Beziehung und der Übergang auf jene Seite des Wirklichen, die man die unmittelbare naiv-drastische Erfahrung nennt. In der Metaphysik ist ohnehin die natürliche Erfahrung ein weltweit entferntes Gebiet, und in der neukantischen Erkenntnistheorie hat diese Erfahrung so eigentümliche Umformungen zu erleiden, daß diese Philosophie der Auseinandersetzung mit dem erlebnisnächsten und vertrautesten Bereich des Daseins überhoben ist. Diese Erkenntnis macht in so weiter Ferne vor dem „Leben" halt, daß sie mit ihm nur durch Vermittelung der „empirischen Wissenschaften" verkehrt, die indessen wohl doch nicht ganz dasselbe bedeuten wie die unmittelbar ergriffene Wirklichkeit. Demgegenüber scheint es also notwendig zu werden, daß gerade dem „vorwissenschaftlichen Realsein" ein wissen-
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schaftlicher Ausdruck zugeordnet wird, der es nicht zugleich aufhebt — sonst gelangt ein fundamentales Datum, eben die unmittelbare Wirklichkeit, niemals in die Philosophie. Diese mag sich zwar weiter erstrecken als alles Gegebene, daß aber irgendetwas „Gegebenes" gar außerhalb ihrer bleiben könne und in ihr durch ein „Erzeugtes" oder ein X sich vertreten lassen müsse — das verträgt die Universalität der Philosophie gewiß nicht. Somit müssen die metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Mythendeutungen, die dem Kreis einer so verkürzten philosophischen Perspektive entstammen, wenn auch als philosophische Vorstöße, so doch als den einzelwissenschaftlichen gleichstehende Versuche beurteilt werden, insofern auch in ihnen die Wirklichkeit nicht bis in den Bezirk der „vorwissenschaftlichen" „Tatsachen-Realität", der unvermittelten Erfahrung hinein verfolgt wird — insofern gerade in ihnen die Antwort auf die Frage ausgelassen ist: Auf welche Weise kann die mythische Aussage buchstäbliche, sinnenhaft-greifbare Wirklichkeit wiedergeben, wie es der Mythos beansprucht ? Dies ist die hier gestellte Frage. Die Einzelwissenschaft kann an sie nicht heran, weil sie ihre philosophische Möglichkeit ausschließt, und die bezeichnete Philosophie der bloßen Metaphysik oder der bloßen Erkenntnistheorie deshalb nicht, weil sie nicht weit genug in die Empirie reicht. Wenngleich sich herausgestellt hat, daß der Mythos nur als ein Gegenstand der Philosophie mit Aussicht auf Erfolg angegriffen werden kann, wenngleich also der Umfang des Begriffs Mythos restlos im Umfang der Philosophie auflösbar und darstellbar sein muß, so doch keineswegs umgekehrt: Im Umfang einer solchen Philosophie darf der Mythos nur eine Stelle bezeichnen. Das bedeutet: Die Philosophie kann nicht den Mythos als ein Ziel ihrer Untersuchungen ansetzen, sie kann nicht eigens „auf ihn hin", um seiner Problematik willen, Überlegungen anstellen, die nicht auch anderwärts gefordert wären. Die mythische Prätendierung der Wirklichkeit für eine andere Welt kann nie ein Anlaß sein, eine „Philosophie zu ersinnen", die das rechtfertige. Es würde eine völlige Verkehrung aller Begründungsreihenfolgen be-
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deuten, wollte eine Philosophie sich auf den Mythos als solchen gründen. Die philosophische Erkenntnis kann sich auf den Mythos, auf eine Entzifferung des Mythos nur dann berufen, wenn sie sich sozusagen nicht auf sie zu berufen braucht, wenn sie auf solche Erklärung nur als auf eine I l l u s t r a t i o n , nicht als auf eine Begründung ihrer Systematik zu verweisen braucht. Die Fundamente müssen evidentermaßen lediglich im Bereich der rein philosophischen Besinnung selbst liegen, und die Argumentationen können nur aus dem Eigenbezirk der Erkenntnis und dürfen nie aus den Aussagen des Mythos stammen. Gibt es im Bereich der rein philosophischen Problematik als solcher Anlässe zu erkenntnismäßigen Konzeptionen, die etwas dem Mythischen Entsprechendes darstellen, selbst wenn es den historisch t r a d i e r t e n Mythos gar nicht gäbe, dann und nur dann darf der vorhandene Mythos in Verbindung mit der philosophischen Position gebracht werden, die jederzeit auch ohne den Mythos begreifbar und legitimierbar sein muß. Der Mythos kann Anlaß, Auslösungsmoment der philosophischen Forschung sein wie alles, was es gibt und was es nicht gibt — aber er darf nie die Stelle eines Arguments in philosophicis, er kann immer nur die eines Paradigmas einnehmen, genauer: die gelingende Aufklärung, des Mythos kann ein Argument für die philosophische Systematik (als Ganzes) sein, der sie gelingt — aber sie darf nicht als Argument innerhalb dieser Systematik auftreten. Die Frage des Mythos wird in der Philosophie übersetzt: sie ist dort die Frage unserer und der Wirklichkeit. An diesen Sachverhalt muß aus mehreren Gründen erinnert werden, die genauer gesehen identisch sind: erstens: um durch die in dieser Darstellung notwendige Akzentuierung des Mythischen nicht den Anschein zu erwecken, als enthielte etwa der dokumentarisch uns gegebene Mythos irgendeine Bindung für das philosophische Denken — eine unumgängliche Anweisung an dieses Denken, wie sie z. B. die Faktizität der Außenwelt enthält — zweitens: um zu verhindern, daß ein mögliches Begreifen des Mythos durch die Philosophie im Sinne der mythischen Aussage als eine Philosophie „um der Mythenerklärung willen" aufgefaßt werde.
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Da die Philosophie hier mit dem Problem der mythischen Realität verknüpft wird, so ist es notwendig zu betonen, daß es nicht um des Mythos, sondern um der Realität willen geschieht, daß aber der Mythos als ein unersetzlicher methodischer Zugang zum Problem der Wirklichkeit gewählt ist, und daß eine Aufhellung des Mythischen, wenn sie gelingt, eine Philosophie zwar nicht beweist, aber mindestens einen wichtigen Grund bildet, sie immanent in ihrem Bezirk zu untersuchen. Keine bloß-metaphysische, keine bloß-erkenntnistheoretische und keine bloß-empirische Deutung kann, wie gezeigt, den Mythos von Grund aus begreiflich machen — vielmehr: so wie Realität eine Wesenheit ist, die durch alle diese drei Bereiche hindurch geht — so gilt hier als philosophische Erfassung des Mythischen — das ja eine Realitätsfrage ist — seine Hindurchführung durch eine Gesamtsystematik, in der sich diese drei Perspektiven: der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und der Erfahrung zu einer logischen Ganzheit zusammenfügen. Wir legen den folgenden Gedankengängen eine philosophische Theorie des Mythos zugrunde, die wir auch in den vorangegangenen Betrachtungen bereits im Sinne hatten und die uns auf die dort geübte Kritik an den Fehlgriffen der bisherigen Mythologie erst recht eigentlich hinwies: diese Theorie ist das Werk eines zeitgenössischen Forschers, Oskar Goldberg, und sie ist niedergelegt und zunächst eingehend erprobt an dem Paradigma des althebräischen Mythos in einer Schrift: „Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch." Wir entnehmen dieser Arbeit einesteils die allgemeine philosophisch kosmologische Grundposition und andernteils die Anwendung dieser Konzeption für eine denkbare mythische Erfahrungswelt, die dort nicht lediglich aus dem althebräischen, sondern aus dem Mythos überhaupt abgelesen wird, und wir beschränken uns unsererseits darauf, gewisse erkenntnistheoretische Ausgestaltungen dieser Grundgedanken und gewisse Verbindungen zwischen ihnen hinzuzufügen. Wir werden indessen von der Methode der erwähnten Schrift abwei-
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chen: In dieser ist der metaphysische Unterbau vorangestellt und ihm folgt, wie es dem deduktiven Verfahren entspricht, seine in großen Zügen gekennzeichnete Umsetzung und Auswirkung auf die Ebene einer Empirie, die vorerst mythisch heißen muß. Wir werden nun, was zunächst — im wesentlichen — die Methode der Deduktion angeht, diese dahin abwandeln, daß wir zeigen werden, wie die Philosophie von erkenntnistheoretischen Vorüberlegungen aus auf den Weg zu der von Goldberg entworfenen ontölogischen Systematik und dem ihr korrespondierenden Erfahrungsbilde gewiesen wird — was aber die Darstellung antrifft, so werden wir ihren Gang insofern geradezu umkehren, als wir zuerst ein solches Erfahrungsbild der mythischen Welt in ungefähren Linien zu zeichnen und es vorläufig zu begründen versuchen werden, damit das nachprüfende Denken schon einen konkreten Anhalt besitze, um die nachfolgende Hinführung besser zu verstehen. Abgesehen von dieser quellenmäßigen und allgemeinen gebietstheoretischen Angabe gilt es nun, das besondere methodische Bearbeitungsprinzip des eigentlichen Gegenstandes dieser Untersuchung, des Mythos und seines Verhältnisses zur Realität, klarzustellen. Da ist, gemäß jener soeben eingeführten Philosophie des Mythischen, das Verfahren zu kennzeichnen, das allen bisher behandelten Mythologien und Deutungen entgegengesetzt ist: Lag es, wie hauptsächlich im ersten Kapitel gezeigt, im Wesen all dieser Interpretationen des Mythos, ihn als eine subjektive Aussage zu verstehen (sei es eine psychologisch, sei es eine erkenntnistheoretisch erklärte), der in der Welt der objektiven empirischen Tatsächlichkeit nichts entspricht (es „gibt" „in Wahrheit" keine „Götter", die in der „Erfahrung" „Wunder" wirken), obwohl der Mythos das ausdrücklich prätendiert — so wird es das Merkmal dieser an der Goldbergschen Systematik orientierten Überlegungen sein, den Versuch zu wagen, den Mythos in der empirischen Realität buchstäblich so zu verstehen, wie er sich wörtlich gibt. Alle bisherigen Auffassungen, die, entgegen diesem klaren Sinn des Mythos: Wirklichkeit auszusagen — und oft empirische — ihn anders betrachten, haben ja im Grunde und implizite auch eine Vor57
Stellung vom Wirklichen, an der gemessen ihnen überhaupt der Mythos als eine subjektive, als eine bloße Bewußtseinsäußerung erscheinen kann, sie legen das Realitätsbild unserer bekannten Erfahrungswirklichkeit zugrunde, ohne das eigentlich überhaupt zu erwähnen, weil es ihnen selbstverständlich dünkt. Wollen sie also vom Boden dieser unserer vertrauten Empirie aus den Mythos begreifen, so müssen sie ihn umdeuten — und zwar entweder seinen Realitätsanspruch wegdeuten, ihn als bloßes Produkt des Geistes ansehen oder gar seinem Inhalt Bedeutungen unterlegen, die sich mit dem buchstäblichen, philologisch ermittelbaren Wortsinne nicht zusammenreimen lassen — wie etwa symbolische Bedeutungen. In jedem Falle muß die subjektivistisch verfahrende Mythologie dem Mythos Gewalt antun, denn um seine Behauptungen in unserer Welt sinnvoll unterzubringen, einreihen zu können, muß sie sie vor dem Zusammenstoß mit der uns bekannten drastischen Realität bewahren, d. i. in die Region der nicht „außen" existierenden reinen Bewußtseinsgebilde verlegen. Wir werden es unternehmen, weitherziger zu sein. Wir werden, um es in der Formel einer früheren Darstellung auszudrücken, den Mythos nicht deduzieren als: „unsere bzw. die Realität, in einer anderen Begriffssprache als die ist, die wir sprechen" (z. B. in der Sprache des Symbols), sondern wir werden ihn zu begreifen suchen als die „Sprache einer anderen Realität", einer Erfahrung, die wir vielleicht nicht jederzeit und überall vorzufinden brauchen. Machte die bisherige Mythologie lediglich den Mythos zum Problem und hielt das Realitätsbild für undiskutabel, so machen diese Ausführungen den Mythos zugleich mit der Realität zum Problem. Man hat dabei zunächst rein mythenwissenschaftlich den unbestreitbaren Vorsprang, den Mythos so nehmen zu können, wie er uns, wenn wir uns rein passiv-aufnehmend verhalten, ohne Umdeutung entgegentritt, und es ist, wie schon erwähnt, vom Standpunkt jeder Rätsellösung unter allen denkbaren Antworten diejenige nicht nur als die beste, sondern vielmehr als die einzige zu werten, die es fertig bringt, den Sinn in das Rätsel zu bringen, ohne seine Frage, seinen Text zu verbiegen — welche den Wortlaut stehen zu lassen vermag, wie
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er steht, und ihm dennoch den rationellen Gehalt abgewinnen kann. Aber, würde man einwerfen, es ist doch ein groteskes Verfahren, welches die Inkongruenz zwischen zwei Gegebenheiten, die so disproportioniert sind wie Mythos und Wirklichkeit, zugunsten des Mythos aufheben will — welches den Mythos, der doch nur wie ein komplizierter Traum an unser Bewußtsein dringt, nur ja peinlich gelten lassen und intakt stehen lassen will und die Wirklichkeit, von der wir sichere und deutliche Kunde besitzen, womöglich korrigieren und an diesen Traum anpassen will — eine seltsame Vertauschung dessen, was in Wahrheit als konstant und was als variabel zu gelten hat. Dieser Einwand hätte recht, wenn es nicht auch ohne den Mythos ein Problem der Realität gäbe. Allerdings wäre es eine bizarre Umkehrung, den Mythos als festen Punkt zu stabilisieren und die Realität nach ihm zu richten oder überhaupt irgendetwas Wirkliches zu modifizieren wegen des Mythischen. Es wäre aber auch ein arges Mißverständnis, diese Gedankengänge so zu verstehen. Wir haben das schon zuvor abgewiesen, und es wird die wahre Absicht dieser Darstellung vielleicht noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ja der Mythos nicht aus sich allein die Kraft haben kann, zu einer revidierenden Untersuchung des Wirklichen aufzufordern oder zu führen, wenn nicht im Realen selbst die erkenntnismäßig unabweisliche Tendenz zu einer solchen Revision schon bestünde — wenn nicht schon die gespannten Unstimmigkeiten innerhalb der — vom Mythischen ganz entlegenen — Wirklichkeit selbst dahin drängten, diese problematische Wesenheit Realität weitergehend aufzurollen, „variabler" zu verstehen als in dem fragmentarischen Begriff der „Empirie", der seine Widersprüche einfach ungelöst stehen läßt. Das Motiv zur Realitätsauseinandersetzung also steckt ursprünglich nicht im Mythos, sondern im Wirklichen selbst, das nur in der rezeptiv erfaßten Sphäre der empirischen Tatsachenkonstatierung jene „Sicherheit und Deutlichkeit" aufweist, die es zum „Konstanten" werden lassen, das aber in der denkend und erkennend erfaßten Sphäre, also dort, wo es doch zum eigentlichen Bewußtsein über jenes Tatsächliche, zur eigentlichen Erfassung dessen, was wirklich ist,
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kommen soll, gänzlich jener Sicherheit und Schärfe ermangelt und durchaus eine dunkle Ungeschiedenheit zeigt, die gar sehr zur Herausstellung alles dessen, was in dem Dunkel sein mag, herausfordert. Der Mythos aber spielt dabei nur die Rolle eines möglichen Zeugnisses, nicht von konstituierender, sondern nur von dokumentierender Kraft, und seine Fragwürdigkeit bildet einen Anlaß, ihn mit der Ungeklärtheit um das Wesen der Wirklichkeit zu verbinden, weil die Häufung des Unbekannten, wie in der Mathematik die Zahl der Gleichungen, zugleich auch mehr Orientierungsmomente in die Rechnung bringt, um schließlich das Nicht-Gegebene dennoch zu ermitteln. Wir werden nun dazu übergehen, die Goldbergsche Lösung des mythischen Problems interpretierend, das hypothetische Bild einer Erfahrung wenigstens in den Grundzügen zu entwickeln, die geeignet sein könnte, dem Realitätsanspruch des Mythos zu genügen, ohne prinzipiell den Bereich des Erfahrungsmöglichen zu verlassen. B. Das Wunder und die Konstanz der Wirklichkeit. Es gibt einen unüberbrückten Gegensatz: Die Wirklichkeit, in der wir leben, die körperhaften Gegenstände, die uns umgeben, die Lebewesen und die leblosen Dinge, das Geschehen, das sich um uns herum abspielt, Naturvorgänge und menschliches Handeln, natürliches und soziologisches Geschehen — kurz alles das, was wir mit dem Wort „Die Wirklichkeit" zusammenfassen, steht in einem klaren und unvereinbaren Gegensatz zu Wesenheiten und Dingen, zu Inhalten, die sich irgendwie als unwirklich oder besser als nicht in diese Wirklichkeit gehörig kennzeichnen lassen. Alle Inhalte der Sagen und Märchen, zahllose Aussagen der Mythen und Religionen, ja auch viele Behauptungen der Wissenschaft und wissenschaftsähnlicher Bemühungen, wie Okkultismus oder Theosophie, handeln von Wesen und Geschehnissen, die wir als irgendwie außerhalb des Kreises der drastischen Wirklichkeit empfinden — als in den Kreis des Außergewöhnlichen, Regelwidrigen, Wunderbaren gehörig. Realität und Wunder, das ist obenhin der Gegensatz, von dem wir sprechen.
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Es könnte auf den ersten Blick erstaunlich scheinen, einen wie großen Raum das Wunder, also der nichtwirkliche Vorgang oder ein nichtwirkliches Wesen, im Bewußtsein der Menschen einnimmt. Man könnte versucht sein, zu sagen, und hat es gesagt, die Beschäftigung mit dem Wunderbaren, also Unwirklichen, verwirre den natürlichen Sinn der Menschen, könne gar nichts Reales nützen, und man täte besser daran, sich ausschließlich dem Wirklichen zuzuwenden. Allein man kam bald dahinter, daß die Konzeption des Ungewöhnlichen, Regelwidrigen, Wunderbaren, Nicht-Existenten ihren Grund und ihre Ursache in dem habe, was existiert. Das Existierende, die Welt, die uns umgibt, erschien dem Geist, der sich mit ihr beschäftigte, in vielen Punkten unzureichend, derart sagen wir einmal empörend fragmentarisch, bruchstückhaft, mängelbehaftet, die Wirklichkeit erschien wie eine obwohl ungeheure Gegenstandsfülle, doch in vielen Phänomenen, und zwar gerade in den dem Menschen wichtigsten, wie ein unbefriedigendes Gestaltetsein von Dingen und Zuständen durch eine Natur, die zahllose Wünsche, ja Zwänge und gerade die dringendsten, unerfüllt ließ. Die Welt und Realität, die uns entgegentritt, besteht gleichsam darin, ebenso viele Wünsche und Wollungen zu befriedigen wie zu versagen. Man konnte nun zu diesen versagten Wünschen, zu diesen nie erfüllten Strebungen, ganz verschiedene Haltungen einnehmen: man konnte sich unter diese Nichterfüllung der Ansprüche des Geistes durch das Wirkliche beugen, man konnte es für fatum halten. Man konnte, um mit Nietzsche zu sprechen, den Tod, die „dumme physiologische Notwendigkeit", in etwas Gewolltes umbiegen, in Wahrheit „umlügen" — denn so befremdlich es scheinen mag: das Wollen und Streben des Geistes und Lebens kümmert sich, quoad Wollen, durchaus nicht im mindesten um das, was möglich ist und was nicht. Man konnte also das Wirkliche für unabänderlich, man konnte es sozusagen ganz in der Ordnung finden, daß die Wirklichkeit vielem Wollen der Menschen die Erfüllung versagt mit der Begründung: so allein werde Kämpfen und Streben, d. h. aber das Leben überhaupt lediglich aufrechterhalten, die erfüllten Wünsche würden Stillstand des Weltgeschehens, Erstarrung und Auflösung be-
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deuten -— oder man konnte sich mit der imbefriedigenden Struktur der Realität nicht abfinden und fortfahren, unablässig nach Möglichkeiten zu suchen, das Wirkliche, in Einklang mit dem Wollen zu bringen, trotzdem es schien, daß das Wollen offensichtlich ein Unmögliches begehre. In diesem Falle mußte man den ganzen Begriff des Unmöglichen in Frage stellen und mußte, so schwer es auch fallen mochte, diese Mauer zu unterminieren suchen, denn es war ja klar, daß die Schranke des Unmöglichen unausweichlich die Resignation vor der gegebenen Realität verlangte. Man war also in einem Zwiespalt zwischen der Anerkennimg einer das Wollen des Geistes ewig und tödlich beleidigenden Welt und dem Abenteuer, in einen Widerstreit mit dem härtesten Gegner, den es überhaupt gibt, dem Unmöglichen, zu geraten—, dem Unmöglichen, dem man zuerst auch nur sein Wesen absprechen mußte, um überhaupt dagegen angehen zu können. Beide Seiten der Alternative scheinen gleich schwierig, gleich beladen mit den schwerwiegendsten Einwänden, die aufzurollen wir uns versagen müssen, und es sei gleich im vorhinein eingestanden, daß in diesem Widerstreit zwischen der Anerkennung einer bruchstückhaften, d. h. ewig katastrophenhaften Realität und der Zumutung, im Falle der Nichtanerkennung sich mit dem Unmöglichen auseinandersetzen zu müssen — es sei vorab eingestanden, daß der wirklich philosophische Instinkt uns das letzte zu wählen scheint. Und statt ausführlicher Begründungen sei in der Kürze dieses Gedankenganges nur auf das eine verwiesen: wenn der entgegengesetzte Entschluß, wie oben gesagt, sich darauf beruft, daß die Mangelhaftigkeit der Realität, ihr abänderungswürdiger Charakter gerade ihr Bestehen garantiere, gerade das Leben durch Kampf und Streben sozusagen in Betrieb halte, so ist darauf zu antworten, daß eine solche Argumentation die Partei des Gegners nimmt. Niemand kann zugleich ein Ziel in Angriff nehmen und für unmöglich erreichbar halten; das ist nicht ein erkenntnispsychologischer Einwand, sondern er betrifft die Logik, d. h. die innere Widerspruchslosigkeit der Philosophie als Unternehmen, als Tun, als sinnvolles Vorhaben. Das Unmögliche aber, das ist aus der Sprache der formalen Logik in die Sprache der sinnen-
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haften Inhalte übersetzt, das Wunderartige, das der natürlichen Norm entgegengerichtet Scheinende. Und wenn wir also uns auf dieses Abenteuer des Denkens einlassen, das Unmögliche nicht als einen unstürzbaren rocher de bronce gelten zu lassen, sondern wenn wir das Unmögliche als problematisch setzen, d. h. mit dem Fragezeichen versehen, ob und wie weit es ein solches gäbe, so tun wir eben damit das gleiche mit dem Inhalt dessen, wofür wir heute nur das viel kompromittierte Wort „Wunder" haben. Wir müssen diesen Begriff sogleich einschränken. Wir haben hier dem Prinzip der Wissenschaft zu folgen und haben nicht vor, dem Glauben oder der Weltreligion oder dem Okkultismus die Wege zu ebnen: Wie man weiß, ist das Wunder integrierender Bestandteil der Religion. Streicht man die wunderbaren Ereignisse und Wesenheiten aus der Religion, so erhält man vielleicht eine Sittenlehre oder eine Begriffsmetaphysik. Aber von einer Religion behält man dann nichts mehr. Das Wunder ist das Fundament des typisch Religiösen. Und besonders die Gründung jeder Religion stützt sich auf Wunder. Diese Gründungswunder der Religionen schließen sich bei einer bestimmten Art von Religionen, die wir sogleich charakterisieren werden, zu einer ganzen wundererfüllten Epoche zusammen, aus der die spätere Religion dann für alle Zeiten ihre Kraft zieht: die Sicherheit der Religionswahrheiten und die Überlegenheit der angebeteten Macht über die normale, d. h. nicht wunderbare Realität. Das Wunder ist irgendwann einmal in der Vorzeit geschehen — dann hat es aufgehört, die gesetzmäßige Wirklichkeit wurde und wird nie mehr durch das Walten Gottes oder der Götter unterbrochen, und dieses einmalige Wunder, oder besser diese einmalige WunderEpoche, bildet das Bestätigungsmittel der Religion, die sich auf sie beruft für alle Zukunft. Das Wunder ist an einen einzigen Zeitabschnitt gebunden, und dieser hegt in der Vergangenheit. In diesem Zeitabschnitt des Wunders liegt das Kraftreservoir der Religion für Gegenwart und Zukunft. Dieser Sachverhalt charakterisiert eine Gattung von Religionen, die wir ,,Glaubens"-Religionen nennen können — denn das wunderbare Geschehen der Vergangenheit bildet
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nur dann das Bestätigungs- und Bekräftigungsmittel einer solchen Religion, wenn man es glaubt. Infolgedessen ist das Glauben oder Nichtglauben der religiösen Wunder, jedenfalls also die Kategorie des Glaubens, die seelische Haltung und Einstellung zu den übernatürlichen Ereignissen der Vorzeit, die sich nicht mehr nachprüfen lassen. Glauben aber ist eine prinzipiell andere seelische Verhaltungsform als Forschen oder Wissen, und da es uns hiei lediglich auf die Möglichkeit, etwas über die wunderartigen Inhalte zu wissen, auf wissenschaftliche Möglichkeiten ankommt, so bleiben die Wunder der Glaubensreligionen aus unserer Betrachtung weg. Wir wollen ja hier nicht als ancilla theologiae die Mühen der Scholastik wiederholen. Ebenso selbstverständlich übergehen wir eine bestimmte Erklärung des Wunderartigen, welche eigentlich darin besteht, es zu leugnen: Wenn wir das Wesen des Unmöglichen bzw. des Wunderbaren zum Problem machen, d. h. die Frage aufwerfen, ob und wie weit wir von Unmöglichkeit reden dürfen, so können wir nicht damit einverstanden sein, wenn man das Problem, das Fragwürdige des Unmöglichen bzw. des Wunders, noch ehe es sozusagen gestellt ist, gar nicht zuläßt, wenn man, wie man sagt, das Problem totschlägt. Das tut eine Betrachtungsweise, welche jeden von der Norm des gesetzmäßigen Geschehens abweichenden Vorgang schlechthin leugnet und den Ausdruck des Wunderbaren in den Berichten der Vorzeit für Dichtung und Symbolik hält. Wer das Wunder dichterisch oder symbolisch erklärt, streicht es als objektive Möglichkeit aus. Dichterische Erklärung und Symbolwissenschaft also haben zur Voraussetzung, daß undichterisch und unsymbolisch, also ob j ekti v, der regelwidrige Vorgang nicht bestehen könne. Es ist klar, daß die Realbedeutung der Wirklichkeitsbehauptimg eines außernormalen Ereignisses und seine symbolische Bedeutung einen Gegensatz bilden. Der Symbolist ist in gewissem Sinne der Anhänger der normalen Naturordnung. Die Wissenschaft aber, welche gerade hier ein Problem sieht, welche untersuchen will, was möglich ist und was nicht, die Wissenschaft, welcher Wirklichkeit noch keine einfache Tatsache, sondern erst ein noch unbekanntes Terri-
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torium ist, kurzum die Wissenschaft, der Wirklichkeit kein schon umschriebenes Faktum, sondern noch ein Problem ist, und damit auch das Mögliche, Unmögliche und das Wunder — eine solche Wissenschaft sucht keine „religiösen" oder symbolischen Erklärungen des Regelwidrigen, sondern sucht objektive Konstatierungen, stichhaltige Realaussagen und Realbegründungen über das, was man bisher aus der Realität verwies. Zu diesem Zwecke muß sich die wissenschaftlich vorgehende Forschung überhaupt erst ihren Gegenstand suchen. Die Möglichkeit, ob irgendeine wunderbare Behauptung in die Welt des Tatsächlichen gehören könne — also irgendein positives Ergebnis solcher Forschung —, diese Möglichkeit besteht ja im vorhinein überhaupt gar nicht überall. Die erste Frage ist also die: wo besteht überhaupt eine Möglichkeit, ein regelwidriges Geschehen im Bereich der wirklichen Tatsächlichkeit unterzubringen. Eine solche Möglichkeit plausibel zu machen — nur das kann die Aufgabe unserer hier anzustellenden Überlegungen sein. Eine solche Möglichkeit besteht aber im vorhinein nicht bei den Wundern der Glaubensreligionen und den Wundern der Dichtung. Es ist undenkbar, eine empirische Realitätserörterung an beliebige Einfälle der Phantasie oder an die wunderartigen Glaubensinhalte der sogenannten Glaubensreligionen zu knüpfen. Wir haben schon angedeutet, daß wir nicht in die Bahnen der Scholastik einzulenken bestrebt sind. Der Anschein der Irrealität ist bei dem phantastischen Einfall oder bei der Weltreligion zu groß, als daß der Versuch einer Realitätsaussage nach den Methoden des gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens Aussicht hätte, sich zu behaupten. Das Charakteristikum dieser Wunder der Glaübensreligionen ist, wie schon gesagt, ihre Einmaligkeit, die Abgeschlossenheit der Wunder-Epoche in der Urzeit, d. h. in der Gründungs-Epoche der betreffenden Glaubensreligion. Dieser Einmaligkeit gegenüber findet das Denken unserer Wissenschaft gar keine Handhabe — man kann diese Dinge entweder glauben oder nicht glauben, denken kann man sie nicht. Einer anderen Kategorie von wunderartigen Ereignissen und Wesenheiten gegenüber aber gilt nicht das gleiche wie U n g e r , Wirklichkeit.
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bei den Wundern der Glaubensreligionen. Es gibt nämlich eine Gattung von Religionen, in welchen das sogenannte Wunder eine andere Rolle spielt als in den Glaubensreligionen. Die Glaubensreligion beruht auf einer Wunder-Epoche der Vorzeit, und ihr Anspruch, zu gelten, religiöse Wahrheit zu sein, erstreckt sich von dieser Wunder-Epoche aus in alle zukünftigen Zeitalter, die durchaus nichts mehr von irgendeiner Ungewöhnlichkeit zeigen: der Geltungsanspruch der Glaubensreligion erstreckt sich in alle durchaus wunderlosen Zeitalter. Es gibt aber eine Art von Religionen, bei denen gleichsam mit dem Wunder auch die Religion erlischt — bei der Religion und Wunder eine viel engere Verbindung aufweisen. Auch in dieser der Glaubensreligion gegenüberzustellenden Gattung der Religionen ist das Wunder Fundament und Bestätigungsmittel der religiösen Geltung — aber im Gegensatz zur Glaubensreligion — nur solange, als das Wunder auch da ist bzw. als daseiend wahrgenommen werden kann. Hier durchzieht das wunderbare Geschehen die ganze Dauer des Bestehens einer solchen Religion, und mit seinem Aufhören hört augenblicks die Religion auf, die es hervorbringt. Der Geltungsanspruch solcher Religionen erstreckt sich nicht auf wunderlose Zeiten, sondern sie sind nur, solange sie sich auf das Außerordentliche berufen können. Infolgedessen ist ihr Wunderinhalt schon a limine wesentlich besser in die Bedingungen des Wirklichseins hineinpassend, wesentlich realfähiger, wesentlich weniger den Stempel der religiösen Dichtung tragend, und wesentlich näher den Erscheinungen der Wirklichkeit hegend, wenn sie auch durchweg über diese hinausgehen. Wir haben hier eine Art realitätsfähigerer Wunder vor uns und nur diesen allein gilt die Aufmerksamkeit unserer gegenwärtigen Überlegungen. Die Religionen, deren Existenz mit dem Vorhandensein solcher regelwidrigen Ereignisse steht und fällt, können wir im Gegensatz zu den Glaubensreligionen — Experimentalreligionen nennen. Die Glaubensreligion verlangt, daß das Wunder geglaubt werde, die Experimentalreligion versucht, ständig und solange sie besteht, das Wunder als Faktum in die Realität
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hineinzuziehen, denn ihr ganzes Dasein hängt von dem empirischen Dasein des Außerordentlichen ab. Was soll das nun bedeuten? Was ist der Inhalt des Wunderbaren dieser Religionen und wo in aller Welt soll er herkommen? Wir bücken unsere Welt an, die festgefügte und nach ewigen Regeln laufende, und empfinden zunächst: hier ist kein Raum für Wunder und wunderähnliches Geschehen. Die Gesetze, die die Natur umspannen, lassen alle Vorgänge der Wirklichkeit in bestimmt umschriebenen Bahnen abrollen, in Bahnen, in denen alle Um- und Abwege einbegriffen sind, die alle denkbaren Varianten des Geschehens einschließen und das Wunder ausschließen. Die astronomische Realität durchläuft die festumrissenen Phasen, das ungeheure System des physikalischen Geschehens zeigt die immer gleichen Grundkräfte, die sich in zahllosen, aber prinzipiell bestimmbaren Erscheinungen äußern, und die Welt des Lebendigen manifestiert sich, soweit die Beobachtung reicht, in den immer gleichen Abläufen, die die Gesetze des Lebens in Tod, Zeugimg, Geburt vorschreiben. Die Umlaufsfiguren der Gestirne, Gravitationswirkungen, Trägheit, Kraftumwandlung, Adäquation von Ursache und Wirkung, die Baustoffe der Welt, den Gesetzen der Physik oder den Gesetzen der Biologie unterworfen, die Kraft oder das Leben fortpflanzend — all dieses ist an so prinzipiell unabänderlich scheinende Bedingungen geknüpft, daß man hinsichtlich des Wirklichkeitsganzen zu dem Urteil gezwungen wird: Die Welt ist konstant — wie sollte diese Konstanz jemals unterbrochen werden — wo sollte innerhalb dieser Konstanz der Realität Platz sein für etwas, das man Wunder nennen kann? Wir gehen an diese Frage heran mit der aus begrifflichen Erwägungen gewonnenen Einsicht, daß das, was hinter dem verschwommenen Begriff „Wunder" steht, keine bloße Chimäre, kein ausschließlich subjektives Einbildungsspiel sei — daß es eine Konstruktion sei, gebildet zur Erfassung des Objektiven — daß irgendein Objektives dieser Konstruktion entsprechen müsse, wenn auch vielleicht anders als der begrifflich theoretisierende Verstand es sich erwartet. 5
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Wir blicken auf die Wirklichkeit als auf ein sich bewegendes Bild aus vielen Elementen — aber alle diese Bewegungen laufen in festgefügten, immer gleichen Bahnen — und fragen: wo ist da Raum für das Wunder? und vor allem, wo sollte da eine Quelle sein für das Außergesetzliche ? Und schon zerlegt sich für die so fragende Überlegung der Begriff „Wunder" in zwei prinzipiell verschiedene Möglichkeiten: Entweder ist das Wunder ein Vorgang, der auf außer menschliche Ursachen zurückgeht, es ist ein Geschehen, ein Ablauf im Objekt, ein unabhängig vom Menschendasein sich abspielendes Ereignis, ein Gegebensein von außen her, vom Außermenschlichen her, dann ist, wenn es gegeben wäre, es so irrational wie alles Gegebene überhaupt — nur daß es eben nicht gegeben ist, und daß für seine Existenz innerhalb der Welt nicht der mindeste empirische Anlaß da ist. Dann ist die Frage: wo ist Raum und Quelle für das Wunder? gar nicht beantwortbar oder, was dasselbe ist, nur dahin zu beantworten: die Stelle für das Wunder ist innerhalb der Wirklichkeit der Möglichkeit nach überall — ein bestimmtes, für das wunderbare Geschehen bevorzugtes Gebiet gibt es nicht, es kann ein Wunder der Möglichkeit nach in allen Bereichen der Realität stattfinden — die Gestirne können ihren Lauf ändern, oder die Steine können durch die orphische Musik gelenkt werden, oder das erstorbene Holz kann Früchte tragen, oder die Tiere können Menschenfähigkeit zeigen — es kann in jedem Bereich der Natur alles geschehen. Die Quelle des Wunders aber ist innerhalb der Wirklichkeit gar nicht zu finden, sie muß, wenn man schon eine ansetzt, außerhalb der Wirklichkeit angesetzt werden, und es ist rational gar nicht zu bestimmen, wo sie innerhalb der Wirklichkeit Wirkungen zeitigt: Theologisch gesprochen: Die Quelle des Wunders ist Gott, er kann eingreifen, wann oder wo es ihm behebt. Empirische Anhaltspunkte, d. h. Raum und Quelle für das Wunder innerhalb des Wirklichen gibt es nicht: es kann sich, wenn es geschieht, überall ereignen. Das ist Theologie und vielleicht als scholastischer Gedankengang stichhaltig — für unsere Untersuchung nützt er uns nichts.
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Ist das Wunder ein menschenunabhängiges, von außen her stammendes Geschehen — so ist es rational weder begreifbar noch lokalisierbar — es kann an jedem Punkte der Wirklichkeit, in jedem Gebiet, in jeder Form auftreten oder nicht auftreten — seine Ursache ist außerhalb der Realität und seine Stelle in derselben ist der Möglichkeit nach Überfall. Was aber überall ist, ist in diesem Sinne rational nicht zugänglich. Ganz anders, wenn das Wunder kein menschenunabhängiges Geschehen, kein beliebiges Überall und kein beliebiges, von transzendenter Macht einfach dargebotenes Ereignis ist — sondern wenn das Wunder zwar als eine objektive AußenRealität, aber eine Realität begriffen wird, an deren Zustandekommen der Mensch beteiligt ist. Im selben Maße, in dem der Mensch als hervorbringender Faktor zu einem Wunder hinzugerechnet werden muß, in eben dem Maße verengert sich der Kreis eines möglichen, außergesetzlichen Geschehens und rationalisiert sich der Charakter des Wunders. Nunmehr ist bereits nicht mehr alles Wunderbare möglich, sondern die ganze vom Menschen unabhängige Wirklichkeit: die Welt der physikalischen Natur, die Welt der Gestirne, die ganze Welt der Materie, die außerhalb des Menschen existiert, entfällt für das Wunder, bleibt auch einem möglichen Wunder entzogen. — Der quantitativ größte Teil der Welt verharrt in seiner unabänderlichen Konstanz: die Naturgesetze der physikalischen Wirklichkeit, die hier außer der Reichweite der menschlichen Existenz liegen, herrschen unberührt. Erde und Gestirne, Steine, Pflanze und Tier unterliegen der ewig gleichen Naturordnung — der ganze Schauplatz der Menschenexistenz zeigt und behält sein immer gleiches, naturgesetzlich geregeltes Gepräge. Aber nicht der Mensch selbst. Denn der Mensch als einziges Wesen hat eine Fähigkeit, die kein Wesen außer ihm hat: das ist die Fähigkeit, über die Natur hinaus zu gelangen und gegen die Tendenz der Natur zu handeln. Und hier Hegt ein Entscheidungspunkt von unübersehbarer Wichtigkeit. Diese Tendenz: Gegen die Natur ist seit je die am meisten verdächtigte und mit einer moralischen Verdammung belegte, und doch ist sie zugleich begreifbar als die eigentliche Be-
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Stimmung des Menschen. Von der Ethik der Stoa, welche als höchstes Moralprinzip den Einklang des Menschen mit der Natur aufstellt, bis zu dem Unternehmen einer konkret hervorbringenden Metaphysik, das die strikte Vergewaltigung der Naturtendenz fordert, das mit der Vergewaltigung der Naturtendenzen operiert und experimentiert, spannt sich die Linie einer polar entgegegesetzten Wertordnung. Dazwischen liegen allerlei Moralsysteme, welche zwar ein Hinauskommen des Menschen über die bloße Natur als Inbegriff der Sittlichkeit anerkennen, aber den letzten Schritt nicht wagen, der allein auch die wahre Autonomie der Moral verbürgt: die vom Menschen selbstgesetzte Ordnung, die der Ordnung und den Tatsachen der Natur in vielen Dingen stracks zuwiderläuft. Wir wollen es näher zu erklären suchen, was dieses Gegendie-Natur-gerichtet-sein zu bedeuten hat. Aus welchem Grunde sollte der Mensch gegen die Natur aufstehen? Aus keinem anderen als dem, daß die Natur den Menschen in eine Katastrophe verstrickt, aus der sich zu befreien sein eigentliches Ziel und seine Bestimmung ist. Die Ordnung der Natur bedeutet für den Menschen eine Zwiespalt-Sachlage: denn soviel auch die Natur gewährt, Dasein, Leben, Wunscherfüllung — ebensoviel, ja noch mehr schneidet sie ab, versagt sie durch ihre schmerz- und katastrophenbedingten Einrichtungen, die Natur verhält sich zu dem Menschen, zu dem Wesen höchsten Bewußtseins, wie ein Arzt, der einem Wesen das Morphium zur lebensnotwendigen Bedingung macht und es ihm dann allmählich oder plötzlich und jäh entzieht; oder wie ein Magier, der ein Wesen mit Lungen schafft und ihm zugleich bloß ein solches Minimum an Sauerstoff gewährt, daß es nur mühsam keuchend dahinvegetiert, bis ihm schließlich der Sauerstoff ganz entzogen wird. Not und Pein des natürlichen Daseins und der gänzliche Zusammenbruch, der es bedroht, erzeugen in dem Menschen zunächst die Idee einer katastrophenlosen Ordnung, den ewigen Willen, den Schmerz und den Untergang aus dem Dasein zu streichen, und der Versuch, die tatsächliche bruchstückhafte Welt und Lebensgegebenheit mit der unabwendbaren Vorstellung einer Weltgerechtigkeit in Einklang zu setzen, findet nur zwei mög70
liehe Auswege: den Ort der Gerechtigkeit irgendwo hinter der Wirklichkeit zu suchen, jenseits des Lebens anzusetzen — oder: hier innerhalb der Wirklichkeit gegen die Naturtendenz aufzustehen und praktisches und konkretes Geschehen zu erzwingen versuchen, das den gewohnten Bahnen der Natur entgegengerichtet ist — das Wunder jenseits der Welt zu glauben oder in der Welt herbeizuführen suchen. Man erkennt die beiden Gattungen der Religion: die Glaubens- und die Experimentalreligion. Die Experimentalreligion stellt nur das begrifflich letzte und radikalste Glied einer Kette von Positionen dar, die alle das Signum „Gegen die Natur" tragen — und diese Bemerkung soll uns dazu dienen, uns vor einem fruchtlosen Wortstreit zu schützen. Man kann selbstverständlich sagen, ein Handeln gegen die Natur könne es überhaupt nicht geben, denn jede Ablenkung der natürlichen Vorgänge und Kreise von ihren Bahnen sei ebenfalls wieder Natur — auch die Gegentendenz zur Natur sei Natur — der Begriff außernatürlich sei ein leerer Schall — es gäbe begrifflich nichts Außernatürliches. Das ist evidentermaßen ein Wortstreit. Selbstverständheh kann man formal auch die gegen die Naturtendenz gerichtete Tendenz „Natur" nennen, und man kann auch in dieser Terminologie das ausdrücken, was wir sagen wollen: daß nämlich alsdann zwei einander entgegengesetzte Natur-Richtungen anerkannt werden müssen, deren eine die Abläufe und Notwendigkeiten sind, die ohne das Zutun des Menschen sich abrollen — deren andere aber die Ordnung der Dinge ist, die der Mensch einrichtet. Der Mensch ist selbst Schöpfer einer anderen Natur-Ordnung als die ist, die er vorfindet. Überall, wo er auftritt, gestaltet er um, schafft er neue Tatbestände und bringt Dinge und Geschehen hervor, die die Natur als solche, ohne den Menschen, nicht hervorbringt. Der Mensch schafft sich alsbald eine eigene, selbstgefertigte Welt — er lebt niemals rein in der vorgefundenen Natur, und er schafft um so intensiver, je höher er steht, den Bereich seiner Existenz. Der Mensch bedeutet einen Wendepunkt der Naturordnung, einen Umkehrungspunkt, von dem aus der ursprünglichen menschheitslosen Naturordnung eine zweite menschheitentsprungene 71
Naturordnung entgegenläuft. Schon das bloße Wesen des Geistigen — des typischen Kennzeichens der Menschheit — ist der Natur entgegengerichtet. Manche Denker haben das bemerkt — ich nenne von neueren Bergson und Rickert — der Geist entwirklicht, entnatürlicht — steht in einem Gegensatz zum Lebendigen. Das mit dem Geist aufgefaßte, von ihm bezeichnete Ding ist nicht dasselbe wie das lebendige, die geistige Tendenz zur Zeitlosigkeit distanziert zu allem sinnenhaft Wirklichen und Lebendigen. Und so sind auch die Konstruktionen und Hervorbringungen des Geistes und des Menschen nicht nur in seltsamem augenfälligem Kontrast zu aller Natur und allem Lebendigen, sie dienen auch ausgesprochenermaßen dazu, die Natur zu modifizieren, zu überlisten, zu überwinden. Die Technik, die der Mensch geschaffen hat, bedeutet eine ganze Nebenwelt neben der natürlichen, eine der Natur aufgepfropfte Gestaltenfülle, die allerdings mit den Kräften der Natur operiert, aber nur, um sie in die vom Menschen gewollten Bahnen zu lenken. Indessen die Technik, das Naturüberwindungsinstrument des Menschen kat exochen, welche die bis heute umfänglichste und machtvollste Apparatur darstellt, um die Natur zu bändigen, ist dennoch nicht das Äußerste, was der Mensch zu diesem Zwecke unternehmen kann. Es gibt ein noch radikaler der ungeordneten Naturtendenz entgegengerichtetes Beginnen, es gibt ein noch antinatürlicheres Unternehmen, ein noch entschiedener, ja überhaupt erst eigentlich die Umkehrungstendenz zur Natur ausdrückendes Vorgehen: — das ist: die Experimentalreligion, etwas, das in sehr uneigentlichem Sinne Religion heißt, und ebensoviel mit dem gemeinsam hat, was wir heute Wissenschaft oder Technik nennen, als mit dem, was wir Religion nennen. Die Experimentalreligion ist das Äußerste, was der Mensch unternehmen kann, um die Natur zur Geburt einer zweiten Natur zu veranlassen, um die erste „natürliche" menschenunabhängige Naturordnung in eine zweite entgegengerichtete durch das Bewußtsein des Menschen hindurchgegangene Naturordnung zu verwandeln. Wo liegt nun der Angriffspunkt einer solchen Verwandlung? Wo muß das Beginnen des Menschen theoretisch und 72
praktisch ansetzen, um jene radikalste Umkehrung der Naturbahnen zu erzwingen, die weitgehender die Welt umprägt als Sittlichkeit und Technik ? Um diesen Angriffspunkt auf die Naturordnung zu finden, ist es erforderlich, sich klar zu machen, daß es für den Menschen notwendig ist, das Naturgegebene an einem solchen Punkte zu fassen zu bekommen, der entscheidend für die weitere Richtung des Naturgegebenen ist, der bestimmend für den ferneren Verlauf des Naturgeschehens ist. Es ist für den Menschen notwendig, die Kraft der Natur irgendwo an ihrer Wurzel in die Hand zu bekommen, irgendwie an ihrem Ursprung oder, sagen wir, in ihrem Anfangsbereich — denn eine Einwirkung auf die späten und spätesten Ausläufer der Naturkraft ändert selbstverständlich weniger und lange nicht mehr so tiefgreifend als eine Einwirkung auf die tiefste und früheste Erscheinungsform, auf die Wurzel der Naturkraft. Je näher der Quelle der Strom der Naturkraft dem Menschen zugänglich ist, je unmittelbarer die Naturkraft dem Menschen gegeben und zugänglich ist, um so intensiver und umwälzender die Modifikation, die er an ihr ausüben kann. Diese Überlegung führt von selbst den Menschen, auf der Suche nach dem entscheidenden Angriffspunkt, von der gesamten menschenunabhängigen Natur weg und auf die eigene Organisation zu, die von allen Naturtatsachen allein ihm unmittelbar gegeben ist. Die gesamte Welt außerhalb der eigenen Körperlichkeit ist dem Menschen ja nur mittelbar gegeben, nur mittelbar ist das Bewußtsein und der Wille des Menschen mit der Außenwelt verbunden, und die ganze Materie dieser Außenwelt ist ihm nur durch das Medium der eigenen psychophysischen Organisation zugänglich. Nur diese selbst, nur die eigene körperliche Organisation ist ihm von allen Naturgegebenheiten unmittelbar zugänglich. In dem eigenen Körper als dem Instrument der Naturauffassung liegt sozusagen der Angel- und Drehpunkt, der Tragepunkt der gesamten Welt, und zugleich der Punkt des dringendsten Interesses in und an der Welt. Es ist klar, daß eine Modifikation, welche der Mensch innerhalb dieser seiner eigenen psychophysischen Organisation zuwege bringen würde, eine intensivere Umwälzung bedeuten müßte als alle Operationen
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mit der ihm nur mittelbar gegebenen Naturmaterie der Außenwelt, welche zusammen die Technik bedeuten — es ist diese Umwälzung, wenn sie gelingt, die prinzipiell radikalste, die überhaupt denkbar ist, denn sie stellt ein Verlassen jener naturgesetzlichen Bahnen dar, die ohne sie als ausnahmslose gelten müßten — sie stellt eine neue Naturgesetzlichkeit dar, die mit und durch den Menschen anhebt, eine Naturgesetzlichkeit, die sich zur normgemäßen — wunderartig verhält. Diese wimderartige Naturgesetzlichkeit ist das Ziel aller sogenannten Religionen, die wir Experimentalreligionen nannten. Während also die Glaubensreligion sich dem Wunder rational, d. h. wissenschaftlich nicht zu nähern vermag — deswegen eben war ja der Glaube als solcher unerläßlich —, sind bei der Experimentalreligion ganz wohl Überlegungen denkbar, die eine wissenschaftliche Auflösung des Wunders nahelegen. Während bei der Glaubensreligion das Wunderbare, auch wenn es überhaupt angenommen, geglaubt wird, keinen bestimmten Ort in der Wirklichkeit hat, sondern überall innerhalb des Wirklichen geistert — überall, d. h. aber unfaßlich —, gibt es im System der Experimentalreligion einen bestimmten Ort des Wunders innerhalb des Wirklichen, und je bestimmter der Ort, um so bestimmbarer das Geschehen, um so rationalisierbarer das Wunderbare. Dieser Ort ist zunächst nicht die physikalische Welt, nicht die außermenschliche Welt, sondern dieser Ort ist der Bereich der organischen L e b e n s g e s e t z l i c h k e i t des Menschen selbst. Der Kreis des möglichen Wunders verengert sich zunächst auf einen einzigen ganz bestimmten Bezirk innerhalb der Wirklichkeit: die körperliche Realität des Menschen selbst: — seine eigene psychophysiologische Anlage. Die Sphäre des Lebendigen, soweit sie dem Menschen zugänglich ist, die Kräfte und die Substanz des Lebens, die organische Körperlichkeit, kraft deren der Mensch lebt — das ist das Material, in dem sich der Mensch der Natur zu widersetzen vermag. Man wird einwenden: mit unzweifelhaftem Ausgange: der Mensch, der es wagen würde, den naturgegebenen Zwängen, den organischen Notwendigkeiten entgegenzuhandeln,
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müßte früher oder später seinen Versuch mit dem Untergang seines Organismus bezahlen — die Natur würde ohne weiteres über jede solche Auflehnung triumphieren. Wahr ist hiervon, daß tatsächlich das Beginnen, den naturgewollten Strebungen sich entgegenzustemmen, ein Experiment mit dem Leben und mit dem Sterben ist — und zwar ein Versuch am eigenen Leibe —, daß aber dieser Kampf unzweifelhaft zugunsten der Natur ausfalle, das ist ja gerade die Voraussetzung einer Weltanschauung, die diese Versuche nicht wagt, d. h. es ist ein Urteil ohne Verhandlung, weil es ja gerade diese Versuche selbst sind, welche allein überhaupt erst das Material herbeibringen können, um zu entscheiden, ob es nicht einen Angriffspunkt gäbe, von dem aus der maximale Triumph über die Natur, d. h. aber das theoretisch höchste Ziel der Menschheit erreichbar ist. Dieser begrifflich höchste Zweck ist der Zielpunkt der Religionen, die wir Experimentalreligionen nannten, und ihr Unternehmen ist das wertbegrifflich oberste, kühnste und immetaphorisch titanischste, das der Menschheit zu tun möglich ist — wenn unter Titanentum die Auflehnung gegen die naturgegebenen Gewalten und radikalste Bezwingung der naturgegebenen Gewalten verstanden wird. Versuchen wir die gedanklichen Voraussetzungen anzudeuten, aus denen heraus ein solcher Versuch, der in die Region des Wunders zielt, unternommen werden kann. Wir sagten, die Sphäre der konkreten Betätigung der Experimentalreligionen, der Bereich, in dem das Wunderbare, Außergesetzliche in die Realität hineingezogen werden soll, dieser Bereich ist das Gebiet der organischen Lebendigkeit. Alle organischen Lebensvorgänge — Nahrung, Atmung, Verdauung, Zeugimg, Geburt, Regeneration, Nervenreaktionen und Funktionen usw. —, all dieses sind naturgesetzlich geregelte Vorgänge in der lebendigen Materie, Vorgänge, die absolut bestimmte typische Erscheinungen zeigen und, obzwar keineswegs restlos durchforscht, doch eine unausweichlich gesetzmäßig bestimmte Reaktionsweise auf alles und jedes in sich tragen. Würde dieses gesetzmäßig Bestimmte, durch unzählige empirische Beobachtungen ausnahmslos bestätigte Verhalten der Lebensvorgänge eine Durchbrechung
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der ewig gleichen biologischen Norm zeigen — würde z. B. die lebensgefährliche Verletzung, die Zerstörung lebenswichtiger Organe in einem Augenblick ausgeglichen werden, würden Einwirkungen auf den Organismus, die sich stets und ständig als zerstörend erwiesen haben, plötzlich aufhören, diese Eigenschaft zu besitzen, würde Wasser nicht mehr ersticken lassen, Feuer nicht mehr verbrennen — so hätten wir ein Ereignis vor uns, das rein als solches betrachtet ein exorbitantes Ausnahmegeschehen — eine Art Wunder wäre. Wir sagen eine Art Wunder, weil wir ein Merkmal aus diesem Begriff streichen wollen, das ihm in der Terminologie der Glaubensreligionen anhaftet. Danach nämlich gehört zum Wunderbegriff die „Unerklärbarkeit". Wenn ein Vorgang irgendwie rational aufklärbar wäre, so wäre er der Glaubensreligion damit eben kein Wunder. Nur Gott selbst ist zulässig als die wunderwirkende Ursache, und die Erklärung durch Gott ist wissenschaftlich natürlich gleichbedeutend mit gar keiner Rationalisierung. So fassen wir den Wunderbegriff hier nicht. Hier ist Wunder ein Vorgang, der ja eben gerade wohl wissenschaftlich zugänglich sein bzw. zugänglich gedacht werden soll, und der den Namen des Wunderbaren dennoch deswegen verdient, weil er in denkbar größtem Abstand zu allen bekannten Normen und Gesetzen der Natur sich vollzieht. Wir gehen auf eine Einheit, auf eine Verbindbarkeit von extremster Außerordentlichkeit eines Geschehens und seiner erkenntnismäßigen Faßbarkeit aus — uns will scheinen, daß es immer einen Zwiespalt der geistigen Situation bedeuten muß, entweder das Wunder zu haben oder die Erkenntnis, entweder Religion oder Denken. Das religiöse Wunder der Glaübensreligionen, das außerhalb der Erkenntnis liegt und darum schlechthin geglaubt werden muß, interessiert uns nicht. Wir glauben es übrigens nicht. Uns interessiert das Außerordentliche, das zugleich gewußt werden kann, ohne darum seine Außerordentlichkeit einzubüßen. Wir definieren also das Wunder nicht als ein prinzipiell Unerklärbares, sondern als ein Erklärbares, aber aus dem vom Menschen unbeeinflußten (wiewohl — wenn auch nur im extremen Ausnahmefall: „Wunder" — beeinflußbaren) System des Naturgeschehens prinzipiell Herausfallendes, als ein
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in ein anderes Natursystem — in das System der „Ausnahmen"— gehörendes Ereignis. Wunder nennen wir ein Ereignis, in dem die Differenz zwischen zwei Natursystemen auftritt, sichtbar wird. Das eine System kennen wir, und es wird gemeiniglich für das einzige gehalten: es ist das System der menschenunabhängigen Natur: die astronomische, physikalische und biologische Welt außerhalb des Menschen. Diese Welt ist zunächst konstant, durch kein Wunder erschütterbar, und sie reicht in den Bereich der lebendigen Körperlichkeit, in die Sphäre des Menschen hinein. Die biologische Natur nun, soweit sie in die Sphäre des Menschen gehört, hat de facto an der konstanten Normalität der übrigen Welt teil (Zeugung, Geburt, Krankheit, Tod und Regeneration nehmen ihren ewigen, naturgesetzlich geregelten Lauf) — aber die biologische Natur, soweit sie zum Menschen gehört, muß nicht an der konstanten Normalität der übrigen Welt teilhaben: denn hier beginnt der Machtbereich des Menschen und mit ihm und in ihm die Kraftwirkung eines möglichen anderen Natursystems, das normalerweise latent ist. Nicht etwa jede Maßnahme des Menschen, welche irgend etwas ah dem automatischen Ablauf der Natur modifiziert, kann nun schon bereits einem anderen Natursystem zugerechnet werden — nicht können wir etwa von einem anderen Natursystem reden, wenn der Arzt durch eine Seruminjektion einen pathologischen Ablauf unterbricht oder ändert (obwohl auch vielleicht derartiges schon Einleitungsmaßnahmen zu jener generellen Umkehrungstendenz durch den Menschen ist) — den Namen eines ganzen anderen Natursystems verdient erst ein Geschehen, das die wirklich ausnahmslosen Regeln des Naturgeschehens, aus denen sich das erste System der Natur überhaupt zusammensetzt, trifft und unterbricht. Erst wenn an harmlos erscheinende Dinge wie an die Berührung einer „heiligen Sache" sich Lebensgefahren knüpfen und normalerweise lebensgefährliche Einwirkungen harmlos werden — erst damit begänne eine Art Umkehrung, eine Art „Übernatürlichkeit", die aber, wie wir sahen, nicht die SupraNaturalität der Glaubensreligionen, sondern die Überwindung jener Normen und Gesetze bedeutet, in die das Leben des 77
Organismus eingefangen ist, und mit denen alle die Katastrophen mitgesetzt sind, gegen die der Mensch von allem Lebendigen allein aufzustehen bestimmt ist. Wir haben als die Zone des möglichen Wunderartigen Ln unserem Sinne das Gebiet der organisch-lebendigen Körperlichkeit, die Sphäre der bewußtlosen Lebensvorgänge — die Biologie des Menschen bezeichnet, weil sie das einzige Materialgebiet der Natur ist, das dem Menschen u n m i t t e l b a r gegeben ist, an das er, wenn er überhaupt herankann, u n m i t t e l bar herankommt. Denn die übrige Natur ist ihm erst durch die Vermittlung dieser eigenen Lebensorgänisation Zugänge lieh. Die eigene Lebensorganisation ist also in der ganzen weit ausgebreiteten konstanten Welt der Ort einer möglichen Inkonstanz. Den Ort des möglichen Wunders in der Natur haben wir damit bezeichnet — eine Lokalisierung, die die Glaubensreligion niemals vornehmen kann und wird — es gilt nunmehr, an die Frage nach einer möglichen U r s a c h e , nach einer Quelle des Wunders in dem bezeichneten Sinne heranzugehen. W o sollte d a s W u n d e r denn h e r k o m m e n ? Wir sehen in unserer festgegründeten und in unabänderlichen Bahnen laufenden Welt kein Ursprungsgebiet, keine Quelle des außergewöhnlichen Geschehens — und da wir auf den Gott der Glaubensreligionen als Urheber des Wunders nicht rekurrieren können, so blieb als mögliches Quellgebiet eines so radikal naturumkehrenden Geschehens, daß man von Wunder reden kann, nur der Mensch selbst, also bleibt als Hervorbringungsfaktor des Außerordentlichen nur der Mensch. Aber, so wird man einwenden, der Mensch wirkt keine Wunder. Wir haben schon selbst dargelegt, daß alles, was der Mensch herkömmlicherweise hervorbringt, Kunst, Wissenschaft, Technik u. dgl. n i c h t s mit dieser letzten Naturumkehrung zu tun hat, und es ist an uns, begreiflich zu machen, wie von der Sphäre des Menschen aus ein Außerordentliches, das man Wunder nennen darf, seinen Ausgang nehmen könnte,, d. h. wie die Welt des Menschen dazu dienen könnte, eine Erklärung für die Ereigniskategorie abzugeben, die „Wunder" heißt.
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Auf den Glauben dürfen wir uns nicht berufen. Aber auch auf die Erfahrung können wir uns nicht berufen. Das Wunderartige, in dem von uns bezeichneten Sinne, gehört, wenn es sich als eine Erfahrungsrealität herausstellen sollte, allenfalls einer vergangenen oder einer zukünftigen Erfahrung an, einer gegenwärtigen, unmittelbaren Erfahrung aber ohne weiteres nicht. Da wir also nicht auf die Erfahrung des Wunderartigen verweisen können — rein empirisches Vorgehen also nicht möglich ist (sonst bestünde ja unser ganzes Problem nicht) — und da wir andererseits die seelische Haltung der Glaubensreligionen, eben den Glauben, nicht zulassen können, so verbleibt nur ein drittes methodisches Arbeitsprinzip, welches sozusagen zwischen der Haltung des Glaubens und der empirischen Konstatierung liegt: das ist das Prinzip der wissenschaftlichen Hypothetik. Die Hypothese der Wissenschaft enthält ja in ihrer Art auch ein Moment des Glaubens, der sogenannten Annahme — aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer solchen Annahme und der Einstellung des religiösen Glaubens. Dieser — der religiöse Glaube — ist eine seelische Dauerhaltung, er ist Endpunkt und Abschluß der geistigen Bemühung, er ist autonom, d. h. er bedarf nicht einer anderen Stützung durch das Wissen oder die Erfahrung, um zu gelten — er ist infolgedessen durch die Wissenschaft vom Irdischen in alle Ewigkeit nicht verifizierbar. Die irdische Wissenschaft kann niemals den Glauben rechtfertigen, und der Glaube kann niemals darauf angewiesen sein, daß die irdische Wissenschaft ihn rechtfertige, darum ist ja die Theologie als die Lehre vom Göttlichen überhaupt notwendig, deren oberstes Prinzip, oberhalb allen Wissens, der Glaube bleibt. Der Glaube der Religion ist eine endgültige Annahme. Gerade umgekehrt ist das Glaubensmoment, das in einer wissenschaftlichen Hypothese steckt, eine vorläufige Annahme. Nämlich eine Annahme, die einen Forschungsweg durch empiriefähiges Material eröffnet, nicht eine solche, deren Diskussion, wenn sie überhaupt erlaubt wird, außerhalb des empirischen Materials steht. Der Glaube ist prinzipiell unverifizierbar — die Hypothese aber wird überhaupt nur um der Verifizierung willen aufgestellt, und ihre Erörte-
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rang ist schon der Beginn der Verifikation. Der Glaube beendet, die Hypothese eröffnet den Weg des Wissens. Wir sind also darauf angewiesen, uns durch das Mittel einer wissenschaftlich verifizierbaren Annahme eine Vorstellung davon zu machen, wie das außergewöhnliche Geschehen, das Wunderartige, in der Welt des Menschen eine Quellehaben könne. Dazu ist es notwendig, in dieser Welt des Menschen ein Gebiet zu sichten, das vordem unsichtbar war, irgend ein Material zu nutzen, das vordem unbenutzt war, denn wenn wir eine Gattung neuartiger außernormaler Wirkungen ableiten oder plausibel machen wollen, so bedarf es dazu eines neuen, und zwar eines prinzipiell neuen Ursachen-Gebietes, das wir aufweisen müssen oder, richtiger gesagt, wenn es uns gelingt, ein prinzipiell neues sozusagen unbebautes, ungenütztes Terrain in ünserer bekannten Menschenwelt sichtbar zu machen» so müssen -wir von diesem Bezirk aus auf Erscheinungsarten, Phänomene stoßen, die sich den bekannten Regeln des Naturgeschehens nicht einfügen. Gibt es ein solches Gebiet, ein Material, welches sowohl das Merkmal empirischer Bekanntheit besitzt — denn von unserer menschlichen Welt aus wollten wir ja ausgehen — und das zugleich nur eine einzige zwingend naheliegende systematische Konsequenz des methodisch konstruierenden Bewußtseins verlangt, um zum Erklärungsgrund für restlos fremdartige Erscheinungen zu werden ? Mit anderen Worten: gibt es ein Materialgebiet, an dem die wissenschaftliche Hypothesenbildung die Bedingung größter Einfachheit und systematischen Erfordertseins bewähren kann und zugleich das leistet, was der Glaube der Religionen niemals leisten kann, den Weg der Wissenschaft zum Wunder hin zu eröffnen, ohne das Wunderartige damit aufzuheben? Wenn wir dabei angelangt sind, die Quelle des Wunders im Bereich des Menschen zu suchen, und wenn wir fragen: wie sollte in der Sphäre des Menschen das Übergangsgebiet von der Natur zum Wunder liegen? — so ist darauf systematisch nur eine einzige Auskunft möglich: das Übergangsgebiet von der Natur zum Wunder oder, wie die Wissenschaft es ausdrücken müßte, von der Natur einer Ordnung zu einer
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Natur anderer Ordnung, kann, wenn es in der Region des Menschen liegen soll, nur im Bereich der Vielheit der Menschen hegen. Die Tatsache, daß es eine unbestimmte Vielheit existierender Menschen gibt oder, wenn man will, der „BegriffM der Vielheit bezeichnet zugleich die empirisch bekannteste Sachlage und ist gleichzeitig noch nicht in allen seinen Konsequenzen theoretisch und, d. h. letzten Endes praktisch genutzt, das Vielheitsfaktum ist noch nicht zu Ende gedacht, die Vielheit der Menschen ist systematisch noch nicht ausgewertet. Es ist klar, daß, wenn Ursachen für eine Naturumkehrung gesucht werden, irgendeine naturüberwindende Macht gefunden werden muß, und es ist ferner klar, daß, wenn sie im Bereich des Menschen Hegen soll, eine solche Machtfülle theoretisch eher im Bereich der Vielheit menschlicher Individuen hegen muß als in der Sphäre eines empirischen Einzelnen. Unter einer Voraussetzung: daß die Vielheit zur Tatsache gemacht werden kann, d. h. daß die Vielheit nicht nur begrifflich, sondern in der Wirklichkeit vorhanden sein kann, vollzogen werden kann. Mit anderen Worten, daß die Vielheit der existierenden Individuen in eine einzige reale Größe, in eine die zerlegte Vielheit zusammenfassende, reale, dynamische Einheit zusammengezogen werden kann — unter der Voraussetzung, daß die Vielheit aus der Sphäre des bloßen Gedachtwerdens in die einer einheitlichen Realität gerückt werden kann. Dann würden die Machtgrößen, die Kraftgrößen, die die einzelnen menschlichen empirischen Individuen darstellen, zu einer einzigen Summengröße anwachsen und ein Machtquantum erreichen, das es ohne diesen realen Additionsvorgang nicht gibt und das also vielleicht niemals in Erscheinung getreten ist. Untersuchen wir doch einen Augenblick die Vereinheitlichungsmöglichkeiten der Vielheit von Menschen. Da ist als bekannteste und augenfälligste reale Vereinheitlichung die Summation der Körperkräfte einer Vielheit von Menschen. Ein Arbeiter vermag mit aller Anstrengung den eisernen Bauträger nicht zu heben, aber dreißig Arbeiter heben ihn. Ihre Hebe-Körperkraft beträgt real das DreißigUnger, Wirklichkeit.
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fache der Durchschnittsarbeiterkraft. Die Körperkräfte der Einzelnen lassen sich also zu realen Summengrößen addieren. Die Körperkraft ist addierbar. Lassen sich nun die anderen Bestandteile des Menschen auch so addieren wie die Körperkräfte (wenn wir unter addieren nicht eine begriffliche Operation, sondern eine wirkliche Zusammenfügung zu einer neuen wirklichen Einheit verstehen) ? In bezug auf das psychische Element des Menschen hat die neuere Wissenschaft seelische Phänomene untersucht und definiert, die sich nur als Additionsvorgänge seelischer Größen begreifen lassen: es sind dies die Vorgänge und Erscheinungen der sogenannten Massenpsychologie, die mit begrifflicher Exaktheit zu Gebilden wie Massen-Psychisches, Massenseele u. a. führen, Gebilde, die von dem entsprechenden Vorgang oder Faktinn in der Einzelseele gründlich und deutlich geschieden sind. Also die Körperkraft ist addierbar, das seelische Moment des Menschen ist prinzipiell addierbar — es bleibt noch ein drittes Element des Menschen auf die Addierbarkeit hin zu untersuchen, das noch nicht in den Kreis der Betrachtung gezogen worden ist: das ist die organische Lebensenergie. Denn mit den Gegebenheiten Seele, Körper und Leben ist die Erscheinung des Menschen vollständig erschöpft. Als letztes Element also bleibt die organbildende und organtreibende Kraft der bewußtlosen Lebendigkeit, mit einem Wort die Lebenskraft daraufhin zu prüfen, ob der Kraftinhalt an lebensgesetzücher Energie, der in einem menschlichen Einzelindividuum formt und arbeitet, mit dem Kraftinhalt lebensgesetzücher Energie in einem anderen Individuum so verbunden und zusammengefügt werden kann, daß eine reale Summation einer Lebenskraft entsteht. Hier nun ist der Punkt erreicht, an dem die wissenschaftliche Hypothetik, nur mit diesem einen letzten Schritt über die normale Welt hinausführend, mit einem Schlage das Wunder ableiten und erklären könnte. Diese ebengenannte Möglichkeit: die Lebenskräfte vieler Individuen real zu addieren — diese Möglichkeit bildet den Inhalt der Hypothese, die die Fähigkeit in sich hat, eine wunderdurchsetzte Welt dennoch als eine wirklichkeitsfähige Welt erscheinen zu lassen und die Erkenntnisarbeit hin-
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sichtlich der Erfahrungsfähigkeit des Wunderartigen zu eröffnen, eine Erkenntnisarbeit, die der Glaube verschloß. Von hier aus also geht der Weg vom Gegebenen jns Mögliche, ins problematisch Wirkliche. Man muß sich also gegenwärtig halten, daß der Umstand, daß wir die uns umgebende Erfahrungswelt als Stütze für die Annahme der addierbaren Lebendigkeitsenergie zunächst nicht verwenden können, hier ja keinen Einwand bedeutet. Denn: ist ein wunderartiges Geschehen möglich, w i e w o h l unsere E r f a h r u n g d a v o n nichts z e i g t ? — das war doch gerade unser Problem. Wir untersuchen ja hier nicht ein Problem a k t u e l l e r Wirklichkeit, wir treiben, wie schon gesagt, keine Empirie, sondern ein Problem m ö g l i c h e r Wirklichkeit. Wir handeln — im Prinzip — nicht von der aktuell g e g e b e n e n , sondern von einer zu b e w i r k e n d e n Erfahrung. Wir reden, wie jemand von den Prinzipien der Technik spricht in einem Zeitpunkt, bevor sie in Erscheinung tritt, wie jemand, der von der M ö g l i c h k e i t gewisser technischer Fakten reden würde. Der überaus vieldeutige und anfechtbare Terminus „Wunder" bezeichnet ja in unserer Problemstellung den Komplex der durch den Menschen erst h e r v o r z u b r i n g e n d e n W i r k l i c h k e i t , eine zu bauende Erfahrung. Diese zu bauende Erfahrung, die wir als je mehr dem Ziel der Menschheit naheliegende bezeichneten, je mehr von den ewigen Ansprüchen der Menschheit in ihr verwirklicht ist, d. h. je wunderartiger und doch rational sie zugleich ist (wobei keines dieser beiden Dinge leiden darf) •— diese zu bauende Erfahrung könnten wir selbstverständlich nicht sogleich an der gegenwärtigen Empirie ohne weiteres messen und nachprüfen. Aber vielleicht gibt es andere Methoden, um unsere als Ziel formulierte Annahme schon jetzt zu kontrollieren. Vielleicht bietet uns die eigentümliche Verknüpftheit zwischen dem Anfangsstadium der Menschheit und ihrem Ziel, der eigentümliche Parallelismus, der uns vieles, was wir in ferner Zukunft erstreben, bereits in der Urvergangenheit schon in irgendeiner Form einmal verwirklicht finden läßt — vielleicht bieten die Berichte aus der fernsten Vergangenheit uns eine Handhabe, die Konzeption des Ziels wenigstens vorläufig nachzuprüfen. Die gegenwärtige Er6*
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fahrung kann uns im Moment nichts oder wenig sagen, die zukünftige besitzen wir noch nicht — aber vielleicht gibt es Zeugnisse einer vergangenen Erfahrung, an denen wir unsere Hypothese bewähren könnten. Als solche Zeugnisse einer vergangenen Wirklichkeit bieten sich uns die Dokumente der mythischen Zeit und Welt an, unter der Voraussetzung, daß wir sie einmal so nehmen, wie sie sich anbieten: als Berichte des Wunders, unter der Voraussetzung also, daß wir das Wunder einmal gelten lassen, ohne den Bericht sogleich in unsere wunderlose Wirklichkeitsverfassung hineinzuzwängen — indem wir von Dichtung reden, wo vielleicht ein Bericht vorliegt. Wir wollen versuchen, die mythischen Dokumente — gewisse mythische Dokumente — mit anderen Augen anzusehen, als wir es gewohnt sind, d. h. wir wollen versuchen, unsere H y p o t h e s e an ihnen zu kontrollieren und probieren, ob sie v i e l l e i c h t diese verschlossene Welt der Mythen a u f s c h l i e ß t . Selbstverständlich bleibt die andere Verifikationsmöglichkeit der Hypothese: die sozusagen innersystematische, die konstruktiv verwirklichende, die bei einer E r f a h r u n g der erschlossenen und behaupteten Sachlage endet, die letztlich entscheidende — aber, da wir diesen gewaltigen Weg hier noch nicht einmal beschreiben können, so wollen wir uns sozusagen eine Bestätigung für das Unterwegs holen, eine vorläufige Vergewisserung, daß wir auf dem richtigen Wege sind — und eine solche liegt in der Betrachtimg der vergangenen, von Wundern durchsetzten Wirklichkeit, die wir die mythische Realität nennen — in der Betrachtung also der mythischen Welt unter der Perspektive unserer Annahme. Betrachten wir zunächst wieder diese unsere Annahme. Die Lebenskraft, die in dem menschlichen Organismus gestaltet und neugestaltet, die ihn am Leben erhält und sich fortsetzen läßt, soll als eine Kraft angesehen werden, die, genau wie die Kräfte der Physik ihren Träger, d. h. also den Körper des Menschen, allerdings nur bis zu einem gewissen Grade, wechseln kann. 84
Die Lebenskraft kann als übertragbar, verminderbar, vergrößerbar, teilbar, leitbar gedacht werden, wie der Strom und die Intensität irgendeiner physikalischen Energie. Damit sind also Aufhäufungen dieser lebensgesetzlichen Kraft gegeben, Ansammlungen der Lebenskraft in irgendeinem menschlichen Individuum, die das normale Maß an biologischer Kraft, das diesen Individuen zur Verfügung steht, übersteigen. Wie wird sich nun ein solches Übermaß biologischer Intensität in einem Einzelindividuum äußern ? Selbstverständlich in biologischen Erscheinungen. Aber in was für welchen ? Sicherlich in solchen, die sich von den mit dem normalen Maß an Lebensenergie hervorgebrachten biologischen Phänomenen unterscheiden. Der Überschuß an biologischer Intensität wird sich beispielshalber in einer völlig außernormalen „übernatürlichen" Festigkeit gegen Angriffs- und Vernichtungsvorgänge äußern, die sich gegen den Organismus richten: Wunden, die den normalen Organismus zerstören, würden fast augenblicklich heilen, die Reproduktionskraft des Körpers würde völlig regelwidrig sich in der Regeneration von Teilen äußern, die normgemäß nie regeneriert werden, die Elemente der Natur (das Feuer), die normgemäß vernichtende Wirkungen auf den Organismus ausüben, würden in weitgehendem Maße ebenso wirkungslos von dem biologisch überladenen Körper abprallen wie etwa die sonst verheerendsten Krankheiten. Der Organismus würde eine Festigkeit dartun, die aller natürlichen Beschädigung trotzt, eine sagenhafte Unverwundbarkeit und Unantastbarkeit des Lebens würde sich zeigen. Die Aufhäufbarkeit der Lebensenergie also äußert sich in Erscheinungen, die über die Normen des „natürlichen" biologischen Geschehens hinausführen, die Summation biologischer Intensität bedeutet den Übergang vom Normgemäßen zum Wunder im oben definierten Sinne: zum regelwidrigen Ereignis bzw. zu einem Geschehen, daß einem System eigener Gesetze angehört, zu einer Natur zweiter Ordnung. Gemäß unserer Hypothese müßte man also für den Begriff „Wunder" den Begriff eines regelwidrigen biologischen
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Geschehens einsetzen. Solches Geschehen aber wäre auf die reale Additionsfähigkeit der lebensgesetzlichen Kraft der Vielheit zurückzuführen. Dieses ist die Grundvorstellung vom Wunderartigen und. die prinzipielle Zugangsmöglichkeit zu diesem Begriff. Wenn wir nun von dieser Allgemeinvorstellung vom entzifferbaren Wunder ins Konkrete gehen, vom Begriff immer mehr auf eine mögliche Erfahrung dieser Sachverhalte uns zubewegen, wenn wir mit anderen Worten unsere Grundhypothese näher bestimmen, — was wir methodisch ohne weiteres dürfen, da wir nämlich in diesem Falle die Grundannahme von der real summierbaren biologischen Kraft nicht erweitern, sondern nach mancherlei Gesichtspunkten einschränken, — so können wir folgende nähere Bestimmungen dieser These aufstellen: 1. Die Grundannahme, daß die lebensgesetzliche Dynamis menschlicher Individuen zu einer wachsenden Intensität addiert werden könne, ist zunächst dahin einzuschränken, daß eine solche reale Addition nicht zwischen beliebigen menschlichen Individuen möglich ist, sondern nur zwischen ganz bestimmten Einzelnen, die innerhalb der Individuenmenge der ganzen Menschheit eine ganz kleine Zahl darstellen: die biologische Summation ist nur zwischen artverwandten Individuen möglich, d. h. zwischen den Artgenossen einer anthropologischen Stammesgemeinschaft oder eines Volkes im engsten Sinne. Ein solches Volk ist eine biologisch verbindbare reale Einheit. Das Volk stellt die größte mögliche biologische Summe dar, die im konkreten Falle überhaupt erreicht werden kann. 2. Die Vorstellung, daß die Summation lebensgesetzlicher Kraft beliebige Steigerungen der biologischen Fähigkeiten zur Folge habe, ist dahin einzuschränken, daß diese Steigerung der Leistungs- und Widerstandsintensität des Organismus immer nur für einen ganz bestimmten Teil des menschlichen Organismus stattfindet. Also die Regelwidrigkeit, die „Wunderartigkeit" des biologischen Verhaltens infolge der Ansammlung der Lebendigkeitsenergie, zeigt sich immer nur auf einem eng umschriebenen Teilgebiet des menschlichen Gesamtorganismus: also entweder die Haut gewinnt eine
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„unnatürliche" Widerstandskraft gegen zerstörende Einflüsse, oder die Atmung und Herztätigkeit kann unvorstellbar lange, kann monatelang unterbunden werden, oder irgendein anderes Organ zeigt ein völlig regelwidriges Verhalten — aber, und das ist das Wesentliche, immer nur ein b e s t i m m t e r , mehr oder minder engumschriebener Organ- und Funktionenkreis aus dem Umfang des Gesamtorganismus weist die außernormale biologische Steigerung auf. 3. Es findet eine Z u o r d n u n g zwischen der soeben dargelegten ersten und zweiten Einschränkung statt, derart, daß die anormale Steigerung eines bestimmten organischen Teilgebietes auch bei einer ganz bestimmten anthropologischen Gruppe stattfindet. M. a. W. ein biologisch verbindbares und also Steigerungsphänomene hervorbringendes Volk bringt immer dieselben Steigerungserscheinungen hervor, d. h. nur solche innerhalb eines ganz bestimmten, diesem Volk gleichsam zugehörigen Organ- und Funktionenkreises. Gewisse asiatische Völker und gewisse Stämme erreichen eine völlig regelwidrige Feuerfestigkeit und Unverletzbarkeit der Haut — ein biologisches Ereignis, das bei ihnen immer wiederkehrt, ihnen sozusagen zugehört — gewisse ethnische Kreise in Indien zeigen die biologisch außernormale Pausierung von Atmung und Herzschlag, anderen Völkern sind wieder Steigerungen in anderen Organgebieten typisch usf. 4. Die sozusagen gegen die normale Natur stattfindenden lebensgesetzlichen Vorgänge, das biologische Wunder, das also als außerordentlicher Vorgang in einem bestimmten Organgebiet einem bestimmten Volk zugehört, zeigt sich n i c h t an allen Mitgliedern eines solchen biologisch verbindbaren Volkes, sondern nur an einem einzigen oder an ganz wenigen bestimmten Individuen eines solchen Volkes. Evidentermaßen: denn die biologische Summation bedeutet ja gerade, daß die als bis zu gewissem Grade übertragbar gedachte lebensgesetzliche Dynamis von einer Vielheit auf einen Einzelnen angesammelt werde, so daß also in einem Einzelindividuum (bzw. in ganz wenigen Individuen der Gemeinschaft) ein Mißverhältnis z w i s c h e n E i n z e l k ö r p e r und b i o l o g i s c h e r E n e r g i e , d.h. also ein solcher biologischer Ü b e r s c h u ß eintritt. Diese biologische Ü b e r l a s t u n g ist ja
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Bedingung des außergewöhnlichen Geschehens, und sie kann ihrem Wesen nach nur an E i n z e l n e n des Stammes auftreten. 5. Das regelwidrige biologische Ereignis geschieht nicht von selbst, d. h. es vollzieht sich nicht spontan wie die übrigen Naturvorgänge des lebendigen Organismus, sondern es muß durch den Menschen erarbeitet werden. E s gibt, wie sich bei eingehender Erforschung des Sachverhalts zeigt, allerdings auch eine Sphäre der Spontaneität des — automatisch — regelwidrigen Geschehens, allein prinzipiell ist der Ausgangs- und Anstoßpunkt zu jeder Art Naturumkehrung die Willkür des Menschen. E s läßt sich nur sagen, daß die durch den Menschen unbeeinflußte Natur, welche also keine biologisch gesteigerten Erscheinungen zeigt, und die durch den Menschen extrem angegriffene Natur, welche die Steigerungserscheinungen zeigt — daß also diese beiden Naturrichtungen durch eine Anlage, durch eine Disposition im menschlichen Organismus verbunden sind, d. h. es gibt im Menschen, genauer im Menschen der biologisch in sich verbindbaren Völker, sozusagen eine naturgemäße D i s p o s i t i o n zur Naturumkehrung, eine bloße Anlage zur biologischen Steigerung, die der Mensch durch seine Willkür benutzen kann oder nicht. Also die Naturumkehrung ist in der Struktur des Menschen zwar a n g e l e g t , d.h. der Mensch ist der Schnittpunkt, der Wendepunkt zwischen zwei Ordnungen (wie sein ganzes Verhalten innerhalb der übrigen Natur zeigt) — ob er aber diese Anlage, die, objektiv, in der Tat einen Naturzwiespalt andeutet — dieser Naturzwiespalt ist der Mensch — bis zur Wirksamkeit bringt, d. h. ob er radikal gegen die Natur erster Ordnung vorgeht, ist so in seine Willkür gestellt wie der Umstand, ob jemand körperhafte Dispositionen, die ihn zum Boxer machen können, entwickelt oder verkümmern läßt. Benutzt der Mensch einer verbindbaren Vielheit die Disposition, die ihn instinktiv auf das ihm gemäße Gebiet der biologischen Steigerung verweist, benützt er seine Anlage, so sieht er sich in die Zwangslage gesetzt, eine ganze Naturtendenz in sich bis an die Grenze der Lebensmöglichkeit zu v e r g e w a l t i g e n . E r findet sich genötigt und getrieben, die Kräfte der Lebensgesetzlichkeit in seinem Organis-
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mus durch eine große Reihe härtester und naturwidriger Handlungen zu stauen und aus ihrer Unhandhabbarkeit sozusagen aufzuscheuchen, diese biologischen Energien durch Vergewaltigung ihrer Naturrichtung anzugreifen mittels lauter Maßnahmen, die vom normalen Standpunkt aus als „ u n n a t ü r l i c h " erscheinen. Also: das regelwidrige biologische Ereignis geschieht nicht von selbst, sondern muß durch den Menschen bzw. die biologisch summierbare Volksvielheit durch bestimmte Aktionen erarbeitet und hergestellt werden. Hiermit haben wir die Spezifikation unserer Grundannahme umschrieben: Die allgemeine Voraussetzung der biologischen Summation wird präzisiert durch die eben dargelegten fünf näheren Bestimmungen: 1. Begrenzung der biologischen Ansammlung auf Volkseinheiten. 2. Beschränkung des biologischen sog. „Wunders" auf bestimmte Organgebiete. 3. Zuordnimg der zu steigernden Organerscheinungen zu bestimmten Völkern. 4. Auftreten der Steigerungserscheinungen nur an einem oder an wenigen Einzelnen innerhalb eines solchen Volkes. 5. Notwendigkeit der Erarbeitung des biologischen Ausnahmegeschehens durch den Menschen. In diesen fünf Punkten also haben wir die s p e z i f i zierte F o r m unserer Hypothese. Es ist klar, daß diese unsere Annahme, in die Wirklichkeit umgesetzt gedacht, eine ganze Welt neuer Erscheinungen bedeuten muß. Wir besitzen Dokumente in ungezählter Fülle, die sich als der Niederschlag einer solchen Welt neuer Erscheinungen bezeichnen, einer uns unverständlichen, wunderdurchsetzten Welt, die wir die m y t h i s c h e nennen und die sich — wenn sie Tatsache sein sollte — in zwei entlegenen Bezirken abspielt — einem zeitlich entfernten: der mythischen Urvergangenheit und einem räumlich entfernten, aber gegenwärtigen: der Sphäre der sog. Naturvölker. Dieser mythischen Welt gehört jene Gruppe von Religionen an, die wir als sog. Experimental-Religionen charakterisierten, die
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wir den Glaubens-Religionen gegenüberstellen, weil sie (las Wunder nicht einfach zu glauben, sondern zu verwirklichen bestrebt sind. Wir wollen nun aus der mythischen Sphäre in einer gewissen rohen Unterscheidung alles, was offenkundige Dichtung ist, weglassen, alles, was Glaubensreligion ist, weglassen und uns nur der Welt jener Experimental-Religionen zuwenden, die sich allein als die echten Mythen herausstellen werden, und versuchen, diese Welt neuer Erscheinungen, die Begriffe, Wesenheiten und Geschehnisse aus der Sphäre der Experimental-Religionen unter der Perspektive dieser unserer soeben spezifizierten Annahme zu betrachten. Wir behaupten zeigen zu können, daß die Experimentalreligion, also derjenige religiöse Mythos, in dessen Zentrum die reale Bewirkung des Wunderbaren steht, uns in allen ihren Begriffen und Bezeichnungen ein Weltbild und ein Geschehensbild vor Augen stellt, das der Annahme von der summierbaren Lebenskraft genau entspricht; wir werden also darzulegen versuchen, daß alle uns notwendig sinnlos (sinnlos in dem Augenblick, da wir sie buchstäblich und nicht dichterisch nehmen wollen) erscheinenden Begriffe und Normen eines solchen Mythos durch unsere Hypothese zu real sinnvollen werden. Wir denken, dadurch, daß wir das Dunkel und die Mystik, die seit je über diesen Dokumenten lagern, durchdringen zu können glauben, zugleich uno actu, eine nicht ganz ernst genommene Welt aus der Sphäre der bloßen Kunst- und Religionsperspektive, der sie üblicherweise allein unterliegt, herauszuholen und unserer Hypothese eben durch ihre Anwendung auf diese verschlossenen Gebiete eine erste und nicht geringe Stütze zu geben. Wir beginnen mit dem ersten Satz der spezifizierten Form unserer Grundthese, welche die Summierbarkeit der biologischen Energie voraussetzt und weiterhin die Summierbarkeit auf den Umfang einer ganzen anthropologischen Stammesgemeinschaft ausdehnt und zugleich beschränkt. Wir erhalten damit die Wesenheit eines Volkes oder eines Stammes, die sich von dem gewöhnlichen Volks- oder Stammesbegriff dadurch auszeichnet, daß die lebensgesetzliche Kraft seiner Mitglieder, die normalerweise unverbindbar ist, zu einer Ein-
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heit, zu einer realen Summe zusammenfaßbar ist. Diese Summe ist, wie wir oben zeigten, gewisser übernormaler Wirkungen fähig. Die biologische Summe ist das Volk. Das Volk, d. h. die einzelnen Mitglieder dieses Volkes sind also zu einer Ganzheit zusammensetzbar, zu der die Individuen der Völker, die wir kennen, nicht zusammensetzbar sind. Es ist klar, daß diese Ganzheit, welche ein Volk zu einer weit intensiveren Einheit macht, als es heute je ein Volk sein kann, weil ja die Ganzheit des Volkes, die wir heute nur als Begriff kennen, durch den Umstand der Summierbarkeit realer Wirkungen fähig ist — es ist klar, daß diese Ganzheit, die sich real bezeugt, viel intensiver von der bloßen Zahl der Einzelnen unterschieden ist, viel mehr für sich da ist, ein Sonderdasein besitzt, als heute etwa die Idee des Volkes, die wirkungsgemäß durchaus real durch die Zahl der Einzelnen ersetzt werden kann. Es ist schließlich klar, daß diese sonderexistente Ganzheit durchaus vorher da sein muß, wenn sich die Zahl der einzelnen zu dieser Ganzheit soll zusammenschließen können — so wie die Anlage eines Organismus potentiell vorher da sein muß, damit die Funktionen der einzelnen Organe ineinandergreifen können und das Ganze des Lebens bewerkstelligen. Diese biologische Ganzheit, die vorher und abgesondert von den Einzelnen da ist, diese lebensgesetzliche Summe, welche Ort und Quelle aller außernormalen Vorgänge ist, enthält sämtliche Merkmale dessen, was ein solches Volk seinen Gott nennt. Der Gott eines mythischen Volkes ist nichts anderes als das Volk selbst, sofern es eine reale lebensgesetzliche Einheit ist, sofern sich seine biologischen Kräfte zu einer Ganzheit summieren lassen. Ist der Zusammenschluß möglich, so ist der Gott da, anwesend, denn er bezeugt sich durch ungewöhnliche biologische Ereignisse — mißlingt der biologische Zusammenschluß aus irgendeinem Grunde, so weicht der Gott von dem Volke, die Wunder bleiben aus, der Gott reagiert nicht auf die Bemühungen seiner Träger. Der mythische Gott ist die lebensgesetzliche Macht seines Volkes. Die Götter der mythischen Welt sind die Völker selbst. Jedes Volk hat seinen Gott. Genauer: Jeder biologisch-verbindbare Stamm hat notwendig seinen 91
Gott, größere Völker, die sich aus diesen Stämmen zusammensetzen, besitzen ebensoviele Götter, daher haben wir die zahllosen Götter der mythischen Zeit, den Stammgott dieses oder jenes Stammes, den Stadtgott dieser oder jener in einem Stadtstaat zusammengefaßten Gemeinschaft. Einige wenige Beispiele aus der Fülle, mit der Goldberg diese Beziehung zwischen den Wesenheiten Volk und Gott als vom Mythos selbst ausgesprochen belegt, mögen hier folgen. Die Paradigmen sind zwar der althebräischen mythischen Literatur entnommen, weil gerade an ihr Goldberg die Bereiche der mythischen Realität systematisch zu erproben unternommen hat, allein es ist anzumerken, daß, gewisse Vorbehalte abgerechnet, die Grundelemente des Mythischen dem althebräischen Volke mit jedem mythischen Volk gemeinsam sind, so daß einige Aussagen des Pentateuch durchaus die Aussagen jedes Mythos über die Struktur der mythischen Welt repräsentieren können. Begreift man also, wie angegeben, das in sich biologisch verbindb a r e Volk als das mythische Volk selbst, im engeren Sinne (seine einzelnen Volksglieder), dagegen die v o l l z o g e n e lebensgesetzliche Verbindung, die S u m m e , als seinen Gott, so wird die mythische Vorstellung verständlich, derzufolge umgekehrt das Volk als eine Ä u ß e r u n g s f o r m , sozusagen als ein potentieller Existenzmodus, seines Gottes aufgefaßt wird. Ebenso wie man den Gott aus dem Volk erklären kann, kann man natürlich auch (bei der engen logischen und in gewissem Sinne umkehrbaren Beziehung von unverbunden und verbunden betrachteten Individualeinheiten) das Volk als eine Darstellung seines Gottes verstehen — allerdings nur als die e i n e (die unter dem Aspekt der E i n z e l n e n ) , während die a n d e r e (die unter dem Aspekt ihrer biologischen G e s a m t e i n heit) der Gott ist. Man kann ganz wohl beide Aspekte zusammennehmen und sie das mythische Volk im w e i t e r e n Sinne nennen, wie wir taten — man kann aber auch, wie der Mythos, dem der Gottesbegriff der wesentlichere ist, diese beiden Darstellungsmodi zusammen den Gott nennen. Dann aber ist das Volk i m e n g e r e n S i n n e ein T e i l des G o t t e s . Und wörtlich so lautet die Aussage der mosaischen Urkunde „ k i chelek JHWHammo, ein T e i l J H W H ' s i s t d a s zu i h m g e h ö r i g e V o l k " 1 ) . Ferner läßt sich für den Übergang von der summenhaften Sonderexistenz des Gottes in den weniger oder nur potentiell summenhaften, also in den V e r t e i l t h e i t s z u s t a n d der Gotteswesenheit das charakteristische Wort des Moses zu J H W H anführen: v e r b r e i t e d i c h w i e d e r (wörtlich: w e r d e w i e d e r zu) ü b e r die (den) v i e l e n Z e h n t a u s e n d e ( n ) v o n I s r a e l 2 ) . Schließlich sei noch an ein bezeichnendes Zeugnis für die gleichungshafte Beziehung Volk-Gott erinnert, das in einem Satze zum Ausdruck kommt, in dem dem hebräischen Volke Unbilden vorausgesagt werden, die es als Vergeltung für seinen Kult an einem lo e l , einem N i c h t - G o t t , auffassen *) Dt 32„, vgl. Goldberg, Wirkl. d. Heb. S. 24. s ) Nn i o „ b , vgl. Goldberg a. a. O. S. 24.
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sollte und die darin besteht, daß die Hebräer einem lo am, einem N i c h t V o l k , ausgeliefert werden sollen. Diese Antithese, die in e i n e m Ausdruck Nicht-Gott und Nicht-Volk parallelisiert und gegenüberstellt, ist noch in einem anderen Betracht sehr bemerkenswert. Sie zeigt nämlich, daß der Mythos — das Unmythische kennt, und zwar auf folgende Weise: Es ist dargelegt worden, daß die Realität eines Gotteswesens an eine ganz bestimmte biologische Disposition eines Volkes gebunden, j a mit ihr identisch ist: mit der realen lebensgesetzlichen Ganzheitsfähigkeit eines Volkes. Derartige Völker muß man „wirkliche" Völker heißen, d. i. solche, bei denen der Begriff Volk eben mehr als ein bloßer „Begriff" ist, auch mehr als eine genetische und geistige Zusammengehörigkeit, kurzum, bei welchem das biologische Verhältnis der Einzelnen zueinander und zum Ganzen — durch die Intention zur Summe, die etwas Neues ist — ein so Wirkliches ist wie etwa die biologische Institution der Sexualität, die j a auch über die Einzelindividuen hinausgreift — nur mit anderer Bestimmung als die mythische „Verbindbarkeit". Jene soll „erhalten", diese soll „steigern". Entfällt nun durch irgendeinen Umstand diese reale Verbindbarkeit, so zerfällt das „wirkliche" Volk in eine Vielheit mehr oder minder „isolierter" Einzelner, die dann bloß noch „historisch" oder „geistig" zusammengehören — es entsteht das unechte, unwirkliche, unmythische Volk, das Volk, das allein wir kennen und meinen, wenn wir den Begriff gebrauchen. Solche Zerstörung der mythischen Stammesgemeinschaft, deren Gründe einer die w a h l l o s e M i s c h u n g der mythischen Völker ist, kennt der althebräische Mythos in einem prinzipiellen Paradigma: dem Völkerdurcheinander von B a b y l o n . Babylon ist die Repräsentation des U n m y t h i s c h e n schon für den Mythos: ein dem unsrigen analoges, urzeitliches Weltstadtgetümmel isolierter Einzelner, „anorganische" Massen bildend. Prägnant wird das von Jesajah ausgesprochen: „Dieses Land der Chaldäer, das ist nie ein Volk gewesen" (seh haam lo hajah). Das überaus Bezeichnende ist nun, daß im mosaischen Text gerade diesem Nicht-Volk, Babylonien, die Nicht-Götter zugeordnet werden in jenen Stellen, welche ein Hauptanlaß zu dem fundamentalen Mißverständnis geworden sind, als ob der Pentateuch einfach a l l e n fremden Göttern die Realität abspreche und sie als Ausgeburten der Phantasie behandele. Es gibt eben — schon für den Mythos — neben und nach der mythischen Welt die unmythische, die Welt der Nicht-Völker und s o m i t , d e m e n t s p r e c h e n d , der nicht real existenten, der symbolischen und allegorischen „Götter", der leeren Idole. Babylon ist der urzeitliche Typus jenes Erloschenseins der echten Völker und e b e n d a m i t des m y t h i s c h e n Z e i t a l t e r s ü b e r h a u p t , ist Repräsentation aller jener Völkerkonglomerate (wie später Hellas und Rom), in welchen an die Stelle der wirklichen Götter, deren Charakteristikum ist, daß sie „ i h r " Volk nicht „wechseln" können, das unübersehbare von Volk zu Volk „ a u s w e c h s e l b a r e " und übertragbare Pantheon der personifizierten Kunstgebilde tritt, die allein wir herkömmlicherweise unter dem Namen der „antiken Götter" verstehen. Der Übergang vom Mythos zur „Kunst" und zur „Geschichte", d. h. zur unmythischen Realität, findet statt. Diesen metaphorischen
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.Göttern" gegenüber kennt der Pentateuch die äußerst wirklichen der mythischen Völker, wie Urägypten, Kanaan usw. Von den Textstellen, ler mosaischen Urkunde, die die Wirklichkeit anderer Gottwesenheiten aussprechen und die sich nach Goldbergs Ausführungen leicht zusammenstellen lassen, sei hier nur an eine einzige erinnert, in der der Pentateuch ron den bene elohim spricht, d. h. von Zugehörigen zur K l a s s e der Götter 1 ), von welchen er in seiner durchaus als Geschichte auftretenden Darstellung handelt — eine Stelle, die wohl jeder üblichen theologischen Erklärung spotten wird. (Vgl. auch meine Übersicht in „Das Problem der mythischen Realität".)
Jedenfalls hat der Begriff eines Gottes, und zwar eines Ausnahmeereignisse bewirkenden Gottes, in der mythischen Urzeit als reale Unterlage stets ein Volk, genauer, die lebensgesetzliche Kraft dieses Volkes — sie ist die Macht, die, von den einzelnen unterschieden, das reale Wesen des Gottes bildet — so wie man auch heute noch mit den Mächten in politischer Beziehung die Völker meint, die Großmächte, oberhalb deren es nichts gibt als die Natur. In der mythischen Urzeit aber anerkannten diese Mächte auch die Natur nicht über sich, sondern sie, oder die Götter, waren die Gegenmöglichkeiten zur Natur, Gegenmächte, die von den Vielheiten der Menschen ihren Ausgang nehmen. Der erste Satz unserer Annahme, der die biologischen Ansammlungen mit Völkern identifiziert, erklärt uns den Grundbegriff aller mythischen Region: den Begriff eines Gottes. Der zweite Satz begrenzt, wie erwähnt, das Wirkungsfeld des Wunders oder der biologischen Summation auf ein ganz bestimmtes Organgebiet, und der dritte Satz ordnet zugleich ein solches Organgebiet, auf dem sich das anormale Geschehen zeigt, einem bestimmten Volke zu. Also um deutlich zu sein, stellen wir uns vor, daß der Bereich einer bestimmten biologischen Steigerung etwa die Haut sei, so werden wir die Fähigkeit dieser Hautanomalie im Prinzip zunächst bei irgendeinem bestimmten Volke, etwa einem Negerstamm, vorfinden. Der Gott des betreffenden Negervolkes wird dann der Herr über die Lebensphänomene der Haut sein, und wir machen die zunächst erstaunliche, sich aber in der Welt der Mythen durchgängig bestätigende Beobachtung, daß ein mythischer Gott sich von einer unmythischen GottesvorstelGn 6B 4, vgl. Goldberg a. a. O., S. 39.
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lung, der nämlich mehr oder minder sämtliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, sehr drastisch unterscheidet: Der mythische Gott kann nämlich immer nur ein einziges oder ein engumschriebenes Ausnahmegeschehen hervorbringen. Der Gott ist nur mit einer bestimmten Fähigkeit, nicht mit beliebigen, identisch. Das spricht sehr für seine Realität. Der Gott realisiert im Prinzip immer dasselbe Wunder, d. h. ein bestimmtss Volk ist befähigt, auf einem bestimmten Organgebiet gegennatürliche Phänomene zu erzeugen. Daraus ergibt sich eine Ordnung der Götterwesenheiten nach Organgebieten, nicht anders als es an unzähligen Stellen des Upanishads wörtlich gesagt ist: „ D i e G ö t t e r alle sind in diesem L e i b e b e s c h l o s s e n h i e r . " (Pränägnihotra — Upanishad 4, übers, v. Deußen.) Aber noch etwas anderes ergibt sich aus der Organbestimmtheit der biologischen Aufhäufung, ein Grundphänomen der mythischen Welt: Der T o t e m i s m u s . Wenn nämlich ein Gott immer nur mit einer zirkumskripten Funktion identisch ist, so ist er gewissermaßen die Verselbständigung dieser Funktion. Die Funktion selbst, die wir nur in ihrem Zusammenhang mit dem übrigen Organismus kennen, wird ein allein dastehendes, nur für sich gegebenes Etwas, sie wird ein Selbständiges. Damit verändert sich in gewisser Weise ihr Charakter. Diese bestimmte Funktion nämlich wird zunächst einmal ins Geistige übersetzt. Sie wird Grundlage und Mittelpunkt einer großen Reihe von Vorstellungen, sie bekommt eine geistige Atmosphäre, die naturgemäß ganz erheblich vieldeutiger und unbestimmter ist, als die ursprüngliche organisch-körperliche Bestimmung eines bestimmten Organs. So wie wir aus der Dichtung dem körperlichen Organ des Herzens etwa zahllose psychische Bedeutungen beilegen — Liebe, Empfindung, Innerlichkeit, Sitz von Gut und Böse, und Härte, Grausamkeit mit Herzlosigkeit bezeichnen — , so bildet sich um das der biologischen Aufhäufung fähige Organgebiet eines solchen Volkes bzw. eines solchen Gottes eine geistige Hülle, eine Ideologie, die natürlich sehr viel vager und verschwommener ist als die körperliche Grundlage. Jedenfalls wird die mit dem
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Gott identische Funktion, also die eigentliche Steigerungsfunktion selbständig und damit Zentrum einer Ideologie, so daß wir durchaus nicht aus der geistigen Charakterisierung des Gottes — als Schützer, Erhalter, Fruchtbarkeit Gebender usw. — auf die typische Körperfunktion schließen können. Aber es gibt eine Seite im mythischen Begriffs- und Zeichensjebiet, durch die wir der körperlichen Bedeutung des Gottes durchaus näher kommen. Es gibt nämlich eine solche Verselbständigung eines oder mehrerer zusamnlenhängender Organgebiete, d. h. die Verselbständigung, die sich als ein Gott oder Götterkomplex darstellt — solche verselbständigten Lebensfunktionen gibt es auch in der Natur: das sind die Tiere. Jedes Tier, vom Protozoon angefangen, stellt die Verselbständigung einer bestimmten Lebensfunktion dar, d.h. das akzentuierte selbständige Dasein eines Organs oder Organgebietes, gegen das alles übrige zurücktritt oder rudimentär bzw. nebensächlich vorhanden ist. Nehmen wir z. B. an, es sei gegeben ein übermäßig entwickelter Verdauungskanal und sonst nichts bzw. sonst nur sehr minimal entwickelte Hilfsfunktionen, welche der akzentuierten Form, dem verselbständigten Verdauungstrakt, das Dasein ermöglichen — so haben wir irgendeine wurmartige Tierbildung vor uns, bei der auf Kosten bzw. gegenüber einer stark hervortretenden Zentralfunktion alles übrige fehlt oder nur angedeutet ist. Je höher das Tier, um so mehr Organgebiete umfaßt es. Immer noch aber stellt es gegenüber dem Menschen eine Verselbständigung von Lebensfunktionen dar, die ihm seine ihm typische biologische Gestalt aufprägen. Das System der Tiere ist das System der verselbständigten Lebensfunktionen. Wenn nun die verselbständigten Organgebiete, wie wir, durch mythologische Zeugnisse gestützt, sagten, die Ordnung der Götter umfaßt, so gilt der Schluß, daß das System der Tiere im Prinzip die Ordnung der Götter enthält. Jedem Gott ist ein Tiertypus zuzuordnen — nicht symbolisch, sondern wirklich, unter der Voraussetzung, daß der betreffende Gott Beherrscher, Urbild und Wesen eines bestimmten Organgebiets ist. Der Gott muß, nicht symbolisch sondern real, unter dem Bilde eines bestimmten Tieres vorgestellt werden, da beide die Verselbständigung
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derselben Lebensfunktion bedeuten. Mit einem gewaltigen Unterschiede: das Tier ist die empirische natürliche starre Verkörperung einer von außen bestimmten Lebensfunktion — der Gott aber ist die biologische Steigerung eben derselben Lebensfunktion, eine Steigerung, welche macht, daß zu dem im Tiertypus gezeichneten Gotte eine geistige Struktur hinzukommt. Unsere Annahme leistet somit die Aufklärung der Tausendgestaltigkeit der mythischen Götter als Tierformationen und erklärt die allgemein unverständliche Darstellung des Gottes als Tier oder als Kombination von Tieren, d. h. die rätselhafte Überordnung des Tiertypus über den Menschen, d. h. unsere Hypothese kann für sich in Anspruch nehmen, das Grundproblem der gesamten Mythologie, den sogenannten Totemismus, rational darzustellen. Der vierte Satz der Annahme, daß die biologische Summation innerhalb einer Volksgemeinschaft sich nur an einem oder an wenigen Einzelnen körperlich zeige, erklärt ohne weiteres die Stellung des oder der sog. Priester, Magier, Medizinmänner in einem in sich verbindbaren Volke. Diese herausgehobenen Personen bzw. ihre Körper sind die Orte, an denen sich die biologische Aufhäufung sammelt und an denen sie die biologisch exzeptionellen Vorgänge notwendig mit sich führen muß. Es ist völlig den Tatsachen entsprechend, wenn der Mythos das so ausdrückt, daß, solange die Ansammlung von lebensgesetzlicher Energie in dem Körper des Magiers oder Medizinmannes dauert, der Gott „in" dem betreffenden Magier „wohnt" und „Wunder bewirkt" und daß der Gott weicht, wenn die biologische Überlastung des Priesters aufhört. Auch hier korrespondiert der Sachverhalt unserer These genau dem Begriffsschema des Mythos, nur daß sie es mit einem auch uns verständlichen Sinn zu erfüllen vermag, indem sie die Sprache des Mythos in unser Begriffssystem zu übersetzen vermag, ohne den mythischen Behauptungen Gewalt anzutun, d. h. ohne sie umdeuten zu müssen. Die fünfte Behauptung unserer Grundvoraussetzung, daß das biologische Ausnahmegeschehen nicht von selbst eintreten, sondern durch den Menschen erarbeitet werden muß, und zwar durch einen ganzen Komplex gegen die Natur, d. h. gegen die Natur erster Ordnung gerichteter Handlungen — U n g e r , Wirklichkeil.
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diese Bestimmung schließlich erklärt ein völlig unverständliches Materialgebiet der mythologischen Forschung, das ganze Gebiet der unnatürlichen und scheinbar sinnlosen Handlungen im Bereiche der Experimentalreligionen, nämlich das sog. Ritual. Das Ritual ist der Maßnahmenkomplex gegennatürlicher Handlungen, welche das Ziel haben, die lebensgesetzliche Kraft, die in dem Einzelnen arbeitet, aufzustören, in andere Bahnen zu lenken als die, in die die unangegriffene Natur sie richtet, und es ist klar, daß alle diese Handlungen vom natürlichen Standpunkt aus Vergewaltigungen sein müssen. Das Ritual ist das harte und grausame System von Aktionen gegen die eigene lebendige Körperlichkeit, die evidentermaßen nur von einem Gebiet aus angegriffen werden kann, das genau in der Mitte zwischen Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit liegt, auf das also die Natur einerseits den unwillkürlich wirkenden Zwang ausübt, das aber andererseits in die Willkürregion des Menschen hineinreicht. Solche Gebiete sind vorzugsweise die Nahrung, die Atmung und die Sexualität. Auf allen dreien finden wir, bei den Völkern und ihren biologischen Steigerungsabsichten entsprechend jeweils verschieden, die verschiedensten Ritualsysteme ausgebildet, die sich, selbstverständlich unter Begleitung weitausgesponnener Ideologien, gegen die natürliche Tendenz dieser Lebensgebiete richten und so Ablenkungserscheinungen der biologischen Energien hervorrufen. Wir haben einen oberflächlichen Überblick über den Bereich des Mythos gegeben und das Wunder zugleich aufrechtzuerhalten und zu erklären versucht. Denn dies war das Wesentliche unserer Absicht: wir wollten in einer absolut konstant und unerschütterlich naturgesetzlich gebunden erscheinenden Welt eine Quelle, eine Ursache des möglichen Wunders finden. Wir wollten aber zugleich dem mit jeder kausalen Erklärbarkeit eng verbundenen Einwand entgehen, nämlich den erklärten Begriff, d. h. das Wunder aufzuheben — das Wunder zu entzaubern. Man könnte sagen: Gut, du erklärst das Wunder — aber eben damit hebst du es auf. Wunder ist nur, was unerklärlich ist. Diese Definition müssen wir ablehnen. Wunder ist für uns das erklärbare Ausnahmegeschehen, eine Durchbrechung des gewohnten Naturablaufs,
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eine Abweichung, deren Größe so erstaunlich werden kann, daß nur eine theologische Klügelei sich weigern würde, hier von Wundern zu sprechen: ein Schritt weiter in unserer These, den wir hier nicht mehr erörtern wollen — und die ganze Zauberwelt des Mythos würde aus der Annahme der summierbaren Lebenskraft bis ins einzelne entspringen. Wir wollen hier so weit nicht gehen. Wir wollen nur einen Gedanken hervorgehoben haben: inmitten unserer so unantastbar und ewig gleich anmutenden Wirklichkeit gibt es einen Ort und einen Keim für alles Außerordentliche und Wunderartige: das ist der Bereich des Lebens.
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II. TEIL.
DICHTUNG UND PHILOSOPHIE.
EINLEITUNG.
DIE DICHTUNGS-DEUTUNG DES MYTHOS UND DER MISSERFOLG DER PHILOSOPHIE.
Wir haben eine mögliche Realität des Mythischen, das hypothetische Bild einer Erfahrung, die der mythischen Aussage korrespondieren könnte, dargelegt. Wir haben damit, wie schon zuvor angedeutet, ein Ergebnis vorweggenommen, zu dessen methodischer und allgemeiner Rechtfertigung wir erst jetzt ansetzen können. Zwar wird man eine Aussage über etwas zu Erfahrendes zuletzt nie anders als eben durch dessen unmittelbares Erfahren selbst legitimieren können — aber man käme doch auch niemals zu einer anderen als der von der Natur „von selbst" dargebotenen Erfahrung, wenn man sich nicht über deren mögliche, vorerst theoretische Erweiterung Gedanken machte. Vielleicht enthält die Natur mehr, als sie, unprovoziert, zeigt. Sinn und Methode dieses „Hervorrufens" aber hängen ab vom Inhalt und Wesen dessen, was „die Wirklichkeit" heißt. Am Mythos nun wird das Problem vom Umfang und Grenzen der Wirklichkeit flagrant. Aber die Wirklichkeit ist, als solche und ohne Rücksicht auf das Mythische betrachtet, doch eigentlich das ursprünglichere Problem. Seine Behandlung steht noch aus, und eine solche kann überhaupt erst verstehen lassen, inwiefern das Mythische im Problem des Wirklichen drinsteckt. Damit betreten wir das Gebiet philosophischer Überlegung. Als wir daran gingen, das Mythische zu definieren, mußten wir die Auffassung des mythischen Inhalts als eines Erzeugnisses der Dichtung ausschließen. Es war eine der wichtigsten Bedingungen, um zum Verständnis des Mythos zu gelangen, ihn gegen die Dichtung zu isoHeren — eine Trennung, die gegen eine scheinbar übergroße Affinität der beiden Gebiete zueinander anzukämpfen hat. Ist doch in der Tat 103
alle bisher behandelte Mythendeutung, sofern sie nicht auf die Goldbergschen Grundlagen zurückgeht, im großen und ganzen nichts anderes als Gleichsetzung des Mythos mit der Dichtung, sei es nun mit regelloser, sei es mit nach bestimmten Auffassungsregeln verlaufender Dichtung. Die Kategorie der Dichtung, die bloße Tatsache des Gegebenseins von Dichtung, zog wie ein Gravitationszentrum den Mythos in seinen Bereich und ließ eine undichterische, realitätsenthaltende Deutung des Mythischen gar nicht erst aufkommen. Die Auflösung und Erklärung des mythischen Inhalts als Dichtung erschien als eine so zwingende Antwort auf dieses Rätsel, daß man nach einer anderen ernsthaft gar nicht suchte, wenn man auch allmählich sich der Unstimmigkeiten einer solchen Lösung in so hohem Grade bewußt wurde, daß man den Begriff der Dichtung unter immer neuen und anderen Namen ausdrückte; insbesondere im Cassirerschen Vergleich des Mythos mit unserem eigenen unmythischen Weltbild charakterisierte man den Subjektivcharakter der mythischen Aussage an einem Analogon — eben unserer Erfahrungsstruktur —, dem man das Dichterische nicht so ohne weiteres nachsagen konnte, obwohl es auch hier letzten Endes deutlich den Grund des Erklärungsprinzips abgab. Mit alledem also bekam man das entscheidende Dichtungsmerkmal im weitesten Sinne, nämlich das „nicht-buchstäbliche und nicht-drastische Wirklichkeit-Sein", nicht von der Entzifferungsmethodik des Mythos fort, und wie sehr man sich auch mühte, nicht schlicht und explizite von Dichtung als Deutungsprinzip zu sprechen, so blieb sie doch das eigentlich einzige Auskunftsmittel in dieser Verlegenheit. Hat man nun aber einmal diese Sachlage ganz überblickt und überhaupt erst einmal, im Gegensatz dazu, einer unmetaphorischen Realitätsdeutung des Mythos Raum gegeben, so muß man einer merkwürdigen Umkehrung im Interpretationsprozeß gewahr werden: das bloße Bestehen von Dichtung als eines scheinhaften Phänomens strahlte hinüber auf das Feld des doch vielleicht gänzlich andersartigen Mythischen, Heß es im dichterischen Lichte erscheinen und vernichtete damit im Keim eine etwaige Realitätsgeltung 104
des Mythos — aber nun, einmal im Besitze des Wirklichkeitscharakters, lenkte der Mythos seinerseits das Augenmerk über die bloße (abgewiesene) Dichtungs-Deutung des Mythischen hinaus auf das ganze Phänomen der Dichtung als solches, als Kulturgegebenheit und läßt sie ihrerseits in einem neuen Lichte erscheinen — in einem anderen als da es den Mythos als Realität nicht gab. Poetisierte zuvor die Dichtung eine Wirklichkeit — die mythische —, so verwandelt nun die Anerkennung einer solchen Wirklichkeit das ganze Kulturphänomen Dichtung in etwas wertmäßig völlig anderes, als was es unter der Voraussetzung der Nichtrealität des Mythischen gelten konnte: Machte zuerst Dichtung die Existenz mythischer Realität fraglich, so setzt nun diese ein Fragezeichen an das Existenzrecht der Dichtung. Halten wir uns zunächst den Sinn gegenwärtig, in dem von mythischer „Wirklichkeit" gesprochen werden muß: um hier jedes Mißverständnis auszuschalten, sei daran erinnert, daß der Begriff Wirklichkeit schon in erster Unterscheidung drei Sphären deckt: eine mögliche metaphysische Realität, die Realität alles Geistigen als psychologischer Faktizität (im Akt- und im Inhalts-Sinne) und schließlich das Wirkliche im Sinne der materiellen raumzeitlich erfaßbaren und sinnenhaft wahrnehmbaren Gegenständlichkeit, der Realität der „vorwissenschaftlichen" Erfahrungswelt (die existierenden Pflanzen, Tiere usw.), an die auch die Wissenschaft anknüpft. Nur diese zuletzt genannte Sphäre des Wirklichen komplettiert den Begriff der „buchstäblichen" Wirklichkeit, wie er hier gebraucht wird, wenn von einer Realität der mythischen Aussage gesprochen wird. Danach ist ohne weiteres klar, daß eben diese Anschauungsform des Realen, die wir auch für die „mythische Realität" beanspruchten, sowohl von der zuständigen Einzelwissenschaft, der Mythenforschung, wie implizite von allen übrigen Einzelwissenschaften und schließlich auch von der Philosophie mit Selbstverständlichkeit für den Mythos negiert wird. An den eingangs behandelten Philosophien des Mythos ist das dargelegt worden. Aber auch die Philosophien, die wir nicht in den Kreis unserer Betrachtung gezogen haben, weil sie, zumeist einer früheren Epoche angehörend, die Frage der 105
mythischen Realität ins Metaphysische geschoben und also eine transzendente Wirklichkeit für den Inhalt des Mythos statuiert haben, wie Schelling, Molitor u. a., haben ebendamit die Erfahrungswirklichkeit für die Daten des Mythos abgewiesen. Es bleibt übrig, darauf hinzudeuten, daß auch alle übrige Philosophie, die also nicht direkt den Mythos zum Gegenstand hat, indirekt, aus der ihr eigenen Stellungnahme in Dingen der Realität heraus, jede derartige Realitätsprädikation wie „erfahrbare Wirklichkeit" vom Mythischen weit fernhält: so ist es undenkbar, daß nicht jede auf „Erfahrungsgrundlegung" gerichtete Philosophie wie der Kritizismus und seine Varianten die beiden Sphären Mythos und Erfahrungswelt auf das Entschiedenste trennte. Unter der Voraussetzung solcher buchstäblich wirklichen Erfahrbarkeit des Mythischen, wie wir es eben in unserer hypothetischen Darstellung einer mythischen Empirie gekennzeichnet haben, beansprucht dieses Wirklichsein wie jedes eine Stelle im Ablauf der historischen Zeit. Es könnte ja theoretisch ganz wohl sein, daß wir im Verfolg des zeitlichen Ablaufs niemals auf eine Ereignisreihe eines „geschichtlichen Mythos" träfen, ohne daß damit gegen die mythische Realmöglichkeit etwas bewiesen wäre. Indessen haben wir die Berechtigung, wenn überhaupt die Denkbarkeit und Begründbarkeit eines mythischen Wirklichseins in zureichendem Grade sichergestellt werden kann, dann in jenem uns historisch übermittelten Reichtum mythischer Dokumentation einiges im Sinne solcher Realität Deutungsfähige anzunehmen, ohne schon hier eine Auswahl treffen zu können, auf was das Realprädikat angewandt werden dürfe. Die hypothetische Annahme einer mythischen Erfahrung überhaupt hat eine Auswirkung auf die tatsächliche Geschichte — und dies in dem Sinne, daß die mythische Realität Kennzeichen eines historischen Weltzeitalters wird: der mythischen Epoche. Steht also an den Grenzen unserer „Geschichte" (in engerem Sinne: der unmythischen „historischen" Geschichte) der Mythos, so bedeutet das im Sinne der Realgeltung des Mythischen nicht primär, daß die „Überlieferung stockt" und „graue Vorzeit" beginnt, nicht, daß ein subjektives Abreißen der Tradition Mythos und Ge-
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schichte trennt (wiewohl sekundär auch dies), sondern daß mit dem Einsetzen eines Wirklichseins anderer Struktur als des unseren die historische Kontinuität in gewissem Sinne objektiv unterteilt wird: die mythische Wirklichkeitswelt wird als die reale Vorwelt der unmythischen begriffen. Zweifellos ist, wenn dies so ist, die mythische Welt irgendwann der unseren gewichen und hat die Geschichte im weiteren Sinne, die den Mythos einschließt, der Geschichte im engeren Sinne, die ihn ausschließt, Platz gemacht — dann aber ist die Epoche des Übergangs dieser beiden Sphären ineinander der der höchsten Aufmerksamkeit würdige Boden der Entstehung unserer gesamten Kultur, der die Lösung ihrer wichtigsten Fragen birgt: denn unter dem Aspekt einer realen mythischen, andersartigen Vorwelt nehmen sich die einzelnen Erscheinungsformen unseres kulturellen Gefüges ganz anders aus als unter der Perspektive einer prinzipiell gleichartigen Fortsetzung unserer Erfahrungsart in die Anfangsrichtung der Zeit hinein. Das Beispiel der Dichtimg wird das zeigen. Zwar hat man wohl schon seit je vermutet, daß Dichtung, ja Künste und Wissenschaften sich aus dem Mythos herausdifferenziert haben — aber ein anderes ist dieser Hervorgang, wenn im Mythos nur eine Äußerungsart des Geistes gesehen wird und das Entspringen somit nur den Wechsel von einer psychischen Ausdrucksform zu anderen psychischen Formen bedeutet — ein anderes, wenn dieses Entstehen den Übergang von Wirklichem zu — „bloß" Geistigem bedeutet. Denn der Mythos — das heißt — in jenem hier allein interessierenden Kernfall —: eine wirkliche Welt —, die Dichtung aber ist ein Gebilde des Geistes. Des Geistes augenfälliges und uns geläufiges Merkmal nun ist sein Freisein von den Grenzen, die die Wirklichkeit darbietet, seine Fähigkeit über den Inhalt des Wirklichen hinaus noch einen unendlichen, frei hervorzubringenden Gehalt zu besitzen und über ihn zu verfügen. Aber dieses Merkmal des Überschusses des Geistes über die Realität ist sein Kennzeichen in eklatanter Weise nur gegenüber einer Erfahrungswelt, welche wie die unmythische und unsrige, um wesentlichste Möglichkeiten der Realität beraubt ist — nicht aber gegenüber einer rei107
cheren und erfüllteren Wirklichkeit, die wie die mythische in entscheidenden Punkten das Träumenkönnen des Geistes in der Realität zu erreichen vermag. Wo Wirklichkeit des prinzipiell gleichen Inhalts wie des in Imagination und Trieb der Seele erzeugten herrschen kann, bedarf es des Traumes nicht — und da Dichtung nichts ist als der Traum dieser reicheren Welt, so entsteht sie erst mit deren realem Untergang und als ihr Nachhall und Nachbild. Das Entspringen der Dichtung aus dem Mythos ist der Übergang vom Bericht zum Traum des anfänglich selben Inhalts, dessen allmählich fortschreitende Loslösung vom Wirklichen sich in dem phantastischen Wachstum, in der imaginativen Umwucherung des einst „realen Kernes" kundgibt: nur, daß auch dieser „reale Kern" des Mythos nicht, wie gemeiniglich angenommen, die Realität nur unserer Gegebenheitsebene, sondern dennoch und darüber hinaus die einer der unmythischen heterogenen Erfahrung darstellt. Dichtung aber, die, gemessen an den Schranken und Engen unserer Welt, den Erweiterungsflug des Geistes bedeutet, wird so, verglichen mit einer Wirklichkeit, die an Inhaltsreichtum ihr in wesentlichen Regionen gleichkommen konnte, zu einem verblassenden Nachbild, zu einem zurücksinkenden Schemen, von dessen Inhalten das Realprädikat genommen ist: die Dichtung, gegenüber der Enge unmythischer Region das große Plus des Geistes über die Realität, wird zu einem ebensolchen Minus gegenüber einer erweiterten Erfahrungswelt, dem mythisch Wirklichen. Hiermit ist die Umkehrung zu jener Interpretation, die im Mythos nichts als die Dichtung der Urzeit sehen wollte, vollzogen: So wie in jener Auslegung der Schein eine Wirklichkeit auflöste oder nicht zur Perzeption kommen Heß, so gibt nun ein Wirkliches — der realgedeutete Mythos — dem Scheinhaften das Original, das es vordem gar nicht besaß. Mit anderen Worten: Die schon gelegentlich gekennzeichnete Entstehungsgeschichte der Dichtung aus dem Mythos bekommt durch die Realgeltung des Mythos ein völlig anderes Gesicht: Steht im Geburtszeitalter der Dichtung das Mythische, ihr Ursprung, am Anfang als eine Irrealität, so ist der Übergang vom Mythischen zum Dichterischen nichts 108
anderes als ein nicht allzu erheblicher Wandel im Imaginären, im Reich des ungebundenen Geistes, und Dichtung ist dann die große Befreiung und Erholung des Geistes von den Grenzen des Gegebenen, ein höchster Wert des Daseins — ist aber der Mythos real, dann ist Dichtung streng zu unterscheiden von ihm, nur das Schattengebiet einer reicheren Wirklichkeit und eine Phantasmagorie von unausdenkbarer Gefahr, wenn sie sich vor die reale Ur-Gegenständlichkeit schiebt, an ihre Stelle setzt und sie unsichtig macht. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu beweisen, daß die Tendenz zum echten Lebendigwerden des Mythischen in jedem Zeitalter steckt und immer wieder entspannt wird durch die Ersatzerscheinung des Mythos: Dichtung, und so können wir nur darauf hindeuten, daß der Dichtung in der Organisation der Kultur tatsächlich diese Rolle des Ersetzens und Ablösens des höchsten Triebes, des Triebes nach gesteigerter und erweiterter Wirklichkeit zugefallen ist, und daß sie, wenn die Möglichkeit der Auffindung einer realen Welt von der Auflösung des Schleiers der Dichtung abhängt, sub specie aeterni das Verhängnis einer ganzen Kultur bilden kann. In diesem Widerspruch zwischen mythischer Realität und Dichtung, der mit dem Gegebensein des einen das andere aufhebt oder nicht zur Entfaltung kommen läßt, aber vertritt die Dichtung nur den Widerspruch der ganzen übrigen Kultur, deren Glied sie ist, zur Wirklichkeit des Mythos: denn auch die übrigen kulturellen Erscheinungsformen wie Wissenschaft, Kunst, Philosophie bestehen und entstehen als Gegenformen zu einer kulturellen Welt, in der man von mythischer Realität sprechen kann. Das können wir uns durch den Rückgang auf unsere Annahme von einer realen mythischen Vorwelt als dem Vorfahr dieser unserer Erfahrungsebene verdeutlichen: mit dem Untergang und dem Verschwinden der mythischen Wirklichkeit entspringt nicht nur die Dichtung als die Imagination, die sehnsüchtige und die erinnerungserfüllte dieser verlorenen Welt, sondern es entsteht zugleich mit ihr die suchende und festhaltende Betrachtung des übriggebliebenen, nun mehr und mehr als unmythisch sich erweisenden Stückes der erfahrbaren Wirk109
lichkeit: die Wissenschaft im universalen Sinne, die Philosophie. Mit der Auflösung der Erfahrbarkeit im mythischen Bereich entstehen als zwei gleichzeitige Erben dieser Erfahrung zugleich Dichtung und Philosophie — jene als betonte Erinnerung und geistige Wiederbelebung des verschwundenen Einst — diese als Tastversuch am zurückbehaltenen Hier und Jetzt. Die vollkommene Trennung dieser beiden geistigen Betätigungsformen, das Sich-Entwickeln einer gesonderten Gestalt für das Dichterische und für das Wissenschaftlich-Philosophische vollzieht sich erst ganz allmählich im Laufe der Geschichte und weist auf einen Ausgangspunkt zurück, in dem die beiden Fähigkeiten der Seele, Dichten und Wissen, ungeschieden eine Einheit zu bilden vermochten, ohne daß jede damit ihr Wesen aufgeben mußte: denn wenn der Wunsch auch nur irgendeiner Phantasie Realität zu werden vermag und wenn also in der mythischen Wirklichkeit irgendein Traum Erfüllung geworden ist, so ist das Denken und Wissen solcher Wirklichkeit eins mit der Betätigung des sie betreffenden imaginativen Vermögens. Die Imagination des Erfüllbaren heißt Denken. Damit ist gesagt, daß es ebensowenig wie es im Daseinskreise der mythischen Realität Dichtung gibt, es auch das geben kann, was nun „Philosophie" heißt: wenn Götter erfahren werden könnten, brauchten sie nicht abstrakt „bewiesen" zu werden. Das — jederzeit konstatierbare — Fehlen der eigentlichen Philosophie im Bereich des Mythos ist selbstverständlich. Zwischen diesem Indifferenzpunkt von Dichtung und Erkenntnis im Mythischen und ihrer radikalen Entzweiung im Unmythischen finden wir, in die Urzeit zurückgehend, alle Grade einer zuund abnehmenden Näherung und eines Ineinander-Übergehens — ein Verfließen, das gewöhnlich von modernem Hochmut einfach mit der „Unwissenschaftlichkeit" oder selbstverständlichen „Undiszipliniertheit" eines frühen Geistes erklärt wird, ohne damit zu rechnen, daß vielleicht die Wirklichkeit selbst (wenn auch nicht die unsere), immerhin der Zielpunkt aller „Wissenschaftlichkeit", einmal diese Synthesis von Dichten und Wissen legitimiert haben könnte. Je ferner indessen das Entschwinden solcher mythischen Wirklichkeit HO
in der Vergangenheit lag, desto entschiedener trat die Sonderung dichterischen und erkennenden Bemühens in jedem Betracht hervor, desto unwirklicher mußte das einstige Wirklichsein anmuten, desto mythosfremder im Grunde die Kultur sich gestalten. Und hier erwies sich unter anderem, daß der Mythos, real verstanden, eine Problematik von solchem Ausmaß ist, daß ihm gegenüber ein so mannigfaltiges, ja disparates Gebilde wie eine ganze Kultur, in diesem Falle die unsrige, ihre innere Einheitlichkeit zu offenbaren beginnt. Bei ungezählten Fragen würden die entgegengesetztesten Entscheidungen innerhalb derselben Kultur Platz haben — vor der Frage der mythischen Realität schließt sich, wie an einem Probierstein, die Vielgerichtetheit einer Kultur zu einer einheitlichen Richtung zusammen, die es u. a. eben erlaubt, von dieser Kultur als einer „bestimmten", charakterisierbaren zu sprechen. Diese innere Einartigkeit zeigt sich nun vor allem darin, daß die radikalste Entzweiung zwischen Dichtung und wissenschaftlichem Denken das gemeinsame Signum einer durchgängigen Heterogenität unserer Kultur zum mythisch Realen nirgends beeinträchtigt. Die Wissenschaft steht fremd und abweisend zu der Möglichkeit einer solchen Realität — ja aber steht die Dichtung nicht oft freundlich dem mythischen Inhalt gegenüber ? Wo bleibt da die beide umspannende kulturelle Einheit? Besinnen wir uns darauf, daß die Kategorie der „Dichtung" als solche den Wert eines ganz bestimmten Vorzeichens — im Sinne der Mathematik oder der Phänomenologie — hat, der alles, was in ihr als Inhalt auftritt, auf eine eigentümliche Weise modifiziert, färbt. Der gleiche Satz, die gleiche Behauptung in einer Dichtung gesprochen, hat einen anderen Akzent, einen anderen Ton als etwa innerhalb der Wissenschaft: Dichtung — das ist gleichsam eine große Klammer vor allen ihren Inhalten, welche, kultureller Tradition gemäß, andeuten soll, daß alles unter diesem Zeichen Gesagte um eine Nuance verschieden von eben dem Gesagten ohne diese Klammer zu gelten habe. Das Diehtungszeichen bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Buchstäblichkeit und der vollen Verantwortbarkeit der Realbedeutung des III
unter ihm Ausgesprochenen, eine reservatio, die bis zur völligen faktischen Zurücknahme des dichterischen Inhalts gehen kann — eine Zurücknahme, die eben nicht vorgenommen wird, sondern sozusagen „selbstverständlich" ist tür den Fall, daß man aus der Dichtungskategorie heraustreten wollte. Das wird sehr erheblich in dem Augenblick, da die Dichtung von Realität und Wirklichkeit zu handeln beginnt, da sie, mit der geheimen Garantie des „als ob", aber von dessen expliziter Proklamierung entbunden, etwa die „Wahrheit des Übersinnlichen" oder die Zauberwelt transzendenter Sphären „leibhaftig" vor unseren Augen erstehen läßt und zu sprechen scheint: dies ist Wirklichkeit — „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, Dein Sinn ist zu, Dein Herz ist tot!" — Gilt hier der Inhalt des Gesagten oder gilt die „große Klammer": Dichtung? Es gilt beides. Es gilt der Inhalt, wenn man bereit ist, von der allzu strengen Verantwortlichkeitsforderung für das Gesagte abzusehen — es gilt die Klammer, wenn man dazu nicht bereit ist. Aber aus der Perspektive des Kulturganzen betrachtet, die ja über die Domäne der Dichtung hinausreicht und die unnachsichtliche und unkompromittierbare Fragestellung des Lebens und der Wissenschaft enthält und gelten lassen muß auch für alle Thesen, die in Dichtungen vertreten werden — für die ernsthafte Problematik allen dichterischen Inhalts gilt die Klammer, und die Wunder und phantastischen Erschütterungen der Kunst werden sub specie realitatis und für die nüchterne und unbestechliche Frage salviert durch das Zeichen: „nur" Dichtung. Somit wissen wir., daß die bloße Kategorie des Dichterischen als solche, ihr Zeichen-Charakter, entscheidend ist und nicht ihr Inhalt, wenn es sich um die Frage nach Wirklichkeiten nach Art der mythischen handelt. Denn so verstanden können Dichtung und Wissenschaft sich zu einer friedlichen Kultureinheit zusammenschließen, was ohne den heftigsten Kampf zwischen beiden ganz unmöglich wäre, wenn die Dichtung diametral und auf derselben Ebene und mit demselben Geltungszeichen den Behauptungen des Wissens widersprechen wollte: der Friede ist gegeben auf Grund des verschiedenen Zeichens, und es ist höchst belehrend, zu bemerken, 112
daß in frühen und undifferenzierten Phasen der Kultur, da diese Klammern und Isolierungen noch nicht ausgebildet sind, ein ernsthafter Kampf zwischen den beiden großen Tendenzen der Kultur, Dichten und Forschen, sichtbar wird: von den zornigen Worten des Heraklit bis zu den weit ausholenden Gründen Piatons gegen die Dichtung wird man diese Feindschaft spüren. Anders heute. Das (gelegentliche) Ja der Dichtung und das (fast ständige) Nein der Wissenschaft zur mythischen Realität vertragen sich sehr gut miteinander, denn das Ja der Dichtung zu allem, was die Wissenschaft nicht verifizieren kann, wird modifiziert oder gar zurückgenommen durch ihren kategorialen Charakter. Finden wir so, daß die mythosfreundliche „Magie" der Dichtung mit der wissenschaftlich-philosophischen Absage an das Mythisch-Reale ein einsinniges kulturelles Fazit bildet, so manifestiert sich der innere Zusammenhang der wissenschaftlichen Seite der Kultur mit der dichterischen noch eindringlicher dadurch, daß eine organismusartige Funktionsverteilung zwischen ihnen herrscht: derart, daß die Gesamtheit allen denkbaren Inhalts einer Welt und Erfahrung zwischen ihnen aufgeteilt ist. Wir können diese Verteilungsgeschichte des Inhalts, oder der Gegenstände der geistigen Betätigungsweisen, am auffälligsten an der Entwicklung der Philosophie als der ursprünglich umfänglichsten, also prinzipiell alle Inhalte beanspruchenden Wissenschaft beobachten. Es ist oft betont und in zustimmendem oder kritischem Sinne behandelt worden, daß der Philosophie im Laufe ihrer Geschichte immer mehr die einzelnen Inhalte der Welt und des Denkens entrissen wurden und als Objekte neuer, sich von der Philosophie abspaltender Einzelwissenschaften in deren Bereich abgewandert sind. Dadurch wurde die Philosophie selbst in zunehmender Weise auf das „leere Ganze" (ohne die spezifischen Einzelinhalte) und auf den bloßen Umriß der Gegenständlichkeit, kurzum auf die Form der Inhalte beschränkt. Diese Form erwies sich als dasjenige, was mit der Art und Weise, in der Gegenstände und Inhalte überhaupt gegeben sein können, also mit den Gegebenheitsweisen, wie reale Existenz, Gedachtwerden, Geltung, Repräsentiertwerden usw., aufs innigste zusammenhing. Diese Form U n g e r , Wirklichkeit.
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ohne Inhalte verblieb der Philosophie, die Inhalte ohne viel Problematik der Gegebenheitsweise wurden den Wissenschaften überantwortet. Während nun aber dieser Inhalt der Einzelwissenschaften als empirisches Material sich charakterisierte, als Inhalt der tatsächlichen Erfahrung, zeigte sich die Form, gleichsam als etwas mit den Inhaltsgrenzen der Erfahrung selbst Identisches, als etwas Nichtmehr-bloß-Empirisches: die Form charakterisierte sich als transzendentale Form im Sinne der kritischen Philosophie. So entsprach das Verhältnis von empirischem Inhalt und transzendentaler Form dem Verhältnis von Einzelwissenschaften und Philosophie.1) J ) Es läßt sich leicht einsehen, daß der Existentialmodus, z. B. des „Erfahrungseins" von den bestimmten Inhalten, d i e erfahren werden, den einzelwissenschaftlichen Objekten, nicht völlig abgetrennt wird und daß infolgedessen eine eigentliche, echte Form, Erfahrung als solche, gar nicht konstituierbar ist. Wenn „Erfahrung" gleichbedeutend ist oder zusammenhängt mit den Dingen, die erfahren werden, so ist Inhalt und Form nur uneigentlich geschieden bzw. es ist die Frage nach der Grenze der Scheidbarkeit weder beantwortet noch überhaupt gestellt. Die logisch notwendige maximale Trennung von Formen- und Inhaltsarten zum Zwecke ihrer freien und systematisch-restlosen kombinatorischen Verknüpfung ist mit den gegebenen Disziplinen keineswegs durchgeführt. Denn weder in der Philosophie, noch in den Einzelwissenschaften war damit der Verknüpfung des Existenzmodus mit s o l c h e n Inhalten gedacht, die, in der genannten Wissenschaftseinteilung lediglich als „nur imaginierbare" figurierend, als existierend betrachtet einen e r f a h r u n g s t r a n s z e n d e n t e n Inhalt darstellen würden. Mit anderen Worten: Die Einteilung in Inhalte und Formen, wie sie sich in den Reservoiren der Einzelwissenschaften und der Philosophie repräsentierte, war gar nicht unter dem erfahrungsübergreifenden, transzendentalen bzw. logisch-vollständigen (wir ziehen hier eine Konsequenz aus dem erst später zu behandelnden sog. „Vollständigkeitsprinzip" der Goldbergschen Ontologischen Systematik) Gesichtspunkt der Philosophie, sondern unter dem Gesichtspunkt der faktischen Empirie, d. i. der Einzelwissenschaften, getroffen worden: Der Inhalt war gar nicht, wie er hätte müssen, nur als P a r a d i g m a der Erfüllung für die Lehre von den Formen ( = Gegebenheitsweisen), sondern unzulässig als K o n s t i t u e n s dieser Formen gebraucht worden •— wodurch die Form zu einer „bloßen" Abstraktion degradiert und die sachlich notwendige, völlige Loslösung der Form vom Inhalt zu einer uneigentlichen, unechten wurde. Überspitzt und an einem Beispiel ausgedrückt: die Gegebenheitsweise der „Existenz" wurde etwa nicht durch sich selbst, d. h. hier durch die Reiche der a n d e r e n Gegebenheitsweisen, sondern durch die empirischen I n h a l t e definiert, wie: „Existenz" heißt: ein Sein wie das dieser Lampe da: das w a s
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Die Reihe wissenschaftlicher Bearbeitungsmöglichkeiten, einschließlich der Philosophie, war damit zu Ende, und dennoch gab es noch eine fundamentale Form-Inhalts-Problematik, die keinen Platz unter den genannten WissenschaftsKategorien fand: das war das Material und die Existenzfrage eines zunächst nur in der Phantasie gegebenen Inhalts, der, nicht als empirischer Gehalt charakterisierbar, dennoch eine Stelle in einem wahrhaften Schema möglicher Erfahrung erhalten mußte — es war das aller — verglichen mit dem empirischen — transzendent zu nennender Inhalt. Mit diesem wäre die logische Gesamtheit aller jener ErfahrungsVarianten, das Reich zwischen der Erfahrung und dem „Wunder", wenn dieses als „irrealer Grenzfall" schlechthin gilt, abgesteckt, die, wie noch später darzulegen sein wird, wegen der Größe ihrer Abweichung von unserer gegebenen Erfahrung nicht einfach mit „empirischem Inhalt" gleichgesetzt werden können. Damit aber erwies sich ein Mangel an Standorten wissenschaftlicher Betrachtung: es gab eine wissenschaftliche Bückrichtung auf den empirischen Inhalt (die Einzelwissenschaften), es gab eine solche auf die transzendentale Form (die Philosophie) — es gab keine wissenschaftliche Blickrichtung auf den transzendenten Inhalt. Hier brach die Wissenschaft ab. Und hier sprang die Dichtung ein. Denn zwar konnte oder mußte die Wissenschaft, d. h. die Existenzbetrachtung, auf den transzendenten Inhalt verzichten, nicht aber das Bewußtsein. So wurde die Dichtung der legitime Ersatz für die Realität des transzendenten Inhalts, des Wunderartigen. Der Widerstreit zwischen Wissenschaft und Bewußtsein wurde durch das Kompetenz-Kompromiß der Gebiets-Vorzeichen beigelegt. So konnte die Dichtung das unabweisbare Bedürfnis der Seele nach mehr und anderem Existenzinhalt, tatsächlich „existierte" wurde m i t b e s t i m m e n d für die Kennzeichnung einer Existenzart selbst, während diese als etwas von jedem Inhalt grundsätzlich Geschiedenes nach eigenen und inneren Merkmalen, d. h. abgelöst hätte bestimmt werden müssen. So bekam der Inhalt der empirischen Dinge Einfluß auf die Zuordnung zwischen Formenarten und Inhaltsarten, welche Zuordnung logisch frei nur „von oben her", d. h. ohne Rücksicht auf die gegebene Empirie die Bereiche der Dinge hätte konstituieren dürfen.
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als die Erfahrung gewährte, befriedigen, nach höheren Welten und romantischen Sphären wundererfüllten Geschehens — die Dichtung konnte, die rätselhafte Struktur des Geistes nutzend, derzufolge „Imaginiertes" eine ähnliche Wirkung tut wie „Reales", grundsätzliche Triebe, welche eigentlich die Realität des Außergewöhnlichen meinten, ablenken und opiatisieren. Aber diese „Lösung", derzufolge einerseits ein transzendenter Inhalt aus den Sphären der Wissenschaft und damit aus denen des Seins verbannt wurde und derzufolge andererseits die Organgrenzen innerhalb des Organismus des Kulturbewußtseins so und nicht anders gezogen wurden — diese verteilende „Einigung" zwischen den Funktionen der geistigen Betätigungen, die das Gepräge einer einheitlichen Kultur ergab, und die das, was sie erreichen wollte, ermöglichte, hatte ein Minus: das waren alle die Ziele, denen die großen, immer wieder versagenden Kraftanstrengungen eben dieser Kultur galten: die Niederlagen ihrer Erfolge. Es ist bisher im wesentlichen übersehen worden, daß für irgendein großes Manko einer Kultur, das ja immer auf einem bestimmten Gebiet liegt, durchaus nicht die (mangelnde) Kraft und Fähigkeit des Geistes in oder für diesen Bereich, sondern die Struktur, der Grenzverlauf und die ideeliche Konstitution der Gebiete selbst verantwortlich zu machen ist. Denn die Gebiets-Organisation entspricht einer unausgesprochenen allgemein hingenommenen Konzeption eines Seins-Grundrisses, auf dessen Boden sich alle ausgesprochenen Thesen und Schöpfungen erst erheben. So mochte es zwar als in der Ordnung erscheinen, daß die Gebiets-Vorzeichen „Dichtung" und „Wissenschaft" den Stoff der Welt und des Gestaltbaren und seine Bearbeitungsmethoden in vorgegebener Weise untereinander verteilten — ob aber nicht letzten Endes auf die Rechnung solcher Verteilung auch das ewige Mißlingen an irgendeiner Stelle des Kulturorganismus kam — das war damit keineswegs ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich — wenn es sich um eine sozusagen perpetuierliche Niederlage in einem Gebiet handelte, die nicht ständig gleichsam auf die Unzulänglichkeit der in ihm benötigten Schöpferkraft geschoben wer116
den darf, wenn gegründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der betreffenden Gebietsidee sich erheben. W i r reden von dem ewigen Niederbruch der Philosophie: von der von keiner anderen Wissenschaft auszusagenden unaufhörlichen fortschrittlosen Bewegung auf ihr Ziel. Der Einwand: nichts könne an der Gebiets-Konstitution liegen, der Geist könne unmöglich in den Grenzen eines Gebietes gehalten werden und könne jederzeit eine neue Domäne seines Tätigwerdens willkürlich abstecken — dieser Einwand sieht weder die Schwierigkeiten noch die Notwendigkeit einer solchen Neueinteilung, weil er voraussetzt, daß jede geistige Schöpfung ja behebig die Schranken, die die Gebiete trennen, übersteigen und so den Charakter verschiedener Gebiete in sich vereinigen könne. Aber eben dieser Einwand übersieht auch, daß das Kulturbewußtsein, indem es solche Gebiete (wie Dichtung, Wissenschaft usw.) schuf, diese nach so tiefgehenden Verschiedenheiten voneinander sonderte, daß ihre Merkmale einander ausschließen und daß ein geistiges Gebilde, das zu zweien oder mehreren Reichen gehören will, damit niemals mehr voll und ganz dem echten Kennzeichen eines oder jeden solchen Reiches entsprechen und genügen kann: ein Mittelding aus Dichtung und Wissenschaft etwa ist sicher in keinem Sinne mehr e c h t e Wissenschaft, und ob es echte Dichtung sein könne, ist mehr als fraglich — es muß — in Analogie der Chemie gesprochen — ein „Gemisch" sein und kann keine „Verbindung" sein, weil es das Gebiet einer solchen Verbindung gar nicht gibt, bzw. weil keine „Grundlegung" solchen Gebiets die Möglichkeit derartigen Schaffens und derartiger Schöpfungen eröffnet. Auf eben diese „Verbindung" aber kam es vielleicht an. Re vera hegt ja die Sache so, daß im Anbeginn solche Gebietskonstituierung zusammenfällt, identisch ist mit einer bestimmten geistigen Hervorbringung, die sozusagen die erste spezifische, inhaltliche Leistung auf solchem Gebiet wäre — das besagt: ein Gebiet „bilden" heißt immer schon: etwas auf diesem Gebiet, etwas „in dasselbe Gehöriges" zustande bringen. Das universale — Gebiet — und das speziale — eine Leistimg auf dem Gebiet — sind hier (wie auch sonst) im Anfang ein?. Die Schwierigkeit der „neuen" Gebietskonstituierung aber 117
besteht nicht darin, schon bestehende Bereiche zu vermengen (wobei ihre typischen Merkmale verlorengehen), das ist ganz leicht und geschieht immerfort im Bereiche der geistigen Geschichte (z. B. in der sog. Philosophiedichtung oder Dichtungsphilosophie), sondern nach Bezirken Getrenntes zu verbinden bei Aufrechterhaltung der diese getrennten Gebiete konstituierenden und einander scharf widerstrebenden Merkmale. Der „dialektische" Vorgang, der sich hier abspielt, gehört also nicht zu den Alltäglichkeiten der Entwicklung, und er hat nur Wert, d. h. er ist überhaupt nur ein dialektischer Prozeß, wenn es gelingt, zugleich das, was den tiefen Gegensatz der Gebiete zueinander ausmacht, zu respektieren und dennoch die Grenzlinien zwischen den einzelnen Funktionsgebieten des Kulturoi'ganismus zu modifizieren oder aufzuheben. Denn in dieser scheinbar so natürlichen und scheinbar so vernunftgeborenen Grenzführung zwischen den Bereichen ist, wie oben angedeutet, der letzte Grund eines kontinuierlichen Versagens in einem oder mehreren dieser Reiche zu suchen. Das Gebiet des eklatantesten Mißerfolgs ist das der Philosophie. Seine Quelle ist, wie wir darlegen wollen, die Auffassung von der Absteckung des philosophischen Bereichs und von seiner Lage zu anderen Bezirken: die Gebiets-Idee der Philosophie und Wissenschaft. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Sachlage: Die Trennung zwischen den Reichen der Wissenschaft und Philosophie auf der einen Seite und der Dichtung auf der anderen Seite, sowie die in dieser Sonderung zum Ausdruck kommende Verteilung von Materie und Form des Seienden und des Denkbaren — der empirischen Materie an die Wissenschaften, der transzendentalen Form an die Philosophie und des transzendenten Inhalts an die Dichtung — diese ganze Entgegensetzung von Organbetätigungen des kulturellen Bewußtseins macht, nicht trotz, sondern gerade wegen der Funktionenscheidung, die einheitliche Gerichtetheit der Kultur, der unseren, aus. Sie gibt sich als einheitliche gegenüber einer Realität des mythischen oder transzendenten Inhalts zu erkennen. Hier manifestiert sich der Zusammenhang zwischen der Intention der Dichtung und der der Wissen118
schaft, und dieser Zusammenhang bedeutet Einheit des Kulturbewußtseins. Denn ein solches Realsein des mythischen Inhalts reicht hin, um ein ganzes anderes Kulturbewußtsein zu konstituieren, das, ebenso einheitlich wie das in seine Funktionen geschiedene, gerade dessen Organ-Grenzführung nicht kennt, weil etwa ein Kulturphänomen wie Dichtung gegenüber einem Wirklichsein mythischen Gepräges zur Wesenlosigkeit herabsinkt oder ganz entfällt. Umgekehrt aber ist es gerade das Nichtsein mythischer Wirklichkeit, welches den tiefsten Zusammenhang zwischen der Intention der Dichtung einerseits und der der Wissenschaft und Philosophie andererseits stiftet, indem beide solche Realität negieren: die Wissenschaft und Philosophie durch ihr gerades Urteil, die Dichtung durch ihr eigenes kategoriales Wesen — als Dichtungsein. Da die Trennung zwischen Dichtung und Philosophie bzw. Wissenschaft nicht, wie man gewöhnlich denkt, nur eine solche nach Einstellungsarten, sondern sogar auch eine nach Inhalten (empirischer Inhalt — mythischtranszendenter Inhalt — transzendentale Form) und dessen Seinsbetrachtungen ist (das Reich „anderer Sphären" als seiend vorgestellt — Dichtung — oder seinsmäßig gar nicht in Betracht gezogen — Wissenschaften, Philosophie), so ist diese Trennung keine sehr radikal-gegensätzliche, sondern eine komplementäre, d. h. eine auf enger Verbindung beruhende. Die sichtbarlich-kontrollierte und herausgearbeitete Trennung ist Ausdruck eines unsichtbaren, unkontrollierten, unterirdischen Zusammenhanges, und es läßt sich jederzeit dieser für jene einsetzen. Da nun gerade in diesem ganzen Geschieden- und Verbundenheits-nexus der dichtenden und der erkennenden Betätigungen nicht nur die letzte Wurzel der positiven Leistungen dieser Kultur, sondern zugleich auch die ihrer ewigen Fehlschläge zu suchen ist, so läßt sich weitergehend sagen, daß man an der sichtbar herausgearbeiteten Trennung eher die Erfolge dieser Kultur (z. B. die Ausprägung der Wissenschafts-Idee überhaupt als der strengen Fernhaltung alles Dichterischen von deren Bereich), an ihrem verborgenen Zusammenhang eher die Mißerfolge (z. B. den Niederbruch der Philosophie, dessen eines Symptom die unkontrollierte, „gewordene" Überantwortung allen transzen119
denten Inhalts an die Dichtung ist und sein Verlust für die Wissenschaftsebene, d.h. für die Perspektive möglicher Erfahrung) erkennen kann, wiewohl festzuhalten ist, daß beide nur wechselseitige Ausdrücke einer und derselben Sachlage sind. Die Unkontrolliertheit des unterirdischen Zusammenhangs zwischen Dichtung und Philosophie-Wissenschaft aber, diese im offenen Tagesbetrieb der kulturellen Betätigungen gar nicht beachtete Nähe und Verwandtschaft dieser Funktionen, ist es, die ans Licht gebracht, zwar nicht für das dichtende, wohl aber für das erkennende Unternehmen peinlich werden muß. Denn es zeigt sich, daß die scheinbar so radikale Trennung von dichtender und erkennender Bemühung eine Gemeinsamkeit übriggelassen hat, die, wenn sie analysiert wird, sehr kompromittierend für die auf Realität ausgehende, wissenschaftliche Seite des Geistes wird. Solche Analyse ergibt nämlich die Gleichbedeutung des „Ja" der Dichtimg mit dem „Nein" von Philosophie und Wissenschaft in Fragen der mythischen Realität und damit in Fragen der Realität überhaupt, — wenn man die Domäne, von der aus geurteilt wird, zu der Urteilsbedeutung hinzurechnet — und dieses Gleichurteil über die Realität macht sichtbar, daß die exakte Scheidung zwischen Dichterischem und Erkenntnismäßigem, welche mit Stolz als der eigentliche „Wissenschafts"-Charakter der Erkenntnis vorgeführt wird, sozusagen im Hauptpunkt, im Real-Problem, gar nicht zu Ende gebracht worden ist. Denn diese Scheidung hätte bei einer bloßen Separierung von „Dichtung" und „Erkenntnis" nicht stehenbleiben können, sondern wäre, weiter durchgeführt, zu einer Scheidung zweier Kultur-Ganzheiten geworden, die sich nicht nach dem Verhältnis von Imagination zu Wissen (Dichtung zu Wissenschaft), also überhaupt nicht nach einer bloß subjektiven Alternative, sondern nach einem Kriterium der Proportion von „Imaginieren zu Sein", also durch ein objektives Unterscheidungsmerkmal trennen würden: das bedeutet eine Sonderung, in der sich eine Kultur, in der es Dichtimg gibt, als Ersatz dafür, daß es eine gewisse Art der Realität (die mythische oder vorläufig „transzendent" zu nennende) nicht „gibt", abhebt von einer Kultur, in der es aus dem entgegengesetzten Grunde keine Dichtung gibt, 120
und keine zu geben braucht. Doch sehen wir einstweilen ab von dieser Endvorstellung, die wir noch nicht hinreichend legitimiert haben, so läßt sich doch schon jetzt feststellen, daß in unserer Kultur die zutiefst bestehende Meinungsgleichheit von Dichtung und Erkenntnis über Grenzen und Inhalt des Wirklichen nicht zugunsten der Erkenntnis spricht. Halten wir hierneben noch einen Vergleich, welche der beiden geistigen Funktionen auf Grund der gekennzeichneten kulturellen Organisation in fruchtbarer Blüte steht und welche dabei verdorrt, welche ständig ihr Ziel erreicht und welche es ewig verfehlt, so wird immer evidenter, in wessen Sinne die angegebene Verteilung auf Grund letzter Richtungsgleichheit in Dingen der Realität erfolgt ist: nämlich im Sinne der dichterischen und nicht im Sinne der philosophischen Kultur. Denn jene steht ebensosehr im Zeichen höchsten Gelingens, wie diese dauernd im Zeichen schicksalhaften Versagens. Was aber die empirische Wissenschaft antrifft, die doch teilzuhaben scheint an dem glücklichen Los der Dichtung, nämlich das eigene Ziel zu treffen, so nehmen wir in ihrer Stellung die anfänglich überraschende, aber alsbald gar sehr selbstverständliche Gemeinsamkeit von Dichtung und empirischer Wissenschaft wahr. Der empirische Inhalt als Wissen bzw. als Realität (Einzelwissenschaft) drückt genau dieselbe kulturelle Signatur, genau denselben tiefsten Willen einer Kultur aus wie der transzendente Inhalt als Erdichtung bzw. als Irrealität (Dichtung). Wahrhaft antithetisch zu diesen beiden äquivalenten Ausdrücken stünde nur der transzendente Inhalt als Wissen bzw. als Realität, und er in der Tat würde in den schärfsten Widerstreit mit der Kategorisierung transzendenten Inhalts als Imagination geraten — oder in unserer bisherigen Sprache: mythische Realität und Dichtung schließen einander in gewissem Sinne aus, haben nicht in derselben Kultur Platz, und ebenso enthielte eine philosophische Erkenntnis, welche eine derartige Realität sichten wollte, einen Keim, der in eine andere Kultursphäre, als es die unsere ist, hineinzuwachsen strebte; oder besser: er gehörte bereits einer anderen Kulturwelt vollends an, wenn sie Reflex eines Gegebenseins solcher Realität wäre. Damit aber nun — immer nach einem gleichsam unbewußt, 121
aber traumwandelnd sicher organisierenden Prinzip — die Einheit unseres Kultlirbewußtseins eben nicht zerrissen würde, hat sich die uns historisch bekannte philosophische Erkenntnis gerade nicht auf ein Wissen von (vorläufig) transzendenter Inhaltsmannigfaltigkeit, gerade nicht (wie noch zu erläutern sein wird) auf „Empirie yon Metaphysik", gerade nicht auf die Auffindung mythischen buchstäblichen Realseins gerichtet, sondern entweder auf prinzipiell unerfahrbares Realsein (Metaphysik) oder auf transzendentale Form (kritische Philosophie). Der — ins große gerechnet — einsinnigen Tendenz von empirischem Wissen und transempirischem Dichten, also von Einzelwissenschaft und Dichtung, schließt sich so die Philosophie dieser selben kulturellen Prägung als drittes an, die, in sich unterteilt, entweder zu einer mehr dichterischen, metaphysischen, inhaltlichen Realitätsaussage (alte Metaphysik) oder zu einer mehr wissenschaftlichen transzendentalen Form-Bearbeitung neigt (Kritizismus) — also gerade jene Möglichkeit umgeht, in der eine (gegenwärtig) transzendente Inhaltsmannigfaltigkeit mit buchstäblichem Erfahrenwerden zusammengebracht werden könnte. Durch die Vermeidung dieser Perspektive paßt die bisherige Philosophie zu den Voraussetzungen über Realität, in denen sich Dichtung und empirische Wissenschaft treffen. In dieser einhelligen Dreiheit also, in der die reüssierende Dualität von Dichtung und empirischer Wissenschaft eine immer wieder fehlgreifende Philosophie mitschleppt, bildet naturgemäß die erfolgreiche Zweiheit die kulturelle Dominante — sie beherrscht den Charakter der Kultur. Wohlgemerkt: Die Einzelwissenschaft allein könnte mit ihrer Konzeption von Realität dem philosophischen Zwang und Zug nach anderen WirklichkeitsAuffindungen nicht dauernd Widerstand leisten, wenn sie nicht in der Dichtung den mächtigen Bundesgenossen fände, der den mächtigen Impuls nach universaler Real-Erkenntnis ablenkte und imaginativ befriedigte und so auch schließlich eine Philosophie hervorbringen hülfe, die sich den Normen von Dichtung und empirischer Wissenschaft einfügt: Das ist die prinzipiell versagende Philosophie, deren Trümmerfeld wir überblicken können, wenn wir die Linie der histori122
sehen Philosophie neben die Linien der Geschichte von Dichtung und Wissenschaft halten. Diese treffen nicht immer, aber oft ihr Ziel, jene trifft das ihrige niemals — wenn wir nicht dem explizit angegebenen Ziel der Philosophie, der „Wahrheit", ein unausgesprochenes anderes substituieren: Dann nämlich wäre der Mißerfolg der eigentlichen philosophischen Bemühung gerade das Erwünschte, Gewollte, kurzum gerade das, was Dichtung und empirische Wissenschaften in der bestehenden Form leben und triumphieren läßt, und die implizite und durchaus nicht verfehlte Aufgabe der historischen Philosophie wäre dann: die Kultur der Dichtung und Wissenschaft zu rechtfertigen. Denn eben das tut eine sub specie aeterni erfolglose Philosophie, und sie tut es auch ausgesprochenermaßen, sobald sie ihr ursprüngliches und eigenes und höchstes Ziel aufgibt: sie wird durch ihr Tun und noch mehr durch ihr Unterlassen, wie ein neuerer Denker gesagt hat, zur „ancilla scientiae" — wir müssen hinzufügen: und mindestens ebensosehr zur „ancilla poesis". In dieser Gemeinschaft mit der dichterisch-wissenschaftlichen Perspektive, die, wie dargetan, in Dingen der Reaütät eine komplementär-identische ist — in dieser Verbundenheit mit einem Realitätsurteil, das Einzelforschung und Dichtung angeben, und in das die Philosophie einstimmt, liegt die tiefste Wurzel ihrer Unfruchtbarkeit. Methode und Leistung der Philosophie in unserer Kultur wird nicht allein von ihr und in ihr selbst bestimmt, sondern steht in einem organischen wechselwirkenden Zusammenhang mit den anderen Reichen der Kultur, und diese Wechselwirkung ist die Quelle des philosophischen Fehlschlags. Es gibt sozusagen eine unausgesprochene Grund-Weltanschauung einer Kultur, die außerhalb aller expliziten Antithesen, die innerhalb ihrer stattfinden, Hegt, einen allgemeinsten Umriß, der es ermöglicht, von einer bestimmten der Kultur im Sinne Spenglers zu sprechen — eine Gemeinsamkeit, in der Kunst, Wissenschaft und Philosophie einig sind. Es ist im Falle unserer Kultur ihre geschlossene Front gegen die mythische Realität. Daß solche Einigkeit zum Schaden der Philosophie oder des obersten Erkenntnisanspruchs ausgehen kann, liegt an einem weiteren möglichen Umfangs-Kompetenz-Konflikt 123
zwischen dem Wesen der Kultur und dem einer universalen Erkenntnis, die mit dem, was dieser oder jener Kultur recht ist, keineswegs übereinstimmen kann — so daß mit dem Begriff Philosophie zwei fundamental verschiedene geistige Unternehmungen bezeichnet sind: eine, die in den Rahmen einer gegebenen Kultur eingeht und eine, die ihn sprengt, die eine Kultur begleitende Philosophie und eine, die sie allererst hervorbringt. Wir reden hier zunächst von der Philosophie, die in der „Einheit des Kulturbewußtseins" (Cohen) steht und die die typisch mißlingende ist. Natürlich stellt sich deren Gemeinschaft mit Dichten und Wissen, als den beiden der Philosophie äußerlichen Gebieten, innerhalb der Philosophie wie in einer „Übersetzung" dar, stellt sich als eine Autonomie des methodisch-philosophischen Unternehmens dar — aber diese Autonomie wird recht verdächtig, wenn man des Einklanges mit scheinbar ganz anders intendierten Bestrebungen des Geistes, wie Dichtung und Empirismus, innewird. Innerhalb der Philosophie nämlich — und besonders der unserer Epoche — stellt sich die funktionelle Verbundenheit zu den anderen nicht-philosophischen Bezirken als die restlose und radikale FormalisierungsTendenz, die ausschließliche Konzentration auf das formale Element des Gegebenen dar: Die Form, d.h. in einem gewissen Sinne: die Abstraktion, ist die Domäne der „wissenschaftlichen" Philosophie, die ganz beruhigt darüber zu sein scheint, daß jede Art Inhaltsmannigfaltigkeit in anderen Bereichen gut aufgehoben ist, die empirische bei der Einzelwissenschaft und die transzendente gar bei der Dichtung, und die in eine Arbeitsteilung gewilligt hat, die nicht von ihr stammt, sondern die ihr von außen aufgedrungen wurde und die sie allenfalls nachträglich rechtfertigt. Die Philosophie, der eigentlich damit alles Material, das zu einer wahrhaften Lösung unentbehrlich ist, abgenommen ist und der heute — wie zum Hohn — von der Einzelwissenschaft gelegentlich empfohlen wird, „Philosophie eines empirischen Gebiets" zu werden, um Material zu bekommen (als ob die Zufallsrichtungen der empirischen Gebiete und deren Konglomerat, als ob die Summe der Teile je das Ganze einer Universalität ergeben könnte und nicht
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vielmehr das Ganze erst die Funktion der Teile bestimmen und das „Zwischen" den Teilen auf einmal beherrschen müßte) — die Philosophie sollte sich über ihre dauernde Niederlage nicht wundern: die Gründe dafür sind anzugeben. Die Linie dieser Überlegung ging von jener Erklärung des Mythos aus, die ihn als ein bloßes Bewußtseins-Gebilde auffaßt und die kurz als die „Dichtungs-Deutung des Mythischen" gekennzeichnet werden kann. Es zeigte sich, daß der erhobene Streit um die Erfassung des Mythischen, der sich in der Alternative zwischen Dichtungs-Deutung und Real-Deutung des Mythos manifestiert und der ja nicht in der Sphäre des Problems des Mythos verbleiben kann, sondern auf unsere eigene Welt übergreifend, alles EntwederOder im Problem der Realität überhaupt aufrollt, damit auch das Phänomen der Dichtung als solches, abgesehen von seiner Deutungsrolle für den Mythos und nun im Zusammenhang von Dichtung und Wirklichkeit fragwürdig macht: die Dichtung als solche und eigentlichste erste Ursache des Nicht-aufkommen-lassens der Vorstellung einer mythischen Realität wird nun umgekehrt von dieser Realität aus in ihrer Existenzberechtigung problematisch, und es werden zwei Kulturparallelen sichtbar, die dadurch charakterisiert sind, daß die Dichtungs-Deutung des Mythos ebenso wie die RealDeutung des Mythos je zu einer Wirklichkeits-Entscheidung überhaupt erweitert werden, zur Realitäts-Problematik, die sich nicht nur auf den Mythos bezieht, sondern in die systematisch, „gegenwärtig" zu erfassende Welt hinein fortsetzt: wobei also die Dichtungs-Deutung des Mythos, in das Phänomen der Wirklichkeit überhaupt hineinverfolgt, die Realitäts-Entscheidung im Sinne der empirischen Wissenschaft bedeutet und ihr korrespondiert und die Realdeutung des Mythos, in das Phänomen der Wirklichkeit überhaupt hineinverfolgt, in eine noch offene Frage mündet. Zunächst konnte weiterhin die Konstruktion der einen der beiden paradigmatischen Kulturen, derjenigen, die durch das Dasein von Dichtung symptomatisch gekennzeichnet ist, dahin aufgehellt werden, daß sich darauf verweisen ließ, daß das einhellige Reaütäts-Urteil, das die Dichtung mit der empirischen Forschung verband, von diesen beiden auch auf 125
die Philosophie übergriff: es war das Realitäts-Urteil, das ohnehin der ganzen Kultur zugrunde lag und ihr das kennzeichnende Signum gab. So ward zwischen Dichtung, Einzelwissenschaft und Philosophie die organismusartige Verteilung von Inhalt, Form und Perspektive offenbar, die diese drei zu Funktionen im Dienste eines einheitlichen Kulturwollens machte. Damit aber war ebensosehr wie der höchste Aufschwung im Bezirke eben jener empirischen Realperspektive erreicht, die Wissenschaft und Dichtung umfaßt, der perpetuierliche Zusammenbruch der Philosophie mitgesetzt und in Kauf genommen. Hiermit war die geistige Auswirkung der einen Konzeption des Wirklichen und ihr kulturelles Ende in jener unmythischen Welt beschrieben, in der wir die unserer Kultur wiedererkennen können, und es wurde in der Linie von der Dichtungs-Deutung des Mythos über die Funktion der Dichtung überhaupt und ihr organisches Verbundensein mit empirischer Wissenschaft und Philosophie bis zu deren stationärem Versagen der innere Zusammenhang zwischen der dichterischen Erfassimg des Mythischen und diesem prinzipiellen Stocken in der obersten Region der Erkenntnis aufgewiesen. Die von dem hypothetischen Fall eines mythischen Realseins abgewendete Kultur war damit umrissen. Nicht so die andere, von einer anderen Realitäts-Konzeption dirigierte, die in allem Bisherigen nur als Widerspiel gebraucht wurde, um von ihr die Struktur des unmythischen geistigen Daseins sich abheben zu lassen und diese besser zu durchschauen. Um aber nun an diesen Gegen-Typus zu unserem eigenen kulturellen Sein heranzukommen, ist es notwendig, daran zu erinnern, daß dieser Gegen-Typus von dem konstruktiven Idealfall einer Kultur der mythischen Wirklichkeit selbst zu sondern ist. Die geistige Welt einer mythischen Realität selbst besitzt nicht, wie schon andeutend hervorgehoben wurde, das Phänomen der Dichtung in unserem Sinne, die vielmehr als Kompensation von der unmythischen, verengten Wirklichkeit erzeugt wird — sie erzeugt den Mythos als den Bericht ihrer erfüllteren Wirklichkeit; aber die geistige Atmosphäre der mythischen Realität enthält auch nicht das Phänomen Philosophie — denn auch diese ist 126
die Dokumentation eines Nichtvorhandenseins, von dem die unmythische Welt viel tiefer betroffen scheint als die mythische. Philosophie und Dichtung sind kennzeichnend für eine unmythische Welt. Aber an der ungehemmten Entfaltung oder dem wesenlosen Existieren, in das diese beiden geistigen Erscheinungsformen einander wechselseitig zu versetzen bestimmt sind, an dem Auf des einen, welches notwendig das Ab des andern zu bedeuten scheint, läßt sich eine Symptomatik der Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung der Konzeption mythischen Realseins ablesen. Die Niederlage der Philosophie schien uns mit der Entfernung von einer Konzeption der mythischen Realität zusammenzuhängen, d. h. mit einer Unterordnung der Philosophie unter den Realitäts-Gesichtspunkt von Einzelforschung und Dichtimg, und eine vom Mythos abgewandte Kultur zu kennzeichnen. Es soll nun dargelegt werden, daß eine Hinwendung zu jener Konzeption einen anderen Ausgang des philosophischen Beginnens erwarten läßt. Der in den bisherigen Darlegungen mehrmals bewährte Gedanke: die Ursache des Mißerfolges der philosophischen Erkenntnis sei vielleicht gar nicht so sehr innerhalb ihrer, eben im spezifischen, philosophischen Bereich, zu suchen, als vielmehr in der allgemeineren, diesen Bereich übergreifenden, ,.Kultur" gewordenen Organisation der übrigen, ja aller geistigen Bezirke — dieser Gedanke hat zu einer Entgegensetzung von Philosophie einerseits und Dichtung-Einzelwissenschaft andererseits geführt. Diese Antithese aber war einerseits von der ausgesprochenen Vermutung beherrscht, daß erstlich das ganze, so tief legitimiert erscheinende Phänomen der Dichtung, mit all ihrem Reichtum und ihrer singulären Größe, dennoch als eine am tiefsten Fehlgehen schuldige und darum vielleicht wieder einmal zurückzunehmende Schöpfimg des Geistes sich herausstellen könne — und daß zweitens auch die Idee der Einzelwissenschaft ein völlig anderes Verhältnis gegenüber der Idee der obersten Erkenntnis sich werde gefallen lassen müssen. Die Beziehung der Philosophie zur Dichtung und Einzelforschung, diese kulturell bestehende Grenz- und Kompetenz-Regulierung, einmal als mitschuldig an dem ewigen Verhängnis der höchsten Erkenntnisbemühung erkannt, ver-
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langte nach einer Neuorientierung, die sich zunächst in einem In-Frage-Stellen des Rechts der Dichtung und in einem Modifikätionsanspruch gegenüber dem Recht der Wissenschaffen äußerte. Beide Problemkreise sollen gesondert bearbeitet werden, obzwar sie sich in der Behandlung nicht so isolieren lassen, wie es die themasetzende Abstraktion kann: in der Beziehung Philosophie — Dichtung wird des Prinzips der Wissenschaft, das ja in dieser Alternative auf die Seite der Philosophie gehört (als der Erkenntnis überhaupt) auch tatsächlich auf dieser Seite vorwegnehmend gedacht werden, und in der Beziehung Philosophie — Wissenschaft wird auch das Dichterische in einer verwandelten Erscheinung auftreten. Immerhin scheint sich die Übersicht über das Ganze des Problems am klarsten nach diesen beiden Perspektiven gliedern zu lassen, und so wird sie auch zweifach in einer solchen Weise vorgenommen werden, daß gewisse Teile des Gedankenganges, die beim ersten Mal nur des größeren Zusammenhanges willen nicht bis in die gebotenen Einzelheiten hinein ausgeführt werden können, im zweiten Überblick diese notwendige Präzisierung erhalten werden. Die Erkenntnismethodik, die hier versucht werden soll und die entgegen der üblichen Auffassung sich nicht auf den Bereich der bloßen, spezifischen „Philosophie" einschränken lassen will, beginnt damit, die schon angedeuteten „Einwände" gegen die Dichtung nunmehr tiefer zu begründen — unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der proleptisch gebrauchte und zunächst anfechtbare Begriff des ,,Einwands" gegen eine gar nicht auf „Erkenntnis" gerichtete geistige Erscheinungsform im Laufe der Darstellung selbst seine Rechtfertigung finden werde.
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I. KAPITEL.
DIE BETÄTIGUNGS-GESAMTHEIT DER BEWUSSTSEINS-VERMÖGEN. NOTWENDIGKEIT UND GRUNDLAGE EINER KRITIK LEGITIMIERTER KULTURGEBIETE.
Wie ist ein Einwand gegen die Dichtung möglich1) ? Vielleicht hat bereits die Einleitung dieses Teils einige Leser zu einer ganz allgemein ablehnenden Antwort veranlaßt, die auf einen rationalen Ausdruck gebracht etwa so lauten würde: Man kann gegen die Dichtung ernsthaft so wenig sein, als man ernsthaft „gegen die Wissenschaft" oder „gegen die Politik" sein kann. Dichtung ist ein Gebiet der menschlichen Bewußtseinsbetätigung, etwa das Gebiet der Phantasie, also eines besonderen Vermögens unseres Geistes, und gegen dieses Gebiet sein heißt gegen eine Anlage unseres Bewußtseins Stellung nehmen. Das ist mehr oder weniger widersinnig und obendrein aussichtslos. Man kann gegen die Phantasie so wenig sein, als man etwa gegen das Denken sein kann, das bedeutet aber ebensowenig als gegen Wissenschaft. Denn alle diese „Gebiete" sind in den naturgegebenen Anlagen unseres Geistes begründet. Dichtung ist ein legitimiertes Gebiet. Man kann viele, die meisten Erzeugnisse dieser Gattung verwerfen, aber niemals das Gebiet selbst. Und doch beweist die Geschichte des Geistes, daß man das Kulturphänomen Dichtung ablehnen kann: Heraklit, Piaton, Tolstoi und andere haben etwas gegen die Dichtung gesagt, sie alle haben irgend etwas gegen die Dichtung ausgespielt, Heraklit das Wissen, 1 ) Zu den folgenden Kapiteln vergleiche man meine ausführlichere Grundlegung: „ G e g e n die D i c h t u n g — eine B e g r ü n d u n g des K o n s t r u k t i o n s p r i n z i p s in der E r k e n n t n i s " (Leipzig 1925) — auf deren ins einzelne gehende Darstellung bei den Thesen, die im folgenden nur im Umriß angedeutet werden können, noch jeweils verwiesen werden wird.
U n g e r , Wirklichkeit.
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Piaton die Philosophie, Tolstoi die Religion, andere ein Leben voll Tatkraft und Praxis. Wir wollen gleich zu Beginn sagen, daß wir die Argumente Heraklits, Piatons, Tolstois und der anderen nicht gebrauchen können, nicht nur darum, weil die Dichtung über diese Argumente triumphiert hat, sondern weil die Dichtung über all diese Argumente mit R e c h t gesiegt hat. Denn das Verfahren des Ausspielens irgendeines höchsten Wertes wie Wissenschaft, Religion, Leben gegen die Dichtung, die doch auch einen höchsten Wert in sich enthält, ist ebenso falsch wie aussichtslos. Alle diese haben gesagt: man sollte die Dichtung verwerfen, denn sie hindert die Erkenntnis, oder sie hindert die Erhebung zu Gott, oder sie hindert das Erleben und Handhaben des wirklichen konkreten Daseins. Aber auf all das kann die Dichtung antworten: erst beweiset, daß jene Werte Wissen, Religion, Lebenspraxis höher stehen als der ewig unstillbare Drang: Dinge, Geschehen, Welten zu imaginieren und zu formen, die nicht gegeben sind, oder eine Sehnsucht zufriedenstellen, die mit dem bloß Gegebenen niemals zufrieden ist. Dies scheint uns ebenso erhaben, als zu wissen, wenn alles Wissen nicht befriedigt und die Seele nach mehr verlangt als zu wissen. Jener Trieb zur Dichtung steht auch ebenso hoch als der Glauben, denn auch der Glaube, welcher allerdings die höchsten Wesenheiten dem Bewußtsein näherzubringen trachtet, verschafft nicht dem Bedürfnis nach einer bunten Mannigfaltigkeit Genüge — auch die Religion ersetzt nicht den Trieb des frei bildenden Schaffens und am allerwenigsten das tätige Wirken im sog. Lebenskampf. All dies ist etwas anderes als Dichtung, steht äußerlich zu ihr, mögen noch so viele „Beziehungen" zwischen all dem laufen: der Kern von Dichtung ist etwas anderes als der Kern von Religion oder der Kern von Wissenschaft oder der Kern von Tatsachen-Dasein. Und wenn man eins gegen das andere ausspielt, mithin eins für das andere opfert, so bleibt die Unbefriedigung zurück.
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Und warum, würde Dichtung entgegnen, könnte man nicht das Eine und das Andere besitzen: die Erfüllungen der Dichtung und die des Denkens oder der Religiosität ? Eins hindert das andere, sagten jene Denker von Heraklit bis in die neue Zeit. Nun, so mag man zusehen, wie man es in Einklang bringt . . . oder, zugestanden, wenn sich diese hindern, nun, so wird sich der eine für Dichtung entscheiden, der andere für Religion, ein Dritter für Erkenntnis, der vierte für die Praxis des Daseins: die absolute Überlegenheit ist bei keinem. Und dies ist der tatsächliche Zustand. Ein Reden gegen die Dichtung ist wie ein Reden gegen die Wissenschaft oder gegen das Denken — es ist mühsam erzeugte Augenblicks-Wahrheit, eine Moment-Intuition, die einen vorüberfliegenden Bruchteil der Wahrheit erhascht, der, wenn er verselbständigt und als Ganzes angesehen wird, falsch wird und resigniert aufgegeben werden muß — derartiges Urteilen und Aburteilen über die Dichtung ist eindrucksloser Schall. Man kann nicht einen höchsten Wert gegen einen anderen ausspielen. Ein Teil des menschlichen Bewußtseins kann niemals gegen einen anderen Teil eben dieses Bewußtseins die absolute Oberhand gewinnen. So also, im Interesse eines anderen, läßt sich nie gültig gegen die Dichtung argumentieren. Es gibt nur einen einzigen Standort, von dem aus überhaupt formal das Recht besteht, gegen ein Gebiets-Phänomen wie Dichtung vorzugehen, gesetzt, daß sich dieses Recht auch inhaltlich ergibt. Und diese Überlegung wird zeigen, daß eben dieselbe Situation, welche einen Angriff auf die Dichtung ermöglicht, zugleich zu ihm zwingt. Solange diese Angriffsmöglichkeit nicht gegeben ist, solange besteht auch kein Angriffszwang — sondern nur ein dumpfer Unwille, der sich in widerlegbaren Argumenten Luft macht, wie bei Piaton, bei Tolstoi und den Verkündern der Tat. Ein Teil des Bewußtseins kann nicht gegen einen anderen Teil, so sagten wir, endgültig recht haben. Aber die Totalität kann gegen einen Teil recht haben, vorausgesetzt, daß es eine solche Totalität in anderer als nur begrifflicher Weise gibt. 131
Und dem gilt unsere ganze Überlegung. Gibt es eine Totalität der Bewußtseins-Anlagen, die mehr ist als ein bloßer Begriff — als die bloß begriffliche Einheit der bestimmten sozusagen konkreten Bewußtseins-Anlagen: wie Sinnlichkeit, Denken, Einbildungskraft? Wir haben schon ein langes und breites von Bewußtseins-Einheit gehört. Da ist erstlich die logisch-formale Einheit des erkenntnistheoretischen Bewußtseins, welche als Grundmotiv des Vereinheitlichens alle jene Verbindungen ermöglicht, welche Urteile darstellen. Um diese Einheit handelt es sich hier nicht, denn in dieser logisch-formalen Einheit kommen andere als erkennende Tätigkeiten des Bewußtseins gar nicht zur Geltung. Sie ist das Prinzip des Urteilens. Wir haben des ferneren von der Einheit des Selbstbewußtseins im psychologischen und metaphysischen Sinne gehört: von der Bewußtseins-Einheit, welche dem Begriff des „Ich" innewohnt und mit ihm unzertrennbar gegeben ist. „Ich" heißt „Einheit". Um diese Einheits-Vorstellung geht es hier gleichfalls nicht, denn sie ist ebenfalls formal, wenn auch nicht logisch, sondern psychologisch, d. h. die inhaltlichen Bestimmungen der einzelnen seelischen Anlagen werden im Einheitsbegriff des Ich völlig indifferenziert und kommen nicht zur Geltung. Wir aber fragen nach einer Einheit, in der die einzelnen seelischen Anlagen und Vermögen des Bewußtseins sichtbar bleiben und dennoch einheitlich wirken. Da wird man uns entgegenhalten, daß das Bewußtsein in jeder seiner Operationen diese Art der Einheit aller seiner Anlagen zeige, insofern in jedem Bewußtseinsakt ebensowohl ein Denken wie ein Anschauen wie ein Einbilden wie (nach Neueren) ein Sollen und Wollen nachweisbar sei und alle diese verschiedenen Vermögen, nur verschieden stark betont, in einer organischen Gemeinschaft einen einzigen Bewußtseinsakt, z. B. ein Erfahrung-Machen, konstituieren. Hier seien viele verschiedene Bewußtseinsanlagen sichtbar, die sich dennoch zu einer Einheit zusammenschlössen. In jeder wahrnehmenden Erfahrung etwa stecken alle Betätigungsformen des Bewußtseins, Begriffe, Anschauungen, einbildende Tätigkeit. 132
Auch diese Einheit meinen wir nicht. Denn in allen diesen Einheiten bzw. einheitlichen Akten sind zwar die verschiedenen Vermögen wie Denken, Sinnlichkeit, Einbildungskraft usw. mitbeteiligt, und alle zusammen konstituieren diesen einzigen Akt, aber doch nur dann, wenn die einzelnen Betätigungsarten des Bewußtseins in einer solchen Eingeschränktheit auftreten, daß die einzelnen Betätigungsformen nicht auseinanderfallen: z. B. darf nur ein ganz bestimmtes Maß von bestimmter individueller Anschauung in einem allgemeinen geometrischen Satz enthalten sein, sonst kommt es gar nicht zu dem Allgemeinen, d. h. Begrifflichen, d. h. Denkmäßigen. Denken und Anschauen etwa stehen hier in einem ganz bestimmten Verhältnis, das nicht überschritten oder unterschritten werden darf, ohne denjenigen Bewußtseinsakt, der aus all diesen Elementen besteht, zu zerreißen und ohne die Einheit der Einzelbetätigungen zu sprengen. Es ist gleichsam ein bestimmtes Gewichtsverhältnis der einzelnen seelischen Modi zueinander notwendig, damit sie sich gegenseitig zu einem Gleichgewicht stützen, wie drei oder mehr gegeneinander gestellte Körper. Steigert man ohne Rücksicht auf ein solches Gleichgewicht die Tätigkeit eines jeden dieser Einzelvermögen, so treten sie immer mehr auseinander: die generalisierende Fähigkeit des Denkens entfernt sich immer weiter von jeder Anschaulichkeit, wird immer entschiedener abstraktes Denken — die zunehmende Bestimmtheit der Anschauung vergrößert immer mehr die Mannigfaltigkeit und entfernt sich damit immer mehr vom Denken, wird immer entschiedener Sinnlichkeit — die zunehmende Willkür der Verbindungen zwischen Vorstellungen entfernt die Einbildungskraft immer mehr vom Rezeptiv-Gegebenen, die extrem gesteigerte Spontaneität endet in einer von gesetzmäßigem Denken und Anschauen entfernten Phantastik — kurz: alle Einzelanlagen entfernen sich, jede einzelne potenziert, immer mehr voneinander, das Typische an ihnen tritt immer mehr hervor und macht sie recht eigentlich zu lauter distanten Vermögen, die wir eben als Denken, Anschauung, Wollen, Phantasie usw. kennen. Nun ist aber das Verhältnis dieser divergierenden Anlagen dennoch nicht ein solches, daß jene Steigerung der Einzel-
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vermögen zu der ihnen immer typischer werdenden Betätigung sie gänzlich voneinander loslöst: so daß also auch noch das abstrakteste Denken einen Anschauungsrest involviert, auch die bunteste Anschauung nicht gänzlich unbegrifflich vor sich gehen kann und auch die ausschweifendste Phantastik noch immer in Urteilen sich äußert; — damit treffen wir auf Ausgestaltungen der einzelnen Vermögen des Bewußtseins zu solchen Sachverhalten, wie sie von den einzelnen philosophischen Aspekten bezeichnet werden: auf die Sachlage des Intellektualismus, des Sensualismus, des Voluntarismus, der Dichtung. Wohl verstanden: nicht der Sensualismus selbst ist die Ausgestaltung der Anschauung und nicht der Voluntarismus selbst ist die Ausgestaltung des Willens, noch der Pragmatismus die der Tat — alle diese Systeme sind natürlich Erzeugnisse des Erkennens — denn der Sensualismus schaut nicht an, und der Voluntarismus ist nicht Wille, vielmehr sind ja beide Denkprodukte — aber die von diesen Denkaspekten gesehenen Sachverhalte sind die perspektivisch herausgehobenen einzelnen Betätigungsformen des Bewußtseins: Der Intellektualismus — Apriorismus — hebt das Denken heraus. Der Sensualismus — Empirismus — hebt den Augenschein heraus. Der Voluntarismus hebt das Wollen heraus. Der Pragmatismus hebt das Tun heraus. Wonach wir also fragen, ist eine Einheit, besser Vereinbarkeit, dieser distanten Vermögen, welche nicht die formale Bewußtseinseinheit ist, sondern welche so in einem Akt zum Ausdruck kommt, wie die Äußerungen der eingeschränkten Vermögen in einem Akt zum Ausdruck kommen. Wenn wir also nach einer Einheit dieser Vermögen fragen, sofern sie gerade getrennt sind, typisch sind, gesteigert, sofern sie also gerade auseinandertretend sind, so sind wir gleichzeitig ebendamit im Begriffe, nach einer In-EinklangSetzung dieser eben genannten philosophischen Aspekte zu suchen. Daß wir im Rahmen dieser Darstellung nicht in dieses Unternehmen größten Ausmaßes eintreten können, ist 134
selbstverständlich. Da es aber auch hierauf gar nicht ankommen kann, sondern nur auf eine Vorstellung des Bewußtseins, in welchem eine Einheit der oben eingeführten verschiedenen Bewußtseinsanlagen in dem präzisierten Sinne anzutreffen ist, — da es also hier nur auf die Vorstellung dieser Einheitlichkeit der Bewußtseinsbetätigungen, sofern sie als divergente anzusprechen sind, ankommt, so ist es hinreichend, einstweilen den methodischen Hinweis auf die Synthesis so vieler divergenter philosophischer Positionen zu geben. Diese methodische Idee besteht darin, das einheitliche Tätigsein aller dieser Betätigungsformen des Bewußtseins nicht dadurch erreichen zu wollen, daß man sie eingedenk ihres gemeinschaftlichen Auftretens in jedem primitiven Bewußtseinsakt, also in jedem Ausgangs-Beobachtungsfall ihres Auftretens, e i n z u s c h r ä n k e n trachtet, damit die Äußerungen der einen Anlage zu denen der anderen stimmen, daß man sie also durch Beschneidung ihrer Äußerungen in Richtung auf das Schema ihrer einfachsten Beobachtbarkeit miteinander in Einklang zu setzen strebt, indem man also jeweils Denken, Anschauen, Phantasie, Wollen, Tun auf ein mit allen übrigen verträgliches Maß zurückzuschrauben sucht — sondern darin, jede dieser Wirkensarten, unbekümmert um alle anderen, soweit als irgend möglich und ihrem eigenen Ideal nach zu steigern und den Koinzidenz-Punkt ihrer aller nicht in Richtung der Rücksichtnahme des einen Vermögens auf das andere, ihres Aneinander-Anpassens, sondern in der Richtung des jedem selbsteigenen Superlativs zu suchen. Wenn einmal E i n h e i t aller divergierenden Anlagen des Geistes das Ziel ist, das erreicht werden soll, und wenn einerseits klar ist, daß dieses Ziel durch Restriktion dieser Anlagen, die auseinander wollen, d. h. durch Niederhaltung ihrer sonst ungehemmten Produktion und Produkte, nicht erreicht werden kann, andererseits aber eben das wachsende Auseinanderstreben den wachsenden Gegensatz zu dieser Einheit darzustellen scheint, so gilt es einmal, dem in vielfacher Hinsicht gewagten Gedanken Raum zu geben, daß d e r V e r e i n i g u n g s p u n k t d e n n o c h in d e n R i c h t u n g e n des A u s e i n a n d e r s t r e b e n s zu suchen sei, w e n n sie
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nur zu Ende gegangen würden, — daß die Kurven der geistigen Betätigungen, die anfänglich und immer weiter fortlaufend zu divergieren scheinen, dennoch — nach einem Maximum der Divergenz — zuletzt wieder konvergieren können. Dann treten zunächst so paradox anmutende Konsequenzen auf wie die Vorstellung, daß etwa die Linie des wissenschaftlichen Denkens eher mit der Linie der extreniisierten Phantasie zusammentreffen und zusammengebracht werden könne als mit einer nicht bis zu Ende geführten Bahn der Phantasie, mit einer „gemäßigten Phantastik", — aber solche Paradoxie darf den Mut der doch zur Voraussetzungslosigkeit jedenfalls verpflichteten Forschung nicht so weit lähmen, daß im vorhinein schon sie davor zurückschreckt, eine solche Möglichkeit ganz zu durchdenken. Sie soll nun im folgenden überlegt und zu diesem Zwecke vorerst in ihrer radikalen Ausprägung umfassend formuliert werden: Kurzum und konkret: nicht: je weniger Phantastik, um so besser paßt sie zum Denken, je weniger Abstraktion, desto besser paßt sie zur Welt des Augenscheins, je weniger denkende Gesetzlichkeit, tun so besser paßt sie zu den Hervorbringungen der phantasierenden Anlage; je weniger voluntarische Willkür, um so angemessener vereinigt sie sich mit gesetzmäßigem Denken . . . nicht lassen sich alle diese differierenden Tendenzen miteinander in Einklang setzen, wenn man sie restringiert — wohl aber ist es möglich, einen Punkt des Konvergierens dieser Tendenzen zu erreichen, indem man jede einzelne bis zum Maximum ihrer eigenen Richtimg und Typik steigert. Also: eher trifft die hemmungslos und frei imaginierende Phantasie, die extremste Phantastik, mit den Problembehandlungen wissenschaftlichen Denkens zusammen, als das keimhafte und immerkliche Tätigsein der Anlage der Einbildung. Eher wird das völlig von aller Empirie und allem Augenschein losgelöste, rein theoretisierende Erkennen „praktisch" werden, in die empirische Wirklichkeit bewegend und umgestaltend einmünden (gemäß der Forderung des Pragmatismus) als das Denken, welches sich nicht allzuweit vom Boden der Tatsachen zu entfernen getraut, um sich nicht in allzuferne Denkgebilde zu „verlieren".
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Eher wird den Endabsichten eines voluntarischen Weltaspekts durch Extremisierung des Denkens Genüge geschehen als durch irgendwelche Herabminderung oder Ohnmachtserklärung des Denkens im Interesse des Willens. Eher wird eine Bereicherung des Reservoirs des Tatsachen-Augenscheins, der Erscheinungs-Abwandlungen sich zu den Bewegungen des Denkens und besonders zu denen der Phantasie fügen als der invariable und fragmentarische Tatsachenbestand, der ohne die Hervorbringung des Subjekts besteht. Die Einheit des Bewußtseins, die hier in Frage steht, ist nun die Gleichzeitigkeit, das In-Einklang-Sein, die Verträglichkeit des In-Tätigkeit-Seins der restlos gesteigerten Anlagen des Bewußtseins, ein Verhalten, dessen Gegensatz das Extremisieren einer Fähigkeit auf K o s t e n der anderen bzw. das Widersprechen der radikal potenzierten Anlagen untereinander ist. Die Einheit des Bewußtseins, auf die es hier ankommt, verhält sich zu der überall gegebenen Einheit, wie die Einheit einer vielgliedrigen Organisation zu der Einheit einer wenig gliedrigen — also quantitativ gesprochen: umfänglicher. Zusammengefaßt: wir betrachten das Bewußtsein hier nicht psychologisch und nicht metaphysisch, sondern wir betrachten es teleologisch: seiner Bestimmung gemäß, und wir vergleichen ein historisch vorliegendes Bewußtsein — das empirisch gegebene und auch das historische philosophische Bewußtsein einerseits — mit einem möglichen universalen philosophischen Bewußtsein andererseits. Im historisch gegebenen Bewußtsein — auch im philosophischen — funktionieren die einzelnen Bewußtseins-Anlagen so, daß jeweils nur eine Fähigkeit sich voll in Tätigkeit befindet, indessen die anderen Vermögen entweder schweigen oder sich nur keimhaft betätigen können, soll kein Widerspruch und kein Auseinanderfallen der Bewußtseinselementarkräfte stattfinden. In einem möglichen universalen Bewußtseinszustand funktionieren alle Anlagen im Maximum ihrer Entfaltung gleichzeitig, und diese Steigerung aller Bewußtseinselementaranlagen macht sie, nach einer anfänglichen Entfernung, überhaupt miteinander vereinbar und bewirkt zugleich eine
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Zunahme des Bewußtseinsumfanges bis zu dessen restlos möglicher Totalität. Demgegenüber ist das unorganische Bewußtsein — das hauptsächlich denkende, das hauptsächlich phantasierende, das hauptsächlich wollende, das hauptsächlich handelnde, ein seinen möglichen Umfang nur partial ausfüllendes. Es ist klar, daß in ein und demselben empirischen Bewußtsein alle diese Fähigkeiten sehr gesteigert zum Ausdruck kommen können, aber nicht gleichzeitig. Aber eben hierauf kommt es an: daß der willkürlichste Bewußtseinsinhalt zugleich der gesetzlichste ist und so fort. Mit anderen Worten: es wird hier von einem Ganzen des Bewußtseins geredet, und es wird zusätzlich hierzu behauptet, daß wir ohne weiteres ein solches Ganze historisch nicht vorfinden. Alle historisch uns zunächst entgegentretenden Bewußtseins-Verfassungen zeigen uns ein Bewußtsein, das, gemessen an einem möglichen Status, nur eine Teilanlage seiner voll zur Geltung bringen kann: ein denkendes, ein bildendes, ein handelndes Bewußtsein. Warum tritt uns diese Ganzheit des Bewußtseins ohne weiteres nicht auch historisch entgegen, und warum folgt aus diesem Nicht-Vorkommen nicht auch seine Unmöglichkeit ? Weil dieses Ganze des Bewußtseins identisch ist mit dem teleologisch unabweislich geforderten menschlichen Bewußtsein, welches zur Auflösung der äußersten Probleme verpflichtet und fähig ist. Es ist das Bewußtsein der „Wahrheit". Dieses Ganze des Bewußtseins ist nicht etwa ein irgendwie „überirdisches", „transzendent-ideeliches", nicht etwa mit einem spinozistischen „Bewußtsein Gottes" oder einem „Welt-Ich" zu verwechseln — sondern es ist ein sich empirisch real äußerndes, ein durchaus irdisch-wirkliches Bewußtsein, welches aber seinem teleologischen Erfordernis genügt : die Probleme, welche das Objekt, die Welt, dem Geist aufgibt, aufzulösen. Dieses Bewußtsein ist seiner unendlichen Aufgabe ebenbürtig. Es ist das Bewußtsein, wie es sein müßte. Es ist aber 138
zugleich die unerläßliche Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit. Wir haben also hier eine Totalität des Bewußtseins. Wir haben damit jenes Ganze, von dem wir eingangs unserer Darlegung behaupteten: es sei Voraussetzung jeden möglichen Einwands gegen eine Einzelanlage des Bewußtseins und seiner Betätigungen. Die Einzeläußerung „Dichtung", die Einzeltätigkeit der phantasierenden Anlage könne nicht, so sagten wir, von anderen Einzeläußerungen aus, von dem Denken, von dem Handeln, vom metaphysischen Religionserlebnis u. a. aus angegriffen und minus gewertet werden, sondern, wenn überhaupt, so sei eine Universalität des Bewußtseins Bedingung der Kritik am Wirksamsein der Einzelanlagen. Aber selbst diese Idee des umfassenden Bewußtseins genügt zu einer solchen Beurteilung nicht. Denn jedes Bewußtsein, auch das begrifflich vollständige, ist als solches kein Restloses, ein zwar Eigen-Gegründetes, aber kein lediglich auf sich selbst Bezogenes, kein in sich Geschlossenes, wenn man nicht die Konstruktion des reinen Subjektivismus oder die raffiniertere des Immanenzstandpunktes anerkennt: das Bewußtsein — auch das umfassendere — erfordert zumindest einen von ihm zu unterscheidenden und geschiedenen G e g e n s t a n d , und dieser Gegenstand gehört zur restlosen Ganzheit hinzu. Der Gegenstand des vollständigen, ein teleologisches Ganze darstellenden Bewußtseins ist das Ganze der objektiven Wirklichkeit oder, wie es mit einem durch Affekte getrübten Namen heißt: „die Wahrheit". Wir bedürfen dieser restlosen Komplettierung des Subjektiven zum vollständigen Bewußtsein und des Objektiven zu dem diesem universalen Bewußtsein zugehörigen Objekt, zur vollen oder „wahren" Objektivität, um ein Maß zu erhalten für die Bewußtseinsausdrücke und Wirklichkeitsausdrücke, die eben nicht vollständig, sondern fragmentarisch sind: für unsere empirischen Bewußtseins- und Objekt-Daten: für das Denken und sein Objekt, das Tätigsein und dessen Objekt, das Wollen und sein Objekt, für Werten und Dichtung. Und wir brauchen dieses Maß als ein Orientierungsinstrument, wenn wir in dieser obersten Erfülltheits-Situation von
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Subjekt und Objekt inhaltliche Kennzeichen entdecken können, an denen wir den Weg zu ihr ablesen können. Dieser oberste Erfülltseins-Status, für den das verwirrende Wort „Wahrheit" geprägt ist, trägt nämlich in diesem Wahrheitsbegriff keinerlei inhaltliche Kennzeichen, die den Weg zu ihr anzeigen. Der Wahrheitsbegriff drückt das Ziel der Erkenntnis formal aus, d. h. er drückt eigentlich gar kein Ziel aus, auf das man hinstreben kann, sondern nur eins, das tautologisch durch sich selbst definiert wird, wenn man danach fragt. Was setzen wir nun an die Stelle des Wahrheits-Begriffes ? Denn wir müssen den obersten Status, den Erfüllungszustand der obersten Ordnung beschreiben, um zu einem' Urteil über die empirischen Betätigungsformen zu gelangen, seien sie dichterischer oder wissenschaftlicher Art oder welcher immer, und der bisherige Ausdruck dieses äußersten ErfüllungsZustands heißt „Wahrheit". Der Wahrheits-Begriff hat, psychologisch gesprochen, etwas von einer Wesenheit an sich, mit der man nicht wirklich rechnet und die man nicht ernst nimmt. Jedes philosophische Unternehmen hat zwar implizite den Anspruch, der Wahrheit nahezukommen, aber ¿es Näherkommen ist eines, das mit kosmischen Raum- und Zeitmaßen rechnet, es ist wie das Näherkommen eines irdischen Wanderers an einen Stern — es ist ein wegen seiner Kleinheit zu vernachlässigender Wert. Der Wahrheits-Begriff ist von einer derart pathetischen Atmosphäre umgeben, daß jeder ernsthafte Anspruch diesen Punkt buchstäblich und in irdischen Zeitmaßen zu erreichen sofort der Gefahr der uferlosen Schwärmerei aussetzt. Und so sicher einzelne wahre Erkenntnisse erreicht sind, so ausgeschlossen erscheint die Erreichung der „Wahrheit", welche ja nicht in der faktischen Summe der einzelnen erreichten „wahren Sätze" besteht, sondern das Ansinnen darstellt, auf der Grenze des Erkenntnisvermögens zur Totalität des Bewußtseins entspringende Forderungen erkenntnismäßig zu befriedigen. Es verlohnt, einen Augenblick bei diesem wenn auch nur psychologischen Punkt aller philosophischen Bemühung zu verbleiben. Das psychologisch Interessante ist nämlich dies, daß selbst, wenn es aus-
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geschlossen sein sollte, den Wahrheits-Punkt in den Zeitmaßen der empirischen Person zu erreichen, dennoch das Bewußtsein hiervon jede philosophische Bemühung wertlos macht und das philosophische Hervorbringen unter diesem Stigma de facto völlig ungeeignet zu jenem Zwecke. Schon gut, wird man antworten, das wissen wir, aber wie soll man sich gegen ein besseres Wissen in den Besitz einer bona fides setzen? Wie soll ich „so tun", als ob ich die Wahrheit treffen könnte, wenn ich weiß, daß ich sie nicht treffen kann, daß das Ziel außerempirisch ist ? Darauf ist zu antworten: dadurch, daß ich etwas vornehme, was man in der Mathematik eine „Umformung" nennt, nämlich: dadurch, daß ich die sterile Unmöglichkeit des leeren Wahrheits-Begriffs durch eine sozusagen „fruchtbare" Unmöglichkeit ersetze — wenn ich statt eines einzigen, in der Tat nie möglichen und anfaßbaren, gleichsam punktartigen ZielAusdrucks eine breite, aus vielen Inhalten und vielen Denkwesenheiten bestehende Grenzfläche sichte, die eine sozusagen „schwebende", in der Schwebe befindliche Unmöglichkeit darstellt — d. h. eine unmögliche Erfahrungswelt, die möglich zu machen die Aufgabe ist. „Die Erfahrung zu ermöglichen" — das ist in der Tat die Aufgabe der Philosophie, aber nicht die ohnehin mögliche zu ermöglichen dadurch, daß sie gedacht werden kann — sondern eine schwebend-unmögliche zu ermöglichen. In diesem Falle ist Philosophie die Tätigkeit, die die Aufgabe hat, sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen und es angreifbar zu machen. Einesteils darf ich nicht die extreme Lage des Ziels dadurch gefährden, daß ich die Unmöglichkeit der Erreichbarkeit zur platten Möglichkeit des Erreichbaren umfälsche, dem Endpunkt der Forschung seine Dignität nehme — anderenteils darf diese Unmöglichkeit nur eine empirische, faktische, tatsächliche, nicht aber eine prinzipielle, definitionsmäßige sein — aber eine Unmöglichkeit muß es allerdings vorderhand sein. Es handelt sich nun um die Gewinnung dieser „unmöglichen Wirklichkeit". Denn die bloße Vorstellung des empirisch Unmöglichen involviert ja keine erstrebbare Zielvorstellung, sondern ein Chaos. 141
Und hier handelt es sich darum, dreien Hauptvermögen der Seele vollständig freien Lauf zu lassen und solchergestalt die Ganzheit des Bewußtseins an der Suche nach der Wahrheit, besser nach der „zweiten Wirklichkeit"1), zu beteiligen, anstatt nur einem Bruchteil des Geistes diese dornige Arbeit aufzuwalzen, für die er notwendig zu schwach ist; anstatt dem einen die Domäne der Wahrheit, der Wissenschaft zuzuweisen, dem anderen das Gebiet des Glaubens und Wünschens, der Religion und Sittlichkeit und dem dritten das der Einbildung und des Gestaltens, der Kunst — eine Dreiheit, deren Sonderung sich z. B. in der bekannten Dreiteilung des Kritizismus in theoretische, praktische Vernunft und Urteilskraft kundgibt. Nicht stehen Denken, Glauben und künstlerisches Gestalten oder das Wahre, Religiöse (Gute), Schöne gleichberechtigt nebeneinander am Ende der geistigen Betätigung und als deren Ziele, sondern am Ende steht eine Realität, wie eine am Anfang steht, und die Vermögen des Wollens, des Denkens und des Phantasierens stehen zwischen der ersten und der zweiten Wirklichkeit als die konstruierenden Faktoren einer zweiten Empirie, die mit der ersten völlig inkommensurabel ist. x ) Vgl. zu diesem Begriff, außer den noch folgenden Andeutungen, die Ausführungen in „Gegen die Dichtung" S. 136—143 und das dritte Kapitel.
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|II. KAPITEL.
ERKENNTNIS ALS WIRKLICHKEITSHERSTELLUNG. ONTOLOGlSCHE GRUNDLAGE: DIE GOLDBERGSCHEN SEINS-, MÖGLICHKEITS- UND HERSTELLUNGS-BEGRIFFE.
Wie wird die „unmögliche Wirklichkeit" gewonnen? Es ist vor Augen zu halten, daß es sich hier um ein Endziel der geistigen Betätigung handelt und daß hier also das Gebiet vor uns liegt, das von dem ganzen Ausmaß und der ganzen Vielfältigkeit der zu leistenden Erkenntnisarbeit erfüllt ist: daß auf diesem Gebiet, das wir hier methodisch als den Vorbereich bezeichnen und an dessen Ende kein Begriffssystem, keine rein geistige Erkenntnis und keine reingeistige Ordnung irgendwelcher Art steht, sondern eine Realität — daß auf diesem Gebiet und mit dieser Methodik der Bann der philosophischen Sterilität aufgehoben ist, d. h. d a ß es auf diesem F e l d e immer w e i t e r geht. Und zwar schließlich bis in jene Realität hinein, die wir hier als die „unmögliche Wirklichkeit" charakterisieren mußten. Wir haben also hier nicht diese „zweite Realität" zu „beschreiben", sondern nur eine Vorstellung von ihr zu geben, und zwar eine durch die einzelnen Vermögen unseres Bewußtseins als indices charakterisierte Vorstellung; denn die inhaltliche genaue Beschreibbarkeit dieser Wirklichkeit grenzt bereits unmittelbar an sie selbst, an ihr materielles Dasein, und steht am Ende des Weges der Erkenntnis, nicht aber am Anfang dieses Weges, dessen Ganzheit von nichts anderem eingenommen wird als eben von der Konstruktion dieser Realität. Das bedeutet: Es gibt kein anderes Kriterium der Wahrheit als Wirklichkeit, und es gibt, im letzten Sinne verstanden, keinen anderen Beweis als das Experiment — aber ein Experiment, das einem Urteil bzw. einem Aussagensystem bejahend nachfolgt, nicht eins, das ihm vorausgeht. Alle erkenntnismäßigen Kriterien sind lediglich Zwischen-Kri143
terien, bedingt durch den Schwebezustand, in dem sich die Erkenntnis unterwegs in der Mitte zwischen zwei Wirklichkeiten befindet. Die Verkennung dieses Zwischenzustands und die Forderung nach der Absolutheit eines Kriteriums, d.h. nach demjenigen Sicherheitsmaßstab, den allein eine Realität vermitteln kann oder die Unmittelbarkeit einer Anschauung, die invariabel ist, muß letzten Endes zu eben den Widersprüchen führen, die man auf diese Weise zu vermeiden gedachte — oder aber von jedweder philosophischen oder logischen Behauptung überhaupt zurückhalten und somit den Abbruch des Erkenntnisunternehmens herbeiführen. Denn da alle „Gültigkeit", sofern sie apodiktisch ist, nur aus der Struktur des Bewußtseins stammen kann, sofern sie empirisch ist, aus allen gemeinsamer, ständig zu wiederholender Erfahrung, die Bewußtseinsstruktur aber immer nur die Form der Erfahrung enthalten kann, die Problematik der Erfahrung oder die eigentliche erkenntnismäßige Aufgabe aber immer einen Erfahrungsinhalt bedeutet, der nicht durch Erfahrung desselben genus oder empirisch verschafft werden kann, so kann die eigentliche Erkenntnisaufgabe weder rein formal noch empirisch gelöst werden, und mithin kann das Kriterium des Fortschreitens weder ein rein formal apodiktisches noch ein empirisches im Sinne der schlicht gegebenen Erfahrung sein. Da aber außerdem die Erkenntnisaufgabe auch nicht durch eine Metaphysik gelöst werden kann, die ein Gedankensystem irgendwelcher Art vorstellt, weil alles bloß ReinGeistige, das seine Ebene nicht verläßt, den ErfahrungsCharakter der Problematik unberührt lassen muß, so verbleibt dem philosophischen Bemühen nur eine einzige mögliche Verifizierung: Die Erkenntnisbetätigung im ganzen ist als ein einziges technisches Unternehmen maximalen Ausmaßes zu begreifen, das einzig durch sein reales Produkt verifiziert wird. Dieses reale Produkt der Erkenntnisbetätigung ist im Vergleich zu den technischen Realgebilden der naturwissenschaftlichen Technik, den Maschinen, (welche einen Teilbereich der Erfahrung durch Umwandlung intensivieren 144
und ausbauen) und im Vergleich zu den materiellen Konstruktionen aller Art — das Ganze einer von der gegebenen total verschiedenen Empirie; eine Wirklichkeit, die von der gegebenen so gänzlich differiert, daß sie ihr gegenüber unmöglich genannt werden muß. Wir haben mit diesem Ergebnis auf unsere Weise einen der Grundgedanken einer gegenwärtigen metaphysischen Systematik ausgesprochen, auf die wir noch zurückzukommen haben: es ist das sog. Herstellungs-Prinzip der Goldbergschen Ontologie. Nicht Wahrheit im Sinne irgendeines geistigen Gedankengefüges, sondern eine Wirklichkeit ist das Ziel der Erkenntnis, die nicht gegeben ist, vielmehr als Endeffekt der geistigen Arbeit überhaupt auftretend begriffen werden muß. Diese von der gegebenen prinzipiell differente Wirklichkeit zu bauen — ist zugleich Bestimmung und Definition „des Menschen". Was wir hier, wo wir nur in die Prolegomena dieses die Philosophie und die menschliche geistige Betätigung an sich bedeutenden Unternehmens eintreten können, plausibel zu machen haben, ist nicht, wie schon erwähnt, diese, an der gegebenen gemessen, unmögliche Realität inhaltlich zu beschreiben, sondern ist eine Vorstellung des Weges. Wir müssen also dogmatisch verfahren, um nur das Thema setzen zu können, und erst ein hier nicht mehr anzustellender umfänglicher methodologischer Vergleich dieses Wegüberblicks mit den üblichen Kriterien-Prinzipien des philosophischen Vorgehens kann hinsichtlich der beiden Punkte der wissenschaftlich zu fordernden Sicherheit und der Fruchtbarkeit des philosophischen Verfahrens — das indizienhaft zu belegende Übergewicht dieser Zielvorstellung vor allen anderen Zielvorstellungen — die Entscheidimg ermöglichen. Wir setzen an die Stelle der Wahrheit die schwebend unmögliche Wirklichkeit. Was will nun der Terminus „unmöglich" besagen ? Warum, wenn wir diese Wirklichkeit, die das Erkennen anstrebt, letzten Endes doch für möglich halten, gebrauchen wir das Prädikat „unmöglich" ? Wir müssen diesen TerU n g e r , Wirklichkeit.
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minus anwenden, weil nur er allein die Distanz und die Spannung zwischen den beiden Erfahrungen angibt. Die zweite Reaütät ist gegen die erste gehalten, die wir doch besitzen, buchstäbüch unmöglich. Sie ist nicht bloß an beinahe unüberwindliche Bedingungen geknüpft, durch kaum übersteigliche Schwierigkeiten von der Realisierung getrennt, sie ist, wenn diese unsere Erfahrung als ein geschlossenes System angesehen wird, im ganzen Bereich dieser Erfahrung wahrhaft unmöglich. Man hat in der Philosophie allzusehr übersehen, daß es in der Erfahrung oder im Denken der Erfahrung eine Begrenzimg gibt, die weder mit der absoluten schlechthin unübersteiglichen Grenze der Erfahrung, noch mit der subjektiven beliebigen Begrenztheit des individuellen erkennenden Subjekts zusammenfällt. Die Grenzen der Erfahrung, das ist dem an die Gedankengänge der kritischen Philosophie Gewohnten ein allzu vertrauter Begriff: er ist ihm identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Diese Grenzen und Bedingungen sind nicht zu überfliegen, denn sie gehören zur Form und Struktur unseres Bewußtseins: sie bilden die absolute Grenze der Erfahrung. Ihr gegenüber gibt es die subjektive individuelle Begrenztheit und mehr oder minder große Unzulänglichkeit des zufälligen erkennenden Subjekts, die eine subjektive individuelle Grenze, die bei jedem einzelnen Individuum anders verläuft, und die keine prinzipielle Grenze der Erkenntnis bildet. Diese Konzeption trifft rein logisch gesprochen nur dann zu, wenn es nur ein System gibt, das man als Erfahrung bezeichnen kann. Können aber mehrere Erfahrungssysteme gedacht werden — allerdings nicht so einfältig, als der Kritizismus diese Mehrheit gelegentlich hinstellt, um nämlich sogleich über diese Eventualität zu triumphieren — können sie nämlich gedacht werden als Erfahrungen, die weder außerhalb des Raumes, der Zeit, noch außerhalb der Verstandesformen liegen, sondern als mehrere Erfahrungssysteme, die sich als mögliche Abwandlungen innerhalb jener Wirklichkeitskonstituenzien darstellen — so sind eben damit Grenzen gegeben, die zugleich unübersteiglich — nämlich von einer bestimmten Empirie aus unübersteiglich — und
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doch nicht absolut sind: Grenzen der Erfahrung und der Erkenntnis, die nichts mit dem individuellen Unzulänglichen eines bestimmten Erkenntnissubjekts zu tun haben, d. h. die auch bei größtmöglicher Steigerung der individuellen Erkenntniskraft des Menschen Schranken bleiben, und die doch nicht mit der absoluten Grenze der Erfahrung identisch sind. Hieraus ergeben sich Realitätsinhalte, die sowohl als möglich — nämlich als absolut möglich — und als unmöglich: nämlich als im Verhältnis der Erfahrungssysteme zueinander unmöglich bezeichnet werden müssen. Unmöglich heißt etwas mit Fug, dessen Möglichkeit an die Aufhebung eines ganzen Erfahrungssystems geknüpft ist. Dieses Erfahrungssystem ist aber nur als ein Hindernis zu begreifen, mit dessen Wegfall erst die Möglichkeit einer anderen Erfahrung überhaupt auftreten kann. Die abschätzende Vernunft indessen kann sich an diesem negativen Kriterium und an diesem unentschiedenen Resultat: der bloßen Möglichkeit eines vom gegebenen total differenten Erfahrungssystems nicht genügen lassen — sie braucht, soll sie zu einem Weitergehen auf diesem abenteuerlichen Wege veranlaßt werden, Indizien nicht nur der Möglichkeit sondern der in eine Wirklichkeit umwandelbaren Möglichkeit einer anderen Empirie: sie braucht die festgegründete Aussicht auf eine Erfaßbarkeit der zweiten Wirklichkeit, wenn auch als äußerstes Erkenntnisziel und Ziel nicht nur der Erkenntnis. Gibt es ein solches Indizium? Wir müssen sagen, daß dieses Indizium eigentlich der Beginn der Philosophie selbst ist.
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III. K A P I T E L .
DAS PROBLEM ALS KENNZEICHNUNG VON REAL-SACHVERHALTEN UND ALS „LEERE TATSACHE". DIE REAL-OBJEKTE DER ECHTEN PROBLEME ALS DIE TATSACHEN DER PHILOSOPHIE. PHILOSOPHIE UND OKKULTISMUS. UNENDLICHKEIT, KONKRETION UND ERFAHRUNG. Es ist eine altbekannte Schwierigkeit, die Aufgabe der Philosophie zu bestimmen. Der ganze Bereich der ErfahrungsTatsachen, wozu auch die geistigen gehören, ist unter die Einzelwissenschaften aufgeteilt worden, und der Philosophie blieb eigentlich nichts als ein Ganzes übrig, dessen Teile sämtlich anderen Bearbeitungsmethoden des Geistes zugehörten. Tatsachen als solche blieben der Philosophie nicht Alles Tatsächliche unterlag den Wissenschaften. Das Zusammenstimmen der Teile untereinander sollte, nach einigen, die Philosophie zu besorgen haben, und die Perspektive auf das Ganze zu gewähren, war nach anderen ihre Aufgabe — aber wie auch immer, wenn ein Ganzes aus Teilen besteht,und diese Teile Tatsachen bedeuten, so mußte es doch irgendwie „philosophische Tatsachen" geben. Aber es gab sie nicht, und die neueste Wendung der Philosophie, die Phänomenologie, sucht hier einzusetzen und etwas wie „philosophische Tatsachen" zu erzeugen. Ohne uns hier auf eine Untersuchung dieser Operationen einzulassen, wollen wir die Behauptung aufstellen, daß es philosophische Tatsachen gibt. Man hat bisher wohl die Probleme als das eigentliche Arbeitsfeld der Philosophie angesehen. Aber in dem Begriff „Problem" steckt der Sachverhalt, daß der G e i s t , das erkennende S u b j e k t sich um etwas bemüht, dessen er Herr oder nicht Herr werden kann. Es steckt aber kein o b j e k t i v e s , kein gegenstandsbezogenes Merkmal in diesem Begriff in dem Sinne, daß ein Problem auch u n a b h ä n g i g vom erkennenden Bewußtsein vorliegen könne. Das aber wollen wir zum Ausdruck bringen. 148
Die echten der sog. Unlösbarkeit verdächtigen Probleme können nämlich begriffen werden: als prinzipiell unlösbar oder als prinzipiell lösbar. Der erste Fall ist der, welcher die Fragen der Probleme als über die Grenze der Erfahrung reichend lokalisiert, der zweite der, welcher das Ungelöstsein der Problematik auf die Unzulänglichkeit des erkennenden Subjekts schieben möchte. Diese beiden Fälle kommen überein mit den beiden oben angegebenen Auffassungen von der Erfahrungsgrenze, der absoluten unübersteiglichen Erfahrungsgrenze und der subjektivbedingten, individuellen, durchaus jederzeit verschieblichen Erkennungsgrenze — beides Auffassungen, denen wir die einer dritten Grenze entgegenstellten, die weder absolut unübersteiglich noch subjektiv beliebig übersteiglich war, sondern als Grenze eines bestimmten Erfahrungssystems, als starr, aber nicht letztgültig begriffen werden mußte. Hieraus ergibt sich, daß das Problem einen Sachverhalt ausdrückt, der weder als prinzipiell unlösbar, aber auch nicht als lediglich durch subjektive Unzulänglichkeit ungelöst angenommen werden darf, daß es richtig war, im problematischen Sachverhalt eine Erfahrungsgrenze zu sehen, wie der Kritizismus tat, daß es aber unzutreffend war, die Erfahrungsgrenze in ihm zu sehen, die absolute. (Es findet hier im Negativen das statt, was der Kritizismus im Positiven bekämpft: eine Ver-an-sich-lichung des negativen Erkenntnisresultats). Wie drückt sich nun dieser Umstand des Grenzcharakters der problematischen Region erkenntnistheoretisch aus? Der erkenntnistheoretische Ausdruck nämlich stellt als solcher eine Begründimg des angegebenen Schemas dar: der Grenzcharakter des Problemgehalts zeigt sich in einem vollkommen zweifelsfreien Gegebensein, das aber keinen angebbaren Inhalt aufweist. Bei allen Problemen, die man als echte bezeichnen kann, ist im Gegensatz zu allen übrigen faktischen Tatbeständen, bei denen zugleich ein Daß und ein Wie gegeben ist, ein „Daß" gegeben ohne ein „Wie". Eben damit ist das entstanden, was Problem heißt: Nehmen wir das philosophische Hauptproblem: das psycho-physische Problem. Die Elemente dieses problematischen Sachverhalts sind das zweifelsfreie Gegebensein des psychischen und des körper149
liehen Substrats und irgendeine notwendige Beziehung zwischen diesen Substraten, eine Beziehung, die sich als notwendig durch das Vorhandensein ihres Effekts, des realen, psychophysischen, einheitlichen Organismus ausweist: Aber das Wie dieser Beziehung, dieses Übergangs zwischen Ausdehnung und Bewußtsein ist vollständig nicht-gegeben — wir haben eine „leere T a t s a c h e " vor uns —, denn diese Unsichtigkeit der Beziehung kommt nicht auf Rechnung der Unzulänglichkeit des erkennenden Subjekts — sie ist strukturell unsichtig: sie bildet ein o b j e k t i v e s Vakuum im kontinuierlichen Bilde unserer Erfahrung. Nehmen wir das Problem der persönlichen Fortdauer der individuellen Bewußtseinsexistenz. Die unerläßliche Autonomie des Bewußtseins hat irgendein notwendiges Verhältnis zur Zeit: aber das „Wie" dieser Beziehung ist völlig unanschaulich und leer. Alle Probleme lassen sich nicht nur auf diesen erkenntnistheoretischen Ausdruck bringen, sondern dieser Ausdruck ist ihr wesentlicher und ursprünglicher: daß an den Grenzstellen einer Erfahrung ein „Daß" gegeben ist, dessen „Wie" nicht mehr gegeben ist. Wir nennen ein solches Faktum eine negative Gegebenheit1), welche kein Nicht-Gegebensein sondern das Gegebensein eines Minus ist, eines Vakuums, das das Kontinuum der Erfahrungswirklichkeit unterbricht. Dieses Vakuum heißt, daß unsere Anschauung an bestimmten Punkten inmitten der Erfahrung aussetzt, gleichviel ob es sich um die berühmten transzendentalen Probleme oder um die Struktur der Materie handelt oder um irgendeine begriffliche Unerfaßbarkeit des sinnlich Gegebenen, ein Aussetzen der Anschauung, das sich in antinomischen Denkmöglichkeiten kundgibt. Diese Unsichtigkeit ist eine objektive, aber doch keine absolute, und dieses existierende Negativum ist die typisch philosophische Tatsache. Wir haben eine leere Tatsache vor uns, d. i. die Gewähr für eine Existenz, aber die Ausfüllung dieser Leere ist mit den empirischen Erfahrungsfakten, in deren Mitte sich diese Enklaven finden, nicht möglich. Unsere Erfahrungskontinuität ist, wenn wir sie denkend er*) Vgl. hierzu und zum folgenden „Gegen die Dichtung", zweiter Teil: Erstes Kapitel, S. 108 ff.
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fassen, allenthalben durchsetzt mit diesen leeren Einsprengseln, die wir Probleme nennen, wenn wir sie hinsichtlich des erkennenden Subjekts bezeichnen oder als den Beginn der Philosophie, als ihr eigentliches Motiv, genau so, wie die positiven Tatsachen den Beginn und das Motiv der Einzelwissenschaften abgeben. Was heißt es aber nun, daß diese Leere mit dem Material der umgebenden Empirie nicht auszufüllen ist, daß es keine inhaltlichen Tatsachen gibt, deren Vorhandensein die Probleme ausgleichen würde, eine Nicht-Ausfüllbarkeit, die mit dem Grenzcharakter identisch ist? Nichts anderes, als daß die Ausfüllung dieser Vakua Inhalte abgeben würde, welche mit den Inhalten der die Enklaven umgebenden Empirie total inkommensurabel sind. Die Realität, welche sich innerhalb der existierenden Negativa vorfindet und die nicht gegeben ist, ist prinzipiell nicht von der Art als die Realität, welche die Minusstellen umgibt. Das Gegebensein eines Nicht-Gegebenseins — eine Doppeltheit, welche genau dem zwiespältigen Sachverhalt des Problems entspricht, und die Unmöglichkeit, das gegebene Erfahrungsmaterial an die Stelle dieses Nichtgegebenseins zu setzen, bedeutet gar nichts anderes, als daß das Verhältnis des gegebenen Erfahrungsmaterials zu dem eventualen Inhalt der Enklaven ein dermaßen distantes ist, daß sie nicht mehr zu einem Erfahrungssystem vereinbar sind, sondern daß hier notwendig zwei Erfahrungssysteme von völlig inkommensurablem Charakter vorhegen müssen. Es ist das Fehlen von prinzipiellen Tatsachen gegeben, das heißt es ist das Fehlen einer ganzen Erfahrungswirklichkeit gegeben, deren Struktur von der gegebenen in solchem Grade abweicht, daß ihre gegenseitige Beziehung als eine im Verhältnis zueinander phantastische bezeichnet werden muß. Hier ist nun die Stelle, das Beginnen der Philosophie von einem anderen abzugrenzen, das ebenfalls von diesen fehlenden Tatsachen, deren Fehlen aber gegeben ist, seinen Ausgang nimmt: vom O k k u l t i s m u s jeder Art. Der Okkultismus ist Empirismus: er sucht empirisch das Bestehen von Tatsachen zu erweisen, die in diese Vakua, die an den problematischen Punkten der Erfahrung sich finden, eintreten können. Er 151
will direkt und unvermittelt diese Lücken mit einem Material ausfüllen, das er einfach faktenmäßig glaubt konstatieren zu können, Aber man kann nicht einfach etwas konstatieren, dessen Struktur von der Struktur der umgebenden Realität abweicht, ohne daß jenes undefinierbare Gemisch von Wirklichkeit und Unwirklichkeit entsteht, welches den Okkultismus kennzeichnet. Die Vakua, welche die problematischen Sachverhalte bezeichnen: das Minus, das entsteht durch die Unsichtigkeit etwa des Seinsmodus der Persönlichkeit, das Minus des Zusammenhangs zwischen Bewußtsein und Materie, das Anschauungsminus in allen naturwissenschaftlichen Grenzbegriffen, alle diese leeren Stellen will der Okkultismus unmittelbar durch neue Tatsachen erfüllen, die er direkt und experimentell glaubt nachweisen zu können. Er will irgendeinen vereinzelten speziellen Vorgang außer Zweifel stellen, um durch dieses faktische Experiment eine neue bislang unbekannte ganze Kategorie von Geschehnissen oder Kräften in die Erfahrung einzuführen. Er will Tatsachen sammeln, um die Empirie zu ergänzen, wie die Naturwissenschaft neue Tatsachenbeobachtungen sammelt und mit ihnen die Empirie ergänzt. Aber man kann an der strukturellen Grenze der Empirie nicht ergänzen wie inmitten ihres Bereichs. Der Okkultismus begeht den entscheidenden Fehler, etwa das Geheimnis des Lebens zu erforschen nach Art einer beliebigen naturwissenschaftlichen Neuigkeit, ohne die Distanz zu berücksichtigen, in der dieses Problem von allen übrigen Gegebenheiten absteht im Verhältnis zu der viel geringeren Distanz sämtlicher übrigen naturwissenschaftlichen Data untereinander. Er glaubt einfach neue, bisher unbekannte Kräfte oder Stoffe einführen zu können — wie die Elektrizität irgendwann einmal eine neue, bis dahin unbekannte Kraft war und irgendein neues Element ein bis dahin unbekannter Stoff. Dazu ist ein für allemal zu sagen: das strukturbedingte Vakuum in unserem Erfahrungssystem, die negative Gegebenheit, die durch ein echtes Fundamentalproblem bezeichnet wird, ist weder mit irgendeinem individuellen Faktum oder mit eigens ad hoc konstruierten Naturkräften auszufüllen, wie es der Okkultismus will, sie ist mit keiner be152
stimmten Einzeltatsache aus einer negativen in eine positive Gegebenheit zu verwandeln (das wäre kein Problem, das ans Unlösbare streift, sondern eine zweitrangige Fragwürdigkeit, die mit einer Einzeltatsache beantwortet, erfüllt ist), dies strukturelle Vakuum ist nicht ein Symptom davon, daß irgendeine spezifische Tatsache oder eine spezielle Kräftekategorie fehlt — sondern es ist ein Zeichen davon, daß ein ganzes Erfahrungssystem, daß eine ganze sog. „Welt" nicht da ist. Hier liegt ein gröblicher Instinktmangel für die Valenz eines Problems vor. Das beliebig Lösbare, das, wenn auch noch so „schwierige", spezielle, im engeren Sinne naturwissenschaftliche Problem zeigt, daß irgendein Sachverhalt nicht genügend geklärt ist, daß eine nicht letzthin prinzipielle Tatsache fehlen mag oder an falscher Stelle steht — das echte, der Unlösbarkeit verdächtige Fundamentalproblem zeigt, daß eine ganze Wirklichkeit fehlt. Und das ist der Unterschied zwischen Philosophie und Okkultismus. Der Okkultismus sucht bestimmte neue Tatsachen, er sucht faktische Beweise, ohne den Weg über die Universalien zu gehen — die Philosophie sucht eine vollständige Welt und beginnt mit den umfassendsten Universalien, um diejenige Wirklichkeit zu konkretisieren, die es nicht gibt, und eben dadurch diejenige problemfrei zu machen, die es gibt. Genau so wie die Existenz einer ganzen Welt A mit allem ihren Inhalt nötig und Voraussetzung ist, daß irgendein spezifizierter Gegenstand a existiert und irgendein ganz bestimmtes Einzelgeschehen p vor sich geht — genau so ist die Konstruktion einer ganzen Welt Z mit einem ebenso vielfältigen Inhalt notwendig und Voraussetzung, damit ein ganz bestimmter Gegenstand £ oder ein ganz bestimmtes Geschehen q vor sich gehe, daß in die Struktur des Weltsystems A nicht hineingeht. Die Philosophie muß den ungeheuren Umweg über die Universalien machen, um bei Fakten anzukommen, aber nicht bei denen, von denen das Denken ausgeht — denn sonst wäre sein Weg zwecklos gewesen. Und ein zweiter grundsätzlicher Unterschied zwischen dem okkultistischen und dem philosophischen Angriff auf die Probleme ist hiervon die Folge: Der Okkultismus sucht eine beliebige, möglichst große Anzahl, jedenfalls aber eine Mehr-
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heit von empirischen Tatsachen, er sucht eine Fülle, ein möglichst häufiges Bestätigungsgeschehen von uneinreihbaren Fakten — die Philosophie dagegen faßt alle diese die Empirie durchsetzenden Vakua zu einem Einzigen zusammen und sucht an dem Punkt der konstatierbaren Beziehungslosigkeit der größten Universalien, in dem psychophysischen Negativum eine einzige Tatsächlichkeit zu gewinnen, etwa die Beziehungswirklichkeit zwischen psychischer und physischer Gegebenheit. Dieses ens reale aber tritt zunächst nicht als ein Einzelfaktum oder eine Einzelkategorie auf wie etwa der „Astralkörper" des Okkultismus, sondern ist als eine einzige in der Entstehung begriffene Tatsächlichkeit von solchem Ausmaß zu begreifen, daß es ein ganzes Erfahrungssystem im undifferenzierten, d. i. im Embryonalzustand ist -— eine einzige undifferenzierte Gegebenheit, die, indem sie sich in die ganze Mannigfaltigkeit einer Erfahrung auseinanderlegt, in eine so unübersehbare Fülle von Fakten, wie die gegebene Empirie sie besitzt, mündet. Die Erkenntnis bringt hervor wie die Wirklichkeit selbst: vom Ganzen herabsteigend und sich differenzierend in eine ganze tausendgestaltige Erfahrungsmannigfaltigkeit, und diese Unzahl der konkreten Tatsachen bilden das Ende ihres Ganges — nicht, wie der Okkultismus will, den Anfang oder eine baldige Etappe. Denn es kann nicht mit Tatsachen begonnen werden inmitten einer Wirklichkeit, der sie widerstreiten und die ihnen überlegen ist. Eine Welt in statu nascendi als eine Gegebenheit im Denken beginnend und in die faktisch existierende psychophysische Mannigfaltigkeit sich auflösend und endigend, die der gegebenen Mannigfaltigkeit inkommensurabel ist — ist der Weg des Erkenntnisvermögens. Dieser Weg wird somit nicht wie üblich bezeichnet durch die Regionen Sinnlichkeit-Denken, sondern er wird bezeichnet durch die Stationen: Sinnlichkeit-DenkenSinnlichkeit, insofern als hinter dem Bereich der Abstraktionen und durch sie hindurch eine neue zweite konkrete Mannigfaltigkeit zu ermitteln ist. Das echte Problem bedeutet den S t a t t h a l t e r für eine in die „gegenwärtige" uneinreihbare Welt, und die Philosophie bedeutet diejenige Besinnung und Umständlichkeit, 154
welche nötig ist, um Gewähr dafür zu leisten, daß in das Vakuum, das der problematische Sachverhalt indiziert, in einer bestimmten Reihenfolge auf dem Wegé über die immer konkreter zu gestaltenden Universalien ein ganzes Welt- und Erfahrungssystem eintritt, um das Negativum zu konkretisieren und um zu verhindern, daß diese Vakua voreilig, direkt, unvermittelt und ohne große Umschweife mit den schemenhaften und halbwirklichen (weil Einzel-) Gestaltungen des Okkultismus bevölkert werden. Das echte Problem selbst bereits bedeutet das Indizium und die Gewähr nicht nur für die Möglichkeit, sondern für die Wirklichkeit einer schwebend-unmöglichen Erfahrung: denn das Existenzmoment, das im Problem steckt, das Abbrechen eines Gegebenen, gewährleistet das Existieren von etwas, das fehlt — und das Fehlen besagt die Unverträglichkeit, die schwebende Unmöglichkeit dessen, was fehlt, im Hinblick auf das, was gegeben ist. Es kann und braucht hier nicht in die Technik dieses Konkretisierungsvorgangs eingetreten zu werden1), nur ist anzudeuten, daß das Grundschema des Weges der Erkenntnis, dessen Stationen nicht Erfahrungs-Sinnlichkeit — Denken, sondern erste Erfahrungs-Sinnlichkeit — Denken — zweite Erfahrungs- Sinnlichkeit lauten, in folgender Weise als erfüllt zu denken ist: die konkrete Mannigfaltigkeit, von der das Denken anhebt, geht, wie bekannt, in die inhaltsärmeren und -ärmsten Abstraktionen über. Es folgt also auf den Bereich der vielgestaltigen Ausgangs-Sinnlichkeit eine Region von an Zahl und Inhalt geringeren Gebilden des Denkens. Nun stelle man sich zunächst vor, daß diese äußersten Abstraktionen — seien sie a priori oder a posteriori —, die also die begriffliche Grenze darstellen, zu der das Denken von der Empirie ausgehend gelangen kann — man stelle sich rein formal vor, daß diese Abstraktionen, also die Bestandteile dieser Grenze der Abstraktion zu Verbindungen untereinander gebraucht würden, die sich aus ihrem rein begrifflichen Charakter gar nicht ergeben, zu Verbindungen etwa der Art, daß man die Abstraktion eines Gedankendinges überhaupt mit i) Vgl. hierzu „Gegen die Dichtung", zweiter Teil, erstes Kapitel, Konkretion und Abstraktionsumkehrung, und drittes Kapitel.
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der Abstraktion Existenz überhaupt verknüpft und dadurch die Wesenheit „Idee" erhält oder daß man die Abstraktion Bewußtsein mit dem Begriff der Vielheit verknüpft und dadurch die Wesenheit Vielheits-Bewußtsein erhält — Produkte, die aus den unverbundenen Elementen, aus denen sie bestehen, nicht heraus analysiert werden können. Wenn man also aus den begrifflichen Wesenheiten Kombinationen herstellt, und die so entstandenen Produkte weiterhin mit anderen Wesenheiten verknüpft — z.B. der Vielheit eine e m p i r i s c h e Vielheit „Volk" substituiert und somit Gebilde wie „Volks-Bewußtsein" oder „Volks-Geist" erhält — und dies Verfahren nach Regeln, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, zunächst beliebig fortsetzt, so erhellt, daß man zu Gebilden von ständig wachsender Konkretheit gelangen muß, denn sie nehmen ständig neue Merkmale zu den vorhandenen durch diese Synthesis in sich auf (und daß zweitens diese Gebilde, die da entstehen, so beschaffene sind, daß es sie in der Erfahrung, aus der mittels Abstraktion die Universalien gewonnen wurden, nicht gibt: die schlichte Empirie liefert, um bei dem Beispiel zu bleiben, Gebilde wie VolksGeist oder Gebilde wie gedankliche Existenzen unabhängig von einem empirischen Bewußtsein oder Ideen nicht), so daß zuletzt eine ganze Sinnlichkeits-Mannigfaltigkeit entstehen muß. Es geht also der Weg des Erkennens von der sinnlichen Konkretheit der gegebenen Empirie über die Region der äußersten und relativ spärlichen Abstraktionen hinaus wieder in die Richtung sinnlicher Verdichtungen und Vervielfältigungen — ein Vorgang, den wir Konkretion nannten. Von den Verifikationen des Schemas, das an die Stelle des Wahrheitsbegriffes eine zu konstruierende Wirklichkeit setzt, ist hier die Klärung geltend zu machen, die der Universalienstreit erfährt, in dem der Grund dieses Streites besser begriffen zu werden vermag, als ihn die Parteien, die Realisten und die Nominalisten, zu Gesicht bekommen können: Die Universalien, die sich in der Region der Abstraktion befinden, können nämlich ihrer rein nominalen Bedeutung nicht einfach im platonischen Sinne entkleidet werden, indem sie dogmatisch als reale Universalien angesprochen werden, ohne diese Realität durch eine entscheidende Funktion zu
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dokumentieren (so daß sie weiter keine Bestimmung haben, als über den specificis, von denen sie genommen sind, als eine Wiederholungswelt zu thronen). Vielmehr läßt sich das Hinausgehen über die nominale Bedeutung der Universalien nur legitimieren, wenn sie eine zu ihrem reinen Ordnungscharakter hinzukommende Rolle zu spielen haben, deren Realcharakter sich dadurch ausweist, daß das Universale als ermöglichendes Moment, d. i. als Baustein einer Realität auftritt. Und diese erfahrungsermöglichende Bedeutung des Universale liegt aber bereits — vor dem empirischen Zustandekommen einer solchen Erfahrung — in seiner bloßen Eignung, Element einer systematischen Kombinatorik zu sein, deren einzige, d. i. notwendige Bestimmung es ist, in eine Erfahrung einzumünden. Die Realität der Universalien ist ein a priori, welches proleptisch die Realität enthält und gleichsam gewährleistet, die noch nicht daseiend, zuletzt auftretend, die Endregion der Erkenntnis ist. Man könnte das paradox ausdrücken: die Nominalisten werden recht bekommen, wenn die Realität der Universalien ihren Zweck erfüllt und sich dokumentiert hat. Die Schattenhaftigkeit, d. i. Irrealität der Universalien, gemessen an der gegebenen Empirie, die nach Piaton nur ihr Spiegelbild sein soll, erklärt sich daraus, daß die Uni Versalien in ihrer Realbedeutung gar nicht gegen „diese" Wirklichkeit blicken, sondern nach einer anderen zu konstruierenden gerichtet sind. „Realität" der Universalien kann somit seine Bedeutung weniger darin erschöpfen, daß das von dem universale bezeichnete objectivum als ein Existierendes verharre als darin, daß es Konstruktionselement der Realitätsentstehung, Baustein einer sich auf eine Erfahrung zu bewegenden, immer mehr heraustretenden Realität ist. Die von der Erkenntnis zu schaffende Realität erteilt rückwirkend ihren Konstruktionselementen Realitätscharakter zu, und diese haben ihn bereits a priori inne, da die Zeit im Denken in ihrer empirischen Form aufgehoben ist. Das „Gerichtetsein" der Universalien auf ein Sein, eine Erfahrung hin enthält ihre Realbedeutung. Demnach sind alle Schemata der Philosophie, welchen eine bloße Zweiheit zugrunde liegt, wie etwa die reale Sinnenwelt gegenüber der begrifflichen Erkenntnisregion, die Welt 157
der Dinge gegenüber der Welt der Ideen, kurz alle Konzeptionen, die von einer Zweiheit von Wirklichkeit und Denksphäre reden, dahin zu ergänzen, daß das Denken nicht als Ende, Ausläufer, Himmel über der realen Welt verharrt, daß es nicht das Ende einer, sondern die Mitte zwischen zwei Erfahrungen bildet. Die Universalien also haben einen Doppelcharakter, indem sie als die höchsten Abstraktionen der begriffliche Ausläufer der Erfahrung sind, von der sie aufgestiegen sind, und als Elemente einer nach dieser Abstrahierung einsetzenden Verknüpfbarkeit untereinander und mit specialibus das Beginn-Gebiet einer wieder zunehmenden Konkretheit und zweiten realen Erfahrungsmannigfaltigkeit sind. Außer diesen beiden Indizien der wachsenden Konkretheit und dem Realcharakter dieses Vor-Bereichs eines zweiten Erfahrungssystems ist noch an das dritte Hauptmerkmal zu erinnern, das diesem über der Abstraktionsgrenze liegenden Gebiet eignet: seine Inkommensurabilität mit der gegebenen Ausgangserfahrung. Diese Inkommensurabilität bedeutet allerdings ihrerseits einen Zwischenzustand. Denn der teleologische Endzustand der Erkenntnis, d. h. der Status, in dem die Verdichtung der Universalien so weit vorgeschritten ist, daß ihre Umsetzung in eine psychische und physische Empirie beginnt, eine Empirie, die in Gestalt von bislang strukturell notwendig fehlenden Tatsachen in die Vakua der gegebenen Erfahrung eintritt — dieses wirkliche Zustandekommen des teleologischen Erfahrungssystems beendet zugleich den Zustand der Inkommensurabilität, insofern als — mit dem Beginn des Eintretens der konstruktiven Gebilde in die Realität — aus der fragmentarischen Erfahrung und der konstruktiven Erfahrung ein einziges Erfahrungssystem: d i e Erfahrung wird, welche realiter zu ermöglichen die Definition des Menschen ist. Gegen die fragmentarische Empirie, d. h. gegen unsere gegebene Erfahrung gehalten, aber bleibt die völlige Inkommensurabilität der zu ermöglichenden Systeme mit dem Daseienden bestehen. Denn die Konkretion oder das Unternehmen der systematischen Synthesis der Universalien untereinander und mit specialibus richtet sich nicht nach den Zusammengehörigkeiten und den Verbindungsmöglich158
keiten, die sich aus dem Abstraktionscharakter, den abstrahierten Begriffsmerkmalen der Universalien ergeben, sondern verknüpft dem Prinzip nach unbegrenzt und vollständig Universalien als Elemente, welche, abstraktiv genommen, nichts miteinander zu tun haben. Ja, die Kombinatorik darf gar nicht nach den Merkmalen der Abstraktion, also den Begriffsmerkmalen die Begrif fe verbinden, wenn sie die Richtung auf die Vakua, d. h. auf die Probleme der gegebenen Erfahrung treffen und innehalten will. Denn solange sie nach Begriffsmerkmalen die Begriffe verbindet, solange trifft sie immer wieder auf die positiva, auf das Vorhandene der gegebenen Empirie, niemals auf die negativa. Denn von den positivis stammen die Merkmale und allein die außerhalb dieser Merkmale verknüpfende Synthesis kann neue Merkmale ergeben, d. h. zur echten Synthesis werden und die Negativa konkretisieren. Also: es ist vorzustellen, daß Universalien miteinander verbunden werden, die, nach ihrem begrifflichen Merkmalsgehalt beurteilt, nicht verbunden werden könnten. Das bedeutet aber gar nichts anderes, als daß das Produkt einer solchen Verbindung inkommensurabel zu den Wesenheiten sich verhalten muß, von denen die Abstraktionen stammen bzw. denen sie zugrunde hegen, d. h. zur schlichten Erfahrung — es heißt soviel, wie daß es das Gebilde, das einer solchen Synthesis entstammt, in der schlichten Erfahrung nicht gibt. Die schlichte Empirie liefert, um bei den obigen Beispielen zu bleiben, Gebilde wie die Konkretion Volks-Geist oder Gebilde wie gedankliche Existenzen unabhängig von einem empirischen Bewußtsein oder Ideen nicht. Alle Verbindungen aber sowohl der Universalien untereinander wie solche von universale und speciale, welche über der Abstraktionsgrenze liegen und eine wenn auch noch so anfängliche Konkretion, eine Verdichtung darstellen und sich in Richtung auf die Enderfahrung zubewegen — alle diese Verknüpfungen verhalten sich zu den Systematisierungen des Begriffsnetzes der Abstraktion inkommensurabel, d. h. wunderartig. Das Entscheidende ist: daß diese denkmäßige Unein reihbarkeit, d. h. Wunderartigkeit, der konkretisierten Gebilde im Verhältnis zur gegebenen Erfahrung nichts gegen den Rea159
litätscharakter eben dieser Gebilde besagen kann. Denn diese Unüberbrückbarkeit der Konkretionsgebilde und der Daten der vorhandenen Erfahrung ist nicht nur kein Argument gegen, sondern ein Argument für, sondern gerade Bedingung ihrer Realfähigkeit, insofern eben dies die Bedeutung des Problems oder der negativen Gegebenheit ist, die zu erfüllen die Bestimmung der Konkretionsgebilde ist —- daß der Negativcharakter des Problems nichts anderes als der Ausdruck der Unvereinbarkeit zweier Strukturen ist, deren eine unter bestimmten Voraussetzungen ausfallen muß, wenn die andere da ist. Die Wunderartigkeit der Produkte der systematischen Kombinatorik ist somit mit ihrer Realbedeutung nicht nur verträglich — denn Inkommensurabilität ist der notwendige positive Ausdruck des strukturellen Negativums —, sondern der ganze Begriff der Irrealität ist dahin zu präzisieren, daß Irrealität im Sinne von Unerfahrbarkeit nur gegeben ist, wenn das Verhältnis eines Denkgebildes unmittelbar in Beziehung auf eine Erfahrimg beurteilt wird, wenn also nach der unmittelbaren Erfahrbarkeit einer Wesenheit gefragt, dieselbe verneint wird —, daß aber das Urteil der Irrealität, auch wenn keine unmittelbare Erfahrbarkeit einer Wesenheit möglich ist, nicht gefällt werden darf, wenn ein beliebiges Denkgebilde inmitten eines bis an die Erfahrung zu reichen bestimmten Zusammenhangs aus anderen Denkgebilden einen bestimmten Ort hat, wenn es in einer vollständigen oder zu vervollständigenden Reihe steht, die sich zuletzt in eine Erfahrung umsetzt. Denn der notwendige Platz, den es in diesem Netz hat, ist der Ausdruck seines Realitätswertes, der unter der Voraussetzung einer zu konstruierenden Wirklichkeit und unter der weiteren methodologisch zu erweisenden Voraussetzung, daß eine philosophische Kombinatorik der Universalien der einzige Weg hierzu ist, niemals gleich Null sein kann. Also nicht die wenn auch extremste Ungewöhnlichkeit, nicht die befremdlichste Unvergleichbarkeit der Konkretionsgebilde mit allem, was ,,es gibt", ist als Zeichen der Irrealität zu werten, Irrealität ist nicht gleichbedeutend mit Nichtfortsetzbarkeit — denn das gibt es nicht — sondern Irrealität ist lediglich gleichbedeutend mit Nichtfortsetzung der Konkretionsgebilde bis an eine Erfahrung. 160
Was also hier, zunächst subjektiv ausgedrückt, ins Auge gefaßt wird, das ist die äußerste Steigerung der Spontaneität des Bewußtseins oder die Mobilisierung der phantasierenden Anlage bis in die ganze Weite ihres Umfangs. Es handelt sich darum, das phantasierende Vermögen zu einer absoluten Vollständigkeit aller seiner möglichen Hervorbringungen zu veranlassen, dieses Vermögen zu systematisieren, nicht um es zu begrenzen, sondern um alle Bildungen systematisch und prinzipiell hervorzuholen, deren es fähig ist. Wir können diese Gedanken nicht als das ledigliche Ergebnis der bisher vorgetragenen Ausführung begründen, sondern haben in diesem Zusammenhang eine neuere Systematik heranzuziehen, die objektive und metaphysische Grundlage der Idee von der Totalität der subjektiv möglichen Bildungen ist: die Ontologie von Oskar Goldberg1). Wenn hier gesagt wurde, es gelte die In-Bewegung-Setzung des phantasierenden Vermögens in seinem ganzen Ausmaß, also die Auswertung sämtlicher Gestaltungsmöglichkeiten der Einbildungskraft für die Erkenntnis — so lautet das ergänzende Fundament jener ontologischen Konzeption: weil keine m ö g l i c h e K o n f i g u r a t i o n , die v o n der E i n b i l d u n g s k r a f t nur immer hervorgebracht wird, ins Leere t r i f f t , dergestalt, daß die Möglichkeiten des subjektiv bildenden Bewußtseins die Möglichkeiten des Seienden übertreffen könnten. Die metaphysische Position dieser Systematik geht also dahin: Der U m f a n g und I n h a l t des S e i e n d e n wird v o m U m f a n g und I n h a l t des B e w u ß t s e i n s auch dann n i c h t ü b e r t r o f f e n , w e n n man dem frei b i l d e n d e n V e r m ö g e n des B e w u ß t s e i n s , also der E i n b i l d u n g s k r a f t , n i c h t nur freies Spiel l ä ß t , sondern es sogar bis zu seiner ä u ß e r s t e n H e r v o r b r i n g u n g s - I n t e n s i t ä t anspannt. Die — historisch ausgesprochene — Adäquation von Sein und Denken oder Erkenntnis wird also hier zu einer Adäquation von Sein und jeder bewußtseinsmöglichen Aktion, zur Adäquation von Sein und l
) Von der Ontologie veröffentlicht in dem Kapitel: „Philosophische und kosmologische Grundlagen" der Schrift „Die Wirklichkeit der Hebräer", Berlin 1925. U n g e r , Wirklichkeit.
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extremisierter Einbildungskraft erweitert, weil so allein der wahre Unendlichkeits-Begriff, der qualitative, inhaltlich-unendliche Umfang des Seienden erreicht wird. Alles, was nur immer sich einbilden läßt, besitzt Sein, ist eine „reale Möglichkeit" der unendlichen Wirklichkeit. Wenn aber auch jede Kombination von Denkgebilden der unendlichen Realität teilhaft ist, so ist sie darum nicht unmittelbar erfahrbar. Sie ist aber auch nicht in dem Sinne prinzipiell unerfahrbar, der sie schließlich im Effekt als gleichbedeutend mit irreal kennzeichnen müßte — sondern alles, was auch immer sich einbilden läßt, ist im Prinzip Beginnbildung einer Erfahrung. Es kann nicht darum erfahrungsunfähig sein, weil es nicht bis zu einer Erfahrung fortgesetzt werden k a n n , sondern nur darum, weil es nicht durch zunehmende Konkretion bis zu einer Empirie fortgesetzt wird. Erfahrungsunfähig ist es nicht darum, weil es irreal wäre, sondern darum, weil die Konkretion, der Verdichtungsgrad zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit noch nicht weit genug vorgeschritten ist, um im Material der Empirie dargestellt werden zu können. Diese endlose Fülle der möglichen Gebilde des phantasierenden Vermögens, die nur durch die bestimmbare Anzahl der umfassendsten Universalien nach unten begrenzt ist, stellt das Z a h l e n r e s e r v o i r der philosophischen R e c h nung dar und so, wie die Unübersehbarkeit der Zahl dennoch systematisch handhabbar gemacht werden kann und so wie es unnötig ist, alle Zahlen explizite aufzuschreiben, um mit ihnen systematisch rechnen zu können, so gibt es Prinzipien, die Mannigfaltigkeit dieser Gebilde zu überblicken, ohne daß es notwendig ist, sie einzeln auszuführen, um sie anzuwenden. Und so wie die Zahlen notwendig sind, um in ihrer Anwendung Produkte hervorzubringen, die das Bewußtsein in die Erfahrung hineinkonstruiert — so ist diese umfassendste Kategorisierung sämtlicher Gebilde des Bewußtseins der universale Konstruktionsboden einer ganzen Wirklichkeit überhaupt, eine Ebene der philosophischen Mathematik, die als Ganzes zwar da sein muß, aber nicht als Ganzes auf einmal gebraucht wird, so, wie die Ebene der geometrisch-arithmeti-
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sehen Gebilde nur immer dort, nur immer in dem Bereich betreten und fruchtbar gemacht, aktualisiert wird — wo es etwas zu konstruieren gibt. Denn diese Gesamtheit der konkretisierten Gebilde stellt eine inhaltlich aufgerollte Unendlichkeit dar wie die Zahl die formale, und so unerläßlich die Zahlengesamtheit zur Konstruktion irgendeines quantitativen Gegenstandes ist, so unerläßlich die Universalität der Konkretionen zur Konstruktion einer Wirklichkeit. Es ist die inhaltliche Zahlenreihe. Die Idee dieser universalen philosophischen Permutation und Kombinatorik ist also gleichbedeutend mit einer Verlegung der Schwierigkeit: nicht der Realitäts-Nachweis, der innerhalb des Denkens zu führen wäre, macht die eigentliche Schwere der philosophischen Bemühung aus, nicht ob ein Gedachtes real sei oder nicht, ist die entscheidende Alternative, von der für die Erkenntnis alles abhängt — sondern ob es gelingt, von einem Gedachten oder Imaginierten aus den Weg vom Sein zur Erfahrung, der in jedem Falle da ist, herauszubringen — ob es gelingt, die Stationen zu ermitteln, in denen das Imaginierte sich zunehmend konkretisiert, bis es an eine sinnliche Empirie grenzt, an der es dann sich darstellen lassen muß. Nicht eine mögliche Irrealität des Ziels ist das Risiko des philosophischen Unternehmens, sondern die Härten und Wirrnisse eines ungeheuren Weges. Es gibt keine Irrealität, sondern nur ein Nicht-zur-Erfahrung-Kommen — ein Mißlingen, dem keine Notwendigkeit zukommt. Erst mit dieser Erweiterung der Realität um alle willkürlichen Bildungen des Bewußtseins, erst mit dieser das weitest mögliche Schweifen der Einbildungskraft erreichenden Erstreckung auch des Seienden — nicht der Erfahrung — ist logisch der Bereich der absoluten Vollständigkeit abgerundet, die Idee der Totalität erfüllt, von der diese Darstellung ausging und die sie als Maß einer Urteilsmöglichkeit über Einzelvermögen forderte.
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IV. KAPITEL.
KORREKTUR DES SCHEMAS: WIRKLICHKEIT — DENKEN DURCH DAS SCHEMA: WIRKLICHKEIT-DENKEN-WIRKLICHKEIT. DER ORGANISMUSARTIGE ZUSAMMENHANG DER BEWUSSTSEINSVERMÖGEN.
Geben wir, die endlose Ebene der Möglichkeiten vor Augen, die schließlich hier, formal gesprochen, nur die Gewähr darstellt, daß die Realität das Bewußtsein auf keiner seiner auch abenteuerlichsten Expeditionen im Stiche läßt, und der Zweifel sich lediglich darauf erstrecken kann, ob hier der feste Boden einer Empirie de facto erreicht wird oder nicht — einen methodischen Anhaltspunkt dieser konstruierenden Tätigkeit des Bewußtseins, welches die Fülle des real Möglichen braucht, um ein empirisch Wirkliches daraus zu bauen. Zunächst ergibt diese Konstruktion die schon oben angedeutete Bedeutungs- und Stellungs-Veränderung der einzelnen Vermögen des Bewußtsein. Diejenige philosophische Theoretik, welche eine (unsere) Erfahrungs-Wirklichkeit der Bewußtseinstätigkeit gegenüberstellt, welche empirische Welt und Reich der Gedanken, welche den Boden der Tatsachen und die Region des Geistes gegenüberstellt, die sich über dem Gebiet der Erfahrung erhebt — diese Theoretik gelangt notwendig zu einer Art Dreiteilung der geistigen Welt, die sich in die Bereiche der Wissenschaft, der Sittlichkeit und der Kunst zerlegt. Der Kritizismus ist bekanntlich in seinen drei Kritiken der Ausdruck dieser Dreiteilung, in das Wahre, das Gute und das Schöne, und das Bild dieser Weltanschauung läßt uns das Feld der Tatsachen, die Fülle der Erscheinungen sehen, die sinnliche, wenn auch gedachte Mannigfaltigkeit, und über ihr erheben sich die GedankenWesenheiten, die — wenn auch allgemein verbindlichen, so doch — subjektiven Äußerungsformen des auf wahre, auf moralische und auf ästhetische Betrachtung ausgehenden Geistes bis hinauf zu den obersten Begriffsgebieten der Ab-
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straktion, die in den Idealen dieser Bereiche das Ende der geistigen Welt bedeuten, die sich über der irdischen wölbt. Die innere Dreiteilung dieser Welt stellt zugleich die drei Domänen dieser Welt als gleichberechtigt nebeneinander, spricht, zumindest für die Region ihrer Ideale, eine strenge Trennung der drei Bezirke aus, so daß in einem Bereich erfüllt werden kann, was im anderen ewig versagt ist, und muß daher die Eigengegründetheit, die absolute Autonomie der getrennten Gebiete behaupten: Die Wahrheit ist Selbstzweck, das Gute ist Selbstzweck, das Schöne ist Selbstzweck. In diesen drei getrennten Höhepunkten hat man also drei in sich selbst ruhende, durch sich selbst definierte und autonome Ideale zu sehen, und die Wirklichkeit des Geistes, die im Anschluß und in Durchdringung der Erfahrungswelt begonnen hatte, erreicht in ihnen ihr Ende. Dieser aus Erfahrungswelt und Vernunftwelt bestehenden Zweiheit gegenüber ergibt die Konzeption von den zwei Wirklichkeiten, die durch das Feld der Operationen des Bewußtseins getrennt und verbunden sind und die zuletzt zu der Erfahrung zu verschmelzen bestimmt sind, ergibt also diese dreiregionale Theorie: Wirklichkeit — Denken — Wirklichkeit die schon oben angedeutete Bedeutungs- und Stellungs-Veränderung der einzelnen Vermögen des Bewußtseins. Während in der kritischen Konzeption — und mit ihr in allen anderen, in denen eine Zweiheit von höherem Geistigen und Empirie herrscht — gewisse oberste Denkwesenheiten am Ende der Dinge stehen, Denkwesenheiten, die notwendig in sich selbst ihren Sinn erschöpfen müssen und für die Erfahrungswirklichkeit keine unmittelbare Notwendigkeit besitzen, während also, um kantisch zu reden, die objektive Erfahrungswelt ohne die transzendentalen Ideen (die ja nur regulativ sind, nicht Erfahrung ermöglichend), d. i. ohne die höchste Region der Wahrheit, ohne das höchste Gut und ohne das Prinzip des Schönen konstituiert werden kann, indem diese drei Denkwesenheiten nicht für die Erfahrungsermöglichung nötig, also für das Reich der schlichten Empirie der tatsächlichen Wirklichkeit überflüssig sind und auch dementsprechend in sich selbst ihren Sondersinn haben müssen — sind die drei Bewußtseinsvermögen, das des Den165
kens, das des Wollens und das des Fühlens in der hier vorgetragenen dreiregionalen Systematik zu nichts anderem als zur Konstruktion einer zweiten Erfahrung bestimmt und ihr möglicher Sondersinn geht durchaus in dieser Bestimmung auf. Es gibt in dem Schema: Wirklichkeit — Bewußtseinsbetätigung — Wirklichkeit keine — an der Empirie gemessen — überflüssigen Bewußtseinsbetätigungen wie Kunst oder Sittlichkeit, sondern das ganze Bewußtsein mit allen seinen Vermögen wird gebraucht zur Erfahrungsherstellung und die Konstituierung der zweiten Erfahrung oder die Ausfüllung der problematischen ersten, d. i. die Problemlösung wird möglich, weil der Gesamtumfang und die Gesamtintensität aller Bewußtseinsvermögen eingesetzt werden muß gegenüber der kritischen Position, nach der die Problemlösung Sache eines Teils des Bewußtseins, weil das sog. Erkennen als Teil auftritt, ist (dem sie mithin programmäßig mißlingen muß), während die überschießenden Teile sich an Welten auslassen müssen, die es im drastischen Sinne nicht gibt. Nach rein formal philosophischer Einstellung haben zwar die drei Vermögen des Denkens, Fühlens, Wollens einen vernunftgemäßen Ausdruck — es gibt ein ästhetisches Urteil, ein Urteil des gefühlten Sachverhalts, einen Bestimmungsgrund des Willens und einen vernünftigen Glauben — aber die Wahrheit im Sinne der Existenz ist ganz allein einer erkennenden Funktion des Bewußtseins überantwortet, die einen Bereich neben den Bereichen der übrigen Bewußtseinsbetätigungen, neben dem Wollen und Handeln und Glauben, neben dem Fühlen und künstlerischen Gestalten begründet und sich zu diesen äußerlich verhält, ohne daß die Möglichkeit ins Auge gefaßt wird, daß das Erkennen den übrigen Bewußtseinsvermögen nicht äußerlich zu bleiben braucht, sondern ihre Funktionen ständig mit der seinen eine solche Einheit eingehen können, daß der Wahrheits- und Existenzcharakter des Denkens dadurch nicht nur nicht gemindert, sondern überhaupt erst voll eingesetzt wird. Nicht stehen, wie im Kritizismus, Denken, Fühlen und Wollen gleichberechtigt nebeneinander, und die beiden letzteren erhalten ihre Vernunftsive Denk-Ausdrücke — so daß die erkenntnistriebmäßig unerträglichen Zwitterbildungen der Erkenntnis-Unmöglich166
keit, des Vernunft-Glaubens und dergleichen entstehen — nicht also stehen die Vermögen als einander äußerliche nebeneinander, sondern es gilt die Möglichkeit zu begreifen, daß die nicht-erkennenden Bewußtseinsvermögen in ihrem ganzen Umfang einen Ort innerhalb der Erkenntnisbetätigung haben müssen, ohne dadurch deren Wirklichkeitscharakter zu gefährden, daß die Ergebnisse und Tendenzen der wollenden und fühlenden Bewußtseins-Anlagen vor dem Abschluß der Erkenntnisarbeit zu Wort kommen müssen, so daß nicht etwas übrig bleibt, was nach Abschluß der Erkenntnisaufgabe geglaubt oder gefühlt werden muß. Das bedeutet: Das zunächst denkmäßig vollständig unbeeinflußte Wollen und das zunächst denkmäßig vollständig unbeeinflußte freie Bilden der Einbildungskraft müssen vom Denken erkenntnismäßig untergebracht werden, müssen als Indizien der Erkenntnis gewertet werden, wenn diese Vermögen an der Erkenntnisarbeit mitwirken sollen, ohne dieser Arbeit ihren Stempel — den voluntarischen oder unwissenschaftlichen-künstlerischen — aufdrücken zu können. Das tun sie in dem Falle nicht, da sie zwar vollständiges Gehör finden, vollkommen zur Auswirkung der ihnen eigentümlichen Tendenz kommen, aber doch in ihrer bewußtseinsstrukturell festgelegten Stellung zum Denken und Erkennen verharren, kraft deren das Denken und Erkennen in Hinsicht auf die erfahrbare Wirklichkeit nicht gleich-, sondern übergeordnet ist, insofern das erkennende und wirklichkeitkonstruierende Bewußtsein für die wirkliche Erfüllung aller übrigen Tendenzen des Bewußtseins und damit auch für das Genügegeschehen seiner eigenen Erfordernisse verantwortlich ist. Die Erkenntnis also hat entweder eine organische Einheit aller Einzeltendenzen des Bewußtseins herzustellen und ebendamit sein eigenes Vorrecht und Stigma — die Existenzbezogenheit sive Wissenschaftlichkeit — gewahrt oder es hat seine Aufgabe verfehlt. Denken und Erkennen enthält also durch seine Existenzbezogenheit immer ein Mehr gegenüber den nicht-gegebenheits-bezogenen Tendenzen des Bewußtseins, wenn es sie in seine Operationen einbezieht. Es weist aber in bestimmten Punkten ein Weniger auf (siehe z. B. die Postulate der prak-
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tischen Vernunft), wenn es sie n i c h t einbezieht. Jenes Mehr aber sichert ihm das endgültige Eintreten aller Inhalte unter sein erkenntnismäßiges Signum und die Charakterisierung der nicht-erkenntnismäßigen Bewußtseinsanlagen als indices der E r k e n n t n i s , die aber als solche, aus Gründen der Wissenschaftlichkeit, also der Existenz, voll zur Geltung kommen müssen. Die Bewußtseinsvermögen des Wollens und der Einbildungskraft sind also als die erkenntnismäßigen indices einer zweiten Erfahrung zu begreifen, als konstruktive Organe, Werkzeuge der Erkenntnis, die für den hier vorliegenden Fall, daß das Ausmaß der Erkenntnis so weit ist, daß sie das v o l l e In-Tätigkeit-Sein dieser Faktoren benötigt, n i c h t s s o n s t sind und darin ihren Sinn erschöpfen: als konstruierende Agentien einer Erfahrungswirklichkeit, in der ihre Tendenzen erfüllt sind, im Gegensatz zu der gegebenen Erfahrungswirklichkeit, betreffs deren sie überschießend und nicht erfüllt sind, so daß sie sich in — an der Erfahrung gemessen — überflüssigen Gestaltungen L u f t machen müssen 1 ). x) Fühlen, Wollen, Einbildungskraft usw. müssen somit in der Erkenntnis eine Vertretung erlangen nicht nur dergestalt, daß ihre Hervorbringungen abstraktiv beurteilt und eingeordnet werden, daß die Vermögen als solche als begriffliches Objekt der Erkenntnis auftreten, sondern derart, daß sie ihre psychologische Tendenz selbst denkmäßig zum Ausdruck bringen, daß sie ihre Ergebnisse, Inhalte, Produkte wie sonst, nur denkmäßig umgewertet, zu erzeugen vermögen; so wie etwa im kritischen System in einem einzelnen Erkenntnisakt eine Beteiligung der Einbildungskraft konstatiert wird (Kritik der Reinen Vernunft, Elementarlehre, Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, 3. Abschnitt, S. 130, Ausgabe von Carl Kehrbach, Reclam, Anmerkung) allerdings nur eines Keimes der Einbildungskraft, und dort ein Erkenntniselement bedeutet, so muß die volle und uneingeschränkte Betätigung dieses Bewußtseins-Vermögens die Gesamtaktion der Erkenntnis als ein Element durchdringen und sie mitkonstituieren und erforderlich sein für das Erkenntnisprodukt. Ja, wenn man das existenzfähige Endprodukt und die Gesamtoperation des Bewußtseins Erkenntnis nennt, so liegt darin eigentlich nur eine einseitige Akzentuierung des für uns Wesentlichsten, der Erfahrbarkeit des Produkts, die allerdings unerläßlich ist, in Wirklichkeit aber sind an dem Zustandekommen dieses Endeffekts alle Bewußtseinsanlagen in ihrem ganzen möglichen Ausmaß beteiligt und in ihm als ihrem Niederschlag enthalten: der ganze Weg und jeder einzelne Schritt desselben stellt ein vollkommenes wechselseitiges Durchdrungensein dieser in der Abstraktion trennbaren Vermögen dar, und zwar werden alle in der weitesten, uneingeschränktesten Betätigungsform an einer bestimmten Stelle des Weges auftreten; man kann also und muß das Endgebilde der Be-
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Die zweite Empirie wird also konstruiert durch ein organisches Zusammenwirken der Bewußtseinsvermögen, derart, daß nachdem die schlicht-gegebene Erfahrung begrifflich durchmessen — deren Vakua das eigentlich weitertreibende Motiv sind — im Anschluß an diese erste Empirie und in Sonderheit an deren Enklaven von den Bewußtseinsvermögen das unabsehbare Feld des Möglichen, das unendliche Konstruktiorisgebiet, abgesteckt und ausgebreitet wird als die seiende philosophische Rechnungsbasis, auf der die Gebilde nach Belieben hervortreten und verlöschen können. Als frühestes Vermögen entwirft das Wollen mit den Mitteln der Einbildungskraft die voluntarisch konstruierten Umrisse von Wirklichkeitsfragmenten, die als vorläufige Zielerscheinungen des ganzen Prozesses zu begreifen sind; denn das Wollen zieht als die für das eigentlich Fehlende besonders empfängliche Anlage Verbindungslinien von den Enklaven der Empirie zu denjenigen Punkten auf dem Felde des Möglichen, die das positiv ausdrücken, was in der Ausgangswirklichkeit fehlt, und wird so als der eigentliche Richtungsweiser des HalbGegebenen auf eine — vorerst unmögliche — Realisierung drängen. Von anderen Bereichen aus wird das Denken als das Vermögen der Erfahrbarkeit die an den UniversalienVerknüpfungen orientierten Schemata über die Gebilde von Wollen und Einbildungskraft breiten und die vollständige Produktion beider provozieren, um die geometrischen Orte zu gewinnen, an denen die Zielerscheinungen von Willen und Einbildungskraft in die Bedingungen des Denkens eingehen wußtseinsbetätigung genau so als das erfüllte Wunschbild des reinen tendenzmäßig unbeeinflußten Wollens, genau so als die Erfüllung der phant a s i e r e n d e n Tendenz ansehen wie als Befriedigung der E r k e n n t n i s bedingungen. Kurzum: Nicht eine „Theorie" des Fühlens, des Wollens, des Imaginiorens gilt es aufzustellen — nicht eine denkmäßige Systematik der übrigen Vermögen bildet den Abschluß der Philosophie (wie die Kritiken des Kritizismus) — sondern diese V e r m ö g e n s e l b s t müssen unter einem Regulativ des Erkenntnisvermögens, d. h. geordnet, nicht beschränkt in das philosophische Unternehmen voll e i n t r e t e n : Philosophie ist keine Angelegenheit des Denkens, sondern aller Vermögen unter dem Regulativ des Denkens, welches auf nichts mehr zu achten hat als darauf, die übrigen Vermögen voll zu p r o v o z i e r e n statt — wie jetzt —- ihre „Maßlosigkeit" vom Erkenntnisbereich abzuwehren. 169
und mit seinen systematischen Konkretisierungen koinzidieren können, ohne in ihrer eigenen — voluntarisch-imaginativen Tendenz eingeschränkt zu sein. Denn das ist eine Bedeutung der immer fortsetzbaren Ebene des Möglichen, daß kein Kompromiß zwischen den Anlagen erzwungen zu werden braucht, insonderheit aber keine Anpassung der gewollten Wirklichkeit an die Bedingungen der gegebenen. Die Konkretisierungen des Denkvermögens nun, die also den durch das Wollen bezeichneten Inhalt in sich aufgenommen haben, bis dicht an die Grenze eines empirisch Gegebenen herabgeführt, aber immer noch durch die Übergangslosigkeit zwischen positivem Gegebensein und Vakuum getrennt (wenn auch das Vakuum hier schon durch ein strukturmäßig heterogenes Positivum — als Resultat der Konkretion — repräsentiert wird) — diese Konkretisierungen des Denkvermögens sind nun bestimmt, das zu leisten, was innerhalb des Materials der ersten Empirie zu leisten unmöglich war, wie das Vorhandensein der Negativa erwies: Die an die Stelle dieser Negativa tretenden Konkretionen, die also aus den Inhalten des Wollens, der Einbildungskraft und den systematischen Universalienverbindungen des Denkvermögens außerhalb der ersten Empirie entstanden, aber zur Möglichkeit einer Erfahrung verdichtet und so in die wenn auch noch unüberbrückte Nähe des Gegebenen gerückt sind, enthalten diejenigen Momente zu einer Behandlung der Grenz-Positiva der ersten Erfahrung, die in eben dieser Erfahrung nicht enthalten sein konnten, weil die Vakua gleichzeitig die Träger des ersten Erfahrungssystems und als solche — und soweit sie solche sind — notwendig unsichtig und unzugänglich, d. h. der Behandlung entzogen sein mußten. Das Erfahrungssystem kann als solches, d. h. als ein System unter mehreren möglichen, gar nicht bewußt werden, solange die Unsichtigkeit der Träger einer Alterationsmöglichkeit einen Behandlungszugang dieser Träger verhüllt. Denn alsdann bedeutet jede Abwandlung in den Angelpunkten der Erfahrung ein anderes erfahrbares System, wie Schlaf und Wachen (im kleinen) andere Erfahrungssysteme infolge der Alterationen der Erfahrungsträger sind. Die Grenz-Positiva, d. i. die den Enklaven an-
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liegenden Inhalte der gegebenen Empirie enthalten eine von den Aussagen der Geschehensregeln und -gesetze freie Seite, aber hier war von der Empirie aus eben deshalb nichts formulierbar und angreifbar, weil diese freie Seite zum Vakuum mitgehörte. Diese freie Region an der Grenze der positiven Gegebenheiten wollte der Okkultismus mit beliebigen empirischen Fakten besetzen, d. h. er wollte hier nach Art des gewöhnlichen Wissenschaftsfortschritts fortschreiten. Die gewöhnliche Wissenschaft aber schreitet vom Innerhalb der Erfahrung aus, innerhalb von deren Positiven weiter — das Denkvermögen als Exponent der philosophischen Bemühung schreitet vom Außerhalb der Erfahrung her auf diese zu (aber nicht inhaltleer wie die Formalphilosophie) und in dem Moment, da die fortgesetzten Konkretionen in die Nähe der Erfahrung gelangen, ist auch der Augenblick herangekommen, in dem sich die theoretischen Hervorbringungen des Denkens als die Hervorbringungen eines Organs erweisen, d. h. sich in Methoden des materiellen Eingriffs in diejenige Sphäre der ersten Empirie umsetzen müssen, deren Regeln und Reaktionsgesetze infolge ihres Hineinreichens in das Vakuum nicht gegeben sein konnten. Und diesem Vakuum ist nicht zu nähern als durch einen Umweg über alle Welten und in der Konstruktion einer einzigen Tatsächlichkeit, die eine ganze Welt involviert. Mit dem Heranrücken der vom Bewußtsein konstruierten Wirklichkeit an die Ausgangserfahrung ist also zugleich die Möglichkeit gegeben, die Grenzsphäre dieser Ausgangserfahrung anzugreifen und zu psychophysischen Wirkungen zu veranlassen, die nicht mehr im vormaligen Anblick der Erfahrung unterzubringen sind, sondern als das Positivtun der vordem negativen Gegebenheit nur in den Existenzlücken der ersten Empirie. Denn diese Lücken — als Enklaven inmitten eines Erfahrbaren —bilden zugleich die Gewähr für die Existenz eines Erfahrungsmaterials von heterogener Struktur, und wenn irgendwie, so verwandelt sich hier das metaphorische a priori und Gesetze-vorschreiben des Denkens gegenüber der Natur in ein wirkliches und nicht nur in ein wirkliches Präformieren, sondern in ein Bauen.
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V. KAPITEL.
DIE BEWUSSTSEINSTHEORETISCHE LEGITIMIERUNG AUSSEREMPIRISCHEN REALSEINS. DICHTUNG UND ERKENNTNIS ALS FRAGMENTE DER ZERRISSENEN BETÄTIGUNGSGANZHEIT DER BEWUSSTSEINSANLAGEN. Wir haben aus dem Zweckbegriff der Erkenntnis jene Totalität deduziert, von der wir anfangs ausgingen und aussagen mußten: diese Universalität der voll ausgeweiteten Bewußtseinsvermögen sei das Maß und die Urteilsgrundlage jeder anderen Ausdrucksform des Bewußtseins, die nicht jene Totalität sei. Wir haben nun in der Sphäre der geistigen Betätigungen nur Ausdrucksformen des Bewußtseins vor uns, die nicht jene Totalität sind: die Wissenschaften, die Philosophie, die Kunst, die Religion, die Technik usw. Was sind nun dies für Ausdrucksformen, gemessen an jener Totalität des Bewußtseins? In jeder dieser Ausdrucksformen ist das Ganze des möglichen Bewußtseins zugunsten irgendeines der vielen Sondervermögen eigentümlich verkürzt, genauer genommen verzerrt, insofern als alle anderen Bewußtseinsanlagen bis auf das eine, prävalierende, das der betr. Ausdrucksform den Begriff gibt und sie zu Wissenschaft, Kunst, Philosophie oder was immer macht, — insofern als alle anderen eigentlich zu mehr oder minder geringfügigen Äußerungen ihrer möglichen Ausmaße atrophiert sind. In der Wissenschaft etwa wird die freie Einbildungskraft mit voller Absicht zurückgehalten werden müssen, in der Kunst das Erfordernis des wissenschaftlichen Denkens eingeschränkt sein usw. Da aber nun doch in jeder dieser vielen geistigen Betätigungsformen auch die nicht prävalierenden Anlagen, wenn auch unterdrückt, mitreden und mitwirken — so haben wir in allen diesen Ausdrucksformen des Geistes exzentrische Ganzheiten vor uns: d.h. Wissenschaft, Philosophie, Religion, Kunst usf.
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stellen jede das Ganze des Bewußtseins mit jeweils anders verschobenem Schwerpunkt dar — so daß diejenigen Bewußtseinsvermögen, in deren Bereich der Schwerpunkt nicht liegt, in einer solchen exzentrischen Ganzheit buchstäblich „zu kurz kommen". Welches ist nun das Verhältnis aller dieser exzentrischen Ganzheiten, Kunst, Philosophie, Wissenschaften usw. zu jener oben behandelten nicht exzentrischen Bewußtseinstotalität, die doch etwas anderes sein muß als die Summe aller jener Bewußtseinsbetätigungen, die wir hier als spezifische Ganzheiten der universalen Bewußtseinsganzheit gegenüberstellen wollen. Welches ist das Verhältnis der spezifischen zur universalen? Diese Frage ist eine doppelte: erstens eine systematische: Welches ist der Sinn des spezifizierten Ganzheitsseins gegenüber dem universalen? Zweitens: eine historische: Welches ist das vorangegangene Kausalstadium, d. h. wie entstehen diese spezifischen Ausdrucksformen des Bewußtseins? Wie kommt es zu Einzelerscheinungen wie Wissenschaft oder Kunst, warum sind spezifizierte Phänomene wie Philosophie, Dichtung, Technik u. dgl. Tatsachen der empirischen geistigen Welt und liegen als geistesgeschichtliche Produkte vor unseren Augen, warum ist die universale Bewußtseins-Ganzheit keine Tatsache, warum drückt sich die innere Logik und teleologische Berechtigung der universalen Bewußtseinsganzheit nicht auch empirisch aus? Wir sagten oben, die Bewußtseinstotalität sei das Bewußtsein, das seinem teleologischen Erfordernis genüge, sei das Bewußtsein der Wahrheit. Wenn das auch eine Antwort dafür bedeutet, warum es ohne weiteres nicht als geistesgeschichtliche Tatsache anzutreffen1 sei, so bleibt doch zu fragen, wo die Tendenz zu dieser Universalität empirisch geblieben sei. Man wird antworten, die Tendenz zu dieser Universalität sei die Philosophie. Aber darauf ist zu entgegnen, daß die Philosophie bestenfalls doch nur die Tendenz zur Universalität hinsichtlich der einzelnen Wissenschaften sei, daß sie nur die Ganzheit aus den einzelnen Objekten der einzelnen Wissenschaften im Auge habe und damit allerdings 173
auf die Ganzheit der Erfahrung überhaupt ziele. Wie kommt es indessen — würden wir weiter fragen — daß, wenn die Philosophie die Ganzheit der Erfahrung zu fassen trachtet, es außerhalb ihrer noch andere Betätigungsformen des Geistes gibt wie Kunst und Religion, und wo ist die Universaütät geblieben, welche wieder die Philosophie und diese anderen übrigen Betätigungsformen des Geistes umgreift? Diese letzte Universalität, wird man antworten, ist eine Idee und sie wird ausgedrückt durch eine Architektonik aller Betätigungsausdrücke des Geistes — und solche Idee nebst ihrer Architektonik darzustellen ist ebenfalls Aufgabe der Philosophie: denn der Geist und seine Äußerungsformen gehören ja mit zu dem gesamten Erscheinungsfelde der Erfahrung — die Idee und die Architektonik aller Arten der Bewußtseinsbetätigung (der wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen) bildet in der Tat das oberste Schema der philosophischen Systeme: etwa des kritischen oder des Hegelschen und vieler anderer. Aber wir sind mit dieser Antwort nicht zufrieden. Denn was wir suchen ist nicht eine Universalität des Gedankens, besser: ist nicht eine gedachte Umfassendheit, wofür Begriffe genug zur Verfügung stehen, nicht eine reinbegriffliche Schematik bestehend aus Über- oder Neben- oder Unterordnungen —, sondern wir suchen eine Universalität der Betätigung selbst. Philosophie ist eine Universalität der B e t ä t i g u n g in bezug auf die Wissenschaften — wo ist die Universalität der Betätigung in bezug auf Philosophie und die Betätigungsformen, die sie außer sich lassen muß, also Kunst, Religion usw. ? Diese Universalität, könnte man einwerfen, kann es konkreterweise nicht mehr geben oder sie kann nicht zu einem empirisch konkreten Ausdruck kommen, weil ein Ziel, das allen geistigen Betätigungsformen als gemeinsames vorangesetzt werden könnte, notwendig ein so allgemeines sein muß, daß schlechthin jede mögliche geistige Betätigung ohnehin als Streben zu diesem allgemeinen Ziele begriffen werden kann, ja muß — aber eine spezifische, charakterisierte Betätigungsform kann es da nicht mehr geben. Hier ist doch, könnte dieser Einwurf fortfahren, offenbar von einer Universalität die Rede, die auch nicht vorhanden
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sein könnte, der man sozusagen auch zuwiderhandeln können muß, indem man ein geistiges Verhalten, das dieser universalen Tendenz entspricht, unterläßt. Aber diese Freiheit herrscht gegenüber dem obersten Prinzip, das alle Betätigungsformen des Geistes umfaßt, nicht — ihm kann nicht mehr ausgewichen werden wie man einem sekundären Gebiet, etwa dem der Philosophie, ausweicht, indem man sich auf ein anderes sekundäres Gebiet, etwa das der Kunst, begibt: nehmen wir an, in irgendeiner philosophischen Architektur sei „Wahrheit" zu einem derartig umfassenden Begriff geworden, daß unter ihn auch die höchsten Zwecke der Kunst und der Religion fallen, so mag der Geist auf welchem Gebiet immer sich betätigen, immer dient er irgendwie diesem obersten Prinzip. Also gibt es keine bestimmte, keine besondere Betätigungsform mehr, in der gerade diesem allgemeinen obersten Überbau Rechnung getragen wird, wie man durch ein besonderes Verhalten etwa zum Allgemeinen aller Einzelwissenschaften Rechnung trägt: im typisch und ausgesprochen philosophischen Verhalten, in der spezifischphilosophischen Betätigung. Genau so, wie alles Existierende nicht aus dem Bereich des Seins heraustreten kann, so wenig kann irgendein Bewußtseinsverhalten aus einem Prinzip herausfallen, das zuvor als das oberste statuiert worden ist. Auf all das ist zu sagen: Der Unterschied dieser soeben dargestellten „Idee der Totalität der Bewußtseinsäußerungen" zu der oben abgeleiteten Äußerungsgesamtheit der Bewußtseinsanlagen ist derselbe wie der zwischen einer erkannten, selbst als real erkannten und einer betätigten Beziehung. Die erkannte Beziehung setzt nämlich ein Sein voraus, das erkannt wird: nämlich das Sein der verschiedenen Bewußtseinsausdrücke Kunst, Wissenschaft, Religion u. dgl. und das Sein einer allgemeinen ihnen zugrundeliegenden Einheit. Die betätigte Beziehung aber ist nicht, wenn sie nicht betätigt wird, und ist erst, wenn sie betätigt wird. Entweder sind Kunst, Wissenschaft, Religion bereits eo ipso eine „Einheit" — und das sind sie nur in einem sie umgreifenden obersten Begriff, in einer ihnen übergeordneten Idee — oder sie sind es noch nicht und müssen erst 175
durch ein besonderes Verhalten zu einer Ganzheit gemacht werden. Der erste Fall ist der einer fatalistischen Ganzheit, der gar nicht ausgewichen werden kann, der Fall der schematischen Architektonik, die alle Bewußtseinsbetätigungen zusammenfaßt, aber eben bloß begrifflich •— der zweite Fall ist der, da dieser Ganzheit sehr wohl entgegengehandelt werden kann, ebenso wie ihr durch eine ganz bestimmte Einstellung innerhalb der einzelnen Bewußtseinsbetätigungsarten Rechnung getragen werden kann, aber nicht muß. Der erste Fall ist der der ohnehin gegebenen, dafür aber bloß begrifflich ausdrückbaren Ganzheit — der zweite Fall ist der uns hier beschäftigende der erst zu bewirkenden Ganzheit aller Bewußtseinsbetätigungen. Wenn etwa in der Hegeischen Philosophie Kunst, Religion und Philosophie unter den Oberbegriff „absoluter Geist" gestellt werden, so entsprechen jene drei Bewußtseinsbetätigungen diesem sie alle drei umfassenden Begriff ohne Rücksicht darauf, was in jedem der drei Bewußtseinsbetätigungen geschieht: Sie sind eo ipso Ausdrücke des absoluten Geistes — sie können (nach der Absicht jener Systematik) nicht anders als Ausdrücke des absoluten Geistes sein. Es gibt kein besonders typisches „Absoluter Geist-Verhalten". Trotzdem ist die Ganzheit „Absoluter Geist" stets und ständig gegeben und vorhanden. Ganz anders im Falle der oben deduzierten Bewußtseins-Totalität: Diese ist gar nicht vorhanden, solange die einzelnen Bewußtseins-Anlagen sich in spezifisch getrennten Bewußtseinsbetätigungen äußern: das Erkennen und Wahrnehmen in den Wissenschaften oder die bildenden und empfindenden Anlagen in den Künsten — solange diese Betätigungsformen an sich getrennte Gebiete sind, die nur begrifflich zu einem Ganzen verbunden werden können, solange ist diese Ganzheit kein typisches Verhalten und keine spezifische Betätigung. Erst wenn in den bis dahin getrennten Gebieten selbst solche Modifikationen vorgenommen werden: Einstellungs-Änderungen, die darin bestehen, die Teile zu vereinbaren Teilen zu machen, indessen sie vordem unvereinbar, d. h. nur begrifflich zusammenzubringende 176
Teile waren — erst, wenn eine reale Kommunikation in Gang gebracht werden kann zwischen den verschiedenen Betätigungsformen des Bewußtseins, eine Kommunikation, derzufolge die einzelnen Bewußtseinsvermögen, statt jedes unter seiner eigenen Norm, für eine erweisbar oberste Norm hervorbringen — erst wenn etwa die bisher nur als Kunst auftretenden Hervorbringungen notwendig, unerläßlich werden für die Resultate der bisherigen „Philosophie" — erst dann wird aus den jetzt heterogenen Betätigungsformen ein Bewußtseinsorganismus, der die Totalität seiner Anlagen in einem typischen Verhalten betätigt — ein spezielles Verhalten, welches sich zu den heutigen Ausdrucksformen von Philosophie, Religion, Kunst, Wissenschaft, Politik so verhält wie bisher die Philosophie zu den Einzelwissenschaften. Gegenwärtig aber betätigt sich der Bewußtseinsorganismus als Ganzes überhaupt nicht, sondern nur alle seine Teile betätigen sich gesondert — als Ganzes wird der Bewußtseinsorganismus höchstens in einigen philosophischen Systemen analog dem Hegeischen (wenn auch als seiend) gedacht. Es gibt mithin bei jedem Bewußtseinsvermögen zwei Arten der Betätigung: erstens sein Funktionieren unter einem obersten Gesichtspunkt, der aus eben diesen bestimmten Bewußtseinsvermögen selbst stammt: z. B. das frei imaginierende Vermögen produziert unter einem Signum, dem das freie Bewußtseinshervorbringen selbst oberster, legitimierter Zweck ist. Oder die erfahrende Wahrnehmung arbeitet unter einem Signum, das in der erfahrenden Sinnenhaftigkeit einen autonomen obersten Selbstzweck enthält. Die Anlage selbst gibt ein oberstes nicht weiter zu legitimierendes Betätigungsprinzip ab: Die phantasierende Anlage selbst ist Rechtfertigungsprinzip dafür, daß imaginiert wird. Aus diesen Signaturen der einzelnen Vermögen: Imaginieren, Wahrnehmen, Empfinden, Denken bilden sich dann Gebiets-Begriffe, Bewußtseinsbetätigungs-Bereiche und normgebende akzentuierende Ideen heraus: die Erkenntnis, die empirische Wahrnehmung, die Kunst usf. In ihnen gelangt man zu einer Mehrheit von obersten Werten, die nebeneinander stehen und nur durch das allen Gemeinsame, aber nicht durch eine Ganzheit verbunden sind: Das GemeinU n g e r , Wirklichkeit.
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same einer Reihe von Specifica liegt ja in dem, worin, sie sich nicht voneinander unterscheiden (z. B. dem Geist-Chäräkter als solchen), das Ganze aber bedarf gerade des Spezifischen in einer Reihe von Specifica, also gerade dessen, worin sich die Specifica wohl unterscheiden, das Ganze bedarf gerade des Typischen seiner Einzelheiten, um Ganzheit zu sein. Zur Ganzheit aber kommt es in vorliegendem Falle nicht, weil das allen Bewußtseinsvermögen Gemeinsame, etwa „seelische Wesenheit überhaupt", gar keine Ganzheit konstituieren kann, die ja immer eine „Gestalt" haben muß, d. h. auf irgend etwas gerichtet sein muß, d. h. einer Besonderheit bedarf, durch die sie definiert ist. Diese Gestalt oder Besonderheit oder dieses Gerichtetsein kann aber aus den gegebenen Bewußtseinsvermögen gar nicht abgeleitet werden, d. h. sie ist gar nichts, das im Umkreis des bloßen Bewußtseins gefunden werden kann, sondern kann nur sich ergeben durch ein Bezogensein des Gesamtbewußtseins auf ein Außerhalb seiner. Denn der Ganzheitsbegriff ist durch den Zweck-Begriff bedingt und Zweck enthält eine Richtungsbeziehung auf ein Außerhalb der zweckmäßig gestalteten Wesenheit, genau so wie „die Ursache" auf ein Außerhalb der kausierten Gegebenheit weist. Dieses Außerhalb des Bewußtseins, auf das seine Ganzheit allein bezogen werden kann, aber ist die Realität schlechthin. Die Wirklichkeit gibt das indicium dafür ab, wie die Zweckbedeutung des Bewußtseins dazu dienen könne, ein Gestaltetsein, Gerichtetsein, Organisiertsein der Bewußtseinsanlagen zu einer Ganzheit zu ergeben. Das Wirkliche nämlich, das Wirklichsein als solches, ist in den verschiedenen Bewußtseinsanlagen nicht von gleicher Wesentlichkeit und Geltung. Es ist z. B. in entscheidender Weise in Geltung im Umkreis der erkennenden Anlagen, in herabgeminderter Weise im Umkreis des wollenden Vermögens, in gar keiner Geltung im Bereich des frei imaginierenden Vermögens. Wenn also das erkennende Vermögen dasjenige ist, welches am intensivsten an das Außerhalb des Bewußtseins, ans Realsein, grenzt, so wird einerseits im Erkenntnischarakter am präzisesten Zweck und Sinn der Bewußtseinsganzheit an178
zutreffen sein, andererseits aber dieser Erkenntnischarakter dadurch von der üblichen Erkenntnisbetätigung zu unterscheiden und dahin zu modifizieren sein, daß außer dem im engeren Sinne denkenden und erfahrenden alle übrigen Bewußtseinsvermögen in ihren sämtlichen möglichen Hervorbringungen unter das Signum der E r k e n n t n i s , d.h. aber unter den Gesichtspunkt der R e a l i t ä t rücken. Mit anderen Worten: so wie das Erkennen nicht eine bewußtseinsimmanente Tätigkeit des Subjekts, sondern Erkenntnis einer Wirklichkeit ist, so wird in jeder anderen Bewußtseins* anlage ebenfalls die Beziehung auf ein Realsein auftreten müssen, und es wird gerade das uneingeschränkteste Intätigkeitsein der realitätsfernen Vermögen als Realitätsausdruck umgewertet werden müssen — es wird jedes Wollen als das Wollen einer W i r k l i c h k e i t , jedes, auch das hemmungsloseste, Imaginieren als I m a g i n a t i o n einer W i r k lichkeit begriffen und gewertet werden müssen, wenn der Ausdruck der Bewußtseinsganzheit, nämlich das Gestaltetsein des Bewußtseins durch das Moment der Wirklichkeit, in allen Anlagen, die ebendadurch zur Kommunikation gebracht werden, zur Geltung kommen soll. Aber ebendadurch wird vieles umgestaltet: Der Begriff des Wirklichen rückt mehr und mehr vom Inbegriff des Empirischen ab, die Empirie verwandelt sich aus dem alleinigen Repräsentanten des Wirklichen in ein Ausgangs- und in ein Ziel-Gebilde, die beide als e r f a h r b a r e R e a l i t ä t von dem zwischen ihnen liegenden konstruktiven Wirklichsein logisch und zeitlich getrennt sind — ein Wirklichsein, das durch kein anderes Merkmal vom bloßen Bewußtsein unterschieden ist als durch die Tendenz zur Bewußtseinstranszendenz, d. i. als durch das Verbindungsstreben zu einer Erfahrung: zu den zugrunde hegenden denkauslösenden und zu den teleologischen, denkbefriedigenden Erfahrungsgebilden. Wirklichkeit zerlegt sich aus einem Gegebensein in ein positives Gegebensein (die Ausgangsempirie) und in ein n e g a t i v e s Gegebensein, den Stellvertreter einer Ziel-Wirklichkeit, Realität verwandelt sich aus einem Gegebensein in einen Ziel-Ausdruck: Realität ist nicht nur Grundlage der Erkenntnis, sondern ebenso gemäß dem oben Dargestellten ihre Konstruktionsaufgabe. Dieselben 12*
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Bewußtseinsanlagen aber, welche vordem eine jede nur unter ihrem eigenen Signum produzierten, d. h. deren Gebietsbegriffe, wie Kunst, Religion, praktische Vernunft, sie von der Kommunikation mit der theoretischen Erkenntnis abschnitten, indem ihr Ziel ein anderes war als Erkennen, nämlich Gefühl und Phantasie, dieselben Bewußtseins-Anlagen werden so zu den konstruierenden Agentien einer teleologischen Erfahrungsrealität, und es entsteht dann ein Unterschied zwischen dem, was diese Anlagen mit und dem, was sie ohne oder gegen diese Perspektive und diese Tendenz hervorbringen, d. h. produzieren, damit es außerhalb des universalen Schema der Erkenntnis-Tendenz verbleibe und irgendeine vorläufige Wirkung tue: eine rein künstlerische, rein glaubensmäßige, rein willensmäßige, rein affektmäßige oder jedwede andere teilanlagenartige. Kurzum: Jene geistige Betätigung, welche sich gerade die willkürlichen und empiriefernsten Hervorbringungen des Bewußtseins zum Gegenstand nimmt und sie aus der bloßen Affekt-Perspektive etwa der „künstlerischen" oder „religiösen" in die Real-Perspektive rückt, welche es nicht auf den Affektwert, sondern auf den unangezweifelt anerkannten und entscheidenden Erkenntniswert derjenigen Gebilde absieht, die die gegeben empirisch eingestellte Erkenntnis für realitäts- und erkenntnismäßig irrelevant bezeichnen würde, weil sie das Signum der bloßen Bewußtseinshervorbringung zu deutlich tragen, — diese geistige Betätigung ist allein bestimmt, über der Philosophie im herkömmlichen Sinne und den übrigen Bewußtseinsbetätigungen diejenige Ganzheitsbetätigung zu konstituieren, die die Philosophie im üblichen Sinne nur über den einzelnen W i s s e n s c h a f t e n konstituiert. Die Einheit über den einzelnen Wissenschaften wird erzeugt von einer an der Empirie orientierten Philosophie. Die Einheit über dieser Philosophie und allem übrigen außer ihr: die Einheit über dieser Philosophie, Kunst, Religion wird erzeugt von einem Betrachtungs- und Frage-Verhalten, welches die Realfrage gerade auf alle nicht erkenntnismäßigen Inhalte ausdehnt. Hiermit ist ein typisches Verhalten, eine besondere spezifische Tätigkeit gegeben, welche dennoch Ausdruck der Bewußtseinsganzheit ist.
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Hinsichtlich der einzelnen Bewußtseinsvermögen aber ist dies die zweite Art der beiden möglichen Betätigungen (deren erste ein Funktionieren des Bewußtseinsvermögens unter seinem eigenen Signum und seinem eigenen GebietsBegriff ist): das In-Tätigkeit-Sein der Bewußtseinsanlage unter einem Signum, welches nicht das farblose Signum aller Vermögen, sondern das charakterisierte Kennzeichen der Bewußtseinsganzheit ist, welches involviert: die Verwertbarkeit und Austauschbarkeit der Hervorbringungen aller Bewußtseinsvermögen, um sie der Perspektive und Tendenz jeder einzelnen Anlage zu unterstellen. Mit anderen Worten: Es ist zu unterscheiden das Hervorbringen jedes Bewußtseinsvermögens unter seinem eigenen signum und unter dem signum der Realität, welche nichts ist als das Signum der Bewußtseinsganzheit. Es handelt sich also darum, das Prädikat des Wirklichseins über die erkennenden Anlagen hinaus, gemäß dem oben Dargestellten, auf den Umfang des ganzen Bewußtseins, aller Bewußtseinsanlagen, zumal der extrem, d. i. rein bewußtseinsmäßig, betätigten auszudehnen — dies aber andererseits nicht zu dem Zwecke, irgendeine „wahre Welt" oder eine „Ideenwelt" zu gewinnen, die der Welt der erkennenden Anlagen (oder der Empirie) als ein ewiges ruhendes Gegenüber entgegengestellt wird, sondern es handelt sich darum, diese unendliche Ausdehnung der Realsphäre zu begreifen als das notwendige Konstruktionsgebiet einer Erfahrung. Die Bedeutung der außerempirischen Realität ruht zum wesentlichen darin, daß sie nicht ein ruhendes Gegenstück der empirischen Realität ist, sondern daß es von ihr aus einen Fortgang zu einem Erfahrbaren gibt, d.h. daß sie realer Konstruktionsboden einer Empirie ist. Der Begriff der außerempirischen Realität nun unterstand bisher immer nur einer sog. transzendentalen Diskussion, d. h. einer Erörterung über die Beziehung zwischen Erkenntnis und Realität, er läßt sich aber auch rein bewußtseinstheoretisch legitimieren, insofern er das einzige ist, welches die einzelnen Bewußtseinsanlagen zu einer Ganzheit bringt, d. h. zu jener oben abgeleiteten Bewußtseins-Einheit, welche nichts mit der formalen l8l
logischen Einheit der transzendentalen Apperzeption und nichts mit der formalen psychologischen Einheit, dem „Ich", zu tun hat, sondern welche das wechselseitige Kommunizieren der voll ausgeweiteten sämtlichen Bewußtseinsvermögen bedeutet. Diese Kommunikation bringt nur der Sachverhalt der außerempirischen Realität zuwege, welche das Bindeglied zwischen den Tätigkeiten der Bewußtseinsanlagen ist, ohne welches sich diese Tätigkeiten den GebietsBegriffen der einzelnen Anlagen unterstellen, d. i. aber sich voneinander trennen: Es gibt nämlich kein Mittel, eine Arbeitswechselwirkung zwischen den Anlagen in Gang zu bringen, etwa das Produkt der frei hervorbringenden Einbildungskraft z. B. für die Erkenntnis verwertbar zu machen, als die Ausdehnung des Realsachverhalts über alle Anlagen des Bewußtseins, d. i. z. B. auch auf die imaginierende. Wollte man einwerfen: aber es ist vielleicht nicht verwertbar, so hieße das eo ipso die ganze phantasierende Anlage aus dem Bewußtseinsganzen zu verweisen und für überschießend, überflüssig zu erklären. Denn Erkennen und Einbilden z. B. blieben unüberbrückbar geschieden, wenn nicht die bloße Form der Realität, eine sozusagen suspendierte Realität auch den Hervorbringungen der Imagination zuzusprechen wäre. Nur eine Realität bindet die Hervorbringungen der einzelnen Fähigkeiten aneinander, und zwar bindet sie die Fähigkeiten zwecksetzend, teleologisch aneinander, während der bloße Bewußtseinscharakter, das rein psychische Merkmal in allen Vermögen sie nur seinsmäßig zusammengehörig macht, ihre Betätigungen aber getrennt läßt. Außerempirische Realität also ist diejenige Form der Realität, welche allen nichterkennenden Anlagen des Bewußtseins auf der Objekt-Seite entspricht, und es ist notwendig, die erfahrbare Realität in dieser Form fortzusetzen, weil der bloße Bewußtseins-Charakter einen BetätigungsZusammenhang der Anlagen nicht entstehen läßt. Erfahrbare Realität aber ist die Form der Realität, welche der erkennenden Anlage im engeren Sinne, d. i. am Anfang und am Ende ihres Weges, auf der Objekt-Seite entspricht. Es ergibt sich somit die merkwürdige UmkehrungsParadoxie, daß es von der Erkenntnis, als dem zuständigen 182
Organ der Realität, aus und durch die transzendentale, d. i. real bezogene Überlegung, schwerer einen Zugang zu einer nicht empirischen Realität gibt als durch die bewußtseinsimmanente Argumentation: denn die außerempirische Realität wird auf bewußtseinsimmanente Weise durch eine Betätigungs-Ganzheit des Bewußtseinsorganismus legitimierbar. Wir haben also genau zu unterscheiden: eine außerempirische Realität, welche irgendeinem bestimmt qualifizierbaren gedanklichen Gebäude, einem irgendwie gegliederten, beschreibbaren Gedankengebilde zukommt: der Idee Gottes, den Urbildern der empirischen Dinge, der Substanzwesenheit oder der Architektonik der Monaden oder jedem systematischen außerempirischen definierbaren Etwas — das ist der Begriff der außerempirischen Realität, wie sie gemeinhin verstanden wird — oder: ein außerempirisches Realsein, welches jeder möglichen Bewußtseinsbildung ausnahmslos zukommt — ein Sachverhalt, gemäß welchem außerempirische Realität erkenntnistheoretisch gar nichts anderes ist als die Gegebenheitsweise der Produkte der nichterkennenden Bewußtseinsvermögen — metaphysisch, d. i. objektmäßig betrachtet, die „realen Möglichkeiten" der Goldbergschen Ontologie, die sich von aller übrigen nichtempirischen Reaütät dadurch unterscheiden, daß in ihnen dem außerempirischen Sein keinerlei Bestimmtheit, Gestaltetheit, Ausgewähltheit, keinerlei Struktur und Qualifiziertheit zuerkannt ist, wie sie noch jedem irgendwie definierten Begriff zukommt: die „realen Möglichkeiten" sind nichts als ein objektiver, als der Realitäts-Ausdruck der unendlichen vollziehbaren Bewußtseinsbildungen selbst. Wir aber sind hier, auf diesem, sei es erkenntnistheoretischen, sei es metaphysischen Fundament fußend, dabei angekommen, festzustellen, daß dieses Fundament — nämlich das zum Abschluß, das zu Ende gebrachte Deckungsverhältnis von Sein und Bewußtsein — seinerseits auch dadurch verifiziert werde, daß nur durch dieses eine BetätigungsGanzheit aus den einzelnen Anlagen des Organismus zustande gebracht werden kann: durch die Ausdehnung der Realsphäre auch auf die Hervorbringungen der nicht erkennenden Vermögen. Diese Betätigungs-Ganzheit erfordert die außerempi183
rische Realität, und durch diese Ganzheit, als Bedingung ihrer, wird jene legitimierbar. Außerempirische Wirklichkeit bedeutet also hier nicht: die „wahre Welt" — sondern das Möglichkeitsreservoir, das Realitätsreservoir einer anderen empirischen Wirklichkeit — oder mit anderen Worten: jeder zukünftigen Realität, an der „der" Mensch oder die Menschheit — wie es aus dem „Herstellungsprinzip" der angegebenen ontologischen Systematik folgt — wirklichkeitsschaffend beteiligt ist. Die sog. philosophischen Probleme sind oben als Vacua inmitten des gesamten gegebenen Erfahrungsbildes definiert worden, als leere Stellen, deren Minus-Charakter keine bloße Bewußtseins-Angelegenheit, sondern ein objektiver ist. Diese negativen Regionen inmitten der Erfahrungswirklichkeit sind als die Orte bezeichnet worden, an denen die außerempirische Realität in erfahrbare Daten umzusetzen sei, die bis dahin „fehlen" — die Negativa auszufüllen, ist als das eigentliche Ziel der Erkenntnis- und Wirklichkeits-Bestrebung begriffen worden. Es bestehen mithin folgende Möglichkeiten: Erstens: Das Außerhalb der empirischen Realität ist nicht irgendein qualifiziertes Gegebensein, nicht irgendeine spezifische Wesenheit, ist keine artikulierte Welt, sondern ist, solange und soweit es ein Außerhalb ist, ein Negativum, das aber in die Realitätssphäre fällt. Es ist unbestimmtes, als Lücke, sozusagen als unsichtige Grundebene gegebenes Realsein, von dem sich die empirische Wirklichkeit als positives Gegebensein abhebt — eine Positivität, die ihrerseits an allen sog. „problematischen" Stellen durchbrochen ist, d. h. keine Daten enthält, und welche die als ledigliches Minus erfaßbare Region der Realität durchscheinen läßt. Wenn dem so ist, d. h. wenn der nichtgegebenen Sphäre gleichwohl Realität zukommt, so wird erstlich die Ganzheit des Bewußtseins beansprucht (als welche durch nichts anderes beansprucht werden kann als durch eine Realität), und zweitens haben eben damit alle Einzelvermögen des ganzen Bewußtseinsorganismus ihren Ort: nämlich: die erkennenden und empfindenden an der gegebenen (empirischen), die
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bildenden und wollenden an der nicht-gegebenen (außerempirischen) Wirklichkeitsregion und die Kommunikation zwischen den Anlagen wird einzig durch das Moment der Realität überhaupt ermöglicht, durch welches Moment allein ein Weg von der außerempirischen Sphäre zur Erfahrung und in die Erfahrung ins Auge gefaßt werden kann — ein BewegungsVorgang, den wir Konkretion nannten. Diese Bewußtseinsganzheit aber ist überhaupt die Bedingung der Erfüllungsmöglichkeit der Erkenntnisabsicht: der „Wahrheit", wie es mit verwirrendem Terminus hieß — oder, wie hier gesagt wurde: der Wirklichkeitskonstruktion. Zweitens: Das Außerhalb der empirischen Realität ist irgendeine bestimmbar qualifizierte Wesenheit, eine artikulierte, unempirische Welt, welche der empirischen ruhend gegenübersteht, als eine sich gleichbleibende, ewige, „wahre Welt". Drittens: Das Außerhalb der empirischen Realität wird geleugnet. In diesen beiden zuletzt angeführten Fällen wird allen wollenden und bildenden Anlagen des Bewußtseins der Gegenstand auf der Objektseite entzogen. Denn: die qualifizierte ewige und ruhende außerempirische Realität tritt den wollenden und bildenden Tendenzen in dem gleichen unabänderlichen Vorgeschriebensein entgegen, wie die empirische Welt auch und vor allem setzt sie diesen immer zu einer Erfahrbarkeit treibenden Bewußtseinskräften ihre von der Erfahrung abgeschnittene Eigenart entgegen, d. h. die ruhend qualifizierte außerempirische Wirklichkeit ist kein Gegenstand, der Raum für das Tätigkeitsausmaß der wollenden und bildenden Anlagen läßt, an dem sich die wollenden und bildenden Anlagen wesensmäßig mehr betätigen können als an der gegebenen Empirie. Daß ferner diesen imaginierenden und wollenden Vermögen jede objektbezogene, d. i. realbezogene Wirksamkeit entzogen wird, wenn die außerempirische Realität überhaupt bestritten wird, ist ohne weiteres einsichtig. In den beiden zuletzt genannten Fällen also, dem der qualifizierten, aber ewig unerfahrbaren metaphysischen Rea-
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lität und dem des völligen Entfallens jeder metaphysischen Realität tritt eine radikale Diskrepanz in dem Verhältnis zwischen Sein und Bewußtsein und eine entsprechende innerhalb des Bewußtseins auf: Der Gegensatz zwischen realbezogenen und nicht realbezogenen Anlagen wird so entscheidend, daß er die Bewußtseinsganzheit der Betätigung zerschneidet: die erkennenden und zum Teil die empfindenden Anlagen treffen auf ein reales Objekt, die voluntarischen und imaginierenden treffen, wenn sie sich nach außen wenden, gegenstandsbezogen wirken wollen, ins Leere. Dieser Unterschied zwischen den Vermögen, welcher ein Unterschied nicht der Substanz (nämlich der psychischen Wesenheit aller Vermögen), sondern ein Unterschied des Ziels ist, erweist sich stärker als die Gemeinsamkeit ihrer Beschaffenheit als Geist: Der Unterschied zwischen wirklichkeitsbezogenen und nichtwirklichkeitsbezogenen Tendenzen reißt innerhalb des Bewußtseins die ganze Unüberbrückbarkeit zwischen Existenz und Nichtexistenz auf und trennt die Vermögen. Da die Realität jeder Art hier nicht, wie in dem zuerst angegebenen Falle, von einer von unsichtigem oder von potentiellem Inhalt geladenen Grundebene begrenzt und umlagert wird, sondern vom sterilen Nichts — die Verwechselbarkeit von negativem Existierenden und Nichts ist naheliegend —, so wenden sich diejenigen Bewußtseinsenergien, die auf dieses Nichts treffen, auf sich selbst zurück und erzeugen Eigengebilde: die Gebietsbegriffe treten auf. Der Gebietsbegriff des Unwirklichen entsteht gegenüber dem des Wirklichen: die dichterischen Anlagen sondern sich von den erkennenden, d. h. sie verlassen den Betätigungszusammenhang eines teleologisch eingestellten Gesamtbewußtseins : Zusammengefaßt: Ist das Außerhalb der Empirie, solange und sofern es unbestimmbar ist, eine reale Negativität, sofern es aber bestimmt wird, reale Bewegungsphase in Richtimg auf eine Erfahrung, so werden alle Bewußtseinsvermögen in ihrem vollen Ausmaß beansprucht (nämlich für die Konkretisierung der Negativität bzw. für die Erlangung dieser Erfahrung
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durch die fehlenden Phasen), es herrscht Ganzheit des Bewußtseinsorganismus und einheitliches Betätigungsziel aller Anlagen. Ist das Außerhalb der Empirie eine ruhende qualitative, unerfahrbare Bestimmtheit oder ein Nichts — so sondern sich die nicht durch eine Realität gedeckten Anlagen (wollende, bildende) von den durch die Realität gedeckten Anlagen (erkennenden, empfindenden) ab, die keinen realen Gegenstand findenden Vermögen reflektieren auf sich selbst, verselbständigen sich, die Ganzheit des Bewußtseinsorganismus wird zerrissen in zwei Hauptbereiche: die Erkenntnis und die Dichtung. Hiermit ist die Stellung der Dichtung im weitesten Sinne, genauer, der der Dichtung zugrundehegenden Anlagen, in einem ihr übergeordneten System bezeichnet — aber in einem System der Bewußtseinsganzheit, welches nicht nur eine Architektonik des bewußtseinsmäßig Seienden, sondern eine Organisation des bewußtseinsmäßig zu Erfüllenden bedeutet, in einem System also, das nicht nur deskriptiven, sondern auch normativen Charakter hat, aus dem sich mithin erkenntnismäßige Wertungen ergeben. Wir wollen indessen, ehe wir diese Werte — die ja schon in der bisherigen Darstellung sichtbar geworden sind — explizite unterstreichen, die vorangegangene systematische, abgeleitete Wesensbestimmung des eigentlich Dichterischen durch eine Anschauung illustrieren: d.h. wir wenden uns der zweiten der beiden oben aufgeworfenen Fragen zu, wir wenden uns von der Systematik zur Historie. Wir haben angegeben, was im System des Bewußtseinsorganismus Dichtung bedeutet, es bleibt übrig, darauf einzugehen, wie es im Zeitablauf der geistigen Geschichte zur Dichtung kommt. Dabei nun ist ausdrücklich anzumerken, daß Apodiktizität und Gültigkeit der Behauptungen und Argumente nur in der systematischen Deduktion beansprucht wird und erforderlich ist, die im weitesten Sinne historische Ableitung des Phänomens der Dichtung zwar den Vorzug größerer Anschaulichkeit und Plausibilität besitzt, aber wie alles Geschichtliche nicht den Zwang aufweist, den Ablauf so und nicht anders zu denken.
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VI. KAPITEL.
DER MYTHOS ALS EIGENTLICHES VORSTELLUNGSPARADIGMA DES ZIELS DER PHILOSOPHIE.
A. D a s m y t h i s c h e B e w u ß t s e i n a l s die u r s p r ü n g l i c h e Bewußt seinsganzheit. Wir sind im Verfolg dieser ganzen bisherigen Überlegung zu zwei Gegebenheiten gelangt, die wir jetzt nochmals unterstreichen wollen: erstens zu einer Ganzheit des Bewußtseins, deren Wesen darin besteht, daß sie durch die maximale Entfaltung sämtlicher Bewußtseinsvermögen erreicht wird, die allein so gesteigert dieses Ganze bilden — ein Begriff, dessen Unterschiedenheit von allen übrigen Ganzheits- und Einheitsbegriffen des Bewußtseins leicht daran zu bemerken ist, daß bei den übrigen Einheitsvorstellungen etwa die extreme Anwendung des erkennenden Vermögens von der extremen und beliebig gesteigerten Betätigung der phantasierenden Anlage immer weiter distanziert, diese beiden Tendenzen auseinanderführt, so daß nur durch irgendeine Reduktion ein einheitliches In-Tätigkeit-Sein der Anlagen möglich ist, indessen die hier vertretene Ganzheitsgegebenheit des Bewußtseins durch Extremisierung der Einzelanlagen überhaupt nur erlangbar ist. Diese Bewußtseins-Totalität bildete das eine Ergebnis dieser Darlegungen. Das andere wird bezeichnet durch eine zweite Erfahrungswirklichkeit, welche als der teleologische Abschluß jeder Bewußtseinsbemühung an die Stelle der formalen Wahrheitsidee gesetzt wurde und zu der gegebenen Erfahrung völlig inkommensurable Inhalte enthält. Es wird einsichtig sein, daß diese beiden Erfüllungszustände, der des Bewußtseins in der Bewußtseins-Totalität und der der fragmentarischen Empirie der problematischen Inhalte in der Empirie der Lösungsinhalte zusammengehören: Das will sagen: Nur jene Ganzheit des Bewußtseins, jene noch
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niemals eingesetzte gleichzeitige Gesamtheit der sich wechselseitig extremisierenden Einzelvermögen kann der Idee nach ernsthaft den Anspruch bedeuten, die Probleme zu lösen, den Aufgaben, die das Objekt stellt, gewachsen zu sein und eine Erfahrung zu konstruieren, die noch nicht da ist — nur in jener Ganzheit ist ein teleologischer Endeffekt der Erkenntnisbemühung überhaupt denkbar, der andererseits auch nichts anderes sein kann, als eine Wirklichkeit, die dem Geiste nachfolgt, im Gegensatz und in Inkommensurabilität zu der Wirklichkeit, die ihm vorangeht. Die Bewußtseins-Totalität ist — im Prinzip — das Bewußtsein der zweiten Empirie. Zu dem Erfüllungscharakter dieser beiden Wesenheiten stimmt es, daß sie in der Historie, im gegeben vorliegenden Gestalten- und Bewußtseins-Material, soweit die Geschichte reicht, nicht ohne weiteres anzutreffen sind: denn es sind beides Zielerscheinungen und beiden eignet ein bestimmtes Endgültigkeits-Signum, welches dagegen ist, daß sie in einem Vorläufigkeits-Stadium, als welches die Geschichte ist, anders als tendenzmäßig enthalten sind. Dazu stimmt aber auch, daß sie an einem bestimmten Punkt der Geschichte dennoch in einer begrenzten Art in Erscheinung treten, an demjenigen Punkt nämlich, in dem die Geschichte von derselben Alternative betroffen wird, von der die Erfahrung überhaupt betroffen wird (nämlich der Alternative: ein Erfahrungssystem — zwei Erfahrungssysteme), indem die Geschichte der zeitliche Ausdruck einer allgemein möglichen ErfahrungsInkommensurabilität ist, an dem Punkt, an dem die Geschehnisse sich nicht mehr in die Geschehensstruktur, die man Geschichte nennt, unterbringen lassen und somit eine vorgeschichtliche Epoche auftritt, an dem Punkt also, an dem die Geschichte in die mythische Wirklichkeit umschlägt. Es ist hier der Punkt, an dem die bisherige reine theoretische Konstruktion erstmals zur angewandten Erkenntnis wird. Die beiden teleologischen Begriffe des vollständigen Bewußtseins und der Lösungswirklichkeit, wie wir sie kurz bezeichnen wollen, diese beiden Begriffe, welche bestimmt sind, in der Zukunftsrichtung der Zeit empirischen 189
Inhalt zu bekommen, zeigen sich als brauchbar, gewisse empirische Inhalte der Vergangenheitsrichtung der Zeit aufzuklären. Wenn die Geschichte der Realität einen Gesamtsinn hat, so muß dieser Sinn eine Entsprechung zwischen End- und Anfangsrichtung involvieren, und wenn die beiden Begriffe, Totalitätsbewußtsein und Lösungswirklichkeit, Endzustände ausdrücken, so müssen sie formaliter auch Anfangszustände ausdrücken. Die Endzustände sind noch keine empirischen Gegebenheiten, die Anfangszustände sind solche empirischen Gegebenheiten, die aber, mangels fassungsfähiger Begriffe für sie, als eigentliche Gegebenheiten nicht erkannt und untergebracht werden konnten: Die empirischen Gegebenheiten aus der Anfangsrichtung der Zeit, welche wir als Paradigmata des Totalitätsbewußtseins und der mit unserer Erfahrung inkommensurablen Endwirklichkeit begreifen können, wodurch wir zugleich einen Anschauungsinhalt für die beiden bisher nur theoretisch möglichen Konstruktionen erhalten — die empirischen AnfangsParadigmata für Totalitätsbewußtsein und Endwirklichkeit sind das empirische mythische Bewußtsein und die empirische mythische Realität. Erstens: Das mythische Bewußtsein ist das TotalitätsbewußtseindesAnfangs. Dieser Vollständigkeitscharakter des mythischen Bewußtseins — vollständig allerdings nur relativ zum geschichtlichen Bewußtsein, denn das mythische Bewußtsein ist nicht integer gebheben, sondern zum geschichtlichen geworden — dieser Vollständigkeitscharakter des mythischen Bewußtseins ist den mythologischen Zeugnissen, durch die es in unsere Gegenwart hineinreicht, schon äußerlich anzusehen: in ihnen bekundet sich ein Bewußtsein, das die heute getrennt und differenziert tätigen Vermögen des Geistes in einem und ungetrennt betätigt, dessen Dokumente sich — von hier und heute gesehen — so ausnehmen, als seien Phantasie und Wahrnehmung, Denken, Wollen und Faktizität zu einem ungeschiedenen Bericht zusammengeflossen: Die Urzeit, so scheint es, denkt, will, imaginiert und — was für uns das Unverständlichste ist — berichtet 190
in einem. Indessen gilt es doch zu alledem an folgende Einschränkung zu erinnern: sowohl die mythische Wirklichkeit wie das mythische Bewußtsein sind nur Paradigmata, Indizien, empirische Vorläufer, Näherungswerte der oben abgeleiteten beiden begrifflichen Erfüllungszustände der Wirklichkeit und des Bewußtseins, sie sind nicht mit ihnen identisch, wenn gleich systematisch ausgesprochen werden muß, daß eine gewisse Art der Annäherung an die begrifflichen Erfüllungen — nicht die bestimmungs- und aufgabenmäßige Annäherung — auch in der Richtung zum Anfang hin gedacht werden muß, wie denn auch die Berichte aus der Urzeit, je weiter sie zurückreichen, um so befremdlichere Dinge und Wesenheiten enthalten und um so unvergleichbarer und mythischer uns anmuten. Symptomatisch jedenfalls zeigt eine gewisse in den mythologischen Urdokumenten stattfindende Vereinbarkeit von Merkmalen, die in dieser Weise uns als unvereinbar gelten: vor allem eine gewisse Unterstreichung des Realitätscharakters bei als real nicht denkbaren Vorgängen und Wesenheiten, eine Unterstreichung, die sich stilistisch kraß erkennbar von dem Hypostasieren unmöglicher Fakten, das auch die Dichtung der historischen Zeit nötig hat, unterscheidet, der völlig evidente Bericht Charakter zahlloser metaphysischer Urkunden, der uns, rein aufs Immanent- Stilistische geachtet, sogleich Mythos und das, was wir heute Dichtung nennen, unterscheiden läßt — jedenfalls zeigt diese uns unvollziehbare Vereinbarkeit von Phantasie und Erfahrung (wenn wir nicht zu der Auswegerklärung des Vorliegens einer „absichtlichen Täuschung" uns entschließen, ja, wenn wir selbst die übliche, aus anderen Gründen unhaltbare Begreiflichmachung des Mythos als eines „naiven Hingegebenseins" an den unmöglichen mythischen Sachverhalt uns zu eigen machen) symptomatisch die Richtung auf eine zunehmende Vereinheitlichung von gegenwärtig miteinander nicht vereinbaren Vermögen und Anlagen des Bewußtseins, welche uns aussprechen läßt: Eine Art der B e w u ß t s e i n s - T o t a l i t ä t ist in Verbindung mit einem dem gegenwärtigen inkommensurablen Erfahrungssystem, sei es in mythischer, sei es in vormythischer Zeit, als bereits einmal erfüllt zu denken. Die 191
einheitliche I n t e n s i t ä t des Geistes, welche mit der das Ganze nicht sprengenden Extremisierung aller Einzelanlagen des Bewußtseins gegeben und Bedingung der Auflösung und Handhabung der empirischen Problematik überhaupt ist, war in der A n f a n g s r i c h t u n g der Zeit in einer bestimmten Form schon einmal vorhanden. B. Die m y t h i s c h e R e a l i t ä t als die ursprüngliche E r füllungsrealität. Die m y t h i s c h e R e a l i t ä t ist die L ö s u n g s w i r k lichkeit des A n f a n g s . Wohlverstanden: Nicht, weil wir den mythischen Dokumenten glauben, nicht weil wir auf empirische Zeugnisse hin empirische Inhalte mythischen Charakters f ü r wahr h a l t e n , begreifen wir diese mythischen Inhalte als eine Realität — sondern: weil unsere theoretische Systematik, unabhängig von jeder Empirie, zu Begriffsbildungen führt, die ohnehin eine mit der gegebenen Erfahrung inkommensurable W i r k l i c h k e i t begründen, aus Gründen, die das Erfahrungsobjekt oder das Wirkliche nur als Ganzes oder seinem Gesamtcharakter nach bzw. f o r m a l heranziehen, kurzum aus theoretischen Gründen dürfen wir gewisse m y t h i s c h e Aussagen als reale S a c h v e r h a l t e gelten lassen. Nicht stützen wir uns auf die empirisch-mythologischen Zeugnisse, sondern unsere erkenntnismäßige Systematik e r l a u b t uns, diese Zeugnisse, die einer anderen erkenntnismäßigen Systematik undurchdringlich sind, zu durchdringen. Nicht ist das mythologische Dokument Beweisstück einer Theorie, sondern die Theorie Grundlage der prinzipiellen Realmöglichkeit der mythischen Aussage. Unter Vergegenwärtigung dieses methodischen Reservats dürfen wir sagen: Die in der Anfangsrichtung der Zeit auftretende Geschehens- und Wirklichkeitsstruktur, die wir die mythische nennen, die mythische Zeit, d. i. die im wahren Sinne vorgeschichtliche, vor der Geschichte hegende, das bedeutet nur in unser Geschehen uneinreihbare, können und müssen wir als einen Ausdruck des Zielzustands begreifen, wenn wir uns dazu bringen können, das, was uns als der literarische
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Niederschlag dieser vorgeschichtlichen Epoche überblieben ist, die Berichte, Fakten und allen sonstigen Inhalt der mythologischen Dokumente, als buchstäbliche und wörtliche Wirklichkeit, als die getreue Geschichte, als die sie sich gibt, als eine Erfahrung zu nehmen. Wir müssen die aus unserer geltenden Wirklichkeitserfahrung spontan hervorbrechenden spruchbereiten Urteile über wirklich und unwirklich durchaus zurückdrängen, dahingestellt sein lassen, wir müssen, wie ein neuerer Logiker sagt, eine Urteils-e/rox»? des Existenzialurteils üben, wenn wir den Inhalten der mythologischen Zeugnisse gegenübergestellt werden und müssen sie nach ihren wortmäßigen Aussagen gelten lassen, sie ihre eigenen Wirklichkeitsaussagen machen lassen, alle für unsere Erfahrung inkommensurablen Fakten, Dinge, Wesenheiten und Wirkungen einmal als die Realitätserfahrung hinnehmen, als die sie behauptet werden, ohne sofort mit unserer Erfahrung dazwischen zu reden, indem wir diese Aussagen schon, indem wir sie hören, augenblicks realitätsurteilsmäßig kategorisieren: als Symbolik, Mythenbildung, Dichtung oder sonst eine umdeutungsfähige Bewußtseinsschöpfung. Die m y t h i s c h e R e a l i t ä t ist die Lösungswirklichkeit des Anfangs. Das Totalitätsbewußtsein des Anfangs oder das mythische Bewußtsein war bezogen auf diese Erfahrungswirklichkeit der vorgeschichtlichen Zeit, auf das u r z e i t liche A n a l o g o n der E n d g ü l t i g k e i t s - E m p i r i e . Diese paradigmatisch veranschaulichende Zuordnung gilt selbstverständlich nur im P r i n z i p und bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf bestimmte Einzelinhalte der mythischen Dokumentation.
U n g e r , Wirklichkeit.
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III. TEIL.
PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT.
EINLEITUNG.
KURZE ZUSAMMENFASSUNG DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN SYSTEMATIK AUF GRUND DER ONTOLOGISCHEN PRINZIPIEN GOLDBERGS.
Versuchen wir jetzt einmal, der Übersicht halber von allen eingehenden Begründungen für den Augenblick absehend, das Schema der im vorigen entwickelten philosophischen Position zusammenzufassen: Den groben Grundriß, dessen wir uns dabei notwendigerweise bedienen müssen, wird man zu einem Teil bereits aus dem Vorhergegangenen leicht substanziieren können; zu einem anderen Teil aber werden die Thesen dieses Überblicks erst aus den Darlegungen, die ihm folgen, in den Einzelheiten aufhellbar und völlig präzisierbar sein. Allein dieser unvermeidbare Mangel in jeder Zusammendrängung kann dennoch aus dem Grunde eines nur so erreichbaren Einblicks in das S y s t e m des vorzutragenden Gedankenkomplexes nicht davon zurückhalten, sie dennoch vorzunehmen: 1. Das Bewußtsein hat, ontisch betrachtet, zunächst zwei grundsätzlich geschiedene Realitätssphären vor sich: die E m p i r i e , die der Sinnlichkeit und dem Denken gegeben ist und das U n e n d l i c h e , das nur dem Denken gegeben ist — und zwar als ein Reales, wenn auch anderer Modalität als das Erfahrungsmäßig-Reale. 2. Diese Unendlichkeit ist — gemäß dem RealitätsIndex, der den auf Grund der Goldbergschen Ontologie die Unendlichkeit ausmachenden „realen Möglichkeiten" zukommt — nichts anderes als das K o n s t r u k t i o n s a r s e n a l von Erfahrungen. In dem Parmenideischen to yaQ avto voeh saziv ze /.ai elvai wird das voeiv — immer entsprechend der Goldbergschen Analysis — zu dem G a n z e n des Bewußtseinsmöglichen erweitert mit der Maßgabe, daß zu-
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nehmende und abnehmende „Realfähigkeit" oder „Irrealität" einer Möglichkeit nur den E n t f e r n u n g s g r a d von einer E r f a h r b a r k e i t ausdrücken. Denken heißt — mißverständlich aber anschaulich gesagt — verwirklichungsnahe Wirklichkeit denken — imaginieren heißt verwirklichungsferne oder -fernste Wirklichkeit denken. Der Realitätsindex einer im Unendlichen realen Möglichkeit und der Entfernungsindex von einem Erfahrenwerden dieser Möglichkeit bedeutet dasselbe. Diese Entfernung ist ihrerseits mit Möglichkeiten ausgefüllt, die als Reihen von P h a s e n der Verwirklichung den „Raum" vom Unendlich-Möglichen zum Erfahrbar-Wirklichen einnehmen und einen W e g bedeuten, der natürlich von den beiden Bedingungen: dem Wirklich-Gegebenen und dem wollend und imaginierend Gedachten abhängt — aber er hängt nicht nur vom Wirklich-Gegebenen, sondern ebensosehr von einem g a n z b e s t i m m t e n V e r l a u f im Unendlich-Möglichen ab, von einer Kurve, deren jeder Punkt durch die beiden Koordinaten des Wirklichen und des Gewollten bestimmt ist. Daß diese Koordinaten überhaupt sich in einem Punkte treffen, dafür sorgt die sozusagen unendlich variierbare Gestalt des immer selben Willensinhalts — eben die U n e n d l i c h k e i t der Ebene, die das Wirkliche umgibt. Der in der Goldbergschen Ontologie aufgewiesene P o t e n t i a l charakter des Unendlichen bringt daselbst aus eben diesem Merkmal heraus dessen — graduierbaren — R e a l Charakter mit sich. Das „Unmögliche" ist darum ein erkenntnistheoretisch vorwiegend r e l a t i v e r zwischen Erfahrungssystemen geltender Begriff und, im absoluten Sinne genommen, auf eine enge Grenzbegriffssphäre eingeschränkt — im Gegensatz zu der weiten Sphäre, die das Unmögliche gegenüber dem Möglichen in jeder Philosophie einnimmt, die wiederum das Mögliche auf eine schmale Schicht begrenzt, weil sie im Grunde das Mögliche mit dem aus dem empirisch Wirklichen u n m i t t e l b a r Hervorgehenden verwechselt und die innige Beziehung zwischen Möglichkeit und Unendlichkeit nicht auswertet. Das Unendliche ist der Konstruktionsboden von Erfahrung für das Bewußtsein, sofern es als g a n z e s Bewußtsein auftritt. Diese Bewußtseinsganzheit ist eine erkenntnistheoretisch zu fordernde Organisierung der einzelnen 198
Bewußtseinsvermögen, wovon noch weiter unten besonders zu handeln ist. 3. Das Bewußtsein, solchergestalt einerseits der gegebenen Empirie, andererseits dem Unendlichen gegenübergestellt — der zunächst in ihm selbst gegebenen Realmöglichkeit — h a t nun als oberstes Ziel ü b e r h a u p t keine bloße E r k e n n t n i s , sondern W i r k l i c h k e i t s h e r s t e l l u n g — „Erfahrungsermöglichung" nicht bloß in d e n k e n d e m , sondern im b u c h s t ä b l i c h e n Betracht, in realem Sinne. Dies ist der Inhalt des sog. „Herstellungprinzips" der Goldbergschen Systematik, welches besagt, daß das philosophische Unternehmen in letzter Hinsicht über die theoretische Erkenntnis h i n a u s auf die Gewinnung einer noch nicht gegebenen erfahrbaren Wirklichkeit geht. Nicht Realität a n s t a t t der „Wahrheit" in irgendeinem biologisch-pragmatistischen Sinne ist das Ziel des Erkennens, sondern Wirklichkeit, welche mit der Erreichung der theoretischen Wahrheitsregion z u s a m m e n t r i f f t . Damit wird der Kriterienmangel aller Konstruktionen der Erkenntnis, der ihnen notwendig so lange anhaftet, als sie noch nicht bis zu einer Erfahrbarkeit gediehen sind — als sie noch im Konstruktionsbereich des Unendlich-Möglichen liegen —, ausgeglichen, indem sie nun in erfahrbare Gestalt übergehen, denn Wirklichkeit bleibt das letzte Kriterium aller Wahrheit. Das Erkenntnisunternehmen ist das prinzipiell größte „Experimental"-Beginnen, das denkbar ist: es bezieht sich auf eine ganze Erfahrung — das Wort in einem noch zu erläuternden Sinne genommen — und die Aufgabe der Ausführung jenes theoretisch-größten Vorhabens ergibt zugleich die Bestimmung und Definition der Menschheit. 4. Das Bewußtsein der denkenden und herstellenden Menschheit konstruiert also, von der „ersten", der gegebenen Erfahrung, der Empirie, a u s g e h e n d , mittels des unendlichen Konstruktionsbereichs auf eine zu erreichende zweite Erfahrung hin. Bewußtsein und Unendlichkeit bezeichnen mithin das Gebiet z w i s c h e n zwei E r f a h r u n g e n . Die Ausgangs-Empirie, die gegebene, kennzeichnet sich dadurch, daß sie prinzipiell p r o b l e m b e h a f t e t , mit denkmäßig nicht zu vollziehenden „leeren Stellen" durchsetzt ist,
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eben den echten und der Unlösbarkeit verdächtigen P r o b l e m e n . Die Ziel-Empirie, die erstrebte, kennzeichnet sich dadurch, daß sie als prinzipiell p r o b l e m f r e i , d . h . als in eben jenen „negativen Gegebenheiten" a u s g e f ü l l t zu denken ist, so daß dies negativ Gegebene, die Enklaven, im Bilde der teleologischen Erfahrung zum p o s i t i v Gegebenen — eben zu dem zu gewinnenden Erfahrbar-Wirklichen geworden ist. Das erkenntnismäßige Mittel dieser „Ausfüllung" bildet das Verfahren der „ K o n k r e t i o n " . 5. Der Begriff „problemfreie Erfahrung" ist ein Grenzbegriff und ein Gesamtausdruck. Unter ihm wird eine G e s a m t h e i t von möglichen Erfahrungssystemen zusammengefaßt. Daraus ergibt sich, daß ein einzelnes Erfahrungssystem als solches niemals als im theoretischen Sinne „problemfreies" bezeichnet werden kann — daß aber sozusagen in jedem System Probleme gelöst sind, die in einem anderen als Unlösbarkeiten auftreten. Der Begriff eines solchen Erfahrungssystems als eines einzelnen entsteht, wenn zwischen die flüchtige Vielfalt bloß s u b j e k t i v e r psychologischer Stellungnahmen zur Welt des Erfahrens einerseits und die o b j e k t i v e E i n h e i t der p h y s i k a l i s c h e n Außenwelt andererseits eine zwar variable aber doch reale und objektive Mehrheit b i o l o g i s c h e r Arten des Erfahrungmachens als mittlere Möglichkeit eintritt. Erfahrungssysteme heißt mithin primär Systeme des b i o l o g i s c h e n Erfahrens — die bloß g e i s t i g e n Projektionen solchen Erfahrens können zwar als Konsequenzen aber nicht als die primär-objektiven Erfahrungssysteme selbst angesprochen werden, da sie als mögliche bloß subjektive „Ansichten" von der Umwelt vielmehr auf ein Reales zurückweisen. 6. Dieser reale und eigentliche T r ä g e r eines Erfahrungssystems ist die reale Verbindung von psychischer und physischer Gegebenheit im lebendigen Organismus. Die Alterierbarkeit der Art dieser Verbindung bedeutet die Alterierbarkeit eines Erfahrungssystems, einer Erfahrungart zu mehreren möglichen anderen. Die eigene psychophysische Organisation ist der A n g r i f f s p u n k t , auf dem sich Abwandlungstendenzen des Erfahrens, die p r i n z i p i e l l e , nicht nur akzidentielle Varianten bedeuten müssen, richten, weil der psycho-
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physische Organismus Trag- und Angelpunkt des ganzen Welterfahrens ist. 7. Der Angriff auf die psychophysische Organisation bedeutet einen vom Bewußtsein aus unternommenen Eingriff in die von Natur aus dargebotene schlicht gegebene psychophysische Situation, die eine bestimmte Lebensrichtung darstellt, die naiv-unwillkürlich von der Natur eingeschlagen wird und der sich das Bewußtsein durch Handlungen e n t g e g e n z u s t e m m e n versucht, um biologische Erscheinungen zu provozieren, die von dem Typus der unbearbeiteten Lebensphänomene abweichen. Hier beginnt das Reich der mythischen Realität und Erfahrung, wenn man die Realität des Mythos als ein u r z e i t l i c h e s Analogon zu einem Erfahrungssystem aus dem Bezirk der teleologischen „zweiten" Erfahrung begreift. 8. Das Gelingen des Hervorrufens solcher bewußtseinsgeborenen Gegennatur, welche Natur im höheren Sinne ist, bangt nach der vorgetragenen Theorie des ersten Teils dieser Darlegungen davon ab, daß die Möglichkeit besteht, die Energie des Lebens dadurch als akkumulierbar zu erhalten, daß die V i e l h e i t der empirischen Individuen nicht nur zahlenmäßig b e g r i f f l i c h , sondern als realer Faktor auftritt: als reale V e r e i n h e i t l i c h u n g s m ö g l i c h k e i t der lebensgesetzlichen Kräfte vieler Einzelner. Die reale Vereinheitlichungsmöglichkeit ist die Grundbedeutung gewisser Gemeinschaften, in denen sich eine individuelle Vielheit zu einer lebensgesetzlichen Einheit zusammenschließt. Dies nun ist eine schon in den Bezirk der Empirie hineinreichende Voraussetzung, von Goldberg als die These einer „dynamischen Struktur in soziologischen Einheiten" gefaßt, hier als die Summationshypothese biologischer Intensität formuliert. E s ergibt sich der Begriff des „ r e a l e n V o l k e s " als des Trägers allen gesteigerten biologischen Geschehens, das schon in die Ebene der zweiten Erfahrung bzw. der biologischen Erfahrungssysteme hineingehört. Denn jedes echte, d. h. reale, d. h. in bezug auf die Vergangenheit gesprochen, jedes mythische Volk muß als Repräsentant eines solchen Erfahrungssystems gelten. 9. Von zwei Seiten her ist also der Angriff auf das Gegeben*Wirkliche als (in der mythischen Welt) unternommen 201
und als prinzipiell unternehmbar zu denken — in zwei Richtungen, die in eine zusammenzufließen bestimmt sind: von der Seite des theoretischen Erkennens her und von der Seite des ethnisch-biologischen Tuns her. Die Urzeit — die Epoche der mythischen Realität — kennt fast nur die zweite — das unmythische Zeitalter, das unsere — ist fast ausschließlich auf die erste angewiesen. Entscheidend aber ist die Region des Übergangs der Operationen der Erkenntnis in Maßnahmen der Realitätsumformung. Die rein erkenntnismäßige Arbeit stellt sich in der Methodik der Konkretion dar, die sich allerdings dann in das Verstehen der Grundlagen der im Mythischen vor sich gegangenen Realitätsumformungen fortsetzt und umwandelt, d. h. zur theoretischen Vorbedingung der Wirklichkeitsgestaltung wird. 10. Die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Bewältigung, ja auch des Hinsteuerns auf das einheitliche Ziel der Erkenntnis und der Wirklichkeitsgestaltung ist eine besondere Verfassung des Bewußtseins, die als Bewußtseinsganzheit einer bestimmten Art zu kennzeichnen ist. Unter dieser Bewußtseinsganzheit ist eine Einheit der B e t ä t i g u n g aller Anlagen des Bewußtseins verstanden, welche Betätigungsganzheit in der kulturellen Situation, in der sich das „unmythische" Zeitalter befindet, nicht existiert: sie ist zerschnitten. An die Stelle dieser Einheit der Funktionen sind die kulturellen „Gebiete" getreten wie Philosophie, Dichtung, Wissenschaft. Und zwar repräsentieren Dichtung und Einzelwissenschaft, als entfaltungsfähige Funktionen, den Geist dieser Spaltungssituation, während die Philosophie — ihrer Idee nach —, als die in dieser Sachlage ständig mißlingende Funktion, dem Geist der „Gebiets"-Kultur in der Gestalt, die sie angenommen hat, widerspricht. Als Paradigma der Bewußtseinsganzheit der Betätigung nach kann auf das „mythische Bewußtsein" verwiesen werden. Soweit der in großen Zügen gekennzeichnete Umriß der hier zur Darstellung zu bringenden Systematik. Vieles bedarf nun noch eindringenderer Aufklärung. Im Rahmen der hier begonnenen Überlegung, die, auch zu Ende gebracht, doch selbst immer wieder nur als eine Grundlegung relativ zu einer Durcharbeitung spezifischerer Einzelheiten gelten 202
kann, scheinen uns vor allem zwei Komplexe noch der Erläuterung zu bedürfen: erstens der des Begriffs eines „Erfahrungssystems" bzw. die Möglichkeit einer „Mehrheit" von solchen nebst der damit zusammenhängenden Frage nach dem Angriffspunkt und Wesen einer „Wirklichkeitsumformung" und zweitens die Beziehung der ganzen hier vorgebrachten Gegenständlichkeit, Forschungsmethode und Fassung der philosophischen Aufgabe zum Begriff der Wissenschaft. Es zeigt sich, daß beide Problemkomplexe eng verbunden sind, weil zwei sachliche Momente innerhalb der vorgetragenen Systematik in naher Beziehung zueinander stehen: nämlich die Möglichkeit der sog. Realitätsumformung zu einer sog. Bewußtseinsorientierung, welche auf jene oben behandelte Bewußtseinsganzheit hinausläuft. Das In-Funktion-Bringen einer solchen Bewußtseinsganzheit ist die methodische Voraussetzung zu jeder Umformung im Bereich des Realen, von der hier die Rede ist, und es wird sich erweisen, daß der Gesichtspunkt der Wissenschaft derjenige ist, unter dem sich beide Problemsphären, die des Bewußtseins und die der Realität, am einsichtigsten darstellen lassen, weil die Frage der Bewußtseinsganzheit die Methode und die der Wirklichkeitsgestaltung den Inhalt der Wissenschaft betrifft. Es wird die erste erkenntnistheoretische Aufgabe sein, jene Bewußtseinsganzheit der Betätigung nach, welche die Vorbedingung sowohl für ein In-Bewegung-Kommen des festgefahrenen philosophischen Unternehmens als auch für das Eindringen in die gegenwärtig entlegeneren Bereiche der Realität, wie der Mythos, ist — es ist die erste Aufgabe, die hier zu lösen ist, diese Bewußtseinsganzheit mit der Geltung der Wissenschaftsidee auseinanderzusetzen. Bei dieser Arbeit wird es dann notwendig sein, zu grundsätzlichen Klärungen über das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft zu kommen, um den nach allem Bisherigen längst angemeldeten Anspruch der Einzelwissenschaft auf alles, was „Umformung des Wirklichen" heißen kann, anzuhören und zu beurteilen.
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I. KRITIK DES BEGRIFFS DER WISSENSCHAFT IN DER PHILOSOPHIE. I. KAPITEL.
DAS DILEMMA ZWISCHEN WISSENSCHAFTSCHARAKTER UND ANTWORTFÄHIGKEIT IN DER PHILOSOPHIE. Wir finden in unserem Zeitalter die Idee der Philosophie in Durchdringung mit der Idee der Wissenschaft vor. Diese Synthese, in welcher die Philosophie vom Prinzip der Wissenschaft beherrscht wird, ist die Konsequenz eines langen Bemühens um die höchsten Probleme, das in ein vielfältiges Widereinander der Erkenntnisse ohne Entscheidung ausartete. So griff man zum Kriterium der Wissenschaft, das verbürgtes Wissen von haltloser Pseudoweisheit scheiden sollte, und so tauchte vor den Geistern in der Zeit von Kant bis Husserl immer wieder das Ideal von der „Philosophie als strenger Wissenschaft" auf. Wenn man es recht bedenkt, so war dieses Ideal ein Erbe aus der vorkritischen Epoche der Philosophie, da man mit dem „natürlichen Licht der Vernunft" auf das „Beweisen" dessen angewiesen war, was man doch nicht „erfahren" konnte. Denn die Erfahrungswissenschaften waren und sind zudem alles andere als „streng" und die beiden einzigen strengen Disziplinen, die als methodisches Vorbild der Philosophie dienen konnten, Mathematik und Logik, zeigten sich als Erkenntnisweisen von so restloser Formalität, von so radikalem Mangel an jeglichem Inhalt (wenn man, was man darf, den Gehalt des Wirklichen als Inhalt den Denk- oder Sachformen eben als Form dieses Gehalts gegenüberstellt), daß die Philosophie, die doch keine ursprünglich formale Wissenschaft war, in der Imitation dieser beiden Disziplinen sich zunehmend formalisierte und in einen Konflikt mit ihrer eigenen und wesensmäßigen, d. i. inhaltlichen Bestimmung geriet. Der Urheber dieses Umschwungs war Kant, den man als einen wahrhaft genialen Verkenner des Sinns der Philosophie bezeichnen
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kann und wohl auch bezeichnet hat, ohne indessen dieses Urteil begründen zu können oder die Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Kant, auf Wissenschaft abstellend und willens, Philosophie nur als Wissenschaft gelten zu lassen, also das denkbar unverdächtigste Ziel verfolgend, machte auf eine unerhört scharfsinnige Weise vergessen, daß das Merkmal „Wissenschaft" ein zwar notwendiges, aber nicht zureichendes Charakteristikum der Philosophie war —, daß es eine Bedingung war, die nur dann Geltung erlangen durfte, dann aber auch Geltung erlangen mußte, wenn sie sich noch mit einer anderen ebenso schweren, ja vielleicht schwereren und eigentlicheren Bedingung der Philosophie als die der ,,Wissenschaftlichkeit" vertrug: ihrer Antwortfähigkeit auf die Fragen der Vernunft. Jener, der Wissenschaftlichkeit, allein zu ihrem Recht verhelfen — das führte in jenen sonderbaren Irrweg, der sich als die allem vorkritischen Erkennen genau entgegengesetzt gerichtete Sackgasse der Philosophie erwies, und Kant konnte den Umstand, daß er nicht eine seinen besten Vorgängern in der Geschichte des Geistes übergeordnete, sondern höchstens nur eine ihnen gleichgeordnete, gleichwertige Position bezogen hatte, die das besaß, was jenen fehlte und der das fehlte, was jene besaßen — Kant konnte die prinzipielle Nicht-Überlegenheit seiner Perspektiven zu einer bedeutsamen vorkritischen nur dadurch übersehen lassen, daß er — instinktiv natürlich — zwei Gedanken in den Vordergrund stellte, die über die formale Wissenschaftlichkeit hinaus Inhaltsbedeutung aufwiesen: einerseits erschloß er dem Interesse der Philosophie wieder ein tiefes und, wenn auch zum Behufe der Metaphysik unternommenes, so doch nahezu spezialwissenschaftliches Thema (Piaton hatte es zuvor bearbeitet): die phänomenologischen Beiträge zur Gegenstands- und Erfahrungskonstitution (transzendentale Deduktion, Schematismus usw.). Andererseits heftete er dennoch Antworten auf die „großen" Fragen der Philosophie seinem System des Erkennens an, wenn er auch für diese Auskünfte eine zwar gewundene, aber leicht durchschaubare Form: die eines „Vernunftglaubens" erfand, womit er jene Antworten gerade aus dem Bereich des „eigentlichen" Wissens herausmanövriert hatte. In diesen „Vernunftglauben", auf
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den ja allein es ankam, einer erklügelten Abschwächung des strengen Wissens, kleidete Kant die Problementscheide, die das eigentliche und wesensmäßige Anliegen, ja den ganzen Sinn der philosophischen Bemühung bildeten, für das Kant also im Gebiet des „strengen Wissens" gar keinen Raum behielt, das er vielmehr „aufheben mußte, um dem Glauben Platz zu machen". Damit war eingestanden, daß die Realisierung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie mit einem Preise erkauft war, der niemals dafür gezahlt werden durfte — nicht als ob diese Wissenschaftlichkeit irgend etwas anderem untergeordnet werden sollte, aber sie durfte doch auch nicht der ursprünglichsten Aufgabe der Erkenntnis übergeordnet werden und den Verzicht auf diese herbeiführen: das Fehlerhafte an der Situation, in die Kant die Philosophie gebracht hatte, lag also nicht darin, daß er etwa den Anspruch der Wissenschaftlichkeit überspannt hatte, denn das kann man nicht — sondern darin, daß er diesen Anspruch nicht mit dem unerläßlichen Beginnen der Philosophie zusammenzubringen vermochte, und der Einwand, der in jedem Sinne die „kritische" Sachlage trifft, bedeutet nicht, daß sie die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft zu schwer, sondern daß sie sie zu leicht genommen habe. Für Kant selbst stellt sich diese Situation als ein Dilemma dar, das er mit den bekannten Worten charakterisiert: „die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal, daß sie von Fragen belästigt wird, die sie nicht beantworten kann, die sie doch aber auch nicht abzuweisen vermag" — nur fehlte ihm die Konsequenz, dieses Dilemma, dies „Nicht-Abweisenkönnen" als einen theoretischen, ja letzten Endes sogar als einen wissenschaftsmäßigen Einwand gegen seine Position zu verstehen und somit das Ergebnis, das einen solchen Einwand erklärtermaßen mit in Kauf nehmen mußte, als einen radikalen Mißerfolg zu buchen. Denn es ist klar, daß, wenn die Lösung einer Aufgabe an eine Bedingung (Wissenschaftlichkeit) geknüpft wird, die Verwirklichung dieser Bedingung nicht mit dem Verlust der Aufgabe erreicht werden darf. Das aber ist, wie zu erweisen sein wird, der Fall der kritischen Lösung der Erkenntnisaufgabe. Der berühmten „Kopernikanischen Umkehrung", die der Kritizismus bedeutet,
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und mittels deren er die Schwierigkeiten des vorkritischen Zeitalters beheben zu können behauptete: der Institution des Bewußtseins als ruhendes Zentrum und des Objekts als peripherischer Bewegung — dieser Umkehrung entspricht eine zweite Vertauschung von Momenten der vorkritischen Einstellung: diese hatte die Aufgabe, das T h e m a der Philosophie als ihr unerläßlichstes Wesensmerkmal festgehalten, es sozusagen wie die U n a b h ä n g i g e einer Funktion begriffen und die wissenschaftlich befriedigende Erledigung dieses Themas, so gut sie vermochte, bewerkstelligt, diese gleichsam als A b h ä n g i g e der Funktion behandelt. Kant vollzog die Umkehrung: die Aufgabe der Erkenntnis war ihm nicht als solche und ganze absolute Wesensbedingung der Philosophie, sondern die wissenschaftliche Auflösbarkeit wird für ihn zur Konstanten, zur Unabhängigen, zur Wesensbedingung der Erkenntnis, und er vertraute darauf, daß sich schon zur exakten Behandlungsmethodik ein philosophisches Thema finden werde, genauer, daß es in der philosophischen Thematik etwas gebe, daß dieser Methodik zugänglich sei. Damit war zunächst erstens eine unausgesprochene Voraussetzung unbemerkt vollzogen: daß sich nämlich die philosophische Problematik in einer solchen Weise t e i l e n lasse, daß ein Teil derselben exakt und befriedigend beantwortet werden könne, die anderen nicht. Kant glaubte, ein solches quoad wissenschaftlicher Aufheilbarkeit abgelöstes und ablösbares Problem in der Frage von der Ermöglichung der Erfahrung und des Gegenstandes gesichtet zu haben. Aber es läßt sich aufzeigen, daß dieses Problem nur dann ein isoliertes ist, d. h. keine Beantwortung der übrigen philosophischen Fragwürdigkeiten involviert und fordert, wenn es zuvor künstlich isoliert worden ist, d. h. wenn die Fragen nach dem Zustandekommen des Gegenstandes und der Erfahrung auf die Analyse irrational vorgegebener Bestandstücke beschränkt werden, der „Elemente ohne Gegensatz", daher unbezweifelbar (Raum, Zeit, kategoriales Denken): die vorgefunden, aber selbst nicht mehr auf ihren Sinn, auf ihre Bedeutung, d. i. auf ihre „Außenseite" abgefragt werden dürfen, vor allem nicht auf eine etwaige Variabilität oder Gegensätzlichkeit hin, die allein erst ihre echte Definition ermöglichen und die
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wahre, in ihnen gelegene Beziehungsfülle aufschließen, d. i. den Zugang zu den übrigen philosophischen Fragwürdigkeiten eröffnen würde. Zweitens aber wurde nun diese Erfahrungskonstitution entweder zu einem phänomenologischen Spezialproblem oder es ließ sich sein philosophischer Charakter, d. h. seine Auswertung für und seine Anschließung an den universalen philosophischen anderweitigen Fragenkomplex und dessen folgerichtige Beantwortung nur mit dem Aufgeben derjenigen „Wissenschafts"-Methodik erzielen, die Kant und alle seine Nachfolger für die einzige zu halten scheinen.
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II. KAPITEL.
DIE REZEPTIVITÄT ALS MERKMAL DER WISSENSCHAFT.
Das Prinzip von „Wissenschaft" im kantischen und auch im heutigen Sinne ist nämlich ein im wesentlichen auf Rez e p t i v i t ä t abgestelltes. Alle Spontaneität, alle Konstruktivität, die etwa im kantischen oder im modernen Denken Platz findet, ja selbst Unterstreichungen und Betonungen des Spontanen, wie sie zumal im Kantianismus nicht selten sind (das Cohensche „Erzeugen") — all das ist doch überschattet von einer letzlich wiederum rezeptiven Signatur des Erkennens, die besonders in der Logik als einem „NichtAnders-Können", als einem „Aufgedrängt-Werden", als einem von aller Subjektivität „Unabhängigen" steckt. „Wahrheit" ist, was nicht anders sein kann: das „Müssen", das in jeder Evidenz, die „Notwendigkeit", die in allem a priori liegt — all das bedeutet einen Zwang für das Denken, der, wenn auch nicht von einem anderen von außen ausgeübt wird, so doch ein Zwingendes voraussetzt, selbst wenn die zwingende Instanz in ihm selbst, etwa in einer „Struktur" des Denkens gesucht werden muß, die nichts anderes ausdrückt als ein schlechthin „Gegebenes", ein von einer (möglichen) Freiheit Unterschiedenes. Wissenschaftlich ist alles, was sich auf einen solchen Zwang, auf ein Nicht-Anders-Können, mit anderen Worten auf eine (logische oder anschauliche) Evidenz berufen kann, in der das Erkennen so gezwungen wird, wie es durch einen „Gegenstand" geführt wird, ihn ebenso wie er es verlangt aufzunehmen und auszusagen. Zu solchem Gegenstand, der zwingt, gehört auch die „Struktur des Erkennens" selbst, die ebenso wie jeder „fremde" Gegenstand verantwortlich ist für das, was das Erkennen aussagt, und wenn das Erkennen sich ganz an die Führung des GegenUnger, Wirklichkeit.
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standes und der Struktur hält, wenn es sich führen oder zwingen läßt, so ist seine Erkenntnis „wissenschaftlich wahr". Wissenschaftliche Objektivität bedeutet, daß die Verantwortung für eine Aussage allenfalls der S t r u k t u r der Erkenntnis, aber nicht dem erkennenden Subjekt als solchem zufällt — das äußere Zeichen dieser Sachlage ist, daß fast alle „wissenschaftliche" Philosophie „Logik" oder „transzendentale Logik" ist. Sollte man in der s p o n t a n e n Begrifflichkeit, die doch ebenfalls zum Erfahrung machen gehört, eine Ausnahme von dieser übergeordneten Rezeptivität erblicken, so würde man fehlgehen, denn diese Begrifflichkeit erfordert zwar eine gewisse Spontaneität, aber nur um in den v o r g e z e i c h n e t e n Bahnlinien des kategorialen Denkens zu verlaufen, um seinen Grundriß zu erfüllen, der eben selbst ein Gegenstand ist, an dem die Spontaneität orientiert ist, also Akte bedingt, die immer doch im großen eine Rezeptivität ausdrücken, wenn nichts anderes hinzukommt. Ganz besonders steht diese P a s s i v i t ä t im Vordergrunde des letzten wichtigen Versuchs einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n Philosophie: der Phänomenologie. Hier ist wissenschaftliches Verhalten und Sich-Überlassen der Führung einer „originär gebenden Anschauung" als letzter Rechtsquelle aller Behauptungen völlig identisch. Die phänomenologische Methode ist spontan — im Aufsuchen von neuen Möglichkeiten des Geführtwerdens von „den Sachen selbst". Sie ist, folgerichtig in dem Bestreben, „strenge Wissenschaft" zu sein, Tendenz zu äußerster Passivität — so sehr, daß paradoxerweise ein s p o n t a n e s B e m ü h e n um Passivität einsetzt, das in die Gefahr gerät, in sein Gegenteil umzuschlagen und in eine weltanschauliche „Auslegung" einzumünden, bei der sehr zweifelhaft wird, ob die Zweiteilung und peinliche Trennung in gebende und wiedergebende Instanz im Bewußtsein so gewahrt bleibt, wie es die Phänomenologie quoad „Deskription" und wie es jede Wissenschaft voraussetzt, die vom Wahrheitsprinzip (auch im Sinne der Vorzeichnung eines „in sich stimmenden" Zusammenhanges) beherrscht wird. Erkannten wir so Passivität, Hingegebensein an einen vorgegebenen Gegenstand als Signatur der Wissenschaft, so ist folgerichtig die Quelle der „ U n w i s s e n s c h a f t l i c h k e i t " 210
das allzu freie Agieren des Bewußtseins, die Spontaneität, die zu etwas anderem gebraucht wird als ein vorbezeichnetes Schema zu erfüllen, die selbständige von einem Gegenständlichen gelöste Eigenbewegung des Bewußtseins, wie sie etwa in der freien Spekulation auftritt. Freilich gibt auch die Spekulation vor, an einem Gegenstand orientiert, an ihn gebunden zu sein — aber diese Bindimg erweist sich als eine trügerische, die Sphären gelten nicht so, wie sie die Spekulation behauptet, das scheinbare vom Objekt-Eingegebensein erweist sich als ein vom Subjekt Hervorgebrachtsein. Die über das „Gegebene" hinausschießende Spontaneität, das Nicht-geführt- und Nicht-getragen-Sein von einem vom Bewußtseinsakt Unterschiedenem, kurzum die Willkür des Bewußtseins ist, so scheint es, der Hort der „Unwissenschaftlichkeit". Wir wollen an dieser Meinung, welche die allgemein herrschende sein dürfte, erst Kritik üben, wenn wir übersehen können, zu welchen Konsequenzen sie geführt hat. Das Gezwungensein des Denkens durch einen Gegenstand oder eigene Struktur ward für Kant so sehr zum Inbegrifi des „Wissenschaftlichen", daß er ein Moment, ein Merkmal, das man ebenfalls in den Begriff der Wissenschaft hätte legen müssen, gänzlich aus ihm herausließ, und es von der Berechtigimg zur Verantwortungsforderung, die er doch als von der Wissenschaft ausgehend empfand, ausschloß: es ist dies die Erkenntnisfrage bzw. die Erkenntnisgestält des Erkenntnis- oder Wissenstriebes. Diesem Triebe glaubte Kant selbst dann keine Rechenschaft schuldig zu sein, wenn er das Ansinnen, das der Trieb an das Erkenntnisvermögen stellte, als ein „unabweisbares" anerkennen mußte, wie in den oben erwähnten Eingangsworten der Kr. d. r. V. Daß hierin eine logische, eine wissenschaftliche Bedenklichkeit lag, kam Kant gar nicht in den Sinn, ihm, der den Erkenntnis- oder Wissenstrieb kurzerhand theoretisch mit allem sonstigen „Begehren" zusammenwarf, das als Wollen keinen Anspruch auf die Entscheide des Denkens hatte, außer vielleicht, daß das Denken überhaupt etwas entscheide. Was es aber entschied, das ist, nach Kant, ganz selbstverständlich ausschließlich eigene Sache des Denkens bzw. Erkennens, das abgelöst, 14'
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außerhalb des Erkenntniswillens ist, ohne Zusammenhang mit dem Erkenntnismotiv, das evidentermaßen keine inhaltlichen Ansprüche an das Erkennen haben kann. Hier nun taucht ein großer allzu unbeachteter Problemkomplex auf, der es mit den erkenntnistheoretischen Relevanzen und mit der Analyse der Struktur des Erkenntnistriebes als eines wesentlichen Ingredienz der Erkenntnis selbst zu tun hat, d. h. mit der Frage, ob nicht der Erkenntnistrieb kriterienhafte Bedeutung habe, die aber nicht an S t e l l e anderweitiger Erkenntniskriterien (das ergäbe eine voluntaristische Theoretik) treten dürfte, sondern zu ihnen h i n z u k o m mend die Bedingungen möglicher und zureichender Erkenntnis erst komplettiere: so daß also durch die Einsetzimg dieses voluntarischen Moments nicht wie sonst eine Erleichterung, sondern eine Erschwerung der Wissenschaftsbedingungen herbeigeführt werde, weil sozusagen das Siegel der wahren Erkenntnis nicht lediglich in der Befolgung ihrer internen Anweisungen und Methoden, sondern noch d a r über h i n a u s darin liegt, daß der Erkenntnistrieb bei ihren Ergebnissen zufrieden gestellt ist und s c h w e i g t . Die Kantische Theoretik ist, wie oft bemerkt wurde, das Paradigftia einer den Erkenntnis t r i e b vergewaltigenden Philosophie, ohne daß man indessen sich der geradezu w i s s e n s c h a f t l i c h e n Anfechtbarkeit einer solchen zwiespältigen Sachlage bewußt wurde. Denn wenn man, wie eben erläutert, die Geltung des Erkenntnismotivs nicht konstitutiv, sondern a k z e s s o r i s c h versteht — weil es eben ein Merkmal wahrer Sätze ist, daß abgesehen von ihrer inhaltlichen Gültigkeit und Evidenz a u c h noch der Erkenntnistrieb zu ihrem Inhalt ja sagt oder, was dasselbe ist, s c h w e i g t (da er auch nicht einmal wollen kann, daß z. B. 2 X 3 = 7 sei) — so ist eigentlich eine Feststellung der wissenschaftlichen Bedeutung der Erkenntnisimpulse und Fragen vonnöten, welche über dasjenige Phänomen begründete wissenschaftliche Rechenschaft ablegt, was ohne diese Rechenschaft tausendfach konstatierbares Faktum ist: die Tatsache, daß der Erkenntnistrieb über die Entscheide des Denkens, die seinem akzessorischen Kriterium nicht genügen, e i n f a c h h i n w e g s c h r e i t e t und das Denken unaufhörlich n ö t i g t , 212
neue Wege einzuschlagen, die vielleicht zu seinem Ziel führen — ein Umstand, der in diesem Falle nicht mit der empirischen außenperspektivischen, rein historischen „Unersättlichkeit alles Triebhaften" erklärt werden darf, wenn es sich um die logische, d.h. passende Entsprechung von Frage (Trieb) und Antwort handelt. Prinzipiell muß in der Philosophie angenommen werden, daß es eine Wahrheit gibt und darf nicht als Argviment geltend gemacht werden, daß die Wahrheit nicht erreicht werden darf, weil die Zeit weiter gehe und die Philosophie sonst zu Ende wäre. Ein solches Argument ist ein die Geschichte des Geistes von außen, empirisch-biographisch betrachtendes, keines, das innerhalb des Denkens recht behalten darf. Vielmehr ist Wahrheit und Ende der Philosophie ihr höchstes Ziel. Die Philosophie ist kein Trieb, „wie andere auch" und die Frage, was aus dem Erkenntnistrieb wird, wenn das Ziel der Philosophie erreicht ist, gehört in die Bestimmungsproblematik dieses Ziels selbst mit hinein und muß dazu dienen, es so zu bestimmen, daß dieser biographische Einwand aufgehoben wird. Mit anderen Worten, es gibt nicht etwas, was die philosophische Besinnimg „draußen" lassen, außerhalb ihrer selbst lassen dürfte, das in Argumentationsbeziehung zu ihr treten könnte. Das Ergebnis der Kantischen Untersuchungen ist nun unter diesem Gesichtspunkt einer akzessorischen Geltung des Erkenntnismotivs ein so beschaffenes, daß es gerade auf diese einzige Position hinausläuft, die in diesem Sinne nicht mit dem Prinzip letzter Wissenschaftlichkeit verträglich ist. Diese Position ist die des Non liquet: das „Unentscheidbar" bei Anerkennung der Fragegültigkeit. Diese Position ist einem Vernunftwiderspruch äquivalent, wenn es gelingt, die Frage zu legitimieren, d. h. den Trieb logisch zu legalisieren. Es ist im vorhinein denkbar, daß die Funktion des Erkenntniswillens zum Stillstand gebracht, also befriedigt werde bei jeder Art von Entscheidung, die der Methode strenger Wissenschaft genügt — aber eines ist im vorhinein undenkbar: daß der Erkenntnistrieb schweige oder hinnehme oder bejahe ein Ergebnis, das die Erkenntnismöglichkeit abweist, wenn es die Frage als solche nicht abweisen 213
kann (letzteres aber gesteht Kant explizit ein; unter anderem auch dadurch, daß er sie in einem Felde nicht strenger theoretischer Erkenntnis, auf welches es aber der Wissenschaftstrieb allein abgesehen hat — beantwortet). Das Siegel des Erkenntnistriebes kann logischerweise nie zu irgendeinem Ergebnis erteilt werden, das die Unmöglichkeit der Erkenntnis selbst dartut, auf eine Frage, die eine wirkliche Erkenntnisfrage ist, d. h. keine „ungereimte" — eine unaufhörlich zu analysierende und zu disziplinierende, aber nicht abzuwürgende —, eine aus dem Wesen des Triebes folgende ist — geschweige denn, wenn sie eine „ewige" ist. Die Vernunft gerät hier in Widerstreit mit ihrem eigenen Wurzelphänomen, über das sie nicht als ein ihr Fremdes einfach hinwegsehen darf, sondern das sie in den Formen ihrer Methodik unterzubringen und es mit ihren sonstigen wissenschaftstheoretischen Anweisungen in Einklang zu setzen und auf einen Nenner zu bringen hat, was schwieriger ist, als bloß diesen Anweisungen zu folgen. Dieser Anspruch einer letzten Bestätigung eines Resultates der Forschung durch die Erkenntnis frage involviert somit das radikale im weiteren Verlauf noch zu stützende Leitmotiv aller Philosophie: Im äußersten wissenschaftlichen Sinne, in dem die Philosophie alle in Argumentationsmöglichkeit zu ihr tretenden Motive in ihre Methodik einzubeziehen und dementsprechend nur umzuwandeln hat, können erkenntnisverneinende Urteile niemals endgültig wahre sein.
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III. KAPITEL.
DIE WISSENSCHAFTSBEDEUTUNG DER SPONTANEITÄT.
Indessen lassen wir den Satz von der Erkenntnisverneinung bei Anerkennung der Fragegültigkeit vorläufig als die „Rechtsvermutung der Erkenntnis" gelten, da wir nicht weiter auf ihn eingehen können. Wir haben diese Sachlage hier nur vorweg erwähnt, um anzudeuten, daß das Prinzip der Wissenschaftlichkeit, das in dem Geführtwerden bzw. dem Gedrängtwerden des Erkenntnisvermögens durch Gegenstand oder eigene Struktur besteht, einer Verschärfung fähig sei, insofern zu diesen „Führungen" noch die des Erkenntniswillens selbst hinzuzutreten habe und mit jenen methodisch auseinanderzusetzen sei, wodurch zunächst ein erster Ausblick auf eine Wissenschaftsbedeutung der Spontaneität des Bewußtseins gegeben ist. Wenn wir den Terminus der Spontaneität, wiewohl er von der bisherigen Erkenntnistheorie relativ zur Rezeptivität der Anschauung mit Recht für die Sphäre der Begrifflichkeit in Anspruch genommen worden ist, nun noch weiter in die „eigentliche" Willenssphäre des Bewußtseins hineinversetzen, an welcher gemessen wieder die Struktur-Begrifflichkeit als rezeptives Organ erscheint, so tun wir das, um ein variableres und labileres Phänomengebiet (als die starre Anschauungs- und Begriffsstruktur des Bewußtseins) für die Wissenschaftsdomäne zu erobern, der wir aber damit zugleich einen umfassenderen Sinn zuordnen, ohne ihrer Strenge Eintrag zu tun. Der Kritizismus nun, in jener engeren Vorstellung von Wissenschaftlichkeit befangen, die er zugleich zum ersten Male urgiert, dreht in einer wie angedeutet, sehr wenig kopernikanisch anmutenden Umkehrung die bisherige und ewig natürliche Ordnung von Frage und Antwort um, in einer Vertauschung, die 215
der erkenntnismäßigen Frage jedes Gefahrmoment und jedes Risiko, das wesensmäßig in einer Frage liegt, nimmt: er fragt nicht nach dem, was er zu fragen hat — mit dem Risiko, es nicht beantworten zu können, prinzipiell aber nicht nur beantworten zu können, sondern sogar zu müssen —, sondern er fragt nach dem, was er beantworten kann. Er leitet — etwas akzentuiert gesagt — s t a t t aus der Frage die Antwort aus der Antwort die Frage ab. So entgeht er allerdings allen Fährnissen des philosophischen Abenteuers, aber er bringt auch nichts heim. Er fragt nicht nach dem, was er wissen soll (welches Soll nicht ein einfaches voluntarisches „Begehren", sondern ein logisch zu legitimierendes ist), sondern er fragt zunächst nach dem, was er weiß, und indem er das Inventar des Gewußten aufstellt, glaubt er, aus ihm die Antwort auf das NichtGewußte, also Gefragte, ablesen zu können — ein Irrtum von unabsehbaren Konsequenzen, eine Rechnungsmethodik, welche den Wert des Unbekannten gänzlich außer acht läßt, statt es wie der Mathematiker zu verwerten. Wissenschaftliche Philosophie — das heißt für Kant die deduzierte Bestandsaufnahme dessen, was wir unbedingt wissen. Was kann ich wissen? fragt Kant— nicht fragt er: was will, was soll und eventuell was muß ich wissen ? — wiewohl mir noch nicht die Methode gegeben ist, es zu erfahren ? Aber dies letztere könnte gerade der Sinn von Philosophie sein. Aus dem Bekannten das Unbekannte erfahren — das kann zweierlei bedeuten: einmal das unerläßliche Verfahren aller philosophischen Forschung, der eben nichts als das Bekannte, sei es das Gegenständliche, sei es die Struktur des erkennenden Bewußtseins, gegeben ist, und die nun auf irgendeine wissenschaftliche Weise versuchen muß, das Unbekannte aus diesem Gegebenen zu ermitteln. Aber dieses Ermittlungsverfahren könnte sozusagen an allen Gliedern gefesselt sein — es kann nämlich dahin eingeschränkt sein, daß keinerlei Ermittlung als wissenschaftlich gültige angesehen werde als die, welche durch Analyse des unbedingt sicheren Erkenntnisbestandes weiter gewonnen oder in ihm logisch impliziert sei, wenn der ganze Erkenntnisbestand vollständig aufgewiesen sei — was ja die 2l6
kritische Philosophie unternimmt. Die Analytik des unbedingt Gewissen aber braucht ganz und gar nicht gerade das herzugeben, was überhaupt den Erkenntnistrieb in Bewegung gesetzt hat, braucht keineswegs gerade die Antwort auf die Frage zu enthalten, auf die es dem erkennenden Bewußtsein ankommt. Kant allerdings glaubt das, muß aber alsbald die Erfahrung machen, daß diese — in der Tat als Erfüllung äußerst unwahrscheinliche — diese billig-harmonische Entsprechung des wissenschaftlich Verbürgten und des wissenschaftlich Fragbaren ausbleibt, daß die transzendentale Frage — also die eigentliche Frage der Vernunft im Bereiche des theoretischen Wissens aus der Bestandsaufnahme des Gewußten in der Tat keine Antwort erhält. Aber es wäre noch eine andere Ermittlungsmethode denkbar. Aus Kants Einteilung in analytische und synthetische Urteile scheint eine uralte philosophische Reminiszenz zu sprechen, die sich bis in die kritizistischen Überlegungen hinein in einer seltsam verkleideten und entspannten Form gehalten hat: die Vermutung davon, daß uns bloße Analyse das Ziel der philosophischen Forschnng nicht erreichen lassen könne, sondern daß dazu eine Art Synthese erforderlich sei. Aber welche? Hier begeht der Kritizismus geradezu einen tollen Sprung: synthetisch, das sind nach ihm in einer höchst raffinierten, aber alsbald zu durchschauenden Bescheidenheit, Urteile, in denen aus dem Subjektbegriff der Prädikatbegriff nicht ohne weiteres entnommen werden kann, weil keineswegs in ihm enthalten. Immerhin zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß das „Neue", welches (im Prädikatbegriff) des synthetischen Urteils a priori dem Subjektbegriff hinzugefügt wird, gar nicht in der Relation Subjekt-Prädikat (wie beim analytischen Urteil), sondern in der Relation Begriff-Anschauung stattfindet, während doch der Neuigkeitsgehalt, der das Urteil zum synthetischen macht, in der Relation Subjekt-Prädikat zum Vorschein kommen muß, allwo er aber so wenig wie beim analytischen Urteil herauskommt, sobald man das Urteil in der ihm eigentümlichen Sphäre, d. i. beim synthetischen Urteil a priori in der Anschauungssphäre betrachtet. Wenn man allerdings ein Anschauungsurteil wie ein Begriffsurteil ansieht, so macht sich das „Neue", das
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allein durch die Anschauung in die Beziehung der Begriffe gebracht wird, bemerkbar. Faßt man aber das Anschauungsurteil analog dem Begriffsurteil lediglich auf das Verhältnis von Subjekt und Prädikat ins Auge, um das Neue danach zu bemessen, ob das Prädikat im Subjekt enthalten sei und behandelt das Anschauungsurteil nicht wie ein Begriffsurteil, sondern nimmt das Anschauungsmoment — wie man muß — in die logischen Kreise Subjekt, Kopula, Prädikatsnomen mit hinein, so ist ein S ach unterschied zum analytischen Urteil nicht mehr zu ermitteln. Im Subjektbegriff zwar liegt dann nicht der Prädikatbegriff, das kann aber beim Anschauungsurteil auch gar nicht der Fall sein, aber in der Subjektanschauung liegt dann die Prädikatanschauung genau wie beim analytischen Urteil entsprechend der Begriffssachverhalt. Mit anderen Worten: Der kritizistische Unterschied zwischen synthetischen Urteilen a priori und analytischen, die Erkenntnis nicht erweiternden, ist, wenn er überhaupt zugelassen werden soll, in bezug auf die philosophische Zielrichtung ein höchst untergeordneter, sekundärer, nebensächlicher, der die eigentliche Absicht dieses Gegensatzes: zwischen der Neues vermittelnden, wahrhaft erweiternden und der erweiterungsunfähigen, bloß analytischen Erkenntnis zu unterscheiden, auf eine scheinhafte Weise befriedigt. Denn die tiefbegründete traditionelle, philosophische Antithese, an deren Stelle sich diese seltsame Urteilseinteilung schiebt, um die uralte Fragerichtung abzulenken, ward gebildet von der Forderung nach einer inhaltlich wahrhaft Neues gebenden, d. h. i m g a n z e n Umkreise der Erfahrung nicht anzutreffenden Einsicht und der die Erfahrung selbst wiedergebenden Kenntnis der Empirie. Dieser inhaltliche, große, sozusagen auf „Ewigkeitsprobleme" gehende Anspruch, der mit dem Terminus synthetisch belegt war, weil er wirklich bisher Unbekanntes und Neues auszusprechen und zu erkennen verlangte und der mit dem Kennzeichen a priori charakterisiert war, um anzuzeigen, daß die ganze Erfahrung diesen neuen Erkenntnisinhalt nicht hergeben könne — diesen „a priorisch-synthetischen" Urteilen, die, scholastisch verstanden, die Antworten auf die höchsten Fragen des philo218
sophischen Triebes überhaupt enthalten sollten, substituiert Kant die Formalerkenntnisse der Geometrie, der sonstigen reinen Anschauung und des Kanons der reinen Naturwissenschaft. Daß dies zwar die Einzelwissenschaften — die übrigens auch ohnedies trefflich funktionieren könnten — fundamentieren würde, mag angenommen werden, daß aber das so ärmlich verstandene „Neue" der Erkenntnis nicht die „eigentlich" gesuchte Synthesis war, auf die das ewige philosophische Problem zielte, das war evident, blieb natürlich auch Kant gar nicht verborgen, der eben derartige Ansprüche als „ungerechtfertigte" abschneiden mußte. Das Inventar des unbezweifelbar Gewußten also enthielt die Antwort auf das philosophisch Gefragte nicht — auch nicht mit Hilfe jener sog. Synthesis, die einen spärlichen Ansatz an die Stelle des möglichen Ausmaßes der wirklichen Synthesis setzt. Also muß, wenn der Bestand des Wissensgutes, das Arsenal des Bekannten, nicht auf die Frage nach dem Unbekannten antwortete, dieses Unbekannte selbst in der Methodik des Antwortforschens auftreten: Das aber heißt nicht die „unechte" Synthesis, die des Gewußten, sondern die echte Synthesis, die des Nicht-Gewußten, in Bewegung setzen, losbinden — die freie und ungehemmte Suchund Verknüpfungsoperation des Geistes: die systematischuniversale Imagination. Hier aber erhebt sich ein geradezu kopfloser, methodologischer Schrecken, eine panische Besinnungslosigkeit, welche die Wissenschaft befällt, die sich der Gefahr der „uferlosen Schwärmerei" ausgesetzt sieht, ohne zu bedenken, daß, wenn man nur diesem Schrecken vor dem Unendlichen standhält, dieses sich vielleicht mit dem Gegebenen zu einem gegründeteren System verbindet, als es die Vorsicht zu erfinden vermag, die sich auf dieses unendliche Meer nicht hinauswagt—zu einem wissenschaftlicheren Ganzen, das überdies die Antworten enthalten muß, die die ängstüche Beschränkung auf das Rezeptiv-Konstatierbare niemals enthalten kann. Aber diesen Gedanken gilt es noch späterhin zu präzisieren — das Problem der wirklichen Synthesis und Spontaneität wird in folgendem noch eingehender geklärt werden. Zunächst jedenfalls ist festzuhalten, daß der Versuch eines Fortschreitens vom Bekannten zum Unbekannten ohne 219
dieses letztgenannte in einer noch anzugebenden Form zu bemühen, in die Rechnung hineinzunehmen, in eben der Unfruchtbarkeit enden muß, in der er in der Tat geendet hat. Es ist also als erstes jene oben gestreifte „Umkehrung" rückgängig zu machen, die Umkehrung von Frage und Antwort, die der Kritizismus vorgenommen hat und vornehmen konnte, weil bis zu ihm der philosophischen Frage ihre Dignität, ihr unverrückbares Eigenrecht fehlte. Das aber gilt es ihr zu geben. Anstatt den Gesamtbestand dessen, was man schon weiß, durch Analyse aufzunehmen, also mit der Aufstellung der Komplexe „antwortartigen" Charakters — wie es die Struktur des Erkenntnisorganismus und der aus ihm abgelesenen „Natur" und „reinen Erfahrung" ist — zu beginnen, sei hier an die Umkehrung und gleichsam natürliche Ordnung von Aufgabe und Lösung erinnert und zuvor die philosophische Frage stabilisiert und gerechtfertigt: ohne Rücksicht darauf, ob man faktisch imstande sein werde zu antworten, aber in der Gewißheit, daß jedes Erkenntnisverfahren, jedes philosophische Beginnen auf Irrtum beruhen müsse oder wissenschaftlich nicht haltbar sein könne, das prinzipiell nicht in der Lage sei zu antworten. Denn dies und gar nichts anderes kann überhaupt das Kriterium von wahr und falsch werden. Die Wahrheit irgendeines Satzes etwa der Geometrie oder der Logik genügt keineswegs, um den Prototyp der philosophischen Wahrheit abzugeben, und die Summe der wahren Sätze macht nicht den Inhalt der Wahrheit aus — vielmehr ist die Antwortfähigkeit der philosophisch-wahren Urteile auf die legitimierten Fragestellungen unerläßlich hinzukommende Bedingung des Wahren. Daß es schon die zureichende Bedingung sei, ist damit keineswegs gesagt. Die philosophische Wahrheit ist nicht in dem Sinne andere Wahrheit als die der Einzelwissenschaft, selbst als die der Mathematik, daß es ihr an „Strenge" im Vergleich mit dieser gebräche, sondern in dem Sinne, daß diese Strenge nicht so leicht und nicht so „schnell" nach dem Auftauchen der Frage demonstrierbar ist: zwischen der Frage der Philosophie und der Antwort auf sie liegt ein nicht nur zeitliches, sondern sachlich-inhaltliches Spatium, das alle Frage-Antwort-Spatien aller Wissenschaften übergreift, die 220
infolge des geringeren Abstandes zwischen Aufgabe und Lösung relativ wenig zur exakten Entscheidung von wahr und falsch zu verwenden, zu überschauen haben. Die Alternative wahr-falsch muß notgedrungen in der Philosophie länger „in der Schwebe" bleiben als irgendwo sonst. Gewiß, davon könnte der Irrtum zehren, indessen ist dieses Risiko nicht allzu groß, denn der Mißerfolg des Erkenntnisunternehmens ist viel zu offensichtlich, als daß eine Scheinwahrheit sich generell behaupten könnte. Denn gerade der Triebcharakter im Erkenntnisorganismus gewährleistet eine Unbestechlichkeit des Urteils, die immer, wenn es sich um Wirklichkeiten handelt, die ein Trieb beansprucht, kaum ernsthaft getäuscht werden kann und die aller oberbewußten außererkenntnismäßigen Interessen ungeachtet die innere Unzufriedenheit mit Scheinlösungen wachhält. Daher denn auch über nichts so allgemeine Übereinstimmung zu erzielen ist als darüber, daß die Philosophie ihre Aufgabe nicht erfüllt hat und sich noch nicht einmal erweislich auf dem Wege dazu befindet. Steht aber dieser Fehlschlag fest, so wird er, wie immer, wenn das Bewußtsein davon eindringlich wird, zum Anlaß einer erkenntnistheoretischen Untersuchung über die Wurzel dieses Versagens, eine Nachforschung, die prinzipiell die beiden Möglichkeiten hat, das Versagen zu erklären und hinzunehmen und zu sanktionieren oder es mit einer Erklärung beheben zu wollen. Das erste tut der Kritizismus, der dem Erkennen gegenüber „ewige Schranken" aufrichtet und damit, wie oben angedeutet, einen Selbstwiderspruch im Wesen der Erkenntnis, deren Hemmnisse von außen bzw. im Inhalt im Gegenstand der Erkenntnis durchaus hinreichen, um sie nicht in die Struktur, in die Form des Erkenntnisvermögens bzw. nach innen verlegen zu müssen — das zweite soll hier versucht werden. Während die kantische Erkenntnistheorie dem Erkenntnisbegehren „Überspannung der Ansprüche" vorwerfen muß, um die Beschaffenheit des Resultats oder vielmehr das Nicht-Resultat zu rechtfertigen, soll eine sozusagen positive erkenntnisermöglichend, nicht erkenntnisverneinend, gerichtete Erkenntnistheorie versuchen, wie wir anderwärts formulierten, „einmal nicht unser Denk221
vermögen zum Richter über den Fehlschlag, sondern den Fehlschlag zum Richter über unser Denkvermögen zu machen" und zuzusehen, ob es denn wirklich unrevidierbar alles aufgeboten habe, was es aufbieten könne, ob wirklich kein allzu gering verstandener und kein unvollständig mobilisierter Erkenntnisorganismus am Werke gewesen sei, „um seiner Aufgabe, die eine Art oberstes Kriterium bleibt, gerecht zu werden und um den transzendentalen Mißerfolg nicht hinzunehmen, sondern zu vermeiden". Zu dieser als Maß allen erkenntnistheoretischen Beginnens zu fassenden Aufgabe der Philosophie seien ein paar Bemerkungen gestattet, die hier nur als Hinweise, nicht als Begründungen eines zu begehenden Weges gelten können: es handelt sich darum, sich von der Aufgabe der Erkenntnis, von der nur ein verworrenes und erkenntnistriebmäßig-dunkles Bewußtsein besteht, ein belichteteres Bild zu machen, indem man sie zunächst überhaupt aus der unklaren peripherischen Atmosphäre ihres bloß psychologisch oder voluntarisch empfundenen Daseins herauszieht und sie in die Region der Systematik einstellt. Da ist zuerst zu betonen: Das philosophische Problem ist keine bloß-psychologische oder gar bloß-voluntarische, sondern ebenso sehr eine erkenntnismäßige Angelegenheit von einem den denkmäßigen Aufweisbarkeiten völlig gleichen Geltungsgrad — nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Ist irgendein Element des wissenschaftlichen Denkens und Erkennens eine Gegebenheit mit positivem, so ist das Problem eine Gegebenheit mit negativem Vorzeichen. Wir haben oben den Sinn dieses Phänomens der negativen Gegebenheit, besser des „Gegebenseins eines Negativums", eines Vakuums, hinreichend erörtert. Es genügt also, daran zu erinnern, daß diese fehlenden Gegebenheiten, deren Fehlen demonstrierbar ist und das sonst kontinuierliche Bild der Erfahrung sowohl unterbricht als auch umgrenzt, der Geltungssphäre nach dieselbe Valenz besitzen wie die positiven Daten des Seins und des Denkens, und daß sie die eigentlichen „Tatsachen der Philosophie" so wie die Positiva die „Tatsachen" der Einzelforschung sind. „Das Problem" läßt sich von der psychologischen Pro-
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blem-Empfindung grundsätzlich sondern und bildet einen Erkenntnistatbestand wie andere auch, nur daß seine Negativität eben seinenFragecharakter ausmacht. Eshandelt sich mithin darum, das Problem zu systematisieren, d. h. zu untersuchen, ob es nicht fruchtbarer und logischer sei, statt mit einer deduzierbaren Bestandsaufnahme des Gewußten oder des zu Wissenden mit einer solchen des zu Fragenden erkenntnistheoretisch zu beginnen. Nicht mit einem „Unzweifelhaft" hat die Philosophie anzufangen, mit einem Sicheren, von dem dann alles Weitere durch verbürgte Methodik als ebenfalls Sicheres herausgeholt würde — auch nicht mit dem erkenntnistheoretischen Zweifel im Sinne des Cartesius, um sofort den unantastbaren Ausgangspunkt zu finden, das cogito ergo sum oder etwas anderes Gewisses, sondern mit der Stabilisierung eines definierbaren Ungewissen, mit der Unantastbarmachung eines Unbestimmtheits-Tatbestandes, der dennoch umschreibbare Elemente enthält, kurzum mit der Aufrichtung und strengen Sicherung eines Fragwürdigen, das mm nicht etwa alsbald zugunsten einer sich daran schließenden Antwort als „erledigt" verlassen würde, um zu neuen Fragen fortzuschreiten, sondern das während des ganzen Weges der Philosophie ein Kompaß der Untersuchung, also aufrecht erhalten bleibt. Die „Sünde" gegen das Problem, sein Vergessen, Umdeuten, Unlösbar-Erklären ist die Kardinalsünde der Philosophie. Das „Unterwegs" der Philosophie unterscheidet sich grundsätzlich von dem „Unterwegs" der Einzelforschung. Während die Sicherheit des einzelwissenschaftlichen Fortschreitens, die „Exaktheit" der Methode in den Ergebniseffekten an jedem beliebigen Punkte ihres Weges aufweisbar ist, weil jedes festgestellte Ergebnis eine ruhende Stufe für die nächsten ist — muß der Forschungsweg, der sich an die philosophische Frage schließt, in dem Bewußtsein begangen werden, daß in Hinsicht auf die Stringenz alles bis zum Schluß der Antwort in einer gewissen Schwebe bleibt, so daß die strengsten Kriterien der Evidenz und Gültigkeit erst an die Schlußgestalt der philosophischen
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Antworten angelegt werden können, aber weil sie auch an diese angelegt werden müssen, schon „jetzt", schon im Beginn als methodische und heuristische Leit-Motive den formalen Charakter der Antwort vorweg bestimmen: So wurde hier V e r w i r k l i c h u n g der K o n s t r u k t i o n , Eintritt der Erkenntnisgebilde in die Erfahrungswelt, nach dem „Herstellungsprinzip" der Goldbergschen Ontologie als das theoretisch maximale Wahrheitskriterium einer philosophisch-gedanklichen Hervorbringung, als Zielkriterium der Exaktheit philosophischer Überlegung angegeben. Damit ist die Wegmöglichkeit der Philosophie schon in bestimmter Weise umgrenzt. Die formale „ E v i d e n z " , etwa im Sinne der Mathematik oder der Logik, ist eben infolge ihres formalen inhaltleeren Charakters nur im Bereiche der t h e o r e t i s c h e n Konstruktion und nur solange diese das Erkenntnisunternehmen beherrscht, also „ i n m i t t e n des Weges", als Kriterium zuständig: sozusagen solange die Philosophie noch das Gebiet des „ b l o ß e n " Erkennens durchschreitet und ihre „herstellende" Funktion noch nicht zur Betätigung gelangt ist, was ja erst in der Ziel-Phase des Denkens überhaupt vorzustellen ist. Diese Evidenz ist die Evidenz des Systems. Das bedeutet schon, daß es der Philosophie an ZwischenKriterien für das Unterwegs keineswegs mangelt, von denen hier nur zwei aus mehreren betont seien: erstens der w i d e r spruchslose s y s t e m a t i s c h e Charakter der erkenntnismäßigen Vor-Ergebnisse, welche einerseits zur wachsenden Geschlossenheit, andererseits zur denkbar größten Umfänglichkeit des Systems tendieren (wie das „Vollständigkeitsprinzip" es verlangt) und zweitens die systematische Fruchtbarkeit des jeweils bereits Erarbeiteten in Richtung auf einen Abschluß des Erkenntnisunternehmens, die Sichtbarkeit des Näherkommens an das Ziel, das ja nicht umgedeutet werden kann, wenn es „zu schaffende Wirklichkeit" heißt. Sicher und unantastbar bleibt in allen „Abenteuern" der Erkenntnis das Problem und seine Systematisierung. Ein solcher Versuch hätte es als erstes zu unternehmen, die erkenntnismäßigen Probleme daraufhin zu rangieren, welche Probleme in einem anderen enthalten und notwendig 224
mit ihm mitgedacht würden, um so ganz analog zu dem kategorialen Aufbau der Verstandes- und Vernunft-Elemente zu einer systematischen Ordnung der Problem-Ausdrücke zu gelangen. Zu der wesentlichsten Leistung einer solchen Systematik, von der in den Grenzen dieser Überlegung nur die Idee umschrieben werden kann, gehört es, die Unterschiedlichkeit zwischen den ungezählten beliebig vermehrbaren sog. „Problemen", den auftauchenden und verschwindenden Fragen der Einzelwissenschaft und den wenigen, endlichen, wirklich philosophischen Problemen herauszuarbeiten, deren Fragen den ganzen Weg der Philosophie begleiten. Die Deduktion und das Gesamtgefüge der echten Probleme hätten an die Stelle des Kanons der reinen Naturwissenschaft des Kritizismus zu treten. Dabei werden sich alsbald die der „Unlösbarkeit, der Ewigkeit verdächtigen" Probleme von allerlei Fragen sondern, denen durch beizubringende Kriterien anzusehen ist, daß sich zu ihnen in nicht allzu großen Umwegen entsprechende Antworten denken lassen, und es werden sich Sphären der Probleme ergeben. Um das zu erkennen, genügt der Hinweis auf den Gegensatz von Problemen wie das der Relation von Bewußtsein und Ausdehnung gegenüber Fragen wie die nach der elektromagnetischen Natur des Lichts oder den Vererbungsgesetzen der Biologie. Das Wichtige hierbei ist zunächst, daß der sog. Verdacht der Unlösbarkeit sich niemals zu einem E r g e b n i s verdichten darf, sondern nur als höchstes Schwierigkeitsindizium und als Ausdruck der Unendlichkeit des Feldes der Konkretion gerade umgekehrt zur Gewähr einer Lösungsmöglichkeit wird, wofern nur der Übergang von der Region der Rezeptivität — als in welcher die „Unmöglichkeit" steckt — zu der der vollen Spontaneität gewagt wird, welche zwar nicht des Unendlichen Herr werden kann, aber, mittels seiner, dessen was sie erstreben kann. Im Ergebnis lassen sich alle die zum Thema der „Philosophie als Wissenschaft" bisher vorgetragenen Gedanken in einem gegen die kritische Fassung dieses Ideals gerichteten Einwand zusammenziehen: daß sie die Unantastbarkeit und Sicherungsnotwendigkeit des philosophischen Problems nicht kenne, die Dignität des Gewußten über die Dignität U n g e r , Wirklichkeit.
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des Gefragten, besser die Dignität des im Antwortsinne Gewußten über die Dignität des im Fragesinne Gewußten stelle und so den eigentlichen Sinn des philosophischen Werkes, das noch langfristig von dem Offensein der Fragen auszugehen habe und auf weitem Felde zu bearbeiten sei, mit dem dürftigen System des Gewußten voreilig abschließe und verstelle. Denn in dem Gegensatz zwischen dieser vorzeitigen Erledigung der Probleme durch die Umschreibung dessen, „was wir überhaupt erkennen können" einerseits, und dieser auf lange Sicht hin bewußten Offenhaltung des Problems andererseits — in dieser Alternative liegt schon die ganze Antithese zwischen der R e z e p t i v i t ä t der Orientierung (welche eine angeblich „vorhandene" begrenzende Struktur „der" Erkenntnis rezipiert) und einer Spontaneität, welche schließlich nötig wird, wenn das ständig fragende Motiv im Erkennen und die ständige Pflicht zur Beantwortungsarbeit als das unverletzbare Erste der Philosophie angenommen wird. Unter dieser Perspektive gilt kein „Nein", denn die Frage ist Herz und Wesen der Erkenntnis selbst, und jede Erkenntnisstruktur wird suspekt, die ihrem Gegenstande unebenbürtig ist, d. h. prinzipiell antwortunfähig ist, obwohl sie die Frage rechtmäßig konzipiert hat. Wird so notgedrungen die Spontaneität, und zwar die volle und ungehemmte, auf den Plan gerufen, denn die im rezeptiven, „gegenstandsgeführten" Denken verborgene Schein-Spontaneität erwies sich als Diener eben der rezeptiven Grundeinstellung, so wird ihr mit aller Vehemenz das Signum der „Wissenschaft" entgegengehalten. Denn freie Spontaneität und Wissenschaftlichkeit, so scheint es, sind unvereinbare Gegensätze.
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IV. KAPITEL.
DER BEGRIFF DES UNENDLICHEN AUF GRUND DER PHILOSOPHISCHEN PRINZIPIEN DER GOLDBERGSCHEN ONTOLOGIE. DIE VOLLE SPONTANEITÄT ALS MERKMAL DES WISSENSCHAFTSBEGRIFFS DER PHILOSOPHIE. Machen wir uns zunächst den Sinn der Bewußtseinsspontaneität gegenwärtig: Gewiß, jedes Denken, Begriffe bilden, Abstrahieren und Verknüpfen geschieht als spontane Handlung, aber diese „Spontaneität" ist hier nicht gemeint, da von ihr im prägnanten, d. h. im exorbitanten Sinne gesprochen wird. Da taucht als erstes Merkmal einer gesteigerten Spontaneität, von der die rein denkmäßige der eingeschränkteste Ansatz ist, das freie Imaginieren auf, die zunächst durch nichts beeinträchtigte Phantasie — als Schreck- und Gegenbild aller „exakten Wissenschaftlichkeit". Welches ist nun das wahre Verhältnis des vorerst durch keine legitimierten Grenzen zurückgehaltenen, frei konstruierenden Vermögens der Seele zur Wissenschaft, die wir als Prinzip der „Rezeptivität" dartun konnten ? Der Maßstab aller Wissenschaft kann nur Realität sein oder, was in gewisser Weise dasselbe ausdrückt, Erkenntnis ihrer — die Realität aber hat einen Umriß, hat Grenzen, die „an sich" oder „erkenntnisimmanent" existierend (das gilt hier gleich) dem Schweifen der Einbildungskraft Halt gebieten oder unterscheiden machen zwischen Realem und Irrealem. Allerdings — aber das Erkennen wird zur Idee des Unendlichen fortgeführt, und es entsteht aus der Problematik der Realität heraus die Möglichkeit einer ontologischen Geltung, eines Seins des Unendlichen. Damit ist die Frage nach dem Erkenntnisorgan des Unendlichen gegeben. Eine „rezeptiv" eingestellte Erkenntnistheorie würde sich keinen Augenblick besinnen, als das geistige Organ zur Erfassung des Unendlichen ausschließlich das begriffliche Denken zu bezeichnen und das wäre auch völlig in der Ordnung, wenn sicher wäre, daß das 15*
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sog. begriffliche Denken nicht unter dem feindlichen Einfluß der gegebenen Realität stünde und darum das Wesen des Unendlichen nur formal zu ergreifen trachtete, d. i. als unendliche Fortsetzbarkeit von in der Realität gegebenen Größen: als Unendlichkeit des Raumes, der Zeit, der Materie usw. Es ist nach der hier vertretenen Theorie eine entscheidende philosophische Wendung, die Oskar Goldberg vorgenommen hat, als er die von der gegebenen Realität qualitativ-verschiedene Wesenheit des Unendlichen grundsätzlich zum Ausdruck brachte: dadurch, daß er es als ontologische Notwendigkeit erkannte, vom Empirisch-Gegebenen unterschiedene Gebilde, in der Form einer potentiellen Existenz und den Rahmen einer dem Unendlichen zukommenden idealen Vollständigkeit erfüllend, als zu dem Inbegriff der Unendlichkeit gehörig zu denken. In der Goldbergschen Terminologie sind das die „unendlichen (potentiell) realen Möglichkeiten", während das „Vollständigkeitsprinzip" als das heuristische Prinzip jeder konstruktiven Fortsetzung empirischer Sachverhalte zu interpretieren ist. Diese Konstruktion allein bietet eine Handhabe, von dem Inhalt der Unendlichkeit zu reden, als einem gegenüber allem Erfahrbaren, qualitativ andersartigen unendlich-möglichen, und dieser unendliche Inhalt ist dem formalbegrifflichen Denken gar nicht oder nur dann zugänglich, wenn es eine Verbindung dieses Denkens mit der freien und ungehemmten Imagination gibt. Denn die Einbildungskraft ist das einzige geistige Vermögen, welches vom Gegebenen unterschiedene Inhalte zu vergegenwärtigen vermag. Nun steht allerdings die Möglichkeit des begrifflichen Denkens eines imaginativen Sachverhalts völlig fest, gleichwohl ist die logische und realitätsbedeutende Struktur eines solchen Denkens infolge der herrschenden Erkenntnisvorstellung gänzlich ununtersucht und bedarf mithin einer systematischen Betrachtung, die natürlich hier nicht zu geben ist. Der Grund, warum die imaginative Erfassung des unendlichen Inhalts nie und nirgends in der Philosophie aktuell geworden ist, sondern die formalbegriffliche Behandlung der Unendlichkeitswesenheit sozusagen „genügte" — der Grund davon ist dieser, daß sie als ein Gegenstand unendlichen, d. h. un-
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bestimmten und unbestimmbaren Inhalts gedacht werden mußte, so daß begrifflich lediglich umschreibende, d. h. allgemein definierende, d. h. aber formale Merkmale sie kennzeichnen konnten: wie etwa das „Einzigsein" des Unendlichen (Spinoza) oder „Ort des Zusammenfallens der Gegensätze" (Cusanus); oder das Merkmal des Unendlichen: „derjenige]1) Prozeß zu sein, in welchem es sich herabsetzt, nur eine seiner Bestimmungen, dem Endlichen gegenüber und damit selbst nur eines der Endlichen zu sein, und diesen Unterschied seiner von sich selbst zur Affirmation seiner aufzuheben und durch diese Vermittelung als wahrhaftes Unendliches zu sein" (Hegel, Logik). Wie man sieht, sind das durchaus formale Umgrenzungen, welche, seien sie nun zutreffend oder nicht, auf jeden Fall die Forderung nach einer Inhaltsaufweisung im Unendlichen übrig lassen. Dieser Versuch einer inhaltlichen Vergegenwärtigung in diesem Bereich aber ist, wie sofort bemerkbar, mit der Gefahr eines offensichtlichen Verstoßes gegen das Unendlichkeitscharakteristikum belastet: ein Bestimmtes, q u a l i t a t i v Denk- oder Vorstellbares innerhalb des Unendlichen annehmen zu wollen, während doch jede Bestimmtheit das Endlichkeitsmerkmal mit sich führt. Indessen darf darauf verwiesen werden, daß die Konzeption des Inhalts im Unendlichen einerseits so angesetzt werden kann, daß solche Bestimmtheit nichts „schadet", den Unendlichkeitscharakter unberührt läßt: in dem Falle nämlich, als sie eigentlich zugleich wieder rückgängig gemacht wird, indem erstens die unendliche Vollständigkeitsreihe aller solcher Inhalte die Bestimmtheiten der einzelnen wieder ausgleicht (um sich hier mit einer Verdeutlichung zu behelfen, da wir all dies nur andeutend behandeln: man denke etwa an die „Koinzidenz" von Gegensätzen bei Cusanus) und insofern zweitens der ebenfalls von Goldberg akzentuierte Potentiale Charakter des im Unendlichen Angesetzten eine'ganz andere Variabilität solcher Inhalte zuläßt, als sie die Kategorie des empirischen Wirklichseins zuließe. Selbstverständlich konnte und brauchte diese Unendlichkeit der qualitativen Inhalte nicht „aufgerollt" zu werden. ') Eckige Klammer und folgende 3 Sperrungen von mir.
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Das Wesentliche aber ist, daß, wiewohl der systematische Gedanke dieser inhaltlichen Erfülltheit des Unendlichen im einzelnen sozusagen wieder zurückgenommen wird, die Unendlichkeit dennoch, als so inhaltlich ausgefüllt, überhaupt erst begriffen wird: Denn: mochte die formale, begrifflich umschreibende Kennzeichnung des Unendlichen immerhin ausreichen, sofern es als eine in sich ruhende Wesenheit, die höchstens Erkenntnisobjekt sein konnte, gedacht wurde, so genügte solche formalbegriffliche Erfassung der Unendlichkeit in dem Augenblick nicht mehr, da sie nicht nur Gegenstand der reinen Erkenntnis war, sondern sozusagen realiter „gebraucht" wurde. Und das ist der zweite grundsätzliche, anschließende Gedanke in der von Goldberg aufgestellten Systematik, daß das Unternehmen der Erkenntnis nicht nur in sich selbst ende, sondern zugleich in einem Wirklichen außerhalb seiner selbst münde — der Gedanke des Prinzips der „Herstellung". Zu solcher Herstellung aber war gleichsam „ein Raum außerhalb des GegebenWirklichen" unerläßlich: erkenntnistheoretisch ausgedrückt: das Denken und Erkennen — ontologisch gesprochen: das Unendliche. Trat das Unendliche aus seiner ruhenden Unbewegtheit der formalen Begrifflichkeit heraus und in die Beziehung einer Herstellungsfunktion zur gegebenen empirischen Wirklichkeit, wurde es, wie wir es oben ausdrückten, „Konstruktionsboden einer Realität", so verlor es ebendamit seine nur-abstrakte Unbestimmtheit und Indifferenz und ward in der Richtung zur Erfahrung hin, in der „Gegend", in der Nähe der Erfahrung in relativ bestimmten Bildern lebendig: Es wurde im Prozeß der Konkretisierung ausgewertet. Aber diese Bilder, die einen Realitätsindex von wachsendem und fallendem Grad besitzen, konnte nichts erzeugen als das ungehindert konstruierende Vermögen der Seele, und hier war der Punkt, an dem sich herausstellte, daß die Einbildungskraft keine, an der Not des Daseins gemessen, „überflüssige", künstlerische Anlage der Seele war, sondern das unersetzliche Mittel, den Inhalt des Unendlichen dort aufstehen zu lassen, wo er bestimmt wurde, in den Bezirk des Erfahrbaren durch ständige Bearbeitung hinübergeführt zu werden: die Imagination und nur sie wurde zum Erfas-
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sungsorgan des noch nicht empirisch Seienden — zum Zwecke eines Entstehenlassens von Empirisch-Seiendem. Und hier handelt es sich zugleich um jenes Schwierigste: das Imaginieren nicht einzuschränken, nicht den Gesetzen des Gegeben-Wirklichen zu unterwerfen — es sei denn in Hinsicht auf die V e r w i r k l i c h u n g , nicht aber in Hinsicht auf das Ziel. Dies eben ist — im Verfolg der Goldbergschen Grundeinstellung — der Sinn des „Raumes" der Unendlichkeit, daß hier keine Verengerung, kein Aneinanderzwingen und kein Kompromiß nötig ist. Die Funktionen des Denkens und Erkennens im engeren Sinne — also unter Ausschluß der ungehemmt imaginativen Bewußtseinskraft — bestimmen sich danach folgendermaßen: die herkömmliche Vorstellung wird bei dem Vorhaben irgendeiner auf Herstellung ausgehenden Tätigkeit des Bewußtseins einen fixierten Pol, eine ruhende Basis ansetzen: das empirisch Gegeben-Wirkliche. Die Vorstellung, die an der Goldbergschen Systematik grundsätzlich orientiert ist, aber wird zwei fixierte Punkte ansetzen, von denen aus sie das „philosophische" Herstellungsbeginnen sichtet: der erste Punkt ist der, der die gegebene Erfahrungsrealität repräsentiert — mit ihren Bedingungen und inhaltlichen Gesetzen —, der zweite Punkt aber, der außerhalb der Erfahrungsrealität und in den Bereich des Unendlichen fällt und der ebenfalls f e s t g e h a l t e n werden muß, bezeichnet dasjenige Gebilde, für dessen Konstruktionsnotwendigkeit das Bewußtsein kein anderes Indiz besitzt als das Wollen — und zwar jedes in seiner Art unablässige Wollen, das aus einer seienden K o n s t i t u t i o n heraus geboren wird. Das Wollen, und zwar das unwillkürlich in bestimmter Hinsicht unablenkbare, ist der Richtungsweiser und das indicium eines sozusagen schattenhaften Realseins: eben des notwendig, zuweilen „ewig", Gewollten. Das Wollen ist hier ganz analog dem platonischen tgcog das Anzeichen einer Art „halben Daseinsintensität", wenn das Dasein die ganze ist, und was die Verwirklichung antrifft, so ist es ein prägnanter Sinn des Unendlichen, den R a u m dafür herzugeben, daß der Punkt des als notwendig Gewollten in der unendlichen Wiederholung eines „geometrischen Ortes" gegeben werden kann, so daß er an einer Stelle, ohne restringiert, einge-
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schränkt zu werden, zwar verwandelt aber nicht kompromißhaft verwandelt oder aufgegeben, in den Treffbereich mit dem Gegeben-Wirklichen gebracht werden kann. Das Entscheidende aber ist, daß in der Fixierung des Zielpunktes der Verwirklichung das Wollen vorerst sich, und nicht dem Empirisch-Gegebenen folgt, nicht zu früh auf das empirisch „Mögliche" bückt, daß es ungehemmt (und ohne sich später schwer rächende Rücksicht auf den Umkreis des „Erreichbaren") die Imagination seine, des Wollens Ziele, die, wie hier nicht weiter auszuführen, zugleich die, erkenntnismäßig gesprochen, Problem-Ausdrücke sind, entwerfen, ausdrücken läßt, und daß erst dann die Verbindung zwischen der einen geometrischen Ort einnehmenden Reihe der imaginativen Gebilde und dem Reich der Erfahrung gesucht wird. Diese Verbindung ist das Gebiet, auf dem die „Anwälte" des Rezeptiv-Erfaßbaren, der empirisch vorhandenen Wirklichkeit: das Denken und Erkennen des positiv Gegebenen, mit den Anwälten des nur Spontan-Erfaßbaren, der notwendig gewollten und unendlich potentiellen Wirklichkeit: das Wollen und Imaginieren in einer Absicht zusammentreffen: Wirklichkeitsherstellung. Erst diese ganze organismusartige Verteilung der Bewußtseinsfunktionen erfüllt die Forderung der Wissenschaft im äußersten Sinne, nicht schon jenes im Prinzip der Rezeptivität dienende Fragment, das gegenwärtig Wissenschaft heißt, und hierbei ist auch die Betätigung der uneingeschränkten Spontaneität, der freien Imagination, als wissenschaftliche bestimmt. Wollte man dies in der Sprache der an die Rezeptivität des Wissenschaftsbegriffs gewohnten Vorstellungswelt ausdrücken, so wäre es ebenfalls möglich; man hätte dann zu sagen: das Moment der Rezeptivität, des Geführtwerdens der Erkenntnis durch einen Gegenstand, erstreckt sich in der Tat, wenn auch fortgesetzt abnehmend und schließlich nahezu Null werdend, bis in das Feld des Maximums der Spontaneität, der ungehemmt tätigen Einbildungskraft. Und zwar sind es die folgenden Ausdrücke eines logischen und systematischen Motivierens, einer gegebenen Gegenständlichkeit, eines das Bewußtsein bei seinem Vorgehen Zwingens, kurzum einer Struktur, welche die Erkenntnistätig232
keit bis in ihr spontanstes Stadium begleiten: erstlich die Gegenständlichkeit, die in jedem echten Problem drinsteckt, die zwar einerseits eine.negative Gegebenheit ist und insofern das philosophische konstruierende Denken in Bewegung setzt, aber doch auch zugleich die Grenzen dieser Negativität, die Kennzeichnung des Problems, als positive Daten enthält (dergestalt, daß etwa beim psychophysischen Problem zwischen Materialität und Bewußtsein zwar ein Vakuum des Gegebenseins klafft, andererseits doch aber eben das Gegebensein von Materialität und Bewußtsein die Grenzen dieses Vakuums, als positive Daten, bezeichnet). Diese Positivität also ist das erste „Feste", rezeptiv-Faßbare, an das sich das Erkennen bei der Erfüllung der „Leere" zwischen den Gegebenheiten „halten" kann. Zweitens ist im Bereich der spontanen Aufgaben des Denkens das in obiger Weise präzisierte „konstitutionshafte Wollen" ein Ausdruck einer „Gegenständlichkeit", also eines rezeptiv Aufgenommenen oder Aufnehmbaren: Das Wollen ist der Anzeiger eines „uneigentlichen Vorhandenseins". Das Bewußtsein kann nicht Beliebiges wollen — das nach gewissen Kriterien als wesenhaftes Wollen zu diagnostizierende Tendieren ist also der Ausdruck einer Konstitution, einer „Struktur", die mithin ebenfalls Merkmal einer die Erkenntnis führenden Gegenständlichkeit ist. Und schließlich ist sogar das Unendliche ein „Gegenstand". An ihm wird am deutlichsten, was schon bei den soeben zu erst und zu zweit genannten Gegenständlichkeiten im Bereich der Spontaneität gilt: alle diese Gegenstände, der Problemausdruck, das konstitutionshafte Wollen und das Unendliche sind nicht wie die Gegenstände der sonstigen Wissenschaften im wesentlichen gegeben, sondern sie sind im wesentlichen nicht-gegeben und nur im Ansatz gegeben: Sie sind ohne radikalste Spontaneität des Bewußtseins nicht gegeben. In Sonderheit das Unendliche ist zwar formalbegrifflich ohne äußerste Bemühung der Einbildungskraft als Gegenstand zu denken, aber der Gegenstandscharakter, den das Unendliche so darbietet, gleicht eher der vagen Kontur eines aus kosmischer Ferne Wahrgenommenen als einem im optimalen Blickfeld liegenden Gegenstand, in welches das Unendliche zu bringen 233
ein Verbot der herkömmlichen Wissenschaftshandhabung zu bestehen scheint, weil dazu die ihr ungewohnte Funktion der angespanntesten Imagination in Bewegung gesetzt werden müßte: Das Unendliche, zu dessen Erfassung die Rezeptivität im Minimum und die Spontaneität im Maximum ihrer Entfaltung benötigt wird, sofern das Unendliche nicht als ein abgetrennter für sich bestehender Gegenstand, sondern als ein in Verbindung mit der Erfahrungswelt befindlicher auftritt, unterscheidet sich somit von allen übrigen Gegenständen eines möglichen Wissens dadurch, daß es noch weniger als alle diese ein stehender, ruhender Gegenstand ist, sondern daß das Erfassungsorgan wie ein Fühler bewegt werden muß, um auf irgendwelche Punkte seines Gegenstandes zu treffen, und daß dieses Organ immer nur Gefahr läuft, zu wenig zu konstatieren, niemals zu viel — günstigenfalls aber Hinreichendes, nicht etwa um den unendlichen Gegenstand in seiner Ganzheit zu ergreifen — das geschieht, wenn überhaupt, höchstens formal —, sondern um ihn zu gebrauchen für eine Vermehrung des erfahrbar Gegebenen: das Unendliche, als ein im Gegensatz zu den Gegenständen der Wissenschaft nur formal ruhender, inhaltlich aber inkonstanter Gegenstand, setzt sich mit eben diesem Merkmal der Inkonstanz in Widerspruch zu der schon von Piaton angegebenen Bedingung der Wissenschaft: ruhender Gegenstand zu sein; es wächst über die Fassungsvermögen des nur auf ruhende Gegenstände bezogenen Denkens und Erkennens im engeren Sinne hinaus und erfordert die nicht im Konstatieren ausmündende, sondern im Konstruieren verbleibende Einbildungskraft, deren Betätigung erst in der Gewinnung eines Wirklichen beendet ist. Da aber die Wissenschaft zuletzt die Gegenstandskonstitution als ihr leitendes Prinzip anerkennen muß, und da das Unendliche aus der Reihe der Gegenstände nicht nur nicht ausgeschlossen werden kann, sondern vielmehr als deren Grenzfall entscheidende Bedeutung besitzt, so wird die Wissenschaft diesen Grenzfall einer Gegenständlichkeit konzedieren müssen, die zwar an sich betrachtet ruhen mag, deren Darstellung im Bewußtsein aber über die (auf „ruhende Gegenstände" bezüglichen) bloß rezeptiv234
konstatierenden Bewußtseinsvermögen hinaus eine „konstatierende Spontaneität" erfordert, die einem proteusartigen „Gegenstande" angemessen ist und deren Beliebigkeit dadurch Grenzen gezogen sind, daß sie zwar nicht an der empirisch gegebenen, wohl aber an einer zu bewirkenden Erfahrungsrealität zielhaft orientiert ist. Hier wird auch der entscheidende Unterschied im Wirkenlassen der Einbildungskraft evident, der zwischen ihrer Geltung im Bezirk der herkömmlichen Wissenschaft und Formalphilosophie und derjenigen im Gebiet eines auf Herstellung ausgehenden Erkenntnisunternehmens besteht. Die Differenz zwischen diesen beiden Betätigungsrichtungen des Geistes ist keine andere als die eines Orientiertseins an der gegebenen, der Ausgangs er fahrung von einem Orientiertsein an einer zu bewirkenden, einer Zielerfahrung. Es ist einsichtig, daß der Umkreis einer Funktion der Einbildungskraft im ersten Falle: der auch schon längst „anerkannten" Rolle der Phantasie in naturwissenschaftlichen Systemen, in der Formalphilosophie, in der Metaphysik — minimal ist im Vergleich zu dem Ausmaß an notwendigem Aufgebot des konstruierenden Vermögens, wenn es nicht das Gegebene, sondern ein Nicht-Gegebenes zu konstruieren gilt: um wieviel freier und uneingeschränkter „weiter ausholend" werden die „Gerüst-Gedanken" der Imagination aufgestellt werden müssen, wenn man die Konturen des Baues selbst erst noch herausfinden muß, als wenn sie schon unveränderlich gegeben sind. Zu diesen in den Problemkreis der Konkretion gehörenden Überlegungen muß auf den ersten Grundriß des oben Gesagten im Zusammenhang mit meiner Darstellung in der „Logik der Konkretion" verwiesen werden. In einer Zusammenfassung des vorigen ließe sich feststellen: Die Philosophie kann nicht, wie dies bisher wohl immer geschehen ist, unter dem Imperativ einer „Philosophie als Wissenschaft" stehend, den W i s s e n s c h a f t s b e g r i f f der e x a k t e n E i n z e l w i s s e n s c h a f t unbesehen annehmen und zu dem ihrigen m a c h e n : Die Philosophie würde sich dadurch, ihrem eigenen Gebot zuwider, an der gegebenen Erfahrung orientieren müssen wie die Einzelwissenschaften, d. h. aber niemals zu ihrem endgültigen Begreifen
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ansetzen können. Wenn — wie man (der Goldbergschen Konzeption folgend) sagen müßte — Art und Maß des Gegebenen vom noch Herzustellenden abhängt, so hilft die konstatierende Methode der Einzelwissenschaft nichts — warum das „Herstellen" seinerseits kein einzelwissenschaftlicher Vorgang ist, das soll uns im folgenden noch beschäftigen — und da der Begriff der Wissenschaft nicht nur dem formalen Kriterium des Wissens, sondern dem inhaltlichen der Gegenstandsart entnommen werden muß, so ist als gültige Forderung zu begründen, daß die Philosophie ihrem eigenen, vom Wissenschaftsbegriff der Einzelforschung unterschiedenen Wissenschaftsbegriff folgen muß, der vom einzelwissenschaftlichen insbesondere darin differiert, daß in ihm die Totalität der Bewußtseinsvermögen in den Dienst des Seienden, das hier nicht nur die Empirie ist, d. h. aber in den Dienst der Wissenschaft im obersten Sinne, eintreten kann und daß in dieser Totalität evidentermaßen auch das konstruierende Vermögen, die Einbildungskraft in ihrem vollen Ausmaß, einer wissenschaftlichen Form fähig wird.
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II. METAPHYSIK, ERFAHRUNG, „ERFAHRBARE METAPHYSIK". I. KAPITEL.
TRADITIONELLER GEBRAUCH DES BEGRIFFES METAPHYSIK. SEIN GEGENSATZ.
Wir schulden dem Leser nach diesem ausführlichen und häufig vom Prinzip der Erfahrungswissenschaft abrückenden Versuch, den der Philosophie eigenen Wissenschaftsbegriff auszudrücken, eine Stellungnahme zu der herkömmlich ebenfalls dem Erfahrungsstandpunkt abgewendeten Position der Metaphysik. Wir können gleich im vorhinein angeben, daß der Standort der Metaphysik im hergebrachten Sinne ebensosehr von der hier gemeinten und begründeten Idee der Philosophie als Wissenschaft abweicht als von der des bloßen Erfahrungswissens, ohne doch darum der des Kritizismus zu sein, den wir ja schon genügend abzuweisen unternommen haben. Man kann sagen: Die vorkritische Metaphysik und der Kritizismus sind die beiden Hauptrepräsentanten der bisherigen Philosophie überhaupt. Wir dürfen nun unter den Begriff der vorkritischen Metaphysik alles bringen, was überhaupt an positiv philosophischen Aussagen und Gedanken hervorgebracht worden ist, auch nach Kant: mit einem Worte: M e t a p h y s i k schlechthin. Und wir wollen auch den Begriff der k r i t i s c h e n P h i l o s o p h i e erweitern. Denn wir können, wenn wir auf das R e s u l t a t sehen, auf die T e n d e n z einer Philosophie, den Kritizismus durchaus mit allen denjenigen Philosophien zusammenfassen, die die Erfahrung akzentuieren, die theoretisch zu ermöglichen das eigentliche Ziel des Kritizismus ist — wir könnten also den Kritizismus dem Resultat nach (nicht der Ableitung nach) mit dem P o s i t i v i s m u s , ja sogar dem E m p i r i s m u s zusammenfassen, als zu den Philosophien gehörig, die — wenn auch jede auf verschiedene Weise — die gegebene Erfahrung akzentuieren — sie als den rocher
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de bronze inmitten aller philosophischen Betrachtungen erfassen. Theorie der Metaphysik also und Theorie der Erfahrung — Metaphysik und gegebene Erfahrung sind die beiden Pole, um die die historisch bekannte Philosophie in tausend Abwandlungen kreist. Der Kern der metaphysikbeflissenen Philosophie ist ein System erfahrungsjenseitiger, reiner Denkinhalte ohne eine korrespondierende Erfahrung — ein System erfahrungstranszendenter Behauptungen: von Gott, von der Seele, von der Unsterblichkeit usf. Der Kern der Erfahrungsphilosophie ist die skeptische oder negierende Haltung zu allen erfahrungstranszendenten Wesenheiten, ist eine ablehnende Haltung zu jeder Erkenntnis, der nicht ein Gegebenes in der Anschauung korrespondiert — der Kern der Erfahrungsphilosophie ist ein Begriff von Erkenntnis, der aus den Elementen Denken und Erfahrungsgegebenheit besteht. Der Kern der Metaphysik ist ein Begriff von Erkenntnis, der aus dem Element des Denkens ohne Erfahrungsgegebenheit besteht. Wir wollen dieser ganzen Alternative Metaphysik — Erfahrung eine dritte Position entgegenstellen: Weder die gegebene Erfahrung ist das erschöpfende Objekt der Philosophie, das sie theoretisch zu ermöglichen hätte — noch ist der erfahrungslose, metaphysische Denkinhalt ihr Ziel —, sondern das Ziel der Philosophie ist, einen Erfahrungsinhalt zu erzeugen, der, im Vergleich zu allen gegebenen Erfahrungsinhalten, so prinzipiell abweichender Natur ist, daß seine Beschaffenheit, von der Empirie aus gesehen, sozusagen „metaphysikartig" erscheint — und zwar mit gutem Grunde — und der zugleich von so universaler, d. h. in alle Bereiche hineinwirkender und umgestaltender Art ist, daß er nicht im Bereich der Einzelforschung entworfen werden kann. Dieses letzte wird noch eingehender zu zeigen sein. Wenn man weiß, was die Begriffe bedeuten und sie nicht unrechtmäßig noch nach dem Umdeutungsschema des Kritizismus gebraucht (demzufolge Metaphysik und Erfahrungsformalismus zusammenfallen), so darf man sagen, daß die Aufgabe der Philosophie hier im Gegensatz zu den bisherigen historischen Formulierungen so gefaßt ist, daß sie es weder mit metaphysikloserErfahrungnochmiterfahrungsloserMeta238
physik, sondern mit der Erfahrbarkeit von Inhalten zu tun hat, die von der gegebenen Empirie aus „metaphysisch" genannt werden dürfen, mit „erfahrbarer Metaphysik", wobei beide Elemente in ihrer Spannung erhalten sein müssen. Dieses Gebilde eines zum Vorhandenen prinzipiell heterogenen Erfahrungsinhalts stellt, wie wir es oben nannten, eine „Welt im Keimzustand" dar: eine Erfahrungstatsächlichkeit, die sich alsbald in eine solche Universalität von Inhalten zerlegt, daß man mit Fug von einer „Welt" sprechen kann, wenn man sich dessen bewußt bleibt, was wir im ersten Teil dieser Untersuchung ausführten: daß diese „Welt" oder, wie wir es besser nannten, dieses Erfahrungssystem nicht die eine unendliche Ganzheit betrifft, die man sonst mit dem Begriff „Welt" bezeichnet, sondern zunächst nur eine „Welt" des menschlichen Daseins, die aber auch eine in sich geschlossene Totalität ist. Wir versuchten oben zu zeigen, daß der Zugriff des Menschen sich nicht auf die astronomische und physikalische Gesetzesebene bezieht, auf der sein Dasein sich abspielt, sondern auf die Welt seines organischen Lebens. Der Sonderstellung der vom Menschen erzeugten „Technik" ist dabei gedacht worden. Die naturhafte Lebendigkeitswelt des Menschen, die in die sog. anorganische Natur e i n g e b e t t e t ist, ergibt den abstrakten Umriß für das, was „Erfahrungssystem" genannt wurde, und es wurde des weiteren aus den Anzeichen einer entscheidenden Variabilität innerhalb des menschlich-Lebendigen auf eine konkrete Mehrheit von solchen Erfahrungssystemen innerhalb des abstrakten Umrisses geschlossen. Als ein sinnenhaftes Paradigma für ein einzelnes konkretes Erfahrungssystem dieser Art haben wir im dritten Kapitel des ersten Teiles den Grundriß einer „mythischen Erfahrungsrealität" entwickelt, der sich als ein anderes Erfahrungssystem vorläufig sogar unserer eigenen Erfahrungsrealität gegenüberstellen ließe, wenn man nur darauf acht gibt, daß der Begriff „Erfahrung" hier nicht im kritizistischformalistischen, sondern im inhaltlichen Sinne genommen wird und daß mit dieser Entgegensetzung von Erfahrungssystemen gesagt ist, daß es Inhalte gibt, von solcher Valenz, daß sie Erfahrungen scheiden: es sind dies, wie sich zeigen wird, biologische Inhalte. 239
II. KAPITEL.
DIE EINHEIT „DER" ERFAHRUNG UND DIE MEHRHEIT VON ERFAHRUN GS SYSTEMEN. DER ÜBERGANG ZWISCHEN A PRIORI UND A POSTERIORI.
Um dies besser einzusehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß der kritizistische Gebrauch des Begriffes Erfahrung nur dasjenige Formarsenal betrifft, das in dem hier gemeinten Sinne von Erfahrung alle Erfahrungssysteme umgreift. Was der Kritizismus an der Erfahrung heraushebt, ihre „Ermöglichung", die apriorischen Elemente der Anschauungsformen, der kategorialen Einheiten und Sätze, welche den Kanon der „reinen Naturwissenschaft" ausmachen — das ist das, was jeder Erfahrung mit allen denkbaren gemeinsam ist: denn ohne Raum, Zeit und mit anschauungslosen Kategorien wird zwar im Gebiet jeder erfahrungslosen Metaphysik operiert, aber niemals in einer Erfahrung, und sei es selbst eine „metaphysisch" zu nennender Inhalte. Dies allzu Summarische im Kantischen Erfahrungsbegriff ist eben nur das, daß fortwährend von der Erfahrung geredet wird, weil sie nur die Metaphysik sich gegenüber kennt. Allein Erfahrung ist mit ihren bloßen Formen evidentermaßen nur höchst unzulänglich gekennzeichnet: die Formen ergeben nur den Grundriß aller Erfahrung — aber es bleibt die Frage offen, ob nicht der Inhalt der Erfahrung, durch eine gewisse entscheidende Variationsmöglichkeit seiner, solche Distanzen zwischen Erfahrbarem aufreißen kann, daß es notwendig wird, von mehreren Erfahrungen zu sprechen. Aller Inhalt der Erfahrung wird von Kant grundsätzlich der Einzelwissenschaft überwiesen, weil er bloß empirisches Datum ist, er wird auf seinen sozusagen prinzipiellen Charakter hin gar nicht näher angesehen, und so und nur so erklärt sich der fundamentale Bruch, der durch das ganze kritische System zwischen apriorischen Formen und „bloß" 240
empirischem Gehalt geht, ebenso wie die entscheidende Niederlage, der der Versuch ausgesetzt war, den „Überschritt" aus der Sphäre der Apriorität in die der inhaltlichen Natur zu vollziehen — jener „Überschritt", der noch im opus posthumum immer wieder vergeblich angestrebt wurde. Das transzendentale Formengerüst war einfach umfangsmäßig zu weit, um mit den konkreten Tatsachen der gegebenen Natur an irgendeiner Stelle sprunglos zusammengebracht werden zu können. Der Übergang zwischen a priori und aposteriori fehlte. Der Kritizismus hat sich hier einer grundsätzlichen Auslassung schuldig gemacht, die darin bestand, einen Keim nicht zu entwickeln, einen Ansatz nicht theoretisch auszubauen, der im Ausgangspunkt der kritischen Überlegung gar wohl sich zeigte, der aber sogleich wieder vergessen wurde, ohne die theoretisch-systematische Stelle, die er beanspruchen konnte und mußte, zu erhalten: wir meinen die Kantische Definition des Empirischen als einer Gegebenheit, die auch anders vorgestellt und gedacht werden könnte, als sie nun einmal tatsächlich ist — den Begriff vom Erfahrungssatz, der nur lehrt, daß etwas faktisch so sei, „nicht aber, daß es nicht anders" sein könne — nicht, daß etwas, so wie es sei, sein müsse, im Gegensatz zur apriorischen Feststellung, welche die Notwendigkeit ihrer Aussage mit sich führt. Der theoretische Mangel ist nun kein anderer, als daß diese Einsicht in die Natur des Empirischen, daß es dasjenige sei, das auch anders angenommen werden kann, nicht zu einer theoretischen Konzeption erweitert wurde, die eine systematische Stelle im System der Erfahrung oder vielmehr der Erfahrungen hätte einnehmen müssen — ein Ausbau, der allerdings die kritizistische, allzuenge Anlage des Systems gesprengt hätte. Das definitorische Merkmal des Empirischen, als des zwar so und so Vorhandenen, aber auch anders Möglichen, hätte, theoretisch erweitert, zu dem ernsthaften Problem führen müssen, dieses „Anderssein" zunächst im Denken nun einmal auch tatsächlich zu vollziehen und hätte mit der Suche nach einem Kriterium darüber beginnen müssen, welches denn die systematische Methodik dieses „Anders U n g e r , Wirklichkeit.
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als die gegebene Erfahrung" sein könne, und hätte auf die systematische Forderung einer durchaus im Geiste vorzunehmenden Konstruktion des „anderen" aufmerksam machen müssen. Es hätte sich zunächst ergeben, daß die typische Eigenart der irrationalen Zufälligkeit, des unzurückführbaren Soseins ohne Notwendigkeit, der letztlich undurchschaubaren brüten Faktizität, die allem Empirischen im Gegensatz zum Rational-Apriorischen anhaftet — es hätte sich erwiesen, daß dieser Anschein zum guten Teil auf isolierte Einmaligkeit alles Empirischen zurückgeht, welche ein „So" ausspricht, dem ein „Anders" fehlt. Gewiß gibt es innerhalb des Empirischen große Strecken weit systematische Zusammenhänge — aber abgesehen davon, daß diese Zusammenhänge fragmentarisch sind, ist die Empirie selbst als sog. „Ganzes" ein großes Fragment eines Systems, das als vollständiges in Wirklichkeit nicht da ist, und dessen teilweises Nicht-Dasein die empirische Irrationalität dessen ausmacht, was da ist. Das in der Goldbergschen Unendlichkeitsanalysis aufgestellte und oben schon zitierte Prinzip der Vollständigkeit drückt das Positivum zu jenem Mangel des Kritizismus aus. In diesem Prinzip ist die Forderung einer prinzipiellen Vollständigkeitskonstruktion ausgesprochen. Wir wollen indessen hier auf einen unterhalb dieser theoretischen Vollständigkeit verbleibenden, aber auf sie führenden erkenntnistheoretischen Sachverhalt verweisen. Wir sagten, daß die Irrationalität alles empirischen Soseins, Faktizität aber nicht Notwendigkeit des Sobeschaffenseins des Erfahrungshaften auf seinen Fragmentcharakter, d. h. aber auf sein isoliertes Einzigsein, Vereinzeltsein zurückgeht — kurzum auf den Umstand, daß irgendein Empirisches, dem diese Irrationalität des Daseins anhaftet, ein Einzelfall ist, dessen systematisch fortsetzbare Reihe fehlt. Das Einzigartige ist das Irrationale — das Systematische ist das — prinzipiell — Notwendige. Die Notwendigkeit jedes Empirischen — ein im Kritizismus unvollziehbarer Begriff — muß demnach in der Ausfüllung einer Reihe zu suchen sein, deren eines Glied nur das empirisch Gegebene ist, obzwar es in eine vollständige Disjunktion hineingehört, die eben diese Reihe darstellt. Die vollständige
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Disjunktion aber besitzt jedem ihrer Glieder gegenüber eine relative Notwendigkeit, die sich in dem Maße steigert, als diese ganze Disjunktion ihrerseits Glied einer höheren vollständigen Disjunktion ist und so fort ins Unendliche. Diese systematische Reihennotwendigkeit aber ist das in der kritizistischen Architektonik nicht vorhandene Übergangsgebiet zwischen notwendiger und empirischer Geltung — eine Übergangsdomäne, die weder aus bloßem Gegebensein noch aus apodiktischer Evidenz sich herleiten läßt und die dennoch unerläßlich ist, weil Notwendigkeit im Ganzheitsbegriff gegründet ist. Dieses Auch-Anders-Mögliche, das jedem Empirischen wie sein Schatten mitgegeben ist, betrifft, wie ersichtlich, nur den Inhalt der Erfahrung. Diesem allein kommt ja die Denknotwendigkeit und Anschauungsnotwendigkeit nicht zu, die — in der Sprache des Kritizismus — den transzendentalen Formen Raum, Zeit, reiner Naturwissenschaft zukommt. Daß Körper Raum einnehmen, ist „nicht anders" vorstellbar — es ist ein Denkgesetz —, daß aber in der Klasse der Säugetiere nur zweigeschlechtliche Fortpflanzung des Lebens stattfinde, das ist kein Denkgesetz, das ist nicht „nicht anders vorstellbar" — aber es ist ein Naturgesetz. Die Denknotwendigkeit ist in einem derartigen Sachverhalt ein ganz besonders zu stellendes und zu beantwortendes Problem, und selbstverständlich muß in diesem Zusammenhang, gemäß dem oben erwähnten Gedanken der „Reihe", die systematische Idee der vorerst konstruktiven A l t e r a t i o n von Naturgegebenheiten überhaupt auftauchen — gleichgültig, ob diese Alteration vielleicht in einem bestimmten Falle nicht notwendig und nicht möglich ist, weil die Natur selbst sie schon vollzogen hat — womit ebenfalls zu rechnen ist — oder ob sie dem konstruierenden, d. i. begreifen wollenden Bewußtsein überantwortet ist. Diese Möglichkeit der Alteration von solchen Naturgegebenheiten nun, die im Umkreis einer Erfahrung eine so entscheidende Stelle einnehmen, daß sie der ganzen inhaltlichen Erfahrung ein b e s t i m m t e s Gepräge, eine b e s t i m m t e Erfahrungssignatur verleihen, bedeutet zugleich diejenige Mehrheit von Signaturen, die wir oben in den Begriff der verschiedenen Erfahrungssysteme faßten 16*
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und in denen wir die Zielpunkte der erkennenden Bemühung erblickten. Dieser reale Zielausdruck des Erkennens, das zugleich zu verwirklichen strebt, ist von zwei Seiten her angreifbar: vom offenen Felde des Unendlichen her und von der gegebenen Empirie aus — oder: von der reinen universalen Theoretik her und von der spezifischen Praxis aus, die sich in einer eigenartigen Berührungsregion verbinden. Die rein theoretische Seite des Zugehens auf die Domäne des Erfahrungssystems findet ihren Ausdruck in der schon im dritten Kapitel des II. Teils behandelten Methodik der Konkretion, der universalen Kombinatorik der philosophischen Rechnung, und wir können hier nur hinzufügen, daß sie eigentlich nur bis zu dem bloß abstrakt gefaßten Gesamtumriß der Erfahrungssysteme als einer, wiewohl in sich unterschiedlichen, Einheit führt. Hier beginnt das Treffgebiet der theoretischen Erkenntnis mit einem praktischen tätigen Zugehen auf ein einzelnes bestimmtes Erfahrungssystem. Damit aber taucht nun die — aus der Perspektive der gegebenen Empirie gesehen — längst fähige praktische Frage nach dem konkreten Angriffspunkt einer, als Ziel der Erkenntnis definierten, Wirklichkeitsherstellung auf — eine Frage, deren Beantwortimg erstens deutlicher als das Bisherige die gemeinte Unterschiedlichkeit von Erfahrungen einsichtig machen kann (weil die bewirkte Erfahrung in einem Gegensatz zur schlicht-gegebenen stehen muß), und welche zweitens inhaltliche Vorstellungen zur Zielphase der Erkenntnis andeutend geben kann. Aber noch eine zweite Frage taucht auf, die aus dem berechtigten Bedenken darüber stammt, daß hier der philosophischen Erkenntnis und nicht der empirischen Einzelwissenschaft eine herstellende Funktion zugeschrieben wird. Somit wird zu untersuchen und zu beantworten sein, ob es einen bestimmten konkreten Erfahrungsinhalt gibt, dessen theoretische und praktische Behandlung, aller Erwartung zuwider, einer universellen Erkenntnisart wie Philosophie überantwortet bleiben muß und nicht der doch scheinbar hier allein zuständigen Spezialforschung anheimgegeben werden kann.
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III. ÜBER WIRKLICHKEITS-UMFORMUNG. IHR NICHT-EINZELWISSENSCHAFTLICHER CHARAKTER. IHR ANGRIFFSPUNKT: DIE PSYCHOPHYSISCHE ANLAGE. DIE GOLDBERGSCHE IDEE EINES „EXPERIMENTES DER PHILOSOPHIE". I. KAPITEL.
DIE PSYCHOPHYSISCHE ANLAGE ALS WIRKLICHKEITSMITTE. Was die erste Frage, die nach dem Angriffspunkt einer Wirklichkeitsumformung, angeht, so ist ihre Beantwortung in der oben dargelegten hypothetischen Vorwegnahme des Resultats eigentlich schon gegeben. Hier wird sie noch philosophisch zu unterbauen sein. Vorerst aber ist mit wenigen Worten der Charakter dieser Wirklichkeitsumformung zu berühren. Selbstverständlich ist hier nicht diejenige Umgestaltung des unbearbeiteten Wirklichen gemeint, die der Mensch fortwährend durch Wissenschaft und Technik vornimmt, noch diejenige Änderung, die er im Umkreis des sozialen Daseins durch Umschichtungen aller Art erzeugt: weder die Maschine, die er baut, noch die Produkte, die er hervorbringt, noch die Menschenordnung, die er ändert, noch überhaupt die üblichen Spuren seines Wirkens auf das Gegebene ist das, was hier Wirklichkeitsumformung heißt. Alle diese Kreise seines Umgestaltens sind zu klein, als daß sie diesem Begriffe genügen könnten, der auf den größten Kreis des umzuformenden Objekts geht: das aber ist in bestimmter Weise eine Ganzheit des Wirklichen. Von Wirklichkeitsumformung ließe sich nur dann mit Fug sprechen, wenn der Eingriff in das Vorhandene einen so entscheidenden, einen so essentiellen Inhalt der Realität betrifft, daß seine Modifikation einer ganzen Realität das Gepräge gibt, eine Signatur — die sich ändert, wenn jener Inhalt geändert werden könnte. Nehmen wir, um diesen Gedanken auszudrücken, ein Para-
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digma, das man getrost für ewig unmöglich halten mag, da ja der bloße B e g r i f f als solcher nichts beweisen soll und kann: so würde man an einer Erfahrungswirklichkeit, in der es weder Krankheit noch Verletzung geben kann, diesen Umstand wohl als ein eigentümliches Realitätsgepräge bezeichnen können, da eine solche Welt aus eben dieser Tatsache heraus sich in fast allen entscheidenden Bereichen grundsätzlich anders gestalten müßte als eine Welt, die nicht durch dieses Merkmal ausgezeichnet ist: die geistige Atmosphäre wäre eine prinzipiell andere, die wichtigsten Erfahrungsinhalte und die Ordnung der Dinge wären andere als in einer anderen Realität, so daß man hier gar wohl von unterschiedlichen Wirklichkeitssignaturen sprechen kann — Gesamtcharakteristiken, die nicht begründet wären, wenn der Umformungsgrad des Erfahrbaren unterhalb einer bestimmten Grenze bleibt. Alsdann haben wir keine grundsätzliche Veränderung des Realitätsgepräges vor uns, sondern den sog. „ F o r t s c h r i t t " in Wissen und Können, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er immer nur einen s p e z i e l l e n Bereich des Daseins betrifft und immer nur von sekundärem oder tertiärem Interesse sein kann. Eine Überlegung, die wie die hier vorliegende, den Grund für den Mißerfolg der höchsten menschlichen Bemühungen in einer zu kleinen Fassung ihrer Aufgaben sucht, welche mit der Möglichkeit rechnet, daß etwa die Philosophie nicht an der Größe, sondern an der Kleinheit des Ziels, das sie nur zu formulieren wagte, gescheitert sei — daß die größt gefaßte Aufgabe zwar die schwierigste, aber wegen der Menge ihrer Rechnungsfaktoren überhaupt lösbar, indessen die kleiner gefaßte leichter scheinend, in Wahrheit aber aus Faktorenmangel unlösbar sei — eine solche Grundeinstellung wird, in geringem Vertrauen auf die Realität des „Fortschritts" und die Summierbarkeit der vielen einzelnen Spezialfortschritte zu einem prinzipiellen Ganzheitswert, die Zielvorstellung der Erkenntnis — und (wie aus dem vorhergehenden ersichtlich) nicht nur der Erkenntnis — gleich im Anbeginn als solche Wirklichkeitsumformung formulieren müssen, die im Gegensatz zu allem Fortschritt den Prinzipien der Ganzheit, des Auf-Einmal und des prinzipiell dringlichsten Daseinsinteresses entspringt.
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Welches ist nun der Angriffspunkt für einen solchergestalt das Ganze einer Erfahrung bewegenden Eingriff? Nichts anderes als derjenige Inhalt, in dem das Ganze der Erfahrung wie in einem Knoten zusammenläuft, in dem die Ganzheit der menschlich-erfahrbaren Welt in nuce repräsentiert ist: das aber ist die eigene psychophysische Anlage des Menschen. Diese lebendige Organisationsanlage des Menschen, nicht einzelwissenschaftlich empirisch, sondern als prinzipielle Struktur verstanden, steht in der Art im Zentrum der Erfahrungswelt, in der man sonst wohl „das Bewußtsein" in den Mittelpunkt des philosophischen Horizonts setzte. Im Mittelpunkt der gegenständlichen Welt steht demnach nicht, wie jede Immanenzphilosophie lehrt, nur das Bewußtsein, sondern ein — grundproblematischer — Sachverhalt, der sowohl das Bewußtsein — und zwar ebenfalls nicht das empirische, sondern ein schematisch-universelles, „philosophisches" — als auch eine diesem „Bewußtsein überhaupt" entsprechende „lebendige Materialität überhaupt" enthält. Die Schwierigkeiten, die in dem Vollzug einer solchen Besetzung der Mitte hegen und die daher rühren, daß das Bewußtsein, sogar empirisch, ein prinzipielles „Innen" ist, das sich zum Zentrumsein hervorragend eignet, während die Körperlichkeit eine empirische Vielfachheit bedeutet, deren einzelne empirische Gestalt sich als ein „Außen" nur schlecht eignet, die Mitte der Erfahrung einzunehmen — diese Schwierigkeit kann erkenntnistheoretisch im Anfang nicht aufgelöst werden, sie braucht aber auch nicht gleich im Eingang behoben zu werden, weil gemäß der hier vertretenen Theorie die Philosophie nicht mit Lösungen, sondern mit einem Problem beginnen muß — diese Schwierigkeit darf also und muß sogar vertagt werden, d. h. die ganze lebendige Anlage gehört in den Mittelpunkt, in den das zweifellos dorthin gravitierende Bewußtsein die mit ihm doch tatsächlich verbundene Materialität mitreißt. Es ist klar, daß die Grundgegebenheiten des Menschen, Bewußtsein und lebendige Materialität, die den Tatbestand des psychophysischen Problems ausmachen, in einer bestimmten unaufgeklärten Verbindung miteinander stehen, 247
die, w e n n sie alterierbar, modifizierbar ist, das Blick- und Tatsachenfeld, das sich von diesem Zentrum, der Anlage, zur Peripherie hin erstreckt und das die Erfahrungswirklichkeit heißt, m i t ä n d e r t . Jede Änderung im Kernpunkt, der die Wirklichkeit trägt, ändert das, was wir die Signatur der Realität nannten. Der Grundgedanke der Wirklichkeitsumformung ist also die Abänderbarkeit des Verbindungsverhältnisses der die geistig-körperliche Anlage des Menschen ausmachenden Elemente: eben der Beziehung von Bewußtsein und lebendiger Materialität oder Körperlichkeit. Man stelle sich diese Sachlage in einem freilich recht einseitigen Gleichnis, in einem Bilde vor: Unsere eigene Natur vergleiche man mit einer immer gleichmäßig brennenden Lampe und den immer konstanten Helligkeitsgrad, der auf alle Dinge fällt — auf die benachbarten ein stärkerer, auf die entfernten ein schwächerer — diese der konstanten brennenden Lampe entsprechende konstante Helligkeitsmenge vergleiche man mit der immer konstanten Wirklichkeitssignatur — dann kann ich Änderungen der Lichteffekte herbeiführen, indem ich die Dinge hin und herbewege, umstelle, nähere, entferne, der Lichtquelle zukehre und abwende — an der Gesamtlichtmenge ändere ich damit nichts: dies ist das Verfahren der mit den Dingen experimentierenden Naturwissenschaften — und ich kann ein zweites tun: ich kann das Verhältnis des ölgetränkten Dochtes und der Flamme ändern — dann schraube ich mit einem Schlage den Gesamthelligkeitsgrad herunter oder herauf: dann tauchen Dinge auf, die vorher unsichtbar waren und verschwinden solche, die vorher sichtbar waren. Das wäre die Wirkung einer Änderung der Realitätssignatur. Dieses Gleichnis möge, wie gesagt, nicht forciert werden, sondern nur dazu dienen, eine erste Vorstellung einer Änderung „vom Zentrum aus" zu gewinnen. D a ß nun aber überhaupt in diesem Zentrum eine prinzipielle Variabilität herrschen muß, d. h. d a ß eine Änderung des Verhältnisses der da in reale Beziehung miteinander gesetzten Grundelemente möglich sein muß, das kann von mehreren Seiten her begründet werden, von denen wir zwei kurz angeben wollen: erstens aus einer ganz a l l g e m e i n e n theoretischen Überlegung heraus und zweitens aus der Inter-
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pretation des tatsächlichen E x p e r i m e n t s . Mit diesem zweiten Moment berühren wir den von Goldberg eingeführten Begriff eines „ E x p e r i m e n t s in der Philosophie", von dem wir noch Gebrauch zu machen haben werden. Zunächst sei die allgemeine Erwägung kurz skizziert: Der Immanenzstandpunkt betont nur eine Seite der Perspektive auf die Wirklichkeitselemente, der Empirismus auch nur eine Seite, und zwar eine entgegengesetzte. Das bedeutet, daß Empirismus und Immanenzstandpunkt keine Lösungen sind, sondern Bestandteile einer Frage. Diese Frage aber ist keine gewöhnliche Wissenslücke wie tausend andere Fragen, sondern sie bedeutet die Übergangslosigkeit, den Bruch, die Lücke zwischen Elementen, zwischen denen zwar eine faktische Beziehung bestehen muß, aber nicht besteht. — Das Vakuum der Übergangslosigkeit etwa zwischen Bewußtsein und Ausdehnung, deren keine einzige philosophische Systematik Herr geworden ist, weil zwischen Bewußtsein und Materialität z. B. sich eine Leere auftut, die nicht auf einem bloßen Wissensmangel, sondern auf einem — äußeren oder inneren — Datenmangel, Faktenmangel beruht, ein objektiv-vorhandenes Vakuum, ein von Tatsachen unbesetztes Gebiet, das gleichwohl besetzt werden muß, soll unsere Anlage überhaupt b e u r t e i l t werden können und nicht als ein irrationales So und nicht Anders dastehen. Wir sind hier also einer sozusagen negativen Gegebenheit, einem leeren Felde auf die Spur gekommen, einem objektiven Minus, das nur ein Ausdruck davon ist, nur ein Symptom davon, daß die an dieses Minus, an diese Unterbrechimg angrenzende positive Gegebenheit (hier also unsere Anlage) sozusagen nichts theoretisch Fertiges, Vollendetes, Unveränderbares ist, sondern eine eben in diese Leere hinein fortsetzbare Seite enthält, mit welcher Fortsetzung erst die Beurteilbarkeit und das Verständnis aufgeschlossen werden kann. Unsere Anlage ist n i c h t s E n d g ü l t i g e s , Denknotwendiges, U n v e r ä n d e r b a r e s — sondern nur ein f r a g m e n t a risch Gegebenes oder ein b e s t i m m t e r s y s t e m a t i scher F a l l : dafür zeugt das Vakuum zwischen und um die E l e m e n t e dieser Anlage. Mit anderen Worten: das psychophysische Problem als Problem unserer Anlage
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kann nicht gelöst werden, weil zu wenig Faktoren, ganz buchstäblich zu wenig Fakten, gegeben sind, weil inmitten der gegebenen Erfahrung eine Lücke klafft. D. h.: D a s P r o b l e m unserer A n l a g e kann n i c h t g e l ö s t w e r d e n , wenn sie als u n v e r ä n d e r l i c h g e d a c h t w e r d e n muß. Diese theoretische Überlegung nun ist durch die Auslegung eines p r a k t i s c h e n Beginnens zu ergänzen, welches durch konkrete „empirische" Maßnahmen in das Verhältnis der Grundelemente unserer lebendigen Anlage e i n z u g r e i f e n und diese Beziehung zu modifizieren sucht. Damit stehen wir vor der Mögüchkeit eines eigenartigen Experiments und sind zugleich in die oben zu zweit aufgeworfene Frage verwickelt, wie sich denn dieses Vorgehen auf den Angriffspunkt der Wirklichkeitsumformung, auf unsere lebendige Organisation als ein in den Bereich einer u n i v e r s a l e n Erkenntnis, der „Philosophie", gehöriges Unternehmen qualifiziere und nicht, wie erwartet werden sollte, als ein der e m p i r i s c h e n E i n z e l f o r s c h u n g zukommendes Problem. Man bedarf hier durchaus eines in einer vollständigen Systematik der Wissenschafts-Architektonik notwendigen Begriffes, der aber, soweit sich sehen läßt, in der Lehre von den Wissenschaften fehlt und den Oskar Goldberg als die Forderung des „ E x p e r i m e n t s in der P h i l o s o p h i e " formuliert hat. Ist nämlich, seinem „Herstellungsprinzip" entsprechend, Wirklichkeit der Zielpunkt der Erkenntnis, so muß an irgendeiner Stelle ein Übergang von der theoretischen Besinnung zum konkreten Tun stattfinden, und zwar in einem Gebiet, das nichts mit dem Bereich einer sog. „Ethik" zu tun hat, in dem das nämlich herkömmlicherweise auch gefordert wird — sondern das eben gerade ein bisher nur der Erkenntnis reserviertes, theoretisch-ontisches ist. Man könnte auf Grund dieser These der bekannten Aristotelischen Definition „des Menschen", die zwar zutreffend, aber zu eng ausgefallen ist, eine andere hinzufügen: avd-Qtonog twov ovronoiow, wenn man sich bewußt ist, daß tatsächlich nur das tiefgehendste und umfassendste Herstellen und Gestalten ein Bewirken am Sein, an der Wirklichkeit selbst genannt werden darf, alles übrige Beginnen nur ein Tun auf Grund einer Realität ist und immer nur den auf Spezielles bezüglichen „Fortschritt" 250
hervorbringt. Wenn einerseits der Wirkungskreis des Umformungsaktes, den die Menschheit mit dem Gegebenen vornimmt, nicht mehr nur Einzeldinge und auch nicht mehr nur Einzelbereiche, sondern die weitest-mögliche Region, d. i. aber das Wirklichkeitsgepräge selbst einbezieht, wenn andererseits die Tiefe jenes Eingriffs ein Maß der kulturellen Bedeutung des menschlichen Wirkens abgibt und die Intensität der vom Menschen bewirkten Verwandlung proportional dem weltgeschichtlichen Gewicht seines Handelns ist, so ist der Angriff auf den Hebelpunkt der Erfahrung, auf die eigene naturgegebene Anlage, das universale Tun schlechthin, das an ein universales Erkennen anschließt. Wenn oben gesagt worden ist, daß unsere Anlage der Drehpunkt und zugleich der Angriffspunkt der Wirklichkeit selbst ist und daß in unserer Anlage alle Elemente der Wirklichkeit wie zu einem Knoten vereinigt sind, daß ein Eingriff in unsere Anlage einen Eingriff in das Wirkliche selbst, eine andere Wirklichkeit bedeuten würde, so ist nunmehr des weiteren festzustellen: Unsere Anlage aber ist nicht mehr oder nicht mehr nur Gegenstand der Erfahrungswissenschaften. Unsere Struktur ist nicht mehr erschließbar durch die Mittel und durch die Methoden der sog. Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften arbeiten auf Grund unserer Anlage — die Anlage selbst erörtern sie nicht mehr, noch können sie sie überhaupt erörtern. Denn durch die Gleichungsbeziehung zwischen unserer Anlage und den letzten Gesetzmäßigkeiten der Natur ist der Gegenstand der Erforschung bereits ein so umfassender, ein so großer geworden, daß er das Blickfeld der sog. exakten Naturwissenschaften übersteigt. Die Naturwissenschaften, die im Gegensatz zur Spekulation der (historisch bekannten) Philosophie das Experiment enthalten, sind ebendamit auf Gegenstände eingeschränkt, mit denen sich ohne weiteres experimentieren läßt — das aber sind immer nur Gegenstände, die wir mit Händen greifen oder in Apparate einfangen können. Körperlich ergreifen und in Apparate einfangen aber können wir nur solche Elemente, bei denen der Teil das Ganze in seiner Eigenart vertritt, dem Experiment der Naturwissenschaften zugänglich sind immer nur solche Erscheinungen, bei denen und 251
soweit eine Ganzheit durch einen ihrer Teile vertreten werden kann, denn wir bekommen immer nur Teile der Wirklichkeitselemente in den Experimenten der Naturwissenschaften zu fassen, nicht eine Ganzheit selbst. Die Ganzheit der Wirklichkeitselemente aber ist uns nur auf zweierlei Weise gegeben: einmal in B e g r i f f s f o r m durch die typisch kosmische Funktion unseres Bewußtseins, in Begriffsgestalt dasjenige zu sehen zu bekommen, was unsere Sinnesorgane nicht mehr erreichen — und zweitens ist uns die Ganzheit der Wirklichkeitselemente in unserer eigenen Anlage konkret gegeben. In unserer eigenen psycho-physischen Struktur dürfen wir deshalb von dem Auftreten einer Ganzheit der Wirklichkeitselemente sprechen, weil unsere lebendige Existenzform der T r e f f p u n k t aller Elemente der Wirklichkeit ist und weil in dem realen Gegenüber eines Grundelements der Wirklichkeit mit einem anderen etwas von seiner Ganzheit zum Ausdruck kommen muß — während im Innerhalb eines Wirklichkeitselements immer nur seine Teile, wenn es solche gibt, hervortreten. Die größten und umfassendsten Begriffe oder wie es mit einem berühmt gewordenen Terminus heißt: die Uni Versalien — das ist die eine Art, in der uns die ungeheuren oder endlosen Ausmaße der Wirklichkeitselemente gegeben sind — unsere eigene Anlage —, das ist die andere Art, in der uns die Wirklichkeitselemente in einer gewissen Ganzheit gegeben sind. Und das nun ist die letzte mögliche Steigerung der philosophischen Aufgabe, die Philosophie weit über das hinaus ilmschreibt, was bisher darunter verstanden wurde: Die Natur- und Erfahrungswissenschaften sind darauf angewiesen, mit s p e z i f i s c h e n und mit Teilerscheinungen zu operieren, auch wenn sie allgemeine Schlüsse aus den Teilphänomenen ziehen, die sie zu erzeugen vermögen — die bisherige Philosophie wandte sich demjenigen Bereich der Wirklichkeitsganzheiten zu, der nicht mehr materiell zugänglich und handhabbar, sondern nur noch begrifflich zu erkennen war — eine geforderte Philosophie aber wird es zu unternehmen haben, auf irgendeine Weise mit der Ganzheit der Wirklichkeitselemente, die der Naturwissenschaft als Ganzheiten gar nicht mehr gegeben sind, zu operieren — die letzte Steigerung der 252
philosophischen Aufgabe wird nur darin liegen können, mit den sonst unanfaßbaren Universalien der Wirklichkeit zu experimentieren — das letzte größte und umfassendste Experiment ist der Naturwissenschaft als solcher verschlossen, weil die Beziehung der Wirklichkeitselemente zueinander nicht mehr Gegenstand der Naturwissenschaften, sondern der Philosophie ist. Und weil diese Beziehung der Wirklichkeitselemente zueinander konkret nur in unserer eigenen Struktur auftritt, so ist einerseits unsere Struktur der Experimentalgegenstand der Philosophie und weil umgekehrt die Aufschließung dieser unserer Struktur die Aufrollung aller Wirklichkeitselemente verlangt, die Erörterung ihrer Beziehung zueinander als Ganzheiten, so sind die Voraussetzungen dieses letzten und größten Experiments der Naturwissenschaft entzogen und der Philosophie überantwortet. Das Experiment mit unserer Anlage aber ist das Experiment mit der Wirklichkeit selbst — es ist der Angriff auf die Wirklichkeit selbst, d. h. auf das von der Naturwissenschaft für unabänderlich Gehaltene. Die Konzeption eines solchen „philosophischen Tuns" außerhalb des Ethischen ist nicht ganz einfach zur Einsicht zu bringen, weil sich ihr sofort der Einwand entgegenwirft, daß jedes konkrete Tun notwendigerweise in einem bestimmten Einzelbereich stattfinden und somit unausweichlich der Kompetenz einer einzelwissenschaftlichen Betrachtung unterfallen müsse, mithin niemals ein „philosophisches" Tun genannt werden dürfe. Dieser Einwand nämlich ist nur durch eine etwas eingehendere Besinnung auf das Wesen des Objekts der Einzelwissenschaft abzuweisen: die im Zentrum der erfahrbaren Welt lokalisierbare psychophysische lebendige Anlage des Menschen ist — in bestimmtem Betracht — kein Gegenstand der Einzelwissenschaft und dennoch Objekt eines konkreten, handelnden, experimentalen Zugriffs. Man muß sich dazu vergegenwärtigen, daß die menschliche organische Lebendigkeitsform: die naturgegebene Körperlichkeit und die damit verbundene geistige Wesenheit einer zweifachen Betrachtung und Behandlung unterworfen werden kann. Die eine ist die spezialwissenschaftliche Erforschung mit den naturwissenschaftlichen 253
Methoden etwa der Biologie, Psychologie, Physiologie und ihrer Zwischen- und Grenzdisziplinen. Ihnen allein scheint ein „Experiment" vorbehalten. Und zweitens scheint es noch so etwas wie die „naturphilosophische" Betrachtung des problematischen Gegenstandes zu geben, die zwar die in biologischer, psychologischer, physiologischer Arbeit gewonnenen Daten auswerten mag, der aber ein selbständiges experimentales Vorgehen fehlt. Wenden wir uns vorerst der Frageund Antworteinstellung der Einzelwissenschaft in diesem Bereich zu. Da werden Probleme aufgeworfen und theoretisch und experimentell behandelt, die ganz in die Richtung philosophischer Problematik zu weisen scheinen — etwa: welcher Art sind die Zuordnungen physiologischer zu psychologischen Vorgängen ? — oder: welches sind die Möglichkeiten hypnotischer Einwirkungen u. dgl. ? Bei der Erforschung solcher Fragen nun wird in Biologie, Psychophysiologie usw. so vorgegangen, wie immer in der Wissenschaft vorgegangen wird: es wird eine „Versuchsperson" gewählt und diese wird von der Bewußtseins- oder von der Körperseite her den Bedingungen irgendeines Experiments ausgesetzt; es wird etwa die Einwirkung seelischer Veränderungen auf die Physis oder umgekehrt die Einwirkung physiologischer Eingriffe auf das Bewußtsein zu konstatieren versucht. Voraussetzung eines solchen Konstatieren-Könnens nun ist die Festhaltung einer „Normalebene", als welche die natürliche unbeeinflußte — eben die „normale" — Wahrheits- und Wirklichkeitsaussage und Empfindung benutzt wird, die Realität des natürlichen Daseins, die nicht nur jedem bestimmten Experiment, sondern überhaupt aller Spezialwissenschaft notwendig zugrunde liegt: nur unter Voraussetzung einer nonngebenden Wirklichkeit kann beurteilt werden, ob der „Optimismus", den etwa die Bromose erzeugt, anormal, „künstlich" oder normal, natürlich ist, ob die Aussagen des Hypnotisierten „Realität" enthalten oder nicht. Das erste ist also die unerläßliche Grundannahme einer undiskutierten Realität. Das zweite der einzelwissenschaftlichen Forschung Eigentümliche (abgesehen von dem schon erwähnten, nicht unwichtigen, teilweise unvermeidlichen Umstand des Fremdexperiments, d. h. der Unterschiedenheit von Experimentator und „Versuchsper-
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son", welche bei allen diffizilen Fragen eine fundamentale Bedeutung bekommt), ist der notwendige Einzelinhält und Einzeltatbestand als Gegenstand jeder experimentellen Frage. Was dieser Einzelheitscharakter jeder spezialwissenschaftlichen Frage oder Antwort bedeutet, wird sich noch des weiteren präzis herausstellen. Hier genüge die Feststellung, daß in allen solchen die Verbundenheit Körper-Bewußtsein ergreifenden Forschungsmaßnahmen Frage und Antwort niemals „das" Bewußtsein (etwa eines Einzelnen) oder „den" Körper desselben betreffen, sondern immer nur diese oder jene Bewußtseinsfunktion, diese oder jene Körperfunktion. „Das" Bewußtsein gibt es in seiner Ganzheit für die einzelwissenschaftliche Perspektive so wenig wie „den" Körper in seiner Ganzheit, am allerwenigsten aber die ganze wechselwirkende Totalität aus diesen beiden Ganzheiten. Sie ist unangreiflich bzw., was dasselbe ist, nur in einem zu grob instrumentierten Maßstab angreifbar, der nur zwischen Bewußtseins- bzw. KörperganzheitsVernichtung oder -Vorhandensein unterscheiden kann, für alle Zwischenphasen aber auf Bemessung der F u n k t i o n e n angewiesen ist. Wie sich etwa die Gedächtnisfunktion zu gewissen Hirnpartien verhält oder wie die willkürlich gesteigerte Einbildungskraft auf körperliches Geschehen dieser oder jener Art wirkt — das sind Typen spezialwissenschaftlich möglicher Fragestellung und Erforschung. Das spezialwissenschaftliche Experiment ist eine isolierte Einzelangelegenheit der Wissenschaft mit Einzelproblemen und Einzelergebnissen — das Ganze ist — „Philosophie". Aber das „Ganze", so wird man geneigt sein zu sagen, ist immer weitaus mehr in der B e t r a c h t u n g , im begrifflichen Perzipieren als in der konkreten drastischen Ergreifbarkeit gegeben: „anfassen", anpacken, experimentierend berühren läßt sich immer nur das Einzelne, und aus mannigfacher Einzelarbeit mag dann das Denken, zusammenfassend, Konsequenzen für das Ganze ziehen — so ist der Weg der Einzelwissenschaft. So ist er in der Tat. Ob aber diese Perspektive der naturwissenschaftlichen Einstellung die einzig-mögliche ist, das ist damit keineswegs ausgemacht. Wir wollen ihr gegenüber die Möglichkeit einer ganz anderen
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Perspektive auf diesen Gegenstand der menschlichen Anlage, der doch im Zentrum der Welt steht, umschreiben — einer anderen Betrachtungsart, der dennoch das konkrete Versuchen, das Experiment, nicht nur nicht verschlossen, sondern sogar wesenszugehörig ist. In dieser anderen Einstellung ist damit gerechnet, daß auch das Ganze — angreifbar, experimentell berührbar ist, wenn es nämlich einen Punkt, einen bevorzugten Komplex, in oder an jeder solchen Ganzheit gibt, in dem sie zentriert, repräsentiert ist — in dem sie sozusagen als Ganzes „vertreten", in nuce enthalten ist. Gibt es in der lebendigen Verbindungsorganisation unserer Anlage solche bevorzugten, gleichsam das Ganze oder mindestens das Ganze eines ihrer Elemente vertretenden Regionen? Es gibt zunächst ein solches Zentralerleben im Bewußtsein — eine solche nicht nur begrifflich oberste, sondern auch der Intensität nach fundamentalste Erlebnisgrundlage, in der das Ganze des Bewußtseins „gesammelt" ist: das ist das Wirklichkeitserlebnis — ausgehend von dem unmittelbaren, unerschütterbaren Realitäts-Überzeugtsein für die Art von Welt, in der man eben „lebt". Dieses Faktum ist so mächtig, daß es für gewöhnlich gar nicht explizit im Bewußtsein Platz hat, sondern das ganze „Wesen" des Menschen zusamt seinem bewußten Sein ausfüllt. Der Versuch nun, die Realitätsempfindung in die Region des reflektierenden Bewußtseins zu ziehen, ist ein typisch philosophisches Beginnen. Es ist mit dem unerhörtesten &av{Aa&iv verknüpft und durchläuft die mannigfaltigsten Stadien. Nicht also irgendein Wirklichkeitsprädikat schlechthin, das man ohne weiteres einem beliebigen Einzelinhalt, einem Gegenstand oder dgl. beilegt, ist schon diese Wirklichkeitserfahrung, in der das Bewußtsein „beisammen" ist. Noch auch ist sie irgendeine Universalabstraktion etwa der „Begriff" Wirklichkeit oder dgl. Vielmehr eignet dieser Realitätsempfindung ein merkwürdiges „Beschaffensein", ein,, Wie' das normalerweise gar nicht und, wenn überhaupt, nur als Gegensatz zu den äußerst schwierigen Vergegenwärtigungen anderer „Gegebenheitsweisen" „herauskommt", und in dem alle entscheidenden Grunderfahrungen wie „Ich", „potentielles Bewußtsein", „Nichtsein", „Bewußtseinsfremdheit", „In der 256
Welt sein", Transzendenz usw. nicht begrifflich, sondern implizit — in jedem Bewußtsein — als die die Lebensempfindung aufbauenden Elemente drinstecken. — Das Realitätserlebnis ist mit alledem und dem Welterlebnis untrennbar verknüpft, und erst in dieser „konkret-philosophischen" Besinnung haben wir die Wirklichkeitsempfindung in dem hier gemeinten Sinne vor uns, in der das Bewußtsein sich sozusagen seiner kosmischen Situation bewußt wird, d. h. als Ganzes unter Ganzheiten da ist. Dasjenige Experiment nun, das zwischen den Elementen der Anlage, zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit agierend, es auf der Bewußtseinsseite mit einem beliebigen Bewußtsein von . . . zu tun hat, etwa mit dem Bewußtsein dieser oder jener Wahrnehmung, dieser oder jener Empfindung — ist das einzelwissens c h a f t l i c h e Experiment. Dasjenige Experiment aber, das, die Berührungsregion zwischen Materialität und Bewußtsein versuchend, es auf der Bewußtseinsseite nicht mit einem beliebigen Bewußtsein irgendeines Einzelinhalts, sondern mit dem Wirklichkeitsbewußtsein zu tun hat, mit der Bewußtseinsganzheit, die sich als philosophisches Bewußtsein darstellt, als Welt- und Realitätsbewußtsein — das ist das „ E x p e r i m e n t in der Philosophie". Genauer, es ist sein Anfangspunkt. Denn dies ist der Sinn der Goldbergschen Idee eines Experiments in der Philosophie: daß diese in der uns geläufigen Geschichte des Denkens immer im Bereich des „bloßen Geistes" abgemachte Problematik des Bewußtseins eines Angriffs und einer Einmengung von der K ö r p e r seite her fähig sei — kurzum des Experiments. Und diese Idee ist auch der Schlüssel zum Verständnis der seltsamen, in der uns weniger geläufigen Geschichte des Denkens angewandten Erkenntnismittel, nämlich körperlicher Maßnahmen, mittels deren der philosophische Geist der Vorzeit das Bewußtsein von Realität und Wirklichkeit selbst auf die Probe s t e l l t e — das Wirklichkeitserlebnis, das unserer Spezialwissenschaft immer Voraussetzung, Grundlage ist und niemals, wie es doch für wahre Erkenntnis so unendlich wichtig ist, t h e m a probandum. Es war klar, daß das Welt- und Realitätsbewußtsein irgendwie vom Körperlichen her bedingt war. Wenn man es aber zum Problem machen U n g e r , Wirklichkeit.
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und es nicht als undiskutierbare Voraussetzung hinnehmen wollte, so war ein wahrhaft heroisches Beginnen notwendig, dem sich nur Geister von so intensiver Lebenskraft, wie sie etwa der mythische Asketismus hervorbrachte, unterziehen konnten: es war notwendig, im Eigenexperiment, das waphbleibende philosophische, d. i. auf Realitätsvergleichung gerichtete Bewußtsein hinüberzuretten in die Zustände, die sich aus einer durch und durch gegennatürlich behandelten Körperlichkeit ergaben — um so das Realitätserlebnis zu erweitern und zu vertiefen, das eben durch das Gesammeltbleiben des wachen philosophischen Bewußtseins davor geschützt werden sollte, diese wirklich neuen Erlebnisse, sofern sie echte Erweiterungen der Realitätserfahrung waren, die Vertiefungen des Bewußtseins von Welt und Wirklichkeit mit „Täuschungen" und „Anomalien" zu verwechseln, zu welchen eine von der undiskutierbaren WirklichkeitsVoraussetzung ausgehende Einzelwissenschaft kurzerhand alle unter „abnormen" Bedingungen entstandenen Erfahrungen stempeln würde. Die Gewißheit des Hineinwirkens körperlicher Grundsachverhalte in Art, Umfang und Inhalt des geistigen Erfahrens wird, anstatt daß sie für irgendeinen speziellen, arrangierten, psychophysischenTatbestand erforscht wird, für die „philosophische" Welt- und Realität sfrage ausgenutzt derart: daß nicht-normale Änderungen der körperlichen Grundsachverhalte versucht werden, welche die Realitätserfahrung mitbedingen und weitertragen: von solchen Maßnahmen kennen wir als Beispiele etwa rein äußerlich überlieferte, d. h. in ihrem Sinn unerschlossene Einzelheiten aus dem mythisch-philosophischen und asketischen Verhalten namentlich in den orientalischen Kulturen, und wir kennen sie, zum Maximum gesteigert, im mythischen Ritual: Nahrungsentziehung, Versagungen und jeder Art physiologische gegen-natürliche Lebensbehandlung. Dieser Maßnahmenkomplex ist ein sehr umfassendes Gebiet, innerhalb dessen solche Vergewaltigungen der Natur als Selbstzweck, als Ende und Resultat der philosophischen Besinnung unterschieden werden müssen von ihrem Gebrauch als „Erkenntnis"-Mittel. Nur vom zweiten Fall ist hier zunächst die Rede. Das Entscheidende bleibt, daß das wäh258
rend des Versuchs zur körperlichen Neuorientierung auf Realitätsfesthaltung und Unterscheidung gerichtete wissenschaftlich verantwortlich bleibende philosophische Bewußtsein diese körperlichen Alterationen und ihre geistigen Effekte nicht wie das spezialwissenschaftliche lediglich einfach als „anormal", „subjektiv", „irreal" bucht, sondern nur in dem Sinne als anormal (ungewöhnlich) gelten läßt, in dem der Naturwissenschaftler die Sachlage der Versuchsanordnung als anormal, nämlich als „gestellt" ansieht — daß es aber gerade im Gegensatz zur Einzelforschung, welche aus der gewillkürten Umänderung der Normallage die „Irrealität" der sich so ergebenden Erfahrungen folgert, die „wirklichere Realität" nur zu Gesicht zu bekommen weiß, indem es dem allgemeinen Gesetz jeden Experiments folgend, die natürliche Sachlage abändert. Als Wirklichkeitsbewußtsein hält es durch alle Neuerfahrungen hindurch seinen Geltungsanspruch aufrecht, seine Kompetenz über Realität zu entscheiden, während beim spezialwissenschaftlichen Versuch diese Entscheidung entweder zuvor erfolgt ist — die Normalitätserfahrung ist real, alles übrige irreal — oder (was dasselbe ist) von „draußen" her erfolgt, d. h. von dem Experimentierenden, der eine Fremdaussage, nämlich die der „Versuchs-Person" wertet. Der sich daraus ergebende theoretische Streit zwischen Einzelforschung und philosophischem Experiment ist also hier nur methodisch-formal durch den Hinweis zu entscheiden, daß es erstens im Wesen des Experiments liegt, überhaupt nur unter „künstlich" „gestellten" Bedingungen etwas sichtbar zu machen, was zwar auch ohnedies da ist, aber sich nicht zeigt, und daß es zweitens wissenschaftlich unmöglich ist, eine Eigenerfahrung von einer NichtEigenerfahrung her zu beurteilen — das käme der Ablehnung eines Experiments gleich. Es ist also die Eigenart dieses „Experiments in der Philosophie", eine ganz eigentümliche Kombination zweier Methoden, die in der Welt unserer Wissenschaft niemals zusammenkommen können: die Verknüpfung einer aufrecht erhaltenen universalen Weltperspektive mit einem naturwissenschaftlich-körperlichen spezifischen Versuch. Hier ist eine psychologische Bemerkung am Platze, die sachlich wichtig ist: Es liegt hier der seltene Fall eines 259
Experiments vor, das von einer derart lebens- und wertleidenschaftlichen Atmosphäre umgeben ist, daß es sozusagen nicht mit der gleichmütigen Beliebigkeit jederzeit angestellt werden kann, in der unsere wissenschaftlichen Forschungen sich abspielen, und so vor uns seine Signatur als wissenschaftlicher Versuch verbirgt. Es müssen schon der bloßen Übernahme solcher Erkenntnisversuche derart intensive seelische Überzeugungen und Erlebnisse vorhergehen, wie sie unserem wissenschaftlichen Pathos fremd sind, das wir, die wir uns gern der „Nüchternheit" der Erkenntnis rühmen (meist weil es sich nicht um Leben und Tod bedeutende Dinge handelt), wohl auch gänzlich zurückstellen — und so verhüllt das asketisch-philosophische oder mythischphilosophische Vorgehen vor uns seinen Charakter als wissenschaftlichen Versuch. Daß es ein solcher ist, ist historisch wie systematisch evident. Das bedeutet aber, daß, wenn ein philosophisches Tun sich so ausnimmt, wie die als Schwerpunkt des ganzen persönlichen Daseins und als Schwerpunkt ganzer Völkerkulturen vorgenommenen Versuche, die wir als die Geschichte des Experiments in der Philosophie ansehen können — daß es dann mit einer unvergleichlich anderen Intensität, Dauer, Schwere und Größe vorgenommen wird als irgendein „psychophysisches Experiment", zu dem die Einzelwissenschaft unserer Tage oder unserer Kultur imstande ist — es bedeutet, daß ein solches Unterfangen mit einer ganz anderen Größenordnung seiner Ergebnisse rechnen kann als unsere hierauf keineswegs zentral abstellende Forschung. Diese höhere Größenordnung der Wirkungen eines Experiments mit dem Lebendigen, gleichviel ob es ein naturwissenschaftliches oder ein „philosophisches" ist, kann nur darin liegen, daß die Erscheinungen des Organisch-Lebendigen gesteigert werden, sei es, daß man darunter die Steigerung einer Lebenskraft als solcher sieht, sei es, daß man darunter die Steigerung des Machtausdrucks versteht, den jedes organisch-körperliche Gebilde darstellt, indem es über eine Reihe von Außenweltswiderständen und -umständen Herr wird und dadurch „lebt". Mithin bedeutet, auch theoretisch, der Erfolg eines Versuchs mit dem Lebendigen eine „Erhöhung" der biologischen Phänomene im Sinne einer 2Ö0
gesteigerten biologischen Macht, die ein Lebewesen zu materiell-organischen Leistungen befähigt, zu denen es ohne diese Steigerung außerstande ist: wie etwa die schädigungslose Überwindung von außenweltlichen Angriffen und Sachlagen, die ohne jene Erweiterung der biologischen organischen „Bereitschaft" lebensvernichtende Wirkung ausüben würden. Das Entscheidende ist, daß dieser Zuwachs lebensgesetzlicher Befähigung einer g e g e b e n e n „natürlichen" Norm widerspricht und eine neue ebenso „natürliche" Norm einleitet und bedeutet. Solche biologische Erhöhung, wie sie „von Natur" in der „Rangordnung" des „Höher-" und,,Niedriger"Organisiertseins zum Ausdruck kommt, wird also, als Ziel eines menschheitlichen Unternehmens nur darin zum Ausdruck kommen können, daß die Lebenserscheinungen der menschlich-organischen Lebendigkeit irgendeine Steigerung erfahren, und diese Steigerung wird sich in körperlichen Lebensvorgängen äußern, die außerhalb der gewöhnlichen Norm liegen: sei es ein ungewöhnliches, ja „unnatürliches" Betätigen der Regenerationsfähigkeit, seien es ebenso ungewöhnliche Immunitäten oder andere Erweiterungen der Macht der Lebendigkeit. Es ist zweifellos, daß auch schon die herkömmliche naturwissenschaftliche Lebensforschung — in Biologie und Medizin — einen solchen Lebendigkeitsgewinn als ihr letztes theoretisches Ziel aussprechen muß, aber es fragt sich, wie sich ihre einzelwissenschaftliche Methodik zu einem anderen möglichen Vorgehen auf dieses selbe Ziel verhält. Die andere Methodik haben wir, Goldberg folgend, als das „Experiment in der Philosophie" charakterisiert. Was kann das nun näher heißen, abgesehen davon, daß wir es als eine Synthese aus universaler, aus Wirklichkeitsorientierung und experimentellem Verfahren kennzeichneten ? Der „philosophische Versuch" nämlich bedeutet noch etwas anderes: er bedeutet die Hineinziehung weiter, dem praktischen Eingriff verschlossener Gebiete in die Sphäre des Experiments — er bedeutet die Ausdehnung der Experimentiersachlage über Bereiche, die man sonst nur als Gegenstände bloßer E r k e n n t n i s anzusehen gewohnt war. Dieselbe Universalität der Gebiete, die dem Philosophiebegriff in Hinsicht auf die Erkenntnis eignet, 261
auf die konkrete Erprobbarkeit bezogen, ergibt den Inbegriff des „Experiments in der Philosophie". Wenn Goldberg, in seiner Grundlegung der Mythologie und der biologischen Deutung des „Götter"-Begriffs, diese Wissenschaft als ein dem praktischen Versuch grundsätzlich zugängliches Gebiet definiert, indem er sagt: „Die Völker selbst werden Gegenstand des wissenschaftlichen Versuchs: (Mythologie) ist die ethnologische Experimentalwissenschaft" — so ist damit die Perspektive des Experiments auf Dinge ausgedehnt, die man sonst nur unter der des Denkens kennt. Allerdings ist auch der philosophische Begriff des Experiments nicht ohne weiteres genau der gleiche wie der, den die Einzelwissenschaft hervorbringt. Zu einem Teil zwar deckt er sich mit jenem: wenn das Bestehen oder Nichtbestehen einer Tatsächlichkeit, etwa eines biologischen Steigerungsphänomens, praktisch erprobt wird, wie nur bei irgendeinem einzelwissenschaftlichen Experiment. Zum anderen Teil aber geht er über den Charakter eines einzelwissenschaftlichen Versuchs weit hinaus, insofern nämlich als die Bedingungen und der Gegenstand des philosophischen Versuchs nicht annähernd mit der Leichtigkeit isoliert werden können als Anordnungen und Thema des einzelwissenschaftlichen Experiments. Dieses nämlich findet jederzeit einen von der übrigen Welt relativ isolierten oder relativ leicht isolierbaren Gegenstand bzw. es richtet sich überhaupt nur auf derartig isolierbare Gegenstände, indessen es der philosophische Versuch mit Gegenständen zu tun hat, deren innige Verflochtenheit mit der Ganzheit des Gegebenen die Natur des zu erprobenden Gegenstands vollständig verändert, ja zerstört, wenn er zwecks Experiments isoliert werden soll. Ein fast schon trivial gewordenes Beispiel ist die Erforschung der Lebensphänomene aus der toten, d. i. isoHerten materiellen Form des Lebens — die Zerstörung der körperlichen Lebensform nach Art der Kinderspielzeugzerstörung, um zu sehen, „was drin ist". Dieses Verfahren ist zwar in seiner krassesten Art bereits verlassen, als Methode aber nicht nur nicht überwunden, sondern geradezu Bedingung der Spezialwissenschaft. Denn es steckt im Grunde in jeder voreiligen „Isolierung", d. h. Abschneidung eines Forschungsgegenstandes aus der Ganz2Ö2
heit: Verfrüht aber ist im Prinzip eigentlich jede solche Isolierung, nur schadet sie mehr oder weniger und der schmerzliche Einwand der Fachforschung, man könne ohne solche Herauslösung keine experimentale Wissenschaft aufbauen, läßt die Wirklichkeit völlig kalt. Der philosophische Versuch ist also darauf angewiesen, diese Verflochtenheit zu belassen, d. h. aber, er ist genötigt, in die „Versuchsanordnung" immer mehr Bereiche als Bedingungen hineinzuziehen — im Prinzip alle. Der philosophische Versuch ist ein im Prinzip quer durch die Gebiete gehender, wenn auch im konkreten Fall nähere und fernere, einflußerfülltere und einflußärmere Bezirke in Hinsicht auf das zu erprobende Thema sich unterscheiden lassen werden. Was aber kann ein so universales „Versuchen" noch für einen Sinn haben, da es doch praktisch so gut wie ausgeschlossen ist, z. B. „die Völker zu Gegenständen eines wissenschaftlichen Versuchs" zu machen, wie Goldberg es formuliert hat: die Wissenschaft kann doch mit Völkern nicht agieren wie mit „Versuchspersonen", wie denn überhaupt alle Gegenstände eines „Experimentes in der Philosophie" im höchsten Grade „unhandlich" sind, einerseits wegen ihrer wechselseitigen Verbundenheit, andererseits wegen ihrer konkreten Unbewegbarkeit durch Maßnahmen der Wissenschaft. Und doch ist der Gesichtspunkt des Versuchs, ja des Experiments, aufrechtzuerhalten. Zunächst einmal, weil diese große Verflochtenheit von „Bedingungs-Gebieten", von Grundlagen-Bereichen, wie eine breite Basis in ein EndPhänomen ausläuft, in dem tatsachenmäßig „experimentell" das Zusammenhängen oder Nicht-Zusammenhängen und die jeweilige Zuständlichkeit der Bedingungs-Gebiete zum Ausdruck kommt. Ein solcher End-Phänomen-Komplex ist z. B., wie noch näher anzugeben sein wird, das Gebiet der menschlichen psychophysischen Anlage, in dem wie in einem Brennpunkt die Daten anderer Gebiete zusammenlaufen. Sodann aber ist die Voraussetzung einer experimentellen Entscheidbarkeit von Sachverhalten, nämlich die Entscheidbarkeit durch Tatsachen, auch dann gegeben, wenn es nicht in der Macht eines bestimmten empirischen Experimentators liegt, ganze Gebiete in diesen oder jenen Zustand zu versetzen, ja
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wenn es gar keinen individuellen „Experimentator" gibt, sondern wenn ein „Von-selbst"-Eintreten oder Nicht-Eintreten von Sachverhalten es gestattet, die faktischen Wirkungen solchen Geschehens oder Nicht-Geschehens eindeutig abzulesen: wenn sozusagen „die Natur" oder die „Menschheit" selbst Veranstalter von Bedingungs-Sachlagen ist, denen eindeutig Wirkungen zugeordnet werden können, so ist jederzeit die Möglichkeit einer „Entscheidung durch Tatsachen" gegeben, die ein Merkmal des Experiment-Begriffs ist, im Gegensatz zur Entscheidung durch Annahmen oder Schlüsse, die das Kennzeichen des a priori oder der unexperimentellen reinen Theorie ist. Man könnte solche Tatsachen-Entscheidung über Sachverhalte, die zu irgendeinem Zeitpunkt willkürlich einzurichten der Macht einer herkömmlichen Experimentanordnung noch entzogen ist, „experimentanaloge" nennen, sofern die Aussicht besteht, ein echtes willkürlich anordnendes Experimentbeginnen einmal durchzuführen. Und diese Perspektive muß nicht nur aufrechterhalten werden, sie ist selbst vor der Möglichkeit des konkreten Versuchs ein wichtiges Erkenntnismittel. Schließlich also ist der Gedanke des Experiments in seinem buchstäblichen Inhalt auf den philosophischen Versuch anzuwenden, weil ja der philosophische Imperativ zuletzt wirklich darauf geht, die Gebiete des menschlichen Daseins und des Erkennens, die etwa von Einfluß auf das experimentum crucis, auf das Auftreten entscheidender Tatsachen sein könnten, realiter zu gestalten, ganz genau wie die Bedingung des Versuchs — anzuordnen, wenn auch hier der Versuch nicht nur um der Erkenntnis, sondern zugleich um seiner Verwirklichung selbst willen unternommen wird. Der Sinn des Goldbergschen „Herstellungsprinzips" ergänzt sich so mit seiner Idee des „philosophischen Experiments". Hat es also dieses mit unisolierbaren, d. h. mit aus einer Ganzheit nicht herauslösbaren Gegenständen zu tun, so ist zunächst aus allgemeinen Gründen klar, daß solche Gegenständlichkeit sich inhaltlich und qualitativ ganz anders darstellen und faktenmäßig ganz anders verhalten wird, je nachdem, ob sie als isolierte oder als im realen Zusammenhang mit den sie beeinflussenden Tatsachenregionen belassene oder gebrachte erforscht wird. Als
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ein so in höchstem Grade auf die Verbundenheit mit anderen Bereichen angewiesener Gegenstand, als ein „philosophisches" Phänomengebiet, läßt sich die psychophysisch-lebendige Anlage des Menschen kennzeichnen. Wir haben schon oben angedeutet, daß es darauf ankommt, diese Anlage als eine zentrale, die Erfahrungsmitte bildende, kurzum als eine „philosophische" Gegebenheit zu verstehen. Das kann nur in dem Falle gelingen, als die sie bildenden Elemente zunächst einmal in ihrer Ganzheit auftreten, als in welcher sie der Naturwissenschaft und dem naturwissenschaftlichen Experiment unzugänglich sind: Ein wesentliches Merkmal des „Gesammeltseins" des Bewußtseins, des einen Elements, zu seiner Ganzheit, schien uns im universalen Wirklichkeits- und WeltErlebnis zu hegen. Das philosophische Umfassen des Weltinhalts ist, wie wir noch weiter unten explizite dartun werden, zugleich ein Mittel, eine Bewußtseins-Ganzheit zu aktualisieren, insofern diese jederzeit bei Veränderungen der Gesamt-Bewußtseins-Lage, also p s y c h o l o g i s c h zum Ausdruck kommt, zu welcher psychologischen Veränderung die sog. „philosophische Einstellung" der Beginn ist. Hier wird also die Ganzheit, und zwar die des Bewußtseins, zunächst in Richtung der Beziehung desselben zu seinem Objekt, der Wirklichkeit, verfolgt. Aber das genügt bei weitem noch nicht. Wenn die menschliche Anlage als Mittelpunkt der Erfahrungswelt Experimentalgegenstand sein soll, so bleibt zu fragen, unter welchen Bedingungen sie auch wahrhaft diese Mitte sei. Der einzelne Individualkörper, der doch mit zur Anlage gehört, ist es sicherlich nicht, und wenn es auch dem Philosophen freisteht, sein Individual-Bewußtsein zum „Bewußtsein überhaupt" zu ernennen, weil Bewußtsein als eine spezifische Innengröße der Vielheit nicht ohne weiteres fähig ist, so wird die Zentralität höchst fragwürdig, wenn Lebendigkeit und individueller Körper, die doch mit zur Anlage gehören, ins Zentrum gerückt werden sollen. Den Begriff zwar, der das allen Körpern und Geistern Gemeinsame ausdrückt, kann man wohl zum Mittelpunkt der Erfahrung machen — dann aber auch nur zum Kern einer nur s p e z i f i s c h g e d a c h t e n , keiner wirklichen Erfahrung. Es kann nicht an die Stelle der wirklichen eine a u s s c h l i e ß l i c h ge-
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dachte Erfahrung treten, wenn die Rede von der Anlage als dem Tragpunkt der Realität nicht bloße Metaphorik werden soll. Sind nun dem Experiment prinzipiell zugängliche Bedingungen denkbar, unter denen dieser Mittelpunktcharakter der menschlichen Anlage aus einer bloßen Abstraktion als zu einem realen werdend erkennbar ist ? Daß „der" Mensch schlechthin „Mittelpunkt der Welt", „Endpunkt der Schöpfung" sei, ist eine geläufige Vorstellung, wenn die Menschheit als Abstraktion genommen wird, wobei es klar ist, daß der einzelne Mensch weder System- noch Macht-Mitte der Wirklichkeit ist. Ganz anders aber wird die theoretische Sachlage, wenn, wie es in der Goldbergschen Konzeption geschieht, diese bloß begriffliche Abstraktion der Menschheit „dynamisiert" wird oder — um es in unserer Interpretation auszudrücken — wenn der Umstand, daß es eine Vielheit von Individuen gibt, die Möglichkeit eröffnet, diese Vielheit im Sinne einer realen Summierung auszuwerten. Während, abstraktiv betrachtet, tausend gleiche Individuen nichts anderes sind als eins, sind unter der Perspektive irgendeines Sinnes der Vielheit, d. h. der Möglichkeit ihrer Auswertung durch den Zuwachs, den eine reale Verbindbarkeit von Individuen bedeuten würde, tausend Individuen etwas anderes als eines. Da aber diese aus solcher Verbindbarkeit resultierende Andersheit zunächst immer noch nur eine quantitative wäre, so taucht die systematische Möglichkeit einer derart zu Ende geführten Vielheits-Auswertung auf, die im Gegensatz zu einer bloß äußerlichen Verbindbarkeit—etwa der ihrer Körperkräfte — in gewisser Weise auch vor der inneren körperlich-lebendigen Natur der Individuen nicht haltmacht, also auch die Verbindbarkeit dieser inneren Beschaffenheit zuläßt, die nach herkömmlicher Vorstellung von der realen Quantifizierbarkeit ausgeschlossen ist: Teilt man die Gegebenheit des Menschen als empirische Erscheinung in die drei Bezirke des Psychischen, des Körperlichen und des Organisch-Lebendigen (womit zunächst noch gar nichts über die etwaige Eigennatur des Vitalen bestimmt sein soll), so läßt sich sagen: es gibt erstlich reale Summierbarkeit der Körperkraft: das reale Produkt dieser Verbindbarkeit ist das materielle Gebilde der Technik — die
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„Wunder" der gemeinsamen Arbeit: die Städte und Maschinen, der Menschen und die ganze künstliche Welt, die der Mensch auf die natürliche türmt; diese Leistung überschreitet den Einzelnen nur quantitativ. Es gibt zweitens die Summationserscheinungen der seelischen Äußerungen und Zustände: das reale Produkt dieser Verbindbarkeit ist jedes seelische Massenphänomen, die geistige „Epidemie" oder der steckengebliebene Versuch zu einer Wirklichkeitsherstellung; es führt zuweilen zu Leistungen, die das Können des isolierten Einzelnen um ein geringes qualitativ überschreiten. Soweit geht nach gewöhnlicher Vorstellung die Verbindbarkeit individueller Kräfte im Menschen, d. h. nur für diese beiden Regionen der seelischen und der körperlichen Kraft gilt die Möglichkeit der realen Verbindbarkeit von Einheiten, die auf verschiedene Individuen verteilt sind. Es fehlt offensichtlich die dritte systematische Möglichkeit: die reale Summierbarkeit im Bereich des Organisch-Lebendigen. Sie würde die zu Ende gebrachte Vielheits-Auswertung bedeuten, die wirkliche Erfüllung des Sinnes davon, daß viele Einzelne existieren. Wir haben diese dritte Möglichkeit im ersten Teil dieser Arbeit hypothetisch benutzt, um das Rätsel des Mythos, Goldberg folgend, biologisch zu erklären Die Aufhäufbarkeit, die Intensivierung der Lebendigkeitsphänomene würde in einem empirischen Individuum biologisch-abnorme Erscheinungen zeitigen, in denen wir die Wunder der echten Mythen wiedererkennen können. Eine solche reale Zusammenfassung von Individuen zum Zwecke der Steigerung der Lebensgegebenheiten in einem derselben (einer Steigerung, die in einer hier nicht darzustellenden Weise von der ganzen realen Gemeinschaft ausgewertet werden kann) — dieser reale Zusammenschluß äußert sich in einem lebensgesetzlichen „Geordnetsein", das eine Vielheit von Individuen aufweist. Diese würden sich also bei ihrem Eingestelltsein in den Vielheitsnexus z. B. biologisch anders verhalten als in isoliertem Zustand. Hier würde die Realität der Vielheit sich qualitativ äußern. Die Formel, die Goldberg für diese Sachlage gebraucht, ist die der „dynamischen Struktur in soziologischen Einheiten", und sie drückt die Möglichkeit aus, daß es dynamische, d. h. in diesem Fall lebens-
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gesetzliche Wirkungen gebe, die auf das bloße Eingeordnetsein von Individuen in einen Individuenzusammenhang zurückgingen — eine „Ordnungsdynamis", wie sie kraß und äußerlich biologisch konstatierbar im „Tier-Staat" vorliegt, und wie sie in der anorganischen Realität im sog. „KraftFeld" in Erscheinung tritt. Gibt es im Bereich des menschheitlichen Vielheits-Daseins ebenfalls solche „Kraft-Felder", dann hätte das zwei sehr wesentliche Konsequenzen: einmal würde das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein solcher „Strukturen" jeweils das Vorhandensein oder Nichtsein ganz anderer Vielheits-Typen von Menschengemeinschaften bedeuten — es gäbe reale, d. h. sich biologisch-äußernde (nämlich von einer solchen Struktur gebundene) und in diesem Sinne „irreale" (nämlich rein genealogisch oder bloß „geistig" zusammengehaltene) metaphorische nur-begriffliche Vielheiten, und es tauchte die Möglichkeit auf, die Geschichte der Menschheit und ihrer Kulturen unter dieser Perspektive anzusehen: Die Begriffe der Völker, Stämme, anthropologischen Gemeinschaften erhielten je nach ihrem Durchzogensein oder Nichtdurchzogensein von solchen Strukturen einen ganz verschiedenen Inhalt. Zweitens aber hätte das Vorhandensein lebensgesetzlich-dynamischer Strukturen im Felde menschheitlicher Vielheit die Konsequenz, daß eine Tendenz zum „Ins-Zentrum-Rücken", zur Zentrierung, auch für die körperlich-biologische Region des Menschen auftritt — daß man mit Fug von mehr oder weniger zentral gelegener Körperlichkeit bei Individuen sprechen könnte — eine Zentralität, die also statt in der Gleichheit, die die Gleichordnung der Organismen ausdrückt, gerade umgekehrt in der verschiedenen Entfaltungsfähigkeit organisch-biologischer Möglichkeiten läge und den Bereich der ganzen Menschen-Vielheit auch biologisch mit Gravitations-Mitten durchsetzte, die man bislang nur im Bereich des „Geistigen" oder des „Körperlichen" (in den sog. „Führergestalten" der Menschheit) zu sehen gewohnt war. Wo eine Struktur ist, da gibt es auch einen oder mehrere ausgezeichnete Punkte. Es sei gestattet, zur näheren Erläuterung dieser etwas schwierigen Perspektive die Goldbergschen philosophischen Darlegungen in der „Wirklichkeit der Hebräer" etwas aus-
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führlicher heranzuziehen. Goldberg gelangt in der philosophischen Grundlegung seiner mythenwissenschaftlichen Methodik dazu, dem physikalischen Kosmos einen biologischen zu parallelisieren, um die Gegebenheiten, die der Mythos „Götter" nennt und die Goldberg als „biologische Zentren" eines Volkes definiert, als eine Region sui generis zu begreifen. „Es gibt einen Begriff der Realität, der nicht mit dem Einzelnen und nicht mit der Menschheit, sondern mit dem des Volkes verbunden ist." „Es gibt somit eine Reihe voneinander verschiedener Wirklichkeitssysteme, die Analoga .astronomischer' Systeme sind." Wesen und System dieser Götter kommt in ihrer biologischen Interpretation durchaus zusammen mit dem Wesen und dem System der lebendigen Formen der Organismen, deren jeder ein bestimmtes Lebensprinzip darstellt. Die Gesamtheit dieser Prinzipien der Lebendigkeit, der so oder so gestalteten Art, in der Außenwelt und ihrer Mannigfaltigkeit da zu sein — die Gesamtheit der Lebensprinzipien repräsentiert das Reich der Tier-Formen einschließlich der des Menschen. Auf die so verstandene Beziehung zwischen Tier und Gott, die das Problem des Totemismus betrifft, ist im ersten Teil dieser Arbeit eingegangen worden. Hier ist nur noch die Goldbergsche Konzeption des Verhältnisses von Tier und Mensch eben unter dem Aspekt der „Göttlichkeit", d. h- der biologischen Steigerbarkeit zu betrachten: während jede Art von „Entwicklungs"-Vorstellung den Menschen als die „höchstentwickelte" Lebensform an die Spitze des Tierreichs treten läßt, vermag die mythische Anschauung nicht zu verkennen, daß diese Höchststufe ganz zweifellos mit der Abwesenheit zahlloser biologischer Fähigkeiten verknüpft ist, die den „niederen" Lebensstufen „von Natur" eigen sind: die Tiere — und besonders die sog. „niedrigeren" Organismen — „können" biologisch mehr und anderes als der Mensch. Zwar ist die Tierwelt im ganzen an Lebens-Macht der KulturOrganisation des Menschen unterlegen — aber dadurch ist mit dem Menschen noch keineswegs in einer Systematik der möglichen „Höhe" in der Organisation von Lebewesen derjenige Endpunkt erreicht, an dem das höchste Lebewesen die Fähigkeiten der übrigen umfaßt. Dieser Endpunkt, ja noch
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viele unter ihm, bilden „Leerstellen" in einem möglichen System der Organismen-Rangordnung. Die Tiere dagegen sind ihrerseits Verwirklichungen von Lebensprinzipien, die jeweils eine Komponente zu dieser Höher-Stufigkeit darstellen, die aber isoliert, d. h. ohne mit den anderen Komponenten organisch verbunden werden zu können, im ganzen doch unterhalb derjenigen biologischen Fähigkeitsauswahl bleiben, die der Mensch darstellt: die Tiere sind lebensgesetzliche Ansätze zum „über den Menschen hinaus", die unterhalb seiner verbleiben. Und eben alle diese „Leerstellen" nimmt der mythische, d. h. der biologisch steigerbare Mensch in seinen Arten ein, der eine biologische Verbindung des Menschseins mit irgendeiner spezifischen Fähigkeit aus der Tierwelt darstellt — nur daß diese biologische Verbindung nicht „von selbst", nicht rein „von Natur" wegen auftritt und also sich nicht in der biologischen Form des Menschen, nicht in seiner Morphologie äußert, sondern der typisch menschlichen Daseinsweise entstammt, die über das Bewußtsein und die Vielheit geht und mittels ihrer schafft. Nur in Gestalt einer menschlichen Gemeinschaft könnte der biologisch steigerbare Mensch realisiert werden, nicht als eine eigene morphologische Lebensform. Somit hätten wir mit Goldberg das Menschsein, das dem Tiersein gegenübersteht, den Menschen als letztes Entwicklungsergebnis (das, mit DacquS zu reden, das Tierische „aus sich entlassen" hat) zu unterscheiden von dem „Menschsein" als der theoretisch-höchsten Form der Lebendigkeits-Organisation überhaupt: dem Menschsein als dem Inbegriff aller Lebens-Machtmöglichkeiten, der die tierisch-biologischen Vermögen mit umfaßt. Dieser Begriff bezeichnet eine empirischbiologische „Leerstelle". Das Produkt der Technik, das die Menschheit aus sich herausstellt, bedeutet eine Ersatzleistung dieser biologischen Erfüllungen. Der Mythos aber kann die Realität einer biologischen Steigerung systematisch gar nicht anders unterbringen, als daß er an der Stelle der entwicklungsgeschichtlichen Letzt-Form die theoretische Höchst-Form des Menschseins besitzt und zugrunde legt, für die es, empirisch gesprochen, keinen besonderen morphologischen Typus gibt, da sie nur mittels Vielheit,
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wenn auch am bestimmten, empirischen Einzelnen realisiert wird, die aber natürlich im begrifflichen Ausdruck als diese besondere Eigenart der „Mensch"-Idee enthalten sein muß. Goldberg entwickelt sie als den „abstrakten Organismus" schlechthin, als den zunächst denkmäßig erfaßten Organismus, der das ganze Reich des Lebendigen umfaßt, in sich begreift, als diejenige Totalität sämtlicher möglicher Lebensfunktionen, an der gemessen die einzelnen Verwirklichungen der empirischen Tierformen und auch die empirische Menschform immer noch lediglich „Teilfunktionen" des Lebens darstellen. Die empirische Menschform ist eben durch diese „Disposition zur Ganzheit" charakterisiert. Dieser „abstrakte Organismus" aber, dessen teilhafte Verwirklichung in jeder biologischen Steigerung zu erblicken ist, die der Mensch unternimmt, stellt als das äußerste Ziel der Lebendigkeitsbewegung überhaupt die ideale Mitte, das Gravitationszentrum des biologischen Kosmos1) dar, und jede solche Steigerung (die, wie immer wieder betont sei, keinen neuen morphologischen Typus, sondern eine soziologische Leistung bedeutet, die sich aber im Gebiet des organischen Lebens äußert) — jede solche Steigerung selbst und der empirische Organismus eines individuellen Menschen, an dem sie sich zeigt, bedeutet ein Vorrücken zum Zentrum bzw. bedeutet selbst eine mittelpunktartige körperlich-geistige Anlage. Diese hegt zentral zu x
) Goldberg charakterisiert in der Interpretation des althebräischen Mythos den „abstrakten Organismus", der erst in der denkbar höchsten Steigerbarkeit des Lebensphänomens als verwirklicht angesehen werden könnte, al6 den „Zelem Elohim", den „Umriß der Götter und GottesUmriß", nach dem „der Mensch" geformt ist. Den Mittelpunktcharakter des „abstrakten Organismus" drückt Goldberg in seiner kosmologischen Topologie dadurch aus, daß er die Gesamtheit des biologisch Möglichen — der biologischen „Welten" — als in diesem Organismus „ e i n b e z o g e n " kennzeichnet. „Einbezogensein" der Gesamtheit der biologischen Welten — das heißt: topologisches Zentrum eines biologischen Kosmos. „ E s ist der transzendente Organismus, in den die Gesamtheit der in sich geschlossenen Welten — als den Ort ihrer P r ä f o r m a t i o n — „einbezogen" ist. Dieses Gebiet ist als der Ursprungsort jeder L e b e n s g e s e t z l i c h k e i t anzusehen: es ist das v o r jeder „Biologie" gelegene, biologie-erzeugende Prinzip. Dieser Ort ist im Pentateuch der Z e l e m E l o h i m . " (Wirklichkeit d. Hebräer, Philosophische und kosmologische Grundlagen: § 10.)
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den übrigen empirischen Individuälkörpern der Menschen (genauer: nur zu denen, die sich in einer „strukturierten" Vielheit um einen solchen Mittelpunkt gruppieren — so daß es also soviel untergeordnete Mittelpunkt-Anlagen zweiter, dritter, vierter usw. Ordnung gibt, als die Menschheit in „strukturierte Vielheiten" zerfällt), aber sie liegt noch peripher zu dem idealen Mittelpunkt, der noch „abstrakten" Umfassung des Lebendigen überhaupt.
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II. KAPITEL.
DIE GANZHEITSVERFLOCHTENHEIT DER PSYCHOPHYSISCHEN ANLAGE.
Aus dem Dargelegten folgt dieses: Es gibt den menschlichen, lebendigen Körper, außer in seiner auch einzelwissenschaftlich zugänglichen Isoliertheit und beliebig zahlreich wiederholten Vereinzeltheit, bei der alle diese zahllosen Körperindividuen relativ gleich sind — auch noch empirischreal in einer gradweise unterschiedlichen Ganzheitsverflochtenheit. Bei dieser aber kann die Körperlichkeit einen, dem philosophischen Bewußtsein analogen, mittelpunktfähigen Charakter annehmen, der es mit sich bringt, daß ein solcher relativer „Mittelpunkt-Organismus" sich von einem beliebigen anderen peripheren durch biologische Phänomene unterscheidet. Diese biologische Differenz zu anderen menschlichen Organismen sog. „normalen" Verhaltens ist also wesentlich für den Mittelpunkt Charakter, und beides ist in gewissem Sinne miteinander identisch. Halten wir hier, ohne „Tatsachen" behaupten zu wollen — sonst bedürfte es überhaupt des „Experiments" nicht —, zunächst lediglich diese sachlichinhaltliche Verknüpftheit von Zentralität der Anlage und biologischer Erhöhung fest, so fragt sich, was diese Zentralität näher bedeutet — und zwar fragen wir auch das immer nur im tatsachenmäßig-hypothetischen, Experiment-Bedingungen analysierenden Sinne, aber mit dem Anspruch auf uneingeschränkte Gültigkeit eben dieser Bedingungs-Sachlagen. Und da läßt sich feststellen: Gibt es überhaupt eine solche Zentralität einer menschlichen Anlage — vorerst relativ zu anderen Individuen —, so bedeutet sie notwendig, wie jedes lebendige Zentrum, ein gewisses Konzentriertsein eines peripheren Umfangs und Inhalts an einem Punkte — kurzum die reale Repräsentation einer Ganzheit. So wie das BewußtU n g e r , Wirklichkeit.
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sein als Zentrum in einer Weise die Welt einfängt und repräsentiert, so liegt in einer Zentralität der Anlage eine ähnliche Verdichtung der umgebenden Ganzheit vor. Welches ist nun diese Ganzheit, die da zentriert wird? Zunächst ist es die reale Gemeinschaft der Individuen, mit denen zusammen der Mittelpunkt-Organismus eine „Struktur" bildet. Hier wird eine menschliche Gemeinschaft in einem ganz anderen, weit intensiveren Sinne zur Einheit, als es die begrifflichen Zusammenfassungen sind, die wir „Völker" nennen; denn hier reichte die Einheit ins Organisch-Biologische hinein — ein Fall, den wir nur aus dem Tier-Staat kennen — und diese reale Einheit der aus vielen Einzelnen bestehenden Struktur kommt im Mittelpunkt-Organismus zu einer konzentrischen, die Struktur biologisch repräsentierenden Wirklichkeit. Und weiter: Diese reale Ganzheit einer Gemeinschaft aber, die also einen biologischen Ausdruck in einer zentralen Anlage eines (oder mehrerer) Menschen solcher Vielheit fände, ist aber keine Gegenständlichkeit „bloßer" Biologie. Eine Menschengemeinschaft ist ja nie eine nur körperliche, sondern immer eine in einer geistigen Welt von Werten, Zwecken und Sinn lebenden Größe — eine Welt, die im historischen Rückblick „Kultur" heißt. Wie dies im auf die Herstellung gerichteten Vorblick heißt, und was es sei, ist hier nicht zu erörtern. Und diese geistige Atmosphäre, in der eine Menschengemeinschaft existiert, ist kein nur-abstraktes Meinungs- und Überzeugungsgewölk, das losgelöst über der materiellen Welt schwebt, sondern ist (eben auf Grund der tiefen psychophysischen Verbundenheit) eine die materiellen Daten und Notwendigkeiten selbst zum Inhalt habende Projektion: die geistige Welt ist eine abstrakte Auffächerung der materiellbiologisch-psychischen Wirklichkeit nicht als kontemplativer „Überbau", sondern als die e i n z i g e Möglichkeit, diese Realität zu sehen, sich in ihr zu bewegen oder sie zu dirigieren, ohne dabei Katastrophen ausgesetzt zu sein. Das Materielle ist der Hintergrund des Geistigen — gewiß, aber mit der seltsamen Proportion, daß gerade die relativ „ m a t e r i e l l s t e " Gegenständlichkeit geistig auszudrücken das A b s t r a k t i o n s m a x i m u m erfordert, daß also die gradweise „Verdünnung", die geistige Gebilde in Richtung zur Abstrak-
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tion durchlaufen, der gradweisen „Verdichtung", in welcher die materielleren Wesenheiten in Richtung zum Konkretesten sich ordnen, in einer solchen Weise zugeordnet ist, daß des Konkretesten geistiger Ausdruck gerade die abstrakteste Sphäre ist — nicht so daß, wie immer angenommen wird, konkreten Gegebenheiten ihr geistiger-konkreter Ausdruck und unkonkreten Gegebenheiten ihr geistig-abstrakter Ausdruck zugeordnet ist. Das Maximum der Konkretheit, das ist wiederum unsere eigene lebendige geistig-körperliche Anlage und die geistige „Auffächerung" dieser Anlage — das ist die ges a m t e abstrakte Welt, so daß in der Tat der Geist sich — in einer gewissen Perspektive — immer auf etwas Materielles bezieht, nur daß dieses Materiellen, ja Materiellsten, Ausdruck -— der Geist selber in seiner radikalsten, abstraktesten Ausprägung ist. Die Philosophie der sog. „materialistischen Geschichtsauffassung" gleicht sonderbarerweise einem Materialismus, der das Materiellste ausgelassen hat: den eigenen Lebendigkeitsorganismus des Menschen, von dem sie nicht ahnt, daß er „gesellschaftsbildend" sein kann. Die „Ideologie" der „Anlage", des Materiellsten und Konkretesten —, das sind zugleich die abstraktesten philosophischen Probleme: der Gott, die Freiheit, die Unsterblichkeit usw. — und diese geistige Auffächerung des Materiellsten und Konkretesten in die Religions- und Erkenntnissphäre — das ist die zweite Ganzheit, die die Zentralität der Anlage bedeutet. Nun aber ist diese „Ideologie" in dem Augenblick, da die Anlage sowohl Zentrum einer menschlichen Vielheit wie Gegenstand einer biologischen Steigerung ist, keine Angelegenheit bloß kontemplativer B e t r a c h t u n g , sondern sie ist, dem Gesichtspunkt des Goldbergschen Herstellungsprinzips entsprechend, Instrument einer wirkenden Behandlung der Anlage — „herstellende Philosophie": der Gott, die Freiheit und die Machtsteigerungen des Lebens sind Gegenstände des philosophischen Experiments (wie es in der philosophischen Grundlegung der Mythologie in der „Wirklichkeit der Hebräer" dargetan ist). Hier sind „philosophische" Überlegungen nicht um der bloßen Wahrheit willen, sondern um der Wirklichkeits-Umformung willen gebraucht wie sonst etwa physikalische Theorien.
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Und so wird deutlich, warum hier keine einzelwissenschaftliche Perspektive am Platze ist: Diese herstellende Ideologie, welche die Welt der Gemeinschaft, die Welt der objektiven Wirklichkeit als verbunden mit und bedingend für materiell-biologische Phänomene (Phänomene, die sowohl da sein wie fehlen können) umfassen und durchsuchen muß — diese herstellende Ideologie zeigt eine real funktionelle Verwobenheit von fest umrissener, sozusagen spezialwissenschaftlichkonkreter Gegenständlichkeit — eines empirisch-biologischen Organismus — mit Ganzheits- Gegenständen, wie es eine menschliche Vielheit, wie es aber ebenso die gesamte „Kultur"Welt einer menschüchen Vielheit, ja wie es das Welt- und Wirklichkeitsbewußtsein ist, so daß diesen Ganzheits-Gegenständlichkeiten gegenüber jede nur-einzelwissenschaftliche Handhabung versagen muß. Die Zentralität einer menschlichen Anlage bedeutet Repräsentation der Ganzheit nach allen Richtungen der Realität, und Ganzheit erfordert die philosophische Methodik, denn Ganzheit geht quer durch alle Gebiete. Die reale Abhängigkeit der Daten eines spezifischen Phänomenbereichs — des biologischen — von dem Umstände, ob sie von einer umgebenden Ganzheitswirklichkeit umschlossen werden oder nicht, der Unterschied der Tatsächlichkeitsdaten im isolierten von denen des in die Ganzheit hineingestellten Phänomengebietes, mag noch, außerhalb des Rein-Biologischen, an der Erwägung der Einwirkungsfähigkeit des B e w u ß t s e i n s auf die biologische Geschehensweise verdeutlicht werden. Das soll an einem abschätzenden Vergleich der unterschiedlichen Größenordnung erwartbarer Ergebnisse eines typisch-einzelwissenschaftlichen „psychophysischen Experiments" von denen eines „philosophischen" Versuchs mit der menschlichen Anlage kurz dargelegt werden: Es gibt zweifellos lebensgesetzliche Vorgänge, die einer Einwirkung unterliegen, die über das Bewußtsein des Menschen geht — mag nun dabei das Bewußtsein eine biologische Erscheinungen auslösende, unterbindende oder steigernde Funktion ausüben und mag die Einwirkung originär vom Bewußtsein ausgehen oder nur durch seine Vermittlung zustande kommen, die ihrerseits wieder im Organisch-Leben276
digen ihren letzten Grund hat. Ebenso einsichtig ist, daß das Bewußtsein, das in bezug auf die eigene zugehörige Körperlichkeit unter dem Zwange einer ganz bestimmten Tendenz und Richtung der lebensgesetzlichen Vorgänge seiner Physis steht — Schlaf, Nahrung, Atmung, Sexualität usw. drängen eine jeweils bestimmte Erfüllung auf —, einer gewissen Intensität teilhaft sein muß, um diese Lebensgesetzlichkeit durch Widerstand oder Modifikation „zu versuchen". Von dieser vermehrbaren und verminderbaren Intensität des Bewußtseins wird mehr oder minder die Größe eines möglichen biologischen Effekts abhängen, so etwa ganz besonders die durch die verschiedene Tiefe einer suggestiven oder autosuggestiven Einwirkung möglichen Veränderungen des „natürlichen biologischen" Status. Es kann nun nicht bestritten werden, daß das Bewußtsein eines der Spezialforschung als „Versuchsperson" dienenden beliebigen und vor allem „isolierten" Einzelindividuums solcher Intensität nach gar nicht im entferntesten verglichen werden kann dem Bewußtsein, das in der vielheitspsychischen Umgebung einer ganzen Kultur und ihrer Menschen-Gemeinschaft steht, die ein solches Versuchen der Anlage zu ihrem Lebensinhalt und Kern hat. Solche „Suggestion", unter die eine Volksgemeinschaft ihren oder ihre dazugehörigen Einzelnen setzt, ist je stärker, um so unmerklicher und „natürlicher", und so wenig eine eigentliche Suggestion im Sinne einer Fremd-Suggestion, daß sie, wie die Selbstverständlichkeit des Luftdrucks unseren Organismus, die innerste Eigenart des Wollenden und Ausführenden formt. Die ganze Lebensordnung eines so in seine Vielheit eingestellten Individuums, seine anthropologisch-biologische Eigenart, seine Geschichte, sein Weltund Wirklichkeitsbewußtsein, Religion, Moral, Erkenntnis und volkhafte Gebundenheit, die umfassende Intensität einer unaufhörlich umgebenden Vielheits-Kultur, die auf eben dieses Experiment gerichtet ist und alle dazu dienliche „Ideologie" darum verbreitet — all das vereinigt sich zu einem „sugge» stiven" Imperativ, besser zu einem im Vielheitsmedium entstandenen Eigenantrieb von einer derartigen Stärke, daß sich sagen läßt: diese unter den universalen Bedingungen eines philosophischen Versuchs stehende Individualität verhält sich 277
zur „Versuchsperson" der Einzelwissenschaft in betreff der Bewußtseinsintensität bei einem psychophysischen Vorhaben wie die Kraft einer Vielheit zu einem Einzelnen, und diese Unterschiedlichkeit der Größenordnung eines universellen „philosophischen" Beginnens vom isolierend spezialwissenschaftlichen muß auch am Effekt des Versuchs, im biologischen Phänomenbereich, sichtbar werden. Läßt man also selbst die zu erforschende, aber von der Einzelwissenschaft unerprobbare rein-biologische Wirksamkeit der Einordnung des Individuums in eine Gemeinschaft auch beiseite, so erhellt vorerst schon eine Wirksamkeit lediglich von Bewußtseins wegen, und die erforderliche Größe der Bewußtseinsintensität allein zeigt die Ohnmacht eines einzelwissenschaftlichen Angriffs auf diese Problematik. So läßt sich zusammenfassend sagen: Schon die Erkenntnis einer sich um die biologische Erhöhung drehenden Welt bemühte alle Einzelwissenschaften — nicht in einem isolierenden Nacheinander, sondern in der Verflechtung des Auf einmal — geschweige denn der auf das Zusammen all der von den Wissenschaften nur-betrachteten Gegenstände als Wirklichkeiten angewiesene Versuch. Der bündige Nachweis des unlösbaren Verknotetseins von Tat und Erkenntnis, wobei die gemeinschaftbildende und Vielheiten umschichtende Tat zugleich die notwendige Bedingungsmaßnahme eines philosophischen Experiments ist, ist selbst der erste Schritt zu solchem Beginnen. Das Material der lebensgesetzlichen Steigerung ist der nacheinander und getrennt zu arbeiten gezwungenen Einzelforschung entzogen und ist Gegenstand eines Experiments der Philosophie, weil dieser Gegenstand der „Gegenstand aller Gebiete auf einmal" ist. Vor allem aber ist der Versuch der Philosophie unabtrennbar von einer ständigen Erwägung wirkender Ganzheitszusammenhänge. Die Ganzheit, die bislang immer nur als Produkt der Betrachtung aufgetreten ist, müßte in dem Moment, wo sie selbst einen Wirkungskoeffizienten aufweist, als eine Realität angesehen werden. Und da es nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich ist, daß diese wirkungsbehaftete Ganzheit in weiten Bereichen, ja sogar in der gesamten Erfahrungswelt, noch gar
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nicht realisiert ist, sondern, als die Zerstückelung der membra disjecta, da liegt wie die Bestandteile einer elektrischen Säule, ehe sie Volta zusammenfügte und das Phänomen eines Stromes in ihr entdeckte, und da der Philosophie der Ganzheitsüberblick vorbehalten ist, so wird sie hier zur zusammenfügenden, d. h. herstellenden Wissenschaft.
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III. KAPITEL.
DIE PHILOSOPHISCHE „EINSTELLUNG" ALS KEIM DES PHILOSOPHISCHEN EXPERIMENTS.
Die Herstellungs-Funktion der philosophischen Überlegung bedeutet eine eigentümliche Einheit von Betrachten und Tun. Diese Einheit erscheint von den gegenwärtig herrschenden Standpunkten der Philosophie aus leicht als jene pragmatistisch-psychologistische Vermengung der Geltungsund der Seinssphäre, mit der sie in Wahrheit nichts zu tun hat. Die herrschende Erkenntnistheorie, welche die Erkenntnisvorgänge nach „Psychologie" und „Logik", nach „Erfahrung" und „Geltung" aufspaltet, vollzieht diese radikale Trennung mit Recht, solange die psychologische Situation als einheitlicher Komplex der Geltungs-Situation als ebenfalls einheitlichem Komplex gegenübergestellt werden kann. Anders aber würde die Sachlage mit Notwendigkeit werden, wenn diese beiden einheitlichen Gesamtkomplexe des Erkenntnis-Vorgangs und des Erkenntnis-Inhalts, ein jeder in sich, in unterschiedliche Regionen sich zerlegen ließen, die nun eine deutliche parallelistische, regionsweise Zuordnung zwischen den Komplexen aufwiesen. Ergäbe sich hier eine Systematik dieser Zuordnimg, so könnte der einer bestimmten Geltungs-Konzeption zugehörige psychologische Tatbestand nicht mehr als „sachlich unerheblich" bezeichnet werden, soll nicht die Zuordnung unverständlich werden. Es ist nicht unwichtig, einmal die dem philosophischen Betrachter so bekannte Tätigkeit des „Philosophierens" unter einer Perspektive zu sehen, die weder nur den inhaltlichen Geltungs-Charakter der philosophischen Aussagen noch die empirische Charakterisierung der denkpsychologischen Vorgänge, weder nur den Erkenntnis-,,Akt", noch nur den Erkenntnis-,, Inhalt" im Auge hat: — das Philosophieren als
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den Beginn des philosophischen Experiments zu erblicken, indem Inhalts-Erfassung als Mittel zur Erreichung psychologischer Zuständlichkeit und psychologische Zuständlichkeit als Mittel neuer Inhaltserfassung auftritt. Es ist mithin — wenigstens soweit das Bewußtsein in Frage kommt — das die philosophische Besinnung nicht nur ein reiner Betrachtungsvorgang, sondern ein Betrachten, das zugleich ein Versuchen mit dem betrachtenden Agens, mit der Bewußtseinsseite unserer Anlage ist — vergleichbar etwa einer Hin- und Herbewegung unseres Körpers, also ein Tun, um eine bestimmte Blickrichtung auf einen gesuchten Gegenstand zu gewinnen. Dies zu klären, sei gestattet, auf einiges schon Ausgeführte noch einmal zusammenfassend zurückzukommen: In dem Bereich unserer eigenen Anlage, in der die Wirklichkeitselemente zusammenlaufen und als Ganzheiten sich gegenüberstehen — beginnt der Boden der Praxis, d. h. des Experiments der herstellenden Erkenntnis. Das VersuchsObjekt des Denkens als solchen ist die eigene psychophysische Anlage, weil das Denken, auch in praktischer, also experimentierender Hinsicht genötigt bleibt, mit Ganzheiten zu operieren und weil nur in der naturgegebenen Anlage unserer Organisation die Wirklichkeitselemente als Ganzheiten auftreten. Das Denken, die Erkenntnis geht also an die eigene psychophysische Existenz, nach Beendigung ihrer theoretischen Aufgabe, ganz anders heran als die Erfahrungswissenschaften. Untersuchen die Erfahrungswissenschaften unter Voraussetzung der eigenen Anlage, sozusagen durch diese Anlage hindurch blickend wie durch ein optisches Instrument, durch das man alles zu sehen genötigt ist, nun ebenfalls diese eigene Anlage — so betrachten und experimentieren sie mit ihr als mit einem indirekt Gegebenen, d. h. mit einem Gegenstand, der so gegeben ist wie alles übrige auf der Welt auch, das wir durch das Mittel unseres psychophysischen Organismus betrachten. Das will sagen: die Erfahrungswissenschaften — auch die Psychologie und besonders die Experimentalpsychologie — nehmen keine „Einstellungen" am Wahrnehmungsinstrument, das unsere Anlage ist, vor — vergleichsweise gesprochen: die Erfahrungswissenschaften schrauben nicht an dem natürlichen Mikroskop oder Teleskop, durch das man 281
ständig blickt, weil es mit einem selbst identisch ist. Denn — und das ist das Entscheidende — jedes „Schrauben", jede „Einstellung" schon ist der erste Schritt zu einer immer weitergehenden Umschichtung der sozusagen „natürlichen", unwillkürlichen Lage der Elemente unserer Anlage, ist der Beginn einer allgemeinen gegen-natürlichen Tendenz, welche schon keimhaft das Charakteristikum des Denkens überhaupt, voll ausgeprägt, das signum der Philosophie ist. Was bedeutet diese gegen-natürliche Umschichtung der Elemente unserer Anlage, sofern sie aus der Sphäre des bloßen Erkennens heraustritt und zu einem tatsächlichen realen, in die Wirklichkeit eingreifenden, also experimentierenden Angriff und Anfassen unserer Anlage-Elemente führt? Was bedeutet das Unternehmen der realen Änderung unserer Anlage, also ein praktisch handelndes Vorgehen, ein Experiment, das doch nicht der Erfahrungswissenschaft, sondern der Philosophie zugerechnet werden soll ? Es bedeutet die Beeinflussung des natürlichen Verhältnisses der Bestandteile unserer Existenz durch Maßnahmen, die einerseits sich gegen die natürliche Lagerung unserer Anlage-Elemente richten, andererseits aber das Ganze der Existenz-Elemente erfassen und betreffen müssen — so wie wenn man die Erdelemente — Meer und Kontinent — gegeneinander umlagern wollte, es nicht genügen würde, einen Streifen Landes ins Wasser oder einen Strom Wassers ins Land zu leiten, sondern es nur genügen würde, wenn man es vermöchte, die kompakte Landesmasse eines Kontinents gegen ein Meer hin zu bewegen. Ein solches Ganzes unserer Anlage nun — etwa das Ganze des Bewußtseins — bekommt die Erfahrungswissenschaft niemals zu fassen, schon theoretisch nicht, geschweige denn praktisch — und wenn man ein praktisches Vorgehen, bloß weil es ein Tun impliziert, Erfahrungswissenschaft nennen wollte, so wäre das ein Spiel mit Worten, das geeignet ist, den klaren Unterschied der Methoden: nämlich Geltenlassen oder Umschaltung des natürlichen Bewußtseins- und Realitätszustandes und seiner Auffassungsweisen zu verwischen. Man weiß aus der neueren Philosophie und gerade aus der letzten Phase der historischen Philosophie, daß die Umänderung der sog. „natürlichen Einstellung" eine große Rolle
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spielt. Diese sog. „phänomenologische Reduktion" ist — eingestandenermaßen — wenig oder gar nicht verschieden von manchen früheren sog. „Einstellungen" des philosophischen Blickes auf Welt und Dinge, wobei das Wort „Einstellung" schon andeutet, daß Philosophie eine besondere Sehart ist, die von der übrigen Sehart abweicht. Aber man kann alle diese verschiedenen Perspektiven, welche die Geschichte der Philosophie aufweist, alle diese vielen Besonderheiten der Optik auf den Gegenstand der Erkenntnis, wenn diese Optik auch von der des Alltags abweicht, man kann alle diese verschiedenen Blickeinstellungen immer noch „natürliche" nennen. Sie liegen zwar bereits in einem Willkürgebiet, von dem jeder große Denker der Vergangenheit einen bestimmten Streifen entdeckt hat, wir sagen: diese Blickeinstellungen liegen in einem Willkürgebiet, aber doch in einem sehr vordergründigen. Tieferliegend wird diese Änderung der natürlichen Einstellung erst, wenn sie nicht mehr bloß eine Änderung der Betrachtungsweise darstellt, wie etwa der Cartesische „Zweifel an allem" die Änderung der normalen Betrachtungsweise ist, sondern wenn die Änderung der natürlichen Einstellung bis zur Änderung des tatsächlichen psychischen Bewußtseinszustandes durch philosophische Mittel anwächst. Dann wird aus der bloßen Einstellungsänderung eine Änderung der Bewußtseinslage, obwohl zugestanden werden kann, daß hier eine Art Skala vorliegt und daß keimhaft schon das bloße „philosophische Eingestelltsein" eine Bewußtseinsmodifikation ist. Immerhin ist es ein langer Weg von einer Betrachtungsmodifikation bis zu einer ausgeprägten Bewußtseinsmodifikation, der Weg von einem „Standpunkt" bis zu einer psychologisch feststellbaren Alteration des Bewußtseins, das Umschlagen von der Sachund Inhaltsbezogenheit in die Modifikation der GesamtBewußtseinslage, die Gegenstand einer transzendentalen Psychologie wäre wie die Analyse des — im Prinzip — unmodifizierten „natürlichen" Bewußtseins bzw. seiner „natürlichen" Schwankungen Gegenstand der empirischen Psychologie ist. Die „Ekstase", der „Wahnsinn, der von Göttern kommt" (wie Piaton es nennt), die „Versenkung" sind keine gewöhnlichen empirisch-psychologischen Phänomene, son-
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dem die Vorläufer eines Gebiets, in dem die Auflösung des ewigen Widerstreites zwischen Psychologie und Logik liegt: das Gebiet der sach-motivierten, der Inhalts-Psychologie — der Psychologie mit dem Anspruch auf philosophische Geltung der Inhalte des also alterierten Bewußtseins. Hier wird das Bewußtsein nicht mit den Mitteln der empirischen Psychologie behandelt, hier werden keine „Reizschwellen" gesucht und gefunden, keine Empfindungsintensitäten als solche gemessen oder verglichen, keine Phänomene der Aufmerksamkeit oder der Erinnerung, nämlich der natürlichen Aufmerksamkeit und Erinnerung oder ihre „natürlichen Schwankungen" und Leistungsstärkeunterschiede beobachtet, kurzum, es werden hier keine Untersuchungen mit Bewußtseinsphänomenen aller Art angestellt, die alle immer irgendwie Einzelphänomene sind — sondern es wird hier das Bewußtsein als Ganzes, das Bewußtsein als Ich-Ausdruck oder als Lebens-Empfindung oder als Körper-Gegensatz auf dem fortgesetzten Wege philosophischer, d. h. inhaltlicher, d. h. sachbezogener Besinnung in Angriff genommen, bis ein Punkt erreicht ist, der sich durch von innen und von außen feststellbare, d. h. durch psychologische Unterschiede von der Normal-Lage des Bewußtseins unterscheidet, welche psychische Variation aber eben nicht nur psychologische, sondern sachliche Geltung derjenigen Inhalte beansprucht, die in dieser veränderten Bewußtseinslage auftauchen (indessen z. B. bei den Experimenten der empirischen Psychologie niemand die etwa auf dem Versuchswege hervorgebrachten „Nachbilder" optischer Phänomene realiter gleichordnen wird der Geltungsweise der „realen" Eindrücke, die die Nachbilder verursacht haben). All dies zeigt, daß schon in der „gewöhnlichen" philosophischen Besinnung, wenn man die Akzentuation ihrer Ergebnisse als endgültiger Wahrheiten unterläßt und ihnen den Charakter eines bloßen „Materials" der Wirklichkeits-Umformung zuerkennt, das Merkmal eines Tuns steckt, das nicht als empirisch-psychologisches, sondern als ein Sachverhalte durch das Mittel der Bewußtseinslagenänderung entdeckendes Tun begriffen werden muß — kurzum, als der Beginn des „Experiments in der Philosophie".
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IV. DIE NATURPHILOSOPHISCHE UND ERKENNTNISTHEORETISCHE SACHLAGE.
E d g a r Dacqu6. Für das, was im Zuge der oben gegebenen Darstellung „ K o n k r e t i o n " genannt wurde, d. h. für ein Vorgehen, das weder in ewig bruchstückhafter Materialbeschreibung noch an den leeren A b s t r a k t i o n e n , die davon ausgehen, Genüge finden kann —, für die Anwendung einer solchen zu fordernden Methodik der Konkretion gibt es in der neueren wissenschaftlichen Literatur vielleicht kein besseres Paradigma als die naturhistorisch-philosophischen Arbeiten von E d g a r Dacque. Die in seinem grundsätzlichen Werke „Urwelt, Sage und Menschheit" niedergelegten naturphilosophischen und entwicklungsgeschichtlichen Theorien können geradezu als anschauliche Demonstration eines konkretisierenden Erkenntnisverfahrens gelten: Dacque vertritt bekanntlich eine der herkömmlichen Entwicklungs-Vorstellung entgegengesetzte These. Es sei erlaubt, diese naturhistorische Theorie in äußerster Kürzung hierher zu setzen, da ihr methodisches w i s s e n s c h a f t l i c h e s P r i n z i p für uns von Wichtigkeit ist. Der „allzu einfachen" Konstruktion eines biologischen S t a m m b a u m e s , der die Arten der Lebewesen wie die Zweige eines sich immer mehr verästelnden ursprünglich einheitlichen Lebensstammes aus sich hervorgetrieben hätte, setzt Dacque die reichere Konzeption von „einander überschneidenden biologischen , T y p e n - K r e i s e n ' " entgegen. Die „ Ä h n l i c h k e i t e n " in der biologischen Formenwelt wurden von der älteren Entwicklungslehre als Argument eines genealogischen Zusammenhängens der einander ähnlichen Lebewesen aufgefaßt: solche wurden also in ein Abstammungsverhältnis zueinander gebracht, das eben
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der „Stammbaum" repräsentierte. Dacqu6 weist nun zunächst darauf hin, daß, wenn dieses Stammbaum-Bild zuträfe, die biologische Formenfülle in Richtung auf die Vergangenheit abnehmen und sich schließlich in einer Einheit einer einzigen Ur-Stammform verlieren müßte, eine Vorstellung, der die Wirklichkeit mit dem denkbar größten Formenreichtum in der Urzeit kraß widerspricht. An die Stelle dieser nach rückwärts zu immer mehr zusammenfließenden Richtungen der Entwicklungsreihen nun setzt Dacqu6 das Schema von selbständigen, nebeneinander bestehenden biologischen Grundtypen, getrennten Lebewesengattungen, die, parallel zueinander, die Zeitalter durchschreitend in irgendeinem gemeinsamen Zeitabschnitt g e m e i n same F o r m b i l d u n g e n aufzuweisen beginnen, die zwar am Grundtypus, an der innersten Konstitution des Typus selbst nichts ändern, aber doch eine solche „Ähnlichkeit" zwischen den an sich geschiedenen Stammkreisen zuwegebringen, daß da Abstammungsbeziehungen zwischen diesen ähnlichen Gebilden angenommen wurden, wo in Wahrheit die Typenkreise in solchen Übereinstimmungen einander nur „überschnitten". Diese Überschneidung der an sich getrennten Grundtypen und deren Ubereinstimmungen begreift Dacqu6 auch noch deutlicher als die Formäußerung einer bestimmten biologischen Z e i t stufe, die sozusagen quer über die parallelen Formtypen hinweggreift: als einer „ Z e i t s i g n a t u r " , die an den eine gemeinsame Epoche durchlebenden Grundformen als ein „ b i o l o g i s c h e r S t i l " sichtbar wird, der eben diese Epoche charakterisiert. Und zwar ist dieser biologische Baustil auch wieder irgendeiner tierischen Lebensform entnommen: etwa dem Molch, und nun steht der ganze Zeitabschnitt gleichsam „unter dem Zeichen des Molches", und „das Molchartige" zeigt sich an den Lebewesen dieser Epoche, die gar nicht zum Amphibienstamm gehören, z. B. an den gleichzeitigen echten Reptilien. Oder die Lemuriden, ein für sich bestehender Typus, „ahmen" ganz verschiedene Tierarten „nach", das Nagetier, das Raubtier, die Fledermaus usw. Diese Idee der Typenüberschneidung, die gar keine genealogische, sondern eine rein morphologische ist, und die auch 286
im empirisch gegebenen biologischen Material sichtbar ist, tiberträgt Dacqu6 nun auch auf die Region der urzeitlichen, nicht direkt konstatierbaren Formenwelt, und es ist einsichtig, daß er tatsächlich gerade hier mit diesem Schema der sich überschneidenden Typenkreise und der biologischen Zeitsignatur die verwirrende Vielfalt der archaischen Lebensformen weit schlagender zu entwirren vermag als die nur auf das Mittel der Konstruktion genealogischer Zusammenhänge angewiesene Forschung. Aber nicht das ist das eigentlich für unsere eigenen Überlegungen Wesentliche. Es konnte nicht ausbleiben, daß man den naturphilosophischen Gedankengängen Dacques ihre „Kühnheit" zum Vorwurf machte und den Umstand, daß er der Theorien schaffenden Phantasie einen zu weiten Raum gegenüber der bloßen Feststellung angeblicher „Tatsachen" gegeben habe. D i e s e wissenschaftstheoretische Antithese interessiert uns im Rahmen der hier vorgetragenen Position. Und dazu sei kurz an folgendes erinnert: Wenn man die oben dargelegte Beziehung zwischen Philosophie, Wissenschaft und Dichtung nicht dahin mißverstanden hat, als sei irgendeine Vermengung wissenschaftlichen Betrachtens mit dichterischem Hervorbringen gefordert, wenn man also dessen inne geworden ist, daß es unerläßlich ist, den Strom der imaginativen Produktion als „ d i c h t e r i s c h e r " abzuschneiden, ihn gleichsam in eine „unterirdische" Wirkung hinabzuzwingen, um ihn allein im Dienst der Realität, d. i. des Wissens wieder hervorbrechen zu lassen — so wird man dennoch nicht der Gefahr überhoben sein, den Begriff des Wissens, der Wissenschaft und der Wirklichkeit zu verfehlen, indem man von all dem immer wieder nur die starre eindimensionale sterile und eigentlich „ l e t z t e " Phase kennt. Das Wissen vom Wirklichen aber ist in Wahrheit ein P r o z e ß , der auf eine Vielheit von Phasen durchaus nicht verzichten kann — nicht in dem Sinne, daß er sich vom „Irrtum" zur „Wahrheit" „durchringt" — sondern in dem Sinne, daß die Ebene des wirklich raumzeitlich Existierenden auf einem Gebiet nur über ein weit u m f ä n g l i c h e r e s Netz von koordinatenmäßigen Konstruktionen erreicht werden kann, von denen kaum je zu befürchten steht, daß sie „zu phanta-
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stisch", sondern immer nur zu befürchten ist, daß sie zu wenig phantastisch ausfallen. Nur mittels der Kombination vieler solcher Schemata wird sich die Linie des Wirklichen eintragen lassen, und jede Furcht vor der Anspannung und systematischen Betätigung der Imagination als des Such-Organs des Geistes wird den echten Wissenschaftscharakter des Gefundenen verhindern. Wenn man einmal bemerkt hat, daß die Imagination keine „überflüssige", „künstlerische" Anlage des geistigen Organismus ist, sondern daß sie, und zwar in ihrer vollen, in ihrer ganzen, kaum je völlig zu aktivierenden Kraft angespannt werden muß, nicht um zu imaginieren, sondern um zu erkennen —, so wird man nur gegen dieleergreifende, fehlangesetzte, irreale Phantasie, gegen die nicht auf die Realität zielende, d. h. gegen die im rechten Ansatzpunkt nicht voll betätigte Phantasie etwas einzuwenden haben. „Phantastik" ist „unterwegs" zusammengebrochene Phantasie. Aber man wird zugleich lernen müssen, die Stadien des Wissens, die die gegenwärtige empirische Wissenschaftsidee alle überspringen möchte, um gleich das Wirkliche konstatierend zu packen, das sich diesem groben Zugriff mit Erfolg entzieht — man wird methodisch lernen müssen, diese Stadien voneinander zu unterscheiden und die phänomenologischen Vorzeichen zu beachten, die jedem Stadium voranzusetzen sind. Das Erkennen des Wirklichen gleicht hier einem Farbendruck aus vielen Farbtönen, deren jeder ein Schema bzw. eine Dimension der Realität darstellt, und der Vorwurf der „Phantastik" träfe nur zu, wenn die einzelnen durch Vorzeichen zu sondernden Dimensionen oder „Färb"-, d. h. Realitäts-Weisen für ihren Zusammenklang ausgegeben würden, d. h. für die letzte, abschließende, konstatierende Phase der Erkenntnis. Nur diese zulassen aber heißt auf Wissenschaft verzichten. Denn das Wissen um das Wirkliche ist nicht anders als durch eine „Einkreisung" des Realen, die in weiten, sich immer verengernden Bogen das Reale umstellt, zu erzielen, und das Ergebnis wird um so wahrer sein, je vielfältiger und reicher und weiter der Schematismus ist, mit dem es erlangt ist. Denn die Wirklichkeit ist nicht, wie die empiristische Forschung meint, im Grunde ärmer als der hervorbringende Geist, und wenn
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das Bewußtsein seine Konfigurationen voll entwickelt, so tut es in einer Art s p o n t a n e n Nachzeichnung nur etwas, was in der Wirklichkeit zuvor geschehen ist. Das Wirkliche ist ein intensiver Knotenpunkt, der, auf die Ebene der Erkenntnis projiziert, nicht diese Konzentration, nur noch einmal beschrieben, darstellt, sondern sich in eine ungeheuer e x t e n sive Mannigfaltigkeit zerlegt. Wir nannten diese Operation der Erkenntnis die K o n k r e t i o n , ein Verfahren, das eben darin bestand, Allgemeinvorstellungen zu verknüpfen, die die rein a b s t r a k t i v vorgehende Erkenntnis gerade nicht verbunden hat — aber vielleicht die Realität. Das zumeist unverbunden Gegebene dennoch zu verbinden, das heißt konkretisieren, und nur die so entstehenden Schemata werden die Realität „einfangen", die niemals daraus zu verstehen sein wird, daß man sie, so wie sie empirisch i s t , d. h. nur aus dem, was sie, in der äußersten Schicht gesehen, darstellt, zu begreifen sucht. Das Wirkliche kann nicht aus seinem bloßen Sosein allein verstanden werden, sondern immer nur aus einem So und Anders Sein-Können — und das Anderssein muß oft hinzugedacht werden — es muß durch die universellste Verknüpfung der, abstraktionsmäßig gesprochen, gar nicht verknüpften Begriffe und Wesen der Grundriß eines Koordinatensystems geschaffen werden, auf dem allererst die Reihe des Gegebenen eingezeichnet werden kann. Und recht häufig wird man bemerken, daß die Wirklichkeit dieses Koordinatensystem viel reichhaltiger ausfüllt, als man erwarten konnte. Ein wahrhaft gutes Beispiel für dieses k o o r d i n a t e n setzende schöpferische Verfahren bildet die naturwissenschaftliche Denkmethode Dacquis, die er sicher nicht in reflektierender Absichtlichkeit, sondern intuitiv betätigt hat. Man kann seine naturwissenschaftliche Theorie von den Grundtypen, die sich zeitweise morphologisch überkreuzen, durchaus so darstellen, daß eine Reihe der selbständigen systematisch im Räume der Erdwelt nebeneinander stehenden biologischen Lebensformen, die Tier-Gattungen, gleichsam auf der Koordinate der Zeit noch einmal abgetragen werden und nun prinzipiell alles mit allem eine gestaltmäßige Verbindung eingehen könne. U n g e r , Wirklichkeit.
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„Es gibt eine im Lauf der Erdgeschichte nicht selten wiederkehrende Erscheinung, die mit diesem Gesetz der Zeitcharakterbildungen im Wesen wohl gleichzusetzen ist: daß zu bestimmter Zeit eine gleichartige Spezialform in verschiedenen Gruppen und Stämmen sich herausbildet. Es ist gerade, als bedürfe die Natur an vielen Stellen einer bestimmten Tiergestalt und präge sie aus irgendwelchen anderen 1 ) Formen, die ihr gerade an den Plätzen zur Verfügung stehen. Das bekannteste und auch anschaulichste Beispiel ist die Nachahmung vieler höherer Säugetiertypen bei der niedrigsten Beuteltierfauna Australiens. Da finden wir einen Beutelwolf, einen Beutellöwen, -bären, -dachse, -ratten, -mäuse, -fledermäuse, die alles das darstellen, um nicht zu sagen nachahmen auf der Grundlage des Beuteltierkörpers, was jene Tiergestalten des Wolfes, des Löwen, des Bären usw. in der uns geläufigen höheren Säugetierwelt sind. „Das Beuteltier als W o l f " , „das Beuteltier als R a t t e " — das wäre die richtige Bezeichnung für diese eigentümlichen Tierformen." Mit einer solchen Perspektive allein ist der Natur ihr in der schaffensträchtigen Urzeit entscheidendes Merkmal, der oftmals beobachtete „probierende" Zug abgesehen, der sowohl die Gestaltenfülle der Vorwelt begreiflich machen als auch ein prinzipielles Verständnis der Formen anbahnen kann. Aber selbst wenn man mit diesen Ergebnissen nicht zufrieden sein sollte, so ist gerade der Angriffspunkt einer „wissenschaftlich" scheinenden „Strenge" verfehlt, der die Methode beanstanden und dem Forscher ein „ Z u v i e l " an konstruierender Tätigkeit vorwerfen wollte. Dieses „Zuviel" gibt es prinzipiell erkenntnismäßig überhaupt nicht, wofern man nur die richtige Sphäre des Wirklichseins trifft, deren jede gleichsam ein bestimmtes „Maß", eine bestimmte „Kapazität" des Konstruierens besitzt. Daß Dacqu6 selbst sich der Sonderungsnotwendigkeit solcher Sphären und der Forderung nach einem Realitäts-Vorzeichen überhaupt gar wohl bewußt war, geht aus der Charakterisierung seiner Sperrungen im Zitat von mir.
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Konzeption als einer „naturhistorisch-metaphysischen Studie" genugsam hervor. Gerade auf seine bei der Erschließung unzugänglichen Gebietes instinktiv befolgte Methode soll als auf ein Paradigma eines konkretisierenden Erkenntnisverfahrens in der gegenwärtigen Wissenschaft hingewiesen werden: auf einen unbewußt verwirklichten Ansatz, zu dessen Entfaltung es in jeder Weise sich und anderen Mut zu machen gilt. Diese Methodik Dacqu6s, welche ihn von der für das wissenschaftliche Erkennen unersetzlichen Anlage der produktiven systematischen Phantasie etwas unerschrockener Gebrauch machen ließ, als es gemeinhin üblich ist, verschaffte ihm auch in der Frage des Mythos eine erheblich aufgeschlossenere Einstellung als sie sonst in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Mythologie zu finden ist. Wiewohl hier, wie aus dem Vorangegangenen ersichtlich, eine andere Auswahl dessen, was als Inhalt des Mythos gelten kann, getroffen wurde als in den Ausführungen Dacqu6s und obwohl auch der hier verfolgte Weg einer Erklärung des Mythischen ein anderer ist als der naturphilosophische und naturhistorische Dacqu£s — so darf eben hier nicht übersehen werden, daß Dacqui — vielleicht als einziger — drastische Worte für eine Realität des Mythos gefunden hat. Denn zweifellos ist es gerade die eindringende Betrachtung der Erscheinung des Lebendigen und seiner Verwandlungen, welche (in den Forschungen Dacqu6s wie überhaupt) das Augenmerk auf mögliche prinzipielle Varianten des Inhalts der Wirklichkeit hinlenkt, zu denen auch der Mythos gehört. Pragmatismus. Es scheint nicht unwichtig zu sein, auf gewisse Hervorbringungen in der neueren Epoche des geistigen Schaffens hinzudeuten, die man einerseits als Symptome, andererseits sozusagen als „Ersatz"-Äußerungen der erkenntnistheoretischen Forderungen ansehen kann, die wir im Vorangegangenen vertreten zu müssen glaubten. Ja, selbst für den, der die hier eingeschlagene Richtung nicht billigen würde, liegt in den Vergleichen, die wir nur ganz kurz vorbringen wollen, diejenige mindestens theoretisch-systematische Recht19*
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fertigungseigenschaft für unsere Position, die immer dem radikal formulierten und zu Ende gebrachten Gedanken innewohnt — selbst wenn man gerade das Extrem ablehnen und die „Vorstufe" als die legitimierte ansehen wollte. Für die These der Wirklichkeits-Hervorbringung als des Ziels der Erkenntnis-Bemühung weisen wir auf zwei solcher Ersatz-Konzeptionen hin: erstens auf den neuerlich in der Philosophie Englands wiederauftauchenden und neubegründeten Pragmatismus und zweitens auf die neukantische Akzentuierung der Autonomie des Denkens, die sich im „Erzeugen" aller Gegenstände des Denkens durch das Denken äußert (so bei H. Cohen u. a.). Dies sind zwei in gewissem Sinne einander entgegengesetzte Mißverständnisse, die aber einen positiven Wert dadurch enthalten, daß jedes einen Gesichtspunkt zur Geltung bringt, der der Gegenkonzeption und allen übrigen Philosophemen fehlt und der vollen Anspruch auf Berücksichtigung hat. Man kann beinahe die ganze Philosophie, d. h. alle ihre Systeme und Standpunkte auf die Formel solcher membra disjecta bringen. In diesem Falle haben wir es mit zwei solcher antipodischen Stellungnahmen zu tun. Der Pragmatismus, der das Erkennen als Organ im Dienste der biologischen Zweckmäßigkeit wertet, aus der „Brauchbarkeit" von Denkgebilden für das Dasein ihre „Wahrheit" hervorgehen läßt, vermag diesen zuletzt, aber eben auch nur zuletzt zutreffenden Gesichtspunkt nicht mit der Eigen gegründetheit des Denkens, die sich ebenso unausweichlich aufdrängt, zusammenzubringen. Der Zugang zu dem Sinn des Feldes aller „reinen" Denkoperationen, des ganzen denk-immanent sich auseinanderentwickelnden Gewebes von Erkenntnisgebilden bleibt dem Pragmatismus verschlossen. Er bringt ein Außen-Kriterium: das im Dienste des Lebens Stehen an das Denken und Erkennen heran. Wie aber, wenn dieser Begriff der „Lebensförderung" ein so umfänglicher wäre, daß er keineswegs mit dem, was man empirisch oder schlicht-naturwissenschaftlich darunter denkt, gleichgesetzt werden könnte, wenn dieser Begriff also gar nicht als Grundlage, als Voraussetzung des Erkennens benutzt werden könnte, sondern nur als Problem Geltung hätte, dessen Lösung allein erst dem Pragma2Q2
tismus recht gäbe und wenn der Weg der Lösung dessen, was Lebensförderung oder -Steigerung heißt, gerade über jenes Feld des autonomen Denkens, d. h. über ein S u s p e n d i e r t sein der inhaltlichen Bestimmung des biologisch Erforderlichen führte ? In der Tat erblicken wir hierin Einwand und Rechtfertigung betreffs des Pragmatismus in einem. Wenn aber das Erkennen gehalten ist, seine pragmatistische, seine „praktische" im Dienste des Lebenszweckes stehende Funktion nur über die Region der Auseinanderwicklung seiner eigenen „immanenten" Operationen auszuüben, wenn die gestaltende Kraft des Denkens autonom und alles Gegebene, einschließlich der Erscheinungsformen des Lebens, ausschaltend — dennoch z u l e t z t als im Dienste des Lebens stehend, als „praktisch", aufgefaßt werden muß, so kann das nichts anderes heißen, als daß es nur eine vom Erkennen selbst hervorgebrachte Lebenswirklichkeit sein darf, der es dienen kann. Denn jede andere unterminierte die Autonomie der Erkenntnis. Diese Konsequenz, die dem Goldbergschen Herstellungsprinzip innewohnt, liegt natürlich dem Pragmatismus weltenfern: er ist, an diesem Prinzip gemessen, einmal unechter Pragmatismus: das Erkennen „tut" zu wenig, wenn es nicht herstellt, sondern bloß im Sinne des Gegebenen fördert — und zum andern schlechte Extremisierung der Praxis: das Tun äußert sich zu schnell — das „ T u n " läßt das Denken sich nicht „auswirken" — es ist voreilig, „praktische Philosophie". N e u k a n t i a n i s m u s (Cohen). Die entgegengesetzte Abweichung haben wir in der neukantischen Unterstreichung des Autonomie-Prinzips der Erkenntnis vor uns: der Cohensche Begriff des „Erzeugens", des „Ursprungs", in dem zum Ausdruck kommt, daß das Denken sich nichts von außen „geben" lassen dürfe („der Irrtum, daß man dem Denken etwas geben dürfe oder geben könne, was nicht aus ihm selbst gewachsen ist usw. . . . " Logik S. 81), ist stets auf den allzu plausiblen Widerspruch gestoßen, daß das Denken doch nicht die „objektive Welt" erzeuge. Aber dieser „Widerspruch" ist nicht sogleich entscheidend. Der Hinweis darauf, daß sich von einer „objek293
tiven Welt" außerhalb des Denkens nicht eigentlich sinnvoll reden lasse und daß, sofern von ihr sinnvoll gesprochen werde, immer schon die wissenschaftlich erfaßte Welt, also die Welt des Denkens, unvermerkt an ihre Stelle getreten sei, zeigt, daß die konsequente Interpretation des logizistischen Kantianismus weitgehend Einwänden begegnen könnte, die sich auf die Empirie, auf die vom Denken sicherlich unerzeugte Tatsächlichkeit berufen und nicht beachten wollen, daß sie fortwährend von „erkannter Empirie" reden müssen, die ganz wohl als erzeugt gelten kann. Die trotz solcher Rechtfertigung unleugbar bestehen bleibende Paradoxie, welche dem Neukantianismus in diesem „Erzeugungs"-Begriff anhaftet und das erklärliche Mißbehagen jeder „natürlichen" Einstellung auslöst — die unvermeidliche Gekünsteltheit, da von .erzeugen' durch das Denken zu sprechen, wo doch in einem .Gegenstandsartigen' (wenn auch nicht im wissenschaftlich-erfaßbaren), wo doch im vorwissenschaftlichen X, ,aus dem' das Denken .erzeugt', der .eigentliche' .Ursprung' der Dinge Hegt — diese Ungereimtheit kommt nicht recht ans Licht, solange vom bloßen Erkennen der Dinge die Rede ist, sondern sie wird erst offenbar, wenn ein echtes unmetaphorisches Gestalten neben das bloße „Erzeugen durch das Denken" tritt und durch den Gegensatz dessen Metaphorik hervortreten läßt: der „Gegenstand schlechthin", auf den sich der natürliche Realismus beruft und der „erkannte Gegenstand", den der Neukantianismus dagegen demonstriert, haben eine innige Affinität zueinander, neigen zur Koinzidenz — darum treffen alle Einwände aus dem Gebiet der angeblich objektiven Gegenstände, alle Einwände, die sich auf das „Seiende" berufen, Cohens Lehre schlecht — aber Erkennen und Tun, das sind Differenzen, die bestehen bleiben und die sie zulassen muß. Darum wird erst im Bereiche des Bewirkens, nicht schon im Bereiche des „bloßen" Erkennens die Halbheit und der uneigentliche Gebrauch des Cohenschen Erzeugungs-Begriffs evident. Und zwar erst dann, wenn das Erkennen selbst als Wirldichkeits-Hervorbringendes, nicht nur im Sinne des bloßen Denkens, sondern in dem des Tuns begriffen werden kann. Als erste Paradigmata einer solchen Hervorbringung
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könnten die Gebilde der Kunst oder der Technik gelten, deren Produktion sich vom Prinzip des theoretisch-wissenschaftlichen Erzeugens ( = Erkennen) bereits deutlich abhebt und insofern einen Vorgang in einem anderen Reich als dem der Wissenschaft bedeutet. Aber in diesen Bezirken der Technik und der Kirnst ist der Zwang des Gegebenen auf die Maßnahmen des Denkens immer noch so groß, neukantisch gesprochen: ist die Freiheit des Denkens noch durch soviel Gesetzlichkeiten eingeschränkt, daß dem Hervorbringen recht enge Grenzen gezogen sind. Erst wenn die Proportion zwischen Freiheit des Denkens und Zwang der Gesetzlichkeiten resp. des „Gegebenen" maximal zugunsten der Freiheit ausfällt und erst wenn ein so befreites Denken in der Sphäre gestaltet, in der die Kunst oder die Technik Gegenstände bewirken, erst dann ließe sich unmetaphorisch sagen, daß das Denken „erzeugt", daß es im weitesten Abstände vom „Gegebenen" arbeitet und daß es wahrhaft autonom ist. Das Herstellungsprinzip Goldbergs, welches auf Realität geht, ist die letzte Konsequenz jeder Erzeugungs-Theoretik, die auf Erkennen geht. Wenn Wirklichkeits-Hervorbringung Ziel des Denkens ist, ohne — wie oben gezeigt — dem Einwand, dem der Pragmatismus unterliegt, ausgesetzt zu sein, so ist erst in ihr der theoretische Endpunkt erreicht, der den prägnanten Fall eines über das Denken gehenden Erzeugens bezeichnet, ist erst damit die logische restlose Sinnerfüllung eines solchen Gedankens erlangt, von deren systematischem Gefordertsein sogar die ersatzhaft vorwegnehmende Rede eines „Ursprungs" und eines „Erzeugens" zehrt, die keine sind. 4. Gegenstandstheorie (Meinong). Wie eingangs angegeben, besitzt das Prinzip des logischen zu Ende Bringens, welches rückwirkend die nicht zu Ende, nicht bis zum Maximum ihrer Erfüllbarkeit gebrachten Gedanken eben als „Vor"-Gebilde erkennen läßt, die in die Richtung ihres Endpunktes weisen — besitzt diese bei Goldberg ebenfalls unter den Begriff des „Vollständigkeitsprinzips" fallende Methodik den wesentlichen systematischen Wert, in vorgelegten philosophischen Konzeptionen diejenigen
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Elemente heraus zu erkennen, welche indizienhaft auf solche End-Fassungen hindeuten. Man kann solche „ v o r l ä u f i g e n " Äußerungen von Gedankenpositionen, welche „in der logischen Linie" zu dem Endpunkt liegen, wie gesagt, der Extremisierung selbst vorziehen — sicher aber ist, daß die philosophische Überlegung ohne die Vorbringung, ohne das zum Bewußtsein-Kommen und zur Erwägung-Stellen der MaximaiFormel unfertig und unbündig ist. Es mögen aus dem philosophischen Schrifttum der Gegenwart noch einige Beispiele herangezogen werden, die sich als in der logischen Linie zu den hier vorgebrachten Goldbergschen Prinzipien hin liegende Vor-Konstniktionen ansehen lassen und wir entnehmen gerade aus der von verschiedenen Seiten her bemerkbar werdenden Gemeinsamkeit und Tendenz-Gleichheit dieser Erkenntnis-Bemühungen ein (allerdings nur psychologisches) Bestätigungsmerkmal, das aber, da es nur die R i c h t u n g betrifft, zugleich zur Abgrenzung der hier vertretenen Theoretik gegen die anderen auffordert. Diese symptomatischen philosophischen Äußerungen beziehen sich samt und sonders auf eine solche Freimachung von den Direktiven des Gegebenen, des Empirischen und des Drastisch-Real-Vorhandenen, wie sie bisher in der Geschichte der Philosophie fast kaum verzeichnet ist und wie sie eben maximal in der Goldbergschen Unendlichkeitskonstruktion von den realen Möglichkeiten zum Ausdruck kommt, die wir oben als die Gesamtheit des Vorstellungs-, Denk- und Konstruktionsmöglichen überhaupt begriffen. Zunächst nun also ist es dieser Inbegriff des nicht empirisch vorhandenen „Denkbaren überhaupt", der in der neuesten Phase der Philosophie und der Naturphilosophie so deutlich in den Vordergrund tritt, wie kaum jemals zuvor. Wir machen dafür drei philosophische Richtungen als symptomatische namhaft: die Gegenstandstheorie, die Phänomenologie und gewisse Tendenzen der modernen Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. Am sichtbarsten unterstreicht die Meinongsche Gegenstandstheorie eine Bedeutung der „Gegenständlichkeit überhaupt" ohne R ü c k s i c h t auf ihr Dasein. Diese Methode charakterisiert sich selbst als d a s e i n s f r e i e s Erkennen, weil sie als das
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Thema der Wissenschaft alles, was „Gegenstände" sein kann, anerkennt, worunter sie die wirklichen wie die möglichen, wie die unmöglichen Dinge begreift. Dieses daseinsfreie Erfassen ist a p r i o r i s c h e Erkenntnis, die es nur mit dem Sosein der Gegenstände zu tun hat im Gegensatz zum Daseinswissen. Das für uns Wesentliche ist die Einbeziehung der beliebig konstruierbaren Gebilde in den Kreis der legitimierten Forschungs-Gegenstände der Erkenntnis. Phänomenologie (Husserl). In anderer Weise besitzt die Phänomenologie das Untersuchungs-Feld einer existenzfreien Gegenständlichkeit, zu der schlechthin alle Erlebnisse gehören, die angeblich „wirklichen" wie die Phantasieprodukte. Ja, die Phänomenologie Husserls macht mit der Suspendierung des sog. „Wirklichen", das bedeutet aber mit der Hereinnahme des „bloßen" Bewußtseinsentsprossenen in den Rahmen der Wissenschaft viel mehr Ernst als die Gegenstandstheorie, denn Husserl scheidet gar nicht innerhalb der Philosophie zwei Grundrichtungen der Erkenntnis: Daseins- und Soseins-Forschung, und er überläßt auch nicht das Daseins-Problem den empirischen Wissenschaften, er verfährt radikaler und konsequenter, indem er den Orientierungsblick der philosophischen Erkenntnis einheitlich nach dem Sosein forschen läßt und aus der eidetischen Erfassung des Soseins-Bereiches der Phänomene, des „reinen Bewußtseins", auch alle DaseinsMomente aufzufinden unternimmt. Darum kann Husserl den Satz schreiben: „Die alte ontologische Lehre, daß die E r k e n n t n i s der „ M ö g l i c h k e i t e n " der der W i r k lichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E., wofern sie recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit" (Ideen S. 159). Es bedarf keines Beweises, daß alle diese Konzeptionen von „Möglichkeit", die Husserlsche eingeschlossen, entweder heimlich nach der gegebenen W i r k l i c h k e i t orientiert sind oder aber, wenn sie das nicht sind, von der drastischen Wirklichkeitsebene prinzipiell a b g e s c h n i t t e n sind. Damit aber geht entweder das innerste Merkmal des Möglichen, nämlich seins-möglich zu sein, verloren, und das Mögliche gilt höch-
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stens als Erkenntnis-Grundlage des Wirklichen1) oder aber das Mögliche ist gar sehr „eingeschränkt", „wirklichkeitsähnlich" usw. Worauf aber alles ankommt, das ist die in der Goldbergschen Methodik beobachtete Ausspannung der größt denkbaren Distanz und Heterogenität von möglich und wirklich einerseits (in seinem Begriff der Unendlichkeit) und ihre gleichwohl erfolgende Zusammenbindung durch den Begriff der realen Möglichkeit, die, wie wir oben darlegten, als beliebiges Bewußtseinsgebilde auffaßbar, dennoch durch den prinzipiellen Herstellungsbegriff Goldbergs der Erfahrung verbunden bleiben muß. Daß bei Goldberg dem Möglichen, das sich wie gesagt als der Umkreis des Bewußtseinsmöglichen darstellen läßt, transzendente Objekt-Realität zukommt, bedeutet, in der Sprache der Erkenntnis-Theorie nichts als die durch einen Realitätsindex angezeigte „Brauchbarkeit" alles Bewußtseinsmöglichen für eine sich in Erfahrung umsetzende Konstruktion, für eine letzte greifbare Wirklichkeit, die ihr Ziel ist und ihm rückwirkend von seiner Eigenschaft, Realität zu sein, gradatim mitteilt. Wir können natürlich auf diese Differenzen, die ein besonderes Thema bleiben, hier nicht eingehen, und die Zitierung der Husserlschen Gedanken sollte nur den nicht-psychologischen zunehmenden Geltungscharakter imaginativer Gebilde in der Domäne der Wissenschaft dartun und ein Symptom mehr dafür abgeben, daß das Reich des Unwirklichen der Aufmerksamkeit der Philosophie näherrückt. M a t h e m a t i s c h e N a t u r w i s s e n s c h a f t (Weyl u. a.). Vielleicht die drastischsten Beispiele für die Berücksichtigung von Konstruktionen imaginativ-wissenschaftlichen Charakters (die sogar schon im Bereich der Naturforschung l ) Vgl. dazu eine der zitierten These Husserls vorangehende Bemerkung: „Ich bin dessen sicher, daß in nicht allzuferner Zeit die Überzeugung Gemeingut sein wird, daß die Phänomenologie (bzw. die eidetische Psychologie) für die empirische Psychologie im selben Sinne die methodologisch grundlegende Wissenschaft ist, wie die sachhaltigen mathematischen Disziplinen (z. B. die Geometrie und Phoronomie) grundlegend sind für die Physik" .
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stehen) enthält die moderne Phase der mathematischen und naturwissenschaftlich orientierten Philosophie. Wir meinen hier nicht die herkömmlicherweise schon immer als Produkt des konstruktiven Denkens erkannten Theorien-Gebilde der exakten Wissenschaften. Diese sind sozusagen in zu großer Nähe und in zu engem Zusammenhang mit dem Gegebenen, als daß sie als sehr spontane, freie und autonome Hervorbringungen des Bewußtseins gelten dürften. Aber recht „phantastisch" und in graduell sehr viel loserem, d. h. „weiteren" Nexus mit dem Gegeben-Wirklichen muten doch die Überlegungs-Erzeugnisse der Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft an, wie sie uns etwa in der modernen Diskussion der mathematisch-physikalischen Grundbegriffe entgegentreten. So in den Gedanken Einsteins, Weyls, de Sitters u. a. Selbst wenn sich, was wir glauben, nur sehr wenige solcher Konzeptionen als ausbaufähig erweisen sollten, ist es ein höchst bemerkenswerter Zug der Erwägungen zu exakten Wissenschaften, neuerdings Sätze zu enthalten wie diesen: „Jedenfalls erscheint heute die Welt durch die strengen Naturgesetze viel weniger gebunden als zu Laplaces Zeiten" (Weyl, Philosophie der Naturwissenschaften). Es ist symptomatisch, in den Theorien der Physik auf Denkgebilde zu treffen, wie die von den Einsteinschen „Gespenstern des Längst vergangenen", Spiegelbildern, welche durch die das „geschlossene" All umkreisenden Lichtstrahlen eines Gegenstandes an ihrem Wiedervereinigungspunkt, am kosmischen „Gegenpunkt" des realen Dinges erzeugt werden — oder auf Konstruktionen wie das „Lotusland" der de Sitterschen Welt, in dem nichts geschieht und Alles stillsteht — oder auf den „Raum" mit gerader Dimensionszahl, in dessen Weiten das Licht nach Auslöschen der Lichtquellen bestehen bleibt usw. Hier ist ein im Vergleich zu früheren wissenschaftlichen Epochen ganz eminentes in Tätigkeit-Treten der vom Gegebenen weit entfernten Imaginativ-Kräfte des Bewußtseins zu verzeichnen. Die Einwände, die gegen derartige Konzeptionen möglich sind, können aus zwei Richtungen stammen: vom „festen Ufer" des Gegebenen aus, das unruhig einer so „weiten" Expedition ins Kosmische zusieht und von der wirklichen 299
Universalität her, welche umgekehrt das Anfechtbare solcher Imaginationen daran sieht, daß sie nicht aus hinreichender Weite und nur von einem einzigen Bereich aus, dem der Physik, reguliert sind. Das „Ethos" des begrenzten „Gebiets" ist sozusagen das Rezeptive, die Imagination ist ein Werkzeug der Totalität. Heidegger. In einem ganz anderen Sinne als die bisher behandelten Ideen und Positionen zeigt die jüngste philosophische Konzeption, die Daseinsmetaphysik Heideggers, eine Beziehung zu der hier dargelegten Systematik. Man könnte diese Beziehimg, wie zu begründen sein wird, eine dialektische nennen. Die Heideggersche Philosophie hat infolge eines ihr immanenten Radikalismus ein Moment ans Licht gebracht, das schon immer bestimmend für die Fragestellung in der Erkenntnis des Seins war, ohne recht eigentlich als solches „herauszukommen": das ist das Moment der sog. „Endlichkeit im Dasein". Dem Zugang zum Heideggerschen Denken kann vielleicht durch die folgenden Hinweise ein wenig von seiner Unwegsamkeit genommen werden. Unerläßliche Voraussetzimg dazu ist zunächst die Festhaltung der spezifisch phänomenologischen Perspektive und Methode, die Heidegger anwendet, und ohne deren Sinngebung seine Aussagen den handgreiflichsten Mißverständnissen ausgesetzt sind. Die phänomenologische Blickrichtung kann, in einer ersten groben Kennzeichnung, verglichen werden der bewußten Herbeiführung jenes Zustandes, den man als das „Sich-Verlieren an einen Gegenstand" kennt. Das in einem gewissen Sinne seiner selbst unbewußte „Leben im Gegenstande", das man sich etwa an dem völligen „Aufgehen" in optischen, akustischen usw. Eindrücken verdeutlichen mag, zu vereinigen mit der Bewußtmachimg eben dieses unbewußten Bewußtseins, macht zu einem Teil die große Schwierigkeit dieser Sehart aus. Gelingt sie aber, so gewährt sie, wie ihre Begründung lehrt, die Freimachung der in jener Bewußtseinshaltung erschauten Wesenheiten von allen voreiligen, herkömmlich-begrifflichen Verunreinigungen, Verdinglichungen, Theorien usw. Allerdings können jene Ver300
dinglichungen, Verbegrifflichungen, „Vor"-Urteile ihrerseits Thema, Objekt der phänomenologischen Betrachtung sein — dann aber werden sie auch als solche Verdinglichungen usw. b e w ü ß t und durchbrechen nicht mehr, wie sonst, die R e i h e n f o l g e , die Struktur Ordnung ihres phänomenologisch notwendigen Ortes. Dieser Optik, der natürlich alles unterstellt werden kann, unterwirft Heidegger den Gegenstand: Sein. Die Analyse ergibt vorerst eine Reduktion von Sein auf Dasein, worunter das menschliche Sein, immer in jener Blickrichtung gehalten, zu verstehen ist. „Dieses Seiende" — (Mensch) — „fassen wir terminologisch als D a s e i n " (Sein und Zeit S. n ) . Die fundamentale Lehre vom Sein aber „muß . . . in der e x i s t e n t i a l e n A n a l y t i k des D a s e i n s gesucht werden" (S. 13) Diese Daseinsanalytik nun — und das ist eine zweite, oft nicht bemerkte oder nicht verstandene, ganz allgemein vor Augen zu haltende Voraussetzung des Herankommens an diese Position — geht bewußt, im Verfolg ihres phänomenologischen Charakters, ohne essentielle Zuhilfenahme oder Benutzung der empirischen oder metaphysischen Begriffe von „Subjekt, Seele, Bewußtsein, Geist, Person" vor sich. Sie will erweisen, daß „der Ansatz eines zunächst gegebenen Ich und Subjekts den phänomenalen Bestand des Daseins von Grund aus verfehlt" (S. 46). Die „Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie" ergibt, obgleich das Dasein des Menschen betreffend, jene eigentümliche sachhafte, apersonale, Neutra und Beschaffenheiten, ergreifende Wesensbestimmung, von der man mit Einschränkung sagen könnte, daß bei ihr das Dasein s e l b s t bzw. sein Wesen, „das ontologisch wohl verstandene Subjekt" sei. Heidegger verlangt, daß die ontologische Frage nach dem Sein des Selbst (des Subjekts, des Ich selbst) völlig entfernt werde von der durch die Macht des „Ich-Sagens ständig nahegelegten Vorhabe eines beharrlich vorhandenen Selbstdinges" (S. 323). E r geht über die Kantische Befreiung von der Verdinglichung im Problem des Subjekts noch hinaus. Man wird durch die Festhaltung eines vorläufigen Absehens von jedem herkömmlich subjektiv-zentrierten Bilde des Daseins eher sich dieser Gedankenwelt zu nähern vermögen.
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Ganz andersartige Bestimmungen als Person, Bewußtsein usw. treten auf, um das Seiende, als Dasein gefaßt, zu interpretieren. Als die Strukturganzheit des Daseins wird „die Sorge" begriffen, und diese Wesenheit gibt ihrerseits die ontologische Grundlage der Selbstheit ab. „Sorge" ist kein Begriff einer praktischen Lebensphilosophie — das Wort im herkömmlichen Sinne verstanden — sondern sie wird als Ausdruck für das gesetzt, was Heidegger die „Einheit der Urstruktur der E n d l i c h k e i t des Daseins im Menschen" nennt. Damit sind wir bei dem für uns wesentlichen Merkmal dieser Position. Heidegger betont diese Endlichkeit des Daseins in so entscheidender Weise, daß er zu der Feststellung kommt, daß die Endlichkeit des Daseins die ursprünglichere Gegebenheit sei als der Mensch. (Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik S. 219.) Ja, er geht in der Radikalisierung dieses Gesichtspunktes des Endlichen konsequent so weit, daß er ihn in die Grundlegungsarbeit der Metaphysik des Daseins selbst hineinnimmt, jede a b s o l u t e Erkenntnis der Endlichkeit ausschließt und dazu gelangt, der Metaphysik des Daseins eine „eigene Wahrheit" zuzusprechen. Man kann in dieser Konzeption den höchst eigenartigen, bisher nicht unternommenen Versuch erblicken, eine „Metaphysik" in der Endlichkeit unterzubringen, d. h. im phänomenologisch erfaßten „Diesseits" selbst eine große Reihe der vormaligen „Jenseits"-Merkmale aufzuweisen: das Nichts, das Unheimliche, die Geworfenheit, das „Unzuhause", als das existential-ontologisch ursprünglichere Phänomen relativ zum ,, beruhigt-Vertrauten in-der-WeltSein" — all das sind Kennzeichnungen metaphysischen Charakters, aber ergriffen im Umkreis des Daseins selbst. Und dennoch ist die zentrale metaphysische Frage, die Heidegger aufwirft, eine echt transzendierende, und an dieser Frage, die in mancher Beziehimg als Prüfstein gelten muß, dokumentiert sich auch die Antithese zu der hier begründeten Systematik, eine Gegensätzlichkeit, die überhaupt erst die mögliche Alternative, das Seiende zu erfassen, zutage treten läßt und die ohne Heideggers Fixierung gar nicht gegeben ist: Die Heideggersche Methodik treibt einer immer weiteren Herausarbeitung des Endlichen zu, indessen die Goldbergsche
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Ontologie wie in dem hier entwickelten Grundriß sichtbar gemacht wurde, das Unendliche extremisiert. Die - traditionelle philosophische Situation qualifiziert sich demnach als eine Art Mitte zwischen so antithetischen Richtungen. In der Tat wird über alle diese verschieden gerichteten Orientierungen die Antwort auf die „Grundfrage der Metaphysik" entscheiden, wobei allerdings bereits Inhalt und Fassung dieser Frage mit in die mögliche Antithetik hineingehört. Heideggers bisher vorliegendes philosophisches Werk gipfelt in einer Formulierung dieser Grundfrage, welche lautet: „ W a r u m ist ü b e r h a u p t Seiendes und n i c h t v i e l m e h r N i c h t s ? " (Was ist Metaphysik? S. 29.) In einer kritischen Auseinandersetzung über die Fragestellung als solche würden alle die begrifflichen Variationen aufgerollt werden müssen, die in den Elementen dieser Frage stecken. Davon kann hier natürlich nicht die Rede sein. Immerhin müßten bereits zur Fragefassung solche Bedenken sich melden, die die Denkbarkeit einer Antwort im Hinblick auf die schon vorgelegten, schon getroffenen Entscheidungen der Heideggerschen Position angehen. Die Frage: warum ist überhaupt Seiendes ? greift über das Seiende selbst hinaus. Wenn sie also echt und unmetaphorisch gestellt ist, so muß sie Seiendes und Nichts im Sinne einer wahrhaft a l t e r n a t i v e n Setzung meinen: das Nichts muß für sich in irgendeiner aufzuklärenden Weise sein können. Diesen Sachverhalt müßte mindestens die Frage noch offenhalten, sonst gefährdet sie sich selbst. Aber hier scheint Heidegger, trotz der Frage, die Entscheidung schon vorab getroffen zu haben: „Das Nichts ist weder ein Gegenstand noch überhaupt ein Seiendes" — „das Nichts gibt nicht erst den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern gehört ursprünglich zum Wesen des Seins s e l b s t " (ebenda S. 20). Gehört aber das Nichts, so definiert, zum Sein, so verliert die metaphysische Grundfrage die volle Schärfe ihres Entweder-Oder. Und vor allem ist mit jener Bestimmimg Heideggers einer Wesensmöglichkeit des Seienden nicht gedacht, welche gerade jenes „sondern" ausschließt und die Konstitution des Seins so weit, ja vielleicht gar so paradoxal begreift, daß die Zugehörigkeit des Nichts zum Sein mit der vollen Gegenbegriff-
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lichkeit zum Seienden, ja mit dem radikalen „Gegenüber für das Seiende" zusammen in dieser abgründlichen Wesenheit untergebracht werden müssen. Wenn also kein „Fürsich"-modus für das Nichts gefunden wird, d. h. wenn das Sein nicht in einer Weise alteriert wird, wie es nimmermehr mit einem Sein geschehen kann, das, wie Heidegger meint, „im Wesen endlich ist", sondern wie es nur die volle Unendlichkeit des Seins vermag — so ist die eigentliche Spannung der metaphysischen Grundfrage aufgehoben. Ist aber das Seiende, wie es Goldbergs Konzeption des Unendlichen ansetzt, zu einer solchen Mannigfaltigkeit von Seinsweisen alteriert, das in ihnen von seinem Begriff des „vorrealen Nichts" über den Bereich der „realen Möglichkeiten" zur erfahrbaren Welt zunächst überhaupt allem theoretisch Denkbaren Genüge geschehen ist, dann erhält diese Grundfrage der Metaphysik vorerst eine neue Gestalt: müßte sich doch dann die Frage: warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? allererst mit der Frage auseinandersetzen: Warum existiert nur irgendein beliebig Seiendes und nicht vielmehr eine Allheit ? — das Wort nicht im Sinne der bloßen Gesamtheit des faktisch Daseienden, sondern im Sinne einer unendlichen Allheit genommen. Vielleicht nämlich enthüllt die Unendlichkeit eine innigere Beziehung zum Nichts als „überhaupt Seiendes", und vielleicht ist erst von dieser Vollständigkeit her nicht nur das Nichts in aller Unterschiedlichkeit seiner Geltungen zu begreifen, sondern auch der Heideggerschen Frage ein anderer Sinn zuzuordnen, der in der umfassenden Erwägung einer Antwort ans Licht käme, die lautet: überhaupt Seiendes ist, weil es von der Allheit her möglich ist und weil die Allheit nicht in eben der Weise sein kann wie überhaupt Seiendes.
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Edgar Dacque URWELT, SAGE UND MENSCHHEIT Eine naturhistorisch-metaphysische Studie 5. Auflage. 379 Seiten. 8°. 1928. In Leinen M. 11.50
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